Unternehmer in der Weimarer Republik 3515112154, 9783515112154

Die Unternehmensgeschichte der Weimarer Republik liegt meist im Schatten des "Dritten Reiches". Um die Eigenst

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Unternehmer in der Weimarer Republik
 3515112154, 9783515112154

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
AUGUST THYSSEN (1842–1926) – IM KRIEGSZUSTAND
MAX OSCAR ARNOLD (1854–1938) – FABRIKANT, POLITIKER UND MÄZEN
LOUIS HAGEN (1855–1932) – ALS BANKIER UND POLITIKER IN DER WEIMARER REPUBLIK
HUGO JUNKERS (1859–1935)
CARL DUISBERG (1861–1935) – EIN INDUSTRIELLER DES KAISERREICHES IN DER WEIMARER REPUBLIK
ROBERT BOSCH (1861–1942)
FRANZ URBIG (1864–1944)
HUGO ECKENER (1868–1954) – DER UNTERNEHMER ALS ABENTEURER
PAUL REUSCH (1868–1956) – DER LÖWE VON OBERHAUSEN
HUGO STINNES (1870–1924) – „KAISER DER INFLATION“
AUGUST ROSTERG (1870–1945)
GUSTAV KRUPP VON BOHLEN UND HALBACH (1870–1950) – EIN DIPLOMAT ALS UNTERNEHMER
BRUNO (1872–1941) UND PAUL CASSIRER (1871–1926)
CARL BOSCH (1874–1940) – ZWISCHEN HÖHEN UND TIEFEN
ERNST BRANDI (1875–1937) – DER SYSTEMVERÄNDERER
PAUL SILVERBERG (1876–1959) – POLITISCHER UNTERNEHMER WIDER WILLEN?
ALBERT VÖGLER (1877–1945)
ROBERT GERLING (1878–1935)
OTTO WOLFF (1881–1940) – EIN EVANGELISCHER KAUFMANN AUS DEM RHEINLAND
GÜNTHER QUANDT (1881–1954) – ÜBERWINDER DER BRANCHEN, INVESTOR UND FAMILIENUNTERNEHMER
FRIEDRICH FLICK (1883–1972) – DER GARANTIERTE KAPITALISMUS
CLAUDE DORNIER (1884–1969)
RUDOLF BLOHM (1885–1979)
FRANZ JOSEF POPP (1886–1954)
WILHELM ZANGEN (1891–1971)
ANHANG
PERSONENVERZEICHNIS
AUTORINNEN UND AUTOREN DES BANDES

Citation preview

Patrick Bormann / Judith Michel / Joachim Scholtyseck (Hg.)

Unternehmer in der Weimarer Republik Wirtschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Unternehmensgeschichte 35

Patrick Bormann / Judith Michel / Joachim Scholtyseck (Hg.) Unternehmer in der Weimarer Republik

beiträge zur unternehmensgeschichte Herausgegeben von Hans Pohl und Günther Schulz Band 35

Patrick Bormann / Judith Michel / Joachim Scholtyseck (Hg.)

Unternehmer in der Weimarer Republik

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Hermann Groeber, Der Aufsichtsrat („Rat der Götter“) der IG-Farben AG (1926) © Bayer AG, Corporate History & Archives

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11215-4 (Print) ISBN 978-3-515-11218-5 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Patrick Bormann, Judith Michel, Joachim Scholtyseck Einführung ............................................................................................................. 7 Jörg Lesczenski August Thyssen (1842–1926) ............................................................................. 19 Esther Reinhart Max Oscar Arnold (1854–1938) ......................................................................... 33 Ulrich S. Soénius Louis Hagen (1855–1932) .................................................................................. 45 Detlef Siegfried Hugo Junkers (1859–1935) ................................................................................. 63 Werner Plumpe Carl Duisberg (1861–1935) ................................................................................ 77 Joachim Scholtyseck Robert Bosch (1861–1942) ................................................................................. 93 Martin L. Müller Franz Urbig (1864–1944) ................................................................................. 107 Roman Köster Hugo Eckener (1868–1954) .............................................................................. 121 Benjamin Obermüller Paul Reusch (1868–1956) ................................................................................. 133 Per Tiedtke Hugo Stinnes (1870–1924) ............................................................................... 147 Patrick Bormann August Rosterg (1870–1945) ............................................................................ 161 Ralf Stremmel Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (1870–1950) ..................................... 177

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Inhaltsverzeichnis

Ulrike Grammbitter Bruno (1872–1941) und Paul Cassirer (1871–1926) ........................................ 199 Kordula Kühlem Carl Bosch (1874–1940) ................................................................................... 211 Werner Abelshauser Ernst Brandi (1875–1937) ................................................................................. 227 Boris Gehlen Paul Silverberg (1876–1959) ............................................................................ 245 Alfred Reckendrees Albert Vögler (1877–1945) ............................................................................... 259 Boris Barth Robert Gerling (1878–1935) ............................................................................. 277 Dittmar Dahlmann Otto Wolff (1881–1940) .................................................................................... 291 Judith Michel Günther Quandt (1881–1954) ........................................................................... 305 Tim Schanetzky Friedrich Flick (1883–1972) ............................................................................. 319 Lutz Budraß Claude Dornier (1884–1969) ............................................................................ 333 Andreas Meyhoff Rudolf Blohm (1885–1979) .............................................................................. 343 Florian Triebel Franz Josef Popp (1886–1954) ..........................................................................359 Horst A. Wessel Wilhelm Zangen (1891–1971) ...........................................................................375 Anhang Personenverzeichnis ............................................................................................389 Autorinnen und Autoren des Bandes ..................................................................395

EINLEITUNG Patrick Bormann, Judith Michel und Joachim Scholtyseck Die Unternehmergeschichte der Weimarer Republik liegt meist im Schatten des „Dritten Reiches“. Der Untersuchungsschwerpunkt ruht entweder auf der Zeit des Nationalsozialismus oder – wenn die Weimarer Jahre mitbehandelt werden – das Wirken wird als eine Art Vorspiel zur Hitler-Diktatur verstanden. Ist dies einmal nicht der Fall, finden die Passagen zu den Weimarer Jahren beim Leser und den Rezensenten weit weniger Aufmerksamkeit als die anschließende nationalsozialistische Zeit. Um die Eigenständigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung der Weimarer Zeit und ihres Unternehmertums deutlicher hervorzuheben, soll dieser Sammelband konzise Portraits bedeutender Unternehmer verschiedener Branchen in ihrer Weimarer Schaffensphase zusammenstellen. Die Jahre des Nationalsozialismus werden dabei nur noch als Ausblick behandelt. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Unternehmertum in der Weimarer Republik ist schon deswegen geboten, weil in der zeitgenössischen Literatur wie in der Historiographie – oftmals mit einem nostalgischen Unterton – für die Weimarer Jahre dessen Wandel beobachtet wird. Bereits für die Generation der „Wilhelminer“, der vor 1880 geborenen und im Bismarck-Reich sozialisierten Unternehmer, konstatiert Werner Plumpe, ihr hätten mehr Epigonen als Pioniere angehört, auch wenn sie zahlreiche unternehmerische Talente hervorgebracht habe.1 Diese fortschrittlichen Wirtschaftsführer motivierten zeitgenössische Soziologen und Ökonomen zum Entwurf von Wirtschaftsmodellen, in denen Unternehmer die „eigentlichen treibenden Kräfte der Moderne“ waren.2 Für die Jahre der Weimarer Republik beobachteten Zeitgenossen eine Verdrängung der Eigentümer- durch Managerunternehmer: „Aus dem kleinen Alleinherrscher des beginnenden Hochkapitalismus ist ein Mann geworden, der nach vielen Seiten hin Verantwortung schuldig ist; der, Wotan gleich, durch Verträge Herr, nun der Verträge Knecht geworden ist.“3 In der Historiographie wurde vor allem in der Nachfolge der bahnbrechenden Arbeiten von Alfred D. Chandler4 die Verlagerung vom eigenverantwortlichen Unternehmer zum angestellten Manager als typisch gerade für die Weimarer Jahre ausgemacht. 1 2 3 4

Vgl. Werner Plumpe, Unternehmer und Politik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Unveröffentlichter Vortrag vor der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank, Frankfurt/ Main, 14. Januar 2014, S. 5. Ebd., S. 8. Ferdinand Graf von Degenfeld-Schonburg, Die Unternehmerpersönlichkeit in der modernen Volkswirtschaft, in: Schmollers Jahrbuch 53 (1929), S. 55–75, hier S. 58. Vgl. z. B. Alfred D. Chandler, Jr., The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge/MA und London 1977; Ders., Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, London 1990.

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Patrick Bormann, Judith Michel und Joachim Scholtyseck

Für den heroischen Unternehmer5 Schumpeterscher Prägung, der durch neue Kombinationen von Produktionsfaktoren Innovationen schuf,6 schien die Zeit abgelaufen zu sein. In der gegenwärtigen Unternehmer- und Innovationsforschung werden statt Individuen vor allem Organisationen und Netzwerke in den Blick genommen.7 Tatsächlich zeigt sich das Bild in der Weimarer Republik vielgestaltiger, denn noch immer gab es Männer wie Hugo Junkers oder Claude Dornier, die vornehmlich in jungen Branchen wie der Flugzeugindustrie Pioniertaten vollbrachten, selbst wenn sie wie der Luftschiffpionier Hugo Eckener auf eine sich letztlich nicht durchsetzende technologische Lösung setzten. Aber auch Männer wie Friedrich Flick, Günther Quandt oder August Rosterg bauten, ohne Erfinderunternehmer zu sein, bedeutende Konzerne auf. Was unter einem Unternehmer zu verstehen ist, ist bis heute nicht abschließend definiert, die verschiedenen Ansätze bewegen sich zwischen einem eher funktionalen Verständnis von Unternehmertum und positionalen Definitionen.8 Für diesen Sammelband wurde auf eine bindende Definition bewusst verzichtet, um ein möglichst breites Spektrum an Biographien abzudecken. Viele der Unternehmerbiographien sind dabei zugleich Geschichten ihrer Unternehmen, weil Person und Unternehmen miteinander verwachsen sind. Mitunter ist es sogar schwieriger, den Unternehmer zu beschreiben als sein Unternehmen zu porträtieren. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich oftmals außer Geschäftsakten nur wenige private Quellen finden lassen. Der Krieg und die staatliche Kriegswirtschaft hatten die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Deutschen Reich grundlegend gewandelt. Die dirigistische Planwirtschaft nach den Plänen von Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff hatte das freie Unternehmertum in enge Fesseln gesteckt, die 1918 nicht sofort gelockert wurden. Die harten Bestimmungen des Versailler Vertrages9 führten zudem viele Unternehmen in eine schwere Krise. Unternehmer wie Franz Josef Popp oder Max Oscar Arnold mussten nun mühsam von Rüstungs- auf Friedensproduktion umstellen. Zudem resultierten die Folgen der Kriegsniederlage für zahlreiche exportorientierte Großunternehmen, die sich vor 1914 internationalisiert hatten, im Verlust des Auslandsvermögens sowie der -niederlassungen und Filialen. Auch Handelsbeziehungen mussten mühsam erst wieder aufgebaut werden – wichtige Aspekte, die von der Forschung in der Bundesrepublik lange Zeit nicht genügend beachtet worden sind. Zahlreiche Unternehmen wurden ins Mark getroffen. Bis weit ins bürgerliche Lager hinein schien die traumatische Erfahrung der Jahre 1914 bis 1918 das Versagen des liberalen Systems und seiner Wirtschafts5 6 7 8 9

Vgl. Mark Casson, Der Unternehmer, Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 524–544, hier S. 527. Vgl. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1912. Vgl. sich kritisch mit diesem Trend auseinandersetzend Werner Plumpe, Unternehmer – Fakten und Fiktionen. Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Unternehmer – Fakten und Fiktionen. Historischbiografische Studien, Oldenburg 2014, S. 1–26. Vgl. Boris Gehlen, Paul Silverberg (1876 bis 1959). Ein Unternehmer, Bonn 2007, S. 25. Zusammenfassend Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2011; Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 120–130.

Einleitung

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weise zu zeigen. Ähnlich wie es im Politischen eine grundsätzliche Abkehr vom Liberalismus zu geben schien, wurden nun planwirtschaftliche Konzepte salonfähig. Auch wenn man sich darunter viel vorstellen konnte, war in jedem Fall klar, dass die Handlungsautonomie der Unternehmer eingeschränkt und die Handlungsbefugnisse des Staates massiv ausgeweitet werden sollten. Die Erzbergersche Finanzreform von 1919, mit der das Steuersystem vereinheitlicht und die Steuersätze drastisch angehoben wurden, war der unmittelbare Ausdruck dieses staatlichen Geltungsanspruchs; die Sozialisierungsdebatte, die Einrichtung gemeinschaftlicher Strukturen mit dem vorläufigen Reichswirtschaftsrat, die Sozialisierung des Kohlenbergbaus und der Kaliindustrie deuteten die weitere Richtung an. „Der Ausbau des Weimarer Sozialstaates und die deutliche Zunahme unternehmerischer Eigenaktivitäten durch den Staat, zeitgenössisch als ‚kalte Sozialisierung‘ bezeichnet, machten überdies klar, dass auch ohne eine Änderung des ökonomischen Systems sich die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns dramatisch veränderten.“10 In den hier behandelten Biographien spiegelt sich die Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik wider. Inflation und Weltwirtschaftskrise stellten für nahezu jeden der untersuchten Unternehmer besondere Herausforderungen dar.11 Allerdings zeigt sich, dass die meisten der Porträtierten die erste schwere Wirtschaftskrise der Weimarer Zeit gut überstanden: Der demokratische Umbruch von 1918/19 eröffnete auch dem Unternehmertum neue Chancen.12 Einigen Unternehmern wie Robert Gerling, Friedrich Flick und Günther Quandt gelang es gerade durch geschickte Spekulation und Finanzmanöver in der Inflationszeit, ihr Vermögen zu vermehren. In der Schwerindustrie wurde der schon zuvor einsetzende Konzentrationsprozess während der Inflationsjahre forciert und Männer wie Hugo Stinnes, Albert Vögler aber auch August Rosterg formierten ihre Branchen gänzlich neu. Viele Unternehmer folgten in den 1920er Jahren dem amerikanischen Trend zur Rationalisierung von Produktion, Organisation und Arbeitsbeziehungen – wenn auch zunächst mit eingeschränktem Erfolg.13 Für einige Unternehmer wie beispielsweise für Krupp glichen die Weimarer Jahre hingegen einer Dauerkrise, weil sich das Unternehmen mit nur halbherzigen Reformen schwer den neuen wirtschaftlichen Bedingungen anpassen konnte. Der Spielzeugfabrikant Max Oscar Arnold musste 1928 sogar sein Unternehmen liquidieren. Andere kamen mit dem wirtschaftlichen Umfeld zwar besser zurecht, aber 10 11

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Plumpe, Unternehmer und Politik, S. 15 f.; zum Begriff der „kalten Sozialisierung“ Carl Böhret, Aktionen gegen die „Kalte Sozialisierung“, 1926–1930. Ein Beitrag zum Wirken ökonomischer Einflußverbände in der Weimarer Republik, Berlin 1966. Vgl. Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation, 1914–1924, New York u. a. 1997; Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten Deutschen Republik, Göttingen 2010, bes. S. 63–66; Frederick Taylor, The Downfall of Money. Germanyʼs Hyperinflation and the Destruction of the Middle Class, New York 2013. Vgl. Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2008, S. 51–54. Vgl. Frank-Lothar Kroll, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, München 2003; Gunther Mai, Die Ökonomie der Zeit. Unternehmerische Rationalisierungsstrategien und industrielle Arbeitsbeziehungen, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 311–327.

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Patrick Bormann, Judith Michel und Joachim Scholtyseck

die Weltwirtschaftskrise bedeutete einen neuen und umso dramatischeren Rückschlag.14 Es gelang nur wenigen Unternehmern wie Günther Quandt, August Rosterg oder Wilhelm Zangen, basierend auf einem weitgehend stabilen Export weiter zu expandieren oder die Verluste wenigstens einzuhegen. Andere Größen wie Otto Wolff, Friedrich Flick oder Louis Hagen gerieten an den Rand ihrer beruflichen Existenz. Die politischen Wechselfälle der Weimarer Republik stellten an die Unternehmer in besonderem Maße Herausforderungen, auf die sie jedoch sehr unterschiedlich reagierten. Parteipolitisches Engagement und die im Einzelfall oft auch Aufsehen erregende Einflussnahme – beispielhaft sei auf den Beitrag über Franz Urbig verwiesen – auf die internationalen Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands blieben zwar eine Ausnahme, es ist allerdings bemerkenswert, dass alleine aus dem Kreis der in diesem Band Vorgestellten Louis Hagen, Albert Vögler und Carl Bosch bei wichtigen Verhandlungen über die Folgen der Kriegsniederlage beteiligt waren. Andere Unternehmer engagierten sich in Interessensverbänden oder suchten mit Privatinitiativen und öffentlichen Stellungnahmen Einfluss auszuüben. Die Hohenzollernmonarchie hatte sich in den Augen der meisten Industriellen diskreditiert. Den Unternehmern, „die in erster Linie an Schornsteine und Schlackehaufen, Eingangsbücher und Gewinnspannen dachten, bedeutete das Schicksal von gekrönten Häuptern wenig“, so ist diese Einstellung, das Kaiserreich wie einen schlecht geführten Betrieb dem Konkursverwalter zu überantworten, treffend beschrieben worden.15 Nur wenige – wie beispielsweise Paul Reusch und Ernst Brandi – blieben mental der Kaiserzeit verbunden oder hielten wie Rudolf Blohm Kontakte zu monarchistischen Bewegungen. Der Großteil der Unternehmer reagierte auf die Herausforderungen der Revolution von 1918/19 pragmatisch. Die meisten begrüßten die neue Staatsform weder sonderlich, noch lehnten sie sie explizit ab. Gemessen wurde sie in erster Linie am politischen Output, wobei als Maßstab die Eigeninteressen dienten. Die Unternehmerschaft verzichtete also, von einigen Ausnahmen wie dem Liberalen Robert Bosch abgesehen, auf eine dezidierte Abwehr des staatlichen Vordringens in die Gefilde der Wirtschaft. Nicht der Staat an sich erschien ihnen als Gegner, lediglich die in ihren Augen zum sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Werkzeug verkommene parlamentarische Republik,16 der augenscheinlich eine „klare Autorität“ fehlte.17 14 15 16

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Vgl. Florian Pressler, Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der großen Depression, München 2013. Henry A. Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 30. Vgl. Eric Kurlander, The Price of Exclusion. Ethnicity, National Identity, and the Decline of German Liberalism 1898–1933, New York u. a. 2006; Jürgen John, Zur politischen Rolle der Großindustrie in der Weimarer Staatskrise. Gesicherte Erkenntnisse und strittige Meinungen, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen, unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 1992, S. 215–237. Gerald D. Feldman, Politische Kultur und Wirtschaft in der Weimarer Zeit. Unternehmer auf dem Weg in die Katastrophe, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 43 (1998), S. 3–18, hier S. 7.

Einleitung

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In den Sozialbeziehungen zwischen den Unternehmern und der Arbeiterschaft verschoben sich die Machtverhältnisse aus Sicht der Wirtschaftsführer dramatisch. Eine „Herr-im-Hause“-Haltung, wie sie in der Kaiserzeit noch an der Tagesordnung war, konnte nicht mehr aufrechterhalten werden, stattdessen wurden sozialpartnerschaftliche Ansätze erprobt.18 Für Unternehmer wie August Rosterg oder Paul Reusch wurde der 8-Stunden-Tag zum Ausdruck einer Gewerkschaftsdiktatur, aber auch gemäßigtere Vertreter klagten über die hohen Belastungen durch die Sozialgesetzgebung der Weimarer Republik. Unternehmer wie Carl Duisberg und Robert Bosch, die sich ernsthaft auf Arbeitnehmerinteressen einließen, blieben eher die Ausnahme, mehr noch gilt dies für die Mitgliedschaft Paul Cassirers in der USPD. Viele Unternehmer, die gegenüber der Arbeiterschaft grundsätzlich aufgeschlossen waren, reagierten schockiert auf die teilweise heftig ausgefochtenen Arbeitskämpfe. Das Unternehmertum unterstützte hauptsächlich die bürgerlichen Parteien: in erster Linie die rechtsliberale DVP, in geringerem Maße die linksliberale DDP oder die nationalkonservative DNVP. Der hier porträtierte August Rosterg gehörte zu den wenigen bedeutenden Männern aus Unternehmens- und Wirtschaftskreisen, die schon vor 1933 Hitler unterstützten. Oftmals gab es auch keine grundsätzliche Feindschaft zur SPD und den Gewerkschaften, Unternehmer wie Paul Silverberg und Robert Bosch suchten sogar aktiv die Zusammenarbeit. Die Erfahrungen, die man mit den radikalen Kräften wie USPD und KPD in den eigenen Unternehmen 1918/19 bzw. 1923 machte, führten jedoch zu einer fast einhelligen Ablehnung der „Sozialisierungen“ und ihrer Befürworter. Die gemäßigten Kräfte wurden hingegen zumindest akzeptiert und, widerwillig oder bereitwillig, als Partner in die Verhandlungen und Überlegungen aufgenommen. Man gelangte somit zu einem „modus vivendi“ und sicherte sich das Überleben „durch relativ bescheidene Konzessionen“.19 Trotz mancher Ausnahme bestätigen die Beiträge allerdings insgesamt die These Gerald Feldmans, „dass die Wirtschaft als ganze, als mächtige und einflussreiche Kraft innerhalb der deutschen Gesellschaft, sich im geringsten um die politische Rettung der Demokratie bemüht“ hat20 – was freilich auch für andere soziale Gruppen gilt. Zugleich zeigt das Sample einmal mehr, dass die Mehrzahl der Unternehmer keineswegs zu den „Steigbügelhalter[n] des Faschismus“ gehörte, zu denen sie in der marxistischen Literatur oftmals gemacht worden war.21 Der Sammelband ist chronologisch gegliedert und trägt damit der Beobachtung Rechnung, dass das Unternehmertum der Weimarer Republik von zwei unterschiedlichen Generationen geprägt wurde. Die wirtschaftspolitisch liberal, wenn nicht sogar staatsfern eingestellten „Wilhelminer“ waren in der dynamischen Zeit 18 19 20 21

Vgl. Werner Milert / Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848–2008, Essen 2012, insb. S. 107–227; Karl Christian Führer u. a. (Hrsg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920, Essen 2013. Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, S. 27. Feldman, Politische Kultur und Wirtschaft, S. 17. Hierzu immer noch die klassische Studie von Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers.

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Patrick Bormann, Judith Michel und Joachim Scholtyseck

des Kaiserreiches aufgestiegen, die nach dem Ende der „großen Depression“ eine neue wirtschaftliche Dynamik mit sich gebracht hatte. Sie prägten auch nach 1918 zunächst noch die Unternehmen, während am Ende der Republik schon eine neue Generation das Ruder übernommen hatte, für die die geistigen und wirtschaftspolitischen Bedingungen der Hohenzollernmonarchie der Jahrhundertwende schon nicht mehr eindeutig prägend gewesen war. Diese neuen Männer hatten die staatliche Kriegswirtschaft erlebt; sie waren eher dazu bereit, weitere Experimente zuzulassen, die mit einem größeren Staatseinfluss auf die Wirtschaft verbunden waren. Auch die jüngere Generation war ordnungsbejahend, jedoch zeigte sie sich in ihrer politischen Haltung meist flexibler. Sie konnten sich daher auch an die neuen Spielregeln der Demokratie adaptieren – zumindest waren sie meist bereit, ihr eine Chance zu geben. Ebenso leicht fiel es ihnen allerdings später, die Demokratie aufzugeben, als diese ihre Erwartungen enttäuscht hatte: Die politische Einflussnahme in der parlamentarischen Demokratie erwies sich als schwierig und keineswegs immer erfolgreich – ein zunehmendes Frustrationserlebnis für die selbstbewussten Unternehmensführer, zumal sich auch die Präsidialkabinette nicht in der Lage zeigten, eine im Sinne dieser Unternehmer zuverlässige Wirtschaftspolitik durchzusetzen, notfalls über die Parteien hinweg.22 Die Angehörigen der Kriegs- und Krisengeneration trugen schließlich auch in den Jahren des Nationalsozialismus die entscheidende unternehmerische Verantwortung. Diese Generation ist noch nicht als solche untersucht und Verbindendes wie Trennendes steht nebeneinander. Doch sie waren sowohl an größere Wirtschaftseinheiten gewöhnt als auch krisenerprobt. Nicht zuletzt waren sie mit einer prägenden Mitwirkung des Staates vertraut, was die Mitwirkung in der NSWirtschaft erleichterte. In dieser Hinsicht erheben die folgenden Biographien zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, bieten aber durchaus einen repräsentativen Querschnitt der Unternehmer in Weimar. Jörg Lesczenski untersucht August Thyssen (1842–1926), einen durchaus typischen Gründerunternehmer der Kohle- und Stahlbranche, der seit den 1880er Jahren den Aufbau eines großen vertikalen Konzerns verfolgte. Während der Weimarer Jahre agierte er zunehmend als „störrischer Patriarch“. Er fühlte sich zwar der Zentrumspartei nahe, aber innenpolitisch stand er in einer rigorosen Frontstellung gegen das linke politische Spektrum. Den Parlamentariern sprach er grundsätzlich wirtschaftspolitischen Sachverstand ab: Auch diese Einstellung war unter seinen Standesgenossen weitverbreitet. Dass Thyssen sich unmittelbar nach dem Kriegsende 1918 auf mögliche Sozialisierungen einstellte, indem er den Konzern so neustrukturierte, dass im Falle von Verstaatlichung die Hüttenwerke vom Zugriff geschützt geblieben wären, ist zwar nicht verallgemeinerungsfähig, zeigt 22

Vgl. Werner Plumpe, Der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Krise der Weimarer Republik, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007, S. 129–157; daneben Wolfram Pyta, Vernunftrepublikanismus in den Spitzenverbänden der deutschen Industrie, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 87–108; Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 127–135.

Einleitung

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jedoch, wie intensiv die sozialpolitischen Diskussionen der Zeit alle Unternehmer betrafen. Mindestens ebenso bedeutend war der mit der Niederlage einhergehende Verlust zahlreicher Beteiligungen an ausländischen Erzfeldern. Das Gefühl, damit unverschuldet in eine schwere Unternehmenskrise gerissen zu werden, prägte nicht nur das politisch-wirtschaftliche Denken Thyssens. Esther Reinhart beschäftigt sich mit Max Oscar Arnold (1854–1938), der zunächst als Spielzeugfabrikant tätig war, während des Ersten Weltkrieges jedoch ins Rüstungsgeschäft einstieg und sich danach weitgehend erfolglos mit der Produktion von elektrotechnischen Bedarfsartikeln und Möbeln beschäftigte. Seine Vita zeigt die vielfältigen Möglichkeiten des Scheiterns auf, die letztlich sogar wahrscheinlicher sind, als der unternehmerische Erfolg. Arnold hatte als Abgeordneter und Präsident des Coburger Landtags sowie als Reichstagsabgeordneter für die Freisinnige Partei im Kaiserreich sein Unternehmen vernachlässigt; in der Inflationszeit der Weimarer Republik verschlang die Umrüstung der Fabriken auf neue Produkte Unsummen und schließlich führten ein Preisrückgang in der Möbelbranche und billigere Konkurrenten und Managementfehler zur Liquidation im Jahr 1928. Ulrich S. Soénius betrachtet den Kölner Bankier Louis Hagen (1855–1932), einen Unternehmer der dritten Generation, der zunächst für die Liberalen, dann von 1921 bis 1929 für die Zentrumspartei im Stadtrat saß und engen Kontakt zu Konrad Adenauer pflegte. Als Experte der Finanzbranche war er bestens vernetzt und verzeichnete Mitte der zwanziger Jahre zahlreiche Aufsichtsratsmitgliedschaften. Zudem war er in Gremien vertreten, in denen sich Wirtschaft und Politik vermischten: bei den Waffenstillstandskonferenzen und Friedensverhandlungen in Berlin, Spa und Versailles, beim Wirtschaftsausschusses für das besetzte Gebiet und im Expertengremium zur Gestaltung eines Konzeptes über Reparationszahlungen. Aber selbst die ausgespannten Netzwerke retteten nicht vor dem Ruin. Seinem Bankhaus Levy wurden in der Weltwirtschaftskrise die Kursverluste zum Verhängnis. Ebenso wie Hagen brachte sich auch der von Werner Plumpe analysierte Chemieindustrielle Carl Duisberg (1861–1935) konstruktiv in die neue Republik ein, blieb aber zugleich wirtschaftlich erfolgreich. Der Managerunternehmer akzeptierte die Republik und war zu weitgehenden Anpassungen an die neuen Verhältnisse bereit. So erklärt sich auch die bemerkenswerte Tatsache, dass er 1918 dem Arbeiter- und Soldatenrat beitrat. Die „Arbeitsgemeinschaft“ von Arbeit und Kapital wurde ihm zu einem Herzensanliegen und er nutzte seine Möglichkeiten im Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI), um für die Sozialpartnerschaft zu werben. Allerdings bewertete auch er die wirtschaftspolitischen Leistungen der Republik mit der Zeit immer kritischer. Die Besonderheit der weitgehenden Akzeptanz der neuen Verhältnisse verband ihn mit dem Elektroindustriellen Robert Bosch (1861–1942), der von Joachim Scholtyseck porträtiert wird. Der aus eher einfachen Verhältnissen stammende Unternehmer war eine Ausnahmeerscheinung. Vor 1918 teilte er zwar den Fortschrittsoptimismus mit vielen Standesgenossen und auch seine patriarchalische Betriebsführung war nicht ungewöhnlich. Aber er war nicht nur Vernunftrepublikaner, sondern wollte als Liberaler Brücken zur Sozialdemokratie bauen. Als exportorientierter Industrieller lehnte er Schutzzölle für Agrarier vehement ab und warb

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Patrick Bormann, Judith Michel und Joachim Scholtyseck

für eine europäische Einigung, deren Kern die deutsch-französischen Beziehungen bilden sollten. Mit dem Wunsch nach Völkerverständigung korrespondierte die Ablehnung von Nationalsozialismus und Antisemitismus. Martin L. Müller stellt mit Franz Urbig (1864–1944) einen Aufsteiger und „Selfmademan“ aus der Bankenwelt vor. Als Aufsichtsratsmitglied und Co-Vorsitzender des Aufsichtsrates der Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft mit reicher Erfahrung war er nach 1918 als Sachverständiger an zahlreichen komplexen Verhandlungen über die finanziellen Friedensbedingungen beteiligt. Er vermisste jedoch die Stabilität und unternehmerische Freiheit des Kaiserreichs und lehnte Sozialisierungen ab. Roman Köster widmet sich dem Luftfahrtpionier Hugo Eckener (1868–1954), der Unternehmer vornehmlich deshalb war, um den Luftschiffbau voranzutreiben – ein weitgehend unpolitischer Techniker-Unternehmer, der seine Vernetzungen mit dem Reichsverkehrsministerium in erster Linie dazu nutzte, um auch während der Weltwirtschaftskrise Staatssubventionen zu erhalten. Benjamin Obermüller beleuchtet den Montanindustriellen Paul Reusch (1868– 1956), der als unangefochtene Führungsfigur der Gutehoffnungshütte (GHH) die vertikale Integration vorantrieb. Reusch blieb lebenslang ein deutschnationaler Monarchist, der sich als Verbandslobbyist für eine wirtschaftliche Ständeordnung einsetzte, gegenüber dem Freihandel skeptisch war, aber auch die angekündigten Eingriffe des NS-Staates in die Wirtschaft ablehnte. Hugo Stinnes (1870–1924) wird von Per Tiedtke untersucht. Der Magnat des Kohlebergbaus und der Stahlindustrie war als Unternehmensgründer Firmenpatriarch und Spekulant in einer Person. In der Inflationszeit baute er geschickt einen international verzweigten Konzern mit mehreren Standbeinen auf und wurde zu einer Art Wortführer der deutschen Unternehmer. Die Weimarer Republik gestaltete er als Reichstagsmitglied mit, auch wenn ihm sein primär wirtschaftliches Interesse im Weg stand. Die DVP als Partei, in der die meisten Unternehmer vertreten waren, war seine politische Heimat. Gegnerschaft zur „Erfüllungspolitik“ und Unterstützung des Stinnes-Legien-Abkommens als erster Pfad einer Sozialpartnerschaft gingen Hand in Hand. Wie viele andere exportorientierte Männer der Wirtschaft trat er für eine „Europäisierung“ ein. Patrick Bormann widmet sich dem Kali- und Ölindustriellen August Rosterg (1870–1945), der den Wandel vom Manager- zum Eigentümerunternehmer vollzog. Dieser plädierte zwar anfangs für Ausgleichsbemühungen mit Frankreich, glaubte bald jedoch an den Nutzen einer Wirtschaftsdiktatur und unterstützte schon früh die Nationalsozialisten. Im eigenen Unternehmen focht er Arbeitskämpfe entschlossen aus. In Adaption amerikanischer Vorbilder baute er sein Unternehmen nach strengen Rationalisierungsplänen um und schuf im Zuge eines umfassenden Konzentrationsprozesses den zweitgrößten Chemiekonzern Deutschlands. Ralf Stremmel betrachtet Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (1870–1950), einen weiteren Mann der Montanindustrie. Der Jurist und zeitweilige Diplomat gehörte zur Gründerzeitgeneration, als er 1906 in den Aufsichtsrat von Fried. Krupp AG kam. Als angeheirateter Firmenpatriarch lehnte er den „Manager-Kapitalismus“ und große Interessengemeinschaften mit Konzernen ab. Er setzte sich im Rahmen

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der Krupp’schen Leitidee einer sozialen Verantwortung für die Mitarbeiter für die Einführung einer Gewinnbeteiligung der Mitarbeiter ein. Als Vernunftrepublikaner und Verfechter einer Verständigungspolitik stand er loyal zur neuen Staatsordnung. Politisch wirkte er 1921 bis 1933 über die Wahl in den Preußischen Staatsrat. Sympathie hatte er für Paul von Hindenburg und Franz von Papen. Spenden gingen, wenig verwunderlich, an die DVP und DNVP. Die NSDAP und Hitler lehnte er ab, arrangierte sich schließlich jedoch mit den neuen Machthabern. Ulrike Grammbitter widmet ihre Doppelbiographie Bruno (1872–1941) und Paul Cassirer (1871–1926). Auch diese Persönlichkeiten, die man eher der Kulturszene zuordnet, waren Unternehmer im Kunsthandel und im Verlagswesen. Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere verband sie das Verständnis für innovative Ausstellungsformen und ein Gespür für aufsteigende Künstler der Weimarer Zeit. Während Paul sich sozialistisch orientierte und seinen gut vernetzten Verlag entsprechend ausrichtete, blieb Bruno der politischen Welt fern. Carl Bosch (1874–1940) wird von Kordula Kühlem untersucht. Der promovierte Chemiker stieg bei der BASF vom Prokuristen zum Direktor auf und war in der Weimarer Republik Vorstandsvorsitzender bzw. Aufsichtsratsvorsitzender der I. G. Farbenindustrie AG und der BASF, verstand sich letztlich aber stets eher als Wissenschaftler denn als „Wirtschaftsführer“. Er begrüßte die demokratische Staatsform der Weimarer Republik und stand der DDP nahe. Kontakte unterhielt er zu Carl Legien, Präsident des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, und hatte keine Schwierigkeiten beim neuen Zusammenspiel zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er reagiert jedoch mit Bestürzung und Härte auf die Arbeitskämpfe in den Werken der BASF in den ersten Nachkriegsjahren. Er lehnte autoritäre Regime genauso ab wie die Herrschaft der Parteien und schätzte das System der Präsidialkabinette unter Brüning. Dem Nationalsozialismus stand er skeptisch und ab 1935 ablehnend gegenüber. Die Besetzung linksrheinischer Gebiete lehnte er ab und vermittelte als Sachverständiger bei den Friedensverhandlungen. Er erkannte das Potential eines friedlichen Europas und sympathisierte mit der Paneuropa-Idee und einer freien Weltwirtschaft. Der Managerunternehmer Ernst Brandi (1875–1937) wird von Werner Abelshauser betrachtet. Als Mann des Bergbaus und der Stahlindustrie war er einerseits eine graue Eminenz der DVP, gehörte aber zugleich zur Minderheit der hier Porträtierten, die sich rückhaltlos zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit bekannten und im Parlamentarismus eher ein Problem als eine Chance sahen. Mit seiner sozialpatriarchalischen Einstellung korrelierte seine Sympathie für Alfred Hugenberg und die Idee einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der NS-Bewegung. Der Braunkohlenindustrielle Paul Silverberg (1876–1959) wird von Boris Gehlen unter die Lupe genommen. Er bekannte sich ausdrücklich zur Republik und warb für die wirtschaftlich-politische Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten. Im rheinischen Bergbau gab es im hier behandelten Zeitraum keinen einzigen Lohnstreik, was sicherlich auch damit zusammenhing, dass sich die Rheinische Aktiengesellschaft für Braunkohle und Brikettfabrikation (RAG) als ausgesprochen krisenresistent erwies und von der zunehmenden Elektrifizierung ebenso profitierte wie von den Defiziten und Problemen, die den Steinkohlebergbau heimsuchten.

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Patrick Bormann, Judith Michel und Joachim Scholtyseck

Den Großteil der Zeit in seiner Weimarer Karriere investierte er außerhalb des eigenen Unternehmens als „Berater, Sanierer, ‚Big Linker‘ und Verbandsfunktionär“, wie Gehlen in seinem Beitrag Silverbergs Tätigkeiten zusammenfasst. Alfred Reckendrees nimmt sich des Montanindustriellen Albert Vögler (1877– 1945) an. Als Prototyp eines strategisch orientierten Managers neuen Typs organisierte dieser moderierend, kompromiss- und durchsetzungsfähig verschiedene Konzerne. Als Generaldirektor der Vereinigte Stahlwerke AG und als Schlüsselperson in weiteren Gesellschaften war er unbestrittene und entscheidungsstarke Führungsfigur. Politisch zunächst Reichstagsabgeordneter der DPV, rückte er immer stärker nach rechts, unterstützte zunächst seit den Krisenjahren 1929 die DNVP und förderte bald die NSDAP. Sozialeinrichtungen und Pensionskassen verstand er als wichtige Bestandteile einer Sozialpartnerschaft; als gut vernetzter politischer Unternehmer war er als Experte gefragt und u. a. Sachverständiger der deutschen Delegationen bei den Friedensverhandlungen in Spa (1920) und den schwierigen und frustrierenden Verhandlungen über den Young-Plan (1929), was seine zunehmende Distanzierung von Weimar zum Teil erklärt. Der Versicherungsunternehmer Robert Gerling (1878–1935) steht im Zentrum des Beitrags von Boris Barth. Als erfolgreicher Gründer führte dieser mit innovativen Geschäftsmodellen ein patriarchalisches Familienunternehmen, was erklären kann, dass er den einzigen Streik in seinem Unternehmen 1920 geradezu als persönliche Beleidigung empfand. Politisch war er wenig interessiert. Die Inflationszeit nutzte er resolut zur Expansion. Von den Wirtschaftskrisen der Weimarer Zeit wurde er dank der hohen Liquidität seines Unternehmens kaum berührt. Stattdessen organisierte er über seine Regionalgesellschaften ein umfangreiches Netzwerk. Der Eisen-, Stahl- und Metallindustrielle Otto Wolff (1881–1940) wird von Dittmar Dahlmann analysiert. Als Liberaler und Frankophiler der DVP nahestehend, stand er in Verbindung zum Kölner „Stadtadel“ um Konrad Adenauer und Robert Pferdmenges. Im Ruhrkampf gemäßigt argumentierend galt er vielen bald als „Vaterlandsverräter“ und wurde zum Ende der Weimarer Republik hin aufgrund antisemitischer Schmähungen erst recht zum aktiven Gegner der NSDAP. Im Export nicht zuletzt dank der „Russengeschäfte“ mit der Sowjetunion durchaus erfolgreich, überwand sein Unternehmen zwar die Inflationsphase, aber nicht mehr die Weltwirtschaftskrise, an deren Ende das Unternehmen überschuldet und illiquide war. Günther Quandt (1881–1954) wird von Judith Michel vorgestellt. Der Tuchindustrielle passte sich in der Weimarer Zeit schnell in verschiedenen Branchen an, nutzte die Inflation, wurde zum Industriellen auch der Kali-, Akkumulatorenund Rüstungsindustrie, dabei stets gerne im Verborgenen agierend. Politisch wenig interessiert, trieb er die Internationalisierung seiner Firmen voran. Letztlich nicht eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob seine Unternehmen, die in der Weltwirtschaftskrise teilweise in gefährliche Schräglage gerieten, sich auch ohne die nach 1933 hereinkommenden Rüstungsaufträge hätten erholen können. Tim Schanetzky betrachtet den Montanindustriellen Friedrich Flick (1883– 1972). Als gewandter Spekulant nutzte er für Fusionen und Finanzierungen verschachtelte Vermögensstrukturen und war damit als ehrgeiziger und risikoberei-

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ter Aufsteiger erfolgreich. Die in der Montanindustrie einsetzende Krise nach der Währungsstabilisierung überwand er durch den Zusammenschluss zu Rationalisierungsgemeinschaften. In der Weltwirtschaftskrise nutzte er geschickt den Staat zur Rettung und spielte dabei die nationale Karte, wenn es ihm entgegenkam. Der Flugzeugindustrielle Claude Dornier (1884–1969) wird von Lutz Budraß vorgestellt. Als Techniker und Konstrukteur war der angestellte Geschäftsführer in erster Linie an der Entwicklung interessiert. Weil der Flugzeugbau ganz wesentlich staatlich gelenkt war, waren unternehmerische Handlungsspielräume geringer als sonst: Die Versailler Bestimmungen konnten zwar durch den Auslandsstandort in der Schweiz umgangen und der Einbruch der Staatssubventionen in der Weltwirtschaftskrise durch Anleihen kompensiert werden, aber die Fragen des Entwicklungsstillstands in den späten 1920er Jahren ließen sich dadurch nicht lösen. Andreas Meyhoff porträtiert Rudolf Blohm (1885–1979), den Sohn des Mitgründers des Schifffahrtsunternehmens Blohm & Voss. Rudolf Blohm war ein Gegner der Weimarer Republik und hielt Verbindung zu deutschnationalen und monarchistischen Kreisen; er unterstützte das Freikorps Lettow-Vorbeck und lehnte die Reparationspolitik ab; auch im Verhältnis zur Arbeiterschaft zeigte sich das Misstrauen gegenüber den gewerkschaftliche Organisationen und den Wünschen nach betrieblicher Mitsprache. Als Patriarch wollte er zwar gut entlohnen, aber Blohm radikalisierte sich angesichts der gewaltsamen Arbeitskonflikte zu Beginn der zwanziger Jahre. Wirtschaftlich war das Unternehmen durch Auslandsgeschäfte und mehrere Großaufträge bis 1933 erfolgreich. Florian Triebel untersucht Franz Josef Popp (1886–1954), einen Managerunternehmer bei den Bayerischen Motorenwerken (BMW) – einem Unternehmen, das von den Versailler Bestimmungen besonders hart betroffen war und sich erst mit der Aufweichung der Bestimmungen im Jahr 1922 auf sein Kerngeschäft konzentrieren konnte. Popps unternehmerisches Denken und Handeln war das eines von der Produktionslogik geprägten Fabrikdirektors, der innovative wie konservative Ideen gleichermaßen verfolgte, sofern es der Stärkung „seines“ Fabrikstandorts diente. Dadurch geriet er immer wieder in Konflikt mit den anderen BMW-Standorten, was schließlich in den 1940er Jahren zu seinem Ausscheiden führte. Horst A. Wessel betrachtet mit Wilhelm Zangen (1891–1971) einen Mann der Maschinenbauindustrie. Der Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen agierte geschickt bei Fusionen und Rationalisierungen und war als Sanierer ausgesprochen vorsichtig. In der Weimarer Republik zeigte sich diese Haltung im Wunsch, dass der Staat sich aus der Wirtschaft heraushalten solle. In der Inflationszeit war es seiner Vorsicht zu verdanken, dass Vermögenswerte des Unternehmens gerettet und über Auslandsaufträge selbst die Weltwirtschaftskrise gemeistert wurde. Am Ende danken wir besonders Frau Gabriele Quandt, der Johanna-QuandtStiftung sowie der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn für eine Druckkostenbeteiligung. Unser Dank gilt ebenfalls Valentin Wutke, Janina Klement, Inga Raspe und Nina Schnutz für ihre hilfreichen Dienste.

AUGUST THYSSEN (1842–1926) – IM KRIEGSZUSTAND Das „alte Eisen“ August Thyssen in der neuen Republik von Weimar Jörg Lesczenski „Das Schicksal hat Deutschland sehr schwer getroffen[.] Für uns ist der Krieg erst v[on] 1918–1925 eingetreten. An allen Ecken und Enden sehen wir den Untergang der großen deutschen Industrie, deren Aufgang und deren Untergang ich sah“1 – rund vier Monate vor seinem Tod am 4. April 1926 brachte der hoch betagte Ruhrindustrielle August Thyssen seinen Lebensweg als Unternehmer und seine Deutung der eigenen Biographie in wenigen Worten präzise auf den Punkt. Als erster Sohn von Friedrich und Katharina Thyssen am 17. Mai 1842 in Eschweiler geboren, erlebte er in einer katholischen wirtschaftsbürgerlichen Familie – sein Vater gehörte u. a. zu den Gesellschaftern der im März 1922 gegründeten „Draht-Fabrik-Compagnie“, die Friedrich zwischen 1834 und 1859 auch als Direktor leitete – die Anfänge der Industrialisierung von Kindesbeinen an mit. Technisch und kaufmännisch bestens ausgebildet verließ August Thyssen seine Heimatstadt und begann mit großzügiger finanzieller Unterstützung der Eltern seine Laufbahn im aufstrebenden Ruhrgebiet, wo er seit den ausgehenden 1860er-Jahren zum „Aufgang“ der „deutschen Industrie“ und zum Durchbruch des industriekapitalistischen Systems zweifellos ansehnliche Beiträge leistete. Thyssen hatte wahrlich genügend Gründe, um seine berufliche Karriere zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg als eine Lebensphase des kontinuierlichen ökonomischen und persönlichen Fortschritts zu interpretieren (sein Familienleben wurde dagegen von persönlichen Enttäuschungen, der Scheidung von seiner Frau Hedwig und vielfältigen Konflikten mit seinem vier Kindern Fritz, August junior, Heinrich und Hedwig bestimmt). Gemeinsam mit dem Belgier Noel Fossoul gründete er am 1. April 1867 in Duisburg zunächst das Puddel- und Bandeisenwalzwerk „Thyssen, Fossoul & Co.“, um nach vier erfolgreichen Jahren als Jungunternehmer schließlich auf eigenen Füßen zu stehen. Erneut mit Hilfe seines Vaters hob er am 16. April 1871 in Styrum das erste eigene Unternehmen, das Bandeisenwalzwerk „Thyssen & Co.“, aus der Taufe, das er mit seinem guten Gespür für Märkte und Trends und mit seiner Bereitschaft, Risiken zu tragen und sich bietende ökonomische Chancen zu nutzen, in den nächsten Jahre rasch ausbaute. Thyssens Wertekanon, der Arbeit, Leistung und das Unternehmen in das Zentrum der Lebensführung rückte, seine Begeisterung für 1

Brief August Thyssens an Margareta Thyssen-Bornemisza, o. O. [Düsseldorf-Heerdt], o. D. [31. Dezember 1925], in: Manfred Rasch (Hrsg.), August Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza. Briefe einer Industriellenfamilie 1919–1926, Essen 2010, S. 432.

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den technischen Fortschritt sowie ein sprichwörtliches „glücklichen Händchen“ bei der Auswahl seiner engsten Mitarbeiter kamen der Expansion von Thyssen & Co. zusätzlich zu Gute. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Vorstandsmitglied im Grubenvorstand der AG Schalker Gruben- und Hüttenverein trieb er seit den 1880er-Jahren sein wichtigstes unternehmenspolitisches Ziel immer deutlicher voran: der Aufbau eines großen vertikalen Montankonzern. 1883 wurde er Mitglied im Grubenvorstand der Gewerkschaft Deutscher Kaiser (GDK) in Hamborn und erwarb gemeinsam mit seinem Bruder Joseph in den nächsten acht Jahren alle Kuxe der Gewerkschaft, die nach dem Aufbau eines Stahl- und Walzwerks in Bruckhausen seit dem Winter 1891 als integriertes Hüttenwerk betrieben wurde. In den nächsten Jahren forcierte er die Expansion der GDK, die sich zum Herzstück des expandieren Thyssen-Konzern entwickelte. Auch forcierte er die Internationalisierung der Firmengruppe, die vor allem durch zahlreiche Beteiligungen an ausländischen Erzgruben und durch den Ausbau des eigenen Handels- und Transportnetz beschleunigt wurde. Vor dem Ersten Weltkrieg stand August Thyssen auf dem Höhepunkt seiner ökonomischen Macht. Seine Werke nahmen im Sommer 1914 innerhalb des Ruhrgebiets den dritten Rang bei der Erzeugung von Roheisen sowie den zweiten Rang bei der Rohstahlproduktion und beim Walzen von Stahl ein. Von „Kriegstreiberei“ hielt sich Thyssen am Vorabend des drohenden militärischen Konflikts noch fern. Das Szenario eines europäischen Krieges beunruhigte ihn eher und erschien ihm als eine Bedrohung für seinen international weit verzweigten Konzern. Mit den ersten militärischen Erfolgen und von der nationalen Euphorie erfasst, wechselte August Thyssen buchstäblich die Fronten und stand nunmehr aus wirtschaftlichen Gründen eng an der Seite der Annexionisten. Territoriale Gewinne sollten dazu beitragen, die Versorgung der Thyssen-Werke mit Erzen auf Dauer zu gewährleisten. Was folgte, waren indes die große Ernüchterung und die Jahre des „Untergangs“ – zumindest in der Lesart August Thyssens, der bis zuletzt auf einen erfolgreichen Kriegsverlauf gehofft hatte und nun als Unternehmer und als Privatmann vom Übergang zur Weimarer Republik sowie den stürmischen politischen und wirtschaftlichen Wirren der Nachkriegszeit allenthalben eingeholt wurde. AUGUST THYSSEN ALS ÖKONOMISCHER AKTEUR IN DEN KRISEN DER NACHKRIEGSZEIT Das Kriegende und die Novemberrevolution 1918 verschoben auch im Ruhrgebiet die politischen Machtverhältnisse. Wie in anderen Städten an Rhein und Ruhr übertrugen in Hamborn Volksversammlungen die Entscheidungsgewalt dem lokalen Arbeiter- und Soldatenrat, der unter dem Einfluss radikaler syndikalistischer Kräfte stand und mit Nachdruck eine durchgreifende Sozialisierung der Montanindustrie forderte. Die Gefahr einer wirtschafts- und ordnungspolitischen Revolution beantwortete August Thyssen mit einer Reform der Konzernstruktur. Er stellte die GDK organisatorisch neu auf und trennte die Kohlengruben von den Hüttenwerken, die

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bei einer Sozialisierung des Bergbaus so vor dem Zugriff der neuen Machthaber geschützt werden sollten. Nach der Auflösung der GDK am 1. Januar 1919 wurden in der „Gewerkschaft Friedrich Thyssen“ die Zechenbetriebe fortgeführt, während in der „August Thyssen-Hütte, Gewerkschaft“ die Hütte in Bruckhausen und das Walzwerk in Dinslaken die Produktion fortsetzten. Die Neuordnung des Konzerns erwies sich durchaus als weitsichtige Entscheidung, stand doch der laustarke Ruf nach einer Verstaatlichung der Schlüsselindustrien in der zweiten Phase der Novemberrevolution insbesondere im Ruhrgebiet auf der Agenda der revolutionären Massen- und Streikbewegung, die im Frühjahr 1919 unter dem Einsatz massiver militärischer Gewalt eingedämmt wurde. Die Unternehmenspolitik August Thyssens blieb freilich nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern bis in die Jahre 1924/25 hinein darauf ausgerichtet, die Folgen des Ersten Weltkriegs zu bewältigen, die den Konzern zwar nicht in seiner Existenz bedrohten, sehr wohl aber in seiner Substanz trafen. Der Verlust von Beteiligungen an französischen, britischen, norwegischen, russischen und nordafrikanischen Erzfeldern wirkte sich ebenso störend aus wie der Verlust der Stahlwerk Thyssen AG in Hagendingen. Unter dem Eindruck der Kriegsschäden, die seine Leistung, „die größten deutschen Unternehmen geschaffen“2 zu haben, nahezu ganz vernichtet hätten, sah August Thyssen nunmehr sein Lebenswerk in Frage gestellt. Um den Konzern wettbewerbsfähig zu halten, mussten vor allem jene Produktionsanlagen, die zwischen 1914 und 1918 abgenutzt worden waren, dringend erneuert werden. Oberste Priorität räumte Thyssen der groß angelegten Modernisierung der August Thyssen-Hütte ein, die er in die Hände seines ältesten Sohns Fritz legte. Zum Investitionsprogramm, das in Bruckhausen 1920 begann und bis ins Jahr 1925 reichte, gehörten u. a. der Bau eines siebten Hochofens und einer neuen Gießhalle. Daneben konzentrierte sich seine Unternehmenspolitik darauf, die Versorgung des Konzerns mit Rohstoffen sicherzustellen. Ohne große Probleme ließ sich der Bedarf an Kohle decken, da den Thyssen-Werken auch nach dem Krieg genügend eigene Grubenfelder verblieben. Überdies entschloss sich Thyssen, der stets an die hohe Bedeutung des Bergbaus für die deutsche Industriewirtschaft glaubte, im Norden des Ruhrgebiets weitere Kohlenfelder zu erschließen. Größere Mühe musste er dagegen aufbringen, um die Erzversorgung zu garantieren. Thyssen nahm zunächst deutsche Erzgruben ins Visier und gewann über Beteiligungen an verschiedenen Unternehmen (Georgs-Marien-Bergwerks- und Hüttenverein, Geisweider Eisenwerke AG etc.) Zugriff auf den begehrten Rohstoff. Ferner gewannen Erzlieferungen aus Skandinavien in den frühen 1920er-Jahren an Bedeutung, die 1925 47,2 Prozent der in Bruckhausen verwerteten Erze ausmachten (der Anteil deutscher Erze lag im gleichen Jahr bei 19,5 Prozent).3 Schließlich standen auch Fragen der Unternehmensfinanzierung weit oben auf der Tagesordnung, die seit der Hyperinflation 1923 und der Schwäche des inner2 3

ThyssenKrupp-Konzernarchiv (TKA) NJT/028: Brief August Thyssens an Geheimrat Franz von Schönebeck, Baden-Baden, 22. August 1919. Zahlen nach: Wilhelm Treue, Die Feuer verlöschen nie. August Thyssen-Hütte 1890–1926, Düsseldorf und Wien 1966, S. 224 f.

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deutschen Kapitalmarkts seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurften. Da die Erinnerungen an die Rolle des wilhelminischen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg im europäischen Ausland noch frisch waren und die Nachbarstaaten gleichfalls ökonomische Krisen zu bewältigen hatten, blickte Thyssen bei seiner Suche nach Geldgebern mit Erfolg in die USA. Das namhafte New Yorker Bankhaus Dillon, Read & Co. legte eine Anleihe auf, die am 1. Januar 1925 platziert wurde und dem Thyssen-Konzern 12 Mio. Dollar einbrachte, die in das Investitionsprogramm zur Modernisierung der August Thyssen-Hütte und in die Schuldentilgung flossen. Die Versuche, den Konzern wieder in ruhiges Fahrwasser zu führen, wurden immer wieder von der „großen Politik“ überlagert und verzögert. Im Frühjahr 1920 griff der Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin auf das Ruhrgebiet und seine Großunternehmen über, die sich erneut in chaotischen politischen Verhältnisse und einem Klima der Gewalt bewähren mussten. Am 20. März 1920 fielen auf dem Gelände der Bruckhausener Hütte Teile der Produktionsanlagen und des Verwaltungsgebäudes den gewalttätigen Konflikten zwischen der „Roten Ruhrarmee“ und der Reichswehr zum Opfer. Drei Tage später wurde der Betriebsdirektor der Gewerkschaft Lohberg 1/2, Heinrich Sebold, von Rotarmisten ermordet. Am Monatsende legte ein Generalstreik, dem sich rund 330.000 Arbeiter anschlossen, die Werksanlagen des Thyssen-Konzerns nahezu still. August Thyssen hatte sich bereits am 8. März 1920 in Sicherheit gebracht und flüchtete zunächst zu seiner Schwester Balbina nach Düsseldorf, bevor er von Oberstdorf aus die politischen Wirren im Ruhrgebiet im Auge behielt. In einem Telegramm an die Berliner Regierung forderte er am 2. April 1920 die politischen Entscheidungsträger auf, „sofort alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die auf den Schächten noch vorhandenen Arbeitswilligen zu schützen und die Streikenden mit allen Mitteln zur Arbeit anzuhalten“. Weiter führte er aus: „Da eine Ansammlung von Brennstoffvorräten infolge der […] andauernden Streiks auf unseren Schächten völlig unmöglich war, werden die Hochöfen der Werke in Bruckhausen und Meiderich innerhalb weniger Tage zum Erliegen kommen und ein Ersaufen sämtlicher Schachtanlagen im Gefolge haben, da deren maschineller Betrieb, insbesondere die Wasserhaltungen, von der elektrischen Stromversorgung durch die beiden genannten Hochofenwerke vollständig abhängig ist.“ Die „noch Arbeitswilligen“ müssten unbedingt geschützt und „50.000 Arbeiter mit ihren Familien“ vor der Arbeitslosigkeit bewahrt werden.4 Die Regierung um Reichskanzler Gustav Bauer entschloss sich schließlich zum Einsatz massiver Gewalt und beorderte Einheiten der Reichswehr samt Freikorpsverbände in das Ruhrgebiet, die seit dem 3. April in erbitterten Kämpfen mit der Ruhrarmee die Streikbewegung unterdrückten. Es dauerte keine drei Jahre, bis eine verhängnisvolle Gemengelage von innenund außenpolitischen Krisen – der Putsch-Versuch Adolf Hitlers, kommunistische Aufstände, die drückende Last der Reparationszahlungen und die um sich greifende Hyperinflation – die noch junge Republik an den Rand des Abgrunds drängte. Im 4

Telegramm August Thyssens an die Reichsregierung in Berlin, 2. April 1920, abgedruckt in: ebd., S. 199.

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Ruhrgebiet waren es besonders der Zwist um die Reparationen und die Ruhrbesetzung, die August Thyssen in Atem hielten. Nachdem die Reparationskommission unter dem Druck Frankreichs der deutschen Regierung vorwarf, ihren Reparationsleistungen vorsätzlich nicht nachzukommen (es ging um Rückstände bei der Lieferung von Holz und Kohle), delegierte Raymond Poincaré eine Kommission in das Ruhrgebiet, die dafür Sorge tragen sollte, dass Deutschland seine Reparationsleistungen einhielt. Zu ihrem Schutz, wie es offiziell hieß, wurden dem Expertengremium 60.000 französische und belgische Soldaten zur Seite gestellt, die am 11. Januar in das rheinisch-westfälische Industriegebiet einmarschierten. In Berlin rief der Reichstag zwei Tage später zum passiven Widerstand auf, sprich: Beamte sollten Anordnungen der Besatzungstruppen nicht befolgen. Darüber hinaus unterblieben Reparationslieferungen nach Frankreich und Belgien. Die Ruhrbesetzung griff schnell in die persönliche Lebenswelt August Thyssens ein. Vom 12. Januar bis zum und 22. April 1923 waren auf Schloss Landsberg fast durchgehend französische Offiziere und Mannschaftssoldaten untergebracht, die seinen Wohnsitz erheblich in Mitleidenschaft zogen. Porzellan wurde zerstört, Sessel, Stühle und Parkettböden beschädigt (ob und wie häufig Thyssen zwischen Januar und April auf Landsberg verweilte, lässt sich kaum verlässlich rekonstruieren). Im Sommer traf die Ruhrbesetzung auch die Produktionsanlagen des Konzerns. Truppenverbände nahmen am 15. Juli die Bruckhausener Hütte in Beschlag, ruinierten die Gleisanlagen und bemächtigten sich der Brennstoffvorräte. Anfang September konfiszierten Militäreinheiten Roheisen, Halbzeuge sowie Fertigprodukte und schafften Kohle- und Stahlvorräte fort. Während der Besetzung wurden ferner Beleuchtungsanlagen verwüstet, etwa 200 Motoren zerstört sowie Kupferund Wasserleitungen abgetragen. Persönlich mit der Selbstherrlichkeit der Besatzungstruppen und als Unternehmer mit den Rückschlägen bei der Modernisierung der Werksanlagen über Wochen und Monate unmittelbar konfrontiert, gab August Thyssen die Hoffnung auf stabile wirtschaftliche Verhältnisse nahezu ganz auf. Die Ruhrbesetzung habe die deutsche Industrie „auf Jahre hinaus zurückgeworfen“.5 Die rigide Reparationspolitik Frankreichs und Belgiens betrachtete er als schlichtweg ökonomisch kontraproduktiv: „Ich muss gestehen, dass der Hass, womit Frankreich und Belgien uns verfolg[en], mir unverständlich ist. A[uf] der einen Seite tut man Alles, um Deutschland zu vernichten, auf der anderen Seite stellt man die unglaublichsten Forderungen für die Zukunft, die nur ein wohlhabendes Land decken und verdienen kann. Wie sollen wir die jährlichen großen Raten zahlen können, wenn die Gegner unsere Arbeiter im Streik unterstützen, unsere Lebensmittel […] verteuern, unsere Werke und unsere Eisenbahnen u[nd] Kanäle besetzen, unsere Wohnungen und Möbel uns nehmen und dadurch das Land zur Verzweiflung bringen.“6 Zugleich sprach er sich für eine friedliche Lösung der Reparationsfrage aus, die letztlich im Interesse der gesamten europäischen Wirtschaft sein müsse: „Frankreich, Belgien und Deutschland sind aufeinander angewiesen, wenn sie gedeihen 5 6

Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Schloss Landsberg, 27. Mai 1923, in: Rasch, August Thyssen, S. 193. Ebd.; die Ausführungen Thyssens wurden der neuen Rechtschreibung angeglichen.

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wollen […] Wie glücklich würde ganz Europa sein, wenn seine Völker mit den Vereinigten Staaten v[on] Amerika in friedlicher Weise sich entwickeln würden und an dem großen Wohlstand, den Amerika jetzt allein erwirbt, teilnehmen könnten. Die besten Kräfte von Frankreich und Belgien sind jetzt im Rheinlande und Westfalen tätig, um zu vernichten u[nd] zu zerstören, statt im eigenen Lande Gewerbe und Industrie aufzubauen und zu entwickeln.“ Die „Führer der verschiedenen Nationen“ müssten „den Mut besitzen, […] ihren Völkern […] zu raten“, untereinander endlich wieder freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Ansonsten laufe ganz Europa Gefahr, sein ökonomisches Gewicht in der Weltwirtschaft zu verlieren: „Ich sehe in der Feindschaft der europäischen Völker untereinander […] unseren Untergang. Nur Amerika, Asien, Australien u[nd] Afrika werden dabei gewinnen“.7 Nach dem Abbruch des passiven Widerstands am 26. September 1923, der Wirtschaft und Gesellschaft zusehends über Gebühr strapaziert hatte, setzten Politik, Wirtschaft und die Siegermächte wieder auf das gemeinsame Gespräch. Im Ruhrgebiet liefen nach Abkommen mit der „Mission Interalliée de Controle des Usines et des Mines“ (Micum) die Anlagen der Montanunternehmen wieder an. Im November und Dezember zogen sich die Militäreinheiten von der AugustThyssen-Hütte zurück, im Januar 1924 nahmen die Zechen des Thyssen-Konzerns ihren Betrieb wieder auf. Auf der internationalen Bühne führten neue Verhandlungen über die Reparationslast zu annehmbaren Ergebnissen. Des Dawes-Plan, im August 1924 vom Berliner Reichstag angenommen und auch von August Thyssen ausdrücklich begrüßt, verhalf der Republik von Weimar zu etwas größeren finanziellen Spielräumen, indem die jährlichen Belastungen neu festgeschrieben wurden (u. a. sollte Deutschland nun in den kommenden fünf Jahren eine Milliarde Mark aufbringen und die im Londoner Zahlungsplan von 1921 festgelegten Raten von zweieinhalb Milliarden Mark erst wieder 1928/29 leisten). Mit seiner Ratifizierung trat auch die Bestimmung über den Abzug französischer Militärverbände an Rhein und Ruhr in Kraft, die bis zum 1. August 1925 die rheinisch-westfälische Industrieregion verließen. Die politisch ruhigeren Zeiten, der Übergang in eine Phase der „prekären Stabilisierung“8, aber auch die Modernisierung der Produktionsstätten führten zu einer allmählichen Konsolidierung des Thyssen-Konzerns. Zwischen 1923 und 1924 erhöhte sich in Bruckhausen die Produktion von Roheisen von 426.000 auf 765.000 Tonnen. Gleichzeitig stieg der Ausstoß von Thomasstahl, der 1923 343.000 Tonnen betrug, deutlich auf 723.000 Tonnen an. 1924 verließ schließlich auch wieder mehr Siemens-Martinstahl die Hütte (266.000 Tonnen statt 139.000 Tonnen).9 Die erfreulichen Kennziffern waren für August Thyssen auf der einen Seite Anlass, daran zu glauben, „dass die Basis, worauf unsere Werke aufgebaut sind, auch die heutige sehr schwere Belastung tragen können, weil unsere Werke eine vorzügliche Kohlenbasis, eine sehr gute Wasserlage und gute Arbeiter u[nd] Beamte sowie ganz 7 8 9

Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Schloss Landsberg, 27. Mai 1923, in: ebd., S. 195. Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 244. Produktionszahlen nach: Treue, Die Feuer verlöschen nie, S. 226 f.

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hervorragende Einrichtungen auf allen Abteilungen haben.“10 Auf der anderen Seite zehrte die zähe Rekonstruktion des Konzerns unter fortdauernd labilen politischen Verhältnisse spürbar an seinen Kräften und seinem Fortschrittsoptimismus, der ihn gerade vor dem Ersten Weltkrieg trug. Nichts bringt seine ambivalente Gemütslage, die ihn bis zum seinem Tod 1926 nicht mehr los ließ, besser zum Ausdruck, als seine Analyse des Status quo im Frühjahr 1924. Er räume zwar ein, „dass durch den Aufschwung der Verhältnisse unsere Position […] im Ganzen sich gebessert hat“. Dennoch wäre es „am besten […], wenn ich bald sterben würde, denn ich sehe mit tiefem Kummer in den Abgrund hinein, worin mein armes, unglückliches Vaterland sich befindet.“11 Häufig genug packten ihn nun Selbstzweifel und die Furcht, mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen den komplexen unternehmenspolitischen Aufgaben nicht mehr zu genügen. Er gehöre längst „zum alten Eisen“ und häufig „denkt die Welt heute anders“ als er selbst.12 „DER FEIND STEHT LINKS“. POLITISCHE GRUNDHALTUNGEN In den politischen Grundhaltungen Thyssens spiegelt sich der Zeitgeist (nicht nur) der Ruhrindustriellen nahezu exemplarisch wider. Sein außenpolitisches Denken stand am Beginn der Weimarer Republik explizit unter dem Eindruck des Versailler Vertrags. In den nationalen Zorn über seine Bestimmungen fügte sich auch August Thyssen ein, der den Vertrag als „den härtesten […], der je geschlossen wurde“, und als gänzlich „unwürdig“ für Deutschland charakterisierte.13 Die Entscheidung der Pariser Konferenz im Januar 1921, Deutschland eine Reparationslast von 269 Milliarden Goldmark aufzubürden, nahm er zum Anlass, öffentlich zu den drohenden finanziellen Belastungen Stellung zu nehmen. Die Beschlüsse „bezwecken […] in erster Linie die Vernichtung [von] Deutschlands Handel und Industrie. Unmögliches wird diktiert, um später, wenn die Nichterfüllung der auferlegten Bedingungen festgestellt wird, wieder neue Ungeheuerlichkeiten fordern zu können. Regierung und Volk müssen wie ein Mann gegen das Diktat sich aufbäumen, mögen die Konsequenzen sein, welche sie wollen, wenn wir zugrunde gehen, müssen auch Frankreich und Belgien in den Abgrund gerissen werden. Das deutsche Volk muss in seiner Gesamtheit die beabsichtigte Versklavung auf Jahrzehnte hinaus ablehnen.“14 10 11 12 13

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Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 13. Februar 1924, in: Rasch, August Thyssen, S. 279. Hervorhebung von August Thyssen. Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, o. O., o. D. [vermutlich nach dem 10. Mai 1924], in: ebd., S. 290 Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 17. Dezember 1924, in: ebd., S. 354. Briefe August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Schloss Landsberg, 10. Mai, 19. Juni, 8. Juli 1919, in: ebd., S. 89 f., S. 93 f. und S. 100–102; Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Berlin, 26. Oktober 1919, in: ebd., S. 118; Brief August Thyssens an Margareta Thyssen-Bornemisza Sen., Schloss Landsberg, 29. Juni 1919, in: ebd., S. 97 f. TKA A/1763: Wirtschaftliche Nachrichten aus dem Ruhrbezirk, Nr. 8, 12. Februar 1921: August Thyssen, Die Wahnforderungen des Feindbundes.

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Die innenpolitische Orientierung August Thyssens, der sich als katholischer Großindustrieller der Zentrumspartei nahe fühlte, wurde zeitlebens durch die rigorose Frontstellung zum linken politischen Spektrum strukturiert. Die Erfahrungen mit den Arbeiter- und Soldatenräten in Mülheim an der Ruhr untermauerten seine parteipolitische Grundorientierung zusätzlich. In der Regierungsverantwortung waren linke Parteien seiner Meinung nach rundum fehl am Platz. Er schöpfe erst wieder Vertrauen in die Weimarer Demokratie, wenn es gelungen sei, „Sozialisten und Kommunisten aus der Deutschen Regierung [zu] verdrängen“.15 Darüber hinaus sei ihr Einfluss auch innerhalb des Thyssen-Konzerns verhängnisvoll. Sozialisten und Kommunisten betrachtete Thyssen als ständige Unruheherde, die nichts anderes im Sinn hätten, als zu Streiks aufzurufen und die Autorität der Unternehmensführung zu untergraben. Zu seinem ausgeprägten antisozialistischem Selbstverständnis gehörte auch sein entschiedenes Veto gegen den Achtstundentag. Im Oktober 1922 interpretierte August Thyssen in einem Schreiben an Reichkanzler Wirth die „unterschiedslose Einführung des Achtstundentages für alle Arbeiter und Angestellten“ als „das Unglücklichste, das uns die Revolution bringen konnte“. Um Deutschland „vor dem Untergang zu bewahren“, sei vielmehr eine „verlängerte Arbeitszeit“ nötig, die auch gegen breiten Widerstand der Arbeitnehmer durchgesetzt werden müsse: „Wir müssen den Kampf einmal durchfechten, und je eher es geschieht, um so mehr können wir noch retten. Es handelt sich jetzt um Sein oder Nichtsein. Die Masse des Volkes muss – notfalls gegen ihren eigenen heftigen Widerstand – vor dem vollständigen Ruin geschützt werden.“16 Unter Missachtung geltender Gesetze und Tarifvereinbarung verlängerte der Zechenverband am 30. September 1923 die Schichtzeit im Bergbau von bislang siebeneinhalb auf achteinhalb Stunden. Unter dem Eindruck heftiger Proteste gegen das „Unnaer Arbeitszeitdiktat“ ruderte der Verband zunächst zurück, um schließlich doch noch sein Ziel zu erreichen. Die Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923 bestätigte formell den Achtstundentag als Normalarbeitstag, erlaubte aber den Zehnstundentag – eine Entscheidung, die auch auf das Wohlwollen Thyssens stieß. Dem Regierungssystem von Weimar misstraute August Thyssen nicht nur wegen des latent drohenden Einflusses linker Parteien. Wie bereits im wilhelminischen Zeitalter sprach er den Parlamentsmitgliedern auch nach dem Kriegsende den wirtschaftlichen Sachverstand ab. Überhaupt vermisste er in den maßgeblichen politischen Institutionen dringend notwendiges ökonomisches Expertenwissen. Auf den Regierungsbänken, so seine Analyse im Sommer 1919, säßen „keine oder nur wenige Geschäftsleute“, die wirtschaftliche Kompetenz und den Willen zu „Ordnung und Sparsamkeit“ verkörperten.17 Thyssen war davon überzeugt, dass alleine Unternehmer mit ihrem ausgeprägten Arbeitsethos, ihrem Pflichtgefühl und ihrem 15 16 17

Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 13. Februar 1924, in: Rasch, August Thyssen, S. 280. TKA A/564/7: Brief August Thyssens an Reichskanzler Herr Dr. Wirth, Mülheim/Ruhr, 14. Oktober 1922. TKA NJT/028: Brief August Thyssens an Geheimrat Franz von Schönebeck, Baden-Baden, 22. August 1919.

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Ordnungssinn in der Lage seien, die neue Republik durch die Krisen der Nachkriegszeit zu führen. Allerdings hätten Regierung und Parlamente rasch alles dafür getan, um die ökonomische Elite zu verprellen. Die ungenügende Würdigung ihrer rastlosen Arbeit, die Debatten über eine Sozialisierung von Unternehmen und die hohen Steuerlasten hätten maßgeblich dazu beigetragen, Unternehmer von einem aktiven politischen Leben abzuhalten. Nach Ansicht der meisten Großindustriellen hatte sich die staatliche Hand aus der Wirtschaft weitgehend herauszuhalten. Wenn überhaupt, sollte der Staat sich drauf beschränken, „Ruhe und Ordnung“ zu garantieren und der Wirtschaft samt ihren Unternehmen eine von politischen Störungen freie Entwicklung zu ermöglichen. So überrascht es nicht, dass August Thyssen für die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Ruhrgebiet 1919 in erster Linie die Regierung in Berlin zur Verantwortung zog, die sich über Wochen zurückhaltend verhalten und es versäumt habe, in einer „Hochburg der spartakistischen Umtriebe“18 die Gewalt der Streikbewegung einzudämmen. Die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit von Regierungsbehörden und der staatlichen Bürokratie und der Apell aus Industriellenkreisen, Fachleute aus der Wirtschaft stärker in den politischen Prozess zu integrieren, bestimmten bereits vor 1918 das politische Denken zahlreicher Großunternehmer. Das System der Kriegswirtschaft brachte Staat und Wirtschaft in ein „Nahverhältnis“19 von neuer Qualität und sorgte dafür, dass staatliche Eingriffe in die Rohstoffbewirtschaftung, die Güterproduktion und in den Arbeitsmarkt den Unternehmensalltag nunmehr maßgeblich mitbestimmten. Je länger sich August Thyssen und seine Standesgenossen mit staatlichen Interventionen in den wirtschaftlichen Prozess arrangieren mussten, desto „schriller stimmte die Industrie das hohe Lied industrieller Selbstverwaltung frei von bürokratischer und natürlich auch parlamentarischer Einmischung und Kontrolle an“.20 DER STÖRRISCHE PATRIARCH. FAMILIENKONFLIKTE UND NACHLASSENDE GESUNDHEIT August Thyssen erfuhr die Jahre nach dem Kriegsende nicht umsonst als einen Lebensabschnitt fortwährender Krisen. Zu den mannigfaltigen Problemen, die er als ökonomischer Akteur zu bewältigen hatte, traten Streitigkeiten innerhalb der Familie, die bereits seit den späten 1880er-Jahren den Alltag der Thyssens bestimmten und in den 1920er-Jahren in erster Linie Fragen der Nachfolgeregelung zum Thema hatten. Obwohl seine beiden Söhne Fritz und Heinrich seit der Jahrhundertwende ihre Qualitäten als Unternehmer innerhalb des Konzerns in unterschied18 19 20

TKA A/564/7: Brief August und Hans Thyssen, Gewerkschaft Deutscher Kaiser, an das Preußische Staatsministerium, Hamborn-Bruckhausen, 29. April 1919. Achim Hopbach, Unternehmer im Ersten Weltkrieg. Einstellungen und Verhalten württembergischer Industrieller im „Großen Krieg“, Leinfelden-Echterdingen 1998, S. 109. Gerald D. Feldman / Irmgard Steinisch, Industrie und Gewerkschaften 1918–1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985, S. 21.

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lichen Funktionen durchaus bewiesen hatten (sein Sprössling August junior kam zeitlebens nicht über die Rolle des „schwarzen Schafs“ in der Familie hinaus; für seine Tochter Hedwig sah er niemals eine Laufbahn als Unternehmerin vor), hielt er seine beiden Söhne fachlich und menschlich nur bedingt geeignet, seine Nachfolge anzutreten. Seinem ältesten Nachkommen Fritz sprach er den notwendigen einwandfreien Charakter für eine herausragende Unternehmerlaufbahn ab. Bei allen Verdiensten, die er sich etwa bei der Modernisierung der August Thyssen-Hütte erworben habe, dürfe nicht vergessen werden, dass Fritz seine Entschlüsse zu häufig launisch und unüberlegt treffe. Daneben vermisste August Thyssen bei seinem Sohn während längerer Verhandlungen die notwendige Ausdauer. Alles in allem sei Fritz in seinen Auffassungen zu sprunghaft und trete im Alltagsgeschäft geradezu als „AlleinHerrscher“21 auf. Heinrich Thyssen-Bornemisza, der die Rotterdamer Bank voor Handel en Scheepvart leitete und die Kreditpolitik des Großunternehmens maßgeblich mitgestaltete, warf er hingegen wiederholt vor, die Finanzpolitik lediglich als Bankier und nicht wie er selbst aus der Perspektive eines Industriellen zu beurteilen. Ganz anders beurteilte namentlich Fritz das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Söhnen. Seiner Meinung nach goss vor allem August Thyssen immer wieder Öl ins Feuer: Er werde von seinem Vater viel zu häufig „wie ein dummer Junge behandelt“, müsse ständig um eine „uneingeschränkte Vertrauenserklärung“ kämpfen und wolle seine Aufgaben endlich ohne Interventionen August Thyssens erfüllen.22 Auch wenn sich über das Verhalten beider im konkreten Geschäftsalltag nur schwer ein verlässliches Urteil treffen lässt – die Klagen Fritz Thyssens hatten offenkundig einiges für sich. Mit fortschreitendem Alter ergriff August Thyssen die Furcht, seinen Status und seine Autorität im Konzern zu verlieren. Er übertrug zwar 1919 und 1921 seine Anteile an den tragenden Säulen des Konzerns – der August Thyssen-Hütte und der Thyssen & Co. AG – Fritz und Heinrich, ließ sich aber gleichzeitig die Vollmacht einräumen, über die Generalversammlungen auf die Unternehmenspolitik unverändert Einfluss zu nehmen. Die Vorstellung, seinen Lebensabend nicht als aktiver Unternehmer zu bestreiten und von der Macht zu lassen, gehörte nicht zum Selbstverständnis August Thyssens, der vielmehr bis zu seinem Lebensende „auf seinem Posten“ 23 bleiben und „nicht von der Stelle weichen“24 wollte. Wenn er seine Auf-

21 22 23 24

Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, o. O. [Mülheim-Ruhr], o. D. [vermutlich zwischen dem 30. Juni und 2. Juli 1924], in: Rasch, August Thyssen, S. 306. Brief Fritz Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr-Speldorf, 28. Juli 1919; Brief Fritz Thyssens an August Thyssen, München, 1. August 1923, in: ebd., S. 105 f. und S. 220. Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Schloss Landsberg, 17. Juli 1919, in: ebd., S. 105. Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 27. November 1923, in: ebd., S. 242.

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gaben niederlege, sei die Unternehmensgruppe „kopflos“.25 Überdies werde der Konzern ohne ihn „sehr an Ansehen“ verlieren.26 Seine Haltung als störrischer Patriarch war letztlich wenig geeignet, die familiären Konflikte zu entschärfen. Vor allem trug er selbst dazu bei, eines seiner wichtigsten Lebensziele aus den Angeln zu heben. August Thyssen hätte nur zu gerne den Konzern über Generationen in Familienhand gehalten, was sich, wie er eingestehen musste, vor dem Hintergrund der Familienkonflikte und seinen entschiedenen Machtansprüchen allerdings kaum erreichen ließ. Nur bei einem „besseren Einverständnis“27 zwischen ihm und seinen Söhnen wäre es möglich gewesen, die Firmengruppe als Familienunternehmen fortzuführen. Die Jahre der Weimarer Republik kamen schließlich aus persönlichen Gründen einer Krisenzeit gleich. Thyssen musste schmerzlich erfahren, dass es um seine Gesundheit immer weniger zum Besten stand. Sich einzugestehen, dass die Kräfte nachließen, fiel ihm sichtlich schwer. In den Jahren nach dem Kriegsende nahm er sich als einen „alten, verschlissenen Mann“ wahr. Mit seinen „geistigen und körperlichen Kräften“ gehe es unerbittlich „bergab“28 Nach eigenem Bekunden erforderte es große Anstrengungen, der latenten Müdigkeit Herr zu werden, um zumindest „vier bis sechs Stunden“ konzentriert zu arbeiten.29 In den Herbst- und Wintermonaten 1925/26 hielten schließlich der drohende Verlust des Augenlichts und die bevorstehende Operation Thyssen in Atem, der befürchtete, im schlimmsten Fall seine Sehkraft zu verlieren und sich von seinen Aufgaben als Unternehmer verabschieden zu müssen. Ärztliche Kunst und eine bestmögliche Genesung eröffneten ihm nach dem gelungenen Eingriff im Februar 1925 die Chance, noch rund zwei weitere Monate die Geschichte des Thyssen-Konzerns mitzugestalten. VERLUSTE, ABSCHIEDE, ZÄSUREN Als einem Kind der Früh- und Hochindustrialisierung, das im Kaiserreich zu einem der wichtigsten Großunternehmer seiner Generation heranwuchs, das die Chancen nutzte, die das wilhelminische Zeitalter und ein zusehends globalisierte Wirtschaft boten, gingen August Thyssen mit dem Kriegsende und der neuen Republik von Weimar nahezu zwangsläufig alte Gewissheiten verloren. Er musste sich von der institutionellen Ordnung des Kaiserreichs, von einer sorgsam aufgestellten, auf die Transnationalität der Unternehmensgruppe abgestimmten Konzernorganisation, von seiner Hoffnung auf einen dauerhaften Familienfrieden und schließlich von 25 26 27 28 29

Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Schloss Landsberg, 30. Juli 1923, in: ebd., S. 219. Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim-Ruhr, 26. Juli 1925, in: ebd., S. 397. Briefe August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 26. September 1925, in: ebd., S. 412. Briefe August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 16. Juli 1924, 26./28. August 1923, 18. September 1923, in: ebd., S. 312, S. 224–226 und S. 231–233. Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Schloss Landsberg, 16. Juli 1923, in: ebd., S. 208.

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seinem Lebensziel verabschieden, eine industrielle Dynastie zu begründen. Vor dem Hintergrund der vielfachen Belastungen – persönliche Enttäuschungen, das zähe Ringen um die Zukunft des Konzerns, äußerst labile politische Verhältnisse, das Trauma der Ruhrbesetzung, die mühseligen Auseinandersetzungen mit seinen Söhnen um Macht und Einfluss etc. – mag es rückblickend kaum noch überraschen, dass sich August Thyssen mit seinen Unternehmen auch nach 1918 unverändert im Krieg wähnte. Inmitten der Weimarer Republik markierte das Jahr 1926 eine tiefe Zäsur in der Familien- und Unternehmensgeschichte der Thyssens. Am 4. April verstarb mit August Thyssen einer der letzten Urgesteine der deutschen Industrialisierung. Wenige Wochen später gingen die Kernunternehmen der Thyssen-Gruppe in die „Vereinigten Stahlwerke AG“ ein. Die Verhandlungen über einen Zusammenschluss großer Montanunternehmen an der Ruhr, die seit dem Kriegsende Fahrt aufgenommen hatten, hatte Thyssen, der noch an einigen vorbereitenden Gesprächen selbst teilgenommen hatte, mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgt. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen sprach er sich einerseits für einen neuen Großkonzerns aus, der die vielversprechende Möglichkeit bot, die Produktionskosten zu drücken und der Verschuldung gerade der August Thyssen-Hütte Einhalt zu gebieten. Andererseits sah er in dem Trust unter dem Strich lediglich ein „notwendiges Übel“, da er „gerne das Familienunternehmen, welches ganz großzügig geplant war, erhalten hätte“.30 Ein zusammenhängendes Firmenimperium der Thyssens gab es nach 1926 in der Tat nicht mehr. Allerdings verblieben seine Söhne Fritz und Heinrich über die Jahre der Weimarer Zeit hinaus in verantwortungsvollen Positionen. Fritz Thyssen hatte bei den Vereinigten Stahlwerken bis 1939 den Vorsitz im Aufsichtsrat inne (dem zwischen 1926 und 1933 auch Heinrich angehörte), entwickelte sich von einem Sympathisanten der NS-Bewegung zu einem ihrer Widersacher und verließ 1939 das nationalsozialistische Deutschland. Heinrich Thyssen-Bornemisza übernahm jene Unternehmen des einstigen Thyssen-Konzerns, die nicht in die Vereinigten Stahlwerke eingebracht worden waren, und leitete in den nächsten Jahren die „Thyssen-Bornemisza-Group“, ein bis heute Branchen übergreifend erfolgreiches Wirtschaftsimperium.

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Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza, Mülheim/Ruhr, 26. September 1925, in: ebd., S. 412.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Eglau, Otto, Fritz Thyssen. Hitlers Gönner und Geisel, Berlin 2003. Fear, Jeffrey R., Organizing Control. August Thyssen and the Construction of German Corporate Management, Cambridge 2005. Lesczenski, Jörg, August Thyssen 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008. Rasch, Manfred, August Thyssen. Der katholische Großindustrielle der wilhelminischen Epoche, in: Ders. / Gerald D. Feldman (Hrsg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898– 1922, München 2003, S. 13–107. Rasch, Manfred (Hrsg.), August Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza. Briefe einer Industriellenfamilie 1919–1926, Essen 2010. Treue, Wilhelm, Die Feuer verlöschen nie. August Thyssen-Hütte 1890–1926, Düsseldorf und Wien 1966. Wegener, Stephan (Hrsg.), August und Joseph Thyssen. Eine Familie und ihre Unternehmen, 2. Aufl., Essen 2008.

MAX OSCAR ARNOLD (1854–1938) – FABRIKANT, POLITIKER UND MÄZEN Esther Reinhart Die Bayerische Puppenstadt Neustadt bei Coburg, gelegen an der Deutschen Spielzeugstraße, initiierte im Jahr 2011 die Einrichtung eines virtuellen „Puppenstadtweges“. Dieser führt quer durch das gesamte Stadtgebiet und zeigt Häuser und Fabriken, in denen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Puppen- und Spielwaren produziert und von dort aus in die gesamte Welt exportiert wurden. In der wirtschaftlichen Hochzeit beginnend mit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges existierten in der Stadt rund 800 Unternehmen, die sich größtenteils in Heimarbeit mit der Herstellung von Spielwaren befassten. In fast jedem dritten Haus verdienten sich ganze Familien ihren Lebensunterhalt mit der Fertigung von Puppenkörpern, Kleidern, Schuhen, Perücken, Augen und zahllosen Puppenaccessoires. Als markante Stationen dieses Puppenweges finden sich am Neustädter Bahnhof die ehemaligen Max-Oscar-Arnold-Werke I und II, die bis heute das Stadtbild prägen. Diese imposanten Bauwerke lassen erahnen, welche Dimensionen die Neustädter Spielwarenindustrie in den Jahren ihrer Blüte einnahm. Wer war nun Max Oscar Arnold (1854–1938), der zu Lebzeiten als eine der schillerndsten Persönlichkeiten im Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha die Geschichte des Coburger Landes weit über dessen Grenzen hinaus prägte, dessen Lebenswerk bis in die heutige Zeit Folgewirkungen zeigt und dem doch in den Geschichtsbüchern so wenig Platz eingeräumt wird? Auf der einen Seite steht der erfolgreiche innovative Fabrikant, der aus kleinen Anfängen ein Unternehmen von Weltruhm erschuf, der Millionengewinne einfuhr und doch als armer Mann starb. Auf der anderen Seite ist da der Politiker, der Mäzen und seine Heimat liebende Romantiker, der unermüdlich für die Fortentwicklung des Coburger Landes kämpfte und dem das ehemalige Herzogtum seinen Platz im Freistaat Bayern verdankt. Die Person Max Oscar Arnold auf die des Fabrikanten beschränken zu wollen, würde seiner Bedeutung für das Coburger Land nicht gerecht werden. Deshalb soll vor der Schilderung seines wirtschaftlichen Erfolges bzw. Misserfolges während der Zeit der Weimarer Republik sein ehrgeiziges und vielfältiges Wirken in Politik sowie Gesellschaft schlaglichtartig beleuchtet werden. Dem Beispiel seines Vaters Karl folgend engagierte sich Arnold schon früh im Coburger Landtag (1884–1920), zuerst als normaler Abgeordneter und später als Landtagspräsident. Als Vertreter der Freisinnigen Partei zog er sogar in den Deutschen Reichstag ein (1914–1918), wo er als Wirtschaftsfachmann von vielen Seiten große Wertschätzung erfuhr. Sein ökonomisches Geschick zeigte sich gerade in Kriegszeiten, als es ihm gelang, seinen an Zivilgütern ausgerichteten Wirtschaftsbetrieb auf Kriegswirtschaft umzustellen

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und damit sowohl sich als auch der Bevölkerung in Zeiten der Zwangswirtschaft ein sicheres Auskommen zu garantieren bzw. seine Gewinne noch zu steigern. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges brach auch für das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha eine neue Zeitrechnung an. Die monarchischen Strukturen hatten ausgedient, Herzog Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha erklärte am 13. November 1918 seinen Rücktritt und nach kurzen Revolutionswirren nahm am 1. März 1919 die Coburger Landesversammlung mit Max Oscar Arnold als Alterspräsident ihre Arbeit auf. Mit Weitblick, unermüdlichem Eifer sowie mit großem finanziellen Einsatz hatte er bereits seit November 1918 den Anschluss des ehemaligen Herzogtums Coburg an den bayerischen Freistaat betrieben. Er sah die Zukunft der Coburger Landes besser im wirtschaftlich sowie agrarisch gut aufgestellten Bayern denn in Thüringen, wo nach dem Ersten Weltkrieg in ökonomischer Hinsicht Stillstand herrschte. Seine Überzeugungsarbeit sollte sich auszahlen. Am 30. November 1919 sprachen sich beinahe 90 Prozent der Einwohner für einen Anschluss an Bayern aus, und am 14. Februar 1920 kam es zum Abschluss des Staatsvertrages zwischen den Freistaaten Bayern und Coburg und damit zur Vereinigung der beiden Länder. Max Oscar Arnold zog als „Mann, dem Bayern das schöne Coburg verdankt“, wie auf der Titelseite des Neustädter Tageblattes vom 28. März 1929 zu lesen stand, als Abgeordneter des Coburger Landes 1920 für vier Jahre in den bayerischen Landtag ein. Auf seine Initiative gründet sich die Einrichtung der Coburger Landesstiftung. In diese gingen, basierend auf dem Vertrag mit Herzog Carl Eduard vom 1. Juni 1919, die Kunstsammlungen in der Veste, im Schloss Ehrenburg und im Naturkundemuseum sowie die Hofbibliothek und das Landesarchiv ein. Die Landesstiftung diente von Anfang an der Förderung von Kunst, Wissenschaft und Gewerbe, von Volksbildung und Volkswohlfahrt sowie der Pflege der Coburger Kultur- und Naturdenkmäler und der Erforschung der Coburger Geschichte. Damit bewahrt sie bis in die heutige Zeit die kulturelle Identität des Landes. Außenpolitisch wurde Arnold tätig, als es um den Erhalt der Niederfüllbacher Stiftung ging. Diese Einrichtung mit Sitz in Coburg hatte der belgische König Leopold III. im Jahr 1907 ins Leben gerufen. Darin wollte dieser seine immensen Reichtümer, darunter die Besitzungen im Kongo, vor seinen Erben und dem belgischen Staat in Sicherheit bringen. Der Wert der Stiftung belief sich nach Schätzungen aus dem Jahr 1909 auf 40 Millionen Franken zuzüglich einigen Mobiliars und Grundbesitzes von 25 Millionen Hektar Land im Kongo. Die Erträge der Stiftung sollten nach dem Willen des Königs zu einem stattlichen Teil dem verwandten Coburger Herzogtum zu Gute kommen. Zwar verurteilte Arnold die Gräueltaten, die im Namen Leopolds III. im Kongo begangen wurden und denen etwa zehn Millionen Menschen zu Opfer fielen, auf das Schärfste. Doch an der Richtigkeit der deutschen Kolonialpolitik als wichtiger Motor für die nationale Ökonomie zweifelte er nie. Als nach dem Tod des Regenten seine Erben und der belgische Staat Ansprüche geltend machten, versuchte Max Oscar Arnold sein Möglichstes, selbst auf gerichtlichem Weg, die Stiftung für das Herzogtum zu erhalten. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte alle seine Bemühungen zunichte und das Stiftungsvermögen ging zum größten Teil verloren.

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Erfolgreicher war Arnold hinsichtlich der Verbesserung der Infrastruktur des Coburger Landes, insbesondere bei der verkehrstechnischen Erschließung zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Hier ging es ihm zum einen darum, die Mobilität der Bevölkerung grundsätzlich zu steigern, sowie ihm selbst als Unternehmer schnellere Vertriebswege zu eröffnen. Vor allem der Bau von Eisenbahnen lag ihm sehr am Herzen, weshalb die im Jahr 1920 eingeweihte Steinachtalbahn bis heute im Volksmund den Namen Arnoldbahn trägt. Gleichsam als Visionär trat er schon zu Zeiten des Grafen Zeppelin in den Verein für Luftschifffahrt in Jena ein und bemühte sich um die Erbauung eines Luftschiffbauhafens im Coburger Raum. Ein Projekt, das sich jedoch nicht realisieren ließ. Mehr als 20 Jahre lang hatte Arnold die Renovierung der Veste Coburg vorangetrieben, bis diese 1924 mit einem großen Heimatfest eingeweiht wurde. In der Öffentlichkeit war Max Oscar Arnold, den seine Heimatstadt bereits 1909 zum Ehrenbürger ernannt hatte und der seit dem 19. Juli 1917 den Titel „Geheimer Kommerzienrat“ führte, stets präsent. Auch beim Herzogshaus stand Arnold in hohem Ansehen. 1895 erhielt er das Ritterkreuz II. Klasse des Herzoglich Sachsen-Ernestinischen Hausordens und zehn Jahre später ehrte ihn Herzog Carl Eduard mit dem Ritterkreuz I. Klasse. Er engagierte sich in zahlreichen Vereinen und dort meist in hervorgehobener Position. Zu nennen wären z. B. sein Wirken in der Feuerwehr, im Sanitätsdienst, im Coburger Kriegerverband, in der Schützengesellschaft, bei den Turnern und Sängern sowie im Verschönerungs- und Fremdenverkehrsverein, dem er 30 Jahre lang als Vorsitzender angehörte. Unter seiner Ägide entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Muppberg auch der „Prinzregententurm“ und später die „Arnoldhütte“, wohin er als alter Mann oftmals spazieren ging. Von dort aus überblickte er seine Heimat, mit der er sich so sehr verbunden fühlte, dass er in seinen Erinnerungen fast zärtlich von ihr sprach: „Von inniger Heimatliebe heiß durchdrungen, hält mich mit abertausend Fäden fest, ein überreiches Maß Erinnerungen, das auch in schwerer Zeit mich nicht verlässt. Es ist ein Paradies, wie man uns sagt, aus dem uns keine Macht der Welt verjagt.“1 Doch zurück zu dem Fabrikanten Max Oscar Arnold, seinem steilen Aufstieg und dem tiefen Fall. Im Jahr 1878 gründete er zusammen mit seiner Frau Berta in Neustadt ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung qualitativ hochwertiger Puppenbekleidung spezialisierte. Als ein typischer Vertreter der neuen aufstrebenden deutschen Industriellen, die es geschafft hatten, aus kleinen Anfängen große profitable Unternehmen zu schaffen, erwarb er sich schnell einen Namen und das Geschäft florierte. Wegen des großen Erfolges weitete die Firma ihre Produktpalette schrittweise aus, und in den Musterzimmern türmten sich fein gearbeitete Puppen mit exquisiter Bekleidung, Spielsachen und Groteskfiguren. Die exklusiven Spielsachen fanden Abnehmer in zahlreichen europäischen Ländern; sogar bis nach Russland und in den Orient, nach Australien und China reichten die Geschäftsverbindungen. Bereits in den Anfangsjahren wurden die Erzeugnisse mehrfach prämiert, wie z. B. auf den Weltausstellungen in Melbourne 1880 und London 1886. 1

Max Oscar Arnold, Das Drama der M O A, Handschriftliches Manuskript, Neustadt 1930, S. 64.

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Mit diesen Auszeichnungen schmückte Arnold auch den Briefkopf seiner Firma. Als die Räume im eigenen Haus den Anforderungen nicht mehr genügten, ließ Max Oscar Arnold im Jahr 1898 nahe des Neustädter Bahnhofes sein so genanntes „Werk I“ errichten. Das dreistöckige Gebäude beinhaltete einen Fahrstuhl, Waschräume und eine Kantine für die Mitarbeiter. Ein eigenes Kraftwerk machte die Firma unabhängig von externen Stromlieferanten. Während des Ersten Weltkrieges entstand ebenfalls am Bahnhof das „Werk II“, das sogar über einen eigenen Gleisanschluss sowie ein Wasserwerk verfügte. Auf dem markanten Wasserturm standen weithin sichtbar die Buchstaben „MOA“ zu lesen. Als Aushängeschilder der Firma galten seit 1910 die „Arnola“- sowie deren Schwester die „Arnoldia“-Puppe. Die 75 Zentimeter großen sprechenden und singenden „Wunderpuppen“ spielten mittels eines Phonographen kleine Schellackplatten mit deutschen, englischen und französischen Liedern und Texten ab. Sie waren jedoch in ihrer Herstellung sehr teuer und die Produktion stellte sich bald als unrentabel heraus, so dass die Fertigung nach drei Jahren auslief. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges und auf Grund massiver Liefer- sowie Absatzschwierigkeiten realisierte Arnold, dass mit Puppen kein Geld mehr zu verdienen war und sah sich nach Alternativen um. Er nutzte seine guten politischen Beziehungen, die er sich in jahrzehntelanger politischer Arbeit aufgebaut hatte und die bis in das Preußische Kriegsministerium reichten. Von dort erhielt er Rüstungsaufträge und fertigte Geschosskörbe, Feldpatronenkörbe aus Hartpapier, auf welche die Firma sogar ein Patent hatte, sowie Munition. Diese Produkte ließen sich schnell in Massen herstellen. Zeitweise arbeiteten bis zu 3.000 Menschen in seinen Fabriken. Die Bilanzen der Kriegsjahre präsentierten sich makellos und der Betrieb fuhr Millionengewinne ein. In der Nachkriegszeit sollte das gleichwohl dem Fabrikanten zum Verhängnis werden. Im Jahr 1919 wurde er vom Reichsmilitärfiskus des Kriegswuchers angeklagt. Dieser verlangte die Zahlung von 3.750.000 Mark mit Androhung einer Zwangsvollstreckung. Arnold habe während der Jahre 1915 bis 1918 übermäßige Gewinne erwirtschaftet und diese nicht in genügendem Umfang versteuert, hieß es von Seiten des Fiskus. Hier schaltete sich die Bayerische Staatsregierung ein und intervenierte in Berlin. Man verwies darauf, dass die Firma eine solche Zahlung, selbst wenn diese berechtigt wäre, nicht leisten könnte und gezwungen wäre, den Betrieb einzustellen. Dies hätte auch für das Land massive Steuerausfälle bedeutet. Zwei Jahre dauerten die Verhandlungen. Der Reichsfiskus verzichtete zwar nicht auf Zahlungen, doch reduzierte er sie massiv, um das Unternehmen nicht in seinem Bestand zu gefährden. Es kam ein Vergleich zustande und Max Oscar Arnold kaufte sich durch Zahlung von 250.000 Mark frei. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mussten sich die Menschen im Coburger Land gerade in wirtschaftlicher Hinsicht vollkommen neu orientieren. Die Rüstungsindustrie brach als ergiebige Einnahmequelle der vergangenen vier Jahre komplett weg. In Arnolds Werkräumen lagerten Geschoss- und Munitionskörbe sowie Munition für insgesamt 91 Waggonladungen, die keine Abnehmer fanden. Die Puppen- und Spielzeugindustrie lag völlig am Boden und selbst bei Reaktivierung der alten Geschäftsbeziehungen gab es keine Chance für eine rentable Wiederaufnahme der ursprünglichen Puppenproduktion. Es fehlte an Rohstoffen aus dem eu-

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ropäischen Ausland und an Transportmöglichkeiten. Der einst so erfolgreiche Puppenfabrikant schloss eine neuerliche Umstellung seiner Fabrikationsanlagen auf die Spielzeugindustrie kategorisch aus und sah die Zukunft seines Unternehmens in der Herstellung elektrotechnischer Bedarfsartikel sowie in der Fertigung von Holzgalanteriewaren und Möbeln. Als ein Jahr nach Kriegsende die Porzellanfabrik Gebrüder Knoch ihren Betrieb aufgab, übernahm Arnold deren Besitz als „Werk III“ und produzierte dort elektrotechnisches Porzellan, das z. B. in Schaltern und Steckdosen Verwendung fand. Das Firmengelände befand sich nördlich des Neustädter Bahnhofes, direkt in Sichtweite von „Werk I“. Neben dem Güterbahnhof lag „Werk IV“, ein Säge- und Schneidewerk mit Kistenfabrik, Bretterniederlage, Pförtnerhaus, dazu ein Wohnhaus mit Autohallen und Keller, Wagenhalle, Baustoffschuppens sowie eigenem Pumpwerk. Jetzt stand der Fabrikant, wie bereits vier Jahre vorher, vor der kostspieligen Aufgabe, sein Unternehmen vollständig umzurüsten. Der bestehende Maschinenpark sowie die Einrichtungen in den Fabriken hatten durch die langen Tag- und Nachtschichten sowie die Sonn- und Feiertagsarbeit in den Kriegszeiten eine starke Beanspruchung erfahren. Zudem waren die Gerätschaften und Werkzeuge wegen unsachgemäßer Behandlung durch die oft ungelernten Arbeiter und mangelhaften Reparaturen sehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Es hieß also, die Anlagen so gut wie möglich fachgerecht zu reparieren, neue Maschinen anzuschaffen sowie die Gebäude zu renovieren und umzubauen – eine gewaltige Aufgabe für den bereits über 60 Jahre alten Fabrikanten. Zu den Investitionen für die technische Produktionsumstellung kamen die Ausgaben für eine grundlegende Neuausbildung des Personals. Bei Kriegsende arbeiteten in den Fabriken Max Oscar Arnolds etwa 2.000 Beschäftigte. Die gesetzlichen Bestimmungen verpflichteten den Unternehmer, die vormals bei ihm angestellten Kriegsteilnehmer wieder zu beschäftigen, von denen allerdings kaum jemand Erfahrungen mit der Fertigung der neuen Produkte mitbrachte. Große Summen Geld bot der Fabrikant zusätzlich für Werbemaßnahmen, Geschäftsreisen sowie die Zusammenstellung und den Vertrieb von Katalogen auf, damit die neuen Waren zuerst im nationalen Rahmen den Interessenten präsentiert werden konnten. All diese Investitionen verschlugen Unsummen des ohnehin mittlerweile recht knappen Kapitals. Die im Krieg von Arnold als Sicherheit für Investitionen nach einem Friedensschluss zurückgelegten 400.000 Mark reichten bei Weitem nicht aus. Für die elektrotechnische Produktion musste Arnold zudem etliche Maschinen zum Vernickeln ankaufen, dazu Lackier- und Emailleöfen, Glühöfen für Bleche, Ziehpressen, Kontrollapparate, Messinstrumente sowie Prüfstationen. In der Holzabteilung bedurfte es großflächiger Neuanschaffungen, wenn auch nicht im gleichen enormen Ausmaß. Er engagierte fachkundige Handwerker, die sein eigenes Personal schulen sollten. Bis deren Fortbildung abgeschlossen war, ließ er die Produkte auswärts fertigen. Zu den ersten grundlegenden Arbeiten, die Arnold anordnete, gehörten: die Abbrucharbeiten an zahlreichen Lagerhäusern, Trockenräumen und Kraftanlagen, die Verlegung neuer Gleise, der Bau eines Wasserwerkes, die Fertigstellung in An-

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griff genommener Neubauten wie einer Packhalle und eines Trockenhauses. Hohe Kosten verursachten außerdem die Instandsetzung der Licht- und Stromleitungen sowie diverse Brandschutzmaßnahmen. Rechnet man zu diesen Investitionen die Löhne und Gehälter hinzu, beliefen sich die Kosten von Kriegsende bis Januar 1919 auf fast 900.000 Mark. Mit weiteren 32.000 Mark kalkulierte Arnold für noch im Bau befindliche Maschinen. Die kostenintensiven Umstellungsarbeiten zehrten die enormen Kriegsgewinne der MOA vollends auf und Max Oscar Arnold war gezwungen, für die Umrüstung seines Betriebes Bankkredite in erheblicher Höhe aufzunehmen. Hinzu kam, dass er sich mit seinem Unternehmen hinsichtlich der Geschäftskontakte völlig neu orientieren musste. Dabei nützten Arnold gleichwohl seine frisch erworbenen politischen und wirtschaftlichen Kontakte in Bayern, die er bei seinen Bestrebungen um einen Anschluss des ehemaligen Herzogtums an den Freistaat geknüpft hatte. Nach der kostspieligen Umrüstung ging Max Oscar Arnold im „Werk II“ zur serienmäßigen Produktion von Holzgalanteriewaren in höchster Qualität über. Hauptsächlich verließen Schlafzimmer die Produktionshallen, die ganz dem Geschmack der Zeit entsprachen. Diesen hatte Arnold, wie einst seinen Puppen, Namen gegeben wie „Dora A“, „Dora B“, „Emma“, „Gertrud“, „Albertine“, „Wilhelmine“ und „Hermine“. Die aus massivem Eichenholz gefertigten Schlafzimmer umfassten ein Bett von 1,80 oder zwei Metern Breite, einen dreiteiligen Schrank inklusive Spiegel in der Mitte, zwei Nachtkästchen sowie einer Kommode mit Spiegelaufsatz. Die Schlafzimmer kosteten zwischen 530 und 600 Mark. Der Preis für eine Kücheneinrichtung belief sich je nach Ausführung auf 1.250 Mark. Die weiß gestrichenen eleganten Möbel bedeuteten für viele Familien in der damaligen Zeit wegen des beachtlichen Preises eine Anschaffung fürs Leben. Max Oscar Arnold schrieb jedoch nur für wenige Jahre schwarze Zahlen. Anfang des Jahres 1925, nach überstandener Hyperinflation und Einführung der Reichsmark, fand wegen eines allgemeinen Preisrückganges in der Möbelbranche der Rotstift immer häufiger Verwendung. Zudem hatte Arnold seit dem Beginn seiner Möbelproduktion stets mit bereits etablierten Konkurrenten wettbewerbstechnisch zu kämpfen, die erheblich billiger fertigten. Die MOA tätigte deshalb immer häufiger Notverkäufe, um zumindest die Produktion in Gang zu halten. Doch an einen Gewinn war, auch wegen ständig steigender Lohnkosten, kaum zu denken. Auch der Versuch einer erneuten Umstellung der Produktpalette z. B. auf polierte Zimmer, Holzbiegerei oder Grammophongehäuse konnte keinen Umschwung bringen. Außerdem musste der Industrielle einen kostenmäßigen Mehraufwand von 20 Prozent für Materialien wie Weichholz, Eiche, Furniere, Leim, Beschläge, Schnitzereien, Beize oder Spiegel verkraften. Einsparungen erhoffte sich Arnold durch eine Reduzierung der Überstunden und Umstellung auf Akkordfertigung. Doch im Herbst 1925 sanken die Preise für Möbel auf einen Tiefpunkt. In „Werk II“ arbeiteten die Beschäftigten lediglich am Zusammenbau der halb fertigen Schlafzimmer, damit diese mit möglichst wenig Verlust verkauft werden konnten. So schloss die Bilanz des „Werkes II“ für das Jahr 1925 mit einem Verlust. Insgesamt hatte die Firma in diesem Jahr 1.261 Schlafzimmer zu einem Preis von insgesamt 745.631 Mark verkauft. Hätte Arnold jedoch die tatsächlichen Preise angesetzt, hätte die

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Summe von 803.090 Mark in den Büchern stehen müssen. Die Einbuße von sechs Prozent gründete sich auch auf Rabatten, die Max Oscar Arnold zahlreichen Großabnehmern eingeräumt hatte, darunter die Firmen Rosenthal & Weis, M. Hirschowith und Dembitzer. Max Oscar Arnold stand am Rande des wirtschaftlichen Abgrundes und konnte seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen. Die Bayerische Staatsbank, bei der der Fabrikant hohe Kredite aufgenommen hatte, veranlasste bereits im Oktober 1925 die Geschäftsaufsicht und versprach im Gegenzug dafür einen erheblichen Zinsnachlass auf die bestehenden Kredite, die Gewährung neuer Betriebsdarlehen und verfügte die Einsetzung eines geeigneten erfahrenen Treuhänders. Mit dieser Aufgabe betreute das Amtsgericht Neustadt Direktor Hans Benkert aus München. Die Interessenvertretung der Gläubiger übernahm Dr. Helmut Cremer von der Industrie- und Handelskammer Coburg. Dieser bemühte sich nach Kräften um eine gütliche Einigung zwischen der MOA und ihren Darlehensgebern. Zu diesen gehörten solch klanghafte Namen wie die Nürnberger Rheinstahl Handelsgesellschaft mbH, Julius Springer in Berlin, der Berliner V. D. J. Verlag GmbH, die oberfränkische Porzellan-Union GmbH in Kronach, die Rhenania-Ossag in Regensburg und die Allgemeine Deutsche Kredit-Anstalt in Hainichen. Gerade im Interesse der Schuldner gestattete ein bestellter Gläubigerbeirat die Weiterführung der Betriebe und appellierte an die Handelspartner, alle ihre Forderungen geltend zu machen, damit man sich einen genauen Überblick über die finanzielle Schieflage und die anstehenden Verbindlichkeiten der MOA machen könnte. In dieser Not stellten die persönlich haftenden Gesellschafter, Max Oscar und sein Sohn Ernst Arnold, am 5. Dezember 1925 ihr gesamtes Privatvermögen zur Verfügung und damit unter die Geschäftsaufsicht der beiden Treuhänder, Direktor Hans Benkert und Rechtsanwalt Karl Stammberger, die bereits das Firmenvermögen verwalteten. Damit begann jedoch die langsame, aber unaufhaltsame Zerschlagung des einst so erfolgreichen Unternehmens. Die MOA beschäftigte Mitte der 1920er Jahre etwa 900 Arbeiter und Arbeiterinnen, deren Löhne und Gehälter monatlich den Betrag von 110.000 RM ausmachten. Nach Installation der Geschäftsaufsicht entließen die neuen Verantwortlichen mehr als die Hälfte der Belegschaft. Auf Grund der noch vorhandenen Restaufträge arbeiteten etwa 400 Menschen weiter für drei Monate in der Firma am Neustädter Bahnhof. In Folge dieser Entlassungen meldete die Stadtverwaltung 680 Erwerbslose, was zeigt, welche große Bedeutung die MOA für die wirtschaftliche Potenz Neustadts besaß. In einer Sitzung des Gläubigerbeirates am 3. Dezember 1925 bezifferte dieser den Rückstand bei den Gehaltszahlungen auf insgesamt 46.416 RM. Max Oscar Arnold war es während seiner gesamten Unternehmerzeit stets ein besonderes Anliegen gewesen, seine Arbeiter und Arbeiterinnen gut versorgt zu sehen und auch in dieser ausweglosen Lage sollten sie auf ihre rückständigen Löhne und Gehälter nicht verzichten müssen. Der Gläubigerbeirat ging mit Direktor Hans Benkert und Karl Stammberger daran, diesen Wunsch Arnolds zu erfüllen und zwar in der Weise, dass einige Privatgrundstücke verkauft werden sollten, nämlich die „Silbergrube“ und die „Grüntaläcker“. Arnold hatte eigentlich gehofft, der Bevölkerung seiner Heimatstadt mit der „Silbergrube“ einen Ort der Ruhe und Erholung

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schenken zu können und im geliebten „Grünthal“ eine Industrieschule einzurichten. In der jetzigen desolaten wirtschaftlichen Lage blieb ihm jedoch keine andere Wahl als der Verkauf der ihm an das Herz gewachsenen Liegenschaften. Die Stadtgemeinde Neustadt erklärte sich im Rahmen einer Sitzung des Stadtrates vom 10. Dezember 1925 bereit, Max Oscar Arnold unter die Arme zu greifen und die Grundstücke käuflich zu erwerben. An sich oblag es der Stadtgemeinde nicht, sich in die Angelegenheiten in Schwierigkeiten geratener Wirtschaftsunternehmen einzumischen. Da jedoch die MOA in Neustadt eine sehr bedeutende Rolle als Arbeitgeber spielte und Arnold als einer der beliebtesten und verdienstvollsten Bürger galt, entschied man sich für eine schnelle Hilfeleistung. Die Stadt nahm bei der Bayerischen Staatsbank in Coburg einen Kredit in Höhe von 50.000 Goldmark auf. Obendrein entschlossen sich die Ratsmitglieder bei der Städtischen Sparkasse Goldpfandbriefe mit einem Gesamtschuldbetrag von 49.297 Goldmark zu erwerben. Damit übernahm die Stadt die Besitzungen „Silbergrube“ mit ihrem Holzbestand sowie die „Grüntaläcker“. Am 8. März 1926 schloss die Stadtgemeinde Neustadt mit Arnold einen Vertrag über den Kauf der beiden Liegenschaften ab: Der Kaufpreis für den Grundbesitz „Silbergrube“ belief sich darin einschließlich des Holzbestandes auf 30.000 RM und für die „Grüntaläcker“ auf 53.700 RM. Von den 83.700 RM sollten 45.000 RM in bar ausgezahlt werden, um damit die Forderungen der Mitarbeiter hinsichtlich der ausstehenden Löhne und Gehälter zu befriedigen. Max Oscar Arnold musste sich im Gegenzug verpflichten, mit den Einnahmen aus dem Verkauf die Ansprüche seiner Arbeiter und Angestellten in voller Höhe zu befriedigen. Die Hiobsbotschaften rissen aber nicht ab. Im März 1926 erreichte Arnold eine weitere Geldforderung: Die Ortskrankenkasse bestand auf der Zahlung fälliger Krankenversicherungs- und Erwerbslosenfürsorgebeiträge in einer Höhe von über 25.000 RM. Arnold konnte diese Summe nicht aufbringen; dafür erhielt die Ortskrankenkasse Sicherheiten auf noch zu liefernde Schlafzimmer. Zur Begleichung der Rückstände gegenüber den Geschäftspartnern erarbeitete Max Oscar Arnold zusammen mit Dr. Cremer einen Vergleichsvorschlag, den ersterer am 21. Dezember 1925 an seine Gläubiger verschickte. Bis zum 11. Januar 1926 erklärten die angeschriebenen Geschäftspartner ihre Zustimmung. So kam am 4. Februar 1926 ein Vergleich zustande, mittels dessen es Arnold gelang, den Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern nachzukommen und seinen Betrieb noch bis ins nächste Jahr aufrecht zu erhalten. Doch die geschäftliche Schieflage verschlimmerte sich zusehends. Die Geschäftsaufsicht entzog auf Anweisung des Direktoriums der Bayerischen Staatsbank dem Unternehmen bedeutende Summen Geldes. Schließlich gewährte die Bank keine zusätzlichen Anleihen. Im Sommer 1927 erklärte sie gegenüber der Städtischen Sparkasse in Neustadt, weitere Gelder würden lediglich bewilligt, wenn das örtliche Geldinstitut vom laufenden Kredit die Summe von 70.000 RM auf das eigene Konto übernehme. Aus Angst, die MOA müsse die Tore ein für alle Mal schließen, segnete der Sparkassenausschuss auf Drängen des Bürgermeisters Hans Rollwagen am 26. Juli 1927 die Übernahme des Kredites ab. Kaum keimte bei Max Oscar Arnold neue Hoffnung auf, da traf ihn der nächste Schlag ganz unverhofft. Am 14. August 1927 verursachte ein Brand in seiner Por-

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zellanfabrik, dem „Werk III“, großen Schaden. Gerade diese elektrotechnische Abteilung, deren Fabrikate auf dem Weltmarkt einen hervorragenden Ruf genossen, verzeichnete in den vergangenen Monaten einen positiven Geschäftsgang. Von 1. Januar bis 30. Juni 1926 hatte sie noch einen Verlust von 50.700 RM eingefahren, doch im zweiten Halbjahr 1926 einen Reingewinn von 8.600 RM erzielt. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1927 hatte sich die wirtschaftliche Lage stabilisiert und der Betrieb einen Überschuss von 45.300 RM erwirtschaftet. Max Oscar Arnold sah damals schon wieder zuversichtlicher in die Zukunft. Doch wegen der schweren Zerstörungen und bedingt durch den Produktionsausfall schrieb die Porzellanfabrik in der zweiten Jahreshälfte einen Verlust in fünfstelliger Höhe. In dieser Zwangslage erbat er von der Bayerischen Staatsbank einen SofortKredit in Höhe von 60.000 RM. Zusammen mit Bürgermeister Hans Rollwagen als Vertreter der Stadt Neustadt, seinem Freund und Landtagsabgeordneten Franz Klingler als Repräsentant der Gewerkschaften sowie Dr. Helmut Cremer reiste Arnold am 26. August 1927 zum Hauptsitz der Bayerischen Staatsbank nach München, um persönlich vorstellig zu werden. Arnold legte dar, wie wichtig in der jetzigen schwierigen Lage ein Kredit sei, vor allem, um das zerstörte Fabrikgebäude wieder aufzubauen. Auf Grund dieser schwierigen Umstände hofften die vier Antragsteller eine positive Antwort zu erhalten. Umso erstaunter und enttäuschter waren sie, als die Bayerische Staatsbank ihr Anliegen abschlägig beurteilte. Deshalb verfassten sie am 28. August 1927 ein ausführliches schriftliches Gesuch, auf das Arnold jedoch monatelang keine Antwort erhielt. Erst nach einem neuerlichen Vorstoß am 28. November 1927 reagierte die Bayerische Staatsbank am 8. Dezember 1927 und teilte mit, sie sei bereit, den Anfang des Jahres gewährten Kredit von 30.000 RM auf 90.000 RM zu erhöhen. Allerdings unter schwer wiegenden Auflagen: Zum einen verlangte die Bayerische Staatsbank die Umwandlung der Sicherheitshypothek in eine Grundschuld, daneben sollten dem Institut Außenstände in einer Höhe von 150.000 RM abgetreten werden und die Drittschuldner sollten von diesem Vorgang in Kenntnis gesetzt werden. Dazu gelte es, den Kredit ab 1. April 1928 in Monatsraten von 6.000 RM wieder auf 30.000 RM zurückzuführen. Darüber hinaus wollte die Bank den zuvor eingeräumten Wechselkredit von 100.000 RM auf 60.000 RM herabsetzen. Diese harten Bedingungen veranlassten Max Oscar Arnold zu neuerlichen Verhandlungen mit der Bayerischen Staatsbank. Doch alle Bemühungen halfen nichts und es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Vorgaben schweren Herzens zu akzeptieren. Anfang des Jahres 1928 schrieb die MOA weiter rote Zahlen. Allein von Januar bis Juni fuhr die Möbelabteilung einen Verlust von 80.000 RM ein, der elektrotechnische Bereich stand mit 40.000 RM im Minus. Im Mai 1928 konnte die Porzellanfabrik wegen fehlender Rohstoffe lediglich zwei Brände vornehmen und nicht wie üblich mindestens zwölf. Max Oscar Arnold bemühte sich verzweifelt mit allen Mitteln um eine durchgreifende Sanierung seines Unternehmens. Er versuchte, Betriebe oder zumindest Teile davon abzustoßen sowie eine Beteiligung neuer Geschäftspartner herbeizuführen. Im Juli 1928 hätte dies beinahe geklappt, denn die Firma stand kurz vor der Gründung einer Aktiengesellschaft mit der Firma Elektrowelt Rauenthal, wodurch dem angeschlagenen Unternehmen neues Kapital

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zufließen sollte. Zudem erklärte sich die Elektrowelt Rauenthal bereit, die gesamten Verpflichtungen zu übernehmen. Jedoch drohten die Verhandlungen zu scheitern, da die MOA auf Grund der vorschnellen Handlungsweise der Bayerischen Staatsbank bei ihren Geschäftspartnern in Misskredit gebracht worden war. Ob hier politische oder wirtschaftliche Motive eine Rolle spielten, lässt sich nicht abschließend klären. Die Bayerische Staatsbank hatte nämlich im Mai 1928, ohne Arnold davon in Kenntnis zu setzen, alle Drittschuldner von der Abtretung enormer Außenstände an das bayerische Kreditinstitut informiert und damit eine tiefe Verunsicherung bei den Geschäftspartnern ausgelöst. Manche Kunden hielten daraufhin Zahlungen zurück und die MOA musste aus Mangel an Betriebsmitteln zahlreiche Entlassungen vornehmen. Im Oktober 1928 scheiterten die Verhandlungen mit der Elektrowelt Rauenthal. Die Bayerische Staatsbank lehnte eine neuerliche Bereitstellung von Geldmitteln generell ab. Als Gründe führte sie die hohen Betriebsverluste sowie das Scheitern der Fusions-Verhandlungen mit der Elektrowelt Rauenthal an. Nun begann die Liquidierung des Betriebes. Neue Aufträge wurden nicht mehr angenommen, Bestellungen storniert. Lediglich die noch ausstehenden Arbeiten kamen zum Abschluss und die Beschäftigtenzahl verringerte sich auf Grund ständiger Entlassungen von Woche zu Woche bis am Ende lediglich sechs Leute ihren Dienst taten, die jedoch bereits ihre Kündigung in Händen hielten. Die Firma konnte nicht einmal mehr deren Wochenlöhne ausbezahlen und damit schlossen sich die Werkstore unwiderruflich am 12. Oktober 1928. Max Oscar Arnold stand im Alter von 74 Jahren vor dem Nichts. Die Schließung der Fabriken bedeutete das Ende der Ära der MOA. Zusammen mit der Bayerischen Staatsbank in München ordnete die Städtische Sparkasse Neustadt die Zwangsvollstreckung an und am 27. Oktober 1928 übernahm Staatsbankbuchhalter Edmund Siller das Amt des Zwangsverwalters. In dieses Verfahren brachten die beiden Gesellschafter, Max Oscar und Ernst Arnold, ihr restliches privates Vermögen ein. Am 17. Juni 1929 wurde die Zwangsversteigerung gegen die offene Handelsgesellschaft Arnold eingeleitet. Die außerordentlich schlechte konjunkturelle Lage hatte die Preise für Immobilien, vornehmlich für solche großen spezialisierten Betriebe und industriellen Anlagen, in das Bodenlose sinken lassen. Die Schätzungen über den Wert der Besitzungen gingen weit auseinander und reichten von 612.000 RM bis zu 1.220.000 RM. Am 28. Juli 1929 war es schließlich so weit, das Lebenswerk Max Oscar Arnolds kam unter den Versteigerungshammer. Er musste zusehen, wie die Bayerische Staatsbank die Fabriken in Einzelteilen verkaufte, wie wertvolle Wohnhäuser und schöne Grundstücke zu Schleuderpreisen versteigert wurden und wie die Bayerische Staatsbank den gesamten Besitz zum Spottpreis von 400.000 RM erwarb. Das Geldinstitut erhielt als Meistbietender am 5. Juli 1929 den endgültigen Zuschlag und ging sofort daran, die einzelnen Objekte zu verkaufen. „Werk I“ ging für 58.000 RM an den Unternehmer Philipp Rosenthal aus dem Egerland, mit dem Arnold schon früher in Geschäftskontakt gestanden hatte, und der den Betrieb im „Werk I“ teilweise wieder aufnahm. Darüber hinaus erwarb Rosenthal das „Werk III“ mit der daneben stehenden Villa und dem gesamten Maschinenpark. Seine Bestrebungen

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gingen jedoch nicht dahin, den Standort Neustadt auf längere Sicht zu reaktivieren, sondern er transportierte die Matrizen und zahlreiche wertvolle Maschinen sowie die Autos mit Eisenbahnwaggons ab. Bald hatte die Bayerische Staatsbank 500.000 RM aus den einzelnen Verkäufen erzielt und es standen noch weitere große Objekte mit einem Wert von mehreren Zehntausend Reichsmark zur Disposition, darunter ausgesuchte Grundstücke und Teile des Sägewerkes. Innerhalb weniger Jahre war nun zerstört, was durch jahrzehntelange mühevolle Arbeit aufgebaut worden war. Gebäude, Maschinen, Grundstücke und Liegenschaften, gehörten sie zum Privat- oder Geschäftsvermögen, waren verkauft. In der Region fiel einer der größten und beliebtesten Arbeitgeber weg und bescherte Neustadt und seinem Umland schon zur Beginn der Weltwirtschaftskrise große Arbeitslosigkeit. Nun lag der einst so starke, tatkräftige und voller Innovationen steckende Mann, der seine Energie auf vielfältige Weise zum Nutzen des Allgemeinwohls eingesetzt hatte, am Boden und stand mit seiner Familie ganz allein ohne irgendwelche Hilfe da. Zwar hatte Direktor Löwenfeld Max Oscar Arnold angeboten, er könne ein Haus als Eigentum behalten, zudem würde ihm eine lebenslange Rente bezahlt, wenn er sich den Plänen des Geldinstituts nicht entgegenstellte. Da Arnold bei dem Geschäft jedoch nicht kooperiert hatte, gab die Bayerische Staatsbank ihm und seiner gesamten Familie drei Tage Zeit, um ihre Villa zu verlassen. Die wirklichen Gründe für den Konkurs der MOA sind mannigfaltig. Sicherlich lag es mit an der allgemeinen ökonomischen Schwäche der deutschen Industrie in der Nachkriegszeit und am unsicheren weltwirtschaftlichen Klima. Dazu kam die damals notwendige Umstellung auf neue Fabrikate, mit deren Herstellung und Verkauf die Konzernleitung bisher nicht ausreichend Erfahrungen gesammelt hatte, denn die großen Gewinne hatte die Firma in den Kriegsjahren mit der Herstellung von Rüstungsgütern eingefahren. Mit der bewährten Produktpalette, also mit qualitativ hochwertigem Spielzeug, die der MOA eine lange Zeit der Blüte beschert hatte, ließ sich in den von Inflation und Arbeitslosigkeit geprägten Nachkriegsjahren kein Geld verdienen. Zudem hatten die zahlreichen Umbaumaßnahmen sowie Neuanschaffungen, bedingt durch den ständigen Wechsel der Erzeugnisse, enorme Summen verschlungen, die für die MOA nicht so schnell aufzufangen waren. Eine entscheidende Rolle beim Niedergang der traditionsreichen Firma spielten auch die Geldgeber, sprich an vorderster Stelle die Bayerische Staatsbank, die vor allem nach Arnolds Überzeugung die alleinige Schuld am Zusammenbruch seiner Firma traf. Seiner Meinung nach habe die Bayerische Staatsbank mit ihrem Direktor Löwenfeld an der Spitze zu keiner Zeit eine Sanierung des maroden Unternehmens im Auge gehabt, sondern zielgerichtet dessen Zerschlagung betrieben, um aus dem Verkauf den größtmöglichen Profit zu schlagen. Arnold hatte geglaubte, seinen Schulden ständen enorme Aktivwerte gegenüber, bestehend aus Grund und Boden sowie Fabrikgebäuden. Doch bedingt durch den Stillstand des Geschäftes besaßen diese Immobilien längst nicht mehr den Wert wie noch vor Jahren. Sicherlich ist eine nicht zu unterschätzende Teilschuld auch beim Firmengründer selbst zu suchen. Dieser hatte sich im Laufe der Jahre langsam immer mehr aus dem Unternehmen zurückgezogen und sich seinen zahlreichen Aktivitäten in Gesellschaft und Politik gewidmet. Seine intensiven Bemühungen unter anderem um

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den Anschluss der Herzogtums Coburg an Bayern, die Wiederherstellung der Veste, die verkehrstechnische Erschließung des Steinachtales, die Frage der Niederfüllbacher Stiftung beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit gerade während der schwierigen Zeit der kriegsbedingten Umstellung seiner Fabrikation auf die neuen Produkte. Er war oftmals mehr unterwegs als zuhause, weswegen er von vielen Entwicklungen in seinem Unternehmen teilweise keine Kenntnis erhielt. Die Geschäfte hatte er in vorderster Linie an seinen Sohn Ernst abgegeben. Wohl wusste er mit seinem Sohn einen exzellenten Wirtschaftsfachmann und angesehenen Fabrikanten an seiner Seite, doch viele gewachsene Geschäftsbeziehungen fußten auf der Person Max Oscar Arnolds. Zu ihm hatten seine Partner Vertrauen und ein Wechsel an der Spitze des Unternehmens wurde oftmals, selbst wenn es sich um ein Familienmitglied handelte, misstrauisch beäugt. Max Oscar Arnold verstarb am 27. Januar 1938 im Alter von 84 Jahren im Kreise seiner Kinder, nachdem er im Jahr 1933 seine Ehefrau verloren hatte. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung fand er seine letzte Ruhestätte auf dem Neustädter Friedhof. Damit endet eine Geschichte, die in ihrer Vielfältigkeit im Coburger Raum wohl einzigartig ist. In der Erinnerung der Einwohner des Coburger Landes bleibt er stets präsent: Im Jahr 1950 wurde ihm zu Ehren auf dem Arnoldplatz ein Denkmal eingeweiht, das Arnold-Gymnasium in Neustadt trägt seinen Namen ebenso wie der Wanderweg vom Arnoldplatz zur Arnoldhütte auf dem Muppberg. Seit dem Jahr 1995 wird jährlich der Max-Oscar-Arnold-Kunstpreis für zeitgenössische Puppenkunst ausgelobt. Mit dieser Auszeichnung ehrt die Stadt Neustadt ganz im Sinne Max Oscar Arnolds Puppenkünstler, die sich mit Schaffenskraft und Ideenreichtum der Puppenkunst verschrieben haben und hält dadurch die Erinnerung an den einst so erfolgreichen Fabrikanten stetig wach. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Beyer, Wolfgang, Eisenbahn im Sonneberger Land, Coburg 1997. Doering, Oskar, Die Wiederherstellung der Veste Coburg durch Professor Bodo Ebhardt 1898–1924, Berlin 1924. Falkenberg, Jörg / Dlouhy, Richard, Die Wirtschaft im Coburger Grenzland, Kulmbach 1982. Föhl, Walter, Die Geschichte der Veste Coburg, Coburg 1954. Maedebach, Heino, Veste Coburg, München 1992. Reinhart, Esther, Max Oscar Arnold (1854–1938). Leben und Wirken für das Coburger Land, Coburg 2007. Reinhart, Michael, Die wirtschaftlichen Grundlagen des Herzogtums, in: Michael Henker / Eva Maria Brockhoff (Hrsg.), Ein Herzogtum und viele Kronen. Coburg in Bayern und Europa, Augsburg 1997, S. 85–91. Scheuerich, Helmut, Max Oscar Arnold. Ein Leben für die Heimat, Neustadt bei Coburg 1996. Thormann, Hanns, Die Wirtschaft im Coburger Land, Coburg 1952.

LOUIS HAGEN (1855–1932) – ALS BANKIER UND POLITIKER IN DER WEIMARER REPUBLIK Ulrich S. Soénius Als 1924 der Journalist Felix Pinner seine gesammelten Aufsätze aus der „Weltbühne“ unter dem Titel „Deutsche Wirtschaftsführer“ als Buch veröffentlichte, durfte Louis Hagen (1855–1932), „typischer Großaktionär und Vertreter von Großaktionärsinteressen“, nicht fehlen.1 1855 als Louis Levy in Köln geboren, hatte er 1884 eine katholische Unternehmertochter geheiratet, war vom Judentum zum Katholizismus übergetreten und hatte zehn Jahre später den Nachnamen seiner Frau angenommen. Während der Weimarer Republik gehörte Hagen zu den bekanntesten deutschen Bankiers und Unternehmern, u. a. als Vermittler von Unternehmensfusionen und als Wirtschaftspolitiker. Wie ist dies in der Retrospektive zu sehen? War er wirklich einflussreich und als Sprecher der Wirtschaft öffentlich wahrgenommen worden? Welche unternehmerische Basis half ihm dabei und war er als Unternehmer erfolgreich? BANKIER UND „HEIRATSVERMITTLER“ Louis Hagen wurde bereits in jungen Jahren bekannt für seine Vermittlung von Unternehmensbeteiligungen. Dabei war ihm sein Geschick behilflich, sich auf dem gesellschaftlichen Parkett sicher und kontaktfreudig zu bewegen. Schnell weitete er seinen Wirkungskreis über Köln in das Rheinland aus. In den Quellen tauchen solche Geschäfte zu Beginn der 1880er Jahre auf, als er Unternehmer um Aktienzeichnungen bat.2 Kurz zuvor hatte er die Hauptverantwortung für die 1848 vom Großvater gegründete Bank A. Levy übernommen, in der er bereits seit 1878 Teilhaber war. Zu einem Wendepunkt seiner Karriere geriet die gemeinsame Tätigkeit mit Johann Nepomuk Heidemann (1841–1913). Dieser hatte 1873 mehrere Sprengstoffund Pulverfabriken zur AG Vereinigte Rheinisch-Westfälische Pulverfabriken in Köln zusammengeschlossen. Beide wurden gemeinsam mit Max Duttenhofer und Emil Müller 1890 Mitgründer und Teilhaber der Vereinigte Köln-Rottweiler Pulverfabriken AG. Dieser Zusammenschluss war beispielgebend für Hagens weitere Aktivitäten als Fusionsvermittler. Diese Transaktion war „der Beginn seiner lebens1 2

Felix Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer, 15., erw. Aufl., Charlottenburg 1925, S. 321–323, hier S. 321 Ulrich S. Soénius, Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 587 f.

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langen Wirksamkeit bei industriellen Zusammenschlüssen, das Fundament seiner späteren Berühmtheit wie seines Vermögens.“3 Bis zum Ersten Weltkrieg folgten zahlreiche weitere Fusionen, die ihm den Ruf eines „industriellen Heiratsvermittlers“ verschafften. Hagen brachte u. a. die Hörder Bergwerks- und Hütten AG mit der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb zusammen, letzteres wurde noch zu seinen Lebzeiten als „sein Meisterwerk“4 bezeichnet. Daneben organisierte er Partnerschaften von rheinischen mit Berliner Unternehmen. In der Weimarer Republik war das Bankhaus von Hagen wesentlich im Kreditgeschäft, in Konsortialgeschäften, bei Effektenkommissionsgeschäften für Kunden sowie bei der Vermittlung von Auslandskrediten und von Aktienpaketen tätig. Vermittelte Levy einen Auslandskredit an ein Industrieunternehmen, kassierte das Bankhaus Margen von bis zu zwei Prozent. Die Kreditnehmer stammten vornehmlich aus der rheinischwestfälischen Stahl- und Eisenindustrie, aber auch die öffentliche Hand bediente sich seiner. Die Position Hagens in der Wirtschaft wurde bereits zu seinen Lebzeiten anerkannt. Arnold Langen, Generaldirektor der Humboldt-Deutzmotoren AG, drückte dies 1930 wie folgt aus: „Wir alle wissen, wie Sie durch Ihre vermittelnde Tätigkeit, Ihre beratende Mitarbeit Transaktionen größerer Art die Wege geebnet haben, die dem Kölner Industriegebiet den Stempel aufgedrückt haben.“5 Dies galt für die rheinisch-westfälische Industrie insgesamt. Hagen erreichte in der Weimarer Republik damit eine Alleinstellung. Insbesondere an der Neugestaltung der deutschen Stahlindustrie war er maßgeblich beteiligt. Es gab mehrere Stahlunternehmen, die nebeneinander existierten, aber teilweise durch Interessensgemeinschaften miteinander verbunden waren. Hagen war für den Phoenix, die Rheinischen Stahlwerke und für das Kölner Großhandelsunternehmen Otto Wolff6, das auch eigene Produktionsunternehmen besaß, tätig. Nicht immer waren die Interessen von Wolff und Hagen gleich. Im Falle der Mehrheitsbeteiligung an der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb in Hörde waren beide unterschiedlicher Meinung. Letztendlich setzte sich Wolff gemeinsam mit den Koninklijke Nederlandsche Hoogovens en Staalfabrieken sowie der Familie Haniel durch und Hagen, der eine Interessensgemeinschaft von Rheinstahl, Phoenix und dem Vereinigten Stahlwerk van der Zypen und Wissener Eisenhütte AG propagierte, verlor im Herbst 1921 seinen Posten als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender beim Phoenix. Bis 1931 blieb er aber Mitglied des Aufsichtsrates. Bei den Rheinischen Stahlwerken in Duisburg hatte Hagen kurz nach dem Krieg mit Wolff, Thyssen7 und Klöckner die Aktienmehrheit erworben. Wolff baute seine Mehrheit aus. 1922 wollte Wolff die Stahlwerke van der Zypen und Wissen mit den Rheinischen Stahlwerken verschmelzen, gegen den Willen Hagens. Das 3 4 5 6 7

Werner E. Mosse, Zwei Präsidenten der Kölner Industrie- und Handelskammer. Louis Hagen und Paul Silverberg, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u. a. (Hrsg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 308–340, hier S. 309. Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3/16 (1925), S. 2. Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 8 (1930), S. 332. Zu Otto Wolff vgl. den Beitrag von Dittmar Dahlmann in diesem Band. Zu August Thyssen vgl. den Beitrag von Jörg Lesczenski in diesem Band.

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Projekt scheiterte schließlich am Widerstand der anderen Rheinstahl-Aktionäre. Wolff hatte derweil schon die Interessensgemeinschaft zwischen Phoenix und van der Zypen/Wissen herbeigeführt. Letztere schlossen mit Rheinstahl einen Interessengemeinschaftsvertrag, in Folge dessen Hagen in den Aufsichtsrat bei der Rheinische Stahlwerke AG eintrat und sofort zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt wurde. Zwar hatte dieser IG-Vertrag keine Wirkung und wurde nach zwei Jahren aufgehoben, aber Hagen blieb im Aufsichtsrat. Für das Unternehmen erwies er sich als Glücksfall. 1925 half er den Rheinischen Stahlwerken, die sich in Liquiditätsschwierigkeiten befanden, mit wiederholter Kreditverlängerung. Auch das Unternehmen Otto Wolff war auf die Hilfe von Hagen angewiesen. 1929 hatte Wolff bei Levy Kredite in Höhe von 16 Mio. RM stehen. Als das Unternehmen wegen der Weltwirtschaftskrise ins Schlingern geriet, kam es für Levy und für das Bankhaus Sal. Oppenheim jr. & Cie., das Wolff Kredite im Wert von 24 Mio. RM gewährt hatte, zu einer bedrohlichen Situation. Beide Banken trauten dem Unternehmen Otto Wolff eine Krisenüberwindung zu und hielten still – bei einem Konkurs wären beide in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Stahlunternehmen erkannten Mitte der 1920er Jahre die Chancen einer Zusammenarbeit. Auch Hagen hatte – aufgrund seiner verschiedenen Interessen in der Stahlindustrie – Interesse an einer horizontalen Fusion. Eine Schlüsselstellung hatte er dabei als Vertreter des Bankhauses Oppenheim in der Phoenix AG inne. Oppenheim repräsentierte bis 1927 die Mehrheit der Aktienanteile auf der Generalversammlung, wobei der größte Anteil daran treuhänderisch vom Bankhaus gehalten wurde. Als Aufsichtsrat und Gesellschaftervertreter des Phoenix war Hagen an den Verhandlungen zur Gründung der Vereinigten Stahlwerke AG beteiligt, die 1926 erfolgte – Hagen wurde vom Phoenix in den Aufsichtsrat entsendet. Gemeinsam mit Otto Wolff trennte er sich Ende der 1920er Jahre zu Gunsten von Friedrich Flick8 von Aktien des Phoenix. Mit Flick war Hagen auch über die Charlottenhütte geschäftlich verbunden – Anfang 1932 war das Bankhaus A. Levy größter Kreditgeber dieser von Flick geleiteten Eisenhütte mit einer Kreditsumme von 6,56 Mio. RM. Auch zu anderen Unternehmen der Stahlbranche unterhielt Hagen Geschäftskontakte, vermutlich auch, um das Risiko zu verteilen. Thyssen besaß ein Konto bei A. Levy, ab 1927 war das Bankhaus mit Krupp9 verbunden. Hagen vertrat bis zu seinem Tod die Bankhäuser Levy sowie Oppenheim im Aufsichtsrat von Hoesch. Gemeinsam mit dem A. Schaaffhausenschen Bankverein führte Levy das KlöcknerKonsortium an. Das Bankhaus Levy war an mehreren Unternehmen mit eigenem Kapital beteiligt. Teilweise kamen diese Kapitalbeteiligungen über die Fusionen, teilweise hatten sie andere Hintergründe. Als Paul Silverberg10 1924 Aktien der Harpener Bergbau AG aus dem Besitz von August Thyssen kaufen wollte, beteiligte er das Bankhaus Levy mit drei von zehn Millionen Mark. Für solche Unternehmensbeteiligungen benötigte Hagen eine Finanzierung. Besonders die Disconto-Gesellschaft 8 9 10

Zu Friedrich Flick vgl. den Beitrag von Tim Schanetzky in diesem Band. Zu Gustav Krupp vgl. den Beitrag von Ralf Stremmel in diesem Band. Zu Paul Silverberg vgl. den Beitrag von Boris Gehlen in diesem Band.

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in Berlin half ihm bei der notwendigen Kapitalbeschaffung. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, 1926 die Deutsche Bank in Verhandlungen mit Jakob Goldschmidt von der Danat-Bank zwecks Fusion der beiden Banken zu bringen.11 Gemeinsam mit anderen Bankhäusern war Levy in zahlreichen Konsortien vertreten. Eine besondere Konstruktion stellte die Beteiligung an einem Syndikat dar, das amerikanische Gelder nach Deutschland holte. Gemeinsam mit den Kölner Bankhäusern Oppenheim und J. H. Stein sowie dem Bankhaus Warburg und der Deutschen Bank hatte Levy die Aufgabe, Anfang der 1920er Jahre Kreditwünsche von Unternehmen in Deutschland an die American Continental Corporation (A. & C. C.) zu vermitteln. Diese war von amerikanischen Banken zur Kreditfinanzierung von deutschen Unternehmen gegründet worden. Eine derartige Konstruktion beherrschte Hagen, der mit Kreditkonsortien bereits Erfahrung hatte. Die Essener Bank Simon Hirschland stieß hinzu und einvernehmlich beschlossen sie, Industriegeschäfte mit ausländischen Partnern gemeinsam ohne die Deutsche Bank zu bearbeiten. Sie gründeten eine Interessensgemeinschaft, „Convenio“ genannt, die Auslandsgeschäfte von deutschen Unternehmen finanzierte. Ende der 1920er Jahre wollte das Bankhaus Levy aus einem Kreditkonsortium in der UdSSR aussteigen, nahm davon aber aus Rücksicht auf die zahlreichen Großunternehmen Abstand, mit denen er geschäftlich verbunden war und die auf das Geschäft mit der UdSSR angewiesen waren. Die Vielzahl von Unternehmensgründungen und -fusionen sicherten Hagen nicht nur jeweils eine Provision, sondern auch Aufsichtsratsmandate, die sein Jahreseinkommen um ein Vielfaches erhöhten und der Deckung seines aufwendigen Lebensstils dienten. Jahr

Vorsitz

1924

12

1920 1930

11 8

Aufsichtsratsmandate von Louis Hagen 1920–193012

Stellv. Vorsitz

Mitglied

Summe

13

44

69

11 7

35 47

57 62

Mitte der 1920er Jahre war Hagen der deutsche Privatbankier mit den mit Abstand meisten Aufsichtsratssitzen. Er war Vorsitzender in zwölf Gesellschaften, stellvertretender Vorsitzender in sieben und Mitglied in weiteren 45 Unternehmen. Darunter waren elf Banken und Hypothekenbanken, neun Bergwerks-Gesellschaften und Eisenwerke, sechs Maschinenfabriken, sechs Sprengstoff- und Waffenfabriken, sechs Kabel- und Telegraphenfirmen, fünf Verkehrsunternehmen, vier Handelsge11

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Die Verhandlungen erbrachten kein Ergebnis. Siehe dazu den Aktenvermerk von Georg Solmssen vom 16. September 1926, in: Harold James / Martin L. Müller (Hrsg.), Georg Solmssen – ein deutscher Bankier. Briefe aus einem halben Jahrhundert 1900–1956, München 2012, S. 235–238, hier S. 235, 237. Die Urheberschaft Hagens an den Verhandlungen wurde von zwei anderen Bankiers bestätigt. Zusammengestellt aus dem Adreßbuch der Direktoren und Aufsichtsrats-Mitglieder der Aktien-Gesellschaften, 1920, 1924 und 1930.

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sellschaften, drei Versicherungen sowie diverse andere. Da mag es seltsam klingen, wenn die damalige Presse zu dem Schluss kam: „Als Sinekuren hat er Aufsichtsratsposten nicht angesehen, sondern überall ernsthaft mitgearbeitet“.13 In der Spitze hatte Hagen knapp 70 Mandate gleichzeitig. Kritische Stimmen an dieser Ämterfülle gab es, abgesehen von linken Parteien und einigen Journalisten, kaum. Im Gegenteil – sein Geschick, die unterschiedlichen Interessen zu einem Ergebnis zu vereinigen, brachte ihm Respekt ein. Posthum wurde Hagen bescheinigt, von ihm stamme „ein entscheidender Teil der finanziellen Konzeptionen, nach denen sich der Aufbau der westdeutschen Industrie vollzog“.14 Zudem schien er in den Sitzungen andere von seinen Ansichten überzeugen zu können. Der mit ihm befreundete Bankier Max Warburg urteilte: „Ich habe selten einen Mann kennengelernt, der sich in einer Aufsichtsratssitzung derartig konzentrieren und gründlich orientieren konnte wie Hagen und der dann so wertvolle Ratschläge, Kombinationen etc. fand wie er.“15 Der Städteplaner Fritz Schumacher empfand Bewunderung für Hagen, weil „jede Sitzung, die er leitete, das im voraus [sic!] gewollte Ergebnis brachte“. Dabei war es Schumacher „unheimlich“, dass er nicht vorher „erfühlen konnte, welchem Ziel diese suggestive Kraft zustrebte.“16 Auch Jakob van Norden, Vizepräsident unter Hagen in der IHK Köln, berichtete, dass er von diesem die Leitung von Sitzungen und die Einflussnahme auf deren Teilnehmer gelernt habe. Hagen habe auch bei Angelegenheiten, deren Inhalt er vorher nicht kannte, sehr schnell den Zusammenhang erfasst und kurzfristig entschieden. Hagen galt als ein exzellent informierter Bankier und dieser Informationsvorteil half bei der Anbahnung und Vollziehung neuer Geschäfte. Oft konnte er mit Hintergrundwissen Weichen für neue Geschäfte stellen. Dies war wahrscheinlich auch der Grund, warum der Chef der Disconto-Gesellschaft, Dr. Georg Solmssen, zwar die Verbindungen Hagens nutzte, um z. B. Konsortialquoten auszuhandeln, aber ansonsten eher vorsichtig mit der Weitergabe von Informationen an ihn war.17 Galt Hagen nach außen als erfolgreicher Bankier und Industrieberater, so war die Innensicht sehr viel komplexer und mitunter – soweit es die magere Quellenlage sicher zu beurteilen zulässt – auch weniger erfolgreich. Schließlich musste das Bankhaus durch das befreundete Bankhaus Sal. Oppenheim jr. & Cie. gerettet werden. 1921 verbanden sich die Bankhäuser Levy und Oppenheim zu einer Interessensgemeinschaft, die zum 1. Mai 1922 in Kraft treten sollte. Die Autoren der Festschrift von Oppenheim fragten 1989: „Wie aber konnte sich Louis Hagen, dessen Gewandtheit legendär war und dessen Umtriebigkeit nicht nur Bewunderung, sondern auch Mißtrauen weckte, mit dem streng konservativen, rechtlich denkenden 13 14 15 16 17

Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3/16 (1925), S. 2 f. Nachruf in Deutscher Volkswirt vom 7. Oktober 1932. Zit. nach Mosse, Präsidenten, S. 334, Anm. 53. Dort und in Anm. 54 weitere Nachrufe. Zit. nach Ulrich, Aufstieg, S. 225. Fritz Schumacher, Stufen des Lebens, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1935, S. 427. Sekretariat A. Schaaffhausenʼscher Bankverein an Georg Solmssen, 30. Oktober 1922, in: James/Müller, Solmssen, S. 179–180, S. 180; Solmssen an Karl Kimmich, 2. November 1922, in: ebd., S. 180–183, S. 181, 182; Solmssen an Pferdmenges, 21. April 1926, in: ebd., S. 231– 234, hier S. 231.

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und eher steifen Chef des Bankhauses Sal. Oppenheim jr. & Cie. zusammentun?“ Hagen sei ein „wirtschaftlicher Allround-Unternehmer mit starken Ellenbogen und hemdsärmeligen Manieren“ gewesen, Simon Alfred von Oppenheim dagegen „traditionsbewusst“.18 Eine Antwort geben die Verfasser nicht direkt. Das Bankhaus Levy galt als risikofreudig, während Oppenheim Geschäfte eher konservativ anging. Da der Vertrag zwischen den beiden Banken eine Gewinn-, aber auch eine Verlustbeteiligung vorsah, waren die Inhaber aufeinander angewiesen. Während der ersten Jahre profitierte Oppenheim von den guten Geschäften und den Kontakten bei Levy. Hagen war in mehreren Aufsichtsräten bei Unternehmen, an denen auch Oppenheim Interesse hatte. Für Hagen lägen, so die Oppenheim-Autoren, die Gründe offen: Er habe so „Zugang zum angesehensten und solidesten Privatbankhaus in Köln“ erhalten und konnte so sein Vermögen sichern, zumal in der nächsten Generation keine Nachfolger vorhanden waren.19 Hagen, der Teilhaber bei Oppenheim wurde – und umgekehrt Simon Alfred sowie Waldemar von Oppenheim bei Levy –, war dringend auf die Zusammenarbeit angewiesen. Seine zahlreichen Unternehmensfusionen benötigten ständig neue Kapitalzuführungen. Außerdem interessierte ihn sein eigenes Bankhaus nicht in dem Maße, wie es vielleicht nötig gewesen wäre. Dies mag auch mit dem Übermaß an öffentlichen Ämtern und Wirtschaftsmandaten zu tun gehabt haben. Er selbst sah dies anders, behauptete, er habe „im Leben den Grundsatz gehabt, erst mein Haus zu errichten und, nachdem ich eine gesunde Basis dafür hatte, mich öffentlichen Dingen zu widmen“.20 In der Weltwirtschaftskrise litten die Banken mit hohen Beteiligungen unter dem Verlust der Aktienkurse. Dadurch waren sie zu hohen Abschreibungen gezwungen. Dies galt auch für Levy. Das Bankhaus war von Insolvenzen betroffen, u. a. bei der Nordwolle, deren Niedergang einer der spektakulärsten Fälle der Weimarer Republik war. Bereits zu Lebzeiten Hagens traten Gerüchte um die Liquidität von Levy auf, der aufwendige Lebensstil des Inhabers tat ein Übriges hinzu. Das wahre Ausmaß kam aber erst nach dem Tod von Hagen im Oktober 1932 ans Tageslicht. Von einem normalen Bankgeschäft konnte keine Rede sein. Alles drehte sich um die Person Hagens und seine Stellung in der Wirtschaft. Aufgedeckt wurde dies jedoch nicht von den Teilhabern aus dem Bankhaus Oppenheim, die seit 1922 ja eng mit Levy und Hagen verbunden waren, sondern von Paul Silverberg, den Hagen 1930 zum Nachfolger und Verwalter des Vermögens bestimmte. Der Braunkohlenindustrielle erinnerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Hagen unter dem Namen des Unternehmens „seine Privat-Spekulationen machte“. Einnahmen bestanden aus Zinsgeschäften, Gewinne habe Hagen „jedes Mal konstruiert“. Die Folge war „Überschuldung und eine völlige Illiquidität“.21 Niemand von den Oppenheim-Teilhabern schien dies bemerkt oder, wenn doch, dagegen opponiert zu 18 19 20 21

Michael Stürmer / Gabriele Teichmann / Wilhelm Treue, Wägen und Wagen, 3. Aufl., München u. a. 1994, S. 341. Ebd. Zit. nach Mosse, Präsidenten, S. 312. Stürmer/Teichmann/Treue, Wägen, S. 361. So auch Keith Ulrich, Aufstieg und Fall der Privatbankiers, Frankfurt/Main 1998, S. 226. Der Vertrag zwischen Silverberg und Hagen wurde öffentlich bekannt. Magazin der Wirtschaft vom 7. November 1930.

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haben. Hinzu kam, dass Hagens eigenwillige Kreditgewährung erst nach und nach bekannt wurde – eine Prüfung von Kreditgesuchen durch die Mitgesellschafter scheint es nicht gegeben zu haben. Hagen entschied z. B. ohne Rücksprache und vertragswidrig, der Metallhandelsgesellschaft von Meno Lissauer einen Kredit in Höhe von 23 Mio. Mark zu gewähren. Laut Vertrag konnte Silverberg Kommanditist bei A. Levy werden, der diesen Schritt nur wählte, um nach außen ein Zeichen für die Solidität des Bankhauses zu setzen. Dabei war die Zeit äußerst ungünstig. Ende 1932 war das Bankhaus Levy in Folge der Bankenkrise und aufgrund der Einbindung in die Kommunalfinanzierung der überschuldeten Stadt Köln stark in Zahlungsnöte geraten. Robert Pferdmenges, Teilhaber bei Oppenheim seit 1929, und Silverberg verhandelten zunächst mit der Reichsbank, die – auch aus Furcht vor weiteren Folgen für die gesamte Bankwelt – Unterstützung zusagte. Anscheinend hatte die Reichsbank die Liquidation des Bankhauses verlangt. Oppenheim musste einen hohen Aufwand betreiben, um die Partnerbank, die die laufenden Kreditgeschäfte abwickelte und alle Geschäftsbeziehungen aufrechterhielt, am Leben zu erhalten. Mit den Erben und Teilhabern von Levy wurde ebenfalls eine Vereinbarung geschlossen. Pferdmenges und Silverberg erreichten, dass der Vertrag von 1922 so lange außer Kraft trat, bis das Eigenkapital von A. Levy wieder 10,5 Millionen Reichsmark erreichte. Beide Bankhäuser wurden separat und auf eigene Rechnung geführt, aber neben Pferdmenges und Silverberg trat auch Friedrich Carl Oppenheim als persönlich haftender Gesellschafter in das Bankhaus Levy ein. Schließlich gelang die Einigung und das Kapital wuchs, sodass ein Zusammenbruch verhindert werden konnte. Das Bankhaus Levy wurde aber 1936 liquidiert. Durch die vollständige Übernahme von Levy erhöhte sich die Bilanzsumme bei Oppenheim von 41 Mio. auf 103 Mio. RM. Das Bankhaus A. Levy hatte damit eine durchaus hohe Bedeutung auch für Oppenheim, deren Bilanzsumme abgenommen hatte. Die Kölnische Zeitung urteilte, dass Oppenheim von Levy „einen nicht unerheblichen Kundenzuwachs“ erhielt.22 IHK-PRÄSIDENT UND SPRACHROHR DER RHEINISCHEN WIRTSCHAFT 1906 wurde Hagen zum Mitglied der Vollversammlung der Handelskammer zu Köln und 1912 zu deren Vizepräsident gewählt. Von 1916 bis zu seinem Tod 1932 war er Präsident der Handelskammer, seit 1924 Industrie- und Handelskammer (IHK), die eine herausragende Stellung innerhalb des Rheinlandes einnahm. Das Amt bedeute für Hagen einen erheblichen Macht- und Prestigegewinn. Er konnte damit seine wirtschaftspolitischen Ziele verfolgen. Dabei halfen ihm die Zeitumstände, aber auch sein Verhandlungsgeschick, seine vielfältigen Kontakte, sein gesellschaftliches Auftreten und das politische Gespür. Als Präsident der größten IHK im Westen vertrat Hagen die westdeutsche Wirtschaft bei den Waffenstillstandskonferenzen und Friedensverhandlungen in Ber22

Zit. nach Wilhelm Treue, Das Schicksal des Bankhauses Sal. Oppenheim jr. & Cie. und seiner Inhaber im Dritten Reich, Wiesbaden 1983, S. 17.

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lin, Spa und Versailles. Er gehörte einer Sonderkommission an, die der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen die Verhältnisse im Rheinland darlegen sollte. Dadurch wurde Hagen für die Reichsregierung und für die Besatzungsmächte erster Ansprechpartner für wirtschaftliche Belange. Dabei war er skeptisch, ob sich Westdeutschland unter den Bedingungen der Besatzung langfristig an Deutschland orientieren könne. 1919 wurde Hagen Vorsitzender der Vereinigung der Industrie- und Handelskammern des besetzten Gebietes. Die erste Abstimmung verloren die Kölner, deren Wunsch nach Gründung eines eigenen Weststaates abgelehnt wurde. Die Aufgabe der Vereinigung war es, praktische Hilfeleistung zu geben, aber auch die „Wahrnehmung einer einheitlichen Vertretung der Wirtschaft des besetzten Gebietes gegenüber der Reichsregierung.“23 Am 6. April 1921 wurde Hagen Sprecher des Wirtschaftsausschusses für das besetzte Gebiet, in dem alle Kammern und wirtschaftlichen Interessensverbände vereinigt waren. Dieser Ausschuss entstand als Reaktion auf die Ablehnung der Reichsregierung, einen wirtschaftlichen Beirat einzuberufen.24 Seine Aufgabe war zunächst die Vertretung der gesamtwirtschaftlichen Interessen in den besetzten Gebieten gegenüber Politik und Verwaltung sowie die Vermittlung von behördlichen Maßnahmen in die Wirtschaft hinein. Ebenso protestierte der Ausschuss gegen Sanktionen. Nach Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen wurde sein Aufgabengebiet vergrößert. Allein in dieser Zeit tagte der Vorstand elf und der Gesamtausschuss in zehn Sitzungen, teilweise in Anwesenheit von Vertretern der Reichsregierung.25 Erst mit der Räumung der ersten Besatzungszone 1926 gab Hagen das Amt auf. Infolge dessen gründete er am 17. März 1926 den Verband linksrheinischer Industrie- und Handelskammern, dessen Vorsitz er auch übernahm. In den Vereinigungen und dem Wirtschaftsausschuss oblag die operative Arbeit dem Syndikus der Kölner IHK, Dr. Albert Wiedemann, der Hagen loyal ergeben war. Das Präsidentenamt bei der Handelskammer hatte Hagen zahlreiche Verbindungen geschaffen und er schätzte es – vermutlich vor allem aufgrund der gesellschaftlichen Reputation, die ihm dadurch zu Teil wurde. Auch außerhalb des Rheinlandes wirkte Hagen im Vorstand und in Gremien des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) sowie in den internationalen Kammergremien mit. Er war Mitglied im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat und im Generalrat der Reichsbank. Hagen war ein kritischer Begleiter der Politik. Erst wenn die Schwelle des für die Wirtschaft Hinnehmbaren überschritten war, wandte er sich öffentlich gegen politische Entscheidungen. Eine davon war die zunehmende Belastung der Wirtschaft mit Abgaben und Steuern. Er war Anhänger einer starken Außenwirtschaft 23 24

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Zit. nach Hermann Kellenbenz, Louis Hagen insbesondere als Kammerpräsident, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 10, Münster 1974, S. 138–195, hier S. 143. Protokoll. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 206, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/feh/feh1p/kap1_2/ para2_206.html?highlight=true&search=&stemming=true&pnd=&start=579&end=579&field =all#highlightedTerm, [letzter Abruf: 26. November 2014]. Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3/16 (1925), S. 3; Bericht über die Tätigkeit des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete, Ms., Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA) 1g-1–5.

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und sprach im Januar 1926 davon, dass es „eines Tages eine europäische Union gibt“.26 Im September 1928 hielt Hagen eine vielbeachtete Rede vor dem Deutschen Bankierstag über die deutsche Finanzpolitik im fünften Jahr des DawesPlans. Die Zahlungen im ersten Normaljahr erschienen ihm unmöglich. Er sorgte sich vor den Belastungen, den der Dawes-Plan den zukünftigen Generationen aufbürde. Im Herbst 1929 rief er zu einer Großkundgebung gegen die „ungesunde Wirtschaftspolitik“ auf und mahnte einen Verzicht auf Steuererhöhungen an.27 Hagen begrüßte die Politik von Reichskanzler Heinrich Brüning. Nach dem Erlass der Notverordnung „zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ stimmte die IHKVollversammlung einstimmig einer Depesche zu, die Hagen mit der Begrüßung der Reformpolitik an Brüning sandte. Im Hauptausschuss des DIHT sprach er sich dafür aus, die Reparationsfrage aus dem Brüningschen Plan zur Neuaufstellung der Staatsfinanzen herauszulassen. Auch in den Folgemonaten bekannte sich Hagen eindeutig zu der Politik Brünings, dem er im Juni 1931 ein Telegramm sandte, in dem er Unterstützung für das Notprogramm anbot. Am 27. September 1932 weihte die IHK ihr neues Haus in der Straße Unter Sachsenhausen 4 ein. Zahlreiche Gäste waren erschienen, u. a. Reichswirtschaftsminister Hermann Warmbold und Reichsbankpräsident Hans Luther. Hagen nutzte die Gunst der Stunde und plädierte für eine starke Exportpolitik, die dem Schuldenabbau gegenüber dem Ausland dienen sollte und sprach sich gegen die von der Reichsregierung geplante Import-Kontingentierung von Lebensmitteln aus. Es war ihm sicher bewusst, dass Warmbold ein Mann der Landwirtschaft war und einige Jahre zuvor auch als Landwirtschaftsminister in Preußen amtierte. Nach der Feier erlitt Hagen einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Am 1. Oktober verstarb Louis Hagen. HAGEN ALS RHEINISCHER POLITIKER 1909 wurde Hagen Mitglied des Stadtrates in der ersten Wählerklasse und für die Liberalen. Im Gegensatz zu manch anderen Unternehmern blieb Hagen auch nach der Revolution und nach Einführung der demokratischen Verfassung Mitglied im Stadtrat. Anscheinend war für ihn die Umstellung von Monarchie auf Demokratie nicht im gleichen Maße mit Resignation und innerem Widerstand verbunden, wie dies bei anderen Unternehmern der Fall war. Im Stadtrat zählte Hagen zur „politischen Elite“ und war dort einer der einflussreichsten Politiker. Daran änderte auch sein Wechsel 1921 von den Liberalen zur katholischen Zentrumspartei nichts, deren Fraktion er bis zu seinem Ausscheiden 1929 angehörte. Der Wechsel war sicher auf die enge Beziehung zu Konrad Adenauer zurückzuführen, der seit 1917 Oberbürgermeister war. Dieser Übertritt erregte „einiges Aufsehen“28 – vermutlich wegen Hagens jüdischer Herkunft. Ihn scheint dies nicht angefochten zu haben, er unterstützte die Zentrumspartei auch mit großzügigen Spenden. Dies brachte ihm die Ehre eines Großkomturs des Silvesterordens ein, der ihm vom Papst auf Vorschlag 26 27 28

Zit. nach Kellenbenz, Hagen, S. 164. [Dem Andenken an Louis Hagen], Köln 1932, S. 90. Jakob van Norden, Lebenserinnerungen, maschr. Manuskript, RWWA, S. 150.

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des Kölner Erzbischofs verliehen wurde. Bereits seit seiner Heirat präsentierte er sich als „überzeugter Katholik“.29 Die enge Beziehung zu Adenauer sicherte Hagen eine besondere Stellung innerhalb der Kölner Gesellschaft. Bereits kurz nach dem Krieg galt Hagen – hinter Adenauer – für Außenstehende als „zweiter König Kölns“. Hagen habe einen „ähnlichen Mut zur Tat“ gehabt, wie der Oberbürgermeister.30 Für den Bankier war es eine Verpflichtung, kommunale Verantwortung zu übernehmen. Dafür erwartete er die Anerkennung der Wirtschaftsanliegen. Diese fand er bei Adenauer richtig aufgehoben. Der Oberbürgermeister verfolge, so Hagen, „mit äußerster Energie und mit einem zielbewußten klaren Blick die großen Projekte […], die auch für zukünftige Zeiten Köln unabhängig von vielen anderen Märkten machen sollen.“31 Neben der Aktivität im Stadtrat war Hagen aktives Mitglied im Rheinischen Provinziallandtag, dem er von 1912 bis zu seinem Tod angehörte. Vornehmlich war er dort mit dem Haushalt der Provinzialverwaltung, der Provinzial-Versicherung und der Landesbank beschäftigt. Insbesondere nach dem Krieg war Hagen häufiger Redner im Provinziallandtag. 1928 und 1930 war Hagen der Alterspräsident und leitete die Versammlung bis zur Wahl eines Präsidiums. Seine wohl bedeutendste Wirkung als Politiker, allerdings fußend auf sein Amt als IHK-Präsident, entwickelte Hagen mit der Bewältigung der Folgen der Rheinlandbesetzung. Im Sommer 1919 befürchtete er, es könne eine Zollgrenze zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet entstehen. Dies würde automatisch „eine politische Absplitterung vom Deutschen Reich in absehbarer Zeit nach sich ziehen“.32 Am 6. Juni 1919 war Hagen mit Adenauer und mehreren Abgeordneten in Versailles, wo sie mit Reichsaußenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau Adenauers Plan einer Westdeutschen Republik diskutierten. Da der Minister nicht zu überzeugen war, diesen als Verhandlungsangebot in die Friedensvertragsbedingungen aufzunehmen, rückte Adenauer von seinem Plan ab. Manche Beobachter empfanden auch in dieser Frage Adenauer und Hagen als Gespann, einer warnte das Auswärtige Amt vor Eingaben der beiden. Hagen wurde mehrfach als Sachverständiger kurz nach Kriegsende zu offiziellen Verhandlungen hinzugezogen.33 Dabei übte er auch Kritik an der Regierung. Am 7. Dezember 1920 sprach er im Rheinischen Provinziallandtag zur Frage der Kriegslasten und deren Bewältigung. Er bemängelte, dass der versprochene Ersatz für Requisitionsleistungen „außer29 30 31 32 33

Schumacher, Stufen, S. 345. Ebd. Dankesrede anlässlich seines 70. Geburtstages, in: Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3 (1925), S. 5 f., hier S. 6. Karl-Dietrich Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1966, S. 66. Zitat von Hagen. Protokoll Kabinettssitzung vom 16. Januar 1920. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Scheidemann, Nr. 148, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919–1933/0000/bau/bau1p/kap1_2/kap2_150/para3_2.html?highlight=true&search=Hag en&stemming=true&pnd=&start=&end=&field=all#highlightedTerm. Siehe auch 1922 http:// www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/cun/cun1p/kap1_2/para2_5.html?h ighlight=true&search=&stemming=true&pnd=&start=15&end=15&field=all#highlightedT erm [letzter Abruf: 26. November 2014].

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ordentlich lange auf sich warten läßt, in sehr vielen Fällen Wochen und Monate, dadurch wird mancher in sehr schwere wirtschaftliche Sorgen versetzt.“ Zudem forderte er, dass das Reichsberufungsgericht, das in Fällen von Klagen gegen die zugewiesenen Entschädigungen zuständig war, von Berlin zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz nach Koblenz verlegt würde.34 Im März 1921 konnten sich Adenauer und Hagen bei einer Sitzung des parlamentarischen Beirats für die besetzten Gebiete mit der Forderung nach einem Staatssekretär für die besetzten Gebiete im Reichsinnenministerium durchsetzen.35 Im April 1922 reiste Hagen nach Genua, um an der ersten internationalen Konferenz teilzunehmen, zu der Deutschland nach dem Krieg wieder zugelassen war. Das Ziel, die Reparationszahlungen zu stunden und neu zu regeln, wurde auf der Konferenz nicht erreicht. Ende 1922 wurde der HAPAG-Generaldirektor Wilhelm Cuno vom Reichspräsidenten zum Reichskanzler ernannt. Unmittelbar nach Kabinettsantritt berief die Regierung ein Gremium von sechs führenden Unternehmern, dem auch Hagen angehörte. Aufgabe war die Erstellung eines Konzeptes über die Reparationszahlungen. Die Industriellen wollten die Frage der Reparationen mit der Neugestaltung des Rheinlandes verknüpfen. Im Oktober 1923 war die Situation in Westdeutschland immer noch unklar. Das Ruhrgebiet war besetzt und die Briten nach wie vor offiziell in ihrer Besatzungszone. Besondere Probleme bereitete die Frage der Währung. Zunächst hatte die Interalliierte Rheinlandkommission, dann die Reichsregierung die Einführung der Rentenmark, die die Inflation abgelöst hatte, abgelehnt. Die Lage war insbesondere für die Wirtschaft bedrohlich, da politische, soziale und ökonomische Spannungen sich lähmend auf sie auswirkten. Dabei waren unterschiedliche Modelle denkbar. Adenauer wollte das Rheinland wieder stabilisieren – notfalls per Gründung eines Bundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches. Hagen unterstützte diesen Plan. Im Oktober 1923 meinte er, dass die Währungsfrage für das Rheinland separat gelöst werden müsse. Die Rentenbank sah Hagen für das Rheinland als nicht umsetzbar an, weil die Grundstücke nicht mit Hypotheken belastet werden konnten. Er lehnte aber auch den Franc ab, da die Einführung der französischen Währung einen „unleidlichen Einfluß unseres Feindes auf unsere Verwaltung und unsere Wirtschaft“ habe.36 Daher wollte Hagen eine eigene rheinische „Goldnotenbank“ gründen. Im Oktober 1923 unterrichtete er Reichskanzler Gustav Stresemann persönlich von den Diskussionen über eine eigene rheinische Währung.37 Diese sollte zu 60 Prozent durch Goldreserven ge34 35

36 37

Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des 59. Rheinischen Provinziallandtages im Ständehaus zu Düsseldorf vom 5. Dezember bis 11. Dezember 1920, S. 81 f. Horst Romeyk, Adenauers Beziehungen zum Rheinischen Provinzialverband und zu staatlichen Behörden, in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, Köln 1976, S. 295–328, 733–743, hier S. 741. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 206, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/feh/feh1p/ kap1_2/para2_206.html?highlight=true&search=&stemming=true&pnd=&start=579&end=57 9&field=all#highlightedTerm, [letzter Abruf: 26. November 2014]. Erdmann, Adenauer, S. 95. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Stresemann I/II, Bd. 2, Nr. 145, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/str/str2p/kap1_1/ para2_31.html, [letzter Abruf: 26. November 2014].

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deckt werden. Da die Reichsbank drohte, zur Stabilisierung der Rentenmark kein rheinisches Notgeld mehr anzunehmen, gewann dieser Plan zunehmend Gewicht. Hagen verhandelte mit Paul Tirard, dem Präsidenten der Interalliierten Rheinlandkommission, erfolgreich über die Anerkennung der Währung. Anfang November erklärte sich die Regierung bereit, Schritte zur Einführung der Rentenmark in den besetzten Gebieten vorzunehmen – als Reaktion auf Hagens Ankündigung vom 3. November, in Köln eine eigene Notenbank zu errichten.38 Am 17. Dezember 1923 fand in Berlin eine Besprechung von Reichskanzler Wilhelm Marx und einigen Kabinettsmitgliedern sowie Vertretern der „Kölner Bankenvereinigung und der industriellen Vertreter des besetzten Gebietes“ statt. Hagen und andere betonten die Notwendigkeit der eigenen Währungsausgabe. Er wiederholte aber auch, dass die Schaffung einer neuen Bank keine Abspaltung von Deutschland wäre.39 Fünf Tage später schrieb Marx an Hagen, dass die Regierung eine Rheinisch-Westfälische Bank unter bestimmten Bedingungen akzeptieren würde.40 Da die Angelegenheit schleppend verlief, überholten die Ereignisse die Pläne, die schließlich, auch durch die Abwertung des Francs bei gleichzeitiger Aufwertung der Rentenmark, aufgegeben wurden. Hätte sich Hagen durchgesetzt, wäre der Einfluss Frankreichs auf die deutsche Währungspolitik gewachsen. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht wollte dies vereiteln. Allerdings wird seine Rolle überbewertet, da England die rheinische Währung ablehnte. Später würdigte Wilhelm Marx als Reichsminister für die besetzten Gebiete, dass Hagen ein „großes Opfer“ mit dem Verzicht auf die Goldnotenbank geleistet habe, der „für sein Herz, für seine ganze wirtschaftliche Einstellung und seinen wirtschaftlichen Geist“ bedeutend war.41 Die rheinische Währung wurde aber auch von den Unternehmen nicht anerkannt, da sie fürchteten sich durch eine Art „Auslandswährung“ vom deutschen Markt abzukoppeln. Anderthalb Jahre später, im Mai 1925, begrüßte Hagen die Stabilität der Mark, an „der kein vernünftiger Deutscher mehr […] zweifeln kann“.42 Hagen führte mit dem französischen Gesandten Tirard auch Verhandlungen zu politischen Angelegenheiten. Tirard akzeptierte Hagen im Gegensatz zu Adenauer. Am 25. Oktober 1923 wurde Hagen als einer von 15 Vertretern bestimmt, die mit der Rheinlandkommission Gespräche führen sollten. In dem anschließenden Tref38

39 40 41 42

Schreiben Staatssekretär Kempkes an Hagen et al. vom 3. November 1923. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Stresemann I/II, Bd. 2, Nr. 219, online: http://www. bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/str/str2p/kap1_1/para2_105.html?highli ght=true&search=&stemming=true&pnd=&start=960&end=961&field=all#highlightedTerm, [letzter Abruf: 26. November 2014]. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Marx I/II, Bd. 1, Nr. 29, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/ma1/ma11p/kap1_2/ kap2_29/para3_1.html, [letzter Abruf: 26. November 2014]. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Marx I/II, Bd. 1, Nr. 36, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/ma1/ma11p/kap1_2/ para2_36.html, [letzter Abruf: 26. November 2014]. Rede Wilhelm Marx anl. der Schlusssitzung des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete, 20. Februar 1926, Ms., S. 4, RWWA 1g-1–5. Dankesrede anlässlich seines 70. Geburtstages, in: Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3 (1925), S. 5 f., hier S. 6.

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fen mit Tirard wandte sich Hagen gegen eine Teilnahme der rheinischen Separatisten an offiziellen Verhandlungen und betonte, dass die deutsche Oberhoheit auch in einem eventuell zu errichteten neuen Staatsgebilde Rheinland nicht zur Disputation stünde. Auf beide Bedingungen sei sein Verhandlungspartner eingegangen.43 Hagen suchte einen Sonderweg für das Rheinland innerhalb Deutschlands. Nicht durchsetzen konnte sich Hagen mit der Bedingung, dass Adenauer an der Spitze eines neuen Staatswesens stehen müsste. Tirard akzeptierte das nicht, sondern bot stattdessen Hagen diese Position an. Dies habe er, so Hagen selbst, lachend auch mit Hinweis auf sein Alter abgelehnt. Aber immerhin erreichte er, dass der Gesandte Adenauer nicht mehr als Kommissionsmitglied ablehnte und zu einem Dreiergespräch bereit war. In der Retrospektive bezeichnete Hagen die Situation des Rheinlandes in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 als „wirklich grausame Zeit“.44 Auch mit der deutschen Regierung verhandelte Hagen als Vertreter der Rheinlande. Er war mit Konrad Adenauer und rheinischen Unternehmern am 9. Januar 1924 bei Reichskanzler Wilhelm Marx, der mit mehreren Mitgliedern seines Kabinetts erschien. Die Regierung gestand der Abordnung aus dem Rheinland zu, mit Frankreich verhandeln zu können, jedoch nur in enger Abstimmung und unter der Bedingung, dass die politische Frage nicht vor der Reparationsfrage abgeschlossen werde dürfe. Die Verhandlungen fanden aber nicht statt, weil der bei dem Treffen verhinderte Außenminister Gustav Stresemann sich verweigerte. Im Oktober 1925 tagten Vertreter der Rheinlande beim Reichskanzler, um den Vertrag von Locarno und dessen Auswirkungen zu beraten. Am 21. Oktober wurde eine Abordnung von Reichspräsident Paul von Hindenburg empfangen. Hagen begrüßte bei diesem Anlass das Vertragswerk, das u. a. die Westgrenze festschrieb. Er forderte aber eine „Besserung in den Besatzungsverhältnissen“.45 In seiner Rede 1928 vor dem Deutschen Bankiertag in Köln warnte er vor den Lasten, die die Reparationszahlungen den nachfolgenden Generationen auferlegten. Als der Young-Plan 1929 verhandelt wurde, empfahl Hagen öffentlich dessen Annahme und lehnte gleichzeitig ein Volksbegehren ab. Generell war Hagen, wie die meisten anderen Befürworter einer gewissen Eigenständigkeit des Rheinlandes, gegen eine Ausgliederung und gegen einen Pufferstaat zwischen Deutschland und Frankreich. Vielmehr ging es ihm und Adenauer zu dieser Zeit um eine stärkere Eigenständigkeit innerhalb Deutschlands in Form eines Bundesstaates, eine Loslösung von Preußen und um die Finanzhoheit. Der 43

44 45

Zu der Besprechung siehe die Niederschrift. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Stresemann I/II, Bd. 2, Nr. 179, online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/str/str2p/kap1_1/para2_65.html?highlight=true&search=&stemming =true&pnd=&start=790&end=793&field=all#highlightedTerm, [letzter Abruf: 26. November 2014]. Rede anl. der Schlusssitzung des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete vom 20. Februar 1926, Ms., S. 3, RWWA 1 g-1–5. Reichsminister für die besetzten Gebiete an Reichskanzler vom 30. Oktober 1925. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Luther I/II, Bd. 2, Nr. 212, online: http:// www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/lut/lut2p/kap1_1/para2_43.html?hi ghlight=true&search=&stemming=true&pnd=&start=822&end=822&field=all#highlightedT erm, [letzter Abruf: 26. November 2014].

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Rheinstaat sollte keine Reparationslasten mehr tragen und aufgrund seines hohen Bergbauaufkommens und Industriebesatzes selbstständig wirtschaften können. Eine Anlehnung an Frankreich und Belgien hätte es dabei aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtungen gegeben. Diese sollte auch einer Aussöhnung insbesondere mit Frankreich dienen. Von Zeitgenossen wurde Hagen attestiert, er habe dazu beigetragen, dass „alle Loslösungsbestrebungen zum Scheitern verurteilt waren“.46 Das Engagement Hagens für das Rheinland weckte Widerspruch. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde Hagen von der Presse als „Separatist“ angegriffen. So wurde ihm im Sommer 1923 vorgeworfen, eine Verbindung mit den Separatisten als Druckmittel einzusetzen, und im Januar 1924 wurde behauptet, er habe die Loslösung des Rheinlandes von Preußen propagiert. Diese Anschuldigungen erforderten die stete Betonung der nationalen Haltung. So begann Hagen seine Dankesrede anlässlich seines 70. Geburtstages vor der IHK mit einer Lobrede auf den zwei Tage zuvor vereidigten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg.47 Für Hindenburg und damit gegen Hitler unterzeichnete Hagen 1932 einen Wahlaufruf anlässlich der Reichspräsidentenwahl. Bei der Trauerfeier für Hagen sagte Konrad Adenauer über die Zeit der Besatzung: „Diese Jahre waren die größten seines Lebens, die Arbeit dieser Jahre war die wertvollste und weittragendste.“ Hagen habe bei „der Rettung des Rheinlandes in vorderster Reihe gestanden“.48 Dagegen urteilte der von Hagen geschasste Handelskammersyndikus Alexander Wirminghaus nach dem Tod des Präsidenten, dieser habe „in den drängenden Fragen der inneren und äußeren Politik nicht als sachverständig und zielsicher“ gegolten.49 GESELLSCHAFTLICHE STELLUNG Zwanzig Jahre nach dem Ableben von Hagen behauptete der Biograph Robert Gerlings50, Hagen habe sich „als einer der Wenigen […] den Eintritt in die höchste, exklusivste, gegen ‚Parvenüsʻ streng sich wehrende Kölner Geldaristokratie“ erzwungen. Er sei auch der einzige Handelskammerpräsident gewesen, bei dem der Festungskommandant einen Antrittsbesuch machte.51 Der gesellschaftliche Aufstieg des Louis Hagen war eng verbunden mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Bankhauses Levy. Erst die ökonomische Basis gab Hagen die Chance, ohne dass er Wurzeln in einer alteingesessenen Familie hatte, in die höchsten Ebenen der Gesellschaft einzutreten. Mindestens so hilfreich war ihm dabei die Heirat mit einer Fabrikantentochter und der damit verbundene Übertritt zur römisch-katholischen Kirche sowie einflussreiche Protegés. Der Staat 46 47 48 49 50 51

Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3/16 (1925), S. 2. Ebd., S. 5 f. Andenken, S. 79 f. Zit. nach Friedrich-Wilhelm Henning, Die Industrie- und Handelskammer zu Köln und ihr Wirtschaftsraum im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, in: Die Geschichte der unternehmerischen Selbstverwaltung in Köln 1914–1997, Köln 1997, S. 54. Zu Robert Gerling vgl. den Beitrag von Boris Barth in diesem Band. Wolf von Niebelschütz, Robert Gerling, Tübingen 1954, S. 122.

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ließ mit Ehrenbezeichnungen nicht lange auf sich warten. 1904 wurde Hagen zum Kommerzienrat ernannt, vor dem Ersten Weltkrieg folgte der Geheime Kommerzienrat. Drittes Element seiner gesellschaftlichen Position war das Amt des IHKPräsidenten. Hagen bewohnte seit 1888/89 eine neuerrichtete Villa am Sachsenring, jenem Teil der Kölner Neustadt, in das nach der Stadterweiterung das höhere Bürgertum hinzog. Das Haus präsentiert in der Architektur die gesellschaftliche Stellung seines Eigentümers. Einen besonderen Kunstsachverstand war dem Inhaber nicht gegeben, die Stile mischten sich im Haus wild durcheinander, einzig in ihrer Protzigkeit sich vereinend. Bei einem Abendessen habe man – so äußerte der Verleger Alfred Neven DuMont ironisch – „von goldenen Tellern gegessen“.52 Wie andere Wirtschaftsbürger auch, hielt sich Hagen einen Landsitz. 1916 kaufte er das Schloss Birlinghoven, heute in Sankt Augustin. In der Weimarer Republik nutzte Hagen das Schloss nicht nur zur Erholung, sondern tagte dort auch mit Gästen aus Wirtschaft und Politik. Hagen ließ auf dem Gelände eine Kapelle errichten, die von Karl Joseph Kardinal Schulte eingeweiht wurde. Wenig bekannt ist – auch aufgrund des nicht vorhandenen Nachlasses – der soziale Umgang, den Louis Hagen pflegte. In der Anfangsphase seines gesellschaftlichen Aufstiegs waren Hagen und seine Frau nicht überall gern gesehene Gäste, angeblich habe sich Hagen dafür später „revanchiert“.53 Neben den Politikern in Köln und Berlin traf sich Hagen vornehmlich mit Vertretern der Wirtschaft. Mit Simon Alfred von Oppenheim, Paul Silverberg und Otto Wolff war Hagen gut bekannt, mit Konrad Adenauer bestens vernetzt. Eine Abgrenzung zu der Herkunft und eine Versinnbildlichung des ökonomischen Aufstiegs waren die adligen Heiraten seiner beiden Töchter: Elisabeth (1886–1979) ehelichte Clemens Freiherr von Wrede-Melschede, Maria (1889–1943) in erster Ehe Robert Freiherr von Dobeneck und nach dessen Ableben 1932 Stanislaw Graf Strachwitz. Vielerlei Gerüchte rankten sich um Hagen, dem auch zahlreiche Frauenbekanntschaften nachgesagt wurden. Er wurde sogar als „der letzte deutsche Lebemann ganz großen Stils“ und als jemand, „der etwas von einem exotischen Sultan an sich hatte“, bezeichnet.54 Öffentlich wurde Hagen besonders an seinem 70. Geburtstag geehrt, anlässlich dessen insgesamt 28 (!) Reden gehalten wurden. Die Stadt Köln stiftete 25.000 Mark für einen von Hagen festzulegenden wohltätigen Zweck. Bereits vor dem Geburtstag hatte er um Spenden für eine Stiftung für Witwen und Waisen von „unschuldig verarmten Kaufleuten“ und Mitarbeitern der IHK geworben. Insgesamt spendeten rheinische Unternehmen hierfür 375.000 Mark. Außerdem wurde er anlässlich seines Geburtstages zum Ehrenbürger der Universität zu Köln ernannt, gemeinsam mit Konrad Adenauer. Hagen war auch Ehrendoktor der Universitäten Aachen, Bonn und Köln. 52 53 54

Im Dezember 1926. Zit. nach Günther Schulz (Hrsg.), Konrad Adenauer 1917–1933. Dokumente aus den Kölner Jahren, Köln 2007, S. 357. Mosse, Präsidenten, S. 309. Ebd., S. 314; Schumacher, Stufen, S. 427. Zu den Gerüchten über eine „Mätresse in Berlin“ siehe Polizeipräsident an Regierungspräsident, 17. Dezember 1910, Historisches Archiv Sal. Oppenheim jr. & Cie., S-P/56 (Kopie Personalakte HASTK Best. 401, Nr. 745).

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SCHLUSS Der Aufstieg des Erben eines kleinen Bankgeschäfts zu einem der mächtigsten Wirtschaftsführer Deutschlands in der Zeit der Weimarer Republik war einerseits durch das persönliche Geschick Hagens, Menschen und Unternehmen zueinander bringen zu können, begünstigt. Er hatte mit der Zeit die Stellung „eines gewieften Finanzmannes“ erhalten und „sein sicheres Auftreten“ verschaffte ihm ein „Ansehen, das weit über die wirtschaftlichen Kreise hinausging“.55 Andererseits war es auch der Aufstieg eines Selfmademans, der seinen Erfolg nicht allein auf Glück, sondern auf Arbeit zurückführte. „Glück allein ist das nicht gewesen. Wer dem Glück nicht nachhilft, wer nicht mit eiserner Energie, mit festem Willen sein Schicksal mit aufrichtet und daran mitarbeitet, dem kann das Glück nichts nutzen.“56 Glück habe er nur bei der Auswahl von Personen gehabt. Hagen schien auch ein guter Redner und Verhandlungsleiter gewesen zu sein, dies wurde ihm zumindest von einigen Zeitgenossen attestiert. Zudem schien er den Eindruck vermittelt zu haben, dass ihm allgemeinwirtschaftspolitische Interessen näher lagen als Partikularmeinungen. Dadurch gelang es ihm auch gegenüber den Ministerien und Behörden als Ansprechpartner der westdeutschen Wirtschaft wahr- und ernstgenommen zu werden. Dies galt sowohl für die Besatzungsbehörden wie auch für die nationalen Institutionen. Eines zeichnete Hagen sicher ganz besonders aus – er war enorm fleißig und bis zum Schluss seines Lebens omnipräsent. Auch wenn er in manchen Zeiten zu Pessimismus neigte, wollte er dennoch sein Engagement nicht einschränken. Denn nur durch das Arbeiten könne er ein „gutes Gewissen“ haben.57 Konrad Adenauer erwähnte dies in seiner Trauerrede: „Die Arbeit hat ihn ganz erfüllt, unermüdlich war er tätig, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, keine Stunde war für ihn zu früh und keine zu spät […].“ Dabei war nicht Reichtum sein Ziel, sondern innerer Schaffensdrang“ und „Pflichterfüllung“. Dies sei „das Geheimnis seines Erfolges“ gewesen.58 Hinzukam noch eine Art Geltungsdrang. Van Norden urteilte nach Hagens Tod: „Zweifellos suchte er viel Einfluss zu gewinnen und sich Geltung und Ansehen zu verschaffen.“59 Dabei war Hagen persönlich bescheiden geblieben – karges Arbeitszimmer, häufige Fußwege und einfaches Auftreten blieben sein Stil. Hagen wird als eine „Figur des Übergangs“ bezeichnet, auf dem Weg vom privaten Engagement in der Wirtschaft hin zum „organisierten Kapitalismus“.60 Er galt als „Pionier“ bei Fusionen und Kapitalbeteiligungen. Zwar gab es auch bereits vor Hagen auf Seiten der Banken solche Transaktionen, aber Hagen hat in der Tat dieses zu seiner Hauptbeschäftigung gemacht. Seine Karriere als Vermittler begann in Köln und im Rheinland, die er aber aufgrund der guten Berlin-Kontakte mit den dortigen Kreisen verknüpfen konnte. 55 56 57 58 59 60

Alexander Wirminghaus, zit. nach Henning, Industrie- und Handelskammer, S. 54. Zit. nach Mosse, Präsidenten, S. 313. Louis Hagen an Ludwig Stollwerck, 22. Januar 1920, RWWA 208–220–4. Andenken, S. 78. Van Norden, Lebenserinnerungen, S. 149. Mosse, Präsidenten, S. 327.

Louis Hagen (1855–1932)

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Welche Bedeutung hatte Louis Hagen in der Weimarer Republik? Während die Phase der Unternehmensvermittlungen und Konsolidierungen bereits in der Kaiserzeit seinen Anfang nahm und sich in der Weimarer Zeit fortsetzte, war die öffentliche Identifikation mit Hagen als „Wirtschaftsführer“ nach dem verlorenen Krieg und mit den Krisen der Nachkriegszeit erkennbar. Das Amt des Kölner IHKPräsidenten und die anschließenden Ämter paarten sich mit starker Mitgestaltungsverantwortung und Sicherung der eigenen Ziele. Ohne das Präsidentenamt hätte er jedoch keine vergleichbare Aktivität entfalten können. Hagen erkannte dies selbst und bezeichnete die IHK als „Lieblingsstätte meiner Tätigkeit“.61 Letztendlich hat auch die finanzielle Unabhängigkeit und die Partnerschaft mit dem Bankhaus Sal. Oppenheim das Engagement Hagens ermöglicht. Im Vergleich zu den meisten anderen Bankiers war Hagen eher dynamisch, nicht so traditionsbewusst und bevorzugte eher unkonventionelle Geschäftspraktiken – er passte nicht in das Bild der eher im Hintergrund wirkenden, stillen Bankherren. Laut Fritz Schumacher habe Hagen eine „merkwürdige Macht im Rheinlande“ ausgeübt, „was wohl daran lag, daß er in einer entnervten Zeit ein unerschütterlicher Vertreter des aktiven Prinzips war“.62 Dabei war Hagen auch als Person beeindruckend. Robert Gerling habe „manchmal jenes Frösteln befallen, das Louis Hagens Persönlichkeit in einem Maße verbreitete, wie es nicht alle Tage vorkommt.“63 Wenig thematisiert wurde die Herkunft Hagens, der sich auch auf dem Höhepunkt der Macht einem gesellschaftlichen Antisemitismus gegenüber sah. Selbst der frühe Übertritt zum Katholizismus nutzte nichts. Jakob van Norden benutzte in seinen Erinnerungen althergebrachte Klischees: „Und doch blieb Hagen, dass muss gesagt werden, Rassejude nicht nur dem äußeren Ansehen, sondern auch in seinem Tun und Lassen konnte er den Juden nicht verleugnen.“ Dabei habe Hagen selbst alles Jüdische abgelehnt.64 Dies bei Konvertiten häufig zu beobachtende Verhalten kann aber auch einer Abwehr des gesellschaftlich verbreiteten Antisemitismus entsprungen sein – Hagen wollte nicht als Jude gelten und wandte sich daher von seiner Herkunft radikal ab. Doch seine jüdische Herkunft brachte ihm auch Vorteile.65 Da er nicht zu der Oberschicht von Unternehmerfamilien gehörte, die eng miteinander über Heiratsbeziehungen verflochten waren, konnte er sich freier bewegen. Hagen baute sich ein Netzwerk aufgrund seiner Unternehmenskontakte auf, er war dadurch flexibler. Dem Schicksal zu verdanken ist, dass der gebürtige Jude die Machtübertragung jener Elite, der er selbst angehörte, an die Nationalsozialisten nicht mehr erleben sollte. Auch van Norden, als Konservativer nicht vor Antisemitismus gefeit, schrieb in seinen Memoiren, dass Hagen zur „rechten Zeit“ gestorben sei und fragte: „Was wäre mit dem lebenden Louis Hagen geschehen?“66 Hagen und das Bankhaus Levy waren bereits vor 1933 im Visier der nationalsozialistischen Rassepropaganda. In 61 62 63 64 65 66

Westdeutsche Wirtschafts-Zeitung 3 (1925), S. 7. Schumacher, Stufen, S. 427. Niebelschütz, Gerling, S. 122. Van Norden, Lebenserinnerungen, S. 150. Laut Mosse, Präsidenten, S. 329 war Hagen „Insider“ und Outsider“. Van Norden, Lebenserinnerungen, S. 156 f.

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seinem Kommentar zu dem 20-Punkte-Programm führte der Ideologe der NSDAP, Gottfried Feder, das Bankhaus namentlich auf, als er über die „alteingesessenen Großbankjuden“ schrieb. Diese hätten „sich am Elend Deutschlands maßlos bereichert“.67 Wie dachte wohl Günther Riesen darüber, Prokurist beim Bankhaus A. Levy unter Hagen und seit Februar 1932 Mitglied der NSDAP? Im März 1933 wurde Riesen als Nachfolger des aus dem Amt vertriebenen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer eingesetzt. WEITERFÜHRENDE LITERATUR [Dem Andenken an Louis Hagen], Köln 1932. Henning, Friedrich-Wilhelm, Die Industrie- und Handelskammer zu Köln und ihr Wirtschaftsraum im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, in: Die Geschichte der unternehmerischen Selbstverwaltung in Köln 1914–1997, Köln 1997. Kellenbenz, Hermann, Louis Hagen insbesondere als Kammerpräsident, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 10, Münster 1974, S. 138–195. Mosse, Werner E., Zwei Präsidenten der Kölner Industrie- und Handelskammer. Louis Hagen und Paul Silverberg, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u. a. (Hrsg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 308–340. Reckendrees, Alfred, Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A. G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000. Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, Berlin 1930, Bd. 1, S. 635–636. Soénius, Ulrich S., Die IHK Köln und Westeuropa in der Zwischenkriegszeit, in: Dieter Breuer/ Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.), Das Rheinland und die europäische Moderne, Essen 2008, S. 89–109. Soénius, Ulrich S., Louis Hagen, in: Ders. / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Kölner Personenlexikon, Köln 2008, S. 209–210. Treue, Wilhelm, Hagen, Louis, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, S. 479–480. Wenzel, Georg, Deutscher Wirtschaftsführer, Hamburg 1929, Sp. 836–837. Windolf, Paul, The German-Jewish Economic Elite (1900 to 1930), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 56 (2011), S. 135–162. Wixforth, Harald, Banken und Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Köln u. a. 2005.

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Zit nach Albert Fischer, Jüdische Privatbanken im Dritten Reich, in: Scripta Mercaturae 28 (1994), S. 1–54, S. 5.

HUGO JUNKERS (1859–1935) Detlef Siegfried In der Weimarer Republik wurde der Name Junkers vor allem mit dem Aufstieg der deutschen Luftfahrt verbunden, die bis Anfang der 30er Jahre weltweit führend war. Gleichzeitig war in Dessau, dem Sitz des Unternehmens, durch die Koexistenz mit dem Bauhaus ein Zentrum der Weimarer Moderne entstanden, das über die Grenzen des Landes hinaus Ausstrahlungskraft entwickelte. Dabei war Hugo Junkers (1859–1935) bereits an seinem 60. Lebensjahr angelangt, als mit der Weimarer Republik der Höhepunkt seines Ruhms kam.1 Als Erfinderunternehmer hatte der Maschinenbauingenieur bereits einige Patente in marktgängige Produkte umgesetzt, als er sich der Flugzeugkonstruktion zuwandte, die diesen Ruhm maßgeblich begründen sollte. Die Erfindung des Kalorimeters, eines Instruments zur Wärmemessung, wurde Grundlage für seine erste Firmengründung in Dessau, Junkers & Co. (1895), die Badeöfen und andere Gasheizgeräte produzierte und das wirtschaftliche Rückgrat für seine zahlreichen anderen Unternehmungen bildete. Dazu gehörten der Motorenbau, Metallhausbau und im Kontext des Flugzeugs zahlreiche Nebengeschäfte wie eine Luftbildabteilung und als Luftverkehrsbetrieb die Junkers Luftverkehr AG (1924 gegründet, zwei Jahre später Zwangsfusion mit dem Deutschen Aero-Lloyd zur Deutschen Luft Hansa). Seit 1897 Professor für Thermodynamik an der Technischen Hochschule Aachen, waren Junkers’ Forschungsanstalten zunächst in Aachen, dann in Dessau und am Ende München die Basis für seine vielfältigen Grundlagenforschungen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Junkers mit aerodynamischen Experimenten und Materialstudien im Flugzeugbau begonnen und 1915 mit dem Modell J 1 das erste ganz aus Metall gefertigte Flugzeug der Welt gebaut. 1919 folgte die von der im selben Jahr gegründeten Junkers Flugzeugwerke AG (IFA) in Dessau gebaute F 13, das erste für den zivilen Luftverkehr konzipierte Ganzmetallflugzeug. Mit der F 13 stieg die Verkehrsluftfahrt in den 1920er Jahren auf, größere und leistungsfähigere Junkers-Flugzeuge folgten. Zahlreiche Flugrekorde, Propagandaflüge in entfernte Weltregionen und die erste Atlantikquerung von Europa nach Amerika popularisierten nicht nur Junkers-Flugzeuge, sondern das Fliegen an sich, das als nationale Errungenschaft betrachtet wurde. Hugo Junkers war seit 1898 mit Therese Bennhold (1876–1950) aus Dessau verheiratet. Das Ehepaar hatte zwölf Kinder, von denen einige im Konzern installiert wurden, ohne jemals eine annähernd starke Stellung wie der Vater zu erlangen.

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Vorliegende Abhandlung basiert auf meiner Darstellung: Detlef Siegfried, Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers, Bonn 2001.

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1. KUNST UND TECHNIK. BAUHAUS UND JUNKERS Als Carl Pollog 1930 die erste umfangreiche Biographie über Hugo Junkers vorlegte, machte er auf eine entscheidende Differenz aufmerksam, die die Dessauer Diskursproduzenten Bauhaus und Junkers voneinander unterschied. „Man darf den Einfluß des Bauhauses nicht unterschätzen. Immerhin aber erstreckt er sich doch nur auf gewisse Kreise von einer ganz bestimmten beruflichen und politischen Einstellung, während die Anziehungskraft der Junkerswerke auf Menschen der verschiedensten politischen Bekenntnisse und der mannigfachsten Berufe gleich groß ist. Der russische Kommunist sucht sie genau so auf wie der italienische Faschist, der chinesische Diplomat ebenso wie der südamerikanische Ingenieur, der Schornsteinfegermeister ebenso wie der Hochschulprofessor.“2 Wie sehr Pollog mit dieser Beobachtung Recht hatte, zeigte sich sowohl in den heterogenen politischen Neigungen der Angestellten der Junkerswerke wie auch in der Symbolkraft, die das Fliegen für die unterschiedlichsten politischen Richtungen hatte. Allerdings verstärkte sich die Attraktion Dessaus mit seiner „bemerkenswerte[n] Art industrieller Kultur“3 speziell für linke Intellektuelle und Künstler durch die Koexistenz und Kooperation der beiden Einrichtungen. Als Dessau als künftiger Sitz des Bauhauses in den Blick kam, setzte sich Junkers von Beginn an für eine Ansiedlung am Standort seiner Fabriken ein. Er hatte sich, wie Ise Gropius notierte, „sehr für den Bauhausplan interessiert und gleich überlegt […], wie man praktisch zusammenarbeiten kann“.4 Junkers’ Interesse konzentrierte sich konkret auf Gropius’ Idee der industriellen Fertigung von Wohnhäusern, über die sie miteinander gesprochen hatten. Ganz allgemein interessierte er sich stark für die Kunstrichtungen der Gegenwart, weil er in ihrem Bemühen, unkonventionelle Wege einzuschlagen und mit einem starken Praxisbezug neue Kräfte zu entfalten, eine geistige Verwandtschaft zu seinen eigenen Maximen erblickte. Auch wollte er, so fasste sein Mitarbeiter Peter Drömmer später Junkers’ Nähe zum Selbstverständnis des Bauhauses zusammen, „eine Formenwelt schaffen, die dem verarbeiteten Material entspräche“.5 Hinzu kam ein avantgardistisches Selbstverständnis, das beide einte. Bauhaus wie Junkerswerke betrachteten sich als Impulsgeber der Moderne, die an der Fertigung der von ihnen entwickelten Produkte wenn überhaupt, dann nur sekundär interessiert waren. Wie Junkers seine Werke als „Fabrik zur Entwicklung von Neuerungen“ ansah, die von anderen angewendet werden sollten, so verstanden sich die Bauhauswerkstätten als „Laboratorien, in denen vervielfältigungsreife, für die heutige Zeit 2 3 4

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Carl Hanns Pollog, Hugo Junkers. Ein Leben als Erfinder und Pionier, Dresden 1930, S. 180. So die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson in ihrem Bericht für die New Yorker Evening Post vom August 1926, zit. nach Fritz Hesse, Von der Residenz zur Bauhausstadt, 3. Aufl., Dessau 1995, S. 225. Zit. nach Simone Oelker, „Kunst und Technik – eine neue Einheit“? Das Bauhaus und die Junkers-Werke in Dessau, in: Franz-Josef Brüggemeier / Gottfried Korff / Jürg Steiner (Hrsg.), mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte, Dessau 1998, S. 359–397, S. 368, Anm. 8. Das Folgende nach Winfried Nerdinger, Walter Gropius, Berlin 1985, S. 18. Margarethe Conzelmann, Befragung Peter Drömmer, 7. Januar 1942, Deutsches Museum München (DMM), MC 12.

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typische Geräte sorgfältig im Modell entwickelt und dauernd verbessert werden“.6 Junkers und Gropius sahen ihre Aufgabe primär in der Forschung, deren Ergebnisse sie in Form von Prototypen der Gesellschaft zur Verfügung stellten. Forschung war notwendig, wenn man ein neuartiges Produkt anbieten wollte, das nicht nur funktionstüchtig war, sondern auch haltbar, preisgünstig und ästhetisch auf der Höhe der Zeit. Dieses avancierte und auf die praktische Nutzanwendung konzentrierte Selbstverständnis unterschied Bauhaus und Junkerswerke sowohl von den staatlichen Forschungsanstalten als auch von herkömmlichen Fabriken und machte ihre besonders starke Anziehungskraft für politische Avantgardisten aus. Auch die Mitarbeiter waren fasziniert von den neuen Perspektiven, die sich durch die gemeinsame Nachbarschaft abzeichneten. Lyonel Feininger begeisterte sich beim Einzug in sein Dessauer Meisterhaus an den „gewaltige[n] Junkersflugzeuge[n]“, die immer wieder über der Stadt zu sehen waren, und ein Bauhausstudent notierte, die Stadt erhielte durch sie einen „Anflug von Gegenwart“.7 Doch die Tatsache, dass sich sowohl das Bauhaus als auch die Junkerswerke als Innovatoren verstanden, erwies sich sehr schnell auch als ein strukturelles Problem, das die Kooperation beträchtlich erschwerte. Das Bauhaus suchte die Zusammenarbeit mit der Industrie hauptsächlich mit dem Ziel, die Produktion der von ihm entwickelten Prototypen zu ermöglichen. Doch gerade daran war Hugo Junkers nicht interessiert. Ihm war selbst die Fertigung in seinen eigenen Werken eine ungeliebte Last, die lediglich aus den Erfordernissen der Forschung entstanden war. Er sah sich als maßgeblichen Modellproduzenten und befand sich damit in einer latenten Konkurrenzsituation zum Bauhaus. Wie schnell die Kooperation an diese strukturelle Grenze stieß, sollte sich bald zeigen. Nach einem Jahr Koexistenz in Dessau hatte sich herausgestellt, dass es viele Berührungspunkte gab, auch Kooperationsmöglichkeiten, aber auch Grenzen, die von den jeweiligen Eigeninteressen zweier Institutionen definiert wurden, die die Welt mit praktikablen Utopien versorgen wollten. Dabei hatte Junkers mit seinen Produkten, vor allem mit dem Flugzeug, zweifellos die Nase vorn, und es musste sich aus seiner Sicht erweisen, ob dies nicht auch auf dem Gebiet des industriellen Hausbaus gelingen könnte. Doch für die Junkerswerke ging es nicht nur darum, die Claims abzustecken. Es zeigte sich, dass man dort bei aller Zuneigung auch aus politischen Gründen auf Abstand bedacht war. Hugo Junkers achtete stets peinlich genau darauf, seine Werke aus den Fährnissen der Parteipolitik herauszuhalten. Dies versuchte Gropius auch, doch, wie sich schon in Weimar gezeigt hatte, mit wenig Erfolg. Seit den späten 1920er Jahren konnte auch bei Junkers – insbesondere in den Flugzeugwerken – eine Politisierung nicht mehr verhindert werden, doch war hier offener, welche Richtung die Oberhand gewinnen würde. Das Bauhaus hingegen galt bei allem Einfluss, den es auf die Ästhetik der Moderne schon in den 1920er Jahren nahm, als 6

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Grundsätze technisch-wirtschaftlicher Forschung, entwickelt aus ihren Zielen nach eigenen Erfahrungen, Vortrag vom 11. Oktober 1932 im Haus der Technik, Essen, DMM, Juprop 510; Walter Gropius, Bauhaus Dessau – Grundsätze der Bauhausproduktion, März 1926, in: Hans M. Wingler (Hrsg.), Das Bauhaus 1919–1933. Weimar, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937, 2., erw. Aufl., Bramsche 1968, S. 120. Lyonel Feininger an Julia Feininger, 2. August 1926, in: ebd., S. 130.

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„kulturbolschewistisch“ und gehörte deshalb zu den „bestgehassten Institutionen des neuen Deutschlands“, was letztlich auch seine Schließung zur Folge hatte.8 Zweifellos entstand aus der räumlichen Nähe dieser beiden wichtigen Impulsgeber der Weimarer Moderne ein für beide Teile außerordentlich anregendes Ambiente, das von einer Vielzahl geistiger Gemeinsamkeiten getragen war. Man schätzte und unterstützte sich, blieb aber strikt auf die Einhaltung der jeweiligen Interessensphären bedacht. Mehr noch als für das Bauhaus galt dies für die Junkerswerke, die als Industriekonzern nicht nur im Hinblick auf die funktionsgerechte Form ihrer Produkte eine uneinholbare Kompetenz in Anspruch nehmen konnten, sondern auch bei allen Projekten in erster Linie auf ihre Marktfähigkeit achten mussten. 2. AUF DEM WEG ZUR „AIR MINDED NATION“. NATION UND VOLKSGEMEINSCHAFT Zum grundlegenden ideellen Bestand von Hugo Junkers gehörte die Vorstellung, dass die Deutschen – nach dem Vorbild der Amerikaner – zu einer „Air minded nation“ werden müssten.9 Diese Idee rückte in den letzten Jahren der Weimarer Republik neben der Forschungspropaganda in den Mittelpunkt der Junkers-Öffentlichkeitsarbeit, weil man darin zum einen ein Bindemittel für die sozial und politisch zunehmend zerrissene Nation sah, zum anderen aber, weil Deutschland seine internationale Vormachtstellung in Flugzeugbau und Luftverkehr an die USA zu verlieren drohte. Unmittelbar nach der Aufhebung der Baubeschränkungen für zivile Flugzeuge vom Mai 1926 begann das „Ringen um die Ausgangsposition künftiger Luftfahrt“, bei dem Deutschland zunächst einen Vorsprung hatte.10 1926 nahm die Deutsche Luft Hansa den ersten Platz im internationalen Flugverkehr ein und behauptete ihn bis 1929, wurde dann allerdings von den US-amerikanischen Luftfahrtgesellschaften verdrängt. Hinzu kamen technische Verbesserungen im Flugzeugbau, die amerikanischen Herstellern einen Marktvorteil verschafften. Im Hinblick auf die Unterstützung ihrer Flugzeugindustrie schienen Bevölkerung und Politik in den USA bedeutend bereitwilliger und tatkräftiger zu sein als in Deutschland. Dies zeigte sich jenseits des Atlantiks seit 1925 an einer Vielzahl staatlicher und privater Initiativen zur Aufwertung der Luftfahrt und zur Modernisierung der Flugzeugindustrie. Insofern stellte der maßgeblich von Junkers’ Umfeld ausgehende Vorstoß zur nationalen Mobilisierung für die Idee einer „fliegenden Nation“ nicht zuletzt den Versuch dar, die internationale Wettbewerbsposition des deutschen Flugzeugbaus wieder zu verbessern. Hier reihte sich auch der Transatlantikflug der „Bremen“ von 1928 ein, der in Deutschland eine ähnliche nationale Euphorie aus8 9 10

Das erste Zitat aus: Hannes Meyer, Mein Hinauswurf aus dem Bauhaus, in: Das Tagebuch vom 16. August 1930, in: ebd., S. 171, das zweite aus: Walter Dexel, Warum geht Gropius?, in: Frankfurter Zeitung vom 17. März 1928, in: ebd., S. 145. Notizen aus Besprechungen mit Junkers, 13. Juni 1932, DMM, JA 0301 T28. Zitat: Friedrich-Andreas Fischer von Poturzyn, Luftbarrikaden. Die Befreiungspolitik der deutschen Luftfahrt, Hannover 1926, S. 20.

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löste wie der Flug des „Flying politician“ Charles Lindbergh im Jahr zuvor in den USA.11 Der führende Junkers-Mitarbeiter Gotthard Sachsenberg, ein früherer Kriegsflieger, der stets an einer Politisierung der Luftfahrt interessiert war, trieb den Gedanken noch weiter. 1929 zeigte er sich überzeugt davon, dass die Deutschen bereits „air minded“, also „luftfahrtdenkend“ seien, nun gehe es darum, diese mentale Konditionierung praktisch werden zu lassen: „Das wohlwollende Verständnis der Nation für die Luftfahrt muß zu einem Zustand verdichtet werden, der es uns ermöglicht, zu einer ‚air going nation‘, d. h. zu einer luftfahrenden Nation zu werden“ – also tatsächlich den Kampf um die Neuaufteilung der Welt in der dritten Dimension aufzunehmen.12 Gegenüber der Politik konnte Junkers die Idee der „Air Minded Nation“ mit einigem Gewicht vertreten, denn Junkers-Flugzeuge hatten seit der Aufhebung der Produktionsbeschränkungen beträchtlich dazu beigetragen, die deutsche Weltgeltung auf dem Gebiet moderner Technologie zu dokumentieren. Nun zeigte sich, dass diese zukunftsträchtige Innovation, die bis dahin „Kulturdünger für fremde Nationen“ gewesen war, das Selbstbewusstsein der eigenen Nation anheben konnte.13 Dies bewiesen nicht nur Flugrekorde und die Ozeanquerung. Auch der von Junkers maßgeblich mitaufgebaute europäische Luftverkehr wurde von der Deutschen Luft Hansa dominiert, die 1928 mehr Passagiere beförderte als alle anderen europäischen Gesellschaften zusammen.14 Junkers unterhielt nach wie vor eigene Luftverkehrsgesellschaften in Südamerika und dem Nahen Osten, seine Maschinen waren ein gefragter Exportartikel, der auch von anderen Luftfahrtgesellschaften eingesetzt wurde: „Wunderwerke der Flugzeugtechnik […], um die uns die Welt beneidet“, wie es in der Fachpresse hieß.15 Dieser internationale Vorsprung beruhte in den ersten Nachkriegsjahren noch auf dem Rückstand der europäischen Konkurrenz bei der Entwicklung von Verkehrsflugzeugen. Später suchte man durch den Bau von „Riesenflugzeugen“ für den Interkontinentalverkehr die amerikanische Konkurrenz auszustechen, die ihre Innovationskraft auf die Herstellung von Kleinflugzeugen konzentrierte. Das Gewicht des Junkers-Flugzeugbaus sollte in einer für die Werke insgesamt schwierigen Situation zunehmend politisch zur Geltung gebracht werden, um das weitere Vordringen des „englisch-amerikanischen Luftimperialismus“16 zu verhindern. Als Junkers 1930 gegen Patentverletzungen durch Ford rechtlich vorging, konnte er sich der Unterstützung der Öffentlichkeit und aller Parteien sicher sein, denn es ging um den „Schutz deutschen Erfindergeistes gegen die Ausnutzung durch amerikanische Industriekapitäne“.17

11 12 13 14 15 16 17

Zitat: Richard Hennig, Weltluftverkehr und Weltluftpolitik, Berlin 1930, S. 39. Gotthard Sachsenberg, Die deutsche Luftfahrt-Wirtschaft als Gesamtproblem, Leipzig [1929], S. 3 f. Hennig, Weltluftverkehr, S. 8. Peter Fritzsche, A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge und London 1992, S. 178. Luftschau vom 10. März 1931. Sachsenberg, Luftfahrt-Wirtschaft, S. 15. So die deutschsprachige Detroiter Abendpost vom 1. Juni 1930.

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Für Junkers war die Geschichte von Völkern und Nationen von schicksalhaften Bestimmungen determiniert. So wie das Bemühen der deutschen Wirtschaft um die Nachahmung der amerikanischen Massenproduktion scheitern würde, weil dieses Konzept nicht im deutschen Wesen angelegt sei, so müsste die vorhandene „Veranlagung des deutschen Volkes“ zur Führungsrolle in der internationalen Luftfahrt politisch gefördert werden, um den deutschen Aufstieg zu ermöglichen. Bei aller Gebundenheit seines historisch und geopolitisch gelagerten Volksbegriffs war Junkers doch alles andere als ein bornierter „Völkischer“, wie sie noch im späten Kaiserreich dominiert hatten. Sein Volksbegriff war modern insofern, als er die Einbindung Deutschlands in internationale Interdependenzen keineswegs leugnete, sondern sie sogar für konstitutiv hielt, auf der anderen Seite allerdings darauf bestand, dass das deutsche Volk zu Höherem berufen sei und sich seinen angestammten Platz unter den führenden Nationen der Welt zurückzuerobern habe. Freilich wurde dieser Pol, an den auch der modernere Volksbegriff der Konservativen Revolution anknüpfen konnte, wiederum gebrochen durch Junkers’ dezidiert liberalen Individualismus. Auch waren ihm Vorstellungen von einer wirtschaftlichen Autarkie Deutschlands oder eines starken Staates, wie sie unter den Nationalrevolutionären vorherrschten, fremd. Und schließlich pflegte er keineswegs jene antirepublikanische Grundhaltung, die in der Weimarer Republik mit dem Nationalismus auf spezifische Weise verbunden war und ihm seine demokratiefeindliche Stoßkraft verlieh. Ganz im Gegenteil, er bekannte sich zum parteipolitischen Linksliberalismus und unterstützte bei der Reichspräsidentenwahl 1932 öffentlich Hindenburg, der als Kandidat der republikanischen Parteien gegen Adolf Hitler, Ernst Thälmann und den Stahlhelm-Führer Theodor Duesterberg antrat. Allerdings forcierte Junkers in der Krise der Republik nach Kräften die Hoffnung auf die Erlösungskraft des Volkes. Vor allem seit 1930 kehrte er das Volk als mythischen Träger einer spezifisch deutschen Wirtschaftsform heraus und baute diesen Gedanken in der Folgezeit weiter aus. Grundlagenforschung und gediegene Qualitätsarbeit waren nicht mehr nur ein Spezifikum deutscher Arbeit, sondern auch das Medium, mit dem die deutsche Weltgeltung wiederhergestellt werden konnte. Junkers’ Leitidee unterschied sich kaum von dem, was Ernst Jünger mit der Herausgabe seines Sammelbandes unter dem Titel „Luftfahrt ist not!“ forderte: die nationale Erweckung durch ein technisches Großprojekt, das das deutsche Volk einen und zu neuer Größe führen würde – analog zum Flottenprojekt, das Gorch Fock einst mit der Losung „Seefahrt ist not!“ popularisiert hatte. Wie seinerzeit die Flottenbegeisterung sollte nun die Flugbegeisterung als nationales Aufbauprojekt das deutsche Volk zusammenschweißen und ihm zu neuem Selbstbewusstsein und neuer Größe verhelfen. Auch aus Junkers’ Perspektive war die Wendung Deutschlands zur Welt hin nicht nur ein Öffnungsvorgang, sondern auch eine Möglichkeit, den deutschen Einfluss zu mehren. Die friedliche Welteroberungsvariante war zunächst wohl hauptsächlich eine Ausweichstrategie gewesen, die angesichts der Versailler Bestimmungen den Fortfall der militärischen Option kompensieren sollte. Allerdings hatte Junkers von Beginn an die großen Chancen erkannt, die der Friedenszwang dieses „Diktats“ in sich barg. Junkers argumentierte für die machtpolitische Kom-

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ponente der Luftfahrt nicht nur im kleinen Kreise, sondern sah dies als ein bedeutsames Element der Propagandaarbeit. Nach der Einführung des Großflugzeugs G 38 erklärte er in einem „Ruf an das deutsche Volk“, dieses sei „dazu berufen, in der Luftfahrt eine ähnliche Stellung einzunehmen, wie England auf dem Gebiete der Seefahrt“ – und zwar im friedlichen Sinne.18 Die Aufgabe des deutschen Flugzeugs als ziviler Kulturbringer war ein Kernelement der Junkersschen Außendarstellung. Dabei hatte die Erschließung entfernt liegender Regionen Vorrang vor den bereits verkehrstechnisch vernetzten Gebieten Europas und Nordamerikas.19 So gehörten Reportagen über Flugreisen nach Asien, Hilfstransporte nach Persien, Postdienste in Südamerika zum Standardrepertoire der Junkers-Öffentlichkeitsarbeit, wie sie das Firmenperiodikum Junkers-Nachrichten, aber auch die Presseberichterstattung dominierten. Werbeflüge von Luftfahrtjournalisten in solche Regionen erregten große öffentliche Aufmerksamkeit, und sie wurden daher von der Propagandaabteilung detailliert geplant, großzügig finanziert und extensiv ausgeschlachtet. Auch von der propagandistischen Wirkung des Luftverkehrs in den bereisten Ländern versprach man sich viel. Dort, so hoffte man, würde die Einführung der Luftfahrt als „Kulturfortschritt ersten Ranges“ betrachtet und das Ansehen des Landes, das den Luftverkehr einrichtete, gemehrt.20 Auf diese Weise könnten auch etwaige politische Gegensätze ausgeglichen werden: Wie die Nation durch das Fliegen geeint würde, so werde es, wie Junkers hoffte, auch die „Interessengemeinschaft aller Völker“ stiften. 3. POLITISIERUNG AM ENDE DER WEIMARER REPUBLIK 1926 hatte die linkspazifistische Weltbühne den desolaten finanziellen Zustand der Junkerswerke auf die unselige Koalition von ehemaligen Weltkriegsoffizieren im Junkersmanagement und in der Luftfahrtabteilung des Reichswehrministeriums zurückgeführt. An beiden Stellen säßen nicht „moderne Kaufleute, sondern frühere höhere Offiziere, die zu bornierten Geheimräten mit deutschnationalem Horizont geworden sind“.21 Damit wendete der Autor die ökonomische Seite, die Effizienzidee des Fliegens, gegen den militaristischen Habitus der üppigen Verschwendung – so, wie sie in der Praxis des Junkersmanagements unter Gotthard Sachsenberg zu beobachten war und immer wieder in der Öffentlichkeit kritisiert wurde. Das risikobereite „Dandytum“22 der Weltkriegsflieger mochte wohl als adäquate Verhaltensweise im Luftkampf erscheinen, aber nicht in den irdischen Gefilden nüchternen 18 19 20 21 22

Anhaltischer Anzeiger vom 17. Mai 1930. Vgl. etwa A. Berson, Junkers in der Luftfahrt, in: Junkers. Festschrift Hugo Junkers zum 70. Geburtstage. Gewidmet von A. Berson, A. Gramberg, A. Kessner, O. Mader, A. Nägel und seinen Mitarbeitern. Überreicht vom Verein Deutscher Ingenieure, Berlin 1929, S. 90. Hauptbüro (Dethmann), Ausführungen von Prof. Junkers zu der Frage der Verwendungsmöglichkeiten des Flugzeuges in der Welt, 5. April 1930, DMM, 0301 T27. Konrad Widerhold, Die Wahrheit über Junkers, in: Die Weltbühne vom 25. Mai 1926, S. 806– 810, hier S. 808. Ernst Jünger, Das Wäldchen 125, Berlin 1930, S. 79.

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Wirtschaftens, wo es primär als Zeichen von unverantwortlicher Dekadenz wirkte. Schon 1928, als Sachsenberg in die Politik einstieg und Reichstagsabgeordneter der „Wirtschaftspartei“ wurde, befand er sich im Konflikt mit Junkers, doch wurde dieser zunächst nicht offen ausgetragen, sondern schwelte unter der Oberfläche und brach erst im Laufe des Jahres 1931 offen hervor.23 Wenn es 1931 zum Bruch kam, dann sicherlich nicht, weil Junkers sich etwa gegen eine „rechte“ und für eine „linke“ Position entschieden hätte. Allerdings lag dem ein ganzes Bündel von Motiven zugrunde, die durchaus politisch waren. Zunächst hielt Junkers, obwohl er Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, später der Staatspartei war, an der Überzeugung vieler Ingenieure fest, dass die Technik wertneutral, also unpolitisch sei, gerade deshalb aber immer in der Gefahr stand, von den verschiedenen Richtungen politisiert zu werden. Junkers suchte strikte politische Überparteilichkeit zu wahren, um nicht in den Kämpfen der späten Weimarer Republik zerrieben zu werden oder in außenpolitische Konfrontationen zu geraten, die dem internationalen Geschäft gefährlich werden konnten. Viele Staaten zogen eine Kooperation mit deutschen Luftfahrtgesellschaften und Flugzeugherstellern vor, weil von diesen – anders als bei Anbietern aus Großbritannien oder den USA – wegen der Schwäche des Landes nicht die Gefahr einer machtpolitischen Instrumentalisierung ausging. Vor allem aber sollte die Luftfahrt – dies war seit den späten 1920er Jahren ein immer wieder vorgebrachter Kerngedanke – das deutsche Volk einen, dessen Zerrissenheit in immer stärkerem Maße zutage trat. Daher hatte Junkers immer wieder kategorisch erklärt, die Luftfahrt solle „nicht nur nach innen frei von jeder Politik sein und versöhnend wirken, sondern auch nach außen hin“.24 Dass die Luftfahrt eine hochpolitische Angelegenheit war, stand außer Frage – ein wesentliches Element der berühmten Junkers-Öffentlichkeitsarbeit war ja stets die politische „Aufklärung“ über den Sinn und Zweck der Produktion gewesen. Allerdings nahm die parteipolitische Konfrontation am Ende der Weimarer Republik zu, und als Sachsenberg hier zum Stein des Anstoßes wurde, wurde es Junkers zu viel: „Sie ziehen uns durch Ihre parlamentarische Tätigkeit in das deutsche Parteigetriebe hinein […] und desgleichen in die internationalen politischen Gegensätze (Rußland). Das alles fällt mit den schlimmsten Rückwirkungen auf Junkers zurück, so lange Sie als der führende Mann und offizielle Vertreter der Junkerswerke gelten“, warf er Sachsenberg vor.25 Noch 1930, als die Flugzeugbegeisterung in der deutschen Öffentlichkeit dramatisch zunahm, hatte Ernst Jünger den im Kriege erzeugten Fliegertypus für denjenigen gehalten, der von den Maschinengewehren in die Industrie wechseln, mit seinem Tempo die Märkte und Großstädte anstecken, die Politik gestalten und der Welt ein neues Gesicht geben werde. Dieser Typus war fähig, „von nun an und durch diesen Krieg in Bewegung gesetzt, im Europa von morgen in Krieg und 23 24 25

Richard Blunck, Hugo Junkers. Der Mensch und das Werk, Berlin 1940, S. 272 f. Eine Chronik des Flug-Gedankens bis zum Luftverkehr im Dienste der Völkerverbindung, Berlin 1930, S. 131, zit. nach Hans Radandt, Hugo Junkers. Ein Monopolkapitalist und korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1960, S. 62 f. Tagebuchnotiz Hugo Junkers, 25. Juni 1931, DMM, NL 90/13.

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Frieden eine führende Rolle zu spielen“.26 Doch diese militärisch legitimierte Führungsrolle, die die aktivistischen Stahlgestalten bei Junkers lange Zeit innegehabt hatten, wurde ihnen nun – ein Jahr nach Jüngers insgesamt nicht ganz abwegiger Prognose – streitig gemacht, und das in einem Betrieb, der für die deutsche Weltgeltung so bedeutsam war. 4. DAS REGIME DER INDUSTRIEMANAGER UND DIE ENTEIGNUNG IM NATIONALSOZIALISMUS Seit seiner Erfahrung mit der Unbeweglichkeit der Verwaltungsapparate im Ersten Weltkrieg strebte Junkers möglichst freie Hand in der Unternehmenspolitik und weitgehende Unabhängigkeit von der Staatsbürokratie an. Die Aversionen verstärkten sich noch einmal nach der letztlich missglückten Kooperation mit der Reichswehr beim Fili-Projekt, der geheimen Flugzeugproduktion in der Sowjetunion. „Das ganze System beruht darauf“, so Junkers 1928, „dass man alles militärisch erzwingen will, auch solche Dinge, denen der Zwang ein Tod ist, und zu diesen Dingen gehört die Forschung.“27 Bei der Forschung lag der eindeutige Primat dessen, was Junkers anstrebte. Nach seiner Vorstellung hatte der Erfinder und Forscher die Aufgabe, von der Grundlagenforschung her ein komplettes Produkt zu entwickeln. Wenn dies abgeschlossen war, dann sollte er sich einem anderen Problem zuwenden können, ohne sich um die Fertigung und Distribution kümmern zu müssen. Nach seiner Überzeugung musste Forschung kein Zusatzgeschäft sein, sondern sie konnte mit Gewinn betrieben werden, wenn die praktische Verwertbarkeit ihrer Produkte gesichert war. Im Idealfall sollten die Ergebnisse der Forschung an außenstehende Firmen verkauft werden, die sie dann für die Massenfabrikation verwenden konnten. In der Praxis wurden derartige Lizenzen sowohl nach außen verkauft als auch an die eigenen Betriebe. Für Junkers war die eigene Produktion hauptsächlich aus der Notwendigkeit geboren, überhaupt die Brauchbarkeit seiner Apparaturen unter Beweis zu stellen und Märkte zu schaffen. Zwar benötigte man für den Forschungsprozess Werkstätten, um die begleitende Erprobung zu ermöglichen. Doch sollte der Gesamtkomplex der Junkerswerke nicht primär als Produktionsstätte angesehen werden, sondern als „eine technisch-wirtschaftliche Forschungsanstalt mit Werkstätten“.28 Seit den späten 1920er Jahren verwendete Junkers zunehmend Energie darauf, dieses innovative, im Deutschen Reich allerdings ungewöhnliche Konzept der industriellen Forschung auf seinen reinen Kern zurückzuführen. Seine Art der privat finanzierten Forschung unterschied sich grundlegend von der laufenden Entwicklungsarbeit, die die meisten Industrieunternehmen zur Verbesserung und Erwei26 27 28

Jünger, Wäldchen 125, S. 77. Vgl. auch Fritzsche, Nation of Fliers, S. 62 f. Zit. nach Olaf Groehler, Hugo Junkers. Zum Selbstverständnis eines deutschen Erfinderunternehmers in den Wirren seiner Zeit, in: Förderverein für das Technikmuseum „Hugo Junkers“ Dessau (Hrsg.), Wissenschaftliche Beiträge, Dessau 1994, S. 77–90, hier S. 86. Grundsätze technisch-wirtschaftlicher Forschung, Vortrag von Hugo Junkers im Hause der Technik in Essen am 11. Oktober 1932, DMM, Juprop 510.

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terung ihrer Produktpalette betrieben. Während dort die von anderen geleistete Grundlagenforschung für die Produktion angewandt und umgesetzt wurde, wollte Junkers immer neue Probleme lösen – so, wie dies an den von ihm entwickelten Produkten bereits zu sehen war: Die Entwicklung von Badeöfen, Motoren, Flugzeugen und Metallhäusern hing zwar im vertikal organisierten Konzern des „system builders“ (Thomas P. Hughes) Junkers durch bestimmte Entwicklungsglieder zusammen, aber es waren doch vollkommen unterschiedliche Projekte, die jeweils eigene Grundlagenforschung erforderten. Bei der allgemein üblichen produktionsbegleitenden oder „praktischen Forschung“, wie sie etwa bei Siemens, Bosch oder Krupp betrieben wurde, handelte es sich aus seiner Sicht um „Entwicklungsforschung für Massenproduktion“, während er selbst „primäre Forschung des Pioniers aus Intuition“ betrieb.29 Grundlagenforschung bei Junkers unterschied sich aber auch von den rein wissenschaftlich orientierten staatlichen Versuchsanstalten insofern, als der Frage der Vermarktungsmöglichkeiten eines Produkts wesentlicher Bestandteil und erster Schritt des Forschungsprozesses war. Erst nachdem die „Wirtschafts-Forschung“ die grundsätzliche Marktfähigkeit des geplanten Produkts erwiesen hatte, begann der Prozess der technischen Forschung. Ansonsten aber sollten diese und die weiteren Bestandteile des Forschungsprozesses – Wirtschaftsforschung, Aufgabenstellung, Technische Forschung, Konstruktion, Fertigung, Technische Aufklärung und Vertrieb – grundsätzlich nicht nacheinander, sondern parallel erfolgen, um Synergien zu ermöglichen. Am Ende eines zusammenhängenden, aber wissenschaftlich zergliederten Forschungsprozesses stand ein Produkt, das innovativ war, weil es auf bis dahin nicht geleisteter Grundlagenarbeit basierte. Dies hing auch mit Deutschlands neuer Stellung zusammen, denn an Massenproduktion von Kriegsflugzeugen war nicht zu denken, 1921/22 noch nicht einmal überhaupt an Flugzeugproduktion und von 1922 bis 1926 nur in sehr eingeschränktem Maße. In dieser Situation gewann die Grundlagenforschung einen höheren Stellenwert als während des Krieges, wo es vor allem darauf ankam, schnell verschleißendes Material in hohen Stückzahlen zu produzieren. Gerade unter den Bedingungen des Versailler Vertrages musste sich Deutschland auf seine Fähigkeiten besinnen und im Kern auf die traditionell anerkannte Qualität deutscher Produkte setzen, weniger auf Quantität. Dies erschien am Ende der 1920er Jahre umso dringlicher, als sich die deutsche Flugzeugindustrie ernsthaft von transatlantischer Konkurrenz – einer „amerikanischen Gefahr“ – bedrängt sah und gerade angesichts dessen um politischen Rückhalt für die deutschen Forschungsanstrengungen kämpfen musste.30 Im Kern sah Junkers die Produktionsweisen Deutschlands und der Vereinigten Staaten – der Protagonisten der unterschiedlichen Konzepte – als vollkommen konträr an, er unterschied idealtypisch „Forschung (Deutschland) – Massenproduktion (Amerika)“.31 29 30 31

Niederschrift betr. Besprechung mit Gottfried Feder – Junkers am 28. April 1933, DMM, NL Ju 39; [Ehmsen], Protokoll vom 13. August 1933, Landesarchiv Oranienbaum, Oberstaatsanwalt Dessau, 177. „Amerikanische Gefahr“: Sachsenberg, in: Protokoll der geschäftspolitischen Besprechung, 22. Februar 1929, DMM, Juprop 716. Stichworte für die Besprechung im Hause Schacht, 23. Januar 1930, DMM, 0301 T27.

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Bei der Wahl seiner Mitarbeiter neigte Junkers dazu, nicht unbedingt die fachlichen Fähigkeiten in den Vordergrund zu stellen, sondern die geistig inspirierende Kraft, die er bei den jeweiligen Kandidaten vermutete. Mit der Zeit verfestigte sich bei ihm immer mehr die für Erfinderunternehmer typische Überzeugung, dass man für die Forschung nicht Beamtenseelen benötigte, sondern „freie geistige Arbeiter“.32 Junkers schwebte ein Forschungsprozess vor, der von der disziplinierten Kooperation autonomer Individualisten geprägt war. Diese sollten geistig vollkommen unabhängig sein und selbständig arbeiten, aber sich freiwillig einer Disziplin unterordnen, die „nicht eingedrillt“ war, sondern der notwendigen Eingliederung „des freien Mannes“ unter eine gemeinsame Aufgabe entsprang.33 Diese disziplinierte Autonomie brachten, wie Junkers nach den Auseinandersetzungen von 1931/32 feststellte, militärisch sozialisierte Persönlichkeiten nicht auf. „Menschen, die aus dem Staatsdienst kommen oder in einem anderen größeren Organismus (Heer, Marine) ihre Ausbildung genossen haben“, waren nur schwer in den Forschungsprozess einzugliedern, weil ihre Art der Disziplin formalistisch eingeübt war, es aber an freiwilliger Unterordnung und „Selbstzucht“ mangelte.34 Von diesen unterschied sich sein ab Ende der 1920er Jahre führender Mitarbeiter Adolf Dethmann nicht zuletzt dadurch, dass er sich schon als junger Mann der selbstverleugnenden Disziplin der KPD unterworfen, gleichzeitig aber auf der Autonomie des Geistes bestanden hatte. Von 1929 bis 1933 war Dethmann derjenige, der am engsten mit Junkers zusammenarbeitete und dem er in seinen letzten Jahren als Konzernchef am meisten Vertrauen entgegenbrachte. 1931 schaltete Junkers Sachsenbergs Leute an der Spitze der Flugzeugwerke aus und setzte Dethmann gemeinsam mit seinem Sohn Klaus als neue Direktoren ein, um personalpolitische und betriebswirtschaftliche Reformen durchzusetzen, die schon lange fällig gewesen waren. Während Junkers’ Entscheidung auf der sozialen Seite den Druck abbaute, weil sie mit dem egoistischen Besitzstreben der Direktoren Schluss machte, eskalierte die politische Auseinandersetzung. Der Konzernchef hatte die Brisanz verkannt, die die Ablösung der alten, militaristischen Führungsgarde durch einen früheren, mit der Belegschaft verbündeten Kommunisten beinhaltete. Dethmann und Klaus Junkers schafften es, die IFA wieder auf einen gesunden Kurs zu bringen, doch die geschassten Kriegsdirektoren um Sachsenberg machten Stimmung gegen die neue Spitze, die sie als Handlanger der Sowjetunion denunzierten, was sich bis ins „Dritte Reich“ auswirkte. Denn die Nationalsozialisten ebenso wie die Reichsbehörden betrachteten die mit Junkers verbündeten ehemaligen Linksradikalen als unsichere Kantonisten, die von der Spitze eines so wichtigen Konzerns zu beseitigen waren. Aber auch ohne dies sollte das Reich hier das Ruder übernehmen, um den Aufbau einer starken Luftwaffe für den künftigen Krieg nicht zu gefährden. Im Oktober 1934 zeigte sich, dass die neue Reichsführung ohne Weiteres bereit war, politische Ziele auch gegen Unternehmer durchzusetzen, indem es Junkers 32 33 34

Niederschrift betr. Besprechung mit Gottfried Feder, 28. April 1933, DMM, NL 90/39. Grundsätze technisch-wirtschaftlicher Forschung, Vortrag von Hugo Junkers im Hause der Technik in Essen am 11. Oktober 1932, DMM, Juprop 510. Notiz Hugo Junkers, 10./11. September 1932, in: Übertragung Stenogramme Prof. Junkers für Vortrag Essen am 11. Oktober 1932, DMM, Juprop 511.

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zur Abgabe der Aktienmehrheit zwang und ihn und seine engsten Mitarbeiter aus Dessau verbannte.

SCHLUSS: DER MYTHOS JUNKERS UND SEINE INSTRUMENTALISIERUNG Junkers’ Außenwirkung als gesellschaftlich verantwortlicher Magier der Technik, wie sie in den frühen 1930er Jahren dominierte, entstand aus einer Grundsatzpropaganda, die ganz das Forschungskonzept und die Wirtschaftlichkeit in den Mittelpunkt stellte. Nicht, dass derartige Ansätze nicht schon zuvor vorhanden gewesen wären, doch wurde in der Folgezeit systematisch daran gearbeitet, diese Elemente zu einem geschlossenen Bild zu verdichten und den Mythos Junkers den aktuellen Erfordernissen anzupassen: unbegrenzt visionär und gleichzeitig realistisch und verantwortlich, vor allem wirtschaftlich effizient. Junkers’ Image als Verwirklicher von Utopien rührte nicht zuletzt aus der Maxime, in den Mittelpunkt der Firmenwerbung weniger das konkrete Produkt zu stellen als die Tendenzen der Moderne schlechthin. So erschien Junkers als Promotor der Modernisierung, der nicht nur ein nützliches Produkt reichte, sondern überhaupt erst den Anwendungsbereich definierte. Diese Interpretation war Teil einer PR-Strategie, die Junkers im öffentlichen Bewusstsein als Impulsgeber der Moderne platzieren sollte, der erst nachrangig an der Vermarktung seiner Produkte interessiert war. Dieses Image wirkte noch über Junkers’ Tod hinaus, denn die Führung des „Dritten Reiches“ beutete ihn als Symbol des deutschen Wiederaufstiegs nach dem verlorenen Krieg aus. Wie man bislang an der Fiktion eines ungetrübten Verhältnisses festgehalten hatte, um die Modernität des Nationalsozialismus zu dokumentieren, so wurde dieser Mythos bis zum Ende des „Dritten Reiches“ hin konserviert. Die Trauerfeier für Hugo Junkers am 9. Februar 1935 auf dem Münchener Waldfriedhof wurde zu einem Staatsakt erhoben, an dem Rudolf Heß als Stellvertreter Adolf Hitlers teilnahm. Sie wurde als Kultfeier des NS-Staates für den „Pionier der deutschen Luftfahrt“ inszeniert – als volksgemeinschaftlicher Trauerakt, bei dem die „Männer der jungen deutschen Fliegerei“ mit Arbeiterabordnungen, „Betriebsführern“ und Studenten zusammenkamen.35 Erst nach 1945 wurden die tatsächlichen Verhältnisse allmählich bekannt, so dass Junkers – jedenfalls in der Bundesrepublik – in eine demokratische Traditionslinie gestellt wurde.

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Völkischer Beobachter vom 11. Februar 1935.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Asendorf, Christoph, Super-Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien 1996. Blunck, Richard, Hugo Junkers. Ein Leben für Technik und Luftfahrt, Düsseldorf 1951. Budraß, Lutz, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998. Erfurth, Helmut, Junkers, das Bauhaus und die Moderne, Dessau 2010. Fritzsche, Peter, A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge und London 1992. Groehler, Olaf, Hugo Junkers. Zum Selbstverständnis eines deutschen Erfinderunternehmers in den Wirren seiner Zeit, in: Förderverein für das Technikmuseum „Hugo Junkers“ Dessau (Hrsg.), Wissenschaftliche Beiträge zum 4. Junkers-Kolloquium, Dessau 1994, S. 77–90. Hillert von Gaertringen, Hans Georg (Hrsg.), Junkers Dessau. Fotografie und Werbegrafik 1892– 1933, Göttingen 2010. Scheiffele, Walter, Bauhaus, Junkers, Sozialdemokratie. Ein Kraftfeld der Moderne, Berlin 2003. Schmitt, Günter, Hugo Junkers. Ein Leben für die Technik, Planegg 1991. Siegfried, Detlef, Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers, Bonn 2001. Wagner, Wolfgang, Hugo Junkers. Pionier der Luftfahrt – seine Flugzeuge, Bonn 1996. Wohl, Robert, The Spectacle of Flight. Aviation and the Western Imagination, 1920–1950, New Haven und London 2005.

CARL DUISBERG (1861–1935) – EIN INDUSTRIELLER DES KAISERREICHES IN DER WEIMARER REPUBLIK1 Werner Plumpe I. Carl Duisberg, der langjährige Generaldirektor der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. und der spätere Aufsichtsratsvorsitzende der I. G. Farbenindustrie AG, zählte zweifellos zu den prominentesten Unternehmern der Weimarer Zeit, auch wenn seine heroischen Jahre, die vom Aufstieg der Farbstoffchemie geprägt waren, vor dem Ersten Weltkrieg lagen. In der Weimarer Republik hatte er mit völlig anderen Bedingungen zu kämpfen als in der großen Zeit vor dem Krieg, die denn auch bis zu seinem Tod stets der Maßstab unternehmerischen Erfolgs blieb. Gleichwohl verfiel er nach 1918 nicht in eine antirepublikanische Haltung, sondern suchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln an die großen Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Dazu war er im Gegensatz zu vielen anderen Industriellen zu weitgehenden Anpassungen an die neuen Verhältnisse bereit, Anpassungen, die erst im vermeintlichen Versagen des parlamentarischen Systems in der Weltwirtschaftskrise ihre Grenze fanden. Zuvor war Duisberg zweifellos eine der zentralen industriellen Stützen der Republik, weniger aus Leidenschaft als vielmehr aus der klugen Überlegung heraus, dass eine Ablehnung der Republik der Wirtschaft nicht helfen, sondern nur ihre Probleme vergrößern würde. Unter den Bedingungen der Republik hieß dies, sich bewusst auf eine Sozialpartnerschaft einzulassen, die den Ausgleich zumindest mit der gemäßigten Arbeiterbewegung nicht als Verlust, sondern als Quelle zukünftiger Leistungssteigerungen ansah. Obwohl im Kaiserreich geprägt, war Duisberg insofern viel zu sehr auf den industriellen Erfolg geeicht, um sich auf politische Kämpfe einzulassen, die wirtschaftlich nichts versprachen. II. Carl Duisberg, geboren am 29. September 1861, war der einzige Sohn eines Barmer „Fabrikanten“, der aus der Tradition der Heimarbeit kommend eine kleine Bandwirkerei mehr schlecht als recht betrieb. Ein landwirtschaftlicher Nebenerwerb, von der Mutter bewirtschaftet, trug zum Lebensunterhalt der Familie nicht unwesentlich bei. Die von einem Bauernhof stammende Mutter dürfte die Heimarbeiterexistenz ihres Mannes als Abstieg erlebt haben; sie trieb jedenfalls ihren ausweis1

Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 19. Oktober 2011 im Universitätsclub zu Bonn gehalten wurde. Der Verfasser dieses Beitrages arbeitet derzeit an einer Studie zu Carl Duisberg.

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lich seiner Schulzeugnisse nicht sonderlich begabten Sohn mit großer Energie dazu an, eine weiterführende Schule zu besuchen und mit bereits 16 Jahren ein freilich lateinloses Abitur zu machen. Ein unmittelbarer Wechsel zur Universität war altersbedingt ausgeschlossen. Erst nach einem Vorbereitungsjahr auf der Elberfelder Gewerbeschule ging Duisberg 1879 zum Chemiestudium nach Göttingen. Duisberg empfand die Ausbildung als oberflächlich; der Wechsel nach Jena war allerdings eine Folge der Tatsache, dass Preußen auf dem Latinum als Vorbedingung der Promotion bestand. In Jena konnte Duisberg das Studium der Chemie, Mineralogie und – damals überraschend, ja geradezu einmalig – der Nationalökonomie rasch abschließen. Im Januar 1882 legte er als erster Duisberg überhaupt das Rigorosum mit magna cum laude ab, nachdem auch der Dissertation über die Aufklärung der Strukturformel des Acetessigesthers zuvor lobende Worte nicht versagt geblieben waren. Im Laboratorium seines Lehrers Anton Geuther erhielt Duisberg, der mit einer Industrieposition liebäugelte, zunächst eine Privatassistentenstelle. Neben Geuther war es insbesondere der Nationalökonom Julius Pierstorff, seines Zeichens Kathedersozialist, mit dem sich der Student Duisberg stritt – und gut verstand. Und es war Ernst Haeckel und die von ihm geprägte junge und rasch wachsende Jenaer Naturwissenschaftlergemeinde, die Duisberg in ihren Bann zogen. Hier gewann er Freunde fürs Leben; hier erhielt er aber vor allem mit dem Darwinismus Haeckelscher Ausrichtung eine Art Kompass für sein Leben. Ein sozialdarwinistisch grundierter Fortschrittsoptimismus, der im Kampf um technische und wissenschaftliche Erfolge den Kern der menschlichen Existenz sah, war mit einer Art sozialpragmatischem Eudämonismus (Hermann Lübbe) verknüpft2, nach dem es eben gerade diese Erfolge waren, die eine sozialintegrierte und wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft ermöglichten, die ihrerseits wiederum den Kampf erleichterte, freilich auch die Gefahr der „Dekadenz“ in sich barg. Die ihn faszinierende Idee von der zentralen Stellung eines harten Kampfes um Wissenschaft und Technik kannte Duisberg vom eigenen Leibe: Auch ihm war nichts leicht gefallen, auch er hatte sich alles erkämpfen müssen. Dass zu Kampf, Leistung und Persönlichkeit auch das systematische Forschen im Labor gehörte, sollte Duisberg erst in München lernen. Dort leistete er auf einen Hinweis von Carl Rumpff, dem Chef der Farbenfabriken in Elberfeld, den er um eine Stelle gebeten hatte, seinen Wehrdienst ab; er könne dann ja in seiner freien Zeit bei dem damals führenden Farbenchemiker Adolf Bayer hospitieren. Hier lernte er unter der Anleitung von Hans von Pechmann und Wilhelm Koenigs sowohl gute Labororganisation wie auch kreatives Arbeiten kennen. München besaß im Gegensatz zu Jena ein modernes Laboratorium, in dem sich die herausragenden Figuren der Chemie geradezu die Klinke in die Hand gaben. Kurz vor Duisbergs Eintreffen hatte Emil Fischer, die überragende Gestalt der deutschen Chemie vor dem Krieg, sich dort habilitiert. Bayer bekam später den Nobelpreis für die Indigo-Synthese, sein Schüler Emil Fischer für seine Arbeiten über Zucker und die Grundlagen der Biochemie, der spätere Schüler und schließliche Bayer-Nachfolger in München, 2

Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974, S. 124–170, hier S. 150.

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Richard Willstätter, erhielt 1915 den Nobelpreis für seine Arbeiten über Pflanzenfarbstoffe. Auch die anderen Chemiker des Bayerschen Laboratoriums, mit denen Duisberg in München in Kontakt kam, wie Theodor Curtius, Johannes Thiele, Hans von Pechmann, Ludwig Knorr und Emil Bamberger, um nur wenige Namen zu nennen, waren herausragende Gelehrte, die später alle auf renommierten Lehrstühlen saßen. Die Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst 1883, die der angehende Reserveoffizier nachmittags im Chemischen Institut verbrachte, ist in ihrer Bedeutung daher kaum zu überschätzen. III. Duisbergs Aufstieg in der chemischen Industrie, der nach seinem Eintritt in die Farbenfabriken im Herbst 1884 in zügigem Tempo vor sich ging, wäre ohne den Hintergrund dieser Münchener Erfahrungen in der Tat kaum vorstellbar gewesen. Die Realität im Elberfelder Unternehmen war schlimmer als erwartet. Unsystematisches Probieren in schlecht eingerichteten, schlecht belüfteten Räumen, eifersüchtig über ihre Produktion wachende Meister und eine nur begrenzt handlungsfähige Unternehmensleitung, deren Chef, jener besagte Carl Rumpff, unter Herzproblemen litt, all das wurde für Duisberg zur großen Herausforderung, der er sich allerdings auch tatkräftig stellte. Denn hierin lag ja auch die Chance, über die chemische Forschung hinaus Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens zu gewinnen, und Duisberg hatte zum Ende der Militärzeit gerade 22 Jahre alt selbstbewusst erklärt, Leiter einer chemischen Fabrik werden zu wollen. Und Duisberg stieg in der Tat schnell auf, weil er Innovationsfähigkeit und Tatkraft zugleich bewies. Über erfolgreiche Farbstoffdarstellungen, Sachverständigenarbeit in Patentauseinandersetzungen, gelegentliche Betriebsleitertätigkeiten und maßgebliche Hilfe beim Aufbau einer eigenständigen pharmazeutischen Produktion führte sein Weg nach oben. 1888 wurde Duisberg als Prokurist Angehöriger der Unternehmensleitung; an seinem 27. Geburtstag heiratete er auf Schloss Aprath, dem Wohnsitz von Carl Rumpff, dessen Nichte Johanna Seebohm. Seither gehörte er im weiteren Sinne zur Bayer-Familie, da Carl Rumpff selbst ein Schwiegersohn von Friedrich Bayer sen. war. Der Aufbau des Hauptlaboratoriums, den Duisberg trotz erheblicher finanzieller Risiken 1889/90 durchsetzte, war seine erste große unternehmerische Tat; das neue Laboratorium folgte letztlich dem Grundgedanken freier akademischer Forschung, war in seiner Größe und Ausstattung damals allerdings jeder öffentlichen Einrichtung weit überlegen. Der Arbeit in diesem und in dem 1897 eingerichteten pharmazeutischen Hauptlaboratorium verdankten die Farbenfabriken ihre herausgehobene Position als forschendes Unternehmen, die zahlreichen Patente und die stets neuen Farbstoffe und Medikamente, mit deren Erfolg man schließlich in die Liga der großen Chemieunternehmen aufstieg. 1903 war man mit der BASF auf Augenhöhe, Hoechst hatte man in den Zahlen und den Patenten hinter sich gelassen. Diese Erfolge waren allerdings nur möglich aufgrund Duisbergs zweiter großer unternehmerischer Tat, dem Aufbau von Leverkusen als Musterstätte der

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chemischen Produktion.3 Leverkusen ist vor allem deshalb interessant, weil hier in beispielhafter Weise eine enge Verbindung von Wissenschaft und Industrie realisiert wurde. Erste und oberste Leitlinie Duisbergs bei der Planung Leverkusens, die er im Grunde ohne Mandat an sich gerissen hatte, war, dass chemische Produktion angewandte Naturwissenschaft ist. Die hiervon abgeleitete zweite Maxime lautete, dass entsprechend der naturwissenschaftlichen Logik der Aufbau und die Struktur der Werke rational und transparent entlang der wissenschaftlich zu fixierenden Produktionsabläufe zu begreifen, die Organisation von Produktions- und Arbeitsprozessen also technokratisch-naturwissenschaftlich zu optimieren sei. Folgerichtig sollten auch Naturwissenschaftler und Chemiker, in eingeschränktem Umfang auch Ingenieure nicht nur neue Produkte und Produktionsverfahren entwickeln, wie das bisher schon der Fall war, sondern selbst operativ die Produktionsprozesse leiten. Daraus folgte drittens eine klare Vorstellung von der sozialen Organisation der Produktion, die einerseits den technisch-naturwissenschaftlichen Gegebenheiten zu folgen hatte, andererseits aber so angelegt sein musste, dass Reibungsverluste möglichst minimiert wurden. Die umfangreiche betriebliche Sozialpolitik, die die Farbenfabriken vor dem Ersten Weltkrieg betrieben, findet hier ihre eigentliche Begründung. Gegen erheblichen Widerstand setzte Duisberg auf der Basis dieser Grundsätze eine langfristig angelegte Struktur für das neue chemische Werk durch, die zunächst keineswegs allen einleuchtete, vor allem aber sehr teuer und aufwendig war. Erst um die Jahrhundertwende, knapp zehn Jahre nach dem Erwerb des Terrains nördlich von Köln, hatten sich Duisbergs Vorstellungen nun allerdings in einer Weise bewährt, dass seine Stellung im Unternehmen geradezu unangefochten war. Der Aufstieg in den Vorstand zum 1. Januar 1900 war daher nur folgerichtig. Diese Erfolge hatten freilich ihren Preis. Duisberg, der sich selbst als „nervöse Ratte“ bezeichnete, litt in diesen Jahren aufgrund seines „Temperaments“, aber auch wegen der schieren Arbeitsbelastung wiederholt unter schweren „Herzneurosen“, zumal auch die eigene Familie, mittlerweile hatte er vier Kinder, von Krankheiten nicht verschont blieb. Dass er den Aufbau Leverkusens 1906 mit einer Organisationsreform4 krönte, die die Arbeit in den Farbenfabriken auf mehrere Schultern verteilte und es ihm selbst ermöglichte, sich aus der Tagesarbeit zumindest teilweise zurückzuziehen, hatte daher auch private Gründe. Vor allem aber ging es darum, die technokratische Struktur der Produktion mit einer entsprechenden, auf kollegial-fachlichen Grundsätzen beruhenden Corporate Governance zu verbinden, deren demokratischen Charakter zu betonen Duisberg nicht müde wurde. Bei Bayer galt seither auch formal das Prinzip der kollegialen Führung, wobei freilich Duisbergs Stellung seit 1906/7 so stark geworden war, dass ihn diese Kollegialität nicht wirklich einschränkte, im Gegenteil schuf sie ihm erst die Freiräume, die er zunehmend in Anspruch nahm. 3 4

Carl Duisberg, Denkschrift über den Aufbau und die Organisation der Farbenfabriken zu Leverkusen (1895), abgedruckt in: Carl Duisberg, Abhandlungen I, Vorträge und Reden aus den Jahren 1882–1921, Berlin 1922, S. 387–498. Denkschrift über die Organisation des Gesamtgeschäfts der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld (Mai 1906), in: Bayer Archiv Leverkusen (BAL) 010/003/001.

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Seine starke Stellung in diesen Jahren war allerdings auch die Folge seiner dritten unternehmerischen Großtat, der Gründung des Dreibundes 1904, des Vorläufers der späteren IG Farbenindustrie AG. Seit den 1880er Jahren war der Farbstoffmarkt in Deutschland extrem umkämpft; die großen Farbstoffhersteller bekämpften sich zum Teil mit allen Mitteln, die man hatte – von der Patentklage bis zum Preiskrieg und der Fabrikspionage blieb so gut wie kein Mittel ungenutzt. Duisberg hatte bereits seit den 1880er Jahren im Zweifel dafür plädiert, statt des Streits Verständigungen dort zu suchen, wo sie für alle Seiten wirtschaftlich von Vorteil waren. Angesichts eines nachlassenden Innovationstempos bei gleichzeitig steigenden Forschungs- und Entwicklungskosten ging er schließlich um die Jahrhundertwende davon aus, dass die derzeitige Konstellation die meisten Farbenhersteller über kurz oder lang ruinieren würde, gelänge es nicht, die Kräfte zu bündeln. Es sei besser, sich in einer Phase der Prosperität freiwillig zu verbinden, als dies in der Not unter Zwang tun zu müssen. Genau diese Bedingungen führten freilich dazu, dass Hoechst nach ersten Verhandlungen schließlich doch absprang, sodass sich nach harten Verhandlungen 1904 nur die BASF, die Agfa und Bayer zum Dreibund in einer Art Gewinnpool zusammentaten. Duisbergs Ziel, einen Zusammenschluss aller Farbenhersteller unter seiner Leitung zu erreichen, hatte er nicht durchsetzen können, wohl auch, weil man in Frankfurt dem energischen und durchsetzungsfähigen Mann aus dem bergischen Land nicht ausgesetzt sein wollte. Immerhin aber wurde er nun Sprecher des Gemeinschaftsausschusses des Dreibundes und damit Repräsentant des größten chemischen Produktionskomplexes in Deutschland. Als er 1912 auch noch formell Generaldirektor der Farbenfabriken geworden war, war er der bedeutendste chemische Industrielle des Reiches. Das gefiel ihm zweifellos. Und seiner Mutter machte es große Freude. IV. Duisberg brachte es vor 1914 zu dem zweifelhaften Ruhm, als „König Karl von Jammerkusen“ ein ausgesprochener Gewerkschaftsfresser zu sein. Das war nicht falsch, da die Farbenfabriken unter Duisbergs Leitung rabiat gegen Streikversuche vorgingen und die Gewerkschaften systematisch aus dem Unternehmen fernhielten. Der Grund war freilich nicht, auf diese Weise die Arbeitszeiten zu verlängern und die Löhne zu drücken. „Profitmaximierung“, das war Duisberg klar, war in einer komplexen chemischen Anlage nicht gegen, sondern nur mit den Beschäftigten möglich. Duisberg wollte sich vielmehr in diesen Fragen nicht äußerem Druck ausgesetzt sehen, sei es von Gewerkschaften, sei es von der SPD, der staatlichen Sozialpolitik oder dem Kathedersozialismus. Die Farbenfabriken taten alles, was nötig und möglich war, doch eben nach Maßgabe der betrieblichen Vernunft und nicht nach ideologischen Grundsätzen, wie Duisberg der Politik und der Sozialdemokratie unterstellte: „Ich bilde mir ein, dass ich auch mit sozialem Öl gesalbt bin; allerdings betreibe ich praktische Sozialpolitik, während die Herren es nur mit dem

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Munde tun“5, erklärte Duisberg 1909 selbstbewusst. Das Unternehmen abzuschirmen, war mithin ein wichtiger Teil seiner Strategie. Das galt auch für die Wirtschafts- und Handelspolitik. Duisberg war BismarckVerehrer, Patriot und sah den Aufstieg des Kaiserreiches mit Genugtuung. „Untertan“ war er hingegen keineswegs. Wirtschafts- und Handelspolitik hatte für ihn vernünftig zu sein; die Parteipolitik insbesondere im Reichstag neigte seiner Ansicht nach aber dazu, aus parteilichen Gründen ideologisch begründete Maßnahmen zu fordern. Dabei waren es keineswegs nur die Sozialdemokraten, die er bekämpfte. Auch das zum Teil sozialpolitisch sehr forsche Zentrum lehnte der von Haeckel geprägte bergische Protestant entschieden ab. Als das Zentrum gemeinsam mit den konservativen Parteien und den Agrarlobbyisten 1909 die u. a. von den liberalen Parteien durchgesetzte Reichsfinanzreform zu Fall brachte und eine industriefeindliche Steuer- und Zollgesetzgebung durchsetzen wollte, schäumte Duisberg geradezu vor Wut und schloss sich dem neugebildeten Hansa-Bund von Gewerbe, Industrie und Handel an, dessen einflussreichstes industrielles Mitglied er wurde. Diese bürgerliche Sammlungsbewegung scheiterte zwar schließlich u. a. an den politischen Gegensätzen im liberalen Lager, doch markierte Duisbergs Engagement hier den Kern seiner politischen Haltung: Es ging ihm um eine liberale, den Bedingungen eines modernen Industriestaates entsprechende Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik. Die bis heute verbreiteten Vorurteile über das Verhalten der Industrie vor 1914, die großen Teilen der Wirtschaftselite dieser Zeit eine Art vormodernes Ressentiment zugunsten des Obrigkeitsstaates unterstellen, jedenfalls kennzeichnen Duisberg nicht. Nach der Jahrhundertwende zeigte sich, dass die zukünftigen Herausforderungen im Bereich der Chemie allein durch die bisherige Universitätswissenschaft nicht mehr zu bewältigen waren. Beispiele aus den USA ließen vielmehr erwarten, dass die außeruniversitäre Großforschung erheblich an Gewicht gewinnen würde, nicht zuletzt im Bereich der neuen Syntheseprojekte. Die schließliche Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Chemie in Berlin wurde durch die Farbenfabriken maßgeblich unterstützt; ihr Aufsichtsratsvorsitzender Henry Theodor Böttinger wurde 1911 auch Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), ein Amt, das nach seinem Ausscheiden 1917 Carl Duisberg übernahm. Emil Fischer, Berliner Chemieordinarius, Nobelpreisträger und neben Friedrich Schmidt-Ott spiritus rector der KWG, mit dem sich Duisberg nach und nach auch persönlich anfreundete, hatte ihn hierfür gewonnen. Mit Emil Fischer gemeinsam machte Duisberg sich auch für eine Reform des Chemiestudiums und des naturwissenschaftlichen Unterrichts im Gymnasium stark, um den wissenschaftlichen Nachwuchs für die Industrie zu sichern. All das wurde Duisberg dadurch erleichtert, dass er seit der Jahrhundertwende in wichtigen Wissenschaftsorganisationen im Vorstand saß; den Verein Deutscher Chemiker führte er von 1907 bis 1912 und wurde auf diese Weise zum gesuchten Gesprächspartner nicht nur in wissenschaftspolitischen Fragen, sondern zum Ratgeber in zahlreichen Berufungsverfahren. Er beriet nicht nur Fakultä5

Carl Duisberg, Die Angestelltenerfindung in der chemischen Industrie, Rede auf dem Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz Stettin 1909, abgedruckt in: Duisberg, Abhandlungen I, S. 738– 748, hier S. 739.

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ten und deren Kommissionen; auch in den Kultusministerien insbesondere in Preußen und Bayern war Carl Duisberg kein Unbekannter. Zwar wäre es übertrieben zu behaupten, Duisberg habe in derartigen Fragen allein entscheiden können, aber sein Rat war gesucht. Nicht zuletzt seine Wahl zum Vorsitzenden des Vorstandsrates des Deutschen Museums 1911 dokumentierte, dass er in der Spitze der deutschen Wissenschaftspolitik angekommen war. Das freute den durchaus ehrgeizigen Mann, der seine Bedeutung aber zugleich zur Stärkung der Naturwissenschaften und damit der chemischen Industrie nutzte. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte Carl Duisberg damit den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Er war zweifellos der bedeutendste deutsche Chemieindustrielle, die Unternehmen des Dreibundes beherrschten den Weltfarbenmarkt nach Belieben und zahlten Dividenden auf das Nominalkapital von zum Teil mehr als 50 Prozent; Duisberg führte schließlich ein Leben, das seiner Zeit, der Belle Epoque, alle Ehre machte. V. Den Ausbruch des Weltkrieges 1914 empfand er daher als eine einzige Katastrophe, wie im übrigen die Vertreter von Industrie und Hochfinanz in Deutschland fast durchweg. Die exportabhängige Fabrik stand faktisch still; trotz der Mobilisierung gab es einen Überfluss an Arbeitskräften und man lag zudem im Einzugsbereich der Westfront. Erst die deutschen Erfolge in Belgien nahmen zumindest die Sorge, selbst zum Kriegsschauplatz zu werden. Über den Kriegsausgang machte sich Duisberg allerdings wenig Illusionen: „Aber selbst wenn wir England besiegen und auf der ganzen Linie Erfolg haben, wird die Bilanz dieses schrecklichen Krieges immer noch nicht mit einem Kredit-, sondern mit einem Debetsaldo Deutschlands in wirtschaftlicher Beziehung enden“, schrieb Duisberg im August 1914 an Emil Fraas. Die eigentlichen Kriegstreiber waren für ihn neben dem französischen Revanchismus und dem russischen Expansionsdrang der „krämerhafte Geist“ und die „gemeine Mißgunst“6 der Engländer. Deutschland müsse den Krieg auf jeden Fall gewinnen, da anderenfalls wirtschaftlich sein Schicksal besiegelt sei: Die Alliierten würden nicht zögern, Deutschlands wirtschaftliche Stellung zu zerstören. Um das zu verhindern, zweifellos aber auch, weil die Dauer des Krieges das wirtschaftlich nahelegte, beteiligten sich die Farbenfabriken seit dem Herbst 1914 an der Herstellung von Sprengstoffen und Waffen für den Gaskrieg, deshalb setzte sich Duisberg unter dem Einfluss von Max Bauer, der grauen Eminenz der OHL, für eine möglichst entschiedene Kriegsführung ein und beteiligte sich an Kampagnen und Intrigen gegen den als zögerlich geltenden Reichskanzler Theobald von BethmannHollweg. Duisbergs Hoffnungen ruhten auf Hindenburg und Ludendorff. In Ludendorff sah er eine verwandte Seele; mit dem tatkräftigen Heerführer fühlte sich der „Tatmensch“ Duisberg auch persönlich verbunden. Deshalb plädierte Duisberg für einen „deutschen Frieden“, unterstützte die Vaterlandspartei und plädierte für ein unbedingtes Zusammenhalten der Heimatfront noch im September 1918. 6

So in einem Brief Duisbergs an Emil Fraas, 21. Dezember 1914, BAL AS.

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Der Kriegsausgang traf ihn dann überaus hart, da seine schlimmsten Befürchtungen Realität wurden. Gegenüber dem Darmstädter Pharmaproduzenten Emanuel Merck bemerkte er am 17. Oktober 1918: „Daß ich über die politische Lage mit Ihnen aufs höchste betrübt bin, können Sie sich denken. Der Sturz aus hoher stolzer Höhe war zu gewaltig und zu plötzlich. Ich hatte bis jetzt nie daran gezweifelt, daß wir siegen oder wenigstens mit einem blauen Auge davon kommen würden. An diesen Sieg ist ja natürlich nicht mehr zu denken. Fangen wir es aber richtig an, so können wir noch einigermaßen befriedigend aus der Tiefe, in der wir uns befinden herauskommen, wenn wir den Kopf nicht verlieren, sondern hochhalten und das ganze deutsche Volk zusammenfassen und uns mit ihm einmütig und geschlossen hinter unsere so schwer ringenden Truppen an der Front stellen. Im Gegensatz zu früher darf diese Bewegung aber nicht von rechts und oben kommen, sondern muß von links und unten ausgehen. Wir sind hier im Rheinland bereits bemüht, die Gewerkschaftsführer mobil zu machen und mit ihnen zusammenzugehen. Vielleicht bringen Sie es dort fertig, ein Gleiches oder Ähnliches zu tun. Auf jeden Fall ist es das Schlimmste, wenn wir die Hände in den Schoß legen und uns in unser Schicksal ergeben.“7 Es kam aber noch schlimmer, das Werben um Arbeiterschaft und Gewerkschaften hatte keinen Erfolg mehr. Nur wenig später kamen der Waffenstillstand und die aus Duisbergs Sicht verheerenden Waffenstillstandsbedingungen; zugleich brach an der Küste und in Berlin die Revolution aus, die auch ins Rheinland schwappte. VI. Wie Duisberg die revolutionäre Krise bewältigte, war freilich umso bemerkenswerter. Als auch in Leverkusen ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet worden war, trat Duisberg ihm kurzerhand bei, steckte anstatt der weißen eine rote Nelke ins Knopfloch und – passte sich den Verhältnissen an. Gegenüber Emanuel Merck gab er das offen zu: „Von dem Tage an, wo ich sah, daß das Kabinettsystem abgewirtschaftet hatte, habe ich die Umstellung auf das parlamentarische mit Freuden begrüßt und stehe heute, wo es sich um das höchste, was es für mich gibt, das Vaterland handelt, hinter der demokratischen Regierung und gehe, wo es möglich ist, Hand in Hand mit den Gewerkschaften und suche auf diese Weise zu retten, was zu retten ist. Sie sehen, ich bin Opportunist und passe mich den Verhältnissen an.“8 Das war zwar noch wenige Tage vor der Revolution, aber der Begriff Opportunismus traf schon sein Verhalten. In den kommenden Monaten gelang es Duisberg, freilich auch weil Leverkusen im Kölner Brückenkopf und daher unter englischer Besatzung lag, die Farbenfabriken einigermaßen reibungslos, wenn auch unter intensiven Verhandlungen und zahlreichen Konflikten mit der Belegschaft, auf Friedensproduktion umzustellen und die unmittelbare revolutionäre Gefahr zu bannen. Trotz größerer Auseinandersetzungen waren die Farbenfabriken dazu in der Lage, die 7 8

Carl Duisberg an Emanuel A. Merck, 17. Oktober 1918, BAL AS. Carl Duisberg an Emanuel A. Merck, 31. Oktober 1918, BAL AS.

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auch inflationsbedingte Nachkriegskonjunktur zu nutzen; die während des Krieges angehäuften Reserven halfen zudem, die unmittelbare Nachkriegszeit zu überbrücken. Insofern zahlte sich auch die strategische Haltung Duisbergs während des Krieges vorteilhaft aus, der stets darauf gedrungen hatte, die Kriegsgewinne zur Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Fabrik zu nutzen und nicht durch Sonderausschüttungen an die Aktionäre zu verschenken. In Leverkusen entwickelte sich so ein durchweg gutes Verhältnis zwischen der Werksleitung und der Masse der Beschäftigten, das auch durch die Streiks von 1920 und 1921 nicht ernsthaft in Gefahr geriet, auch wenn sich schließlich zeitweilig kommunistische Mehrheiten im Arbeiterrat fanden. Das waren nur Episoden bezogen auf eine Fabrikrealität, in der die Werksleitung von Anfang an bereit war, die neuen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, von denen der auch in dieser Hinsicht nüchtern kalkulierende Duisberg frühzeitig wusste, dass sie die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmensleitung zumindest solange nur unwesentlich beschränkten, solange diese sie geschickt zu nutzen verstand, ein Umstand im Übrigen, der die kommunistischen Angehörigen der Belegschaft umso mehr erbitterte. Dieser betriebliche Pragmatismus fand sein Gegenstück auf der politischen Bühne. Duisberg arrangierte sich auch sehr schnell mit der Republik; Grundsatzopposition kannte er, den die Staatsform an sich nach eigenem Bekunden ohnehin nicht interessierte, sondern nur deren Verwaltungsleistung, nicht. Das heißt nicht, dass er die Republik begrüßte. Insbesondere die Revolution und die nachfolgenden Kämpfe hielt er für gefährlich und falsch; die Berliner Zustände, jedenfalls wie er sie wahrnahm, schienen für eine rasche Überwindung der Kriegsfolgen wenig günstig. Das hatte auch einen ganz persönlichen Zug. Kurz nach der Revolution wurden Duisbergs enge Beziehungen zur 3. Obersten Heeresleitung, insbesondere zu Oberst Max Bauer, Ludendorffs grauer Eminenz, publik. Duisberg erschien in der Presse plötzlich als Drahtzieher und Stichwortgeber hinter Ludendorff, als Kriegsverlängerer und Profiteur. Das war alles nicht unbedingt an den Haaren herbeigezogen, zumal die Öffentlichkeit durch abgehörte Telefonate auch Details aus den Gesprächen zwischen Duisberg und Bauer erfuhr, die Maximilian Harden noch im November 1918 groß in die Presse brachte. Duisberg setzte sich gegen die Vorwürfe durchaus erfolgreich zur Wehr9, vor allem konnte er glaubhaft darauf verweisen, dass die Haltung im Krieg das eine, die Anpassung an die veränderten Verhältnisse, die er glaubhaft vollzog, das andere sei. Duisberg distanzierte sich weder jetzt noch später von seiner Haltung im Krieg, die einer umfassenden wirtschaftlichen Mobilisierung und einer möglichst konsequenten Kriegsführung das Wort geredet hatte, doch „historisierte“ er sich zugleich selbst: In dem aufgezwungenen Krieg, den man nicht verlieren wollte, sei anderes nicht möglich gewesen. In Berlin sah man das in den Wintermonaten 1918/19 freilich anders. Duisberg musste dort, so berichtete sein Schwiegersohn Hans-Hasso von Veltheim, um seine persönliche Sicherheit fürchten.10 Duisberg, der einen Tag vor der Revolution Berlin überstürzt verlassen hatte, hielt sich denn auch von Berlin in den nächsten Monaten fern. Die 9 10

Carl Duisberg an Maximilian Harden, 22. November 1918, BAL AS. Veltheim schrieb am 6. November 1918 an seine Mutter: „Ich garantiere wenigstens nicht mehr lange für Duisbergs persönliche Sicherheit hier […]. Duisberg ist in Berlin, wo er sich weiter

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Tatsache, dass ihn selbst in Leverkusen „Solinger Spartakisten“ zu verhaften suchten, dürfte diese Vorsichtsmaßnahme nur unterstrichen haben. An der Berliner Entwicklung und der Schaffung der institutionellen Strukturen der Weimarer „Sozialpartnerschaft“ nahm Duisberg, obwohl Ende Oktober 1918 noch zum Vorsitzenden des Verbandes zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie gewählt, nur aus der Distanz teil, obwohl ihn Gustav Stresemann gern in Berlin gesehen hätte. Aus seiner rheinischen „Quarantäne“ schlug er freilich noch insofern Kapital, als er über Briefe und Telefonate versuchte, überstürzte Entscheidungen, die in Berlin etwa in Fragen der zukünftigen Wirtschaftspolitik drohten, so lange zu verzögern, bis sich die Rahmenbedingungen stabilisiert hatten. Seit Ende März 1919 nahm er dann an allen entscheidenden Schritten zur Etablierung eines neuen Verhältnisses von Kapital und Arbeit ebenso teil, wie er als Sachverständiger in der Reparationsfrage und später als berufsständisches Mitglied im vorläufigen Reichswirtschaftsrat tätig wurde. Die „Arbeitsgemeinschaft“ von Arbeit und Kapital wurde ihm in der Tat ein Herzensanliegen, da er fest davon überzeugt war, nur auf diese Weise die deutlich gesunkene Arbeitsproduktivität wieder auf das Niveau der Vorkriegszeit bringen zu können. Republikfeindliche Aktionen, die die Arbeitsgemeinschaft gefährdeten, lehnte er daher entschieden ab. Werbeversuchen von Max Bauer, der ihn für die republikfeindliche Rechte gewinnen wollte, wies er kühl ab. Der auch von Max Bauer mit vorbereitete Kapp-Putsch stieß auf seinen energischen Widerstand, nicht zuletzt auch deshalb, weil durch ihn erneut eine brandgefährliche Bürgerkriegsstimmung erzeugt wurde. In der Reparationsfrage, in der Duisberg als Sachverständiger an verschiedenen deutschen Delegationen teilnahm und auch als unmittelbar Betroffener gehört wurde – die Farbenhersteller hatten immerhin einen großen Teil ihrer Läger als Reparation abzuliefern und mussten überdies 25 Prozent der Produktion günstigst an die Reparationsgläubiger liefern11 –, verfolgte er zunächst eine vermittelnde Haltung und suchte in den Verhandlungen mit der Gegenseite, aber auch französischen Chemieindustriellen und deutschen Regierungsstellen Lösungen zu finden, die die Reparationslasten in erträglichem Rahmen hielten und zugleich der deutschen Farbenindustrie Handlungsspielräume insbesondere im Export eröffneten. Eine konfrontative Haltung, wie sie etwa Hugo Stinnes12 vertrat, der eine Erfüllung der Reparationsforderungen von ihrer erträglichen Fixierung abhängig machte, verfolgte Duisberg nicht. Er plädierte vielmehr für eine Parallelität von Reparationslieferungen und Verhandlungen, womit er der unvermeidlichen Kompromisshaltung der Reichsregierung durchaus assistierte. Er unterstützte 1921 auch die Kreditaktion der deutschen Wirtschaft, um der Reichsregierung die Erfüllung der Reparationsforderungen nach dem Londoner Ultimatum zu erleichtern und trug erheblich dazu bei, dass der Reichsverband der Deutschen Industrie sich in dieser Frage, anders als Hugo Stinnes wünschte, hinter die Reichsregierung und ihre „Erfüllungspolitik“

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mit Ludendorff kompromittiert.“ Zit. nach Karl Klaus Walther, Hans-Hasso von Veltheim. Eine Biographie, Halle/Saale 2005, S. 59. Vgl. die Ausführungen Carl Duisbergs vor dem vorl. Reichswirtschaftsrat, 28. November 1921, abgedruckt in: Duisberg, Abhandlungen I, S. 847–851. Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band.

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stellte. Die nur geringen Erfolge dieser Haltung, die Unnachgiebigkeit der französischen Regierung, ihre Politik der „produktiven Pfänder“, der Ultimaten und Diktate, schließlich die Abtrennung Ostoberschlesiens vom Reich stießen ihn freilich zusehends ab, sodass auch Duisberg mit dem Gedanken spielte, ja ihn öffentlich ventilierte, sich stärker den französischen Forderungen zu verweigern und lieber eine Besetzung der Ruhr in Kauf zu nehmen als weiter nachzugeben.13 Die Ermordung Rathenaus im Sommer 1922 empörte ihn allerdings sehr.14 Schließlich war er auch bereit, das Scheitern der Politik des passiven Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung einzugestehen. Duisberg zählte zu den offenen Unterstützern des ersten Kabinetts Stresemann, das im Sommer 1923 den Konfrontationskurs der Regierung Cuno beendete, den passiven Widerstand aufgab und nach Auswegen aus der Hyperinflation suchte. Diese Unterstützung schloss auch die Vertreter der gemäßigten Sozialdemokratie ein, mit denen sich Duisberg im Zuge der Arbeitsgemeinschaftspolitik ohnehin gut verstand; mit dem ehemaligen Reichsarbeitsminister Rudolf Wissell hatte er sich schließlich befreundet, und auch mit Rudolf Hilferding, den Duisberg ebenso wie Wissell aus dem Reichswirtschaftsrat kannte, existierte eine durchaus gute Arbeitsbeziehung. Diese erkennbare Bereitschaft zur Kooperation mit der SPD stieß dabei in Teilen der Industrie nicht auf Gegenliebe; seine Loyalitätserklärung zur Regierung Stresemann, die erkennbar die Sozialdemokratie einbezog, rief sogar heftigen Widerstand hervor, den Duisberg, der an Problemlösungen interessiert war, pragmatisch dachte und politischen Streit für unnütz hielt, zurückwies. Er plädierte daher auch im Zuge der Währungsstabilisierung 1923/24, die in vielen Branchen zu einer Aufweichung des Achtstundentages und zu einer Schwächung der Gewerkschaften geführt hatte, keineswegs für eine Revision der Ergebnisse der Revolution. Schon in der vorhergegangenen Programm-Debatte des RDI hatte er die radikal antigewerkschaftlichen Vorschläge Paul Silverbergs15 zurückgewiesen.16 Auch nach 1924 blieb Duisberg dem Gedanken der mittlerweile aufgelösten Arbeitsgemeinschaft treu. Diese Bereitschaft, sich auf die Republik einzulassen und ihre Einrichtungen zu akzeptieren, war für Duisberg nicht mit einer Liebeserklärung identisch. Politische Institutionen beurteilte Duisberg letztlich nach ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit – und unter den gegebenen Bedingungen der Republik war es durchaus möglich, 13

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Hierzu äußerte sich Duisberg neben seiner Korrespondenz in zahlreichen Reden, namentlich in den Eröffnungsreden der Versammlungen des Chemieverbandes; vgl. etwa Carl Duisberg, Die Lage der chemischen Industrie 1923–1924. Eröffnungsrede auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie, Bad Kissingen, 27. September 1924, abgedruckt in: Carl Duisberg, Abhandlungen II, Vorträge und Reden aus den Jahren 1922–1933, Berlin 1933, S. 177–182. Zum passiven Widerstand Carl Duisberg an den Geschäftsführer des Chemieverbandes Ungewitter, 26. Januar 1923, BAL AS. Mit der Ruhrbesetzung hatte Duisberg auch bereits 1921 argumentiert. Den Vorwurf Arthur von Weinbergs, er sei in das Fahrwasser der Schwerindustrie geraten, wies er allerdings zurück, Carl Duisberg an Arthur von Weinberg, 24. September 1923, BAL AS. Carl Duisberg, Rede vor der Hauptversammlung der Geffrub 1922, abgedruckt in: Duisberg, Abhandlungen I, S. 945 f. Zu Paul Silverberg vgl. den Beitrag von Boris Gehlen in diesem Band. Carl Duisberg an Paul Silverberg, 12. Januar 1923, BAL AS.

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der wirtschaftlichen Vernunft, wie Duisberg sie sah, eine Stimme zu geben. Grundsatzopposition, wie sie Vertreter der Schwerindustrie, aber auch manche politische Bekannte Duisbergs favorisierten, hielt er für völlig falsch, weil sie letztlich nur die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufbeschwor. Man musste im Gegenteil durch Kompromisse eine gemeinsame Basis mit der Arbeiterbewegung zu erreichen suchen; und insofern war Duisbergs Wahl zum Vorsitzenden des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Anfang 1925 ein Zeichen, zumal der bisherige Favorit für das Amt, der Berliner Maschinenbauindustrielle Ernst von Borsig, eher als Hardliner bekannt war. Duisberg nutzte seine Möglichkeiten im Rahmen des RDI daher auch, um einer sozialpartnerschaftlichen Linie das Wort zu reden. Insbesondere in seiner Personalpolitik wurde die gemäßigte, republikfreundliche Einstellung überaus deutlich. Die Kundgebungen des RDI zwischen 1925 und 1928 waren bei aller Kritik an der Wirtschafts- und Finanzpolitik der jeweiligen Regierungen von grundsätzlicher Loyalität geprägt. Die Dresdner Tagung 1927 wurde gar zu einem Manifest der Sozialpartnerschaft, als Paul Silverberg programmatisch für eine Kooperation mit der gemäßigten Arbeiterbewegung warb. Das schmeckte insbesondere der Schwerindustrie, Teilen der mittelständischen Unternehmen und explizit republikfeindlich eingestellten Männern wie Fritz Thyssen, Emil Kirdorf und Alfred Hugenberg überhaupt nicht; doch hielt das Duisberg nicht davon ab, Silverberg den Rücken zu stärken. Diese gemäßigte Haltung betraf auch die weiterhin brisante Reparationsfrage. Auch wenn Duisberg sich aus der Alltagsarbeit des RDI heraushielt und sie im Wesentlichen dessen geschäftsführendem Präsidialmitglied Ludwig Kastl überließ, gab er doch den Rahmen vor, und der hieß auch hier, pragmatische Lösungen zugunsten einer Erleichterung der Reparationslasten zu erreichen. Und das geschah mit dem Young-Plan, der 1929 an die Stelle des Dawes-Planes trat, mit dem die Reparationslasten nach der Währungssanierung fixiert worden waren. Der Young-Plan, auf der rechten Seite des politischen Spektrums wegen der Festschreibung der deutschen Verpflichtungen verhasst, brachte gleichwohl eine Mäßigung der jährlichen Belastungen und einen erleichterten Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten. Für Carl Duisberg, der die Locarno-Politik Stresemanns begrüßt und mit einer eigenen Aussöhnungsinitiative gegenüber der englischen Industrie flankiert hatte, stand die Zustimmung zum Plan, die im RDI überaus umstritten war, gleichwohl außer Frage. VII. Mit der sich abzeichnenden Verdüsterung der wirtschaftlichen Lage 1928/29 und der sich zuspitzenden Finanzkrise des Reiches änderte sich 1929 allerdings der Ton. Die große Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller, die 1928 ins Amt gekommen war, versprach zur Bewältigung der Haushaltsprobleme zwar eine große Finanzreform, die aber nicht erfolgte. Über die Frage, wie die Haushaltslücken gedeckt werden sollten, zerbrach die Regierung. Eine Erhöhung von Steuern und Abgaben lehnte die Industrie ab; ob die Nationalliberalen freilich unter dem Druck der Industrie und unter Duisbergs Mithilfe die Ko-

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alition aufkündigten, lässt sich kaum mehr genau sagen. Duisberg selbst war aber nur in zweiter Reihe aktiv und spielte zumindest keine entscheidende Rolle, auch wenn er die Alternative, die Präsidialregierung unter Heinrich Brüning, ausdrücklich begrüßte. Diese Haltung kam bereits in der von Duisberg mitverantworteten Denkschrift des RDI vom Herbst 1929 „Aufstieg oder Niedergang“ zum Ausdruck, in der der RDI noch einmal seine Forderungen nach einer grundlegenden Finanzund Bürokratiereform vorgelegt hatte. Waren die bisherigen Regierungen in dieser Frage stets an den Unwägbarkeiten der parlamentarischen Mehrheiten gescheitert, so erwartete Duisberg nun von der Regierung Brüning eine in seinen Augen notwendige Befreiung von den Zwängen des parlamentarischen Systems mit seinen politischen Streitereien. Brünings Sparkurs schien ihm geeignet, die Exportchancen der deutschen Wirtschaft zu verbessern und die Haushaltsprobleme im Inland zu lösen. Überdies konnte so gezeigt werden, dass selbst bei größter Sparsamkeit den Reparationsforderungen nicht nachzukommen war. Der Regierung Brüning hielt Duisberg lange die Treue und parierte in dieser Zeit auch die bissigen Angriffe aus der Schwerindustrie und der deutschnationalen Ecke um Alfred Hugenberg, dessen Position er selbst zu destabilisieren versuchte. Erst nach dem Scheitern der Regierung Brüning im Herbst 1931, als der Zerfall der Weltwirtschaft der Regierung die Handlungsfähigkeit entzog, begann auch hier ein Prozess der langsamen Entfremdung, den Duisberg freilich mehr als Beobachtender denn als Handelnder vollzog, war er doch mit seinem 70. Geburtstag 1931 vom Amt des RDI-Vorsitzenden zurückgetreten. Doch die zunehmende Distanz zu Brüning und das Liebäugeln mit der Regierung Papen muss man letztlich schon als Akte der Passivität sehen, denn handlungsfähig war Duisberg kaum mehr. Den Aufstieg der Nationalsozialisten verfolgte er mit einer Mischung aus Skepsis und Kritik, allerdings auch mit der Hoffnung auf eine handlungsfähige Regierung. Einerseits bemerkte er gerade bei ausländischen Freunden und Geschäftsleuten die verheerende Wirkung der Erfolge der NSDAP, die sich auch direkt auf die Aktienkurse auswirkten. Andererseits sah er in der massenhaften Zustimmung zu Hitler ein Symptom der Verzweiflung, der Krisenangst vieler Menschen. Im Präsidialwahlkampf 1932 wurde Duisberg, wie er selbst sagte aus alter Verbundenheit, noch einmal aktiv und organisierte die industrielle Geldsammlung für Paul von Hindenburgs Wiederwahl. Unmittelbare Reaktionen auf die Machtergreifung der NSDAP sind nicht überliefert, doch gab Duisberg der Regierung Hitler durchaus einen gewissen Kredit in der Hoffnung, nun könnte endlich eine handlungsfähige Regierung an die Macht gekommen sein. Diese Ambivalenz blieb in Duisbergs noch verbleibender Lebenszeit erhalten. Duisberg war allein von seiner Prägung her kein Anhänger des Regimes. Er hielt dem 1933 aus seinem Amt als Kölner Oberbürgermeister vertriebenen Konrad Adenauer die Treue, hoffte aber zugleich auf eine tüchtige Regierung. Er half Elsa Brandström, deren Mann noch 1933 von der TH Dresden verdrängt wurde, nahm aber die Gleichschaltung der Wissenschaftsorganisationen zumindest nach außen widerstandslos hin. Vielleicht noch am treffendsten fiel die Beobachtung des Solinger Industriellen Hugo Hartkopf aus: „Wer hätte damals [IHK Solingen Feier zum 70. Geburtstag Duisbergs im September 1931, W. P.] gedacht, dass in kurzer Zeit derartige Umwälzungen vor sich gehen würden, wer hätte geglaubt,

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dass wir in ein paar Jahren wieder auf eine bessere Zukunft hoffen dürften! Ich kann sehr gut verstehen, dass Ihnen, Herr Geheimrat, die Umstellung, besonders in wirtschaftlicher Beziehung nicht leicht wurde, schwerer als mir, der ich seit 1931 Mitglied der N.S.D.A.P. war, jedoch nur dadurch, dass ich durch die Jugend im Hause beeinflusst und bis zu einem gewissen Grade mitgerissen wurde. Wir haben auch heute noch unsere schweren Bedenken, und ganz besonders werden Sie solche haben als einer, der von einer hohen Warte aus die Schwierigkeiten wirtschaftlicher und finanzieller Art erfahrungsgemäss und weitsichtig beurteilt. Aber wir wollen auch daran denken, dass der beste Wein in seiner Entwicklung sehr unruhig war und ausgären musste. Über eines aber habe ich mich ganz besonders gefreut, dass Sie rechtzeitig vom Präsidium der Kammer zurückgetreten waren. Wenn auch mein Sohn, wie mir gesagt wurde, die Übernahme korrekt und in verbindlicher Form Herrn Wuppermann und den übrigen Herrn gegenüber vollzog, es wäre mir doch furchtbar unangenehm gewesen, wenn Sie noch Präsident gewesen wären!“17 Das war schon realistisch; Duisberg hätte, wäre er noch in entscheidenden Ämtern gewesen, die Folgen der nationalsozialistischen Politik unmittelbar zu spüren bekommen. Er war letztlich ein Mann des Kaiserreiches, der in der Weimarer Republik vor allem nach Wegen suchte, um an die Erfolgsgeschichte vor 1914 anknüpfen zu können. Das brachte ihn, den nach eigenem Bekunden Unpolitischen, dazu, sich mit der Republik zumindest solange zu arrangieren, wie in ihr realistische Möglichkeiten existierten, dieses Ziel auch zu erreichen. Die Weltwirtschaftskrise zerstörte insofern viele Hoffnungen und bereitete gerade dadurch Hitler den Weg, dass sich nun auf ihn die Erwartungen konzentrierten, die die Republik vermeintlich nicht erfüllt hatte. Dass mit der Regierung Hitler der Weg in den Abgrund offen war, begriff man nicht. Duisberg starb zu früh, um das Verhängnis des Nationalsozialismus erfassen zu können. Vorstellen konnte er es sich nicht.

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Hugo Hartkopf an Carl Duisberg, 27. September 1934, BAL 271/0.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Duisberg, Carl, Abhandlungen I, Vorträge und Reden aus den Jahren 1882–1921, Berlin 1922. Duisberg, Carl, Abhandlungen II, Vorträge und Reden aus den Jahren 1922–1933, Berlin 1933. Flechtner, Hans Joachim, Carl Duisberg. Vom Chemiker zum Wirtschaftsführer, Düsseldorf 1959. Nieberding, Anne, Unternehmenskultur im Kaiserreich. J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co, München 2003. Plumpe, Gottfried, Die I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik, Politik 1904–1945, Berlin 1990. Plumpe, Werner, Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur Chemischen Industrie, München 1999. Plumpe, Werner, Carl Duisberg und der Erste Weltkrieg, in: David Gilgen / Christopher Kopper/ Andreas Leutzsch (Hrsg.), Deutschland als Modell? Rheinischer Kapitalismus und Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert, Bonn 2010, S. 171–194. Plumpe, Werner, Carl Duisberg und München, in: Oberbayerisches Archiv 135 (2011), S. 202–232. Plumpe, Werner, Carl Duisberg, das Kriegsende und die Geburt der Sozialpartnerschaft aus dem Geist der Niederlage, in: Hartmut Berghoff / Jürgen Kocka / Dieter Ziegler (Hrsg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Österreichs und Deutschlands. Im Gedenken an Gerald D. Feldman, München 2010, S. 134–159. Portz, Thomas, Großindustrie, Kriegszielbewegung und OHL, Siegfrieden und Kanzlersturz. Carl Duisberg und die deutsche Außenpolitik im Ersten Weltkrieg, Lauf 2000 (zugleich. Diss. Dortmund 2000).

ROBERT BOSCH (1861–1942) Joachim Scholtyseck Aus kleinen Anfängen führte Robert Bosch seine eher handwerklich ausgerichtete feinmechanische Werkstätte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Banne des Automobilbooms zu einem Großunternehmen der Elektroindustrie. Elektrisches Zubehör, zunächst vor allem Zündkerzen, stellten im ersten Drittel des Jahrhunderts das Kerngeschäft des Stuttgarter Konzerns dar, der sich in den 1920er Jahren zunehmend diversifizierte. Bosch, 1861 geboren, stammte aus einer großbäuerlichen württembergischen Familie. Der Vater war ein Freigeist, Anhänger der Revolution von 1848 und später Gründungsmitglied der württembergischen Deutschen Volkspartei (DVP). Robert Bosch blieb sich des Aufstiegs aus eher kleinen Verhältnissen stets bewusst und verwies wiederholt auf seine Herkunft aus dem „Arbeiterstand“. Aus diesem Bewusstsein, „unterm Volke aufgewachsen“1 zu sein, speiste sich seine häufig geäußerte Kritik am sozialen Unverständnis der Zeit, die geradezu in eine „Verzweiflung am Bürgertum“2 mündete. Für einen Unternehmer war seine Sympathie für die sozialistische Bewegung und die finanzielle Unterstützung von SPD-Abgeordneten höchst ungewöhnlich. Gekoppelt war diese Einstellung allerdings an ein durchaus patriarchalisches Selbstverständnis, das Leistung forderte und im Gegenzug den eigenen Arbeitern soziale Absicherung garantierte. Das Unternehmen gehörte 1908 zu den ersten, die in Deutschland den Achtstundentag einführten; Löhne und Gehälter lagen weit über dem vergleichbaren Durchschnitt. Erst als radikale Metallarbeiter 1913 einen Streik ausriefen, der Boschs Meinung nach maßlos und überzogen war, signalisierten seine ablehnenden Stellungnahmen eine schleichende Entfremdung vom sozialdemokratischen Gedankengut. Die Enttäuschung über die Arbeitsniederlegungen besiegelte eine Entwicklung, die seit der Jahrhundertwende eingesetzt hatte. Bosch fühlte sich zunehmend den Ideen des liberalsozialen Reformers Friedrich Naumann verpflichtet, bezeichnete sich selbst als „naumännisch“3 und hatte damit eine geistige Heimat gefunden, die er fortan nicht mehr verließ. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Europa eine Katastrophe, gleiches gilt für das Unternehmen Bosch, das im Jahr 1914 mit seinen 4.700 Mitarbeitern 88 Prozent seiner Produkte ins Ausland verkaufte. Der fast völlige Zusammenbruch des 1 2 3

Vgl. Eugen Diesel, Robert Bosch. Zeit und Persönlichkeit, in: Conrad Matschoß (Hrsg.), Robert Bosch und sein Werk, Berlin 1931, S. 11–20, hier S. 18. Robert Bosch, Lebenserinnerungen, zit. nach Joachim Scholtyseck, Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933–1945, München 1999, S. 26. Zit. nach Theodor Heuss, Robert Bosch. Leben und Leistung, 10. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1987, S. 286.

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Exportgeschäfts stellte insofern einen „Wendepunkt“4 in der Geschichte seines Unternehmens dar. Bosch glaubte nicht an eine deutsche Alleinschuld, zeigte aber für den nationalistischen Hurra-Patriotismus kein Verständnis und unterstützte die gemäßigten Liberalen gegen die konservative alldeutsche Propaganda, die Gebietserwerb und Expansion forderte. 1919 war Bosch wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen ein Gegner des Vertrages von Versailles. Anders als zahlreiche andere Industrielle wendete er die traumatischen Erfahrungen des Krieges jedoch ins Positive. Er hatte keinerlei Sympathien für Kaiser Wilhelm II. – vergleichbar mit vielen Unternehmern, die der abgewirtschafteten Monarchie nicht nachtrauerten. Als mit der Zeit die Fehler und Ungereimtheiten des „Persönlichen Regiments“ Wilhelms II. bekannt wurden, war seine Kritik unerbittlich. Das „Gesindel um den Kaiser herum“ habe nicht die Kraft und den Mut besessen, ein „besseres Regiment“ durchzusetzen, obwohl es gesehen habe, welchem Abgrund Deutschland entgegensteuere. Grundsätzlich hatte Bosch auch weiterhin nichts gegen die monarchische Staatsform einzuwenden. Es sei im Grunde gleichgültig, ob „man einen Wahlkaiser oder einen Präsidenten hat oder etwa einen erblichen Kaiser, der auf Grund der Verfassung mundtot ist, etwa wie in England. […] Hätten wir nicht eben jetzt den Monarchen zum Teufel gejagt, wohin der, den wir hatten, allerdings auch gehört, denn ihm und der Gleichgültigkeit des Bürgertums haben wir das Elend zu verdanken, in dem wir uns befinden, so wäre gegen eine konstitutionelle Monarchie nach engl[ischem] Muster nichts einzuwenden.“5 Eine deutsche „Selbstzerfleischung“ lehnte er allerdings ab. Ihm seien Wilhelm II. und „der Militarismus von jeher ein Greuel gewesen“, aber der Kaiser habe mehr aus Dummheit als aus bösem Willen gehandelt.6 Bosch war inzwischen im linksliberalen Lager angekommen und vertrat die Positionen der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). In zahlreichen Briefen aus der Zeit der Novemberrevolution kommt sein Wunsch zum Ausdruck, sowohl nach rechts, zur DVP, als auch nach links, zu den Sozialdemokraten, Brücken zu bauen. Die konservative Agitation gegen die junge Demokratie verurteilte er deshalb scharf. Er sei zwar nicht überzeugt, so versuchte er den befreundeten Unternehmer Ernst Lilienfein in einem später vielzitierten Brief im Jahr 1919 zu beruhigen, „dass eine Republik für uns jetzt das Beste ist, ich halte es aber für den größten Fehler, wenn in der Nationalversammlung Äußerungen gegen die Republik gemacht werden. Jetzt gegen die Republik vorgehen wollen, heißt neue Zwietracht säen und ich meine, wir müssen doch vor allem sofort uns verständigen. Jetzt für die Monarchie Stimmung machen wollen, ist geradeso für das Chaos gearbeitet, wie es die Spartakisten tun. Wenn einmal das Haus brennt, löscht man auch mit Jauche, so man kein Wasser hat. […] Ich stehe persönlich auf dem Standpunkt, dass wir bei der Republik bleiben sollen, nachdem wir sie einmal haben.“7 An dieser Linie hielt Bosch auch in den folgenden Jahren fest. Er schätzte Friedrich Ebert, dessen Sachverstand er anerkannte, wohl auch, weil beide – der 4 5 6 7

Johannes Bähr / Paul Erker, Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens, München 2013, S. 79. Bosch an Theodor Stemmer vom 4. Januar 1923, Robert Bosch Archiv (RBA) N 11/62. Bosch an Fritz Röttcher vom 10. April 1920, RBA 14/147. Bosch an Ernst Lilienfein vom 10. November 1919, RBA 14/49.

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süddeutsche Sattlergeselle ebenso wie der Stuttgarter Unternehmer – auf ähnliche Erfahrungen des Arbeitsalltags in ihren beruflichen Anfängen zurückblicken konnten. Als sich nach dem Tod des Reichspräsidenten eine Welle deutschnationalen Hasses über den SPD-Politiker ergoss, schrieb Bosch, dessen Verdienste würden „von der Nachwelt gewiss gerecht und dankbar gewürdigt werden.“8 Beständig warb er in den frühen dreißiger Jahren für den Aufbau einer „Mittelpartei“ von Linksliberalen und Sozialdemokraten und stand dabei in engem Kontakt zu Männern wie August Weber, Theodor Heuss und Anton Erkelenz. Man dürfe sich, so lautete sein Credo, auf keinen Fall gegen die Sozialdemokraten abschotten, die „mehr zu einer Gesundung unserer inneren Zustände getan“ hätten, „als irgendwelche Heißsporne im deutschnationalen und nationalsozialistischen Lager. In der Politik kann man nur das Mögliche erreichen wollen und möglich ist nur eine langsame Besserung. Durch ein Niederschlagen der Arbeiterparteien ist eine Besserung aber nicht herbeizuführen.“9 Boschs Stellungnahmen zu den 1918 heftig diskutierten Fragen der Betriebsverfassung zeugten von seiner Kenntnis der Positionen im sozialdemokratischen „Revisionismusstreit“ der Vorkriegsjahre. Obwohl ihn die gelehrten Abhandlungen der Nationalökonomen und „Kathedersozialisten“ seit jeher kalt gelassen hatten und er wohl auch von den Theorien Gustav Schmollers und Werner Sombarts nicht direkt beeinflusst war, war er beileibe kein Novize auf dem schwierigen Parkett der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Mit Karl Kautsky hatte er in dessen Stuttgarter Zeit in den 1890er Jahren bereits über das Modell einer Verbindung sozialistischer Regierung und kapitalistischer Produktion diskutiert und traf mit diesem 1922 wieder freundschaftlich zusammen. An den lebhaften Diskussionen zur industriellen Verfassung und möglichen „Sozialisierungen“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit beteiligte sich Bosch ebenfalls. Einer Räteregierung traute Bosch nicht, weil er, ganz Patriarch, der er war, der Sozialdemokratie die Befähigung zur alleinigen Steuerung des politisch-wirtschaftlichen Lebens absprach. An einen in der pazifistischen „Deutschen Friedensgesellschaft“ tätigen Briefpartner schrieb er: „Der Kapitalismus hat sich noch nicht überund ausgelebt, d. h. entwickelt, dass wir ohne ihn auskommen […] Wer glaubt, dass eine Weltrevolution kommt, ist ein Narr, man sehe sich doch um, wer macht denn mit! Reißt dem Kapitalismus die Giftzähne aus und im übrigen arbeitet an euch selbst, dann wird es besser werden. […] Der Klassenkampf an sich ist läppisch. […] Ich bezweifle nicht, dass es Arbeiter gibt, die ihr Leben kommunistischen Ideen opfern möchten, wenn es Zweck hat, ich habe früher auch geschwärmt, heute überlege ich, wie ich es nützen kann.“10 Wenn er sich im Anschluss an die Novemberrevolution im Frühjahr 1919 gegen ein „Mitregieren“ in die Belange des Betriebes wandte,11 geschah dies im Schatten einer politischen Radikalisierung, die überall durch Streikaktionen und Betriebsbe8 9 10 11

Bosch in einem Kondolenzschreiben an die Witwe Ebert vom 2. März 1925, RBA N 11/58. Vgl. auch Bosch an Fritz Röttcher vom 29. April 1920, RBA 14/147. Bosch an Paul Gudell vom 6. April 1932, zit. nach Scholtyseck, Robert Bosch, S. 86. Bosch an Fritz Röttcher vom 31. Dezember 1919, RBA 14/147. Bosch an Gaudenz Bayer vom 15. April 1919, RBA 14/3–21.

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setzungen gekennzeichnet war. Durch den Verlust des Auslandsgeschäfts und einen hohen Personalüberhang war der Handlungsspielraum nicht groß, zumal sich an den hohen Löhnen und Gehältern bei Bosch zunächst nichts änderte. Bosch war nicht auf simple Besitzstandswahrung aus; dem Gewerkschafter Wilhelm Eggert setzte er aber auseinander, wie wichtig der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit war: Die Sozialisierung dürfe den Anreiz der Verdienstmöglichkeit und die „Entfaltung persönlicher Initiative“ nicht einschränken. „Allgemeine utopische Redensarten“ dürften nicht darüber entscheiden, in welchem Grad bestimmte Wirtschaftszweige sozialisiert würden.12 Diese Ansichten vertrat Bosch auch, als er Repräsentant der Elektroindustrie im Präsidium des neugeschaffenen „Reichsverbandes der Deutschen Industrie“ (RDI) wurde. Er konnte bereits auf einige Erfahrung als Mitglied des vorläufigen Präsidiums dieses industriellen Spitzengremiums zurückblicken. Auf der am 12. April 1919 in Berlin stattfindenden konstituierenden Sitzung sah er manche Vorbehalte gegenüber seinen Standesgenossen bestätigt. Von Beginn an war er darum bemüht, einem drohenden „Klassenkampf von oben“ entgegenzuwirken. Als Feind ideologischer Polarisierung war ihm an der Verhinderung einer unternehmerischen Politik gelegen, die durch einen antigewerkschaftlichen Kurs Öl ins Feuer goss. Gegen die Agrarlobby hegte er ohnehin seit langem den Argwohn, diese sei den vorrevolutionären Strukturen verhaftet und lediglich Sachwalter der eigenen Interessen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Deutschlands war seiner Überzeugung nach jedoch nur bei Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern möglich. Um die „grundsätzliche Kampfstellungnahme“ zu beseitigen, plädierte Bosch daher im Frühjahr 1919 für den Ausbau der Mitbestimmungsrechte der Angestellten und Arbeiter, die sich allerdings nicht auf kaufmännische und technische Fragen erstrecken sollten. Als Organe dieses Modells sollten Betriebsräte und ein Schlichtungsausschuss dienen.13 Solche Forderungen waren allerdings utopisch. Die im RDI zu Tage tretenden Differenzen zwischen der Exportindustrie und den protektionistischen Schwerindustriellen ließen sich nicht auflösen. Ob Bosch sein politisches Gewicht mit Erfolg auf die Waagschale der wirtschaftlichen Vernunft hätte legen können, ist angesichts der vielfach gegenläufigen Strömungen mehr als fraglich. Wie ist die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik erkennbare politische Offenheit Boschs, die er mit einigen seiner Standesgenossen teilte, zu erklären? Die wirtschaftliche Lage war auf den ersten Blick düster: In den USA wurde die inzwischen enteignete Tochtergesellschaft Bosch Magneto Company zu einem Schleuderpreis verkauft, der fast vollständige Ausfall der Produktionsstätten im Ausland, der Verlust der Patente und die wachsende Konkurrenz des Auslands luden zu pessimistischen Zukunftsprognosen ein. Trotz der desolat erscheinenden Situation waren nach Ansicht Boschs politische und wirtschaftliche Spielräume für Deutschland vorhanden. Einem Mann der weltweit vernetzten Elektroindustrie mochte es leichter fallen, an einen Neuanfang zu denken. Die Elektroindustrie gehörte immer 12 13

Bosch an Wilhelm Eggert vom 27. März 1919, RBA 14/3–21. Bosch an das Präsidium des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom 29. April 1919, RBA 14/51.

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noch zu den exportorientierten Industriezweigen, die sich vehement gegen Schutzzölle wehrten, die von Agrarverbänden und Teilen der Eisen- und Stahlindustrie als Schutz gegen unliebsame ausländische Konkurrenz verfochten wurden. Bosch glaubte trotz des Verlusts des Auslandsgeschäfts an eine Rückkehr auf den Weltmarkt. Heute ist weitgehend unbestritten, dass die ökonomische Ausgangslage nach 1918 hierfür tatsächlich günstig war – und dieser Optimismus Robert Boschs bestätigte sich, als 1920 die Exportquote seines Unternehmens bereits wieder auf über 50 Prozent stieg und es seine Präsenz besonders auf den expandierenden Märkten Asiens und Lateinamerikas ausbaute. Deutschland verfügte über einen ausgezeichneten Pool gut ausgebildeter Fachkräfte, das technologische Know-how war unverändert vorhanden, und die zwar teuren, aber dafür robusten und qualitativ hochwertigen Elektrokomponenten aus Stuttgart fanden ihre Käufer. Selbst die Hyperinflation und die Unsicherheiten der Phase der Währungsreform 1923/24 wurden vergleichsweise glimpflich überwunden, weil eine „künstliche Konjunktur“ den Automarkt belebte. Die Zeit der billigen Mark begünstigte den Export. Als Industrieller schwamm Bosch in vielerlei Hinsicht gegen den Strom der Zeit. Sein ungebrochener Fortschrittsoptimismus schien ins liberale 19. Jahrhundert zu gehören, jedenfalls wirkte er in den Jahren der Weimarer Republik merkwürdig antiquiert. Felix Pinner, der in den frühen zwanziger Jahren in der „Weltbühne“ eine ganze Reihe von Industrieführern kritisch porträtierte, bezeichnete Robert Bosch angesichts seiner sozialen und politischen Vorstellungswelt entsprechend als einen „Gegentypus gegen den zeit- und landläufigen Unternehmer“.14 Diese Vorstellungswelt zeigt sich auch beim Blick in die 1919 aus der Taufe gehobene Werkszeitung „Bosch-Zünder“. Fragen der Politik und Religion blieben ausgeklammert, wenn auch die „Demokratie als Leitbild“ vermittelt wurde, das Blatt gewerkschaftlichen Fragen gegenüber aufgeschlossen war und „Technikorientierung mit Bildungszielen“ verband.15 Die nun ebenfalls als Sonderleistung der Alters- und Hinterbliebenenfürsorge eingerichtete „Bosch-Hilfe“ sollte die Beschäftigten absichern. Sie sollte die Arbeiter und besonders qualifizierten Facharbeiter an den Betrieb binden und war zugleich eine „großzügige Tat, weil sie zulasten der Dividende und damit auch der Einkünfte Robert Boschs ging.“16 In der Mitte des Jahrzehnts mehrten sich die Anzeichen, dass die wirtschaftliche Stabilisierung zum Teil eine Scheinblüte war. Angesichts der stabilen – und teuren – Mark ließen sich deutsche Autos – und damit auch viele der von Zulieferern bereitgestellten Komponenten – kaum noch im Ausland absetzen. Zusätzlich behinderten Zollschranken und staatlicher Interventionismus den Export; zu allem Überfluss drängten amerikanische Zulieferer noch stärker als zuvor auf den Markt. Die Folge war ein Konzentrationsprozess in der Automobilbranche. Die Zahl der PKW-Fabriken ging in den 1920er Jahren von 59 auf 17 zurück, und im Herbst 1925 nahm der Rückgang des Geschäfts „krisenhafte Formen“ an. In Stuttgart kam die Sorge auf, das Unternehmen werde sogar auf dem heimischen Markt „über den 14 15 16

Felix Pinner [d. i. Frank Faßland], Robert Bosch, in: Deutsche Wirtschaftsführer, Charlottenburg 1925, S. 133–139, hier S. 136. Bähr/Erker, Bosch, S. 104. Ebd., S. 107.

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Haufen geblasen“.17 Der Konjunktureinbruch endete für das Unternehmen, wie der Geschäftsbericht des Jahres 1925 festhielt, „in besorgniserregendem wirtschaftlichen Tiefstand“.18 Bosch konnte die vergleichsweise höheren Löhne – nach einer gewerkschaftlichen Erhebung aus dem Jahr 1927 lagen die Akkord- und Zeitlöhne zwischen 13 und 23 Prozent höher als die ohnehin vergleichsweise hohen Stuttgarter Durchschnittslöhne – nicht mehr gewähren. Um Personaleinsparungen kam man nicht herum. Die Beschäftigtenzahl ging von 12.862 (1925) drastisch auf 7.031 (1926) zurück. Die zudem vermehrt angeordnete Kurzarbeit sollte eine „soziale Katastrophe“ verhindern. Die beiden folgenden Jahre endeten ebenfalls mit düsterem Ausblick: Als einige Konkurrenzunternehmen an der Krise scheiterten, profitierte Bosch zwar von diesem marktbereinigenden Effekt, aber die preisgünstige ausländische Ware gestaltete die Kalkulation für deutsche Produkte ausgesprochen schwierig. Weder die Umstellung auf die Fließbandfertigung noch die Konstruktion eines einfacheren Zünders reichten aus, um die Herstellungskosten genügend zu senken. Die hohe Qualität und der Anspruch, nur das „Allerbeste“ auf den Markt zu bringen, ließen sich nicht mehr kompromisslos aufrechterhalten. Angesichts der Alternative, entweder „vom bisherigen Qualitätsanspruch abzurücken oder vom Markt zu verschwinden“,19 entschied sich Bosch für das Überleben und ging sogar dazu über, billigere und weniger perfekte amerikanische Produkte in Lizenz zu bauen. Letztlich war diese Produkt- und Preispolitik, die sogar viele der Angestellten und Arbeiter als demütigend empfanden, erfolgreich. Im Gegensatz zu anderen deutschen Elektrounternehmen, die Konkurs anmelden mussten, blieb Bosch liquide. Die Selbstfinanzierungspolitik als bewährte solide Basis für bessere Zeiten wurde im Rahmen einer stabilitätsorientierten Kapitalpolitik durch eine maßvolle Schuldenaufnahme ergänzt. Insgesamt erwiesen sich die wirtschaftlichen Turbulenzen als eine Herausforderung, die dank vielfältiger Innovationen gemeistert wurde. Die zwanziger Jahre wurden zu einem Jahrzehnt der Erweiterung der Produktpalette und der Rationalisierung. Standen die Jahre der Niederlage im Zeichen der Kreation eines neuen Warenzeichens, der Beginn der „Werbung“ im modernen Sinn, erlebte das Unternehmen nun geradezu einen Modernisierungsschub: Wiederaufbau der Auslandsvertretungen, Anmeldung neuer Patente, Preissenkungen. Während die 1924 eingeführte Fließbandfertigung im Vergleich zu anderen Unternehmen auf wenig Opposition stieß, forderten andere Rationalisierungsmaßnahmen und namentlich die Entlassungen den Unmut und den Widerspruch der Belegschaft heraus. Bosch gestaltete in der Krise des Jahres 1926 den Vorstand seines Unternehmens rigoros um und nahm vorwiegend Kaufleute in den Führungsstab, während die bislang dominanten Techniker einen deutlichen Abstieg erlebten. Seit diesem grundlegenden personellen Revirement setzte sich das Führungsgremium bei Bosch aus erfahrenen Persönlichkeiten zusammen, die schon in der Kaiserzeit sozialisiert worden waren. Bei ihnen herrschte eine Verbindung von liberalen Überzeugungen und kaufmännischer Weltoffenheit. Signifikant war die ausnahmslose Rekrutierung 17 18 19

Hans Walz, „Feuerbacher Rede“ vom 17. Juli 1943, RBA 13/241. Geschäftsbericht für das Jahr 1925, in: Bosch-Zünder 8 (1926), S. 173–176, hier S. 173. Bähr/Erker, Bosch, S. 119.

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aus dem demokratisch-liberalen Milieu, d. h. dem Umkreis der DDP oder der DVP. Dies implizierte eine klare Absage an staatssozialistische Auffassungen und korrespondierte mit einer weltpolitischen Aufgeschlossenheit, die wiederum für exportorientierte Unternehmen nicht ungewöhnlich war. Die Mitglieder des BoschDirektoriums konnten meist auf eine längere Auslandsverwendung zurückblicken: Durch ihre Erfahrungen waren sie „Kosmopoliten“, die mit den Weltmärkten und ihren Bedingungen vertraut waren. Das Gespür für die Bedingungen und Sensibilitäten anderer Nationen ging mit der Absage an provinzielle Enge einher. Diese Einstellung Boschs, seine führenden Mitarbeiter auch nach Aspekten der liberalen Weltanschauung auszuwählen, blieb auch über das Jahr 1933 hinaus unverändert, ein klarer Hinweis, dass für diesen herausragende unternehmerische Expertise zwar wichtig war, aber ein rein technokratisches – sozusagen unpolitisches – Managertum als nicht hinreichend galt, um eine Führungsposition zu erhalten. Für die dauerhafte politische und wirtschaftliche Erholung Europas hielt Robert Bosch eine friedliche Einigung mit den Nachbarländern für nötig. 1926 schrieb er hoffnungsvoll an den Sozialdemokraten Wilhelm Keil: „Ich erlebe zur Zeit noch die Genugtuung, daß die Leitlinie für meine Einstellung in innen- und außenpolitischen Fragen, Aussöhnung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Unternehmern wie zwischen Nationen, heute auch von meinen intimsten politischen Gegnern als richtig angesehen wird.“20 Er gehörte zu jenen, die an einen gemeinsamen Aufbau des zerstörten Europas ohne Grenzen und Zollschranken dachte. Die Partnerschaft mit dem stets beschworenen Erzfeind Frankreich sollte den Kern eines befriedeten und revitalisierten Kontinents bilden. Bosch sympathisierte daher mit der Paneuropa-Idee Richard Graf Coudenhove-Kalergis und besonders mit der Vision eines „europäischen Großwirtschaftsraums“. Die Ideen des Adeligen waren schwärmerisch und muteten für die Zeitumstände bisweilen recht naiv an. Das störte Bosch nicht. Er unterstützte die Paneuropa-Idee enthusiastisch: „Das Geld, das wir dem Grafen für seine Sache zur Verfügung stellen“, so schrieb er, sei „für uns Europäer gut angelegtes Kapital“.21 Boschs Europa-Sympathien hatten natürlich auch eine wirtschaftliche Seite: Die in den frühen 1920er Jahren neu entwickelten Produkte – eine innovative Schmierpumpe, Scheinwerfer, Scheibenwischer und eine als „Bosch-Horn“ bekanntgewordene Hupe – wurden inzwischen auf dem gesamten europäischen Markt verkauft; im Rahmen einer Diversifizierungsstrategie traten gegen Ende des Jahrzehnts Elektrowerkzeuge, Kühlschränke, Radios und Gasbadeöfen hinzu, die ebenfalls außerhalb der deutschen Grenzen verkauft wurden.22 Auch anderen Unternehmern erschien der Gedanke eines Europas ohne Zollschranken verlockend. Der luxemburgische Industrielle Emile Mayrisch gründete 1926 eine internationale Rohstahlgemeinschaft, um auf der Basis bilateraler Kooperation privatwirtschaftliche Vereinbarungen über die Produktions- und Absatzzahlen in Europa zu treffen. Zugleich wurde, gleichsam als flankierende Maßnahme, ein „Deutsch-Französisches Studienkomitee“ mit Büros in Paris und Berlin gegründet, 20 21 22

Bosch an Wilhelm Keil vom 3. Oktober 1926, zit. nach Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 414. Zit. nach Heuss, Robert Bosch, S. 525. Bähr/Erker, Bosch, S. 98 f. und 145 f.

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einer Einrichtung, der Robert Bosch nahestand. Ihm erschien die Initiative besonders attraktiv, weil sie sich auf die Idee des „deutsch-französischen Nationalinteresses“ bezog und durch gegenseitige Besuche und eine aktive Pressepolitik den Abbau der wechselseitigen Vorurteile erreichen wollte. In Deutschland blieb der Widerhall jedoch gering, weil der Wunsch nach Revision des Versailler Vertrages dominant blieb und eine staatliche Unterstützung der Paneuropa-Idee illusionär machte. In Frankreich scheiterte der französische Außenminister Aristide Briand, einer der Förderer Coudenhove-Kalergis, mit seinem eigenen stark auf französische Interessen zugeschnitten Europaplan. Obwohl Paris zunehmend bemüht war, den trotz der Beschränkungen des Versailler Vertrages wieder erkennbar wachsenden ökonomischen Rückstand gegenüber dem Deutschen Reich aufzuholen, blieb Bosch optimistisch: „Ohne eine Verständigung mit den Franzosen wird es kein Paneuropa geben, aber auch keinen mitteleuropäischen Wirtschaftsblock. An den Franzosen hängen doch die Polen und die Tschechen […] Wir selbst sind doch noch nicht in der Lage, mit Österreich, Jugoslawien und dem Balkan zusammen einen mitteleuropäischen Wirtschaftsblock zu schließen. Es ist doch ausgeschlossen, dass wir mit den Polen und den Tschechen, am wenigsten aber noch mit den Polen, zu einem Abkommen gelangen können, wenn Frankreich nicht gut dazu steht. […] Heute, hoffe ich, sind wir nicht mehr allzu weit von einer solchen Verständigung entfernt.“23 Dieses Denken war illusionär. Die Idee der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ kam einem Greifen nach den Sternen gleich, da noch nicht einmal die Fragen, die durch den Weltkrieg entstanden waren, einvernehmlich gelöst werden konnten. Mit der zunehmenden Radikalisierung und Nationalisierung im Europa der frühen 1930er Jahre verlor die „Europaidee“ an Anziehungskraft. Bosch blieb davon überzeugt, man dürfe die Völkerverständigung gerade jetzt nicht mehr allein den Politikern überlassen. Deshalb hielt er auch weiterhin die Bemühungen des „Deutsch-Französischen Komitees“ für nützlich, unterhalb der politisch-diplomatischen Ebene einen wirtschaftlich begründeten Durchbruch zu erreichen. Es mag zweifelhaft bleiben, ob die zukunftsweisenden Erörterungen, die sein Neffe Carl Bosch24 und Hermann Bücher, der Leiter der AEG und auch im „Dritten Reich“ ein besonnener politischer Mitstreiter Boschs, mit Franzosen und Luxemburgern auf Industriellen-Ebene führten, irgendeine realistische Erfolgsaussicht hatten. Eine konkrete politische Wirkung ging von den Gesprächen jedenfalls nicht aus, und die Teilnehmer waren sich über die beschränkte Bedeutung ihrer Zusammenkunft wohl bewusst. In einem Aufsatz des Jahres 1931 plädierte Bosch für eine mäßigende Haltung der deutschen Politik. Ohne die Bitterkeit und Demütigung zu verkennen, die der Versailler Vertrag für Deutschland mit sich gebracht hatte, appellierte er an die Vernunft, die einen Ausgleich ermöglichen werde, auch wenn sich Frankreich noch momentan „sperre“. Das französische Sicherheitsbedürfnis versuchte er zu erläutern – ein bemerkenswerter Ansatz in einer Zeit, in der differenzierende Erklärungs23 24

Bosch an Paul Reusch vom 6. Juli 1932, RBA 14/112. Zu Carl Bosch vgl. den Beitrag von Kordula Kühlem in diesem Band.

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muster im Lärm der Propaganda kaum zu hören waren. Frankreichs Politik erklärte er mit den Sorgen vor einer deutschen Aufrüstung. Frankreich habe, so Bosch, die verständliche Sorge, dass eine Regierung der „äußeren Rechten“ sich nicht länger an geschlossene Verträge halten werde. Bosch plädierte, so schwer es auch falle, für deutsche „Nachgiebigkeit“: Eine Nation sterbe nicht „an verletztem Ehrgefühl“.25 Mit einer solchen Sicht akzeptierte er, wie zur gleichen Zeit übrigens schon Konrad Adenauer, das französische Sicherheitsbedürfnis. Diese Politik hob sich vom bisherigen Kurs deutscher Verständigungspolitiker ab. Nach der Lektüre der nachgelassenen Schriften Gustav Stresemanns, die einen Blick auf das schillernd-komplexe Konzept ermöglichten, mit dem der Außenminister den Ausgleich hatte erzwingen wollen, entdeckte Bosch an dessen Politik Züge, die seinen eigenen Vorstellungen eines europäischen Ausgleichs widersprachen und ihm für die Berliner Politik kennzeichnend schienen. Fast resignierend kommentierte er am Jahresanfang 1933 in einem Brief an Theodor Heuss: „So sind aber eben die Preussen und schon wir in Süddeutschland verstehen das kaum, noch viel weniger natürlich das Ausland.“26 Bosch plädierte auch für den Verzicht auf die 1930/31 geplante österreichischdeutsche Zollunion, mit der viele Deutsche bis weit in die Reihen der SPD hinein die Rückkehr auf die internationale Bühne verbanden, die die anderen Großmächte aber aus Sorge vor einer deutschen Hegemonialstellung verhinderten. Bosch sah das deutsche Einlenken, das ohnehin alternativlos war, keineswegs als demütigende Preisgabe an. Denn vom ökonomischen Denken her erachtete er die wirtschaftlichen Kapazitäten Deutschlands immer noch als ausreichend, um auf friedlichem Weg die Gleichberechtigung in Europa wiederzuerlangen. Innerhalb dieses europaweiten Systems sollten die Nationen in freier Konkurrenz ökonomisch walten. Bosch hatte keinen Zweifel, dass auf diese Weise die deutsche Industrie – und natürlich auch die ihm am Herzen liegende eigene stark exportabhängige elektrotechnische Produktion – langfristig gute Zukunftschancen besitze.27 Wie wenig seine Vision mit den herkömmlichen Träumen einer hegemonialen Großmachtstellung gemein hatte, bezeugte der Hinweis, dass eine Zollunion mit Österreich nur dann sinnvoll sei, wenn damit die Verständigung mit Frankreich als das eigentliche Ziel verbunden sei. Die Ablehnung eines „Rachekrieges“ erfolgte mit so deutlichen Worten, dass man mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg gar eine prophetische Klarsicht attestieren kann: „Ich hoffe, wir werden nie mehr das kriegen, was man früher Krieg hieß. […] Helden gibt es ja künftig keine mehr. Nur noch Menschenvertilger.“ Als vom Exportgeschäft abhängiger Industrieller bezeichnete er zugleich das „Schlagwort vom ‚Aufbau der nationalen Industrie‘“ kurz und bündig als einen „Wahn“.28 Diese Gedanken formulierte er zu einer Zeit, als die Weltwirtschaftskrise der vorübergehenden Erholung bereits wieder ein Ende gesetzt hatte. Auch die Zahl der Beschäftigten bei Bosch, die gerade die 10.000er Marke überschritten hatte, ging 25 26 27 28

Robert Bosch, „Hat das arbeitsamste Volk Europas Grund zu verzweifeln?“, Manuskript [1931], RBA 14/409. Bosch an Theodor Heuss vom 3. Januar 1933, RBA 14 (Briefwechsel Bosch-Heuss). Vgl. Bosch an Paul Reusch vom 6. Juli 1932, RBA 14/112. Bosch, „Hat das arbeitsamste Volk Europas Grund zu verzweifeln?“.

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wieder zurück. Der signifikante Einbruch der Konjunktur zur Jahresmitte 1930 war zwar zunächst durch Kurzarbeit bewältigt worden, aber 1932 zählte die Belegschaft nur noch knapp über 8.100. Die Durchschnittsakkordverdienste lagen inzwischen nur noch wenig über den vergleichbaren Löhnen anderer Arbeitgeber im Stuttgarter Raum. Die inzwischen zu vernehmende Forderung nach Lohnerhöhungen als Mittel zur Ankurbelung der Wirtschaft, die zuletzt selbst Weggefährten wie der liberale Gewerkschaftsführer Anton Erkelenz erhoben, lehnte Bosch ab, sofern sie nicht an eine Produktivitätssteigerung gekoppelt war.29 Seine Sorgen ließen ihn im Frühjahr 1932 zu einer recht ungewöhnlichen Maßnahme greifen. Die eigenen Ideen zur Beendigung der wirtschaftlichen Spannungen stellte er in einer kleinen Studie über „Die Verhütung künftiger Krisen in der Weltwirtschaft“ vor, in der er für Freihandel, Liberalismus, Klassenverständigung, eine Arbeitszeitverkürzung von täglich acht auf sechs Stunden und Völkerverständigung warb. Boschs Zuversicht, es sei nötig, das Tal der Krise geduldig zu durchmessen, hat im Nachhinein etwas Bestechendes. Zum Zeitpunkt seines eindringlichen Plädoyers war der Scheitelpunkt der wirtschaftlichen Krise beinahe schon überschritten. Insofern hielt Bosch die Deflationspolitik Brünings für angemessen, weil diese darauf abzielte, die Exportindustrie als Motor des Wiederaufstiegs zu benutzen und gleichzeitig die strukturellen Probleme Deutschlands zu lösen. Ob Brünings Konzept überhaupt Chancen auf Erfolg gehabt hätte, ist umstritten. Sicherlich bedachte dieser zu wenig die sozialen Folgen seiner Wirtschaftspolitik. Aber die Argumentation Robert Boschs bot zumindest einen bedenkenswerten Ansatz für einen politisch-wirtschaftlichen Neuanfang auf Basis einer westeuropäischen Integration, deren Grundlage die Verständigung mit Frankreich sein musste. Ohne eine Verständigung mit Frankreich werde es weder ein Paneuropa noch einen „mitteleuropäischen Wirtschaftsblock“ geben. Der Ausgleich mit dem Nachbarn jenseits des Rheins, der nach Boschs Überzeugung mit psychologischem Geschick schon früher hätte erreicht werden können, sollte die Basis einer wirtschaftlichen Einigung mit Polen, der Tschechoslowakei, Österreich, Jugoslawien und dem Balkan sein, die ohne französische Zustimmung illusorisch sei. Als die zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Sommer 1932 am Genfer See geführten Reparationsverhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu gelangen schienen, schrieb er an einen Mitstreiter: „Wenn in Lausanne eine Verständigung mit Frankreich zustande kommt, die natürlich auch dann auf dem wirtschaftlichen Gebiet liegen muss, dann habe ich die feste Überzeugung, dass es bei uns wieder aufwärts gehen wird. Kommt eine Verständigung und zwar eine ernsthafte, eine wirkungsvolle nicht zustande, so weiß ich nicht, was werden soll.“30 Umfassendere Pläne hielt allerdings selbst er für politisch kaum durchsetzbar. Im Frühsommer 1932 belebte ein neues Element Boschs Politik. Er lernte den Schriftsteller und Journalisten Paul Distelbarth kennen, über den er die ermattete Völkerverständigungsbewegung zu beleben versuchte. Über die Kriegsteilnehmer29 30

Vgl. Erkelenz an Bosch vom 5. Januar 1932, Bundesarchiv Koblenz N 1072, Bd. 138. Bosch an Georg Escherich vom 17. Juni 1932, RBA 14/63.

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verbände, sozusagen „von Frontsoldat zu Frontsoldat“ sollte der Ausgleich zwischen den verfeindeten Nachbarn erreicht werden. Allerdings scheiterten diese Bemühungen angesichts der politischen Großwetterlage ebenso wie die Versuche, einen Kontakt zu Außenminister Konstantin von Neurath zu vermitteln. Distelbarths Presseartikel, die Bosch in den ihm zugänglichen Tageszeitungen veröffentlichen ließ, blieben folgenlos. Im Gegensatz zu Coudenhove-Kalergi, der auf diplomatischer Ebene wenigstens über einen gewissen Einfluss und Kontakte verfügte, konnte Distelbarth lediglich über Seitenwege seine Ideen vortragen. Wie aussichtslos Boschs Kurs war, zeigte sich, als er versuchte, einen einflussreichen Freund für Distelbarths Anliegen zu begeistern: Paul Reusch31, der Chef der Gutehoffnungshütte und ein typischer rheinischer „Ruhrkapitän“, reagierte ausgesprochen skeptisch. Nach der bitteren Erfahrung des „Ruhrkampfes“ mochte er nicht an eine französische Bereitschaft zum partnerschaftlichen Ausgleich glauben. Reuschs Konservatismus zeigte sich in einer harten Frontstellung gegen die Sozialdemokratie. Seine wenig konstruktive Kritik war typisch für die in weiten Kreisen der deutschen Wirtschaft vertretene Ansicht, die Weimarer Republik müsse ihrem Wesen nach in einen ganz anderen Staat verwandelt werden. Während er Robert Bosch nicht zu deutlich vor den Kopf stoßen wollte, schrieb er an Coudenhove-Kalergi wenig begeistert, die Paneuropa-Versuche seien zur Zeit „sinnlos“. Eine Möglichkeit habe lediglich unmittelbar nach dem Weltkrieg bestanden, aber diese Gelegenheit sei verpasst worden und werde erst nach einem zweiten Weltkrieg wiederkehren. Bosch hingegen wollte weiterhin jede noch so geringe Chance zu einer Verständigung nutzen. Trotz der bedrückenden Lage stellte er im November 1932 Außenminister Konstantin von Neurath und Reichskanzler Franz von Papen sogar Pläne einer allgemeinen Abrüstung vor. Aber die vorgeschlagene Idee von „Milizen“ nach Schweizer Vorbild war mit den deutschen Vorstellungen einer Rüstungsparität nicht zu vereinbaren. Mit Hitlers „Machtergreifung“ wurden alle Abrüstungs- und Verständigungspläne schließlich zu Makulatur. Noch später hat Bosch rückblickend die Haltung der Industrie kritisiert, die „ganz im Fahrwasser Hitlers“ segle. Besonders die Schwerindustrie trage schwere Schuld. Diese habe die Krise zu Anfang der 1930er Jahre nicht aus eigener Kraft überwinden können und sich daher „ganz in die Arme Hitlers geworfen“.32 Der „Machtergreifung“ im Frühjahr 1933 sah Bosch ebenso ohnmächtig zu wie dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund, dessen Tätigkeit er durch seine Mitarbeit in der „Deutschen Liga für den Völkerbund“ seit den frühen Jahren der Weimarer Republik zu fördern gehofft hatte. Mehrfach erhielt er Warnungen, er solle besser „untertauchen“, um einer Verhaftung zu entgehen. In die „innere Emigration“ wollte Bosch allerdings nicht gehen. Der Sommer des Jahres 1933 war für ihn durch Verunsicherung geprägt. Einerseits setzte er auf ein rasches „Abwirtschaften“ der Nationalsozialisten, andererseits wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, selbst über die NSDAP zu einem Ausgleich mit Frankreich zu kommen. 31 32

Zu Paul Reusch vgl. den Beitrag von Benjamin Obermüller in diesem Band. Willy Schloßstein, Einstellung des Herrn Robert Bosch und seiner Mitarbeiter zum Nazi-Regime, zit. nach Scholtyseck, Robert Bosch, S. 339. Vgl. ähnlich schon die Bemerkung Boschs gegenüber Ulrich von Hassell: Die Hassell-Tagebücher, hrsg. v. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Eintrag vom 11. August 1939, Berlin 1988, S. 107 f.

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Am 22. September 1933 kam es in Berlin sogar zu einer persönlichen halbstündigen Begegnung mit Adolf Hitler, in der es Bosch nicht gelang, seine Vorstellungen zur Völkerverständigung vorzutragen. Hitler hielt einen seiner berühmt-berüchtigten Monologe. Bosch war enttäuscht: Er fahre, so tat er wenig später kund, „nicht mehr irgendwo hin, um mir in einer Viertelstunde erzählen zu lassen, was man auch sonstwo lesen kann.“33 Im selben Brief machte er seinem Ärger über Paul von Hindenburg, Alfred Hugenberg und die konservative Kamarilla Luft: „Was hilft uns das Trara mit dem Bauerntum? Geholfen wird ihm nicht. Es wird beschwichtigt, und Agrariern und Schwerindustrie wird geholfen auf Kosten des Ganzen.“34 Seinem Privatsekretär gegenüber soll er sich über Hitler noch abfälliger geäußert haben: „Das will ein Staatsmann sein und er weiß nicht, was die Gerechtigkeit ist.“35 Der Unrechtscharakter des „Dritten Reiches“ kam am deutlichsten in der Verfolgung der Juden zum Ausdruck. Für Robert Bosch stellten nicht Herkunft und Religion, sondern Fähigkeit und Arbeitswillen die Maßstäbe des Handelns dar. Er blieb daher gegen jeglichen Judenhass immun. Er war wie sein engster Mitarbeiter und späterer Nachfolger, Hans Walz, seit 1926 Mitglied im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“.36 Die Bemühungen für die bedrängten Juden, die an dieser Stelle nicht ausführlich geschildert werden können, reichten von der Hilfe im Betrieb bis zu konspirativen Kontakten zum Berliner Präsidenten der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ und Oberrabbiner Leo Baeck. Walz wurde stellvertretend auch für Robert Bosch 1970 in der Gedenkstätte Yad Vashem vom Staat Israel als „Gerechter der Völker“ geehrt. Boschs Blick war in den Jahren der Weimarer Republik nach vorne gerichtet: Trotz aller offenkundigen Beschwernisse gehörte er zu den Optimisten, die an eine friedliche Zukunft glaubten. Wirtschaft und Politik waren für ihn untrennbar miteinander verbunden. Der Erfolg seines eigenen trotz aller Krisenerscheinungen prosperierenden Unternehmens und die Chancen einer ökonomischen Regeneration Deutschlands in einem von Zollschranken befreiten Europa gaben ihm Anlass zu Hoffnungen und auch deshalb blieb er gegen den Nationalsozialismus immun. Mehr noch: Sein Unternehmen wurde in diesen Jahren eine Anlaufstelle des Widerstandes gegen den Hitlerstaat. Wären die Grundzüge seines unternehmerischen Denkens in Deutschland in den Jahren der Weimarer Republik allgemein ebenso stark ausgebildet gewesen, dann wären trotz aller Krisen die Voraussetzungen einer Machtergreifung Hitlers weniger günstig gewesen, dann wäre, um an die Schwelle zum Spekulativen heranzutreten, auch die Durchsetzung eines totalitären Systems weniger reibungslos verlaufen. 33 34 35 36

Bosch an Walther Mauk vom 3. Oktober 1933, RBA 14/81. Ebd. Willy Schloßstein, Einstellung des Herrn Robert Bosch und seiner Mitarbeiter zum Nazi-Regime, zit. nach Scholtyseck, Robert Bosch, S. 593 f., Anm. 62. Zum Verein und Boschs Mitgliedschaft vgl. Barbara Suchy, The Verein zur Abwehr des Antisemitismus (II). From the First World War to its Dissolution in 1933, in: Leo Baeck Institute Year Book 30 (1985), S. 67–103; Hildegard Thevs, Eduard Lamparters Beitrag zur Abwehr des Antisemitismus, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 78 (1978), S. 146–186, bes. S. 148–150.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Bähr, Johannes / Erker, Paul, Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens, München 2013. Heuss, Theodor, Robert Bosch. Leben und Leistung, 10. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1987. Matschoß, Conrad (Hrsg.), Robert Bosch und sein Werk, Berlin 1931. Scholtyseck, Joachim, Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933–1945, München 1999. Scholtyseck, Joachim, Robert Bosch, die deutsch-französische Verständigung und das Ende der Weimarer Republik, in: Robert Bosch und die deutsch-französische Verständigung. Politisches Denken und Handeln im Spiegel der Briefwechsel. Bosch-Archiv Schriftenreihe, Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 44–116.

FRANZ URBIG (1864–1944) Martin L. Müller Franz Urbig war ein Aufsteiger, der aus seiner einfachen Herkunft nie ein Geheimnis machte. Seine Vorfahren waren Bauern und Handwerker. Sein Vater brachte es zum Werkmeister eines Industriebetriebs. 1864 wurde er im märkischen Luckenwalde geboren. Nach dem Anschluss an die Eisenbahnlinie Berlin-Halle hatte sich die Stadt zum Industriestandort, vor allem der Tuch- und Hutfabrikation, entwickelt und zählte in Urbigs Geburtsjahr rund 11.000 Einwohner, die größtenteils in den Industriebetrieben beschäftigt waren. Wie er wenige Jahre vor seinem Tod schrieb, sei ihm „später völlig klar geworden, daß Fabrikstädte dieser Art die Geburtsstätte der Sozialdemokratie gewesen sind“.1 Urbigs eigener Weg, diesem industriell-proletarischen Milieu zu entkommen, bestand jedoch nicht darin, die bestehenden sozialen Verhältnisse durch politisches Engagement zu ändern. Er suchte und fand sein Heil im sozialen Aufstieg. Dieser führte ihn von der Schreibstube des Amtsgerichts Luckenwalde bis an die Spitze der deutschen Hochfinanz – eine Karriere, die zu Recht als „eine sogar für Berliner Verhältnisse ganz ungewöhnliche“ bezeichnet wurde.2 Urbigs überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten hatte bereits der Rektor der gehobenen Bürgerschule erkannt und gefördert. Nachdem sein Vater schon mit 48 Jahren verstorben war, musste Urbig jedoch früh seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen. Fünf Jahre verbrachte er beim Amtsgericht Luckenwalde ohne Aussicht auf ein Vorankommen. Als Ferdinand von Hansemann, der Sohn des Chefs der Disconto-Gesellschaft, für kurze Zeit als Referendar am Amtsgericht Luckenwalde tätig war, bat ihn Urbig, eine Anstellung bei der väterlichen Bank zu vermitteln. Im Juli 1884 konnte er tatsächlich in die Dienste der Disconto-Gesellschaft, der damals führenden deutschen Großbank, eintreten. Es war der entscheidende Schritt für seine spätere Laufbahn. Zunächst durchlief Urbig aber auch in der DiscontoGesellschaft eine mehrjährige Ochsentour. Er arbeitete in verschiedenen Abteilungen, bis er in die Registratur des sogenannten Chefkabinetts versetzt wurde, wo die Konsortial- und Kapitalmarktgeschäfte betreut wurden. Durch die Tätigkeit in diesem Büro kam er täglich in Kontakt mit dem obersten Führungskreis der Bank, den Geschäftsinhabern. Deren kaufmännischer Scharfsinn und ihr gesellschaftliches Auftreten prägten ihn. Zugleich wusste er diese Stellung zu nutzen, um erste Auslandserfahrungen zu sammeln und die großen Kunden der westfälischen Schwerin1 2

Franz Urbig, Meine Berufszeit vom 15. Juli 1884 bis Dezember 1902, in: Historische Gesellschaft der Deutschen Bank (Hrsg.), Franz Urbig. Aus dem Leben eines deutschen Bankiers, Frankfurt/Main 2014, S. 43. Ernst Friedegg, Millionen und Millionäre. Wie die Riesen-Vermögen entstehen, Berlin-Charlottenburg 1914, S. 33 f.

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dustrie kennenzulernen. 1891 wechselte Urbig auf Anraten eines Geschäftsinhabers in die Devisenabteilung. In dieser Hohen Schule des internationalen Bankgeschäfts ging er ganz auf. Schon nach kurzer Zeit vertrat er den Leiter der Devisenabteilung in der Bank und an der Börse. Den letzten Schritt in die vorderen Reihen des deutschen Bankwesens ermöglichte ihm die Deutsch-Asiatische Bank, eine Konsortialbank mit Hauptsitz in Schanghai, die 1889 von einem Konsortium der führenden deutschen Kreditinstitute gegründet worden war. Urbig erhielt Prokura dieser Bank und wurde Ende 1894 in Schanghai für sie tätig. Schon im darauf folgenden Jahr übernahm er die Leitung ihrer zweiten chinesischen Niederlassung in Tientsin, womit auch die Ernennung zum stellvertretenden Vorstandsmitglied verbunden war. Hier gelang Urbig sein Meisterstück in der Königsdisziplin des Bankfachs, der internationalen Staatsfinanzierung. Die Hongkong and Shanghai Banking Corporation und die Deutsch-Asiatische Bank hatten sich zu einem Konsortium für asiatische Geschäfte zusammengeschlossen, das der chinesischen Regierung die Übernahme einer Anleihe über £ 16 Millionen anbot. Das Geschäft wurde vom englischen Leiter der Pekinger Filiale der Hongkong Bank und von Urbig, als Vertreter der deutschen Interessen, verhandelt und im März 1896 erfolgreich abgeschlossen. Es war überhaupt die erste chinesische Anleihe, an der Deutschland beteiligt war, und eine Demonstration der Stärke des deutschen Kapitalmarkts. Urbig wurde für diesen Erfolg mit der Ernennung zum Vorstandsmitglied der Deutsch-Asiatischen Bank belohnt. In Ostasien knüpfte Urbig außerdem enge Beziehungen zu einer Bremer Kaufmannsfamilie. Ernst Seebeck vertrat jahrzehntelang die Bremer Handelsfirma Schröder & Smidt in Asien, insbesondere in Kalkutta. Dessen Tochter Dorothea heiratete Urbig 1907. Durch die Verbindung mit der Familie Seebeck fand Urbig Zugang zu alteingesessenen hanseatischen Kaufmannkreisen und verband so beruflichen mit gesellschaftlichem Aufstieg. Einige Jahre nach seiner Heirat demonstrierte er seine Stellung durch den Bau eines bemerkenswerten Sommersitzes. Mitten im Ersten Weltkrieg beauftragte er den damals noch unbekannten Architekten Ludwig Mies van der Rohe am Griebnitzsee in Neubabelsberg eine standesgemäße Villa zu errichten. Ein moderner, eingeschossiger Entwurf mit Flachdach wurde von Urbig und seiner Frau verworfen, stattdessen favorisierten sie einen repräsentativen neo-klassizistischen Bau mit Erker, Loggia und äußeren Stuck- und Steinmetzarbeiten über den Fenstern. Im Sommer 1900 kehrte Urbig endgültig aus Asien nach Europa zurück. Schon im September des gleichen Jahres wurde ihm angeboten, in die Leitung der Londoner Filiale der Disconto-Gesellschaft einzutreten. Diese Niederlassung bestand zwar erst seit einem Jahr, doch Urbig zögerte keinen Moment dem Ruf zu folgen; zu verlockend war die Aussicht in der Weltfinanzhauptstadt wirken zu können. Wenn auch diese Station nur von kurzer Dauer war, erwarb er Einsichten, die, wie er selbst betonte, „die Beurteilung mancher Frage doch später wesentlich erleichterte“.3 Ende des Jahres 1900 wurde Urbig ins Direktionsbüro der DiscontoGesellschaft nach Berlin zurückgeholt, wo er die internationale Handelsfinanzie3

Urbig, Meine Berufszeit, S. 80.

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rung der Disconto-Gesellschaft ausbaute. Es war die Zeit, in der Wechsel in deutscher Währung international größere Bedeutung erlangten.4 Dieses wenig spektakuläre, aber lukrative Geschäft wurden neben der Emission internationaler Anleihen zur zweiten Domäne Urbigs. Sein Ruf auf diesem Gebiet war so legendär, dass das Bonmot umging: „Was ein Rembourskredit ist, hat Hansemann erst von Urbig erfahren.“5 Längst war man auch an anderer Stelle auf ihn aufmerksam geworden. Hermann Wallich, Gründungsvorstand und inzwischen Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank, bot ihm 1902 an, in die Leitung der Deutschen Bank einzutreten. Wohl aus Loyalität zur Disconto-Gesellschaft lehnte Urbig ab, vergaß aber nicht, einem der Geschäftsinhaber von dem Angebot Kenntnis zu geben. Noch am Ende des gleichen Jahres wurde seine Treue belohnt; die Geschäftsinhaber nahmen ihn in ihren exklusiven Kreis auf. Als persönlich haftender Gesellschafter der noch immer angesehensten privaten Geschäftsbank war Urbig an der Spitze des deutschen Bankenwesens angekommen. Urbigs Hauptaufgabe als Geschäftsinhaber war die gemeinsam mit Ernst Enno Russell ausgeübte Leitung des Direktionsbüros, dem das laufende Bankgeschäft unterstand. Dazu zählte unter anderem auch die Tätigkeit des Börsen- und des Wechselbüros. Durch die Zuständigkeit für das Börsenbüro war er auch mit internationalen Wertpapieremissionen befasst, die federführend im Chefkabinett betreut wurden. Nach dem Tod Alexander Schoellers 1911 wurde Urbig auch diese Aufgabe übertragen. Seine Erfahrungen mit den chinesischen Anleihen kamen hier zum Tragen. Eng verbunden blieb er mit der ihm besonders nahestehenden Deutsch-Asiatischen Bank. Von 1910 bis 1944 war er Aufsichtsratsvorsitzender dieses Instituts. Inzwischen galt er von allen Geschäftsinhabern der Disconto-Gesellschaft als „der begabteste“, als der mit dem „weitesten Blick“.6 Wie bei keinem anderen Geschäft betraten die Beteiligten bei internationalen Anleihen das Feld der großen Politik. Mit Besorgnis beobachteten die führenden deutschen Bankiers die wachsenden außenpolitischen Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem die Krisen in Marokko und auf dem Balkan. Vorherrschend war die Befürchtung, dass diese Krisen nicht mehr kontrolliert und in einen großen Krieg münden könnten. Als „Außenminister“ der Disconto-Gesellschaft war sich Urbig dieser Gefahr bewusst. Nach dem Krieg schrieb er: „Wir Kaufleute, die wir doch genügend Gelegenheit hatten, uns im Auslande umzusehen, hätten während der letzten Jahre vor dem Kriege schon geradezu mit Blindheit geschlagen sein müssen, wenn wir nicht gesehen hätten, wie sich langsam von verschiedenen Seiten her die drohenden Wolken über Deutschland zusammenzogen.“7 Als die Weltkriegs-Katastrophe eintrat, war Urbig in seinem fünfzigsten Lebensjahr. Innerhalb weniger Tage brachen im Sommer 1914 die Verbindungen einer weltweit vernetzten Wirtschaft ab. Urbig verlor damit sein wichtigstes Betätigungsfeld. Erstmals war sein Wirken national begrenzt. Politisch wollte er sich der allge4 5 6 7

Franz Urbig, Die Vorkriegsgründungen deutscher Bank und Bankfilialen im Ausland, in: Der Deutsche Volkswirt (1936), S. 25. Zit. nach Maximilian Müller-Jabusch, Franz Urbig, 2. Aufl., Berlin 1954, S. 71. Friedegg, Millionen und Millionäre, S. 33. Franz Urbig, Passionszeit, in: Bank-Archiv 10/13 (1921), S. 185.

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meinen Tendenz zum Burgfrieden der wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte nicht verschließen und trat der „Deutschen Gesellschaft von 1914“ bei. Er stellte sich für die Aufsichtsräte der Baumwoll-Import-Gesellschaft 1915 mbH in Bremen und der Kriegsleder-AG in Berlin – zwei der für die Rohstoffbewirtschaftung gegründeten Kriegsgesellschaften – zur Verfügung. Einer seiner Kollegen bei der letztgenannten Gesellschaft war der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger. Das Kriegsende führte den Berufspolitiker und den bis dahin rein wirtschaftlichen engagierten Bankier an anderer Stelle wieder zusammen. Erzberger, inzwischen Staatssekretär und Chef der zivilen Waffenstillstandskommission, unterzeichnete am 11. November 1918 den Waffenstillstand, der die Blockade Deutschlands jedoch nicht beenden konnte. Bei den anschließenden Verhandlungen über die Lebensmittelversorgung wurde Urbig erstmals als Sachverständiger hinzugezogen. Er war Mitglied der Unterkommission für Finanzen. Was bewog ihn, sich auf das ungewohnte politische Terrain zu begeben? Pflichterfüllung in Zeiten nationaler Not war sicher ein wesentliches Motiv. Zugleich bot sich die Möglichkeit, den neuen Staat mitzugestalten und damit aus seiner Sicht Schlimmeres zu verhindern. Es ist nicht bekannt, dass Urbig dem Ende der Monarchie nachtrauerte. Sein Aufstieg war zu steil, zu sehr auf eigener Leistung beruhend, als dass er einem System durch Geburt ererbter Vorrechte große Sympathie entgegenbringen konnte. Auch machte er die aggressive Außenpolitik Wilhelms II., mit dessen Thronbesteigung „eine Periode weiser Mäßigung in der öffentlichen Ausstellung der Kräfte Deutschlands“ zu Ende gegangen sei, für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mitverantwortlich.8 Was aber er und viele andere hochrangige Wirtschaftsvertreter positiv mit dem Kaiserreich verbanden, war Stabilität und unternehmerische Freiheit. Beides war nun massiv bedroht. Die Finanz-Verhandlungen wurden Mitte Februar 1919 im amerikanischen Hauptquartier in Trier aufgenommen. Den Eindruck, den Urbig dort gewann, beraubte ihn aller Illusionen einer amerikanischen Unterstützung für deutsche Positionen. Der letzte Verhandlungsabschnitt fand am 13. und 14. März 1919 in Brüssel statt und endete mit dem Brüsseler Abkommen. Schmerzhaft waren die Zahlungsbedingungen für gelieferte Lebensmittel: Die Entente bestand auf Bezahlung in Gold und ausländischen Wertpapieren, die im Voraus zu entrichten waren. Zahlungen in deutscher Währung wurden abgelehnt. Die Verhandlungsatmosphäre war für Urbig bedrückend. Belgischer Delegierter war mit Emile Francqui ein langjähriger Geschäftsfreund, nunmehr Staatsminister, der so tat, als hätte er Urbig nie gekannt. Auch der Vorsitzende der Finanzkommission, kein Geringerer als John Maynard Keynes, war nach Urbigs Erleben grob und habe gelegentlich auf den Tisch geschlagen.9 Die Ächtung, die man ihm als Angehörigem der deutschen Nation auferlegte, wollte Urbig den Siegern nicht verzeihen. Noch Jahre später äußerte er verbittert, dass die „Konferenzen von 1918–1921, zu Erfahrungen führten, die [ihn] daran hinderten […] andere als geschäftliche und korrekte Beziehungen zu halten“.10 8 9 10

Franz Urbig, Finanzprobleme der Gegenwart, in: Berliner Börsen-Zeitung 189 (23. April 1922). Müller-Jabusch, Urbig, S. 126. Urbig an Erich von Salzmann vom 18. März 1930, in: Historisches Archiv der Deutschen Bank

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Trotz dieser Enttäuschungen stellte sich Urbig immer wieder als Sachverständiger zur Verfügung. Am 24. März 1919 wurde der deutschen Waffenstillstandskommission der Beschluss der Alliierten mitgeteilt, dass ein kleiner Finanzausschuss nach Versailles entsandt werden konnte, um mit der Finanzabteilung des Obersten Wirtschaftsrats alle wichtigen Finanzfragen zu beraten. Als deutsche Delegierte wurden von der Reichsregierung die Bankiers Carl Melchior als Vorsitzender, Max Warburg, Emil Georg von Stauß, Franz Urbig, der Inhaber der Metallgesellschaft Richard Merton und der Diplomat Kurt von Lersner bestimmt. Doch deren Verhandlungsposition wurde von vornherein dadurch geschwächt, dass der unter Erfolgsdruck stehende Erzberger öffentlich verbreiten ließ, dies sei der Beginn von Friedensverhandlungen. Daraufhin ließ die französische Regierung die aus Weimar anreisenden deutschen Delegierten nicht nach Versailles fahren, sondern nach Château de Villette, etwa 50 Kilometer nördlich von Paris bringen, wo sie vollkommen abgeschottet unter militärischer Bewachung standen. Die Gespräche kamen nur schleppend in Gang. Während sich in Deutschland die Ereignisse überschlugen, in München die Räterepublik ausgerufen wurde, im Ruhrgebiet die Bergarbeiter und in Berlin die Bankangestellten streikten, erarbeitete die Delegation Vorschläge für künftige deutsche Zahlungen. Die Gespräche blieben jedoch ergebnislos. Mitte April 1919 kehrte die Finanzdelegation nach Deutschland zurück. Ende April reiste die personell unveränderte Finanzkommission als Teil einer 180-köpfigen deutschen Delegation wieder nach Frankreich, diesmal tatsächlich nach Versailles. Dort wurden ihr am 7. Mai 1919 die Friedensbedingungen der Alliierten überreicht. Die deutsche Seite antwortete Ende Mai 1919 mit Gegenvorschlägen und einer Stellungnahme der Finanzkommission. Ihr Ziel war, durch das Angebot einer möglichst hohen Reparationszahlung von 100 Milliarden Goldmark die sonstigen wirtschaftlichen Einschränkungen, die der Vertragsentwurf vorsah, auszuhebeln, um die finanzielle Leistungsfähigkeit Deutschlands zu erhalten. Am 16. Juni 1919 erhielt die deutsche Delegation die nahezu unveränderte endgültige Vertragsfassung und ein Ultimatum zu deren Annahme. In Weimar versuchten die Finanz- und Wirtschaftsexperten die Regierung von der Notwendigkeit einer Ablehnung des Vertrages zu überzeugen. In der von Urbig mitunterzeichneten Erklärung hieß es: „Die Sachverständigen sind einstimmig der Überzeugung, daß diese Bedingungen unerfüllbar sind und den völligen wirtschaftlichen Ruin Deutschlands herbeiführen müssen.“11 Ihr Appell blieb wirkungslos. Urbig resignierte und legte am 21. Juni 1919 mit zwei weiteren Sachverständigen sein Amt nieder: In der Begründung dieses Schritts argumentierten sie: „Dieser Friede, nachdem Deutschland durch die Waffenstillstandsbedingungen wehrlos gemacht worden war, ist Deutschland mit der Pistole auf der Brust aufgezwungen worden; er ist kein Verständigungsfriede; für die Tätigkeit von Sachverständigen ist daher kein Raum.“12 Einen Tag später stimmte die Nationalversammlung für die Annahme des Vertrages, der am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichnet wurde und Anfang 1920 in Kraft trat.

11 12

(HADB), P24474. Zit. nach Max M. Warburg, Aus meinen Aufzeichnungen, Glückstadt 1952, S. 86. Zit. nach Müller-Jabusch, Urbig, S. 141.

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Bei der Konferenz in Spa im Juli 1920, bei der deutsche Vertreter erstmals mit den Siegermächten an einem Verhandlungstisch saßen, gehörte Urbig erneut zum Kreis der deutschen Sachverständigen. Einer der Hauptstreitpunkte waren die geforderten Kohlelieferungen nach Frankreich und die drohende Besetzung des Ruhrgebiets bei deren Nichterfüllung. Als der zum deutschen Sachverständigenkreis gehörende Hugo Stinnes13 in einer provozierenden Rede die alliierten Forderungen zurückwies, war Urbig der einzige nicht aus der Schwerindustrie stammende Wirtschaftsvertreter, der ihn unterstützte. Moritz Bonn, Emil Georg von Stauß, Carl Melchior, Bernhard Dernburg und Walther Rathenau waren anderer Meinung und setzten sich durch. Was bewog Urbig zu dieser Position? In seinen Augen beruhte der Versailler Vertrag ausschließlich auf dem politischen Axiom der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands, das deshalb „die ganze Kriegsrechnung zu bezahlen“ habe. 14 Nach wirtschaftlichen Grundsätzen hielt er die geforderten Reparationsleistungen für unerfüllbar, da sie die Leistungsfähigkeit Deutschlands weit überstiegen. Es erschien ihm daher unnütz, über Größenordnungen und Zahlungszeiträume zu verhandeln, solange es das politische Ziel der Sieger sei, Deutschland niederzuhalten. Besetzungen deutscher Städte, womit unerfüllten Forderungen Nachdruck verliehen werden sollte, betrachtete er als durch den Versailler Vertrag nicht gedeckte Gewaltakte. Im Kern sollte Urbigs Unterstützung für Stinnes wohl ein innenpolitisches Signal setzen. In einer einmütigen politischen Zurückweisung der alliierten Forderungen sah er die Chance zu deren Revision. Er verachtete es, diesen Forderungen aus innenpolitischen oder parteipolitischen Motiven nachzugeben, womit Erzberger gegenüber Urbig die Zustimmung zum Versailles Vertrag begründet hatte.15 Mit dem Parteiensystem, das den Obrigkeitsstaats des Kaiserreichs abgelöst hatte, konnte er sich wie viele Unternehmer nicht anfreunden. Zwar nahm er als Sachverständiger an weiteren Reparationskonferenzen wie 1920 in Brüssel und 1921 in London teil, doch seine weiter vorgetragenen Warnungen vor den zerstörerischen Folgen der geforderten Reparationen, blieben wirkungslos. In seinem Einsatz für die wirtschaftliche Stabilisierung wandte sich Urbig nicht nur entschieden gegen die Reparationen, auch die von der Republik eingeleitete Sozialpolitik lehnte er vehement ab, da sie in seinen Augen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den unternehmerischen Handlungsspielraum verringerte. Wie weite Teile der Wirtschaftselite, die bereits im Kaiserreich unternehmerische Spitzenpositionen begleitet hatten, verurteilte er jegliche Verstaatlichungstendenzen, sozialpolitische Wohltaten und Streiks scharf. Im Oktober 1920 machte er gegenüber den Delegierten des Deutschen Bankiertages in Berlin deutlich, „daß wir in der sozialen Gestaltung unserer Wirtschaft keine Experimente machen [dürften], wie z. B. die Sozialisierung von Betrieben“. Die „Hebung der Produktion“ und „die Verminderung der für ein verarmtes Land ins Ungeheure gewachsenen Beamtenzahl“ seien notwendige Akte der Selbsthilfe.16 Ebenso eindeutig wandte 13 14 15 16

Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band. Urbig, Passionszeit, S. 185 ff. Müller-Jabusch, Urbig, S. 140. Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Bankiertages, Berlin und Leipzig 1920, S. 186.

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sich Urbig auch gegen den im November 1918 eingeführten Achtstundentag: „Das größte Aktivum in Deutschland war neben Kohle, Eisen, Kali sein Fleiß und seine in wirtschaftlicher Disziplin hoch entwickelte Arbeitskraft. Hätte schon in glücklicheren Zeiten die Verminderung dieses Aktivum um reichlich ein Viertel die Blüte unserer Entwicklung knicken können, so mußte sie nach einem verlorenen Kriege in dem von Vorräten entblößten Deutschland zu einer Katastrophe anwachsen. Die subjektive Arbeitsleistung unter die Grenzen des Erträglichen zu senken und die Entlohnung für den Rest der Arbeit über die Grenze des Erträglichen zu steigern ist eine Maßnahme, über deren Wirkung sich die Führer der Masse keine genügende Vorstellung machen.“17 Den Zerfall der deutschen Währung erkannte Urbig früh, und es fiel ihm nicht schwer, die Gründe zu benennen: Der verlorene Krieg, die sozialen Folgelasten der Revolution, die Ruhrbesetzung und das „Notgeldverbrechen“.18 Nachdem die Hyperinflation astronomische Ausmaße erreicht hatte, war Urbig an der Stabilisierung der Währung durch die Schaffung der Rentenmark beteiligt. Sein Ruf als Währungsexperte war so ausgezeichnet, dass ihm Reichsfinanzminister Hans Luther am 10. November 1923 das neugeschaffene Amt des Reichswährungskommissars anbot, das mit weitreichenden währungspolitischen Vollmachten ausgestattet worden war. Urbigs an Reichskanzler Stresemann gerichtete Antwort war jedoch an unannehmbare Bedingungen geknüpft: Befreiung von den Reparationslasten und rücksichtsloser „Abbau der sogenannten sozialen, in Wirklichkeit aber rein sozialistischen Errungenschaften der Revolution“.19 Unter letzterem verstand er insbesondere die Wiedereinführung des Zehnstundentages. Dass dies das Reich in einen Generalstreik gestürzt hätte, war Urbig nicht bewusst oder er glaubte, einen solchen Konflikt in Kauf nehmen zu müssen, weil er überzeugt war, man müsse sich bei dieser wichtigen Frage „von dem Geschrei der Straße“ freimachen.20 Für die Reichsregierung war diese Forderung ebenso unrealistisch wie die Zurückweisung der Reparationszahlungen. Zum Währungskommissar ernannte sie daher am 12. November 1923 den politisch wesentlich geschmeidigeren Hjalmar Schacht. Nach der Einschätzung Moritz Bonns verfügte Urbig zwar über Fachkenntnisse und eine starke Persönlichkeit, doch sei er immer Interessenvertreter geblieben. Niemals habe er warnend seine Stimme gegen die Zerstörung der deutschen Währung erhoben, von der die einflussreichsten Kreise in Deutschland profitiert hätten. Stattdessen habe er die Ansicht vertreten, dass nur die Vernichtung der deutschen Währung und der deutschen Wirtschaft die Lösung der Reparationsfrage möglich mache.21 Auch in späteren Jahren, als für eine bürgerliche Einheitsfront geworben wurde, lehnte Urbig ein politisches Engagement entschieden ab, fürchtete er doch von den „parteipolitischen Repräsentanten […] an die Wand gedrückt“ zu werden. Unmiss17 18 19 20 21

Ebd., S. 189 Urbig an Gustav Stresemann, zit. nach Müller-Jabusch, Urbig, S. 165. Ebd., S. 168. Franz Urbig, Fragen der Währungspolitik, in: Bank-Archiv 23/2 (1923), S. 14. Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, New York 1993, S. 823.

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verständlich erklärte er 1930 „Eine derartige Rolle zu spielen, liegt ausserhalb meiner Neigungen […]“.22 Seine Rolle blieb weiterhin eine beratende. Den angebotenen Sitz im Verwaltungsrat der neuen Rentenbank nahm er an und vertrat dort eine Politik des knappen Geldes. Er wandte sich gegen eine Ausweitung der festgelegten Kreditsumme von 1,2 Milliarden Rentenmark an das Reich. Das Vertrauen, das die neue Währung bei der Bevölkerung fand, bestätigte diese Position. 1924 wurde Urbig auch in den neugebildeten Generalrat der Reichsbank berufen, dem mit Louis Hagen23, Franz von Mendelssohn, Max Warburg und Oscar Wassermann weitere Spitzenvertreter deutscher Banken, aber auch Finanzexperten alliierter und neutraler Staaten angehörten. Ebenso war er bei der Deutschen Golddiskontbank, die 1924 entstand, um den devisenabhängigen deutschen Außenhandel wieder in Gang zu bringen, im Aufsichtsrat vertreten. Wenn er sich auch wie beim Bankiertag 1920 deutlich gegen die Sozialisierung von Betrieben und generell gegen den Staat als Unternehmer ausgesprochen hatte, so hinderte ihn dies nicht, bei einem der größten staatlichen Unternehmen im Aufsichtsrat mitzuwirken. Als im März 1923 die Industriebesitzungen des Reiches in der neu gegründeten Vereinigten Industrie-Unternehmungen AG (VIAG) zusammengeführt wurden, war Urbig einer der vier Vertreter der privaten Berliner Großbanken. Diese Konstellation führte dazu, dass die Großbanken-Vertreter mit der zur VIAG gehörenden Reichs-Kredit-Gesellschaft einen zunehmend wichtiger werdenden Konkurrenten kontrollierten. Urbig muss sich dieses Widerspruchs zu seinen Prinzipien bewusst gewesen sein. Seinem Hamburger GeschäftsinhaberKollegen Max von Schinckel versicherte er 1927, dass er bereit sei, sich aus der VIAG zurückzuziehen, wenn sich auch die Vertreter der übrigen Banken zu diesem Schritt entschließen könnten.24 Ein solch allgemeiner Verzicht entsprach jedoch kaum den Interessen aller Beteiligten, so dass die Situation so blieb wie sie war. Urbig gehörte dem Aufsichtsrat der VIAG bis zu seinem Tod an. Einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Tätigkeit widmete Urbig in der Zwischenkriegszeit Ansprüchen auf deutsches Vermögen im Ausland. Dazu gehörten neben den Kolonialgesellschaften, in denen er sich bereits vor 1914 engagiert hatte, insbesondere die Interessen der Gläubiger des ehemaligen Österreich-Ungarns, des vorrevolutionären Russlands und Chinas. Diese Staaten hatten u. a. auf dem deutschen Kapitalmarkt Anleihen emittiert, über deren Ablösung unter den völlig veränderten politischen Bedingungen der Nachkriegszeit heillose Verwirrung herrschte. Aufgrund der führenden Position, die die Disconto-Gesellschaft bei vielen österreichisch-ungarischen Anleihen eingenommen hatte, fiel Urbig die Aufgabe zu, den Vorsitz des 1924 gegründeten „Vereins zur Wahrnehmung der Interessen deutscher Eigentümer von Anleihen der ehem. Österreich-Ungarischen Monarchie“ zu übernehmen. Als deutscher Vertreter gehörte er auch der internationalen Interessenvertretung an, die sich zur gleichen Zeit in Paris gebildet hatte. Urbig war es auch, der 22 23 24

Urbig an Karl L. Pfeiffer vom 8. Februar 1930, HADB, P24474. Zu Louis Hagen vgl. den Beitrag von Ulrich S. Soénius in diesem Band. Manfred Pohl, VIAG AG 1923–1998. Vom Staatsunternehmen zum internationalen Konzern, München 1998, S. 56 f.

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sich für die Disconto-Gesellschaft um die Freigabe des während des Krieges in den USA beschlagnahmten Vermögens kümmerte. Es war ein mühsames Aufsammeln der zerbrochenen Scherben, um zu retten, was noch zu retten war. Urbig, als einer der besten Kenner des internationalen Geschäfts, stellte sich zwar pflichtbewusst in den Dienst dieser Bemühungen, konnte darin aber kaum jene Befriedigung und Anerkennung finden, die mit der Anbahnung bedeutender Kapitalmarkttransaktionen verbunden waren. Neuordnung war auch in der Industrielandschaft gefragt. An einem der bedeutendsten Fälle war Urbig als Aufsichtsratsmitglied der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks-Gesellschaft beteiligt. Das zum Konzern von Hugo Stinnes gehörende Unternehmen verlor nach dem Krieg Bergwerke und Produktionsanlagen in Luxemburg und in Lothringen. Eine Neuausrichtung gelang 1920 durch die Interessengemeinschaft Rhein-Elbe-Union mit der Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft und dem Bochumer Verein, die 1926 in die Gründung der Vereinigten Stahlwerke mündete. Ein weiteres Sorgenkind war die Deutsch-Asiatische Bank, die Urbig durch seine China-Jahre besonders am Herzen lag. Ihre Filialen im englischen Einflussbereich waren 1914 sofort geschlossen worden und wurden in der Zwischenkriegszeit nicht wiedereröffnet. In China nahm die Bank nach mehrjähriger Unterbrechung ihre Tätigkeit wieder auf, konnte jedoch nicht an das Niveau der Vorkriegszeit anknüpfen. Auch Urbig scheiterte, der Bank wieder Zugang zu internationalen Anleihekonsortien zu verschaffen. Noch skeptischer beurteilte er die geschäftlichen Aussichten in Japan: „Die Bank unterhielt vor dem Weltkrieg eine Niederlassung in Yokohama, die zunächst von seiten der japanischen Behörden mit dem Kriegszustand zusammenhängenden Massnahmen betroffen und sodann durch das grosse Erdbeben vernichtet wurde. In Kobe haben wir nachher noch einige Jahre die Tätigkeit der Bank fortgesetzt, schließlich aber nach nicht nur trüben, sondern auch kostspieligen Erfahrungen das schöne Land Japan mit dem Gefühl verlassen: ‚Wanderer, wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung draussen.‘“25 Auf die große internationale Bühne trat Urbig ein letztes Mal, als im Zuge der deutschen Bankenkrise im Sommer 1931 das Reich seinen ausländischen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte und in Stillhalteverhandlungen mit den Gläubigern eintrat. Das Stillhalteabkommen, das daraus hervorging und von Jahr zu Jahr verlängert wurde, sah die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichts vor, um Streitigkeiten zu klären. Die Mitglieder wurden von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich ernannt. Zum Vorsitzenden berief sie den schwedischen Bankier Marcus Wallenberg und als weitere Mitglieder den Amerikaner Thomas McKittrick Jr. und als deutschen Vertreter Franz Urbig. Die strukturellen Probleme des Bankgeschäfts in der Zwischenkriegszeit führten zu einem starken Fusionsdruck auf die führenden Institute, der durch das Zusammengehen wichtiger Industriekunden zusätzlich erhöht wurde. Spekulationen über Zusammenschlüsse zwischen den Großbanken waren daher in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre an der Tagesordnung. Erste Sondierungen über eine Fusion 25

Urbig an Emil Puhl vom 12. Januar 1942, HADB, K7/26/IV/5.

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zwischen der Disconto-Gesellschaft und der Deutschen Bank sind für den Herbst 1926 nachweisbar.26 Wie der langjährige Pressereferent der Deutschen Bank Maximilian Müller-Jabusch – wohl gestützt auf Urbigs Erzählung – berichtet, sei Urbig Ende 1927 vom Vorstandssprecher der Deutschen Bank Oscar Wassermann die Fusion der beiden Banken vorgeschlagen worden. Man habe die Sache eingehend besprochen, wegen Bedenken Urbigs aber nicht weiterverfolgt.27 Erst im Sommer 1929 wurden die Gespräche von seinem Geschäftsinhaber-Kollegen Eduard Mosler und vom Deutsche-Bank-Vorstand Oscar Schlitter wieder aufgenommen und zum Erfolg geführt. Für das Einlenken der Disconto-Gesellschaft war nicht zuletzt die realistische Einschätzung ausschlaggebend, dass ein Zurückfallen nicht nur hinter die Dresdner Bank und Danatbank drohte, selbst die Commerzbank war ihr nach der Übernahme der Mitteldeutschen Creditbank in wichtigen Kennziffern sehr nahe gekommen. In dem unter dem Namen „Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft“ vereinten Institut trat Urbig zunächst in den Aufsichtsrat ein, um schon 1930, nach dem Tod von Arthur Salomonsohn, gemeinsam mit Max Steinthal den Vorsitz dieses Gremiums zu übernehmen. Steinthal blieb noch bis zur Hauptversammlung 1933 im Amt28, danach teilten sich nacheinander Oscar Schlitter und Eduard Mosler mit Urbig den Vorsitz im Aufsichtsrat. Von 1939 bis 1942 stand Urbig schließlich allein an der Spitze des Aufsichtsgremiums, um zuletzt zum Ehrenvorsitzenden des Aufsichtsrats der Deutschen Bank ernannt zu werden. Im Oktober 1937 änderte das fusionierte Institut seinen Namen in die einfachere Firma „Deutsche Bank“. Auch wenn Urbig einräumte, von Anfang an damit gerechnet zu haben, dass dieser Schritt früher oder später käme, so kann er ihm nicht leicht gefallen sein. Seine gesamte Karriere über 45 Jahre hatte er in der Disconto-Gesellschaft verbracht. Urbig verstand sich stets als „erster Diener“ seiner Bank. Nach dieser Maxime stellte er auch bei dieser Frage die allgemeinen Interessen über seine persönlichen: „Ich hatte aber zu wählen zwischen meinen persönlichen Empfindungen und meiner Verpflichtung als Vorsitzender des Aufsichtsrates, der zu einer objektiven Stellungnahme schreiten muss, wenn er einem einmütigen Vorschlage aller Mitglieder des Vorstandes gegenübersteht.“29 Gravierender war der Konflikt, bei dem Urbig zwischen der Loyalität zu seiner Firma und langjährigen Weggefährten entscheiden musste. Die politischen Signale, welche die an die Macht gelangten Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 mit Boykottaufrufen und dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aussandten, waren zu eindeutig, um noch als Propaganda missverstanden zu werden. Georg Solmssen, Vorstandsmitglied der Bank, verlangte von ihm bereits Anfang 26 27 28 29

Aktenvermerk von Georg Solmssen vom 16. September 1926, HADB, NL3/79, abgedruckt in: Harold James / Martin L. Müller (Hrsg.), Georg Solmssen. Ein deutscher Bankier. Briefe aus einem halben Jahrhundert, München 2012, S. 235–238. Müller-Jabusch, Urbig, S. 190. Als Hauptmotiv für Steinthals Rückzug vom Vorsitz zum Mitglied des Aufsichtsrats kann sicher seine jüdische Abstammung gelten, hinzu kam sein hohes Alter von 82 Jahren. Urbig an Georg Solmssen vom 13. September 1937, HADB, NL3/53, abgedruckt in: James/ Müller, Georg Solmssen, S. 441.

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April 1933 eine Entscheidung, womit er zu rechnen habe: kollegiale Unterstützung oder Hinausdrängen.30 Urbig wich einer direkten Stellungnahme aus, zumal die Frage der Zukunft des Vorstandsprechers Oscar Wassermann zunächst im Vordergrund stand. Wassermanns Stellung war zweifach exponiert: Im Vorstand war er primus inter pares, und er hatte sich öffentlich für den Zionismus eingesetzt. Urbig wollte vermeiden, den neuen Machthabern eine Angriffsfläche zu bieten und hielt einen rechtzeitigen Rückzug Wassermanns – am besten aus eigenem Entschluss – für ratsam, um einem erzwungenen Wechsel zuvorzukommen.31 Eine Unterredung, die Urbig mit Reichsbankpräsident Schacht führte, ergab, dass sich Schacht vorbehalte, personelle Umstellungen im Bankwesen vorzunehmen. Namen nannte er jedoch nicht. Als Wassermann von diesem Gespräch erfuhr, reagierte er unmittelbar und gab den überraschten Vorstandskollegen seinen Rücktritt bekannt. Die Frage war nun, wie man Wassermanns Ausscheiden nach außen erklären sollte. Urbig argumentierte dabei in ungewöhnlich scharfer Weise mit gravierenden geschäftlichen Versäumnissen und mangelnden Führungsqualitäten. Die persönliche Kritik ging dabei mit Vorwürfen einher, wie sie auch von weiteren früheren Geschäftsinhabern der Disconto-Gesellschaft gegenüber der Leitung der Deutschen Bank erhoben wurden.32 Wegen dieser Verfehlungen, so folgerte Urbig, solle Wassermann die Führung der Bank aufgeben, wobei es keine Rolle spiele, ob er Jude oder Christ sei.33 Dass diese Frage sehr wohl eine Rolle spielte, war Urbig natürlich bewusst. Seine Kritik an Wassermann zielte darauf, wie er gegenüber seinem Aufsichtsratskollegen Ernst Enno Russell offen bekannte, sich vor Angriffen zu schützen, sollte die nationalsozialistische Herrschaft nicht von Dauer sein: „Es können einmal wieder andere Zeiten kommen, und wir müssen im Interesse der Bank unbedingt vermeiden, daß man zu irgendeiner Zeit den Vorwurf machen kann, daß oberste Verwaltungs-Organ der Bank habe durch seine Repräsentanten dazu beigetragen, daß die nichtarischen Mitglieder des Vorstands das Lokal verlassen mußten.“34 Einem weiteren Vorstandsmitglied jüdischer Abstammung konnte Urbig geschäftliche oder charakterliche Verfehlungen kaum vorwerfen, kannte er ihn doch seit Jahrzehnten als Kollegen im Geschäftsinhaberkreis der Disconto-Gesellschaft. Georg Solmssen wurde im April 1933 Vorstandssprecher der Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft. Er war schon zu Beginn seiner Karriere zum Protestantismus konvertiert, doch im Laufe des Jahres 1933 wurde ihm immer klarer, dass auch er seine Position nicht würde behaupten können, zumal ihm die rückhaltlose Unterstützung seiner Kollegen, auch die Urbigs, verwehrt blieb. Anfang 1934 erklärte 30 31

32 33 34

Georg Solmssen an Urbig vom 9. April 1933, HADB, P1/14, abgedruckt in: James/Müller, Georg Solmssen, S. 356. Die Vorgänge um das Ausscheiden Wassermanns hielt Urbig in einem ausführlichen Aktenvermerk vom Ende Juli 1933, HADB, P55, Bl. 8–25, fest. Das Dokument ist faksimiliert abgedruckt in: Avraham Barkai, Oscar Wassermann und die Deutsche Bank. Bankier in schwieriger Zeit, München 2005, S. 157–174. Siehe dazu auch S. 91–100. Georg Solmssen sprach beispielsweise von der „laxeren Methoden“ der Deutschen Bank, siehe Solmssen an Emil Kirdorf vom 22. Juli 1933, HADB, B200, Nr. 67, abgedruckt in: James/ Müller, Georg Solmssen, S. 372. Ebd., S. 168 und S. 96 f. Urbig an Ernst Enno Russell, HADB, P1/14.

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Solmssen seinen Rückzug aus dem Vorstand, konnte aber 1935 in den Aufsichtsrat eintreten. Dessen Vorsitzender, Franz Urbig, ließ Solmssen drei Jahre später wissen, dass er auch nicht länger Mitglied dieses Gremiums bleiben könne: „Wie peinlich es mir ist, Ihnen von dieser Sachlage Kenntnis zu geben, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, aber neben anderen hat namentlich der Fall Jeidels auch mir bewiesen, dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen gewisse Entschliessungen unvermeidbar sind, so hart sie auch sein mögen.“35 Einmal mehr stellte Urbig das vermeintliche Interesse seiner Bank über Kollegialität und freundschaftliche Beziehungen. Auf Solmssens Entgegnung, dass derjenige der ihn trotz aller Verdienste für die deutsche „Geschäftsaristokratie“ wegen seiner Abstammung verstoße, sich auch mutig dazu bekennen solle,36 erwiderte Urbig trotzig: „Die von Ihnen hervorgehobene Geschäfts-Aristokratie hat vom Jahre 1918 ab auch in unseren Kreisen manches verlieren müssen, und wir waren gezwungen, etwas zu tun, was nach Ansicht Anderer dem Staate frommte, unserer persönlichen Auffassung aber widersprach.“37 Dass Urbig damit die Sozialleistungen der Weimarer Republik und die von ihm bekämpfte Einführung des Achtstundentages mit der nationalsozialistischen Judenpolitik gleichsetzte, hat Gerald D. Feldman als die „eigentliche kognitive Katastrophe“ bezeichnet, die die Spitzen der deutschen Wirtschaft in der Weimarer Republik befallen habe.38 Den grundsätzlichen Unterschied zwischen parlamentarischer Demokratie und nationalsozialistischer Diktatur wollte sich Urbig offenbar nicht bewusst machen. Er blieb geprägt von der Zeit vor 1914. Die Hypothek, die der von Kaiserreich begonnene Krieg der Republik aufgebürdet hatte, legte er weniger dem Verursacher als dem Erben zur Last. Jede Intervention des Staates in die Wirtschaft und die unternehmerische Entscheidungsfindung, als deren einzigen Gradmesser er die wirtschaftliche Vernunft akzeptierte, widerstrebte ihm zutiefst. Mit dem Nationalsozialismus, der den unternehmerischen Handlungsspielraum noch wesentlich stärker einschränkte, konnte sich Urbig konsequenterweise noch weniger anfreunden. Er kämpfte bis zuletzt darum, seine Bank gegen politische Einflussnahme abzuschirmen, und glaubte, eine private Geschäftsbank nur nach dem bewährten Kollegial-Prinzip der Vorstandsmitglieder und keinesfalls nach einem von außen oktroyierten „Führerprinzip“ leiten zu können.39 Mit Entsetzen erlebte er, wie Berlin in Trümmer sank und mit noch größerer Sorge blickte er in Deutschlands Zukunft.40 An Albert Vögler41 schrieb er: „Die Hölle hat sich aufgetan und setzt ihre Zerstörung fort. Wie diese der Menschheit vorbehalten gewesene 35 36 37 38 39 40 41

Urbig an Georg Solmssen vom 21. Februar 1938, HADB, P1/14, abgedruckt in: James/Müller, Georg Solmssen, S. 46 f. Georg Solmssen an Urbig vom 7. März 1938, HADB, P1/14, abgedruckt in: ebd., S. 447. Urbig an Georg Solmssen vom 11. März 1938, HADB, P1/14, abgedruckt in: ebd., S. 448. Gerald D. Feldman, Politische Kultur und Wirtschaft in der Weimarer Zeit. Unternehmer auf dem Weg in die Katastrophe, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 43/1 (1998), S. 17. Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses des Aufsichtsrats der Deutschen Bank vom 16. September 1943, HADB, P23285. Urbig an Hermann J. Abs vom 9. Januar 1944, in: HADB, SG1/82/1; abgedruckt in: Deutsche Bank 1870–1970. Festakt am 9. April 1970 in Frankfurt (M) – Ansprachen – Herrmann J. Abs, Frankfurt/Main 1970, S. 36. Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band.

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Tragödie enden wird, ist eine Frage, die man sich nicht ohne Grauen stellt.“42 Das Ende des Krieges zu erleben, blieb ihm erspart. Urbig starb am 28. September 1944 in Neubabelsberg. Dort bezog am 15. Juli 1945 Winston Churchill Urbigs Villa, um mit den anderen Siegern die Nachkriegsordnung festzulegen. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Barkai, Avraham, Oscar Wassermann und die Deutsche Bank. Bankier in schwieriger Zeit, München 2005. Barth, Boris, Die deutsche Hochfinanz und die Imperialismen. Banken und Außenpolitik vor 1914, Stuttgart 1995. Bleich, Fritz, Staatsverständnis und politische Haltung der deutschen Unternehmer 1918–1930, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, 2. Aufl., Düsseldorf 1988, S. 158–178. Die Disconto-Gesellschaft 1851 bis 1901. Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum, Berlin 1901. Feldman, Gerald D., Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998. Feldman, Gerald D., The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, New York 1993. Gall, Lothar u. a., Die Deutsche Bank 1870–1995, München 1995. Gall, Lothar, Der Bankier Hermann J. Abs. Eine Biographie, München 2004. James, Harold / Müller, Martin L. (Hrsg.), Georg Solmssen. Ein deutscher Bankier. Briefe aus einem halben Jahrhundert, München 2012. James, Harold, Die Deutsche Bank im Dritten Reich, 2. Aufl., München 2009. Kopper, Christopher, Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier, München 2006. Müller-Jabusch, Maximilian, Franz Urbig, 2. Aufl., Berlin 1954. Müller-Jabusch, Maximilian, Fünfzig Jahre Deutsch-Asiatische Bank 1890–1939, Berlin 1940. Pinner, Felix, Deutsche Wirtschaftsführer, Charlottenburg 1925, S. 224. Seidenzahl, Fritz, 100 Jahre Deutsche Bank 1870–1970, Frankfurt/Main 1970.

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Urbig an Albert Vögler vom 30. Juni 1943, HADB, P24474.

HUGO ECKENER (1868–1954) – DER UNTERNEHMER ALS ABENTEURER Roman Köster Hugo Eckener war eine der schillerndsten Figuren der Weimarer Republik, öffentliche Person und gefeierter Pilot von Luftschiffen, der in den 1920er Jahren zu den bekanntesten Deutschen gehörte. Besonders die Fahrt des Luftschiffs LZ 126 von Friedrichshafen an die amerikanische Ostküste im Oktober 1924 löste in der gesamten Welt Begeisterung aus und gab dem durch den verlorenen Krieg gedemütigten Deutschland Ansehen und Selbstbewusstsein zurück. Über seine Heimat hinaus war Eckener auch in den USA wie in Westeuropa gleichermaßen populär. Nachdem Paul von Hindenburg anfangs gezögert hatte, nochmals zu kandidieren, war im Jahr 1932 sogar kurzzeitig Eckeners Kandidatur zum Amt des Reichspräsidenten im Gespräch. Diese Leistungen sind wohlbekannt und in zahlreichen Büchern beschrieben worden. War Hugo Eckener jedoch im eigentlichen Sinne ein Unternehmer? Diese Charakterisierung mag dem Betrachter nicht auf den ersten Blick einleuchten, war letzterer doch bekannt als Luftschiffpilot und Abenteurer, nicht als Mann der Wirtschaft. Auf der anderen Seite war Eckener bereits vor dem Ersten Weltkrieg Chef der DELAG (Deutsche Luftschifffahrts-Aktiengesellschaft) geworden. Diese war allerdings Teil des Zeppelin-Konzerns und in diesem hatten damals noch Graf Ferdinand von Zeppelin, der 1917 verstarb, und sein Generaldirektor Alfred Colsman das Sagen. Gleichwohl sammelte Eckener hier erste Erfahrungen in der Führung eines Betriebes und profilierte sich gleichzeitig als Pilot von Luftschiffen. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Friedrichshafen zurück und wurde 1922, aufgrund noch zu beschreibender Umstände, die bestimmende Figur im Zeppelin-Konzern. Allerdings war er eher selten vor Ort, reiste umher, führte Luftschiffe oder warb Spenden für das Unternehmen ein. Die wirtschaftliche Seite war also nur Mittel zum Zweck, nämlich Geld für den Bau von Luftschiffen zu bekommen. Insofern war Eckener weniger ein Unternehmer in dem Sinne, dass er das Tagesgeschäft seines Unternehmens leitete oder, der Definition Joseph Schumpeters folgend, Produktionsfaktoren innovativ miteinander kombinierte. Eckener hat als Techniker den Zeppelin weder konstruiert noch entscheidend weiterentwickelt. Allerdings handelte er sehr wohl „unternehmerisch“ im Sinne des amerikanischen Ökonomen William Baumol, der den Unternehmer wesentlich dadurch charakterisiert, dass dieser in der Lage ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ihm ermöglichen, erfolgreich zu sein. Genau das leistete Hugo Eckener, denn wäre es allein nach dem Markt und den Zahlen gegangen, wäre nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland kein einziges Luftschiff mehr gebaut worden. Aus diesem Grund soll

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Eckener gewissermaßen als ein „Abenteuer-Unternehmer“ charakterisiert werden, dem die spezifischen politischen und ökonomischen Konstellationen der Weimarer Republik seinen Erfolg ermöglichten. Das genau war jedoch nicht mehr der Fall, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen. 1. VOM SAULUS ZUM PAULUS: HUGO ECKENER UND DAS LUFTSCHIFF Die Geschichte des Zeppelins ist vielfach erzählt worden. 1890 wurde der württembergische Adlige Ferdinand von Zeppelin unehrenhaft aus dem Militär entlassen, nachdem Gerüchte über seine preußenfeindliche Haltung am Berliner Hof gestreut wurden und er anschließend beim sogenannten Kaisermanöver enttäuscht haben soll. Mit Anfang fünfzig vor den Scherbenhaufen seiner Karriere stehend, die bislang einzig und allein dem Militär gegolten hatte, beschloss Zeppelin sich dem Bau eines starren, lenkbaren Luftschiffes zu widmen. Entgegen der posthumen Verklärung dieses Anliegens als eines pazifistischen Projekts ging es dabei von Anfang an allerdings darum, seinem Vaterland eine neuartige Waffe zu schenken und sich damit persönlich zu rehabilitieren. Mit großem Elan und einer noch größeren Überzeugungskraft schaffte es Zeppelin, Techniker, Ingenieure und Industrielle für sein Projekt zu gewinnen, bis 1900 zum ersten Mal auf dem Bodensee ein Luftschiff aufstieg. Nach nicht ganz einer halben Stunde musste die Fahrt jedoch abgebrochen werden und auch die nachfolgenden „Zeppeline“ hatten mit häufigen Kinderkrankheiten der Konstruktion zu kämpfen. Immer wieder kam es zu Unfällen. Der Wendepunkt in der Geschichte des Luftschiffs kam allerdings im Jahr 1908 durch genau einen solchen Unfall. Das skeptische Militär hatte eine 24-Stundenfahrt des Luftschiffs LZ 4 als Leistungsnachweis gefordert. Ein nächtlicher Sturm riss das im württembergischen Ort Echterdingen festgemachte Luftschiff von den Halteseilen und zerstörte es. Damit schienen die jahrelangen Bemühungen des Grafen umsonst gewesen zu sein. Aber das Gegenteil war der Fall: Eine Welle der öffentlichen Anteilnahme führte zu einer spontan ins Leben gerufenen Spendenaktion, die sechs Millionen Mark erbrachte. Im Zuge dieser Sammlung wurde immer wieder kolportiert, welch allgemeine Sympathie Zeppelin genoss, dass Kinder ihre ersparten Groschen dem Zeppelin gaben. Der Großteil der genannten Summe kam allerdings von Großspendern aus der Wirtschaft. Dieses Ereignis ist zeitgenössisch und später in der Luftschiff-Historiographie als „Epiphanie von Echterdingen“ überhöht worden, und vielleicht sogar nicht ganz zu Unrecht. Zwar hatte die Wandlung des öffentlichen Bilds des Grafen vom überspannten Exzentriker zum willensstarken Visionär, der sein gesamtes Wirken in den Dienst des Vaterlandes stellte, bereits zuvor begonnen. Erst das Unglück aber gab seinem Projekt den quasi-religiösen Anstrich von tragischem Scheitern und wundersamer Rettung, ohne den die Zeppelin-Manie der folgenden Jahre nicht zu erklären ist, und auf die Hugo Eckener später immer wieder anspielte, wenn er sich als legitimer Erbe des Grafen inszenierte. Genauso wichtig war aber der mo-

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netäre Gesichtspunkt: Der Ertrag der Zeppelin-Spende ermöglichte es zum ersten Mal, die Entwicklung und den Bau von Luftschiffen in Friedrichshafen auf Dauer einzurichten. Es wurde ein Unternehmen gegründet, dessen immer zahlreicher werdende Tochtergesellschaften auf Teilbereiche der Zeppelinproduktion spezialisiert waren. Dazu gehörte beispielsweise der Maybach Motorenbau, bei dem sündhaft teure Automobile, vor allem aber Hochleistungsmotoren entwickelt und produziert wurden. Weniger bekannt, langfristig aber noch wichtiger, war die Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF), die 1915 von Alfred Graf von Soden als Tochtergesellschaft gegründet wurde und heute einer der wichtigsten Getriebeproduzenten und Autozulieferer weltweit ist. Welche Rolle aber spielte Eckener in dem Unternehmen? Hugo Eckener wurde 1868 in Flensburg in einem großbürgerlichen Haushalt geboren. Sein Vater war Zigarrenfabrikant und bereits dadurch hatte Eckener einen ökonomischen Hintergrund. Die längste Zeit seines Lebens hatte er mit der Fliegerei jedoch nichts zu tun. Vielmehr studierte er zunächst in München, Berlin und Leipzig Philosophie und Nationalökonomie und schloss sein Studium mit einer Doktorarbeit über das Thema „Schwankungen der Auffassung minimaler Sinnesreize“ ab. Nachdem er ein Angebot ausgeschlagen hatte, in Kanada ein psychologisches Institut aufzubauen, arbeitete er als Journalist und musste die Mitte dreißig erst überschreiten und eine Familie gründen, bevor er zum ersten Mal mit dem Luftschiff in Berührung kam. Im Jahr 1899 zog er, nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen, mit seiner Familie nach Friedrichshafen an den Bodensee, also jenem Ort, an dem ein Jahr später der erste Zeppelin starten sollte. Als Journalist schrieb er unter anderem Artikel für die Frankfurter Zeitung über die Flugversuche des Luftschiffs. Diese Artikel waren zunächst alles andere als unkritisch. So bezweifelte er beispielsweise die Stabilität des Luftschiffes bei widrigen Windverhältnissen und machte sich über das „so bescheidende, ruhige Städtchen“ Friedrichshafen lustig, dass „durch seinen Luftballon eine berühmte Stadt werden will“.1 Trotzdem machten diese Artikel Eckener in Friedrichshafen bekannt, weil sie trotz des kritischen Gesamttenors auf genauen Beobachtungen der Technik und den meteorologischen Gegebenheiten beruhten. Letztlich musste Eckener nicht lange von der Zukunft des Luftschiffs überzeugt werden, denn als er 1909 zum Zeppelin-Konzern wechselt, war er bereits ein begeisterter Befürworter und seine ursprünglich kritische Einstellung nicht mehr als eine anekdotische Fußnote. Die genaue Art und Weise, wie Eckener zum Zeppelin-Konzern kam, ist später Gegenstand von Kontroversen geworden. Sein späterer Rivale Alfred Colsman kolportierte in seiner Autobiographie „Luftschiff voraus!“, Eckener habe Zeppelin gefragt, ob er denn nicht irgendeine Verwendung für ihn hätte. Das ließ sich durchaus als ein versteckter Seitenhieb verstehen, denn für die Inszenierung Eckeners als legitimen „Erben“ des Grafen war eine solche Darstellung nicht hilfreich, gab sie doch einen Hinweis auf seine anfangs vielleicht mehr materiellen als idealistischen 1

Rolf Italiaander, Ein Deutscher namens Eckener. Luftfahrtpionier und Friedenspolitiker. Vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik, Konstanz 1981, S. 94.

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Motive, was auch geeignet war, ein anderes Licht auf den Machtkampf zwischen ihm und Colsman zu Beginn der 1920er Jahre zu werfen. In Thor Nielsens dramatisierender Darstellung von Eckeners Leben aus den 1950er Jahren, die auf intensiven Gesprächen des Autors mit seinem Protagonisten basiert, ist es Colsman, der Eckener drängt, in das Unternehmen zu kommen; man könne einfach nicht auf ihn verzichten. Klären lässt sich dieser Sachverhalt nicht und er gewinnt auch eher Sinn aus den späteren Deutungskämpfen über die Geschichte des Luftschiffs. Hugo Eckener wurde 1909 Angestellter des Unternehmens, erledigte zunächst die Pressearbeit und wurde dann rasch Leiter der DELAG. Diese war eine der vielen Tochtergesellschaften des Unternehmens, allerdings doch etwas Besonderes, weil sie den Fahrtbetrieb mit Luftschiffen organisierte und insofern gewissermaßen die erste Luftlinie der Welt repräsentierte. Gewinne ließen sich mit den Fahrten des Luftschiffs jedoch keine erzielen. Die Kosten für die Tickets deckten noch nicht einmal die Betriebskosten. Allerdings hatte die Tätigkeit der DELAG einen großen öffentlichkeitwirksamen Effekt und trug zur wachsenden Popularität der Zeppeline bei. Der Erste Weltkrieg führte indes dazu, dass die zivile Luftschifffahrt vorerst aufgegeben werden musste. Die Luftschiffe waren zur Aufklärung und als Waffe vorgesehen. Besonders in den ersten drei Kriegsjahren wurde die Produktion der Luftschiffe stark ausgeweitet. Aber obwohl es gelang, London und Paris mit Zeppelinen zu bombardieren, wurde ihr Kampfwert bald in Frage gestellt. Britischen Flugzeugen gelang es immer öfter, sie mit Leuchtspurmunition in Brand zu setzen, was aufgrund der Wasserstofffüllung relativ leicht war. Kriegsbedingt zog Hugo Eckener an die Nordseeküste nach Norderstedt, um in einer Fliegerschule Piloten von Luftschiffen auszubilden. 2. VOM WARTESTAND AN DIE SPITZE DES KONZERNS: ECKENER NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG Als Eckener nach dem Krieg mit seiner Familie nach Friedrichshafen zurückkehrte, war er zunächst lediglich Privatmann, und es war keineswegs klar, was er nun eigentlich tun sollte. Allein seine vierjährige Abwesenheit vom Bodensee macht deutlich, dass er zur Übernahme einer Führungsposition im Unternehmen nicht unbedingt prädestiniert war. Dabei gibt es allerdings wenige Sachverhalte in der Geschichte des Luftschiffs, die so oft verwirrend oder falsch dargestellt wurden, wie Eckeners Aufstieg innerhalb des Konzerns zum Leiter der Zeppelin-Stiftung im Jahr 1922. Selbst bei Henry Cord-Meier, einem der besten Kenner der ZeppelinHistoriographie, ist zu lesen, Eckener sei nach dem Krieg Leiter des Luftschiffbaus Zeppelin geworden. Leiter blieb aber, als Generaldirektor des Konzerns, Alfred Colsman. Eckener wurde zwar bald wieder Leiter der DELAG, ein wenig imposanter Posten in Anbetracht dessen, dass nach dem Krieg lediglich kurzfristig ein Fahrtbetrieb zwischen Friedrichshafen und Berlin eingerichtet wurde. Luftschiffe mit mehr als 30.000 Kubikmeter Gasinhalt mussten aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages und der Londoner Luftkonferenz 1920 abgewrackt werden; Neubauten waren verboten. Im selben Jahr bestimmte Max von Gemmingen, ein

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alter Weggefährte Zeppelins und Eckeners Freund, ihn zwar zum stellvertretenden Leiter der Zeppelin-Stiftung, die der Satzung nach das bestimmende Gremium innerhalb des Konzerns war. Aus verschiedenen Gründen konnte diese ihre formale Machtposition nach 1918 jedoch zunächst nicht wahrnehmen. Um zu erklären, warum Eckener 1922 schließlich Leiter der Stiftung und zur bestimmenden Figur des Zeppelin-Konzerns wurde, muss etwas weiter ausgeholt werden. Derjenige, der die Fäden bei dem Unternehmen nach dem Krieg in der Hand hielt, war Alfred Colsman. Der Kaufmann aus dem Sauerland war 1908 auf persönliche Anfrage Zeppelins von Werdohl nach Friedrichshafen gekommen und hatte die kaufmännische Leitung des neu gegründeten Konzerns übernommen. Dabei entwickelte sich rasch eine Art „Arbeitsteilung“ zwischen ihm und dem Grafen. Während letzterer den leutseligen Motivator gab, der durch seine Begeisterungsfähigkeit und Hingabe zahlreiche hochbegabte Techniker und Entwickler dazu animierte, in Friedrichshafen Luftschiffe zu bauen, nahm Colsman die Rolle des nüchternen Kaufmanns ein, der die Tätigkeiten der verschiedenen Techniker organisatorisch zusammenband und kaufmännisch verwaltete. Diese Position machte ihn wenig beliebt, zumal wenn harte Lohnverhandlungen ausgefochten werden mussten. Bei Teilen der Arbeiterschaft war Colsman regelrecht verhasst. Colsman führte als Generaldirektor den Luftschiffbau Zeppelin. Formal das bestimmende Gremium innerhalb des Unternehmens war allerdings die ZeppelinStiftung, in der sich viele alte Weggefährten Graf Zeppelins tummelten. Diese trauten sich nach 1918 jedoch lange Zeit nicht aus der Deckung, Verantwortung im Unternehmen zu übernehmen. Das lag zum einen daran, dass der Tod Zeppelins 1917 ihnen den gemeinsamen Bezugspunkt geraubt hatte. Vor allem waren es aber die revolutionären Unruhen in Friedrichshafen, die zu dieser defensiven Haltung führten. Während die Adelsentourage des Grafen sich ängstlich zurückzog, als sich Anfang November 1918 die revolutionären Energien entluden, hatte sich Colsman der Arbeiterschaft in öffentlichen Versammlungen gestellt. Nachdem es ihm gelungen war, die Lage zu beruhigen, schien seine Autorität im Unternehmen zunächst gefestigt. Der Zeppelin-Konzern 1918 (stark vereinfachte Darstellung) Zeppelin-Stiftung Sitz der Gesellschafter Luftschiffbau Zeppelin (LZ) Generaldirektor Alfred Colsman

Maybach Motorenbau GmbH

Dornier Metallbauten GmbH

ZF GmbH

BG Textilwerke GmbH

Holzwerke Meckenbeuren GmbH

Zewas GmbH

Delag GmbH

Zeppelin Wohlfahrt GmbH

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Eckener und Colsman hatten lange Zeit ein durchaus vertrautes Verhältnis gehabt. In Briefen vor dem Weltkrieg sprach Eckener ihn sogar vertraulich mit „Lieber Cols“ an. Dieses gute Verhältnis sollte sich Anfang der 1920er Jahre jedoch verschlechtern und dabei ging es vor allem um die Frage, ob der Bau von Luftschiffen fortgeführt werden sollte. Die Voraussetzungen dafür waren nach dem Krieg alles andere als günstig. Der Staat fiel als Finanzier zunächst aus. Zudem war, wie bereits erwähnt, der Bau von Luftschiffen mit mehr als 30.000 cbm Gasfüllung verboten, allerdings konnten mit weniger Volumen keine sicheren Luftschiffe für den Interkontinentalverkehr gebaut werden. Colsman war deswegen bereits gegen Ende des Weltkrieges, als die militärische Nutzlosigkeit der Zeppeline auf der Hand lag, zu der Überzeugung gelangt, dass der Bau von Luftschiffen nicht mehr rentabel durchzuführen war. Er begann den Konzern zu „diversifizieren“, d. h. den einzelnen Konzerntöchtern neue Aufgabenbereiche zu erschließen. Hinsichtlich der Zukunft des Zeppelinbaus war Eckener allerdings ganz anderer Meinung als Colsman, und damit war er nicht allein. Den Mitgliedern der Zeppelin-Stiftung galt das Luftschiff als alleiniger Sinn des Unternehmens und alles andere als Profanisierung der Ideale des Grafen, zumal die Diversifizierung für sie gleichbedeutend war mit einem Macht- und Kompetenzverlust. Vielen hochqualifizierten Facharbeitern widerstrebte es, statt hochartifizieller Gerüste nun Industriegüsse herstellen zu müssen. Dass der ruhmreiche Luftschiffbau nach dem Krieg zeitweise sogar Kochgeschirr aus Aluminium produzierte, empfanden viele von ihnen als Hohn. Zudem stieß Colsmans autoritäre Art der Unternehmensführung zunehmend auf Ablehnung. Eckener äußerte sich dementsprechend in einem Schreiben von 1920 an seine Frau: „Unser Generaldirektor, Herr C., ist eine mächtig selbstbewusste und autokratische Natur. Leider kann man nicht sagen, dass er in seinen Maßnahmen immer das Richtige träfe, wenn auch die geschäftlichen Erfolge während des Krieges […] ihm eine mächtige Meinung von sich selbst beigebracht haben.“2 Diese Spannungen trugen wesentlich dazu bei, dass Eckener im Sommer 1922 zum Vorsitzenden der Zeppelin-Stiftung ernannt wurde. Max von Gemmingen und die anderen Mitglieder der Stiftung sahen ihn als tatkräftigen Mitarbeiter, der in der Lage schien, dem machtbewussten Colsman an der Spitze des Konzerns entgegenzutreten. Das geschah in einer Zeit, in der die im Versailler Vertrag festgelegten rechtlichen Einschränkungen des Luftschiffbaus eigentlich auslaufen sollten; es war unvorhersehbar, dass diese Beschränkungen aufgrund der Reparationsproblematik erneut verlängert und erst 1926 auf der Pariser Luftkonferenz aufgehoben wurden. Als Vorsitzender der Stiftung hatte Eckener nun formal die bestimmende Position im Unternehmen inne und konnte das Unternehmen theoretisch zum Luftschiffbau zurückführen, wenn nicht die grundlegenden Hindernisse weiterhin bestanden hätten: Die genannten Bestimmungen des Versailler Vertrags und die fehlenden Finanzen des Unternehmens für den Bau eines Luftschiffes. Der Ausweg, auf den Eckener verfiel, war genauso brillant wie riskant. Er provozierte eine

2

Zit. nach Italiaander, Ein Deutscher namens Eckener, S. 201.

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Entscheidungssituation, die gleichzeitig eine ultimative Machtprobe mit Colsman heraufbeschwor, welche die Verhältnisse zwischen ihnen endgültig klären sollte. Ausgangspunkt war, dass das Deutsche Reich den USA noch ein Luftschiff als Reparationsleistung schuldete; der eigentlich dafür vorgesehene Zeppelin war direkt nach dem Krieg absichtlich zerstört worden. Eckener gelang es durch geschickte Verhandlungen, dass das Reich ab 1923 den Bau eines Ersatzluftschiff in Friedrichshafen finanzierte, das anschließend an die amerikanische Ostküste überführt werden sollte. Das war ein Politikum: Nationalistische Kreise protestierten scharf dagegen, den Amerikanern deutsche Hochtechnologie zu „schenken“. Für das Unternehmen bestand das entscheidende Problem darin, was geschah, sollte der Zeppelin über dem Atlantik verloren gehen, was als keineswegs unwahrscheinlich galt. Da keine Gesellschaft sich bereit erklärte, die Überfahrt zu versichern, griff Eckener zu der Lösung, das Vermögen des Konzerns an das Reich zu verpfänden. Im Klartext hieß das: wenn der Zeppelin abstürzte, fiel das Unternehmen an das Reich. Eckener rechtfertigte später dieses Risiko damit, der Konzern hätte ansonsten ohnehin keine Zukunft mehr gehabt. Diese Aussage kann, zumindest in dieser Unbedingtheit, mit guten Gründen bezweifelt werden. Auch wenn die ökonomische Lage des Zeppelin-Konzerns tatsächlich schwierig war, besaß er noch hohe Sachwerte, die in den 1920er Jahren nach und nach abgestoßen wurden und dadurch das Unternehmen finanziell entlasteten. Dementsprechend führte das Arrangement zu Konflikten innerhalb des Konzerns. Colsman wies immer wieder auf das hohe Risiko hin, während Eckener emphatisch auf § 3 der Stiftungssatzung verwies, der die Förderung der Luftfahrt als Unternehmenszweck festschrieb. Die Stiftung bewilligte schließlich das Geschäft, womit sich Eckener im internen Machtkampf durchgesetzt hatte. Kurz danach wurde auch die Struktur des Zeppelin-Konzerns verändert, nach der die Stiftung nicht nur am Luftschiffbau Zeppelin, sondern auch an dessen Tochtergesellschaften beteiligt war. Die Kontrolloptionen der Stiftung wurden damit gestärkt. 3. EIN ABENTEURER-UNTERNEHMER IN DER WEIMARER REPUBLIK Der Konflikt um das Reparationsluftschiff LZ 126 bedeutete den Sieg Eckeners über Colsman. Die erfolgreiche Überfahrt im Oktober 1924 und der begeisterte Empfang der Besatzung in New York taten ihr Übriges. Eigentlich hätte Colsman, vom persönlichen Standpunkt aus betrachtet, danach seinen Abschied nehmen müssen. Dass er es nicht tat, hatte, abgesehen von möglichen persönlichen und finanziellen Gründen, ganz wesentlich mit der Struktur des Unternehmens zu tun. Die Zeppelin-Gesellschaften waren nämlich keineswegs nun Tag und Nacht damit beschäftigt, Luftschiffkomponenten zu bauen. Vielmehr ging die diversifizierte Produktion weiter, und nur zeitweise wurde das Know-how der Gesellschaften für den Bau eines Luftschiffes genutzt. Bis Ende der 1930er Jahre wurden lediglich fünf Zeppeline in Friedrichshafen gebaut. Diese Situation verschaffte Colsman ein beträchtliches Machtpotential sui generis, oder anders formuliert: er blieb der

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Mann für das Tagesgeschäft, während Eckener vor allem damit zu tun hatte, die Aktivitäten des Unternehmens zu kontrollieren und Geld für ein neues Luftschiff aufzutreiben. Diese Kontrollfunktion nahm Eckener durchaus wahr, denn die Diversifizierung des Unternehmens gestaltete sich auch in den 1920er Jahren nur bedingt als erfolgreich. Die ZF musste 1921 saniert werden, erzielte anschließend allerdings gute Ergebnisse mit der Herstellung von Getrieben für Automobile. Der Dornier-Flugzeugbau musste, ebenfalls aufgrund des Versailler Vertrages, mit seiner Produktion in die Schweiz und nach Italien ausweichen, konnte sich aber einigermaßen über Wasser halten. Das große Sorgenkind des Unternehmens war jedoch der MaybachMotorenbau, gewissermaßen das Kernstück von Colsmans Diversifizierungsstrategie. Dieser stellte neben Luxusautomobilen vor allem leistungsfähige Motoren für Schiffe und Omnibusse her und war mit über 800 Mitarbeitern die größte Tochtergesellschaft des Konzerns. Obwohl niemand die Qualität der Motoren bestritt (hier wurden auch die Hochleistungsmotoren für den Zeppelin entwickelt), schaffte es Maybach lange Zeit nicht, die organisatorischen und finanziellen Probleme der Gesellschaft zu lösen. In diesem Fall reagierte Eckener durchaus harsch und wies Maybach und Colsman 1925 nachdrücklich darauf hin, dass die Verluste der Tochtergesellschaft nicht länger innerhalb des Unternehmens querfinanziert werden könnten. Auch bei anderen Gelegenheiten reagierte er äußerst schroff wenn er unwirtschaftliches Verhalten innerhalb des Zeppelin-Konzerns witterte. Insgesamt war es für seinen Führungsstil charakteristisch, dass er den Führungskräften weitgehend freie Hand ließ, bei Gelegenheit jedoch kräftig intervenierte und Änderungen einforderte. Das geschah nicht zuletzt aus dem Bewusstsein heraus, dass die finanzielle Stabilität des Unternehmens für den Bau von Zeppelinen von entscheidender Bedeutung war. Die Fortsetzung des Luftschiffbaus war selbst nach dem Erfolg der Atlantikfahrt keineswegs gesichert. Der Zeppelin war in den USA geblieben und das Unternehmen besaß kein Geld, um ein neues Luftschiff zu bauen. Eckener versuchte darum die Euphorie nach dem Atlantikflug zu nutzen, um den Erfolg der Echterdinger Sammlung zu wiederholen: Er rief 1925 die „Zeppelin-Eckener-Spende“ ins Leben, um Geld für ein neues Luftschiff zu akquirieren. Diese Aktion hatte jedoch nur einen begrenzten Erfolg. Das Auswärtige Amt zeigte sich ob dieses Versuchs alles andere als begeistert. Zudem startete die Aktion im Herbst 1925, als sich der als „Winter-“ oder „Zwischenkrise“ bekannte konjunkturelle Einbruch bereits deutlich bemerkbar machte. Eckener selbst trieb das Spendeneintreiben an den Rand der totalen Erschöpfung; er absolvierte über 100 Veranstaltungen, an deren Ende er nach Mitternacht mit den verbliebenen Anwesenden häufig noch das Deutschlandlied zu singen hatte. Aufgrund der ungünstigen Rahmenbedingungen blieb der Ertrag der Spende mit 1,3 Mio. RM beträchtlich unter den benötigten sechs Millionen, so dass der Staat einspringen musste, um den Rest der Summe aufzubringen. Die aeronautischen und propagandistischen Anstrengungen Eckeners machten das Unternehmen Zeppelin zu einem der wichtigsten Subventionsempfänger im Bereich der Luftfahrt während der Weimarer Republik. Eckener besaß exzellente Kontakte, besonders ins

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Reichsverkehrsministerium. Beispielsweise saß der zeitweilige Reichsverkehrsminister Adam Stegerwald im Beirat der Zeppelin-Eckener-Spende. Wie nötig diese Verbindungen waren, zeigte sich besonders während der Weltwirtschaftskrise, als die Subventionen für die Luftfahrt erheblich gekürzt wurden. Eckener gelang es durch persönliche Intervention, dass wenigstens ein großer Teil der für eine neue Fahrhalle benötigten Gelder von immerhin 3 Mio. Reichsmark trotzdem ausbezahlt wurden. Bei Graf Zeppelin hatte zumeist der militärische Wert des Luftschiffes im Vordergrund gestanden, was sich während des Ersten Weltkrieges beinahe zu einem kriegerischen Wahn steigerte. Gleichzeitig hatte er die Kommerzialisierung des Luftschiffbaus stets verachtet und schon in der Gründung der DELAG 1909 den Versuch gesehen, sein Lebenswerk in eine „Krämergesellschaft“3 zu verwandeln. Unter der Ägide Eckeners bekam das Projekt des Luftschiffbaus einen ganz anderen Anstrich. Auf der einen Seite war er dem Kommerziellen keineswegs feindlich gegenüber eingestellt. Ganz im Gegenteil machte er die Zukunft des Zeppelins öffentlich davon abhängig, einen rentablen Verkehrsbetrieb mit Luftschiffen einzurichten; dieses Ziel wurde allerdings erst Mitte der 1930er Jahre erreicht, als die Zukunft des Zeppelins schon fast wieder vorbei war. Auf der anderen Seite versuchte Eckener, aus dem Luftschiffverkehr ein großes Friedensprojekt zu machen, das wesentlich zur Völkerverständigung beitragen sollte. In gewisser Weise war das logisch: als Waffe taugte der Zeppelin nicht, während die Nachbarländer Deutschlands, insbesondere Frankreich, das Luftschiff skeptisch beäugten und die Bombardierung Londons und Paris durch Zeppeline während des Ersten Weltkriegs nicht vergessen hatten. Die Betonung des friedlichen Charakters des Luftschiffes war aus solchen Gründen für den Aufbau eines zivilen Luftverkehrs von großer Bedeutung, da es sich auf Reisen nach Südamerika beispielsweise nur schwer vermeiden ließ, Frankreich zu überfliegen. Dieser Hinweis auf die pragmatischen Hintergründe des Eckenerschen Luftpazifismus soll aber nicht in Abrede stellen, dass dieser zur Völkerverständigung in den 1920er Jahren wesentlich beitrug. Die Fahrten des Luftschiffes vermittelten ein positives und gleichzeitig unkriegerisches Bild Deutschlands in der Welt, besonders in den USA. Wenn auch die immer wieder kolportierte Wahl Eckeners zum populärsten Europäer durch den „Corriere de la Sera“ 1929 nicht belegt ist, so war er sicher einer der wenigen positiv wahrgenommenen Repräsentanten Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Unterstrichen wurde das noch dadurch, dass Eckener die internationale Solidargemeinschaft der Luftschiffer besonders betonte; so reiste er beispielsweise 1930 ostentativ mit einigen Friedrichshafener Weggefährten zur Beerdigung der Toten des abgestürzten englischen Luftschiffes R 101 nach England. Für Colsman, das legte seine Autobiographie „Luftschiff voraus!“ nahe, war die Zeit des Luftschiffs mit dem Ersten Weltkrieg prinzipiell zu Ende. Bei Eckener sah das jedoch ganz anders aus. 1925 hielt er beispielsweise einen Vortrag vor Luft3

Alfred Colsman, Luftschiff voraus! Arbeit und Erleben am Werke Zeppelins, Konstanz 1933, S. 112.

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schiffpiloten, in dem er ihnen mitteilte, sie seien alles wackere Männer, sie hätten nur auf das falsche Pferd gesetzt: Die Zukunft gehöre den Zeppelinen!4 Ein solcher Optimismus war schon damals durchaus gewagt; das Luftschiff hatte nur noch auf den Langstrecken Vorteile gegenüber den Flugzeugen und musste dort mit den Passagierschiffen konkurrieren. Letztere waren zwar langsamer, boten dafür allerdings mehr Komfort und Platz; zumindest für die betuchte Klientel, die sich eine Fahrt im Zeppelin leisten konnte. Flugzeuge waren schneller, flexibler und billiger, und vor allem ließ sich eine verkehrstechnische Infrastruktur einfacher aufbauen, was beim Zeppelin ein großes Problem darstellte. Teuer waren ja nicht nur das Luftschiff selbst, sondern auch die gigantischen Fahr- und Konstruktionshallen, die mit jedem Zeppelin größer wurden. Das alles focht Eckener in seinem Glauben an die technische Überlegenheit und wirtschaftliche Tragfähigkeit des Luftschiffverkehrs jedoch nicht an. Unbeirrt hielt er an seinem Konzept fest, durch spektakuläre Fahrten öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und dadurch öffentliche und private Gelder einzusammeln. Diese Einschätzung wurde besonders deutlich, als er 1931 den Flugzeugbau mitsamt ihrem „Spiritus rector“, Claude Dornier5, aus dem Konzern entließ. Das Nebeneinander von Luftschiff- und Flugzeugbau innerhalb des Konzerns hatte sich in den letzten Jahren keineswegs immer konfliktfrei gestaltet. Nicht nur hatten sich gewissermaßen zwei „Kulturen“ innerhalb des Unternehmens herausgebildet – die beiden Sparten waren auch als Konkurrenten um die Vergabe von staatlichen Subventionen aufgetreten. So berichtete Claude Dornier rückblickend, wie er einmal bei einem Besprechungstermin im Reichsverkehrsministerium aus Versehen seinem „Chef“ Hugo Eckener begegnete. Betriebswirtschaftlich war es, insbesondere angesichts der nach 1933 forcierten, massiven Luftrüstung, wahrscheinlich keine kluge Entscheidung, Dornier gehen zu lassen. Nichtsdestoweniger brachte das Geschäft in Zeiten der Wirtschaftskrise zumindest eine kurzfristige finanzielle Erleichterung. RESÜMEE Auch wenn Hugo Eckeners politische Einstellung nicht einfach zu greifen ist, so war er doch sicherlich kein Freund der Nationalsozialisten. Zwar prangte das Hakenkreuz auf dem Höhenruder der Hindenburg, jenem Luftschiff, das 1937 im amerikanischen Lakehurst in Flammen aufging. Jedoch war das eher eine Konzession an die Machthaber, die dem Luftschiff nicht unbedingt sympathisch gegenüberstanden. Aus Sicht der Nationalsozialisten gab es dafür auch gute Gründe: als Waffe taugte der Zeppelin nicht, dafür war er zu schwerfällig und zu verletzlich. Zudem ging seine technische Weiterentwicklung mit einer zunehmenden Gigantomanie der Konstruktion einher; und mit etwas nüchternem Verstand war in den 1930er Jahren schon abzusehen, dass der Vorteil der Luftschiffe auf Langstrecken von zeitlich begrenzter Natur sein würde, auch wenn es Mitte der 1930er Jahre das erste Mal 4 5

Italiaander, Ein Deutscher namens Eckener, S. 246. Zu Claude Dornier vgl. den Beitrag von Lutz Budraß in diesem Band.

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gelang, mit den Interkontinentalfahrten des Zeppelins einen kleinen Gewinn zu erzielen. Es war jedoch die Katastrophe von Lakehurst, bei der die Hindenburg in Flammen aufging, die dem Zeppelin den Garaus machte. Die verbliebenen Luftschiffe wurden abgewrackt und das Aluminium der Konstruktion während des Zweiten Weltkrieges für den Bau von Flugzeugen recycelt. Eckener war damit in gewisser Weise seine Lebensaufgabe abhandengekommen. Er hatte überhaupt erst im Alter von über vierzig Jahren beim Unternehmen Zeppelin angefangen, im Alter von Mitte fünfzig die Leitung des Unternehmens übernommen und in der Folgezeit den Bau von Luftschiffen forciert. Dabei war er nicht nur von der Überzeugung der Überlegenheit der Zeppeline auf langen Strecken getragen worden, sondern verstand sich auch als legitimer Erbe des Grafen Zeppelin, der dieses Projekt im späten 19. Jahrhundert begonnen hatte. Die Nachwelt hat in diesen Gesang mehrheitlich eingestimmt. Eckener veröffentlichte 1949 seine Autobiographie „Im Zeppelin über Länder und Meere“, in dem er seine Tätigkeit bei dem Unternehmen hauptsächlich auf das abenteuerliche Leben eines Luftschiffpiloten reduzierte. Mit seinen beiden Biographen Thor Nielsen und Rolf Italiaander tauschte er noch hochbetagt seine Erinnerungen aus, woraus Hagiographien resultierten, die das Bild Eckeners besonders an seiner alten Wirkungsstätte Friedrichshafen nachdrücklich geprägt haben. Das dort heute eine Schule, eine Straße und mehrere Musicals nach ihm benannt sind, dürfte damit nicht unwesentlich zusammenhängen. Eckener als Unternehmer zu betrachten leistet dementsprechend zwei Dinge: Zum einen wird deutlich, dass es bei der Luftschifffahrt nicht allein um Entdeckungen und Abenteuer ging, sondern auch um handfeste Fragen der Finanzierung und der Organisation eines großen Unternehmens. Auf der anderen Seite zeigt insbesondere der Machtkampf mit Colsman, dass Eckener die Führungsrolle im Konzern eben nicht selbstverständlich zufiel, sondern dass sie erkämpft werden musste. Dabei war der Glaube an die Luftschifffahrt nicht nur Selbstzweck, sondern auch Teil von Eckeners Agenda, mit der er die Mitglieder der Zeppelin-Stiftung gegen Colsmans Unternehmenspolitik mobilisieren konnte. Er war dabei allerdings hellsichtig genug, zu erkennen, dass das Unternehmen sich von der Diversifizierungsstrategie nicht einfach verabschieden konnte, dass es vielmehr am besten fuhr, wenn Luftschiffbau und die neuen Geschäftsfelder nebeneinander existierten (auch wenn er Dornier aus dem Konzern entließ). Auch dieser Realismus ist es, der Eckener als Unternehmer charakterisiert.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Clausberg, Karl, Zeppelin. Geschichte eines unwahrscheinlichen Erfolges, München 1979. Colsman, Alfred, Luftschiff voraus! Arbeiten und Erleben am Werke Zeppelins, Stuttgart 1933. Cord-Meyer, Henry, Airshipmen, Businessmen, and Politics, 1890–1940, Washington 1991. Eckener, Hugo, Im Zeppelin über Länder und Meere, Flensburg 1949. Italiaander, Rolf, Ein Deutscher namens Eckener. Luftfahrtpionier und Friedenspolitiker. Vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik, Konstanz 1981. Köster, Roman, Der lange Abschied vom Luftschiff. Die Diversifizierung des Zeppelin-Konzerns nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2009), S.73–99. Nielsen, Thor, Eckener. Ein Leben für den Zeppelin, Hamburg 1954. Stadt Friedrichshafen (Hrsg.), Zeppelin 1908 bis 2008. Unternehmen und Stiftung, München 2008.

PAUL REUSCH (1868–1956) – DER LÖWE VON OBERHAUSEN1 Benjamin Obermüller Mit dem Ausscheiden von Hermann Reusch aus dem Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH) 1966 ging die Ära Reusch beim von der Duisburger Traditionsfamilie Haniel kontrollierten Weiterverarbeitungskonzern zu Ende. Eine Ära, die der Vater von Hermann Reusch, Paul Reusch, mit seiner Übernahme der Generaldirektion 1909 begründet hatte. Mit ihm begannen die massive Expansion der GHH und der Ausbau zu einem vertikal diversifizierten Unternehmen. Bis zu seinem erzwungenen Rücktritt 1942 führte Paul Reusch die Gutehoffnungshütte als erfolgreicher Manager. KINDHEIT, JUGEND, AUSBILDUNG Paul Reusch wurde am 9. Februar 1868 in Königsbronn/Württemberg geboren und entstammte einer schwäbischen Familie. Sein Vater Karl Hermann bekleidete auf einem staatlichen Hüttenwerk einen leitenden Posten und forcierte in der Erziehung des jungen Paul Reusch die Grundlagen unternehmerischen Denkens und Handelns. Nachdem Karl Hermann Reusch sein Studium erfolgreich beendet hatte, arbeitete er 1859 zunächst beim Hüttenwerk Friedrichstal und stieg im gleichen Jahr zum Hüttenverwalter im Hüttenwerk Ludwigstal auf. Anschließend führte es Karl Hermann Reusch zum Hüttenwerk Königsbronn (1861–1876) und zum Hüttenwerk Wasseralfingen, die zu den staatlichen Eisenhüttenwerken Württembergs gehörten und Anfang der 1920er Jahre in den Schwäbischen Hüttenwerken (SHW) aufgingen. Nach rund 30-jähriger Tätigkeit schied Karl Hermann Reusch 1881 aus dem Staatsdienst aus und übernahm mit der Leitung der Eisenwerke Stumm in Dillingen an der Saar eine lukrative Führungsposition in der Privatindustrie. Ähnlich wie später auch sein Enkel Hermann Reusch, waren es hauptsächlich pekuniäre Vorteile – der Verdienst in der privaten Eisen- und Stahlindustrie war gegenüber den staatlichen Institutionen wesentlich höher – die Karl Hermann Reusch zum Wechsel in die Privatindustrie bewogen. Reuschs letzte berufliche Station war der Direktorenposten der Jenbacher Berg- und Hüttenwerke in Tirol (1889–1891). Nach dem Erreichen des Pensionsalters kehrte Karl Hermann Reusch wieder nach Süddeutschland zurück. Die verschiedenen Tätigkeiten seines Vaters färbten auch auf die Entwicklung Paul Reuschs ab. So erhielt er schon in jungen Jahren tiefe Einblicke in die ökonomischen Handlungsweisen der Privatwirtschaft und der staatlichen Bürokratie. Die Regeln und Gepflogenheiten im Bergbau- und Hüttenwesen 1

Ich danke Dr. Christian Marx, Trier/Saarbrücken, sehr herzlich für die große Unterstützung!

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waren Paul Reusch seit Kindesbeinen vertraut und weckten früh sein Interesse an diesem Berufsstand. Daher ist Paul Reuschs Schwerpunktsetzung nach dem erfolgreichen Besuch des Realgymnasiums und der Oberschule nicht verwunderlich. Im Wintersemester 1886/87 nahm er das Studium des Berg- und Hüttenwesens am Polytechnikum in Stuttgart auf und belegte Vorlesungen in den Bereichen Chemie, Physik, Mechanik sowie Mineralogie und Konstruktionen.2 Zwar meldete sich Reusch nach sechs Semestern zur Diplomprüfung an, allerdings zog er seine Meldung zurück. Zu Gunsten einer Stelle als Hütteningenieur in Jenbach verließ er die Hochschule ohne Abschluss. Der Beruf und die Stellung seines Vaters spielten bei Reuschs Lernprozess, unternehmerisch zu denken und langfristig im Sinne des Unternehmens zu planen, eine zentrale Rolle. Reusch ergriff die Möglichkeit, auf den von seinem Vater geführten Jenbacher Berg- und Hüttenwerken eine Position als Assistent zu bekleiden. So erschloss sich dem jungen Mann die unmittelbare Lebenswelt des Bergbaus und Hüttenwesens. Nach seinem einjährigen Militärdienst wechselte er zu der Budapester Firma „Ganz & Comp., Eisengießerei und Maschinen-Fabrik-AG“. 1895 fand er schließlich in Mähren eine Anstellung als Oberingenieur bei der „Witkowitzer Bergbau- und Hüttengewerkschaft“.3 In einer Zeit der personellen Schwäche bei der GHH – Hugo Jacobi hatte bei der Ausübung seiner Tätigkeiten an der GHH-Spitze ebenso wenig Fortune wie sein Nachfolger Gottfried Ziegler – kam jemand wie Paul Reusch der Familie Haniel wie gerufen. Nach seinem Eintritt in das Unternehmen 1905 – Reusch leitete zunächst die Sterkrader Betriebe – übernahm er bereits vier Jahre später die Gesamtleitung der GHH und krempelte das Unternehmen um. Dies tat er natürlich stets im Einklang mit den Interessen der Gründerfamilien, denn die Aktionärsfamilien legten großen Wert auf die Weiterführung der GHH als Familienunternehmen.4 Innerhalb kurzer Zeit gelang Paul Reusch der Aufstieg in die höchste Führungsebene der GHH. Ein Aufstieg, der der intergenerationellen Weitergabe kulturellen und sozialen Kapitals ebenso geschuldet ist wie Reuschs praktischer Erfahrung während seiner Auslandstätigkeit.5

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Gerhard Bader, „Wer vorausschauen will, muss Rückschau halten können“. Industrie- und Zeitgeschichte am Beispiel der Gutehoffnungshütte (GHH) sowie des Werkes Königsbronn der Schwäbischen Hüttenwerke (SHW) unter besonderer Beachtung der Persönlichkeit von Kommerzienrat Dr. Dr. Paul Reusch, Gräfenberg 2001, S. 63. Harold James, Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005, S. 198; Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, S. 46–51. Johannes Bähr / Ralf Banken / Thomas Flemming, Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, S. 117. Christian Marx, Die Mischung macht’s. Zur Bedeutung von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital bei Paul Reusch während des Konzernaufbaus der Gutehoffnungshütte (1918–1924), in: Markus Gamper / Linda Reschke (Hrsg.), Knoten und Kanten. Soziale Netzwerkforschung in Wirtschafts- und Migrationsforschung, Bielefeld 2010, S. 159–193.

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DIE ERWEITERUNG ZUM KONZERN 1918–1924 Das Kriegsende 1918 bedeutete für zahlreiche deutsche Stahlunternehmen zwar den Verlust ihrer Werke und der Rohstoffquellen in den durch den Versailler Vertrag verlorenen gegangenen Gebieten. Allerdings wurde dieser Verlust mit hohen Entschädigungszahlungen durch die Regierung aufgefangen. Die deutsche Schwerindustrie verfügte daher 1918 über genügend Kapital für eine expansive Unternehmenspolitik. Den Grundstein für die massive Erweiterung der GHH legte Paul Reusch im März 1918 mit der Denkschrift über die Vorteile des Erwerbs einer Hochseewerft an den Aufsichtsrat. Einerseits suchte Reusch nach einer Verwendung der Rüstungswerkstätten in der Friedenszeit, andererseits bot das Portfolio der GHH-Unternehmen nahezu perfekte Voraussetzungen für die Anbindung einer Werft. Denn Eisen- und Stahlmaterial konnte von der GHH nicht nur selbst hergestellt werden, sondern auch durch die vorhandenen Konstruktionswerkstätten sowie eine eigene Maschinenfabrik bot die GHH alle vertikalen Fertigungsebenen zur kostengünstigen Belieferung einer Werft. Am 6. Juni 1918 kam es zur Gründung der „Deutschen Werft AG“, an der die GHH zunächst mit 51 Prozent, ab 1921 dann mit 53,5 Prozent neben der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) und der Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) als Mehrheitsaktionärin beteiligt war. Schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte Reusch über langfristige Lieferverträge und Kaufoptionen zaghafte Expansionsschritte gewagt und die vertikale Integration des Unternehmens gestärkt. Mit der Übernahme des Drahtwerk Boecker & Comp., des Altenhundemer Walz- und Hammerwerks und des Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerks (OKD) waren bereits drei Fabriken außerhalb der unmittelbaren Montanindustrie an die GHH angeschlossen worden. Während Boecker & Comp. noch vollständig in die GHH-Unternehmensstruktur integriert wurde, behielt das OKD seine rechtliche Eigenständigkeit.6 Mit dem Aufbau der Deutschen Werft ging die GHH einen weiteren Schritt zur vertikalen Konzernbildung, der in den folgenden Jahren durch die massive Expansion der GHH in Süddeutschland verstärkt wurde. Beinahe zeitgleich übernahm die GHH den 1873 abgespaltenen Familienbetrieb „Haniel & Lueg GmbH“, der „ganz ähnliche Produkte wie das Werk Sterkrade“ herstellte.7 Doch die GHH erweiterte nicht nur ihre Produktpalette durch Zukauf bzw. Mehrheitsbeteiligung, sondern dehnte sich auch geographisch aus. Nach dem Ersten Weltkrieg erwarb sie zahlreiche süddeutsche Maschinenfabriken, was einerseits mit der Heimatverbundenheit Paul Reuschs zu erklären ist, andererseits aber auch politische Gründe hatte, war doch die Gefahr einer Ruhrbesetzung durch die Franzosen evident. Paul Reusch befürchtete im Spätsommer 1923, „dass die deutsche Regierung kurz vor dem Zusammenbruch stehe und die Schlüssel zur deutschen Industrie Frankreich aushän6

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Peter Langer, Macht und Verantwortung. Der Ruhrbaron Paul Reusch, Essen 2012, S. 242 f.; Christian Marx, Netzwerkhandeln und Unternehmensführung bei Paul Reusch. Aspekte der Corporate Governance im Konzernaufbau der Gutehoffnungshütte (1918–1924), in: Susanne Hilger / Achim Landwehr (Hrsg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011, S. 65–90; Marx, Leitung, S. 79–87 und S. 123–136. Langer, Reusch, S. 243.

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digen würde“.8 Aus diesem Grund wandelte Reusch die GHH im November 1923 in die GHH Oberhausen AG um, der die Werke im besetzten Ruhrgebiet unterstellt waren. Die Holding GHH Aktienverein mit dem Standort Nürnberg fungierte als Dachgesellschaft. Den größten Coup landete Paul Reusch zweifelsohne mit der Eingliederung der traditionsreichen Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) in den GHHKonzernverbund. Nachdem 1919/1920 bereits einige kleinere Mehrheitsbeteiligungen erworben worden waren – darunter die Fränkische Eisenhandelsgesellschaft Nürnberg und das Eisenwerk Nürnberg AG vorm. J. Tafel & Co. – erwarb die GHH zunächst die Mehrheit an der im Lokomotivbau etablierten Maschinenfabrik Esslingen und wenig später auch die Majorität der MAN-Aktien. Das traditionsreiche, in den 1840er Jahren gegründete Maschinenbauunternehmen wollte nach dem Ersten Weltkrieg eine „strategische Allianz mit einem bedeutenden Unternehmen der Schwerindustrie“ schmieden.9 Dazu hatte die MAN Hugo Stinnes10 auserkoren, der im August 1920 durch die Verschmelzung der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten AG mit der Gelsenkirchener Bergwerke AG die mächtige Rhein-Elbe-Union geschaffen hatte. Anton Rieppel, Generaldirektor der MAN, formulierte seine Abneigung gegen Paul Reusch so: „Stinnes unterscheidet sich von Reusch nur in den Sitten und Gebräuchen; er ist geschickter, klarer in seinen Zielen und pocht weniger auf seine Machtmittel als auf Überzeugung von der Notwendigkeit seiner Vorschläge und Absichten“.11 Um der GHH noch Chancen für eine Übernahme einzuräumen, führte Paul Reusch Gespräche mit dem Sohn des MANGründers, Theodor Cramer-Klett, hinter dem Rücken des MAN-Generaldirektors Rieppel. Es gelang ihm, die Angliederung der MAN an Stinnes in schwarzen Farben zu malen, so dass sich Cramer-Klett im Oktober 1920 entschied, ein sehr großes MAN-Aktienpaket an die GHH zu verkaufen. Nachdem sich beide Seiten im November über den Kaufpreis einig waren, wurde auf der Generalversammlung der MAN am 15. Dezember 1920 der neue Aufsichtsrat, dem nun Paul Reusch, Karl Haniel und Carl Winkler angehörten, konstituiert. Die Kritik der Stinnes nahe stehenden Aktionäre prallte an Paul Reusch ab. Für ihn war die Eingliederung der MAN in die GHH sein größter Erfolg. Darüber hinaus beteiligte Reusch die GHH ebenfalls an der 1921 gegründeten „Schwäbischen Hüttenwerken GmbH“, einem Zusammenschluss der württembergischen Staatshütten, bei denen sein Vater bereits tätig gewesen war, und schloss damit den Kreis, denn Paul Reuschs Vater Karl Hermann „hatte mehrere Jahre lang das Hüttenwerk Wasseralfingen geleitet“.12 Die Schwäbische Regierung verfolgte mit dieser Gründung die Zukunftssicherung der eisenverarbeitenden Betriebe. Aus diesem Grund wurden der GHH die Erzrechte angeboten unter der Bedingung, sich auch an den Hüttenbetrieben zu beteiligen. Paul Reusch gab für eine Beteiligung der GHH von zunächst 50 Prozent grünes Licht. 8 9 10 11 12

James, Familienunternehmen, S. 203. Ebd., S. 206 Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band. Zit. nach James, Familienunternehmen, S. 206. Bähr/Banken/Flemming, MAN, S. 236.

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GEGEN DAS „SYSTEM VON WEIMAR“ Paul Reusch wurde im Kaiserreich sozialisiert und hielt an den in diesem politischen und wirtschaftlichen System vermittelten Grundwerten sein Leben lang fest. Wie ein roter Faden zieht sich beispielsweise sein Hass auf die Gewerkschaften durch sein ganzes Leben. Diese Eigenschaft „vererbte“ er seinem Sohn Hermann Reusch, der in den 1950er Jahren die Montanmitbestimmung mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfte. Paul Reusch stand in der Weimarer Republik an vielen Fronten gegen die Demokratie. Im Herzen Monarchist, zog er vor allem in der Sozialpolitik gegen die Politik aus Berlin zu Felde. Als Verbandslobbyist beispielsweise des „Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“, des „Langnam-Vereins“, des „Bundes zur Erneuerung des Reiches“ oder der „Ruhrlade“ führte Reusch die konservativen Kräfte der Ruhrindustrie im Kampf gegen sämtliche sozialpolitischen Entscheidungen. So stellte er sich u. a. gegen die Einführung des Acht-Stunden-Tags, die Einführung der Arbeitslosenversicherung oder aber auch generell die Gewährung von Lohnerhöhungen. Reusch ging es nicht um einzelne Verbesserungen im Sinne der Unternehmer, sondern er nahm gegenüber jeglichen Arbeitnehmerinteressen eine frontaloppositionelle Haltung ein. In seinem Verständnis von Staat und Kapitalismus hatte der Arbeitnehmer nur eine nachgeordnete Rolle. Drastischer formuliert: Arbeitnehmer und Gewerkschaften hatten keinen gleichberechtigten Platz in der deutschen Wirtschaft. Von dem Ziel die wirtschaftliche Ständeordnung beizubehalten bzw. wiederherzustellen rückte Reusch Zeit seines Lebens nicht ab. So vehement Paul Reusch die „reine Lehre des Kapitalismus“ verkündete, so inkonsequent war er in der praktischen Ausgestaltung. Die Eingriffe des Staates in die Wirtschaft durch sozialpolitische Entscheidungen zu Gunsten der Arbeitnehmer lehnte er vehement ab. Wenn es allerdings darum ging, die Ruhrindustrie gegenüber der wachsenden Konkurrenz abzuschotten, scheute er sich nicht nach staatsdirigistischen Instrumenten zu rufen. Sein allseits bekannter Ausspruch, „Lasst doch die Wirtschaft endlich einmal in Ruhe“, galt für ihn selbst nur eingeschränkt. Mit seinen Forderungen umfangreicher Zollschranken und dem Austritt aus dem Völkerbund stellte er sich gegen eine Freihandelspolitik und redete dem Korporatismus das Wort. Seine zahlreichen politischen Aktivitäten in verschiedenen Verbänden, aber auch durch geschickt lancierte Zeitungsartikel, waren in der Wortwahl scharf und in der politischen Richtung stark deutschnational. Es fehlte Paul Reusch an diplomatischem Geschick und an Zurückhaltung. Gegenüber der Politik der Siegermächte ließ er es an jeglicher Kompromissbereitschaft fehlen. Statt auf Verständigung setzte Reusch auf Konfrontation, was Politikern wie Stresemann schadete und „nationalistischen Fanatikern in die Hände“ spielte.13 Durch die Beteiligung der GHH am Münchener Zeitungsverlag Knorr & Hirth, die als wichtigstes Organ die „Münchener Neuesten Nachrichten“ (MNN) herausbrachten, gelang es Reusch auch Einfluss auf die Politik zu nehmen, wenngleich das Engagement der GHH auf dem Zeitungsmarkt primär mit der Expansion der 13

Langer, Reusch, S. 419.

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GHH nach Süddeutschland zu erklären ist. Bereits Anfang der 1920er Jahre war die MAN größter europäischer Druckmaschinenhersteller. Die Stoßrichtung der MNN war konservativ, föderalistisch und demokratisch. Bis 1932 schaffte es die MNN größte Tageszeitung in Süddeutschland zu werden. Mitte der 1920er Jahre musste sich die GHH allerdings der feindlichen Übernahme durch den Medienmogul Alfred Hugenberg erwehren. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen vor Gericht und einer schlussendlichen Einigung beider Parteien durch den Bergbauverein, kaufte die GHH die Anteile Hugenbergs am Verlag Knorr & Hirth zurück und besaß nach der Kapitalerhöhung 1930 mit 52,2 Prozent die Mehrheit an der MNN. Ein anderer Konflikt war inhaltlicher Natur. Die Redaktion der MNN lag im Dauerstreit mit der NSDAP-Zeitung „Völkischer Beobachter“. Als im Frühjahr 1932 Paul Reusch den Verantwortlichen bei der MNN einen „Burgfrieden mit der NSDAP“ aufzwingen wollte, kam es zu einem längeren Konflikt zwischen Reusch, der Redaktion und der Verlagsleitung: Er versuchte, massiven Einfluss auf die Berichterstattung des MNN gegenüber der NSDAP und vor allem dem „Völkischen Beobachter“ zu nehmen. Er wollte die Redaktion des MNN dazu verpflichten, gleichsam als Ergebnis seines persönlichen Arrangements mit Hitler, die „Angriffe auf den Völkischen Beobachter und einzelne NS-Politiker einzustellen“.14 Konkret hatte Reusch in einem persönlichen Gespräch mit Adolf Hitler vereinbart, dass die von der GHH kontrollierten Zeitungen während der Kampagne zur Reichspräsidentenwahl 1932 keine „sachlich ungerechtfertigten und persönlichen“ Angriffe gegen Hitler veröffentlichen sollten.15 Es wurde im Sommer 1932 allerdings klar, dass sich Reusch mit seinen Forderungen nicht würde durchsetzen können. Er handelte daraufhin gewohnt konsequent und zog sich aus den Presseangelegenheiten zurück und kündigte im Februar 1933 sein Abonnement der MNN. VEREINIGTE STAHLWERKE Anfang der 20er Jahre kam es innerhalb der Familie Haniel zu vernehmbarer Kritik am zurückhaltenden Führungsstil von Paul Reusch. Besonders die jüngere Generation wünschte sich eine „weitere Konsolidierung in Konzernen und Trusts“ und hatte mit Werner Carp einen ebenso hartnäckigen wie durchsetzungsstarken Vertreter ihrer Interessen.16 Zusammen mit Theodor Böninger, der wie Carp ebenfalls eine Haniel geheiratet hatte, forcierte Carp die Einflusssicherung des Carp-Böninger Flügels auf die Geschäftsführung der GHH mittels Wahl in den GHH-Aufsichtsrat. Die Stoßrichtung Carps lag diametral entgegengesetzt zur Unternehmenspolitik von Paul Reusch. Carp liebäugelte schon seit den Inflationsjahren mit dem Einstieg der Haniels bei Phoenix, „einem der dynamischsten und wachstumsstärksten Unternehmen in Nachkriegsdeutschland.“17 Werner Carp gelang es im Laufe der 1920er Jahre die Beteiligung an Phoenix auf ein Fünftel zu erhöhen. Sein Plan ging 14 15 16 17

Ebd., S. 596. Koszyk, Münchner Neuesten Nachrichten, S. 80. James, Familienunternehmen, S. 216. Ebd., S. 217.

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jedoch weiter darüber hinaus: Nach Gründung der Vereinigten Stahlwerke 1926 konnte Carp nur durch die Integration der GHH in die Vereinigten Stahlwerke seine Position sichern. Paul Reusch hatte sich im Zuge der strukturellen Veränderungen durch Gründung der Vereinigten Stahlwerke stets gegen die Beteiligung dieser an der Gutehoffnungshütte ausgesprochen. Carp hingegen sorgte sich in erster Linie um eine sinkende Dividende, welche die Gutehoffnungshütte bei mangelnder Konkurrenzfähigkeit und den daraus folgenden geringeren Erträgen ausschütten könne. Aufgrund der höheren Selbstkosten sei, so Carp, die GHH auf Dauer nicht mehr konkurrenzfähig. Aus diesen Gründen bot er den GHH-Aktionären Aktien der Vereinigten Stahlwerke im Verhältnis 1:1 an – plus einer Zahlung von 1.000 RM je Aktie. Da Paul Reusch an dieser Sitzung nicht teilgenommen hatte, kam es hier noch zu keinem Eklat, auch wenn Hans Böninger als Mitglied des Aufsichtsrates eine ebenso ablehnende Haltung einnahm. Paul Reusch schrieb in seinem Brief an die Mitglieder des Aufsichtsrates drei Wochen später, dass „die Fortsetzung des Feldzuges des Herrn Carp nicht nur die Beunruhigung in den Kreisen unserer Aktionäre vergrößern, sondern diese Beunruhigung auch in unseren Beamtenkörper hineingetragen wird, beziehungsweise schon hineingetragen hat [sic!]“. Im Weiteren wird eine Fortsetzung „dieser unfreundlichen Auseinandersetzung manchen Aktionär veranlassen, sich von seinem Aktienbesitz zu trennen – lauter unerfreuliche Erscheinungen, die nicht im Interesse unseres Unternehmens liegen“.18 Es kam in der Folgezeit nicht zu der von Carp angestrengten Majorisierung der Gutehoffnungshütte durch die Vereinigten Stahlwerke. Dies lag zu keinem Zeitpunkt im Interesse der Haniels oder Paul Reuschs. Mit einer finanziellen Sonderbelastung wurde dieser Versuch erfolgreich abgewehrt: Die GHH garantierte ihren Aktionären eine Dividende von zehn Prozent im Geschäftsjahr 1929/30 und zusätzlich eine Zahlung von 2.000 RM je Aktie. Die Kritik von Werner Carp und seinen Erben an der Unternehmenspolitik der Reuschs und der Haniels ging jedoch beinahe unvermindert weiter. Als Werner Carp 1938 nach heftigen Auseinandersetzungen in den Aufsichtsrat der Gutehoffnungshütte zugewählt wurde, soll Paul Reusch auf der ersten Sitzung Werner Carp mit den Worten „Man wird sich dran gewöhnen müssen, des Teufels Hinterteil zu küssen“ begrüßt haben. Die Streitigkeiten zwischen Carp und den Reuschs bzw. der Familie Haniel zogen sich noch bis in die 1960er Jahre hinein.19 WELTWIRTSCHAFTSKRISE Zunächst schien es, als ob die GHH die Weltwirtschaftskrise, die mit dem Börsencrash vom Oktober 1929 rasant an Fahrt aufnahm, relativ unbeschadet überstehen könne. Doch der verzögerte Umsatzeinbruch bei den weiterverarbeitenden Unternehmen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unternehmensstra18 19

Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA) 130–400101300/26: Paul Reusch an die Mitglieder des Aufsichtsrates der GHH, 30. Juni 1930, Blatt 10. James, Familienunternehmen, S. 216–222.

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tegie Paul Reuschs, „die GHH durch den vertikalen Konzernaufbau gegen Krisen abzusichern“ als wirkungslos erweisen sollte.20 Nun rächte es sich, dass die „GHH in ihre Montanbetriebe nicht so viel investiert hatte wie z. B. Krupp, weil die Gelder in die neuen, weiterverarbeitenden Tochtergesellschaften geflossen waren“.21 Doch dies war nicht der einzige Grund. Vor allem die Abhängigkeit der GHH von der Nachfrage aus dem Bergbau und der Werftindustrie sorgte für den Wegfall von 30.000 Arbeitsplätzen im Zeitraum zwischen Mitte 1929 und 1932. Damit einher ging das Zechensterben in Oberhausen: Zum 1. April 1931 schloss die GHH ihre Zechen „Oberhausen“ und „Hugo“ sowie im Januar 1932 die Zeche „Vondern“. Als letzte Zeche wurde „Sterkrade“ Anfang 1933 geschlossen. Nur die drei Zechen „Jacobi“, „Ludwig“ und „Osterfeld“ überlebten die Weltwirtschaftskrise. Ähnlich erging es den Hochöfen der GHH. Von insgesamt sieben Hochöfen blieben Ende 1932 „nur noch zwei in Betrieb“.22 Paul Reusch Führungsstil bei der GHH wies auch in der Weimarer Republik eine hohe Kontinuität auf. Zwar beendete er den Expansionskurs der GHH in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre und war fortan „hauptsächlich an der Konsolidierung der bestehenden Unternehmensteile interessiert“, doch führte er seine unternehmerischen Leitsätze weiterhin fort.23 Dazu gehörten das Festhalten am vertikalen Aufbau der GHH, die rechtliche Selbständigkeit der Konzernunternehmen, die finanzielle Unterstützung der GHH-Tochtergesellschaften in Krisenzeiten durch den Mutterkonzern sowie die Wahrung der Unabhängigkeit der GHH gegenüber den Banken. Dass Reuschs Strategie innerhalb der Eigentümerfamilie Haniel keine bedingungslose Zustimmung fand, kann mit der finanziellen Lage des Gesamtkonzerns besonders in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik erklärt werden. Es zeigte sich, dass der „vertikale Konzernaufbau keineswegs automatisch einen wirtschaftlichen Erfolg nach sich ziehen musste“.24 Im Gegenteil: Statt einer Risikostreuung kam es zu einer Risikoanhäufung und damit zu einer finanziellen Zerreißprobe für den Mutterkonzern. Spätestens seit 1924 mussten setzte sich die „Bezuschussung der Tochterunternehmen“ weiter fort und die weiterverarbeitenden Konzerngesellschaften brachten der GHH „finanzielle Belastungen“ ein.25 Die Kontinuität des formalen Aufbaus der GHH fand sich auch in der Zusammensetzung der Aktionärsstruktur wieder. Reusch selbst verfügte als Aktionär über kaum nennenswerten Einfluss auf die GHH und das Aktienportfolio der Haniels war innerhalb der Familie weit gestreut. Die Skepsis der Eigentümerfamilie gegenüber den Banken sorgte ebenso für eine hohe Kontinuität hinsichtlich der Zusammensetzung der GHH. Genauso wie sein Sohn Hermann Reusch Jahrzehnte später, setzte auch Paul Reusch auf gute Verbindung zu einzelnen Bankiers, wie z. B. Max Warburg. 20 21 22 23 24 25

Bähr, MAN, S. 260. Ebd. Ebd., S. 261. Marx, Reusch, S. 334. Ebd., S. 335. Bähr, MAN, S. 254.

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Ebenso zu Paul Reuschs Leitsätzen gehörte der unangefochtene Führungsstil innerhalb der GHH. Er konnte ohne Rücksprache mit den Eigentümern und den „übrigen Vorstandsmitgliedern Entscheidungen“ treffen.26 Im Gegensatz zu anderen Unternehmern in der Weimarer Republik, bestand das Geschäftsnetzwerks Paul Reuschs ausschließlich aus Führungskräften des GHH Konzerns. Zu den Vorständen der GHH-Konzerngesellschaften sowie zu einzelnen Vorständen des Mutterkonzerns, allen voran Hermann Kellermann, pflegte Paul Reusch ein besonderes Verhältnis. Als einen der wichtigsten Leitsätze definierte Reusch den Erhalt der Selbständigkeit der GHH. Von einer Beteiligung der GHH an den Vereinigten Stahlwerken hielt er wenig bis gar nichts und auch einem weiteren Expansionskurs der GHH erteilte Reusch eine klare Absage. Aufgrund der finanziellen Lage der GHH zum Ende der Weimarer Republik, wäre dies allerdings auch schlecht möglich gewesen. „NACH LAGE DER DINGE WERDEN WIR WOHL MITMACHEN MÜSSEN“27: MACHTERGREIFUNG UND ARRANGEMENT IM NATIONALSOZIALISMUS Doch nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch betrieb Paul Reusch aktiven Lobbyismus, indem er z. B. an der Gründung des Bundes zur Erneuerung des Reiches mitwirkte oder aber versuchte, eine Einheitspartei aus verschiedenen rechten Kräften zu formen. Während der Weltwirtschaftskrise sprach sich der GHH-Generaldirektor mehrmals gegen die seiner Ansicht nach Überhand nehmende Einmischung des Staates in die Wirtschaft aus. Mit seinem Eintreten für die Präsidialregierung von Schleicher folgte Paul Reusch dieser konsistenten Linie. Dies bekräftigt zudem einmal mehr seinen rechts-nationalen Standpunkt. Anfang der 1930er Jahre war sich Paul Reusch sicher, dass „Deutschland eine grundlegende politische Neuausrichtung brauche“, weswegen er zu Anfang eine gewisse Hoffnung in Adolf Hitler setzte. Bei einem zweistündigen Gespräch am 19. März 1932 legte er dem späteren Reichskanzler nahe, „bei einer eventuellen Regierungsbildung nicht nur das Wirtschaftsressort, sondern auch das Finanz-, Außen- und Innenressort mit Fachleuten zu besetzen“.28 Doch die anfängliche Zuversicht Reuschs verflog schnell, denn schon Mitte 1933 beklagte er nicht nur die Rechtsunsicherheit im nationalsozialistischen Deutschland, sondern vor allem den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft. Durch die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) und auch die Deutsche Arbeitsfront mische sich der Staat in Angelegenheiten ein, die ihn nichts angingen. Es ist daher kein Wunder, dass Paul Reusch auch zu einem entschiedenen Gegner des Projektes „Reichswerke Hermann Göring“ wurde, wenngleich, wie Harold James konstatiert, der „Widerstand der Privatwirtschaft“ gegen die Gründung des staatlichen Stahlwerks zur Verhüttung deutscher 26 27 28

Marx, Reusch, S. 336. Das Zitat stammt aus einem Brief Hermann Kellermanns an Paul Reusch vom 24. Febr. 1933, abgedruckt in: Langer, Reusch, S. 561. James, Familienunternehmen, S. 224.

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Magererze, schwach blieb.29 Die persönliche Skepsis Paul Reuschs gegenüber den Nationalsozialisten bedeutete jedoch keinesfalls eine Distanz der GHH zum neuen Regime. Im Gegenteil: Der „internen skeptischen Distanz“ folgte eine nach „außen forcierte Anpassung“ an das NS-Regime.30 Schon bald nach dem Januar 1933 initiierte der Oberhausener Konzern zusammen mit drei anderen Unternehmen die Gründung der Metallurgischen Forschungsanstalt (Mefo), mit deren Hilfe die Wiederaufrüstung des Deutschen Reiches maßgeblich unterstützt wurde. Mit den sogenannten Mefo-Wechseln gelang es, die Herkunft der Finanzmittel zu verschleiern und damit die Diskontierung durch die Reichsbank zu ermöglichen. Nach der erfolgreichen Implementierung des Mefo-Projekts begann in Oberhausen unter Paul Reusch die Anpassung der Produktion an das Rüstungsgeschäft. Besonders die MAN baute unter Hochdruck ihr Portfolio um und sicherte sich u. a. zahlreiche Lizenzen für Rüstungsprodukte, darunter Flugzeugmotoren. In der neun Jahre später, noch unter der Verantwortung von Paul Reusch veröffentlichten „Denkschrift über die Aufwendungen der GHH im Zuge des Vierjahresplans“, wurden die Leistungen der GHH im Rahmen der Autarkiepolitik überschwänglich angepriesen. Neben der erfolgreichen Umstellung auf die Rüstungsproduktion stellte die GHH vor allem die Sicherung der Rohstofffrage in den Vordergrund. Dazu gehörte der Steinkohlenbergbau auf den Zechen Osterfeld, Jacobi und Ludwig, die zusammen mit den Hüttenwerken die nötigen Rohstoffe für die Walzwerke in Oberhausen Sterkrade lieferten. Kein anderes GHH-Werk produzierte so kontinuierlich und umfangreich für die Wehrmacht u. a. Brücken und Stahlroste für die Luftwaffe. Nicht erst 1941 waren die letzten Zweifel ausgeräumt, dass die GHH ein Rüstungsunternehmen war. Schon geraume Zeit vor dem Vierjahresplan stellte Paul Reusch die Fertigung der GHH-Werke auf die Rüstungsproduktion um und sorgte für eine erhebliche Beteiligung der GHH an der deutschen Aufrüstung. AUSBEUTUNG DER DEUTSCHEN ERZE IM ZUGE DES VIERJAHRESPLANS Bereits seit der Machtübernahme 1933 versuchte Paul Reusch die GHH am umfassenden Subventionsprogramm der Reichsregierung zur Steigerung der deutschen Erzverarbeitung zu beteiligen. Im Rahmen der Autarkiepolitik zielte die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten vor allem auf die Reduzierung von Importen und die damit einhergehende Förderung deutscher Rohstoffe. Sukzessive sollte der Anteil deutschen Eisenerzes an der Verarbeitung gesteigert werden. Die schwerindustriellen Ruhrkonzerne verarbeiteten 1933 höchstens 20 Prozent deutsches Eisenerz. Paul Reusch kümmerte sich bereits im Sommer 1933 persönlich darum, „die Erzlager der GHH auf der Schwäbischen Alb bei den wirtschaftspolitischen Planungen des Regimes ins Spiel zu bringen“.31 Aufgrund guter Kontakte zu Reichswehrminister Werner von Blomberg, Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht 29 30 31

Ebd., S. 225. Langer, Reusch, S. 630. Ebd., S. 667.

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und zu Wilhelm Keppler in der Reichskanzlei gelang es Paul Reusch, dass die GHH bei den Subventionen des Staates u. a. für den Transport schwäbischer Erze ins Ruhrgebiet berücksichtigt wurde. Bis zur Verkündung des Vierjahresplans im September 1936 sorgte Paul Reusch in Süddeutschland für eine optimale Auslastung der dortigen GHH-Erzgruben, trotz großer technischer Schwierigkeiten bei der Aufbereitung der eisenarmen einheimischen Erze. Sein Sohn Hermann Reusch, der seit 1935 stellvertretendes Vorstandsmitglied und seit 1937 ordentliches Mitglied des GHH Vorstands war, wurde von seinem Vater mit der Erschließung der süddeutschen Doggererzfelder betraut. DER RÜCKTRITT VON PAUL UND HERMANN REUSCH 1942 Auch wenn Paul Reuschs Haltung zum Nationalsozialismus als ambivalent bezeichnet werden muss, bleibt kein Zweifel an der Einzigartigkeit der Vorgänge um seinen Rücktritt im Februar 1942. Nicht viele Unternehmer wurden in der NS-Zeit gezwungen, ihren Posten aufzugeben. Entzündet hat sich der Konflikt mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Paul Reusch und Ernst Franke, dem Vorstandsvorsitzenden der zur GHH gehörenden Kabel- und Metallwerke Neumeyer (KMN). Als überzeugter Nationalsozialist und Parteimitglied stand Franke im Dauerkonflikt mit Paul Reusch, der bestrebt war, dessen „Eigenständigkeiten ein Ende zu setzen“.32 Der Konflikt schaukelte sich in der Folgezeit immer mehr hoch und gipfelte im Mai 1941 in der Entziehung des Vertrauens Frankes auf der Hauptversammlung der KMN durch Reusch. Daraufhin mischte sich der SD in die Vorgänge ein und erweiterte den Korridor: Nicht mehr allein Paul Reusch war Adressat der Angriffe durch die Nationalsozialisten bzw. die Gauleitung in Franken, sondern die GHH als Gesamtunternehmen stand unter Beschuss. Reusch sollte aus der Konzernleitung getrieben und durch einen politisch verlässlicheren Manager ersetzt werden. Nach einigen Streitigkeiten zwischen allen Beteiligten, neben der NSDAP und dem SD schaltete sich auch das Reichswirtschaftsministerium in den „Fall Reusch“ ein, stand Franke trotz mächtiger Verbündeter am Ende mit leeren Händen da: Ebenso wie Reusch musste er seinen Posten räumen. Zum 1. November 1941 legte Paul Reusch seinen Posten im Vorstand der GHH Oberhausen AG nieder und bereits Ende Januar 1942 teilte Reusch dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Holding mit, dass er Ende März 1943 auch aus dem Vorstand der Konzernholding ausscheiden werde. Dies ging der NSDAP allerdings nicht schnell genug. Paul Reusch erhielt, angeblich von Heinrich Himmler initiiert, am 21. Februar 1942 ein Ultimatum. Noch am selben Tag trat er von allen Ämtern zurück. Lediglich den Aufsichtsratsposten bei den Schwäbischen Hüttenwerken behielt er inne. Aus Loyalität zu seinem Vater, aber auch um seiner Entlassung zuvorzukommen, trat auch Paul Reuschs Sohn Hermann als Vorstandsmitglied der GHH zum 31. Juni 1942 zurück. Als Nachfolger Paul Reuschs wurde Hermann Kellermann an die Spitze der GHH berufen. Zweifelsohne war Kellermann mit 32

Bähr, MAN, S. 307.

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seinen 67 Jahren nur eine Interimslösung. Das ausgesendete Signal des GHH-Aufsichtsrats war eindeutig: eine endgültige Klärung der Vorstandsfrage verschob man auf die Zeit nach dem Krieg. Auch wenn Paul Reusch von seinem Posten entfernt wurde, wäre es vermessen, ihn als „Opfer“ des Nationalsozialismus zu bezeichnen. Schließlich profitierte und akzeptierte Reusch die Autarkie- und Rüstungspolitik des Deutschen Reichs bis zum Ende seiner Amtszeit. Um sich im Konkurrenzkampf gegen die anderen Ruhrkonzerne einen Vorsprung zu verschaffen, trieb er die Erschließung und Verarbeitung inländischer Erze an. Paul Reusch selbst verließ das Ruhrgebiet verbittert und zeigte sich enttäuscht über die mangelnde Rückendeckung der Ruhrindustriellen im Kampf gegen die NSDAP. VERBITTERUNG UND TOD Seinen Groll über das erzwungene Ausscheiden aus der GHH überwand Paul Reusch nie. Neben dieser sehr persönlichen Niederlage ereilten ihn in den letzten Kriegsjahren zudem zwei weitere harte Schicksalsschläge. Seine Frau Gertrud starb im Januar 1944 und sein Enkel Hermann Leopold kam in den letzten Kriegstagen als Flakhelfer bei einem Abwehrmanöver ums Leben. Allein durch diese beiden Ereignisse drohte Reusch in „tiefe Depressionen zu versinken“.33 Beiden setzte er ein Denkmal auf dem Familienanwesen Katharinenhof, das Reusch zu seinem Refugium ausbaute und wo er nach Kriegsende 1945 unbeschadet lebte. Zudem fürchtete Reusch sich vor den reichsweiten Ermittlungen gegen die Mitglieder des von im gegründeten Reusch-Kreises nach dem Attentat vom 20. Juli 1944. Allerdings konnte keine Beteiligung Reuschs am Widerstand nachgewiesen werden. Reichsrüstungsminister Albert Speer persönlich, „wies damals die Anschuldigungen zurück, die gegen Reusch“ erhoben worden waren.34 Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss Paul Reusch eine Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte aus, gleichwohl war er nach wie vor an der Entwicklung der GHH interessiert und kümmerte sich persönlich um die Wiederingangsetzung der Maschinenfabrik Esslingen und der Schwäbischen Hüttenwerke in Süddeutschland, während sein Sohn die Verantwortung für den entflochtenen neuen Konzern übernahm. Diesem erteilte er – ob gewollt oder nicht – immer wieder Ratschläge zur Unternehmensführung, auch wenn Hermann Reusch sich in den folgenden Jahren langsam aus dem Schatten seines Vaters bewegen sollte. Nachdem Paul Reusch die größten Schwierigkeiten bei der Umstellung von Kriegs- auf Friedenproduktion bei den beiden von ihm betreuten Konzernwerken überwunden hatte und auch die mit der Internierung des Leitungspersonals hervorgerufenen Probleme bewältigt hatte, zog er sich Anfang der 1950er Jahre vollkommen auf seinen württembergischen Katharinenhof zurück, wo er am 21. Dezember 1956 verstarb.35 33 34 35

Bähr/Banken/Flemming, MAN, S. 313. Ebd. Gerhard Hetzer, Unternehmer in Umbruchzeiten. Paul und Hermann Reusch, in: Paul Hoser/ Reinhard Baumann (Hrsg.), Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbischalemannischen Raum, Konstanz 2003, S. 463–496; Marx, Leitung, S. 539–543.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Bähr, Johannes / Banken, Ralf / Flemming, Thomas (Hrsg.), Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008. Bähr, Johannes, Paul Reusch und Friedrich Flick. Zum persönlichen Faktor im unternehmerischen Handeln der NS-Zeit, in: Hartmut Berghoff / Jürgen Kocka / Dieter Ziegler (Hrsg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands und Österreichs, München 2010, S. 275–297. Hetzer, Gerhard, Unternehmer in Umbruchszeiten. Paul und Hermann Reusch, in: Paul Hoser / Reinhard Baumann (Hrsg.), Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbischalemannischen Raum, Konstanz 2003, S. 463–496. Langer, Peter, Paul Reusch und die Gleichschaltung der Münchener Neuesten Nachrichten, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 203–240. Langer, Peter, Paul Reusch und die „Machtergreifung“, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), S. 157–201. Langer, Peter, Macht und Verantwortung. Der Ruhrbaron Paul Reusch, Essen 2012. Luntowski, Gustav, Hitler und die Herren an der Ruhr. Wirtschaftsmacht und Staatsmacht im Dritten Reich, Frankfurt/Main 2000. Marx, Christian, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013. Marx, Christian, Die Mischung macht’s. Zur Bedeutung von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital bei Paul Reusch während des Konzernaufbaus der Gutehoffnungshütte (1918– 1924), in: Markus Gamper / Linda Reschke (Hrsg.), Knoten und Kanten. Soziale Netzwerkforschung in Wirtschafts- und Migrationsforschung, Bielefeld 2010, S. 159–193. Marx, Christian, Netzwerkhandeln und Unternehmensführung bei Paul Reusch. Aspekte der Corporate Governance im Konzernaufbau der Gutehoffnungshütte (1918–1924), in: Susanne Hilger/ Achim Landwehr (Hrsg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011, S. 65–90. Marx, Christian, Paul Reusch – ein politischer Unternehmer im Zeitalter der Systembrüche. Vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), S. 273–299. Rauh-Kühne, Cornelia, Zwischen „verantwortlichem Wirkungskreis“ und „häuslichem Glanz“. Zur Innenansicht wirtschaftsbürgerlicher Familien im 20. Jahrhundert, in: Dieter Ziegler (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 215–248.

HUGO STINNES (1870–1924) – „KAISER DER INFLATION“ Per Tiedtke I. EINLEITUNG Zwar verstarb Hugo Stinnes bereits am 10. April 1924 und erlebte damit nur die frühe Phase der Weimarer Republik, aber dennoch gilt sein Name doch geradezu als Paradebeispiel eines Unternehmertypus, der zur Geschichte der Weimarer Republik gehört wie kaum ein zweiter. Als „Spekulanten“, „Inflations-Eindringlinge“ oder „Kriegsgewinnler“ bezeichnete die Öffentlichkeit jene Unternehmer wie Friedrich Flick, Otto Wolff, Günther Quandt1 oder eben Hugo Stinnes, die in den Krisenjahren der deutschen Inflation (1914–1923) nicht zu der breiten Masse an wirtschaftlichen Verlierern zählten, sondern ihren Wohlstand durch die Krise brachten und sogar vergrößerten.2 Hugo Stinnes herausragende Position in diesem Kreis verdeutlichte der Journalist Paul Ufermann als er kurz nach Stinnes‘ Tod schrieb, dass dieser „unter den Königen der Inflation ungefähr den Rang ein[nahm], den früher der deutsche Kaiser unter den deutschen Landesfürsten einnahm“.3 Im Beitrag wird zunächst knapp auf die Anfänge des Unternehmers im Rheinischen Kohlebergbau und die unternehmerische Expansion bis zum Ersten Weltkrieg geblickt. Größere Aufmerksamkeit wird der Zeit des Ersten Weltkriegs gewidmet, in der Stinnes sich der Politik annäherte, die er dann in der Gründungsphase der Weimarer Republik intensiv mitgestaltete. Danach geht der Blick über von der „Politik des Unternehmers“ auf die „Unternehmenspolitik“, indem an aussagekräftigen Beispielen die Konstruktion des Stinnes-Unternehmen nachgezeichnet wird. Zum Abschluss folgt wie es nach dem Tod des Firmenpatriarchen dem Unternehmen in der Weimarer Republik erging und welche Legenden und Mythen um den Unternehmer entstanden.

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Siehe dazu die Beiträge von Tim Schanetzky, Dittmar Dahlmann und Judith Michel in diesem Band. Vgl. Christof Biggeleben, Kontinuität von Bürgerlichkeit im Berliner Unternehmertum. Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (1879–1961), in: Volker Berghahn (Hrsg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Essen 2003, 241–274, hier S. 259. Paul Ufermann, Könige der Inflation, Berlin 1924, S. 20.

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II. MÜHLHEIM AN DER RUHR Hugo Stinnes wurde am 12. Februar 1870 als drittes von vier Kindern in Mülheim an der Ruhr geboren. Wie viele Unternehmer seiner Generation wuchs er in einer wirtschaftlich bereits sehr erfolgreichen Familie auf. Sowohl sein Großvater Mathias wie sein Vater Hermann Hugo hatten sich in einer Branche etabliert, in der auch Hugo seine ersten Schritte als Unternehmer machen sollte. Der europäische Kohlehandel begründete und garantierte den Wohlstand der Familie Stinnes, deren Sitz in Mühlheim strategisch günstig zu den Kohlereservoirs des Ruhrgebietes und dem sich herausbildenden westeuropäischen Wirtschaftsraum lag.4 Hugo Stinnes Karriere begann früh. Als er 17 und kurz vor dem Abschlussexamen war, starb sein Vater überraschend im Alter von nur 45 Jahren. Hugo war zu dieser Zeit jedoch noch nicht geschäftsfähig und so übernahm ein Cousin, Gerhard Küchen, die Verantwortung für das Familienunternehmen. Nach dem Schulabschluss bemühte Stinnes sich, so rasch wie möglich Kenntnisse in der Unternehmenspraxis zu erwerben. Er begann zwar Ausbildung, Studium und Praktika, brach sie aber stets ab, wenn er der Meinung war, genug gelernt zu haben. 1892 sah er im Alter von 23 Jahren die Zeit gekommen, sein unternehmerisches Talent auf die Probe zu stellen. Er wählte nicht den Weg des geringsten Widerstandes, den vielleicht ein Posten im väterlichen Unternehmen versprochen hätte, sondern gründete sein eigenes Unternehmen, die Hugo-Stinnes GmbH. Gleichwohl blieb er der Kohle und damit der Branche des Familienunternehmens treu. Stinnes’ Wachstumsstrategie umarmte die Trends und Innovationen seiner Zeit. Sein Biograph Gerald D. Feldman spricht für die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg von der kreativsten Schaffensphase des jungen Unternehmers.5 Der Kurs zielte von Anfang an auf Europäisierung und vertikale Integration seiner Firmen. Bereits sein zweites Unternehmen gründete er in Straßburg, um die Märkte Luxemburgs und Frankreichs zu erschließen. Nicht viel später folgten weitere Zweigstellen in Newcastle, Brüssel und Genua. Daneben investierte er in den Brachen, die dem Kerngeschäft seines Unternehmens – der Kohle – vor- bzw. nachgelagert waren. So ergänzte er zum Beispiel 1907 die Hugo-Stinnes GmbH um ein Standbein in der Reederei. Später folgten weitere Investitionen in der Schifffahrt, wo Stinnes schließlich auch im Überseehandel aktiv wurde.6 Die vertikal integrierten Unternehmen unter dem Dach des Stinnes-Konzerns wuchsen zu enormen Ausmaßen an. Der Montanriese, die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG (DL) verfügte über Kohlezechen, Hochöfen und Stahlwerke an verschiedenen Industrierevieren. Eines seiner innovativsten Projekte war aus der Idee heraus entstanden, die Kohlevorräte 4 5 6

Zur wirtschaftlichen Integration in Westeuropa vor 1945 vgl. Carl Strikwerda, The Troubled Origins of European Economic Integration. International Iron and Steel and Labor Migration in the Era of World War I, in: The American Historical Review 98/4 (1993), S. 1106–1129. Vgl. Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, 1870–1924, München 1998, S. 950. Die Schifffahrt ist heute die einzige Branche, in der mit der Hugo Stinnes Schiffahrt GmbH noch ein Unternehmen existiert, das Stinnes’ im Namen trägt. Vgl. Hugo Stinnes Schiffahrt, online: http://www.stinnes-linien.de, [letzter Abruf: 26. November 2014].

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des Ruhrgebietes zur zentralen Stromversorgung weiter Teile Deutschlands zu nutzen. Dies war technisch möglich geworden, als in den 1880er Jahren Strom mittels der neuen Fernkabel erstmals über weitere Distanzen übertragen werden konnte. Die neuen Möglichkeiten nutzend ging Stinnes seit 1898 gemeinsam mit August Thyssen7 und einem Bankenkonsortium daran, aus dem kurz zuvor gegründeten Essener Elektrizitätswerk einen der größten Energieversorger Deutschlands zu konstruieren: die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE).8 Stinnes gelang es in den zwei Jahrzehnten seiner unternehmerischen Karriere bis zum Ersten Weltkrieg, von Grund auf einen Konzern zu errichten, der über mehrere Standbeine und über hervorragende Geschäftsbeziehungen ins europäische und internationale Ausland verfügte. Noch 1914 hatte er in den Ländern der zukünftigen Kriegsgegner England und Russland investiert. Der Krieg in Sicht verursachte dem Unternehmer daher tiefe Sorgen um die Zukunft seines Besitzes und Deutschlands. Clärenore, die älteste Tochter von insgesamt sieben Kindern erinnerte sich später in wohlwollendem Ton an den Wandel des Vaters: „Wir verloren ihn an unser Vaterland, dessen Not er vorausahnte.“9 III. ANNÄHERUNG AN DIE POLITIK IM ERSTEN WELTKRIEG Im Ersten Weltkrieg tendierte der global agierende Unternehmer zunehmend zu einer expansiv-nationalistischen Haltung. Er selbst sagte im Sommer 1915 in einem Briefwechsel mit dem Historiker und späteren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde, dass er vor 1914 „der aufrichtigste Anhänger einer friedlichen Verständigung ohne jede Eroberungswünsche“ gewesen sei. Unter dem Eindruck des Krieges, durch den ihm „die Augen geöffnet worden“ seien, müsse er jedoch nun „für eine Erweiterung der Grenzen im Ausmaße der von den wirtschaftlichen Verbänden gekennzeichneten Grenzen“ eintreten.10 Im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch ist auch das Wertesystem zu erkennen, das der Unternehmer sowohl sich selbst als auch seinen Erben zur Grundlage machte. An seinen Vertrauten, den Bonner Kunsthistoriker Paul Clemen, der gemeinsam mit Stinnes’ Sohn Fahrten an die Front unternahm, schrieb er, ein „junger Mann [darf] sich nicht fürchten und muss mit dahingehen, wohin die Umstände und das übernommene Amt ihn führen. So sehr ich an meinen Kindern hänge, möchte ich nicht, dass nach der Richtung hin aussergewöhnliche Rücksicht genommen wird, denn nur derjenige kann im späteren Leben bestehen, der sich nicht scheut, wo es nötig ist seine Person einzusetzen.“11 7 8 9 10 11

Zu August Thyssen vgl. den Beitrag von Jörg Lesczenski in diesem Band. Über die Zusammenarbeit zwischen August Thyssen und Hugo Stinnes liegt ein ausführlicher Briefwechsel vor. Vgl. Manfred Rasch / Gerald D. Feldman (Hrsg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898–1922, München 2003. Zit. nach Feldman, Stinnes, S. 374. Zit. nach ebd., S. 389. Stinnes an Clemen, 13. Dezember 1914, Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Nachlass Hugo Stinnes I-220, 038/3.

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Seine eigene Rolle in der „Erweiterung der Grenzen“ des Deutschen Reichs verstand er zum einen darin, sein unternehmerisches Engagement im Rüstungssektor auszubauen und zum anderen darin, sein wirtschaftlichen Sachverstand und politische Einschätzungen mit der Reichsregierung zu teilen. Die Kontakte reichten bis in die Oberste Heeresleitung, die Stinnes in geostrategischen Fragen beriet. Zum Beispiel stellte er sich gegen die im Weltkrieg zu großer Popularität in den Zirkeln deutscher Militärs, Politiker und Unternehmer gelangende Idee eines „Mitteleuropas“. Unter dieses Schlagwort fielen unterschiedliche Vorstellungen, deren gemeinsamer Kern die Konstruktion eines integrierten Raumes war, in dessen Zentrum das Deutsche Reich stand, ergänzt durch ein wirtschaftlich und politisch eng angebundenes östliches und südöstliches Europa. Zentrale Bedeutung in diesen Konzepten hatte die Verbindung mit Österreich, an genau der sich Stinnes störte. Für ihn war die auf den Konsum im Inneren konzentrierte Wirtschaft ÖsterreichUngarns nur schlecht vereinbar mit der stark am Export orientierten Wirtschaft des Deutschen Reichs. Stattdessen empfahl er eine Verständigung mit Russland. Die Zweigstelle seines Unternehmens in Schweden, die zum Import deutscher Kohle und Export schwedischer Eisenerze gegründet worden war, diente zugleich als Informationsstelle zur politischen Entwicklung in Russland. Die Erkenntnisse stellte Stinnes auch der Obersten Heeresleitung zur Verfügung.12 Wie hier bereits angedeutet, war die mit der Reichsregierung geteilte Expertise Stinnes’ stets eng mit seinen unternehmerischen Interessen verknüpft. So beriet er die Regierung in Fragen der Rohstoffversorgung und baute gleichzeitig sein Engagement mit massiven Zukäufen bei einer der größten Reedereien Deutschlands aus, der Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG). Dabei dachte er keineswegs nur daran, Versorgungsmöglichkeiten und eine durch die Seeblockaden der Alliierten existenziell gefährdete Branche zu sichern. Vielmehr spekulierte er darauf, von einer bereits im Krieg erreichten komfortablen Marktposition in der prosperierenden Nachkriegszeit zu profitieren.13 Mit einer ähnlichen Erwartungshaltung rechtfertigte er seinen Einstieg in die Flugzeugindustrie. Gegenüber seiner rechten Hand, dem Generaldirektor der DL Albert Vögler14, zeigte er sich überzeugt, dass die Aufträge „in Zukunft […] auf dem Wasser und der Luft liegen und nicht auf dem Land“.15 Gemeinsam mit dem Pionier der österreichischen Luftfahrtindustrie, Camillo Castiglioni, mit dem er zeitlebens Geschäfte in Deutschland, Italien und Südosteuropa machte,16 zog er ab 1917 eine Flugzeugproduktion in Brandenburg a. d. Havel auf. Castiglioni, zeitgenössisch als „österreichischer Stinnes“ bekannt, brachte durch seine Geschäfts12 13 14 15 16

Vgl. Feldman, Stinnes, S. 403. Vgl. ebd., S. 425–427. Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band. Randbemerkung, 20. November 1916, ACDP, I-220, 223/6. Einer der spektakulärsten, von Castiglioni eingefädelten Deals war die Stinnes-Übernahme der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft, des wichtigsten Unternehmens der österreichischen Montanindustrie, an der die faschistische Regierung großes Interesse hatte. Die Empörung in Italien über das Geschäft und die Methoden Castiglionis war in der faschistischen Regierung wie der Öffentlichkeit groß. Vgl. Deutsche Botschaft Rom an Auswärtiges Amt, 8. Oktober 1924, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 243.063.

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beziehungen zu den Bayerischen Motorenwerken (BMW) deren Flugmotoren mit in die Produktion ein. Stinnes wiederum setzte sich für das Konzept des Ganzmetallflugzeuges ein, wodurch er Absatzmöglichkeiten für die Metallproduktion seiner Montanwerke schuf.17 Stinnes verstand es also, sich eine Branche zu erschließen, die nicht nur kurzfristige Gewinne durch Rüstungsaufträge versprach, sondern auch eine goldene Zukunft in der zivilen Wirtschaft der Nachkriegszeit haben sollte. Gleichzeitig zeigte er sein Können als Konzernarchitekt, indem die Expansion nicht losgelöst von seinen bisherigen Geschäftsfeldern geschah, sondern die verschiedenen Produktionen seiner Unternehmen verknüpfte. Von diesen und anderen Zukäufen der Weltkriegszeit, wie etwa in der nicht minder zukunftsträchtigen Erdölproduktion, kann man den Eindruck gewinnen, dass Stinnes durch den Krieg enorm profitierte. Diese Ansicht teilte die New York Times in einem Portrait über den „Neuen Zar Deutschlands“. Den Stand der deutschen Wirtschaft zum Kriegsende fasste sie knapp zusammen: „Stinnes first, and the rest nowhere“.18 Wenn diese Darstellung für 1918 noch übertrieben sein mag, wie unter anderem die Unternehmerbiographien dieses Sammelbandes zeigen, so können doch kaum Zweifel bestehen, dass Stinnes eine geeignete Position erreicht hatte, um sich nun in der Weimarer Republik zum „mächtigsten Mann der deutschen Wirtschaft“19 zu entwickeln. IV. UNTERNEHMER IN DER POLITIK DER WEIMARER REPUBLIK Stinnes’ Machtzuwachs seit dem Ende des Ersten Weltkrieges beruhte darauf, dass er sowohl von zwei Seiten, der Politik wie der Wirtschaft, zum Wortführer der deutschen Unternehmer aufgebaut wurde als auch diese Rolle selbstständig anstrebte. Viel Zeit zum Verschnaufen gab es 1918 nicht. Der Arbeitsmarkt musste auf die zurückkehrenden Soldaten vorbereitet werden und die Unternehmer sahen sich mit Forderungen der Arbeitnehmer konfrontiert, auf die es zu reagieren galt. Stinnes selbst war ein entschiedener Gegner allzu weitreichender Eingriffe des Staates in die Wirtschaft. Gerade die „gelenkte“ Kriegswirtschaft, an der er so intensiv mitgearbeitet hatte, galt ihm als Negativbeispiel eines zu starren und ineffizienten Wirtschaftsregimes. Für die Entwicklung eines Demobilisierungskonzeptes setzte er daher voll auf eine möglichst weitreichende Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Unternehmern ohne staatliche Einmischung. Gemeinsam sollte ein wirtschaftspolitisches Programm erarbeitet werden, das gleichzeitig ein Bekenntnis zum Kapitalismus wie ein Entgegenkommen bei den Arbeitsbedingungen darstellen sollte. Die Verhandlungen im November 1918 führten Gewerkschaften und Unternehmer in sehr konzilianter Art, die auch über den Ausbruch der Revolution am 9. November 1918 anhielt. Ausschlaggebend für das große Entgegenkommen war sicherlich, dass die Gewerkschaften in der wirtschaftlich äußerst schwierigen Zeit auf den unternehmerischen Sachverstand nicht verzichten wollten und den Unter17 18 19

Vgl. Feldman, Stinnes, S. 442–445. Hugo Stinnes, Czar of New Germany, in: The New York Times, 2. Oktober 1921, S. 44. Feldman, Stinnes, S. 512.

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nehmern führten die revolutionären Bewegungen vor Augen, dass ihre gesellschaftliche Stellung nicht mehr länger unangefochten war.20 Das Ergebnis der Verhandlungen war das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918, benannt nach den Verhandlungsführern Stinnes und dem Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Carl Legien. Das Abkommen schuf die Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG), eine Institution, die Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen rechtlichen Rahmen für ihren Interessenausgleich bot. In der ZAG waren die Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeiterschaft und die von ihnen abgeschlossenen Tarifverträge anerkannt worden. Die ZAG setzte sich für eine im Vergleich zur Kaiserzeit vollkommen neue Form der Betriebsverfassung ein und griff Arbeitnehmerforderungen wie diejenige nach dem Achtstundentag auf. Die kooperative Zusammenarbeit währte aber nur kurz. Insbesondere in der Frage der Arbeitszeit entbrannte nur wenige Jahre nach Gründung der ZAG ein Streit, der schließlich 1924 zur Aufkündigung des Abkommens führte. Die historische Bedeutung des Stinnes-Legien-Abkommens sollte trotz der kurzen Lebensdauer nicht unterschätzt werden. Erstmalig wurde hier ein Pfad der Sozialpartnerschaft eingeschlagen, auf dem die Ausfüllung dieses Konzepts in der Bundesrepublik später aufbaute. Stinnes’ politische Ambitionen reichten aber weit über den eng mit seiner unternehmerischen Tätigkeit verknüpften Bereich der Betriebsverfassung hinaus. 1920 trat er der Deutschen Volkspartei (DVP) bei, für die er wie auch seine rechte Hand, Albert Vögler, ein Reichstagsmandat wahrnahm. Die nationalliberale Partei der bürgerlichen Mitte zählte zahlreiche Größen der Weimarer Öffentlichkeit unter ihren Reihen wie den Präsidenten der Reichsbank Hjalmar Schacht, den Soziologen und Nationalökonomen Alfred Weber oder den Publizisten Theodor Wolff. Wie Stinnes kam auch der Parteivorsitzende der DVP, Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann aus der Interessenvertretung der Industrie. Die Gemeinsamkeiten gingen allerdings nicht sehr weit und so zählte der am rechten Rand der DVP stehende Stinnes eher zu den parteiinternen Kritikern Stresemanns. Nachdem Stinnes bereits Erfolge in den Verhandlungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften erzielen konnte, zog ihn die Reichsregierung ab 1920 auch zu Verhandlungen auf der internationalen Bühne hinzu. Die Aufgabe war groß, es galt die Reparationen auszuhandeln, die das Deutsche Reich den Siegermächten des Ersten Weltkrieges zu leisten hatte. Stinnes, der zunächst zögerte, in den Bereich der Außenpolitik einzusteigen, blieb allerdings ganz Unternehmensführer und sein Verständnis von Diplomatie stieß nicht nur bei Vertretern der Delegationen anderer Länder auf Unverständnis, sondern auch innerhalb der deutschen Abordnungen.21 Auf der Konferenz von Spa im Juli 1920, wo erstmals deutsche Politiker mit den Vertretern der Siegermächte über Reparationen verhandelten, begegnete er dem britischen Premier Lloyd George und hinterließ einen bleibenden Eindruck: Stinnes’ Stellungnahme hatte es gemäß George den Alliierten „sehr viel schwieriger gemacht den Deutschen entgegenzukommen“. Seiner Entrüstung über 20 21

Vgl. Jakob Reichert, Entstehung, Bedeutung und Ziel der „Arbeitsgemeinschaft“, Berlin 1919. Vgl. Feldman, Stinnes, S. 625.

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das Verhalten Stinnes gab er zum Ausdruck, indem er von seinem Gefühl berichtete, dass er „zum ersten Mal einem richtigen Hunnen“ begegnet sei.22 Sein forderndes Auftreten in Spa führte auch nicht dazu, dass er sich in der deutschen Delegation Gehör verschaffen konnte. In der Frage, ob die geforderten Kohlelieferungen erfüllt oder abgewiesen werden sollten, positionierte er sich als Hardliner, der zur Nichterfüllung stand, auch wenn das die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Truppen der Entente bedeutete. Nachdem er sich allerdings mit seiner Position nicht durchsetzen konnte, rechnete er im Zorn mit der Delegation ab und schreckte auch nicht vor antisemitischen Angriffen zurück. Mit Blick auf die jüdischen Sachverständigen Walter Rathenau, Moritz Bonn, Bernhard Dernburg und Carl Melchior sagte Stinnes, dass eine „Anzahl Vertreter in Spa, […] aus einer fremdländischen Psyche heraus den deutschen Widerstand gegen unwürdige Zumutungen gebrochen haben“.23 Ein Gegner der sogenannten Erfüllungspolitik blieb Stinnes zeitlebens. Seine Kompromisslosigkeit führte dazu, dass er sich zunehmend von der Reichsregierung entfremdete. Persönlichkeiten des Kabinetts, die sein Vertrauen verloren, versuchte er aus dem Amt zu drängen. Wiederaufbauminister Rathenau zum Beispiel lastete Stinnes das Wiesbadner Abkommen (1921) zur Regelung der Reparationslieferungen an Frankreich an, das in seinen Augen „überaus schlecht“ war. Obgleich er sich nicht offen für Rathenaus Absetzung aussprach, reichte doch alleine der kurzer Hinweis nach dem Rücktritt des ersten Kabinetts Wirth, dass Rathenau nicht mehr das Vertrauen Stinnes’ genieße, um Rathenau dazu zu bewegen, sein Amt für die anstehende Kabinettsbildung zur Verfügung zu stellen.24 Gleichzeitig führte die Distanz zur Politik der Reichsregierung nicht dazu, dass er seine politischen Standpunkte nicht mehr in die öffentliche Debatte einbrachte. Seine Glaubwürdigkeit war aber dadurch stark belastet, dass die Öffentlichkeit in seinen Vorschlägen oft lediglich einen Ausdruck seiner unternehmerischen Interessen witterte, die durch den Mantel einer an der Allgemeinheit ausgerichteten Politik kaschiert wurden. Bereits die Übernahme der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ), über die Stinnes sich am politischen Diskurs beteiligte, verursachte ein Misstrauen, dass eine der großen Weimarer Qualitätszeitung zur öffentlichen Legitimierung der Interessen des Stinnes-Konzerns eingesetzt werden könne. Das Misstrauen war nicht minder groß hinsichtlich Stinnes’ Forderung nach Privatisierung. Wiederholt riet er dazu „mit allem Nachdruck die Beseitigung der Luderwirtschaft in den staatlichen und stadtlichen Betrieben an die Spitze vor jeder Steuerbewilligung zu stellen“.25 Insbesondere Stinnes’ Eintreten für die Privatisierung der Reichsbahn sah die Öffentlichkeit mit Misstrauen. Seine wiederholte Anklage, dass das Staatsunternehmen vollkommen ineffizient arbeite und somit den Bedürfnissen der Nutzer nicht genüge, stand der Verdacht entgegen, das es ihm letztlich darum ging, die Logistiksparte des Stinnes-Konzerns auf der Schiene zu vergrößern.26 22 23 24 25 26

Documents on British Foreign Policy, First Series, Bd. VIII, Nr. 60, S. 531. Zit. nach Peter Wulf, Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 1918–1924, S. 215. Vgl. Feldman, Stinnes, S. 723 f. Stinnes an Vögler, 23. August 1921, ACDP, I-220, 057/4. Vgl. Feldman, Stinnes, S. 737.

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Tatsächlich war das politische Wirken Stinnes’ zu kaum einem Zeitpunkt nicht gleichzeitig eng mit seinem Geschäft verknüpft, was bei der schieren Größe seines Unternehmensbesitzes und dem politischen Gewicht, das er in der Weimarer Republik erwarb, kaum zu überraschen vermag. Dennoch kann eine Phase dieser Verschränkung von Politik und Wirtschaft hervorgehoben werden, da sie sowohl für Stinnes’ persönliche Biographie, als auch für die Geschichte der Weimarer Republik epochal war: die Zeit der Ruhrbesetzung und der Hyperinflation. Nachdem das Deutsche Reich seinen Verpflichtungen zu Reparationen nicht mehr nachgekommen war, hatten zu Beginn des Jahres 1923 französische und belgische Truppen das westdeutsche Industrierevier besetzt. Die Reichsregierung rief daraufhin zum „passiven Widerstand“ und einem Generalstreik auf. Um die Arbeiter nicht ohne Lohn zu lassen, zahlte die Regierung die Gehälter weiter und griff zur Finanzierung auf die Notenpresse zurück. Dies befeuerte die seit dem Weltkrieg schwelende Inflation, die sich in der Ruhrkrise zur Hyperinflation auswuchs.27 Stinnes spielte in dieser Krise eine gewichtige Rolle, denn so wie er die „Erfüllungspolitik“ stets bekämpft hatte, setzte er nach der Besetzung sein ganzes politisches Gewicht ein, um eine in seinen Augen verfrühte Stabilisierung der Mark zu verhindern. Die Inflation war für ihn zum Kampfmittel geworden. Gegenüber den Amerikanern bezeichnete er diesen Kampf einmal als eine „Frage von Geld oder Leben, und wenn er zwischen beidem zu wählen habe, würde er immer das Geld fahren lassen“.28 Dass diese Kompromisslosigkeit auch die Leiden der Bevölkerung verlängerte, war ihm bewusst, aber wie er einem der maßgeblichen Manager der westfälischen Montanindustrie, Emil Kirdorf, schrieb, sei „das Leiden […] nötig, und es ist auch viel besser, wenn Leute wie Thyssen dabei an erster Stelle stehen und sich festlegen, als wenn die Aktion unter meinem Namen ginge“.29 Diese Positionierung im Hintergrund des Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung war keineswegs Ausdruck, dass sich Stinnes auf die Rolle eines Scharfmachers hinter den Kulissen zurückzog. Er hatte eine klare Meinung, die ihn zum Verfechter des Widerstandes machte, gleichzeitig aber eine ebenso klare Meinung wie der Konflikt um die Reparationen gelöst werden könne. Dazu suchte er Bewegungsfreiheit, um hinter den Kulissen zu verhandeln, denn die „Reparatur kann ich im deutschen Fall nur mit den Franzosen machen“.30 Stinnes war überzeugt von der Möglichkeit, dass Deutschland und Frankreich zu einem Ausgleich gelangen könnten, denn seiner Erfahrung nach konnte „mit den einzelnen Franzosen sehr leicht eine weitgehende Übereinstimmung der Ansichten herbeigeführt werden […], während, wenn sich erst die verantwortlichen Staatsminister – meist Advokaten – gegenüberstehen, das Resultat ganz anders aussieht“.31 Stinnes selbst sah sich als Patrioten, der Deutschland vor korrupten Politikern und dem Ausverkauf der Industrie an ausländische Interessenten bewahrte. In der 27 28 29 30 31

Vgl. Gerd Krumeich / Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkriegs. Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004. Zit. nach Feldman, Stinnes, S. 761. Stinnes an Kierdorf, 17. Januar 1923, ACDP, I-220, 020/1. Stinnes an Wiedfeldt, 15. März 1923, ACDP, I-220, 022/3. Stinnes an unbekannt, 15. März 1923, ACDP, I-220, 022/3.

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Weimarer Öffentlichkeit wurde allerdings mehrfach angezweifelt, dass Stinnes nur aus reiner Vaterlandsliebe für die Inflation eintrat. Ein regelrechter Skandal brach im April 1923 über die Meldung aus, Stinnes habe in großem Maßstabe Pfund gekauft, wodurch er nicht nur einen Stabilisierungsversuch der Währung zum Scheitern gebracht, sondern ebenfalls sein Guthaben im Ausland vor weiterer Entwertung durch die Inflation geschützt habe. Stinnes nahm diese Vorwürfe sehr ernst, drohten sie doch nicht zuletzt aufgrund ihrer Verbreitung bis in die Regierung seine politische Glaubwürdigkeit zu untergraben. Daher bemühte er sich über die DAZ nachzuweisen, dass hinter den tatsächlich abgelaufenen Pfundkäufen nicht sein Konzern stand.32 Stinnes meisterte diesen Skandal. Ein Regierungsausschuss kam zu dem Schluss, dass die verheerenden Devisentransaktion nicht dem Stinnes-Konzern anzulasten seien. Zweifelsohne nutzte der Unternehmer aber die Inflation für seinen Konzern und seine expansive Unternehmenspolitik – nicht erst seit sie sich 1922/23 zur Hyperinflation ausweitete, sondern über den gesamten Zeitraum seiner Weimarer Schaffensphase. V. DIE UNTERNEHMENSPOLITIK DES „KAISERS DER INFLATION“ In seiner Vermögenszuwachs-Steuererklärung von 1920 sah Stinnes abfällig auf die Finanzlage des Reichs, das bereits 236 Milliarden Schulden habe und weiter „Noten auf Noten druckt ohne jede Deckung“, so dass es eigentlich längst bankrott sei. Von seiner eigenen Liquidität hingegen war er in höchstem Maße überzeugt: er könne „heute im In- und Auslande jeden benötigten Kredit“ haben und dieser Kredit sei die „Grundlage“ seines Geschäfts.33 Seine rechte Hand, Albert Vögeler, fasst es einmal so: „Die einzige Sicherung ist die Geldbeschaffung durch fremde Kredite, so daß irgend ein anderer die entwertete Mark zurückerhält“.34 Mittels dieser Finanzierungsstrategie setzte Stinnes den bereits in der Kaiserzeit begonnenen Kurs der Unternehmensexpansion fort und legte sogar noch an Tempo zu. Er erkannte, dass es kostengünstiger war, bestehende Betriebe mit geliehenem Geld zu übernehmen, als sie von Grund auf hochzuziehen, da die Baukosten bei hoher Inflation zu explodieren drohen. Er kaufte allerdings nicht wahllos, was gerade auf dem Markt war, sondern setzte weiterhin auf vertikale Integration seiner Unternehmen. Zum Beispiel erweiterte er sein Geschäft in der Zellstoffindustrie, die über die Holzproduktion für den Stollenbau mit seinem Engagement in der Kohleproduktion verknüpft war und gleichzeitig den Grundstoff für die Papierproduktion lieferte, auf die seine Druckmedien wie die DAZ zurückgriffen. Durch diese vertikale Verknüpfung ersparte er seinen Unternehmen, Vorprodukte auf dem freien Markt einzukaufen, was insbesondere in Phasen hoher Inflation große Kosten in Unternehmen verursachen kann, da sie ständig auf die sich verändernden Preise reagieren müssen. In der Wirtschaftswissenschaft spricht man bei diesen kostenver32 33 34

Vgl. Feldman, Stinnes, S. 869 f. Vermögenszuwachs-Steuererklärung, 7. August 1920, zit. nach Feldman, Stinnes, S. 634. Zit. nach ebd., S. 826.

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ursachenden Faktoren von Inflation von menu costs oder dem Speisekarteneffekt, also den Kosten die bildlich dadurch entstehen, wenn ein Restaurant ständig neue Speisekarten drucken muss, da die Preise sich ständig verändern.35 Sein Meisterwerk als „Konzernarchitekt und Schrittmacher des deutschen Unternehmenskapitalismus“36 gelang Stinnes wohl mit der Gründung der SiemensRheinelbe-Schuckert-Union (SRSU) 1920. Der gewaltige Elektromontankonzern umfasste in der Montansparte Stinnes DL und die Gelsenkirchener BergwerksAG (GBAG) sowie die Elektrokonzerne Siemens und Halske und Schuckert. Die Grundidee war einfach: die stahlproduzierenden Unternehmen suchten eine konstante Absatzmöglichkeit und die verarbeitenden Unternehmen eine sichere Rohstoffbasis. Tonangebend in dem Zusammenschluss war der Stinnes-Konzern und Albert Vögler übernahm die administrative Leitung. Besonders positiv für die Montanunternehmen war, dass sie vom internationalen Renommee und den Vertriebsorganisationen von Siemens profitieren konnten.37 Die Inflation verschaffte Stinnes nicht nur die Möglichkeit, Unternehmensübernahmen günstig zu finanzieren. Dadurch, dass Lohnerhöhungen in Zeiten hoher Inflation regelmäßig dem steigenden Preisniveau hinterherhinken, konnte er die Kosten der Produktion in Deutschland drücken. Damit gewann Stinnes’ Konzern gegenüber den Produzenten anderer Länder einen Wettbewerbsvorteil auf den internationalen Märkten. Ebenfalls hart kalkulierend ging Stinnes mit privaten Investoren um, die Obligationen seiner Unternehmen erworben hatten. Anleger bei der DL, die sich zu einem Interessenverbund zusammengeschlossen hatten, sahen sich von Stinnes um ihr Investment betrogen, da sie mit „fast wertlos gewordenen Papiermark“ in Höhe des ursprünglich vereinbarten Nominalwerts abgespeist werden sollten. Doch auch der Verweis auf rechtliche Schritte seitens der Anleger konnte Stinnes nicht dazu bewegen, von dieser Praxis abzusehen.38 Allerdings zeigte er sich nicht gänzlich blind für die verheerende Auswirkung der Inflation auf weite Teile der Bevölkerung. Öffentlich forderte er die Einführung einer im Wert stabilen Goldrente. Damit sollte ein Ausgleich geschaffen werden zu den entwerteten Sparguthaben der Arbeiter, die dadurch vor eine enorme Gefahr der Altersarmut gestellt wurden. Es soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass die Inflation für Stinnes nicht auch eine Gefahr bedeutete. Insbesondere als sie ab 1922/23 immer höhere Raten in immer kürzeren Zeiträumen erreichte, sah er sich vor die Frage gestellt, ob er den eingeschlagenen Weg weiter gehen konnte. Er entschied sich gegen einen generellen Kurswechsel, erhöhte aber soweit es irgend ging die Aufmerksamkeit für die finanziellen Gefahren einer zu langsamen Anpassung an das steigende Preisniveau. Er selbst widmete einen großen Teil seiner Zeit dem Studium von Unternehmensbilanzen und rief jeden Manager zur Verantwortung, der in den Augen des „Prinzipals“ – wie Stinnes im Geschäftsverkehr des Konzerns genannt wurde – das 35 36 37 38

Vgl. Nicholas Mankiw, Economics, London 2008, S. 621–631. Feldman, Stinnes, S. 665. Alfred Reckendrees, Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A. G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000, S. 100–108. Dr. Eger an Vorstand der DL, 14. Februar 1923, ACDP, I-220, 057/1.

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vorgegebene und erwartete Tempo nicht erfüllen konnte. Darüber hinaus stoppte er die Praxis, dass Unternehmen seines Konzerns untereinander Kredit gewährten und verpflichtete sie, ausschließlich bei der Bank zu leihen. Diese Strategie wurde unterstützt durch die Entscheidung des Reichsbankpräsidenten Rudolf Haverstein, der in Sorge vor Liquiditätsengpässen in der Wirtschaft im September 1922 eine höchstmögliche Diskontierung von Handelswechseln durch die Reichsbank erließ. Für die SRSU bedeutete diese Entscheidung nicht weniger als eine Erweiterung der Kreditlinie um 6 Milliarden Mark.39 Vielleicht ist es unter diesen Umständen nicht verwunderlich, dass sowohl im Büro des Prinzipals als auch im Büro seines Sohnes und Unternehmernachfolgers prominent ein Ölportrait des Reichsbankpräsidenten hing.40 Mit der gesicherten Liquidität setzte Stinnes die Expansion seines Konzerns fort, während die Hyperinflation den politischen und sozialen Frieden in Deutschland gefährdete. Zukunftsweisend baute er seinen Konzern im Erdölsektor aus, unter anderem mit der Übernahme der Aktiengesellschaft für Petroleum-Industrie (Api). Dabei griff er weit in den Produktionszyklus aus, indem er seine Tankerflotte erweiterte und Ölhandelshäuser übernahm. In dieser Branche profitierte er außerdem durch die Inflation, indem Verträge für Lagerkapazitäten – im Ölgeschäft ein wesentlicher Kostenfaktor – langfristig und auf fixe Papiermark-Preise abgeschlossen wurden.41 Zudem übernahm er Unternehmen, die über die Auswirkungen der Hyperinflation in finanzielle Schieflage geraten waren. Zu diesen Zukäufen gehörte die Versicherungsgesellschaft Nordstern, damals eine der größten deutschen Versicherungen, die fortan die Geschäfte Stinnes’ absicherte. Stinnes gelang das unternehmerische Meisterwerk, über die Zeit der Inflation der Weimarer Republik seinem Unternehmensbesitz enorme Ausmaße zu geben. 1924 besaß er 1.500 Unternehmen mit 2.900 Betriebsstätten und 600.000 Angestellten und übersah damit das „größte Wirtschaftsimperium Deutschlands“42. Der Erfolg hatte seinen Preis. Sicherlich haben seine unermüdliche Arbeitsleistung sowie die in der Zeit der Hyperinflation kaum mehr vorhandene Rücksicht auf das eigene Gemüt dazu beigetragen, dass er mit gerade 54 Jahren in Folge chronischer Magenbeschwerden und einer misslungenen Gallenblasenoperation starb. Das Unternehmen stellte dieser Verlust vor große Probleme. Hugos Ehefrau Cläre erbte den gesamten Besitz und die bereits in die Leitung des Konzerns eingebundenen Söhne Edmund und Hugo jr. wurden zu Generalbevollmächtigten ernannt. Ihnen hatte der Prinzipal aufgetragen, „alles ab[zu]stoßen, was nicht zur Basis von Kohle und Schiffahrt gehört. Bitte denkt daran. Was für mich ein Kredit ist, sind für euch Schulden“.43 Diese Regelung setzten die Erben jedoch nicht 39 40 41 42 43

Vgl. Feldman, Stinnes, S. 820–826. Vgl. ebd., S. 830 Vgl. ebd., S. 839. Vgl. Hugo Stinnes Unternehmensgeschichte, online: http://www.stinnes.com/history.php, [letzter Abruf: 3. Oktober 2015]. Zit. nach Thomas Emons, Hugo Stinnes – Ein Kaufmann aus Mülheim, in: Horst A. Wessel (Hrsg.), Mülheimer Unternehmer und Pioniere im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 2012, S. 236–245, hier S. 240.

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um. Bereits ein Jahr nach seinem Tod geriet der Konzern unter den Vorzeichen der geglückten Währungsstabilisierung in Liquiditätsprobleme, da die fälligen Kredite nicht mehr so leicht bedient werden konnten wie in der Inflationszeit. Teile des Unternehmens musste verkauft werden und so setzte die Aufteilung des gigantischen Stinnes-Besitzes kaum ein Jahr nach seinem Tod ein. Dennoch machte Stinnes’ Wirken auch über seinen Tod hinaus Schule in der Weimarer Republik: 1926 wurden die Vereinigten Stahlwerke gegründet, eine Megafusion, die die Montanunternehmen der SRSU mit Thyssen, Phönix und den Rheinischen Stahlwerken verband und so den größten Montankonzern Europas schuf. Albert Vögler, rechte Hand des Prinzipals, wirkte hier als Vorstandsvorsitzender weiter. Ebenfalls geblieben sind Legenden um die Person Stinnes, woran mehrere literarische Verarbeitungen seiner Person bereits kurz nach seinem Tod großen Anteil hatten. Dabei changierte die Darstellung des Prinzipals gemäß der unterschiedlichen politischen Kreise, aus denen die Autoren stammten. So wurde er z. B. im rechtsnationalen Milieu zum Vorkämpfer gegen die Versailler Ordnung stilisiert44 oder von Heinrich Mann als Ausbeuter der arbeitenden Massen.45 Im Ruhrgebiet hielt sich noch für Jahrzehnte die Redewendung „das walte Hugo“ – in Anlehnung an das Sprichwort „das walte Gott“ – wollte man zum Ausdruck bringen, dass über eine Angelegenheit in den mächtigsten Händen entschieden wird und das war eben Gott oder Stinnes. VI. SCHLUSS Die Geschichte des Unternehmers Stinnes in der Weimarer Republik ist eine Geschichte des rastlosen Aufstiegs und raschen Zusammenbruchs. Dass sein Handeln bestimmende absolute Primat der Wirtschaft, ließ ihn politisch scheitern, da es ihm die Kompromissfähigkeit nahm, die im politischen Diskurs der jungen Demokratie gefragt war. Erfolgreich – vermutlich aufsehenerregender als die meisten der in diesem Sammelband behandelten Persönlichkeiten – agierte er als Unternehmer in der Inflation. Dabei machte er im Grunde kaum etwas anders als in seiner Schaffensphase vor dem Ersten Weltkrieg. Die Umstände der deutschen Inflation kamen seinen Strategien wie der vertikalen Konzernintegration sehr entgegen. Dabei war er sich durchaus bewusst, dass andere Zeiten andere Geschäftsgebaren verlangen werden. Darin zeigte sich seine enorme Weitsicht, die nicht nur die Frage von Kredit und Schulden in unterschiedlichen konjunkturellen Phasen überblickte, sondern auch etwa die Potentiale grenzüberschreitender wirtschaftlicher Zusammenschlüsse und der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Vermutlich zählt zu seinen großen Versäumnissen, dass er diese Erfahrungen nicht effektiv an seine Erben weitergeben konnte, die wie kaum eine zweite Erbengeneration in der Weimarer Republik für Überforderung und Zusammenbruch eines Familienunternehmens ein Beispiel gaben. 44 45

Nathanael Jünger, Kaufmann aus Mülheim – Ein Hugo Stinnes-Roman. Dem deutschen Volke geschrieben, Wismar 1925. Heinrich Mann, Kobes, Berlin 1925.

Hugo Stinnes (1870–1924)

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Domberg, Bernhard-Michael / Rathje, Klaus, Die Stinnes – Vom Rhein in die Welt. Geschichte einer Unternehmerfamilie, Wien 2009. Feldman, Gerald D., Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998. Rasch, Manfred / Feldman, Gerald D. (Hrsg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898–1922, München 2003. Wulf, Peter, Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 1918–1924, Stuttgart 1979.

AUGUST ROSTERG (1870–1945) Patrick Bormann DER AUFSTIEG AUGUST ROSTERGS ZUM KONZERNCHEF Die noch junge Kaliindustrie gehörte zu den aufstrebenden Wirtschaftszweigen der Weimarer Republik. Nach bescheidenen Anfängen in den vorherigen Jahrzehnten waren erst in den späten 1880er Jahren größere Kaliunternehmen gegründet worden. Zunächst in erster Linie der Bergbaubranche zuzuordnen, wandte sich die Kaliindustrie in den Weimarer Jahren auch der chemischen Düngemittelindustrie zu und umfasste damit zwei klassische Zweige der jungen deutschen Industrienation. Der bedeutendste Unternehmer der Weimarer Kalibranche war fraglos der heute kaum noch bekannte August Rosterg, der mit der Wintershall-Gruppe den führenden deutschen Kalikonzern schuf. 1870 geboren, war Rosterg landläufig gesprochen ein „Selfmademan“: Er besaß keine kapitalkräftige oder zumindest beziehungsreiche Ausgangsbasis. Vielmehr ließ seine Herkunft aus einer kinderreichen westfälischen Bergmannsfamilie – er war das zehnte von dreizehn Kindern – seine spätere Stellung nicht unbedingt erahnen. Wie ein roter Faden zieht sich der Faktor Bildung durch sein frühes Leben. Bereits während seiner Dorfschulzeit erhielt er abendlichen Förderunterricht. Mit 14 Jahren arbeitete er auf der Kohlenzeche Massen. Falls er, was nicht belegt ist, dort am großen Bergarbeiterstreik von 1889 teilgenommen haben sollte, hätte dies eine ironische Note: Als Konzernchef forderte er später einen Wirtschaftsdiktator mit der Befugnis zur Unterdrückung jeglicher Streiks. Seinen Lohn investierte der junge Rosterg in seine weitere Ausbildung: Zunächst besuchte er die Bergvorschule, die Maschinenbauschule sowie die Bochumer Bergschule, später auch noch verschiedene Vorlesungen an der Bergakademie in Clausthal. Nach der Ausbildung erarbeitete sich Rosterg den Ruf als technisch versierter Schachtbauer, den er ab 1898 als Betriebsführer bei der Gewerkschaft Wintershall in Heringen an der Werra unter Beweis stellte. Ein Kalifund bei Kaiseroda 1893 hatte ein regelrechtes Kalifieber ausgelöst, und die Region entwickelte sich zum wichtigsten Fördergebiet in Deutschland. Die Arbeitsbedingungen waren keineswegs einfach, die Gegend für moderne Industrieanlagen noch weitgehend unerschlossen. Bei der Führung der etwa fünfzigköpfigen Belegschaft hatte Rosterg zunächst mit Autoritätsproblemen zu kämpfen, weshalb er nach wenigen Monaten seine Anweisungen nur noch auf schriftlichem Wege erließ.1 Dennoch erarbeitete er sich Respekt als Betriebsführer, als ihm der Schachtbau unter Anwendung schwieriger tech1

Dienstanweisungsbuch, zit. nach Wintershall. Chronik einer Unternehmensgruppe, Unternehmensarchiv K+S-Gruppe, S. 17.

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nischer Verfahren und trotz starkem Wasserzuflusses in verhältnismäßig kurzer Zeit gelang. Der unternehmensinterne Aufstieg gelang nun rasch: 1908 wurde er zum Bergwerksdirektor und 1916 zum Generaldirektor der Wintershall-Gruppe ernannt. IM KAMPF UM INTERNATIONALE WETTBEWERBSFÄHIGKEIT Spätestens in den Kriegsjahren war die Kalibranche in eine schwere strukturelle Krise geraten, die zum Beginn der Weimarer Republik offenkundig wurde. Ein reichsweites Zwangssyndikat hatte einen teuren Wettkampf um die Absatzquoten ins Leben gerufen, der zur Abteufung2 zahlreicher unwirtschaftlicher Schächte führte. Diese offenkundige Fehlentwicklung ließ Rosterg zum Verfechter einer radikal liberalen Wirtschaftspolitik werden. In einem Vortrag auf einer WintershallTagung 1923 nannte er das wilhelminische Reichskaligesetz „töricht“ und zeigte sich als Kritiker jeglicher Syndikate, da diese den Nachteil hätten, „die Preise so hoch wie möglich zu setzen und jedes einzelne Werk, das aus sich selbst heraus gar nicht lebensfähig sein würde, lebensfähig zu machen, was natürlich nur auf Kosten der gesamten Volkswirtschaft geschehen kann“.3 Das faktische Abteufungsverbot, das mit dem Reichskaligesetz von 1919 erlassen wurde und die 1921 folgende Stilllegungsverordnung, nach der Unternehmen ihre Syndikatsquote behielten, wenn sie freiwillig Schächte stilllegten und somit einer zwangsweisen Stilllegung entgingen, begrüßte er daher. Hingegen kritisierte er die erneute Einrichtung eines Zwangssyndikats: „Man darf überzeugt sein, dass, wenn morgen das Gesetz aufgehoben und die Industrie frei von allen Fesseln sein würde, wir eine ganz andere Entwicklung der Kali-Industrie haben würden.“4 Da mit der Abtretung Elsass-Lothringens die dortigen Kaligruben an Frankreich fielen und in den 1920er und 1930er Jahre weitere Förderländer auf den globalen Markt traten, änderte sich das wirtschaftliche Umfeld für die deutsche Kalibranche radikal. Für Rosterg waren nun die Senkung der Produktionskosten und die Steigerung der Produktivität zentrale Aufgaben, um mit der neuen Konkurrenz mitzuhalten und zugleich das Entstehen weiterer Anbieter zu verhindern. Das bedeutende Auslandsgeschäft galt angesichts der schwachen Finanzkraft der deutschen Agrarindustrie und einer entsprechend gering prognostizierten Absatzsteigerung als das wichtigste Wachstumsfeld. Zwar wurde diese Einsicht branchenweit geteilt, aber kein Unternehmen ging dabei so konsequent und rücksichtslos vor wie der Wintershall-Konzern. Bereits im Geschäftsbericht von 1920 beklagte das Unternehmen, dass „unter dem Schutze des Monopols eine ganze Reihe an sich nicht lebensfähiger Werke entstanden“ seien, obwohl es zugleich in Deutschland „eine größere Anzahl Werke [gebe], die bereits jetzt denkbar geringste Selbstkosten [haben], die bei zusammengefaßtem Betrieb in jedem Falle noch sehr erheblich weiter 2 3 4

Unter „abteufen“ versteht man die Herstellung von Hohlräumen und Schächten zur Erschließung von Rohstofflagerstätten. Vortrag Rostergs auf der Tagung des Wintershall-Konzerns, wiedergegeben in: Deutschlands Wirtschaft und die Kaliindustrie, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 9. Oktober 1923. Ebd.

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sinken [würden]“. Daher ergebe sich von selbst, „daß die Erzeugung auf diesen Werken vereinigt werden muß, um dem ausländischen Wettbewerb erfolgreich zu begegnen“.5 Besonders beeindruckt war Rosterg von der US-Wirtschaft, die er als existenzielle Bedrohung ausmachte: „Ich fürchte, daß, wenn wir uns nicht selbst wieder mit aller Energie aufraffen, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden, uns die Amerikaner total erdrücken. Es wird auch unseren Arbeitern bekannt sein, daß die amerikanischen Waren trotz der in Amerika üblichen hohen Löhne und trotz des dort streng eingehaltenen Achtstundentages, ganz wesentlich billiger produziert und auf dem Weltmarkt angeboten werden, als unsere Waren. Wenn das so weitergeht, wie bisher, wird das deutsche Wirtschaftsgebiet von dem amerikanischen immer mehr zertrümmert und allmählich total ausgeschaltet werden.“6 Wintershall verfolgte in den kommenden Jahren eine radikale Konzentrationsstrategie, übernahm zahlreiche Konkurrenzunternehmen, legte unprofitable Schächte still, fasste die Fertigung auf die produktivsten Anlagen zusammen und errichtete gewaltige Fabrikanlagen, die wiederum zentral die Weiterverarbeitung der Salze vornahmen. Bereits im Januar 1920 konnte Wintershall nach gegenseitigen Übernahmeversuchen mit der Eingliederung der Alexandershall-Gruppe einen entscheidenden Coup landen, der den bislang eher mittelgroßen Kalikonzern in die Spitzengruppe der deutschen Kaliunternehmen katapultierte. Der Erfolg dieser Aktion wurde später als „bemerkenswerte[r] Vertrauensbeweis“ in den „auch in schwierigen Zeiten tatkräftigen neuen Chef August Rosterg“ gewertet.7 Letztlich war jedoch die größere Finanzkraft des Wintershall-Konzerns ausschlaggebend, denn der riskante aber entscheidende Vorstoß, eigene Anteile einzutauschen und somit selbst in Übernahmegefahr zu geraten, war nur durch die finanzielle Rückendeckung der wichtigsten Gewerken möglich. Diese fungierten weitgehend im Hintergrund und sind heute nur noch teilweise identifizierbar. Eine zentrale Position bei der Organisierung der Finanzierung nahm Fritz Rechberg ein. Dieser in Bad Hersfeld angesiedelte und gut vernetzte Tuchfabrikant hatte schon vor dem Weltkrieg in die lokale Kaliindustrie investiert. Vermutlich auf seine Empfehlung investierte spätestens ab 1917 der Pritzwalker Tuchfabrikant Günther Quandt8 in Wintershall-Kuxe. Er wurde später hinter Rosterg der zweitwichtigste Anteilseigner. Beide traten 1918 in den Grubenvorstand der Gewerkschaft Wintershall ein, in dem Rechberg 1921 den Vorsitz übernahm. Weitere wichtige Geldgeber kamen offenbar aus den USA. Zur besseren Strukturierung der Neuerwerbungen, zu denen in der Folge noch weitere Kaliunternehmen wie die AG Deutsche Kaliwerke oder die GlückaufGruppe hinzugefügt wurden, gründete Rosterg Ende 1921 die Holdinggesellschaft Kali-Industrie AG (später dem Sprachgebrauch entsprechend in Wintershall umbenannt). Die Holdinggesellschaft nahm mit der Zeit sämtliche neu erworbenen Unternehmen in sich auf. Die Gewerkschaft Wintershall blieb hingegen als „Ge5 6 7 8

Wintershall. Chronik einer Unternehmensgruppe, Unternehmensarchiv K+S-Gruppe, S. 79 f. August Rosterg, Wie kommen wir aus der Not heraus?, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 6. Januar 1926. Wintershall. Chronik einer Unternehmensgruppe, Unternehmensarchiv K+S-Gruppe, S. 72. Zu Günther Quandt vgl. den Beitrag von Judith Michel in diesem Band.

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winnspeicher“ erhalten, „da eine Gewerkschaft einfacher als eine AG Gewinne im Unternehmen belassen und reinvestieren konnte“.9 Die Finanzgeschäfte der Gruppe wurden an die neugegründete 100-prozentige Tochter Kali-Bank AG übertragen. Später erlangte auch die Westfalenbank, die während der Weimarer Jahre unter den Einfluss des Konzerns geriet, eine Schlüsselstellung. Wichtigster externer Finanzpartner war die Dresdner Bank. Mit der Ausdehnung des Konzerns wurde die Verarbeitung der Salze konzentriert und rationalisiert. In der Frühphase der Kaliindustrie hatten die Bergbauunternehmen das Kali noch im Rohzustand verkauft, waren aber bald dazu übergegangen, die Salze vor Ort in meist kleinen Anlagen selbst zu bearbeiten. Später wurden erste Produktionsgemeinschaften geschlossen. Wintershall ging nun einen entscheidenden Schritt weiter und zentralisierte die Verarbeitung in wenigen großen Fabriken, die nicht nur in der Lage waren, günstiger zu produzieren, sondern nun auch Nebenprodukte in rentablen Größenordnungen zu verarbeiten. Ein besonderes Prestigeobjekt stellte die Produktionsanlage im thüringischen Merkers dar. Diese kapitalintensive Investition war konzernintern umstritten. Vor allem Gewerken der kleineren Werke innerhalb des Gesamtkonzerns sorgten sich um den Wert ihrer Anteile nach Stilllegung alter Betriebe und tendierten zum Ausbau sowie Modernisierung der bestehenden Fabriken. Sie konnten sich mit dieser Forderung jedoch nicht durchsetzen. Der 1923 begonnene Bau der auf längere Zeit größten Kalifabrik der Welt in Merkers wurde 1925 abgeschlossen, während die volle Auslastung der Anlage erst zwei Jahre später erreicht wurde. Zusätzlich wurden hochwertige Nebenprodukte wie Glaubersalz, Bittersalz und Brom produziert, so dass Wintershall auch die steigende Nachfrage aus der chemischen Industrie für diese Produkte bediente und auf dem Markt eine Führungsposition einnahm. DER KALIKAMPF Rosterg verteidigte seine Strategie, sich mittels geringer Preise gegen die internationale Konkurrenz durchzusetzen, und hielt an dieser Maßgabe auch nach Abschluss eines deutsch-französischen Syndikats fest: Es müsse „nach vernünftigen Grundsätzen gearbeitet werden, und diese seien: unablässigste Betriebsverbesserung mit der Möglichkeit der Senkung der Selbstkosten und der Verkaufspreise. […] Die deutsche Kaliindustrie muß die Preise niedrig halten, sehr sehr niedrig, ob sie sich nun mit den Elsässer-Franzosen verständigt hat oder nicht, denn wenn sie jetzt wieder anfangen wollte, aus dem scheinbaren Weltmonopol […] die Kaligeschäfte kurzsichtiger Dividendenpolitiker zu betreiben und zu diesem die Kalipreise erhöhen müßte, dann würde nicht nur das Amerikageschäft gefährdet, sondern dann würde die Konkurrenz auf der ganzen Welt entbrennen.“10 Diese Ausführungen machen auch Rostergs Kritik am Fortbestehen des deutschen Zwangssyndikats ver9 10

Rainer Karlsch / Raymond Stokes, „Faktor Öl“. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859– 1974, München 2003, S. 143. N. N. [O.], Die Interessengemeinschaftsverträge im Wintershall-Konzern. Der Standpunkt der Opposition, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 2. August 1925.

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ständlich: Es hinderte ihn, die Skaleneffekte seiner Großanlagen auszuspielen und die Preise zu diktieren, um die Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. Da der Weg des freien Wettbewerbs nicht offen stand, versuchte er seine Preisvorstellungen auf anderem Wege umzusetzen. Er schreckte auch vor populistischen Maßnahmen nicht zurück. Im Februar 1924 setzte er beispielsweise mittels eines 30-stündigen Ultimatums im Alleingang die Gewährung eines vom Kalisyndikat vergebenen Landwirtschaftskredits durch, um den Inlandsabsatz nach der Inflationskrise anzukurbeln – ein Affront sowohl gegenüber dem Kalisyndikat als auch gegenüber kleineren Kaliwerken, die sich ein solches Entgegenkommen gegenüber der notleidenden Landwirtschaft nicht leisten konnten. Syndikats-Generaldirektor Wilhelm August Forthmann bezeichnete Rosterg daraufhin als „Elefant im Porzellanladen“ und warf Wintershall „Gewaltpolitik“ vor: „Kein Gemeinsinn, keine Solidarität, sondern krasser Egoismus beherrscht die Situation und sucht die Arbeit und Sorgen anderer billig zu ernten.“11 Für eine dauerhafte Durchsetzung seiner Preispolitik benötigte Rosterg jedoch die Quotenmajorität im Kalisyndikat, die 1925 in greifbarer Nähe schien, als Wintershall einen Interessengemeinschaftsvertrag mit Preussag aushandelte. Der Bergbaukonzern war im preußischen Besitz und sollte im Sinne der kriselnden Landwirtschaft in der Kaliwirtschaft als „Kontrollinstrument und Korrektiv privater Wirtschaftstätigkeit“12 auf eine Senkung der Kalipreise hinwirken. Zwar unterblieb der formale Vertragsabschluss aufgrund öffentlicher Kritik an der strategischen Bindung des Staatskonzerns, aber die Interessenkongruenz ließ eine beherrschende Stellung innerhalb des Syndikats für Wintershall wahrscheinlich werden. In dieser Situation schlossen sich nun die Konkurrenten Rostergs unter der Führung Gerhard Kortes vom Burbach-Konzern im „Kaliblock“ zusammen, der eine knappe Mehrheit im Syndikat vertrat. Sie einte zum einen die Ablehnung der Preispolitik des Wintershall-Konzerns, aber nicht zuletzt auch die Sorge vor den persönlichen Machtambitionen Rostergs, weshalb das organisatorisch lose Bündnis auch „Antiblock“ genannt wurde. Da sich vorerst kein Ansatz bot, die Verteilung der Kaliquoten und somit das Machtgefüge im Syndikat zu verändern, musste sich Rosterg in seine Niederlage fügen. Sie kam keineswegs von ungefähr: Der Abschluss des Syndikatsabkommens mit der französischen Kaliindustrie hatte den internationalen Wettbewerb zumindest vorübergehend entschärft, während der Düngemittelabsatz in Deutschland aufgrund der Agrarkrise nicht im erhofftem Maße anstieg. Entsprechend waren die Sympathien für Rostergs radikale Wettbewerbsstrategie innerhalb der Branche gering. Der Wintershall-Leiter hatte in dieser Phase zudem mit internen Problemen zu kämpfen. Die gerade fertiggestellte große, aber auch teure Produktionsanlage in Merkers verfehlte in den ersten beiden Jahren die erwartete Auslastung, so dass Wintershall eine vorübergehende Verminderung des Preisdrucks durchaus gelegen kam. Das dem Konzern kritisch gegenüberstehende Magazin der Wirtschaft 11 12

Zit. nach N. N., Erbauliches aus der Kaliindustrie, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 16. Februar 1924. Bernhard Stier / Johannes Laufer / Susanne Wiborg, Von der Preussag zur TUI. Wege und Wandlungen eines Unternehmens 1923–2003, Essen 2005, S. 99.

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kommentierte diese Entwicklung hämisch mit der Feststellung, Rosterg habe sich „ganz offenbar ‚verbaut‘“.13 Tatsächlich verzichtete der Konzern nun auf den Ausbau bzw. Neubau der Fabrikanlage im Werk Sachsen-Weimar, obwohl bereits teure Vorarbeiten geleistet worden waren. Rosterg selbst kommentierte diese Entwicklung mit der Feststellung, Wintershall sei „mit ihren Einrichtungen 1, 2 oder auch 3 Jahre vorausgeeilt“.14 Diese Krisenphase nutzte Fritz Rechberg, um die Machtposition Rostergs herauszufordern. Allem Anschein nach bemühte sich der zweite Mann im Konzern, eine Mehrheit der Kuxenbesitzer15 für eine Kursänderung im Sinne des Kaliblocks zu gewinnen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich Rechberg angesichts des unverhohlenen Machtanspruchs Rostergs um seine eigene Position innerhalb der Kaliwirtschaft sorgte. Gemeinsam mit dem Londoner Bankhaus Schroeder und dem Amerikaner Zimdim kontrollierte er einen bedeutenden Anteil von etwa 430/1000 der Wintershall-Kuxe. Der Versuch einer Majoritätsbildung scheiterte jedoch, weil sich Rechbergs langjähriger Geschäftspartner Günther Quandt an die Seite von Rosterg stellte. Gemeinsam mit weiteren im Hintergrund agierenden Gewerken sicherte sich dieser eine Mehrheit von 501/1000 Kuxen und band sie – offenbar unkündbar – in der neuen Gewerkschaft Liebenwalde. Die Mehrheit bei Wintershall war Rosterg damit sicher. Diese Vorgänge waren der Öffentlichkeit verborgen geblieben, bis Rosterg im September 1926 Rechberg in einem coup d’état als Vorsitzenden der Gewerkschaft Wintershall abwählen und sich selbst zum Nachfolger bestimmen ließ. Nachdem Rechberg zuvor seine Kritik am Konkurrenten nur angedeutet hatte, stellte er diesen nun in einer öffentlichen Erklärung an den Pranger: „Ich habe mich überzeugen müssen, daß Herrn Rostergs Streben auf die Beherrschung der gesamten deutschen Kaliindustrie gerichtet ist. […] Ich selbst bin der Ueberzeugung, daß es sachlich unrichtig wäre, wenn eine für die gesamte Nation so hochbedeutsame Industrie, wie es die Kaliindustrie ist, als Monopol in die Hände eines Einzelnen und seiner unmittelbaren Gefolgschaft käme.“16 Jahrelang im Raum stehende Spekulationen, dass Rosterg mit seiner aggressiven Strategie auf die Bildung eines Kalitrustes unter seiner Führung abziele, erhielten nun aus dem Inneren des Konzerns mutmaßlich eine Bestätigung. Der Kalikampf schien für Wintershall einen negativen Ausgang zu nehmen, als die Gruppe um Rechberg die Wintershall-Kuxe an den Burbach-Konzern verkaufte und sich das Machtgleichgewicht in der Kaliindustrie zuungunsten Rostergs zu neigen schien. In der Wirtschaftspresse blühten Gerüchte über mögliche strategische 13 14 15

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N. N., Zu den Machtkämpfen in der Kaliindustrie, in: Magazin der Wirtschaft 2 (1926), S. 1292. N. N., Die Hauptversammlung der Kaliindustrie A.-G., in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 29. Juni 1926. Kuxe sind Anteilsscheine an einem Unternehmen, meist aus der Bergbaubranche. Zu den wichtigsten Unterschieden zum Aktienrecht gehört die Pflicht zur „Zubuße“, also die Verpflichtung, entsprechend der eigenen Anteile im Falle eines Kapitalbedarfs weitere Finanzmittel einzuzahlen. N. N., Zu den Veränderungen im Grubenvorstand von Wintershall, 27. September 1926, in: Zeitungsausschnittsammlung „Wintershall“, Deutsche Bank-Archiv.

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Manöver beider Seiten. So spekulierten einige Artikel bereits über die Bildung eines Kalitrusts unter Führung des vormaligen Antiblocks und sahen die Führung Rostergs bei Wintershall in Frage gestellt: „Man sieht also jetzt klarer: die Transaktion läuft auf eine Isolierung Rostergs hinaus, und zwar für den Fall, daß Herr Rosterg nicht für die Ideen Kortes und Rechbergs zu gewinnen ist. […] sie [Rechberg und Korte, PB] zielen auf den Kalitrust, auf die ‚Vereinigte Deutsche Kaliwerke AG‘ hin, eine Aktiengesellschaft, die nicht von einer einzelnen Persönlichkeit oder von einer einzelnen Gruppe beherrscht wird, sondern die die Wahrung der Interessen aller, auch der kleinen Konzerne und Gruppen ermöglicht.“17 Der deutsche Volkswirt hingegen ging von einer gütlichen Einigung aus: Zwar sei die geschlossene Minorität Kortes stärker als die Mehrheit Rostergs, dessen eigener Anteil sehr gering sei. „Aber die Vitalität ist auf beiden Seiten verschieden. Rosterg ist ein Mann in den besten Jahren, Korte und Koste18 sind pensionsreif. Man kann sich also über Titel und Machtsphären verständigen.“19 So polemisch diese Analyse auch war, traf sie den Kern. In einem vom Generaldirektor des Kalisyndikats, August Diehn, vermittelten Kompromiss kaufte die Wintershall AG Kortes Unternehmensanteile. Die Einzelheiten des im März 1927 geschlossenen Abkommens blieben unklar, wie schon zeitgenössisch Der Deutsche Volkswirt in einer für die Berichterstattung über den oft wenig auskunftsfreudigen Konzern charakteristischen Ahnungslosigkeit konstatieren musste: „Solange keine andere Mitteilung erfolgt, muß man unter diesen Umständen glauben, daß auf irgendeine Weise der Ankauf der 391 Kuxe für die Kaliindustrie AG erfolgt ist.“20 Letztlich blieb den Wirtschaftsjournalisten oftmals nur ein Stochern im Nebel. Rosterg hatte seine Herrschaft über den Konzern nun endgültig gesichert und der Kalikampf schien ebenfalls beendet, nachdem gegenseitige Verflechtungen bereinigt worden waren. Allerdings stellte sich bald heraus, dass sich Burbach bei seiner eigenen Expansionsstrategie finanziell übernommen und überhöhte Preise für unrentable Werke gezahlt hatte. Die Commerzbank, die bedeutende Minoritätsanteile besaß, trat daher an Rosterg heran, ob dieser an einer Übernahme der Aktien Interesse habe. Dem Wintershall-Chef schienen diese allerdings überteuert.21 Er nutzte jedoch die Situation, um an Oskar Schlitter von der Deutschen Bank heranzutreten, die zu den Hauptaktionären des dritten großen Kalikonzerns, der Salzdetfurth-Gruppe, gehörte. Burbach sei mit seinen Verbindlichkeiten und den unzureichend ausgebauten Werken für Wintershall alleine nicht interessant. „Selbstverständlich sieht das Gesamt-Problem ganz anders aus, wenn vorher eine Fusion Wintershall/Salzdetfurth gemacht worden ist. Nach der Vereinigung dieser beiden Konzerne würde der Burbach-Konzern uns hinterher ganz zweifellos als

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N. N., Korte contra Rosterg, 18. Dezember 1926, in: Zeitungsausschnittsammlung „Wintershall“, Deutsche Bank-Archiv; auch N. N., Auf dem Wege zum Kalitrust?, 18. Dezember 1926, in: Zeitungsausschnittsammlung „Wintershall“, Deutsche Bank-Archiv. Offenbar eine der Führungsfiguren bei Burbach. Sie konnte nicht identifiziert werden. N. N., Um den Kalitrust, in: Der deutsche Volkswirt 1 (1926), S. 391. N. N., Kali-Transaktionen, in: Der deutsche Volkswirt 3 (Beilage zu Nr. 6) (1927), S. 88. Rosterg an Schlitter vom 24. Januar 1930, Bundesarchiv (BArch), R 8119 F P 1962, Anlage.

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reife Frucht in den Schoß fallen, weil dann für andere der Erwerb des BurbachKonzerns bedeutend uninteressanter geworden wäre.“22 Ein letztes Mal versuchte Rosterg, den Zusammenschluss aller bedeutenden Kaliproduzenten unter der Führung Wintershalls zu erreichen. Seine Bemühungen blieben vergeblich, wie ihm Schlitter schon wenige Tage später mitteilte: „Heute ist keiner von den anderen bereit, Ihnen die alleinige Herrschaft über das zusammengeschlossene Unternehmen zu übertragen. Sie wollen ja, wie Sie mir seinerzeit sagten, Garantien bieten, durch die eine gerechte Verteilung der Macht und eine Sicherung der Interessen an der anderen Seite gewährleistet wird. Darauf abzielende Abkommen erscheinen den anderen jedoch nicht ausführbar.“23 Rosterg hatte sich in der Branche zu viele Feinde geschaffen und genoss wenig Vertrauen. Damit war das Projekt eines Trusts erledigt. Rosterg entschloss sich daraufhin, mit Wintershall alleine bei Burbach einzusteigen, und es gelang ihm im Laufe der 1930er Jahre, einen bestimmenden Einfluss auf den Konzern zu gewinnen. STRATEGIEANPASSUNG IN DER ZWEITEN HÄLFTE DER 1920ER JAHRE Die erste Hälfte der 1920er Jahre hatte bei Wintershall ganz im Zeichen der Zentralisierung und Rationalisierung gestanden, doch in der Mitte des Jahrzehnts geriet diese Strategie erkennbar an ihre Grenzen. Der aufgrund der langwierigen deutschen Agrarkrise stockende Inlandsabsatz stellte die Rentabilitätserwartungen für die neuen oder modernisierten Werke in Frage und ließ weitere geplante Fabrikbauten unsinnig erscheinen. Die Situation verschärfte sich noch durch die Weltwirtschaftskrise 1929 sowie die zwei Jahre später folgende Bankenkrise, als der Export einen schweren Rückschlag erlitt, der durch die in dieser Phase einsetzende KaliProduktion in Spanien, der UdSSR und in Polen noch verschärft wurde. Die Protokolle der Wintershall-Aufsichtsratssitzungen sind denn auch voll von Meldungen über Produktionseinschränkungen und vorübergehende Werksstilllegungen. Vorwürfe, der Konzern habe in den vorherigen Jahren zu viel rationalisiert und dabei hohe Überkapazitäten geschaffen, kanzelte Rosterg 1931 auf einer Aktionärshauptversammlung geradezu trotzig ab: „Am Fortschritt ist noch nie ein Unternehmen zugrunde gegangen.“24 Zwar trieb Rosterg die Rationalisierung des Konzerns weiter voran – die verschiedenen Kaliprodukte wurden auf einzelne Werke konzentriert, die Leistung der Werke durch neue Produktionsverfahren erhöht –, doch es waren nun erkennbar neue Maßnahmen notwendig, um die Wirtschaftskrise zu überwinden und in der Folge den Aufstieg des Unternehmens fortsetzen zu können. Um die Produktionskapazitäten besser ausnutzen zu können und von Absatzschwankungen unabhängiger zu werden, ging Wintershall daher dazu über, die Verarbeitung der Kalisalze in eigener Verantwortung zu betreiben und damit die vertikale Konzentration des 22 23 24

Ebd. Schlitter an Rosterg vom 28. Januar 1930, BArch, R 8119 F P 1962, Anlage. Zit. nach N. N., Weitgehende Erörterungen in der Wintershall-Versammlung, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 9. April 1931.

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Konzerns auf eine neue Ebene zu heben. Gemeinsam mit den Klöckner-Werken baute Wintershall in Rauxel eine Stickstoff-Produktion zur Herstellung von Mischdünger auf und stellte flüssiges, an Kali gebundenes Ammoniak her. Die Gesamtkosten der umstrittenen Investition lagen bei 14 Mio. RM, von denen jeder der beiden Partner die Hälfte trug. Dennoch waren die angestrebten Produktionszahlen von 10.000t Reinstickstoff gegenüber den 600.000 bis 700.000t der IG-Farben außerordentlich gering und ließen Zweifel an der Rentabilität der Anlage aufkommen, was Rosterg jedoch zurückwies: „Es könnten über Nacht Verhältnisse eintreten, die uns zwingen, den Konkurrenzkampf in der Welt aufzunehmen: dann ist es zu spät, derartige Anlagen zu bauen.“25 Freilich konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass zunächst einmal viel Kapital gebunden wurde, ohne die erwartete Rendite zu erwirtschaften. Rosterg ging daher mit der Errichtung einer neuen Anlage zur Herstellung von Kalisalpeter in Sondershausen, bei dessen Produktion der in Rauxel gewonnene Stickstoff eingesetzt werden sollte, nochmals einen Schritt weiter. Weitreichender war eine andere strategische Entscheidung, die Rosterg spätestens seit 1930 mit mehreren Besuchen in die USA vorbereitet hatte: Der Einstieg in die Ölindustrie. Während die Branche in den Vereinigten Staaten bereits im 19. Jahrhundert zu gewaltiger Größe aufgestiegen war und durch den Öl-Tycoon John D. Rockefeller verkörpert wurde, stand sie in Deutschland aufgrund der weit geringeren eigenen Ölreserven erst an ihrem Beginn. Die zunehmende Motorisierung der Gesellschaft sowie die immer zahlreicher werdenden Anwendungen in der chemischen Industrie machten aus dem Rohstoff jedoch auch in Deutschland das „Schwarze Gold“. Für Rostergs Einstieg waren zwei Gründe maßgeblich: Zum einen liegen Kaliund Erdölvorkommen oftmals dicht beisammen, so dass vorhandene geologische Expertisen sowie infrastrukturelle Voraussetzungen nutzbar gemacht werden konnten. Zum anderen setzte Rosterg auf die Förderung der jungen Industrie durch Berlin: „Die bisherigen Maßnahmen der Regierung lassen erkennen, daß sie bereit ist, die deutsche Produktion an flüssigen Treibstoffen aller Art, insbesondere auch die deutsche Erdölindustrie pfleglich zu behandeln“.26 Zur möglichst raschen Erschließung des Geschäftsfeldes entschloss sich Rosterg, keine eigenen Produktionskapazitäten aufzubauen, sondern durch Kooperationen und Übernahmen fachliche Expertise und die nötige Infrastruktur an sich zu binden. Die wichtigsten Kooperationen tätigte er mit den beiden Bohrunternehmen Gewerkschaft Elwerath und der Anton Raky Tiefbohrungen AG. Mit dieser gründete er das Raky-WintershallKonsortium zur Erschließung und Ausbeutung von Erdöl- und Erdgasvorkommen bei Nienhagen und Westercelle. Während das Konsortium, an dem Wintershall zunächst 50,05 Prozent hielt, bereits 1934 vollständig in den Konzern eingegliedert wurde, blieb es bei der Gewerkschaft Elwerath vorerst bei der Minorität. Beide Konzerne betrieben in enger Abstimmung im Laufe der 1930er Jahre die weitere Expansion voran, die alle Fertigungsschritte von der Förderung bis zum Verkauf 25 26

Zit. nach ebd. Zit. nach Helmut Ernst, Zweites Standbein für Wintershall, in: Wintershall-Werkszeitung, vermutl. 1990.

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des raffinierten Benzins vorsah. 1938 war Wintershall nicht nur der größte Kali-, sondern auch der größte Ölkonzern Deutschlands. VOM ANTIPARLAMENTARISTEN ZUM UNTERSTÜTZER HITLERS Während Rosterg sein Unternehmen kontinuierlich ausbaute, beteiligte er sich verschiedentlich an der politischen Debatte der Weimarer Republik. Einen mangelnden politischen Realitätssinn zeigte seine langjährige Kooperation mit dem Gelegenheitspolitiker Arnold Rechberg, dem Bruder Fritz Rechbergs. Arnold Rechberg engagierte sich bereits während des Ersten Weltkrieges für einen Frieden mit Frankreich und setzte diese Politik in der Nachkriegszeit fort, nicht zuletzt um der „bolschewistischen Gefahr“ im Osten entgegenzutreten. Ohne Berliner Autorisierung „verhandelte“ er während der Ruhrkrise verschiedentlich mit französischen Politikern über eine umfassende Verständigung zwischen beiden Ländern. Im März 1924 sah er sich kurz vor dem Ziel, nur „die Propaganda der Stinnes-Presse“ gegen ihn verhinderte seiner Ansicht nach ein glänzendes Verhandlungsergebnis. Mit führenden französischen Politikern wie Ministerpräsident Raymond Poincaré, sowie weiteren Repräsentanten aus Politik, Militär und Wirtschaft hatte er nach eigener Auskunft eine vier Punkte umfassende Einigung erreicht. Sie umfasste 1. als einzige deutsche Reparation an Frankreich eine 23-prozentige Beteiligung der Franzosen an der deutschen Großindustrie, 2. die Räumung des Ruhrgebiets binnen eines, des gesamten linken Rheinufers binnen zwei bis drei Jahren, 3. die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenzen mit Ausnahme von Posen sowie 4. ein festes und dauerhaftes Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich.27 Tatsächlich fanden Arnold Rechbergs Vorstellungen bei französischen Politikern Interesse. Sie scheiterten jedoch aufgrund der ablehnenden Haltung der deutschen Politik und Wirtschaft, wo sie als Ausverkauf industrieller Interessen empfunden wurden. Während Rechberg sich selbst als zentralen Akteur in der politischen Arena empfand, nahmen ihn die Berliner Entscheidungsträger erkennbar nicht ernst. Rosterg gehörte zu den wenigen Unterstützern Rechbergs und veröffentlichte unter eigenem Namen im Mai 1924 eine von Rechberg entworfene Erklärung, in der zum skizzierten Verständigungsplan heißt: „Jedenfalls erscheint abgesehen von allen politischen Erwägungen die von Herrn Rechberg vorgeschlagene Lösung rein wirtschaftlich als für die deutschen Industrien durchaus vorteilhaft. Sie ist das insbesondere deshalb, weil durch eine Einstellung der Franzosen zugunsten Deutschlands die Unsicherheit verschwände, welche den Wert der deutschen Industrien so wesentlich herabdrückt.“28 Im November desselben Jahres plädierte Rosterg in der Deutschen Bergwerks-Zeitung für eine deutsch-französische Verständigung: „Die Industrien beider Länder sind geradezu aufeinander angewiesen und können ohne gegenseitigen Austausch ihrer Produkte nicht existieren.“29 Wie Rechberg glaubte 27 28 29

Rechberg an Rosterg vom 10. März 1924, BArch, N 1049/58. Erklärung Rostergs vom 19. Mai 1924, BArch, N 1049/58. August Rosterg, Die deutsch-französische Verständigung, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 1. November 1924.

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Rosterg an die Notwendigkeit einer industriellen Einigung als Grundlage der politischen Verständigung. Man dürfe sich nicht auf die gewiss bedeutenden Vorteile konzentrieren, die Frankreich aus einer deutsch-französischen Verständigung ziehe, sondern auf die eigenen Gewinne: „Sie sind ebenfalls ganz gewaltig. Wenn sich Frankreich mit der deutschen Wirtschaft verbündet, dann wäre es an der deutschen Wirtschaftsleitung interessiert, und dann kann es des eigenen Vorteils halber unsere deutsche Wirtschaft nicht mehr durch die französische Militärgewalt bedrücken, abgesehen davon, dass wir im inneren Deutsche Reiche überhaupt nicht eher zur Ruhe kommen können, bis der äußere Druck aufhört.“ Ein solcher Ausgleich werde unweigerlich auf Gleichberechtigung beruhen, denn Frankreich könne sich ebenfalls „machtpolitisch, finanziell und wirtschaftlich nur dann entlasten, wenn die französisch-deutsche Verständigung eine tatsächliche ist“.30 Rosterg unterstützte Rechbergs Projekte auch finanziell. Allein im November 1928 stellte er aus Firmengeldern 100.000 RM zur Verfügung, weitere 150.000 RM sollten im Erfolgsfall hinzukommen. Allerdings beklagte sich der Kaliunternehmer, dass Rechberg es nicht vermocht habe, einen größeren Unternehmerkreis zur Finanzierung heranzuziehen.31 Ein halbes Jahr später bat Rechberg um die zweite Rate und lieferte dazu einen Rechenschaftsbericht, der Aufschluss über die von Rosterg finanzierten Aktivitäten gab. Diese umfassten im Wesentlichen die Vorbereitung und Durchführung von Verhandlungen „zu den von uns formulierten Vorschlägen[,] die französisch-deutsche Industrie-Entente […] in ein tatsächliches, militärisches und politisches Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich zu erweitern“. Die zweite Rate sollte dazu dienen, die „grossen Schwierigkeiten“ im Deutschen Reich zu überwinden, die er namentlich in der militärischen „Clique, welche das Bündnis Reichswehr-Moskau getätigt hat“, ausmachte. Auch „der Stahlhelm ist erst halb unter meinem Einfluss. Moskau’s Anhänger suchen diesen meinen Einfluss wieder zu eliminieren […]. Überall können sich meine Freunde mangels hinreichender Mittel nicht genügend durchsetzen.“32 Rosterg genehmigte daraufhin die zweite Rate, kündigte aber zugleich an, weitere Firmengelder nur zur Verfügung zu stellen, wenn ein größerer Kreis von Industriellen ebenfalls Unterstützung zusage.33 Den Zuschuss von privaten Geldern schloss er weiterhin nicht aus.34 Die meisten öffentlichen Stellungnahmen Rostergs zu tagespolitischen Fragen beschäftigten sich allerdings mit der Lösung der wirtschaftlichen Probleme Deutschlands, wobei seine Vorschläge seinen strikt betriebswirtschaftlichen Fokus verrieten. Sein wichtigstes Thema war die Aufhebung des Achtstundentags, die er spätestens seit der Inflationszeit einforderte.35 Die Erhöhung der Arbeitszeit schien ihm die einzige Möglichkeit, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit und zugleich die 30 31 32 33 34 35

August Rosterg, Die deutsch-französische Industrieverständigung, in: Deutsche BergwerksZeitung, 16. November 1924. Rosterg an Rechberg vom 26. November 1928, BArch, N 1049/58. Rechberg an Rosterg vom 16. Mai 1929, BArch, N 1049/58. Rosterg an Rechberg vom 10. September 1929, BArch, N 1049/58. Ausdrücklich in Rosterg an Rechberg vom 26. November 1928, BArch, N 1049/58. Vortrag Rostergs auf der Tagung des Wintershall-Konzerns, wiedergegeben in: Deutschlands Wirtschaft und die Kaliindustrie, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 9. Oktober 1923.

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Lebensqualität in Deutschland zu steigern: „Durch größere Leistungen oder Mehrarbeit werden alle zum Leben notwendigen Bedarfsartikel mit sofortiger Wirkung billiger, das Lebenshaltungsniveau in allen Volksschichten wird gehoben.“36 Die Weimarer Reichsregierung hielt er für eine solche Politik für ungeeignet, „Parlamentarier und Politiker“ sollten sich aus der Wirtschaft zur Gänze heraushalten. 1930 machte er gar eine Diktatur der Gewerkschaften aus: „Nun würde mir an und für sich eine Diktatur in unserem Lande recht sein, wenn Parteipolitik dabei völlig ausgeschaltet würde“, was bei den Gewerkschaften nicht der Fall sei.37 Seine Lösung bestand denn auch in der Ernennung eines „staatlichen Wirtschaftsdirektor[s] […] mit der alleinigen Aufgabe, die Wirtschaft im Reiche nach wirtschaftlichen Grundsätzen wieder in Gang zu bringen“. Dahinter verbarg sich nichts anderes als die Forderung nach einer Diktatur: „Er müßte mit möglichst großer Majorität vom Parlament oder vom Volke direkt eine unwiderrufliche 2–3jährige, weitgehende Vollmacht bekommen, die ihn in den Stand setzte, alle bisherigen gesetzlichen Regelungen zwischen Unternehmern und Arbeitern aufzuheben.“38 Vor allem das Streikrecht war Rosterg ein Dorn im Auge, denn der Wirtschaftsdirektor sollte „in der Lage sein, jeden Massenstreik in Zukunft unterdrücken zu können. Jeder Mensch in Deutschland soll seine Freiheit behalten und soll selbst bestimmen, ob er arbeiten will oder nicht. Ihm muß aber verboten sein, andere Leute von der Arbeit abzuhalten und zum Streik aufzufordern oder gar zu zwingen. Wer aber nicht arbeiten will, hat von der Allgemeinheit keinen Unterhalt zu erwarten.“39 Diese politischen Forderungen korrespondierten ganz mit Rostergs Unternehmenspolitik, denn der Konzern focht seine Arbeitszeitbedingungen konsequent durch. Als zum Jahreswechsel 1924/25 mit dem Ziel einer Arbeitszeitverkürzung ein Streik bei Wintershall ausbrach, entließ das Unternehmen kurzerhand alle Arbeiter und legte die Zechen still. Erst nachdem sich ausreichend Arbeitskräfte gemeldet hatten, die den Zehnstundentag bedingungslos akzeptierten, nahmen die Betriebe ihre Arbeit wieder auf. Wenig Rücksicht auf Arbeitnehmerinteressen nahm der Konzern auch bei seiner Praxis von regelmäßig vorgenommenen, kurzfristigen Stilllegungen und Wiederinbetriebnahmen ganzer Werke bei entsprechender Nachfrageentwicklung. Da eine nur teilweise Ausnutzung der Anlagen den Produktionspreis deutlich anhob, waren die Maßnahmen betriebswirtschaftlich gerechtfertigt. Für die betroffenen Beschäftigten bedeutete sie aber stetige Unsicherheiten. Es war wohl vor allem die in den genannten Zeitungsartikeln immer wieder zum Ausdruck gebrachte Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und sein Antibolschewismus, die Rosterg dazu bewogen, sich früh der NSDAP zu nähern und „mit fliegenden Fahnen“ zu dieser überzugehen, als sie zu einer bestimmenden Kraft in Deutschland wurde.40 So nahm er am 26. Januar 1932 an der berühmten 36 37 38 39 40

August Rosterg, Wie kommen wir aus der Not heraus?, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 6. Januar 1926. Rosterg an Rechberg vom 18. Februar 1930, BArch, N 1049/58. August Rosterg, Wie kommen wir aus der Not heraus?, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung, 6. Januar 1926. August Rosterg, Wirtschaftspolitik und Tatsachen, in: Kasseler Tageblatt, 7. Mai 1929. Louis P. Lochner, Die Mächtigen und der Tyrann. Die deutsche Industrie von Hitler bis Ade-

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Beratung deutscher Großindustrieller mit Adolf Hitler im Düsseldorfer Industrieclub teil, auf der der spätere Diktator sein Wirtschaftsprogramm vorstellte, vor allem aber auch klar zu verstehen gab, dass er eine Überwindung der Demokratie anstrebte. Zugleich bekannte sich der Führer der NS-Bewegung zum Grundsatz des Privateigentums und versuchte so die Bedenken vieler Industrieller bezüglich des sozialistischen Flügels der NSDAP zu beruhigen. Bei Rosterg war er damit erfolgreich, denn im Laufe des Jahres bekannte sich dieser zur NS-Bewegung. Von Beginn an gehörte er dem im Mai 1932 gegründeten Keppler-Kreis an, aus dem 1935 der „Freundeskreis des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler“ hervorging. In ihm versammelten sich verschiedene einflussreiche, dem Nationalsozialismus nahestehenden Unternehmer. Das politische Engagement Rostergs im Rahmen des Keppler-Kreises hielt sich in Grenzen, allerdings leistete er einen Jahresbeitrag von etwa 100.000 RM. In der Literatur wurde der Einfluss des „Freundeskreises“ gelegentlich überschätzt: Zwar waren die in ihm versammelten Unternehmer vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eine willkommene Unterstützung zur Demonstration wirtschaftlichen Sachverstands, und Rosterg unterschrieb in diesem Kontext Ende 1932 auch die bekannte Petition an Hindenburg, die die Einsetzung Hitlers als Reichskanzler forderte. Aber nach 1933 nahm der Einfluss der Gruppe kontinuierlich ab. Als Rosterg sich 1938 im Zuge der „Arisierung“ der Julius-Petschek-Gruppe des Netzwerkes bediente, konnte selbst die Unterstützung durch deren Führungsfigur Wilhelm Keppler nicht verhindern, dass der nicht zum Kreis gehörende, aber von Hermann Göring unterstützte Friedrich Flick41 das bessere Geschäft machte. Allerdings kann das Reichskaligesetz vom Dezember 1933, das u. a. zahlreiche Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern aufhob und insgesamt die Stellung der Industriellen stärkte, durchaus als Belohnung für eine von Rosterg und anderen Kalivertretern gezeigte Unterstützung beim Aufstieg der Nationalsozialisten verstanden werden. FAZIT Aus den hart geführten Kalikämpfen der Weimarer Jahre ging August Rosterg als Sieger hervor. Er entwickelte Wintershall während der Inflationszeit nicht nur von einem mittelgroßen Konzern zum überragenden Unternehmen der Branche, sondern er hatte sich zugleich eine wichtige Position im Burbach-Konzern erworben und dominierte so das Kalisyndikat. Entscheidend war seine Bereitschaft, sich dem internationalen Wettbewerb zu stellen und Wintershall mittels einer kompromisslosen Expansions- und Rationalisierungstrategie auf die neuen Rahmenbedingungen einzustellen. Die Entwicklung des Konzerns war aber keineswegs frei von Rückschlägen. Die während des Weltkrieges eingegangene hohe Valutaverschuldung belastete lange Zeit die Aussichten des Konzerns und beunruhigte Anleger. Die Preispolitik Rostergs, die nicht nur auf den internationalen Markt zielte, sondern

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nauer, Darmstadt 1955. Zu Friedrich Flick vgl. den Beitrag von Tim Schanetzky in diesem Band.

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ebenso ein Kampfinstrument gegen die anderen deutschen Kali-Unternehmen war, scheiterte mit der Bildung des Antiblocks, der die Kontrolle über das Kalisyndikat und damit über die Preispolitik gewann. Rostergs Prestigeobjekt, die Kalifabrik in Merkers, arbeitete erstmals 1927 unter voller Auslastung und drohte zuvor während der Agrarkrise die versprochene Rendite zu verfehlen. Auch die Stickstoffproduktion in Rauxel verfehlte das strategische Ziel, sich vom Stickstoffsyndikat unabhängig zu machen. Doch dies behinderte nicht den Aufstieg Rostergs und des Wintershall-Konzerns. Neben der überlegenen Konzernstrategie war der erste Grund hierfür, dass sich die internationale Marktsituation keineswegs so verschärfte, wie Rosterg dies befürchtet hatte. Das gemeinsame Kalisyndikat mit Frankreich, dem später die Kaliproduzenten aus anderen Staaten beitraten, und der weltweite Anstieg der Nachfrage machten das Geschäft mit Kali so einträglich, dass auch Schwächephasen gut überstanden werden konnten. Für die Durchsetzungsfähigkeit Rostergs innerhalb der Branche waren zudem vertrauensvolle Partner wie zunächst Rechberg, dann Quandt, die seinen Kurs finanziell absicherten, von entscheidender Bedeutung. Zwar machte sich Rosterg im Laufe der Zeit zahlreiche Feinde, dennoch ist die hohe Kontinuität in den Führungsgremien – mit Ausnahme des Ausscheidens Rechbergs und seiner Gefolgsleute 1925 – auffällig. Größere Personalrochaden fanden in den späteren Jahren nicht mehr statt. Während der Inflation und in den Auseinandersetzungen der Kaliindustrie zeigte Rosterg außerdem außergewöhnliche Risikobereitschaft und Rücksichtslosigkeit. August Rosterg gehört fraglos zu den großen Unternehmerpersönlichkeiten der Weimarer Republik. Dabei nahm er für sich selbst in Anspruch, eine Branche zu formen, die „wahrscheinlich viele Jahrzehnte lang und weit über das Leben derer hinaus, die sie gemacht haben, bestehen“ bleibe. Seine Strategien waren zeittypisch: Konzentration, Rationalisierung, Kartell- bzw. Syndikatspolitik. Allerdings finden sie sich wohl nur selten in einer solchen Stringenz unter Einbeziehung des weltwirtschaftlichen Umfelds. Seine politische Gegnerschaft zur Weimarer Republik und seine frühe Unterstützung für die Nationalsozialisten machen Rosterg zugleich zu einer moralisch fragwürdigen Figur. Sicherlich war Rosterg weder an einer Kriegspolitik interessiert noch gibt es Hinweise auf einen dezidierten Rassismus. Doch das Ziel der Zerstörung der Weimarer Republik und der Errichtung einer wirtschaftsfreundlichen Diktatur trieben ihn auf die Seite der Bewegung, auf deren Kompromisslosigkeit er vertrauen konnte. Rosterg blieb noch bis 1944 Leiter des Konzerns. Zwar erörterte er schon Anfang der 1930er Jahre die Nachfolgefrage, da „ich selbst 60 Jahre alt bin und nicht vorhabe, noch sehr lange das schwere Amt der Führung eines so grossen Konzerns beizubehalten“, doch konkrete Schritte unternahm er nicht. Sein Sohn schien ihm noch zu jung, auch wenn er seit 1929 an Aufsichtsratssitzungen teilnahm, also langsam in die Unternehmensführung eingebunden wurde. Es ist jedoch angesichts seines lange demonstrierten Machtwillens wenig überraschend, dass Rosterg sich nie zu einem vorzeitigen Führungswechsel entschließen konnte. Erst als er 1944 nach Schweden emigrierte, wo er im November 1945 starb, übernahm sein Sohn die Geschäfte.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR 1856–2006. Wachstum Erleben – Die Geschichte der K+S Gruppe, Kassel 2006. Eisenbach, Ulrich / Paulinyi, Akos (Hrsg.), Die Kaliindustrie an Werra und Fulda. Geschichte eines landschaftsprägenden Industriezweigs, Darmstadt 1998. Karlsch, Rainer / Stokes, Raymond, „Faktor Öl“. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859– 1974, München 2003. Mehnert, Dagmar, Konkurrenz, Konzepte, Kieserit. Die Kaliindustrie im Werratal, Kassel 2002. Scholtyseck, Joachim, Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München 2011.

GUSTAV KRUPP VON BOHLEN UND HALBACH (1870–1950) – EIN DIPLOMAT ALS UNTERNEHMER Ralf Stremmel 1923, eines der turbulentesten Jahre der jungen Weimarer Republik. Im Januar marschieren französische Truppen im Ruhrgebiet ein. Kurz danach reist auch Harry Graf Kessler, liberaler Intellektueller und kluger Beobachter seiner Zeit, nach Essen, informiert sich über die Lage und hält Vorträge. Ausführlich spricht er mit einem der prominentesten Industriellen Deutschlands, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. In seinem Tagebuch notiert Kessler: „Ich fand ihn in seinem fürstlich eingerichteten Büro im Hauptverwaltungsgebäude. Ledersessel (natürlich dunkelgrün), Eiche, pomphafte Einfachheit. Er selbst noch besser wie früher eingeübt auf das ewig Gutmütige, eindrucksvoll Liberale des konstitutionellen Mammuth-Unternehmers, der für alle Verantwortungen Untergebene hat, der ins Wirtschaftliche umgestellte Typus des bürokratisch beschränkten Herrschers, der künftig in 10 bis 15 Exemplaren die Welt regieren wird. Seine Ausführungen waren sehr vernünftig, wie sie sich für seine Stellung geziemen.“1 Bei allem Wohlwollen, mit dem Kessler seinem Gegenüber begegnet, skizziert er Krupps Persönlichkeit durchaus ambivalent und auch das großindustrielle Milieu, das er mit wenigen Strichen zeichnet, betrachtet er mit gewisser Distanz. Wird Kesslers Skizze dem Porträtierten gerecht? Inwieweit treffen Kategorien wie „liberal“ oder „bürokratisch beschränkt“ auf Krupp zu? Handelte dieser „vernünftig“, und worin bestand die politische und ökonomische Rationalität eines Unternehmers überhaupt? Diesen Fragen soll der folgende Beitrag nachgehen. Endgültige Antworten sind dabei nicht zu erwarten, sondern nur Annäherungen, denn Gustav Krupp von Bohlen und Halbach hat bislang noch keinen Biographen gefunden und seine umfangreiche Korrespondenz ist nur in Ansätzen ausgewertet worden. Besondere Herausforderung wie spezieller Reiz einer biographischen Spurensuche ist die Tatsache, dass Krupp in einer Ära tiefer Umbrüche und über drei politische Systeme hinweg – Kaiserreich, Weimarer Republik und „Drittes Reich“ – zur gesellschaftlichen Elite gehörte. Von 1909 bis 1943 leitete er den Aufsichtsrat eines der bedeutendsten deutschen Unternehmen. Daneben bekleidete er herausragende Ämter in anderen Organisationen, etwa als Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Industrie oder Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

1

Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, Bd. 7 (1919–1923), hrsg. von Angela Reinthal, Stuttgart 2007, S. 661 (Eintrag vom 1. Februar 1923, das Gespräch fand einen Tag vorher statt).

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HERKUNFT UND PRÄGUNGEN In Den Haag kam Gustav Bohlen und Halbach am 7. August 1870 zur Welt, und zwar als Sohn des badischen Vertreters am niederländischen Hof und einer amerikanischen Kaufmannstochter aus Philadelphia. Ein Jahr später wurde der Vater in den erblichen Adelsstand des Großherzogtums Baden erhoben. Die Eltern waren entfernt miteinander verwandt. Ihre Familien hatten Wurzeln in den Vereinigten Staaten, im norddeutschen Schiffdorf und im Bergischen Land, wo die Halbachs Stahlwaren produzierten und damit überregional handelten. Die Bohlens und die Halbachs zählten zum Milieu wohlhabender, protestantischer, international vernetzter, welterfahrener Wirtschaftsbürger. Schon als Kind schaute Gustav von Bohlen und Halbach auf Fotografien von Großvater Henry Bohlen, der als General im amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Nordstaaten 1862 im Gefecht am Rappahannock gefallen war, und mit seiner Mutter korrespondierte er zeitlebens auf Englisch. 1879 übersiedelte die mittlerweile zehnköpfige Familie nach Karlsruhe, wo der Vater verschiedene Funktionen am Hof des Großherzogs ausfüllte. Sein Sohn Gustav besuchte das Gymnasium, legte das Abitur ab, leistete seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst beim 2. Badischen DragonerRegiment und studierte anschließend Rechtswissenschaften in Lausanne, Straßburg und Heidelberg, wo er im Mai 1893 zum Dr. jur. promovierte. Danach trat er in den badischen Staatsdienst ein, arbeitete in Justizbehörden und allgemeiner Verwaltung. Alles bewegte sich in der unspektakulären Laufbahn eines jungen, strebsamen Juristen aus gutem Hause. Im Dezember 1897 wechselte Gustav von Bohlen in den Auswärtigen Dienst des Deutschen Reiches und absolvierte bald auch Stationen im Ausland, an der Botschaft in Washington, an der Gesandtschaft in Peking und schließlich an der preußischen Gesandtschaft beim Vatikan in Rom. Er durchlief die üblichen Karrierestufen vom Attaché über den Legationssekretär zum Legationsrat. Während seiner Tätigkeit erlebte der aufstrebende Diplomat auch dramatische Krisen, insbesondere am Ende des „Boxeraufstandes“ und bei den anschließenden Friedensverhandlungen. Er lernte die Welt kennen, die Maschinerie der internationalen Politik, die Mühen und die Langeweile des diplomatischen Aktenalltags, aber auch die Konventionen gesellschaftlichen Auftretens. Den tagtäglichen Dienst versah er aufmerksam. Daneben unternahm er in China Bildungsreisen an die Große Mauer und in andere Gegenden, las sehr viel, angefangen von Historischem über politische Memoiren bis hin zur klassischen Belletristik Goethes und Schillers, fotografierte, spielte Tennis oder ging zur Jagd. Das Jagen begeisterte ihn bis ins hohe Alter ungemein. Gustav von Bohlen bewegte sich ohne chauvinistische Scheuklappen, andererseits aber dachte er nicht im eigentlichen Sinne kosmopolitisch, denn nicht die ganze Welt, sondern die Nation, das Deutsche Kaiserreich, betrachtete er ausdrücklich als seine Heimat, wie die allermeisten seiner Generation und seines Milieus. Im Grunde optimistisch, war er auch zu kritischer Selbstreflexion fähig: „Ich habe mich oft gewundert und frage mich auch jetzt wieder, wieso es kommt, daß mir so viel Gutes zuteil wird. Ich selber bin mir bewußt, daß ich eigentlich gar nicht

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so viel verdiene und bete zu Gott, daß er mich stärkt, um alledem würdig zu sein.“2 In seinen Briefen argumentierte er abgewogen und erwies sich als ernsthafter Charakter, dem Vorsicht und Selbstbeherrschung als Leitschnur dienten. Dieser Mann war alles andere als ein Draufgänger, alles andere als ein Blender, ja nicht einmal ein Idealist, sondern jemand, der die Welt pragmatisch und nüchtern betrachtete. Im Herbst 1902: „Ich bin so dankbar, daß eine Sehnsucht oder ein Verlangen nach etwas, was man nicht haben kann, nicht in meinem Charakter steckt und daß ich, sobald ich merke, daß es nicht geht, eigentlich meistens dazu neige, dann die noch bestmögliche Seite der Dinge darin zu sehen.“3 WENDEPUNKT Gustav von Bohlen war Teil einer Altersgemeinschaft, die Forscher als „Gründerzeitgeneration“ bezeichnet haben. Sie hatte wachsenden Wohlstand und technischen Fortschritt erfahren, war stolz auf die Nation und schätzte alles Militärische. Zuversichtlich erwartete sie, der bisherige Aufschwung werde sich fortsetzen und die alte Ordnung stabil bleiben. Gustav von Bohlen aber stand vor fundamentalen Veränderungen. Der Wendepunkt in seinem Leben lässt sich exakt datieren: Im April 1906 traf der Diplomat in Rom eine junge Frau, die als reichste Erbin Europas galt und mit Mutter und Schwester auf einer Bildungsreise nach Italien kam: Bertha Krupp. Nach dem frühen Tod ihres Vaters, Friedrich Alfred Krupp, hatte sie 1902 die Firma Fried. Krupp geerbt. Bis zur Volljährigkeit handelte die Mutter, Margarethe Krupp, als Vormund und Treuhänderin. Trotz oder vielleicht gerade wegen des beträchtlichen Altersunterschiedes von 15 Jahren verliebten sich Bertha Krupp und Gustav von Bohlen und Halbach. Seiner Mutter schrieb der Legationsrat, er sei im Innersten seiner Seele berührt und er könne kaum noch unvoreingenommen denken.4 Margarethe Krupp förderte die sich anbahnende Verbindung; der Kaiser allerdings suchte entgegen der bis heute gern kolportierten Legende nicht den Bräutigam für Bertha Krupp aus. Wahr ist jedoch: Wilhelm II. kam als Trauzeuge zur Heirat am 15. Oktober 1906 in die Krupp’sche Villa Hügel und nahm besonderen Anteil an dieser Ehe, war doch das Unternehmen für das Reich von großer Bedeutung. So stimmte er auch dem Wunsch der Familie nach einer so genannten Namensvermehrung zu. Den schon damals zum Mythos gewordenen Namen Krupp wollte das junge Ehepaar auch weiterhin führen und es 2

3 4

Gustav von Bohlen und Halbach, Briefe an die Mutter Sophie von Bohlen und Halbach 1900– 1903, aus dem Englischen übersetzt und bearb. von Edith von Bohlen und Halbach, Privatdruck Essen [1984], S. 11 (7. August 1900). Original: „I have often wondered and I ask myself again now, how it is, that so much love is shown to me. I know myself too well not to know how little I really deserve it and my prayer to God is to strengthen me and let me get worthy of it in times.“ FAH 4 F 539 (wo nicht anders vermerkt, beziehen sich die Archivsignaturen dieses Beitrages auf das Historische Archiv Krupp, Essen). Gustav von Bohlen, Briefe, S. 237 (9. November 1902). Original: „I am so thankful that yearning for that which one cannot have does not lie in my character, and that once I see, a thing cannot be done, I usually succeed in seeing only the best sides of it“, FAH 4 F 544. Gustav von Bohlen an seine Mutter Sophie, 20. April 1906, FAH 4 F 553.

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durfte sich mit Erlaubnis des Monarchen fortan „Krupp von Bohlen und Halbach“ nennen. Der Kürze halber ist im Folgenden von „Gustav Krupp“ die Rede, obwohl er sich im Unternehmen mit „Herr von Bohlen“ anreden ließ. ANFÄNGE ALS UNTERNEHMER Die Fried. Krupp AG war 1906 mit mehr als 60.000 Beschäftigten das größte private Unternehmen Deutschlands. Der vertikal und horizontal weit gefächerte Konzern besaß neben dem Stammwerk in Essen unter anderem Standorte in Kiel, Magdeburg, Meppen, bei Duisburg und am Mittelrhein, hielt Beteiligungen an einer Eisenerzgrube in Spanien, einer Reederei in Rotterdam und der Berndorfer Metallwarenfabrik in Österreich. Die Werke des Konzerns förderten Erz und Kohle, erschmolzen Roheisen, verwandelten es in Stahl und fertigten daraus zahlreiche Produkte für den militärischen wie für den zivilen Markt: Rüstungsgüter wie Geschütze, Munition und Panzerplatten; Eisenbahnmaterial wie Radreifen, Federn und Schienen; außerdem Achsen, Walzen, Kurbelwellen und andere Teile für Maschinen und Schiffe, aber auch Bleche, Eisenkonstruktionen für Hoch- und Brückenbau, Motoren, Zerkleinerungs- und Aufbereitungsmaschinen, Walzwerke, Kriegs- und Handelsschiffe, Yachten und U-Boote. Der Anteil der Rüstungsgüter am Umsatz lag bei rund 40 Prozent. Die Firma war weltweit aktiv, pochte aber immer auf ihre patriotische Einstellung und wurde von Kaiser und Regierung quasi als „Nationalwerk“ eingestuft. Nahezu sämtliche Aktien gehörten Bertha Krupp von Bohlen und Halbach. Ihr Mann, der nach der Heirat in den Aufsichtsrat einzog, war im Grunde ihr Angestellter. Trotz der unternehmerischen Wurzeln seiner eigenen Familie war Gustav Krupp als „blutiger Laie“5 in eine für ihn neue Wirklichkeit katapultiert worden. Er war nun konfrontiert mit dem Schmutz der Industriewelt – und mit dem Glanz allerhöchster Kreise. Er traf auf weit gespannte Erwartungen anderer. „Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie, Krupp sind die Könige und das Schicksal unserer Zeit“,6 meinte Walther Rathenau und steht damit für viele, die den Großunternehmern eine ungeheure Machtfülle unterstellten. Konkretere Erwartungen besaßen andere: Die Familie wollte das Erreichte bewahrt und weitergeführt wissen, die Beschäftigten hofften auf Sicherheit und steigende Einkommen, der Staat verlangte Treue und Qualität. Gustav Krupp brachte den Erfahrungsraum des Diplomaten mit, insbesondere kulturelles Kapital, sprich: Umgangsformen und Menschenkenntnis, Kommunikationsgeschick und Stil. Das waren Grundvoraussetzungen, um die Firma zu integrieren und zu repräsentieren. In Fragen der Technik, Personalführung, Sozialpolitik und Unternehmensfinanzierung arbeitete er sich ebenso fleißig wie wissbegierig ein. Der neue Mann verschaffte sich Respekt. Bald traf der Aufsichtsratsvorsitzende, Gustav Hartmann, keine Entscheidung ohne Krupps Zustimmung und 5 6

Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000, S. 332. Walther Rathenau, Briefe, Teilbd. 1: 1871–1913, hrsg. von Alexander Jaser u. a., Düsseldorf 2006, S. 714 (Brief an Frank Wedekind vom 21. Februar 1904).

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meinte: „Herr von Bohlen ist ein ganzer Mann!“7 Dass Gustav Krupp die Eigentümerfamilie vertrat und deren Verfügungsrechte über die Firma ausübte, machte er verbindlich, aber unmissverständlich klar. Ende des Jahres 1909 trat er auch formal an die Spitze des Aufsichtsrates. Er ließ sich über die Tagesgeschäfte informieren, besprach sich laufend persönlich mit den Direktoren und gab bei wesentlichen Entscheidungen den Ausschlag – wohl nicht ohne Abstimmung mit seiner Frau. Seine ‚Richtlinienkompetenz‘ nutzte er freilich nicht für eigenständige strategische Initiativen, sondern er führte das vorgefundene Konzept fort und baute auf die Initiativen des Managements, z. B. beim Erwerb der Mehrheit am Blechwalzwerk Capito & Klein AG oder der Westfälischen Drahtindustrie AG. Bewahren statt Verändern, Kontinuität statt Wandel lautete der Grundsatz. Die Firma arbeitete derweil hochprofitabel und mit dem nichtrostenden Stahl gelang ihr 1912 eine wegweisende Innovation. Nach innen pflegte Gustav Krupp das Leitbild der Werksgemeinschaft aller „Kruppianer“ und investierte weiter in die betriebliche Sozialpolitik. Eine seiner wenigen eigenen Ideen scheint dabei die Einführung einer Gewinnbeteiligung für die Mitarbeiter gewesen zu sein.8 Verwirklicht wurde sie nicht, doch in der Weimarer Zeit gab die Firma dann vorübergehend Mitarbeiteraktien aus. Fortwährend tarierte Krupp Interessen aus, auch im Direktorium. Diesem Führungsgremium gehörten 1913 höchst unterschiedliche Charaktere an: neben anderen ein machtbewusster völkischer Nationalist (Alfred Hugenberg, der Vorsitzende), ein feingeistiger Intellektueller, der mit Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal korrespondierte (Eberhard von Bodenhausen-Degener) und ein pazifistisch angehauchter Linksliberaler (Wilhelm Muehlon). Nur ein toleranter, neugieriger Geist konnte so unterschiedliche Weltanschauungen und Stile miteinander versöhnen. Nach außen füllte Gustav Krupp seine Rolle als Repräsentant und Netzwerker aus. Er stand fortwährend im Gespräch mit Politikern, Staatsoberhäuptern, Militärs, Geschäftspartnern oder anderen bedeutenden Großindustriellen, beschaffte Informationen und stellte Vertrauen her. Ungeachtet seiner vielfältigen internationalen Beziehungen blieb Gustav Krupp ein Mann des Kaiserreichs par excellence. Der Kaiser war ein oft und gern gesehener Gast; Krupp schmückte sich mit dieser Nähe, die auf Patriotismus und Loyalität beruhte, und inszenierte sie – so auf der Hundertjahrfeier des Unternehmens 1912 und zuletzt im September 1918, als Wilhelm II. während eines Besuchs in der Essener Gussstahlfabrik noch einmal die Heimatfront mobilisieren wollte. Der Kaiser wiederum schätzte Gustav Krupp persönlich und erwies dem ‚angelernten‘ Großindustriellen Ehren wie kaum einem anderen Unternehmer: 1910 berief er ihn in das Preußische Herrenhaus, 1912 verlieh er ihm den Titel eines „außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers“ und 1918 das Komturkreuz zum Königlichen Hausorden von Hohenzollern. Allerdings strebte Gustav Krupp – anders als ein Albert Ballin oder Carl Ferdinand von Stumm-Halberg – keine Rolle als politischer Berater des Kaisers an. 7 8

Gustav Hartmann an Margarethe Krupp, 14. Dezember 1909, FAH 3 M 270. Notiz von Gustav Krupp, 23. Mai 1917, WA 4/1798.

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Dennoch stand der Leiter der Firma Krupp unausgesetzt im Fokus der Öffentlichkeit. Angriffe gegen die Krupp’schen „Wohlfahrtsleistungen“ kamen von Seiten der Arbeiterbewegung. Sozialdemokraten und Linksliberale attackierten die Höhe der Preise für Rüstungsgüter. Die Gegner Krupps fühlten sich bestätigt, als 1913 ein Korruptionsskandal aufflog, der unter dem Namen „Kornwalzeraffäre“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Angestellte der Firma hatten Berliner Beamte bestochen, um an Informationen und Rüstungsaufträge zu kommen. Ob Gustav Krupp diese Machenschaften kannte oder etwas ahnte, lässt sich mangels Quellen nicht beantworten. Eine moralische Verantwortung trug er aber. ERSTER WELTKRIEG Das Kaiserreich zu reformieren und pluralistischer zu machen, lag nie in Gustav Krupps Absicht. Das Ziel lautete, die alte Ordnung zu stabilisieren, und deshalb war auch die „Sozialdemokratie wirksam zu bekämpfen“.9 Für eine internationale Verständigungspolitik zeigte sich Krupp bereit, das Gewinninteresse seines Unternehmens hintan zu stellen. Zum Krieg hat er nie getrieben, andererseits hielt er ihn für gerechtfertigt. Zwar zählte er nicht zu den extremen Annexionisten, doch auch er entwickelte in der Phase der Kriegseuphorie weitreichende Pläne für ein deutsch dominiertes Europa und scheute dabei auch völkische Töne nicht. Statt einen Friedenskongress abzuhalten, müsse „den Feinden der Frieden diktiert werden“. Das Deutsche Reich sollte Teile Frankreichs, Belgiens und womöglich auch des Baltikums annektieren sowie weitere Territorien militärisch kontrollieren, müsse aber „ein rein deutscher Volksstaat bleiben“. Potenzielle fremdsprachige Bewohner sollten von ihren früheren Heimatstaaten „übernommen“ – faktisch also vertrieben – werden.10 Von radikalen Positionen entfernte sich Gustav Krupp je länger der Krieg dauerte und je ferner ein Siegfrieden war. Auch von seinem Direktoriumsvorsitzenden Hugenberg, der die alldeutsche Propaganda forcierte und auf die Regierung Druck ausübte, distanzierte er sich. Denn die Firma Krupp habe sich „ganz besonderer Zurückhaltung in allen politischen Fragen“ zu befleissigen.11 Für ihn charakteristisch, exponierte sich Gustav Krupp nicht öffentlich, und vor direkten Aktionen gegen den Kanzler, wie sie ihm vorgeschlagen wurden, schreckte er zurück. Im Frühjahr 1917 fürchtete Gustav Krupp pessimistisch die Revolution.12 Er hatte sich mittlerweile den Befürwortern eines Verständigungsfriedens sehr weit 9 10

11 12

Denkschrift, am 12. März 1912 an Wilhelm II. gesandt, zit. nach Willi A. Boelcke (Hrsg.), Krupp und die Hohenzollern in Dokumenten. Krupp-Korrespondenz mit Kaisern, Kabinettschefs und Ministern 1850–1918, Frankfurt/Main 1970, S. 212. Vertrauliche Denkschrift, als Anlage eines Schreibens von Gustav Krupp an Alfred von Tirpitz, 18. November 1914, Bundesarchiv, Abt. Militärarchiv Freiburg, N 253/224. Im Wortlaut fast identisch die Fassung für Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, 31. Juli 1915, siehe Boelcke (Hrsg.), Krupp, S. 247–252. Gustav Krupp an das Direktorium, 6. April 1916, FAH 4 C 73b. Vgl. Brief des Generals Moriz von Lyncker, 30. Mai 1917, mit Bezug auf Besuch Krupps im kaiserlichen Hauptquartier, in: Holger Afflerbach (Bearb.), Kaiser Wilhelm II. als Oberster

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angenähert, denn nur auf diesem Weg schien ihm die innere Ordnung noch zu bewahren bzw. das Hinabgleiten „auf dem schiefen Wege zum Demokratismus“13 noch aufzuhalten zu sein. Den Krieg mit den Vereinigten Staaten betrachtete er als Fehler, einen Kanzlerwechsel als gefährlich. Krupp schien nun zum ersten Mal, zögerlich tastend, eine Brücke zur Sozialdemokratie schlagen zu wollen. Wenn überhaupt jemals aus dieser bisher alles „negierenden und zerstörenden“ Kraft eine „positive Mitarbeiterin“ werden sollte, dann müsse „auch auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiete der breiten Masse eine weitergehende Einwirkung gewährt werden“. Aber statt aktiv auf die Arbeiterbewegung zuzugehen und vorausschauend Reformen einzuleiten, wartete Krupp ab. Als kurzsichtig erwies sich bald auch, dass die Firma ihre Werke in bedingungsloser Loyalität zum Staat nahezu vollständig auf Rüstungsproduktion umgestellt hatte. Gustav Krupp lehnte es ab, daraus persönlichen Profit zu ziehen. Die Preise hätten sich an der Kalkulation aus Friedenszeiten zu orientieren,14 und die Gewinne, die das normale Vorkriegsmaß überstiegen, sollten für Fürsorgezwecke oder Stiftungen verwendet werden.15 DEMOKRATIE Mit dem Kaiserreich ging auch Gustav Krupps Welt unter. Was blieb, waren die inneren Grundeinstellungen. Daher betrachtete er die politische Entwicklung nach der Revolution von 1918/19 mit Skepsis und Distanz. Er sehnte sich nach handlungsfähigen Regierungen und glaubte, das deutsche Volk sei „für die so viel gerühmte demokratische Selbständigkeit noch lange nicht reif genug“.16 Dennoch stand er loyal zur Weimarer Republik, suchte vertrauensvolle Beziehungen zumindest zu deren ‚bürgerlichen‘ Repräsentanten aufzubauen, empfing Reichskanzler Wirth und Reichspräsident von Hindenburg in seinem Haus und unterließ alles, die Demokratie zu untergraben. Sichtbares Zeichen dafür war auch, dass er sich 1918/19 von seinem alldeutsch-konservativen Direktoriumsvorsitzenden Hugenberg trennte und stattdessen nun dem liberalen Reformer Otto Wiedfeldt die Rolle des primus inter pares zukam. Von Loyalität zur Republik zeugt ferner, dass Krupp sich wiederholt in die Pflicht nehmen ließ: Widerwillig und bedrängt von Rathenau gab er Wiedfeldt 1922 für den Posten des Botschafters in Washington frei; nach dem Vertrag von Rapallo investierte er in ein großes Agrarprojekt in der Sowjetunion (diese Landkonzession Manytsch scheiterte nach wenigen Jahren); von 1921 bis 1933 ließ er sich in den Preußischen Staatsrat wählen; 1924 übernahm er den Vorsitz im Aufsichtsrat der Bank für deutsche Industrieobligationen, die nach dem Dawes-Plan gegründet worden war, um die deutschen Reparationszahlungen abzuwickeln. Be-

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Kriegsherr im Ersten Weltkrieg. Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914– 1918, München 2005, S. 501 f. Dazu und zum Folgenden Gustav Krupp an Ernst Haux, 7. April 1917, FAH 4 C 73b. Notiz von Gustav Krupp zu Besprechungen mit Direktoriumsmitgliedern, Oktober 1914, FAH 4 C 73a. Notiz von Gustav Krupp zu Besprechung mit Ernst Haux, 18. September 1915, FAH 4 C 71b. Gustav Krupp an Kurt Sorge, 21. November 1922, WA 60/631.

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reits zuvor hatte sich Krupp zu einer internationalen Verständigungspolitik bekannt. Kriegsentschädigungen für die von Deutschland verwüsteten Gebiete in Frankreich hielt er für selbstverständlich.17 In den Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften über die Einführung des Acht-Stunden-Tages und von Betriebsräten trat Gustav Krupp nicht auf; hier gaben andere Industrielle den Ton an, besonders Hugo Stinnes18. Krupp setzte die Beschlüsse der „Zentralarbeitsgemeinschaft“ um, wirkte aber auch dabei nicht aktiv mit. Einer eigenhändigen Notiz zufolge spielte er zwar kurzzeitig mit dem Gedanken, ein politisches Mandat zu übernehmen, verfolgte die Idee aber nicht weiter, weil er seine Aufgabe im Unternehmen und in der Familie sah, sich keiner Parteileitung unterordnen wollte und die Grenzen seiner Person klar erkannte: „Ungeeignetheit in Bezug auf Reden u. Discutieren“, notierte er.19 Seine monarchisch-konservative Gesinnung behielt er bei (korrespondierte auch weiter mit dem abgedankten Kaiser), verteidigte den neuen Staat nicht dezidiert öffentlich und sah keine Veranlassung, die tiefen Gräben zu den demokratischen Kräften in der Linken zuzuschütten oder wenigstens zu überbrücken. Konzepte, die Weimarer Republik so auf eine stabilere Grundlage zu stellen, entwickelte nicht Krupp, sondern sein Unternehmerkollege Paul Silverberg20, nämlich in einer stark beachteten Rede, die dieser 1926 auf einer Versammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie hielt. Klaus Tenfelde hat die Ambivalenz der Haltung Krupps folgendermaßen zusammengefasst: „Gustav Krupp selbst blieb konservativ im Sinne der Firmentraditionen, und er wurde republiktreu im Sinne seiner gouvernementalen Orientierung.“21 Das Unternehmen forderte ihn voll. Der Versailler Friedensvertrag hatte die Rüstungsproduktion der Firma auf ein Minimum beschränkt, nahezu beendet. Überwacht von der Interalliierten Militärkontrollkommission musste Krupp tausende von Maschinen verschrotten. Die hohen Investitionen in den Rüstungsbereich während des Krieges waren wertlos geworden; finanzielle Rücklagen wurden durch die Inflation aufgezehrt. Die Wiedereingliederung der aus dem Heer zurückkehrenden Stammarbeiter war zu organisieren; zehntausende von Arbeiterinnen und Arbeitern mussten entlassen werden. Kurz: Der Konzern hatte sich neu zu erfinden, wollte er überleben. Allerdings sollte dabei das Soziale strikt beachtet werden, so der Wille Gustav Krupps. Er begegnete den Herausforderungen mit dem Blick zurück, das heißt er pochte auf die ideelle Kultur der Firma und unterstrich, „eines Wettlaufens um Zahlen oder gar um Gewinn-Rekorde“ habe es nie bedurft.22 Das war deutlich: Profitdenken hatte sich sozialer Verantwortung unterzuordnen. Schnelle, scharfe 17 18 19 20 21

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Vgl. Gustav Krupp an Kurt Sorge, 27. Dezember 1922, WA 60/631. Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band. Notizen von Gustav Krupp, 27. Oktober 1919, FAH 4 C 736. Zu Paul Silverberg vgl. den Beitrag von Boris Gehlen in diesem Band. Klaus Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen. Unternehmensgeschichte der Fried. Krupp AG 1914 bis 1924/25, in: Lothar Gall (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, S. 15–165, hier S. 165. Rede von Gustav Krupp zum ersten „Krupp-Tag“ (Treffen leitender Angestellter), 18. Dezember 1921, FAH 4 E 21.

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Rationalisierungsschnitte schloss diese Mentalität aus, was die betriebswirtschaftliche Situation allerdings eher verschlimmerte. Neue Produktionslinien, etwa die Fertigung von Lokomotiven und Lastkraftwagen, erforderten langen Atem bis zur Rentabilität oder erwiesen sich, wie die Herstellung von Motorrollern, als Flop. Dennoch – und auch hier folgte Gustav Krupp der Tradition eines unabhängigen Familienunternehmens – lehnte er 1919/20 Interessengemeinschaften mit Konzernen wie Daimler oder der AEG ab. Und er ordnete private Interessen der Firma unter: Es liege ihm „am Herzen zu betonen, daß meine Frau und ich unser sogenanntes Privatvermögen niemals anders als wie eine Reserve für die Krupp’schen Werke angesehen haben, die eben nothfalls zum Schutze des Bestandes der Werke wie zur Sicherung berechtigter Ansprüche der Beamten- und Arbeiterschaft herangezogen werden kann.“23 RUHRBESETZUNG Die Krise spitzte sich zu, als Franzosen und Belgier im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten. Am Karsamstag, dem 31. März, erschien ein französischer Militärtrupp in der Essener Gussstahlfabrik und wollte Lastkraftwagen requirieren. Spontan demonstrierten tausende von Beschäftigten. Die Franzosen fühlten sich bedrängt und schossen in die Menge. 13 Tote blieben zurück. Das französische Militär verhaftete die in Essen anwesenden Krupp-Direktoren. Trotz Warnungen kehrte Gustav Krupp aus Berlin zurück, weil er es für seine Pflicht hielt, sich vor seine Beschäftigten zu stellen. Am 1. Mai verhaftete man auch ihn unter dem – unzutreffenden – Vorwurf, die Demonstration organisiert zu haben, um die französische Besatzungsautorität zu untergraben. Ein französisches Militärgericht verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft, und er kam in ein Gefängnis nach Düsseldorf. Inhaftierung und Prozess erfuhren weltweit große Aufmerksamkeit. Gustav Krupp galt als eine Symbolfigur des deutschen Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung und als Opfer von Willkürjustiz. Die britische Times berichtete über „Severe Punishments“ und kommentierte: „the sentence would not have been pronounced by any Civil Court. Von Bohlen has borne his adversity with entire dignity.“24 Reichspräsident Ebert protestierte scharf gegen den „Gewaltakt“, im Reichstag empörten sich die Politiker, und Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann drückte Bertha Krupp in einem Telegramm sein Mitgefühl aus. Gustav Krupp selbst bewahrte Fassung, ja war geradezu stolz auf seine Haltung. „Nicht wahr, jetzt darf ich mich doch wirklich mit Recht einen Kruppianer nennen!“, sagte er seiner Frau, als sie ihn im Gefängnis besuchte.25 Die Äußerung veranschaulicht, wie stark er sich mit der Firma und ihrer Tradition identifizierte, und wie fest er an den Mythos Krupp glaubte, ja, ihn für Wahrheit nahm. Nach sieben Monaten kam er vorzeitig wieder auf freien Fuß. 23 24 25

Gustav Krupp an das Direktorium, 16. November 1918, FAH 4 C 6. The Times vom 9. Mai 1923 und vom 21. Juli 1923 (Kommentar von Sir Basil Thomson). Tilo von Wilmowsky, Rückblickend möchte ich sagen, Reprint Münster 1990 [ursprünglich 1961], S. 166.

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DAUERKRISE Für die Fried. Krupp AG waren die Jahre der Weimarer Republik Jahre einer existentiellen Dauerkrise. Der Wegfall der Rüstungsproduktion und die Auflösung weltwirtschaftlicher Verflechtungen entwurzelten die Firma. Der komplizierte Organismus des Großkonzerns mit historisch gewachsenen und aufeinander abgestimmten Betrieben sowie internationalen Beschaffungs- und Absatzmärkten geriet völlig durcheinander. Das Know How war zum Teil entwertet worden. Technisches Wissen für neue Produktionsfelder dagegen musste erst mühsam erworben werden. Der Absatz für Qualitätsstahl brach ein und für Massenstahlproduktion war Krupp kaum ausgelegt. Die Firma befand sich in einem Teufelskreis aus hohen Fixkosten, horrenden Lagerbeständen, veralteten Werksanlagen und schwachem Umsatz. Obendrein steckte ein großer Teil des Betriebsvermögens in unrentablen Beteiligungen oder schwer verkäuflichen Grundstücken. Hinzu kam ein bürokratischer Wasserkopf: viel zu viele Angestellte auf viel zu vielen Hierarchieebenen. Das neunköpfige Direktorium war überbesetzt, überaltert und oft uneins; die Veränderungsbereitschaft der Beschäftigten gering, ihre Erwartungshaltung hoch. Gustav Krupp wusste um die Probleme, hatte aber Hemmungen entschlossen zu handeln und mit Traditionen zu brechen. Vielleicht wäre es, überlegte er 1925, sachlich richtiger gewesen, schon 1918/19 die Zahl der Beschäftigten drastisch zu reduzieren, aber man habe das „Band der Werksgemeinschaft“ bewahren wollen.26 Selbstkritisch meinte er, dass angesichts seiner allzu weitgehenden Mitwirkung im Alltagsgeschäft die Geschäftsleitung „mehr unter sozialpolitische und […] Gefühls-Momente als unter kaufmännische und rein wirtschaftliche Gesichtspunkte gestellt“ worden sei.27 Ihm fehlte eine tragfähige neue Idee. Und er zögerte. Das Management legte ihm Strategiekonzepte vor, die er eingehend studierte, doch am Ende stand nicht der eine große Wurf, nicht die Revolution, sondern eine Mischung eher halbherziger Reformen. Durch eine US-amerikanische Anleihe, auch durch Quasi-Subventionen des Reiches stellte das Unternehmen seine Finanzierung sicher. An den entsprechenden Verhandlungen in Berlin beteiligte sich Gustav Krupp intensiv, und in Essen entschloss er sich 1925 nach langem Taktieren, den Firmenvorstand um zwei Drittel auf drei Köpfe zu verkleinern, um ihn effizienter zu machen. Führungsschwächen und selbst Fälle von Vetternwirtschaft waren damit aber nicht beseitigt.28 Innerhalb von nur vier Jahren, von 1923 bis 1927, sank auch die Zahl der Beschäftigten um die Hälfte. 50.000 Menschen verloren den Arbeitsplatz. Unter den rheinisch-westfälischen Montankonzernen war die Lage Krupps am schlechtesten. Einige Betriebe und Werke legte Krupp still, so die Hüttenwerke am Mittelrhein und das Stahlwerk Annen, aber nicht die hochdefizitäre Germaniawerft. Wo möglich, modernisierte die Firma ausgewählte Produktionsstätten und vor allem setzte sie die Erweiterung des Stahl- und Walzwerks Borbeck zu einem integrierten 26 27 28

Entwurf zur Rede von Gustav Krupp vor der Generalversammlung, 13. Januar 1925, FAH 4 C 176. Gustav Krupp an Ernst Haux, 9. Mai 1925, FAH 4 C 30. Vgl. Erinnerungen von Walter Lwowski, Typoskript, 5. Februar 1961, N 18/1.

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Hüttenwerk wie geplant um. 1929 stand dort eines der modernsten Werke Europas. Damit sicherte die Firma die kostengünstige Versorgung der eigenen Stahlwerke mit Roheisen und beschritt den Weg zum Massenstahlhersteller. Wichtig blieb dafür auch die Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen, die lange Zeit rentabel arbeitete. Der Schwerpunkt des Unternehmens verlagerte sich also allmählich, qualitativ und geographisch. Dies schloss nicht aus, einige Spezialbereiche in Essen zu stärken. Der nichtrostende Stahl bewies sein Marktpotenzial, und seit 1926 setzte Krupp Werkzeuge aus dem neu entwickelten Hartmetall WIDIA (so hart „wie Diamant“) ab, einer der wenigen profitablen Produktionszweige dieser Jahre. Rüstungstechnische Kompetenz sollte ebenfalls bewahrt und weitertransportiert werden. Daher kooperierte die Firma Krupp mit dem schwedischen Rüstungskonzern Bofors, konstruierte und testete Panzer zusammen mit der Roten Armee und schloss schon 1922 ein geheimes Abkommen mit der Reichswehr über die Entwicklung neuer Waffen. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zu Gustav Krupps moralischen Ansprüchen und seiner Gesetzestreue aussieht – und in der Tat bewusst gegen Wort und Geist des Versailler Vertrages verstieß –, geschah im Einvernehmen mit der deutschen Regierung und entsprang ökonomischem Kalkül ebenso wie Patriotismus. Alles in allem blieb das Ausmaß dieser Aktivitäten jedoch gering, und im späteren Versuch Krupps, seine Mitwirkung an der verdeckten Wiederaufrüstung als weitblickende Strategie zu interpretieren, technisches Wissen „in bessere Tage“ „hinüberzuretten“, um jederzeit alle verlangten Aufgaben des „Vaterlandes“ wieder erfüllen zu können,29 mischen sich Selbsttäuschung und Selbstinszenierung, auch um die neuen nationalsozialistischen Machthaber zu beeindrucken. Im Ruhreisenstreit von 1928, einem Fanal für das Auseinanderbrechen des Weimarer Gründungskompromisses zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, gehörte Gustav Krupp nicht zu den Hardlinern, doch auch er stimmte Massenaussperrungen zu. Die von ihm so häufig beschworene Werksgemeinschaft war dabei, sich rapide aufzulösen. Wenige Monate später begann die Weltwirtschaftskrise, und damit ein erneuter Kampf ums Überleben. Gustav Krupp drängte das Direktorium jetzt auf entschlossene Ausgabenkürzungen und Rationalisierungen und schränkte seinen privaten Haushalt ein – aber sein Ton war resignativ, am Ende blieb ihm nur die vage Hoffnung auf eine irgendwann doch einmal zu erwartende Belebung der Wirtschaft.30

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Rede von Gustav Krupp [zur Generalversammlung], 25. Januar 1936, FAH 23/734. Tischrede zum 9. Krupp-Tag, 25. Januar 1936, FAH 23/777. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Betriebsführer und Rüstungsarbeiter, in: Josef Pöchlinger (Hrsg.), Front in der Heimat. Das Buch des Rüstungsarbeiters, Berlin u. a. 1942, S. 92–110, hier S. 100 f. Gustav Krupp an das Direktorium, 14. August 1931, FAH 4 C 736.

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SELBSTSTÄNDIGKEIT Gustav Krupp und seine Firma wirkten wie Monumente ihrer selbst, wenn man sie an anderen Entwürfen unternehmerischen Tuns in jener Zeit misst. Es gab Industrielle, die politischen Einfluss suchten. Fritz Thyssen ist ein Beispiel. Sein Vater August hatte sich am Ende seines Lebens entschieden, sein Familienunternehmen aufzuteilen. Wieder andere Industrielle handelten flexibel und fintenreich, kauften und verkauften blitzschnell Beteiligungen, waren ständig auf der Suche nach neuen Chancen ohne Bindung an das Alte. So gingen Hugo Stinnes und dann die Newcomer Günther Quandt und Friedrich Flick31 vor. Gustav Krupp stieß das ab, und Flick warf er in der Gelsenberg-Affäre vor, mangelnde Solidarität mit der westlichen Schwerindustrie gezeigt, seine Privatinteressen egoistisch durchgesetzt und damit den Weg in die Staatswirtschaft geebnet zu haben.32 Zu einer echten Herausforderung wurde indes ein von Albert Vögler33 und anderen favorisiertes Modell, nämlich eine Großfusion in der Montanindustrie. Einflussreiche Manager und Firmeneigentümer sahen in diesem Schritt den einzigen Ausweg aus der Krise und drängten auf die Gründung eines Stahltrusts, der späteren Vereinigte Stahlwerke AG. Auch Krupp war 1925 angesprochen, und das Direktorium plädierte angesichts der wirtschaftlichen Misere vehement für eine Beteiligung am Zusammenschluss. Gustav Krupp setzte sich darüber hinweg und versperrte den Übergang zum Manager-Kapitalismus: „Ein selbständiges Familienunternehmen wird, trotz beschränkterer Mittel, manche technische Sonderaufgabe verfolgen, manche besondere Einrichtung, wenn auch in Notzeiten kärglich, eigenartiger entwickeln können als eine grosse Gemeinschaft“. Auch mit Blick auf die Gesamtwirtschaft und zukünftige Möglichkeiten halte er sich für „verpflichtet, die in guten und bösen Zeiten bewährte Familiengesellschaft Krupp in Selbständigkeit weiterführen zu sollen“.34 Für alle sichtbar handelte Gustav Krupp als Unternehmer, der – gemeinsam mit seiner Frau – die letzte Entscheidungskompetenz besaß und die strategischen Weichen stellte. Es war eine Entscheidung jenseits ökonomischer Logik. Kulturelle Faktoren, das heißt Werte und Traditionen, gaben den Ausschlag, nicht aber betriebswirtschaftliches Kalkül und auch nicht der Blick auf das Familienvermögen, das nach einer Fusion sicherer gewesen wäre, wie Fachleute berechnet hatten.

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Siehe dazu die Beiträge von Judith Michel und Tim Schanetzky in diesem Band. Vgl. Albert Vögler an Friedrich Flick, 27. Juni 1932 (Abschrift), und Gustav Krupp an Vögler, 5. Juli 1932, FAH 23/793. Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band. Gustav Krupp an Albert Vögler, Walther Fahrenhorst, Johann Jacob Hasslacher und Fritz Thyssen, 20. September 1925 (Abschrift), FAH 4 E 44.

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ÄMTER UND INTERESSEN Von ihrer Gründung 1911 bis 1937 bekleidete Gustav Krupp das Amt des Ersten Vizepräsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Für ihn stellte das weit mehr als eine dekorative Position dar und kam nahe an eine Herzensangelegenheit heran. Dennoch diente sein Engagement unausgesprochen immer auch den Absichten der Industrie, von Erkenntnissen neuer Forschung zu profitieren. In den Weimarer Jahren bemühte er sich, wirtschaftlichen Sachverstand in die Arbeit der Gesellschaft einzubringen und ihre Finanzierung sicherzustellen. Er drängte auf Kostenbewusstsein und wandte sich gegen eine weitere Expansion durch neue Institute zu Lasten der bestehenden.35 Aus eigenen Mitteln stellte er allein bis 1923 3,7 Millionen Mark zur Verfügung, „fast ausschliesslich in Goldwerten“.36 Nach dem Tod des Präsidenten von Harnack trug Krupp 1930 dazu bei, die Funktionsfähigkeit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu bewahren.37 Inhaltlich engagierte sich Krupp speziell für medizinisch-biologische Fächer, und hier besonders für das Institut für Hirnforschung (Oskar Vogt) sowie die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (Emil Kraepelin). Dabei knüpfte er an die Familiengeschichte an, hatte doch bereits Friedrich Alfred Krupp selbst meeresbiologische Forschung betrieben und Vogt mit dessen Projekten gefördert. Auch in seiner Unterstützung des Deutschen Museums in München war Gustav Krupp teils Wissenschaftsmanager, teils Mäzen. Von 1914 bis 1921 leitete er den Vorstandsrat. Im Deutschen Museum ging es um die Vermittlung von Geschichte, und Geschichte, vor allem Familiengeschichte, interessierte Krupp zeitlebens. „Geschichte ist ja alles andere als eine tote Wissenschaft.“38 Zwar forschte er nicht selbst, förderte aber historisches Arbeiten kontinuierlich und nahm regen Anteil an den Ergebnissen. Er hatte in eine Unternehmerfamilie eingeheiratet, die bereits seit 1905 ein professionell geführtes Archiv unterhielt. Gustav Krupp unterstützte nicht nur dessen wissenschaftliche Arbeit, sondern initiierte auch die genealogische Erforschung seiner eigenen Familie. Es mag sein, dass dabei auch der Wunsch mitschwang, der Kruppʼschen Erfolgsgeschichte eine Erzählung eigener Würde an die Seite zu stellen. Mit dem Kruppʼschen Haushistoriker und Publizisten Wilhelm Berdrow verband Krupp am Ende fast so etwas wie eine Freundschaft. Berdrow bot ihm die Gewähr für sachlich fundierte, quellengesättigte Darstellungen, die zugleich bestimmte Narrative transportierten: Aufstieg der Firma aus kleinen Anfängen, Bedeutung des Gemeinschaftsgedankens und der sozialen Verantwortung, Rolle ingeniöser Erfindungen, Vaterlandsliebe des Unternehmens usw. Die Beschäftigung mit Geschichte besaß in adeligen Milieus Tradition, und das traf gleichermaßen auf eine zweite, noch stärker ausgeprägte Leidenschaft Krupps zu, die Jagd. Sie signalisierte Exklusivität und ermöglichte darüber hinaus, private 35 36 37 38

Vgl. z. B. Gustav Krupp an Friedrich Glum, 10. März 1926, FAH 4 E 248; an Reichsfinanzminister Paul Moldenhauer, Januar 1930 (Konzept), FAH 4 E 249. Notiz von Gustav Krupp, 10. Januar 1923, FAH 4 E 247. Vgl. Max Planck an Gustav Krupp, 21. Juli 1930, FAH 4 E 250. Rede von Gustav Krupp auf der Jubilarfeier des Krupp-Grusonwerks, Magdeburg, 30. Mai 1935, FAH 23/777.

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und geschäftliche Netzwerke zu festigen. Krupp jagte bevorzugt in seinem Revier im Salzburger Land, wo er 1916 das Schloss Blühnbach erworben hatte. Dort verbrachte die Familie fortan die Sommermonate. Blühnbach wurde zum Refugium. Fern der Pflichten und Zwänge in Essen oder Berlin lebte Gustav Krupp hier auf, verlor die Distanz und emotionale Kälte, die er sonst oft ausstrahlte, und widmete sich dem Familienleben mit sieben Kindern (ein weiterer Sohn war früh gestorben). Auf Fotografien wirkt er entspannt und gelöst, ja heiter. Krupps Lebenszuschnitt war für großbürgerlich-adelige Schichten recht typisch. Das reichte vom Segeln über das Reisen und das Mäzenatentum bis hin zum historistischen Interieur der Villa Hügel. Auch die Erweiterung der Kunstsammlung, beraten durch Experten wie Wilhelm von Bode und Karl Koetschau, zählte dazu. Zahlreiche Werke alter niederländischer Meister kamen so in die Villa Hügel. Ein Kontakt zur Avantgarde fehlte. Arrivierte, repräsentative Kunst zu sammeln, gehörte unabdingbar zum Habitus des Großindustriellen und vermittelte ihm eine Aura von Kultur und Geschmack. Das Leben in der Villa Hügel gehorchte einem strengen Korsett der Ordnung. Der Hausherr trat beherrscht und souverän auf, war penibel korrekt und scheute den lauten Konflikt. Nüchterner Wirklichkeitssinn paarte sich mit immensem Fleiß und Strenge. Haltung bewahren und Pflicht erfüllen lautete der Anspruch an sich selbst und die Maxime für andere. Krupp war ein Fanatiker der Regelhaftigkeit. Das Leben nach der Uhr verlieh ihm Sicherheit. Frühstück um halb acht, Viertel nach acht ins Büro in die Firma, ein Uhr Mittagessen in der Villa Hügel, kurze Mittagspause, Büroarbeit im Arbeitszimmer in der Villa, halb fünf Teestunde, Viertel nach sechs bis sieben Spielstunde mit den Kindern, halb acht Abendessen und um zehn Uhr wurden Gäste mit der Bemerkung „Ihr Wagen ist vorgefahren“ hinauskomplimentiert. Der Hausherr ging zu Bett. POLITIK Trotz seines formvollendeten Stils und seines vermittelnden Wesens hielt sich Krupp in Interessenverbänden eher in der zweiten Reihe. Ihm fehlte das Charismatische, und ihm fehlte die Lust zur Macht. Eher wirkte er hinter den Kulissen, wie in der „Ruhrlade“, einem Kreis von Ruhrindustriellen, dessen Einfluss allerdings weit überschätzt worden ist. Doch im Juni 1931 gab er dem Drängen von Carl Duisberg39 nach und erklärte sich bereit, die Präsidentschaft im Reichsverband der Deutschen Industrie zu übernehmen. Ab September moderierte er die immer mehr auseinander driftenden Interessen der Industrie und vertrat deren Position gegenüber Politik, Exekutive und Öffentlichkeit, ohne freilich besondere Akzente setzen zu können. Schon zuvor hatte Krupp den Standpunkt geteilt, die Wirtschaft leide unter zu hohen Lohn- und Sozialkosten, bedürfe einer stabilen politischen Ordnung und weltwirtschaftlicher Handlungsfreiheit. Der Young-Plan, den er akzeptierte, schien ihm ein Schritt auf dem Weg zu einem vernünftigen internationalen Ausgleich. 39

Zu Carl Duisberg vgl. den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band.

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Spenden der Firma Krupp flossen an Deutsche Volkspartei wie Deutschnationale Volkspartei.40 Man unterstützte Hindenburg, anfangs als Privatperson, am Ende bei seiner Wiederwahl als Reichspräsident. In der Phase allmählicher Auflösung des parlamentarisch-demokratischen Systems setzte Gustav Krupp seine Hoffnung zunächst darin, dass „ein fester tragfähiger Block staatserhaltender Kräfte“ entstand, also eine bürgerliche Sammlungspartei.41 Verhaltene Versuche, die Industrie auf diese Idee zu verpflichten und auf die Parteien einzuwirken, blieben erfolglos. Einfluss auf die angesprochenen Politiker hatten die Unternehmer eben kaum. Positive Erwartungen verband Krupp dann mit dem Präsidialkabinett Papen. Ein öffentlich gemachter Brief Krupps an den deutsch-amerikanischen Textilindustriellen Julius Forstmann fand internationale Beachtung; die New York Times berichtete an prominenter Stelle.42 Aus Krupps Sicht hatten sich die Parteien als unfähig erwiesen und selbst ausgeschaltet. Was blieb übrig, als nun einem Kabinett, das der immerhin vom Volk gewählte Reichspräsident gebildet hatte, Vertrauen zu schenken? Die Wirtschaft stelle Kritik an einzelnen Maßnahmen bewusst zurück und wolle die „Autorität der Reichsregierung“ festigen. Außenpolitisch müsse Deutschland volle Rechte in der Landesverteidigung erhalten, wolle aber „lediglich ein gleichberechtigtes Mitglied der großen Völkerfamilie sein“. Internationale Abrüstung müsse das Ziel lauten. Einen Schlüssel zur Überwindung der Depression sah Krupp in dem, was heute Globalisierung genannt wird. Die internationale Verflechtung der Wirtschaft sei unumkehrbar und für alle Beteiligten von Nutzen. Auch andernorts bemühte er sich, Argumenten gegen den anschwellenden Ruf nach Autarkie und Protektionismus Gehör zu verschaffen.43 Den Berliner Machtspielen und Intrigen stand Gustav Krupp fern. Nicht treibende Kraft, sondern Getriebener war er. Ratlos reagierte er auf die Regierungskrisen.44 Mehr und mehr geriet er in die Rolle eines resignierenden Beobachters, der sich mit den jeweils neuen Gegebenheiten arrangierte, ob mit Brüning, Papen, Schleicher – oder schließlich mit Hitler. Zu den Nationalsozialisten hielt er vor 1933 in jeder Beziehung Abstand. Weder floss Geld noch unterstützte er sie ideell. Am Auftritt Hitlers vor dem Düsseldorfer Industrieclub im Januar 1932 nahm Krupp demonstrativ nicht teil, ebenso wenig an einem Treffen mit Hitler, zu dem Fritz Thyssen im Oktober in sein Privathaus einlud. Das Gewalttätige, Pöbelhafte, Disziplinlose, auch das Sozialistische der NSDAP stießen Krupp ab. Brodelnde Emotionen, blanker Populismus, bürgerkriegsähnliche Eruptionen – all das widersprach diametral seinen Idealen von Vernunft, Ordnung und Maßhalten. Ende Januar 1933 zeigte er sich „sehr besorgt“ über die politische Entwicklung,45 und 40 41 42 43 44 45

Vgl. etwa Tilo von Wilmowsky an Gustav Krupp, 15. Dezember 1927, FAH 23/501. Gustav Krupp an Tilo von Wilmowsky, 19. Juli 1930, FAH 23/503. Gustav Krupp an Julius Forstmann, 15. September 1932, FAH 23/793. „Krupp Head Backs German Arms Plea“, in: New York Times vom 28. September 1932. Siehe auch Gustav Krupp an Franz von Papen, 3. Dezember 1932, FAH 23/793. Gustav Krupp an Ludwig Kastl, 2. Juni 1932, FAH 23/793. „Der ganze Verlauf der Regierungskrise ist mir völlig unverständlich“, Gustav Krupp an Ludwig Kastl, 2. Juni 1932, FAH 23/793. Gustav Krupp an Albert Vögler, 28. Januar 1933, FAH 23/793.

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nachdem Hitler zum Reichskanzler berufen worden war, schrieb er, in die „neue Wendung der Dinge“ könne er sich „schwer hinein finden“ und er fürchte, sein Sohn Harald habe mit der Bemerkung Recht, „aus Wasserstoff und Sauerstoff entstünde beim Zusammenkommen Knallgas“.46 „DRITTES REICH“ Erstmals persönlich traf Krupp am 20. Februar 1933 auf Hitler. Als Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie führte er eine Gruppe von zwei Dutzend Wirtschaftsvertretern an, die der neue Kanzler eingeladen hatte. Ein echter Gedankenaustausch fand nicht statt. Krupp betonte aber, dass die Wirtschaft sich nur „in einem politisch starken, unabhängigen Staate“ entfalten könne, dass endlich „Klarheit in den innerpolitischen Fragen“ nötig sei und statt diverser Einzelinteressen das „Gesamtinteresse des deutschen Volkes“ gefördert werden müsse.47 Glaubte er, Hitler handele im Gesamtinteresse? Das Treffen endete damit, dass Hjalmar Schacht von den Industriellen Geld für den Wahlkampf des neuen Reichskanzlers eintrieb. Auch Krupp zahlte seinen Anteil. Zunächst zögernd und skeptisch, dann zunehmend überzeugt arrangierte sich Gustav Krupp mit dem NS-Regime, wohl auch anders als seine Frau Bertha, deren Distanz ausgeprägter blieb. Sein Verhalten ist nicht bis ins Letzte zu entschlüsseln. Golo Mann hat zwei mögliche Interpretationen beschrieben: „Die eine: er machte mit, weil und insoweit er musste, zögernd, mitunter sogar Widerstand leistend, und pessimistisch, unter Zwang. Die andere: Er und sein Haus machten mit, freiwillig und freudig, machten intensiver mit, als sie gemusst hätten. Sie trieben an, und zwar, weil sie im Politischen und Wirtschaftlichen, an Macht und Geld, gewaltige Gewinne daraus zogen.“ Manns Einschätzung: „Ich halte die zweite These für unvergleichlich falscher als die erste, die jedoch auch nicht völlig wahr ist. Immer bleibt menschliche Wirklichkeit komplexer, als schlichte Thesen sein können.“48 Dass sich Krupp mit der Diktatur arrangierte, hatte zweifellos mehrere Ursachen: Er vertraute von jeher auf den Staat, war fixiert auf Autorität und Ordnung, glaubte an die Idee der Volksgemeinschaft, war diplomatisch vorsichtig – und freute sich nicht zuletzt über den Rückgewinn nationaler Geltung und die wirtschaftliche Erholung, von der auch die Fried. Krupp AG profitierte. Gustav Krupp meinte, die innere Ordnung des Staates sei wiederhergestellt. Womit diese Ordnung erkauft wurde, meist durch Terror nämlich, geriet ihm zur Nebensache. Die nationalsozialistische Vision der „Volksgemeinschaft“ bot jedoch Anknüpfungspunkte zu den Prinzipien der Werksgemeinschaft, die Gustav Krupp stets verfochten hatte. Von der sozialen Verantwortung des Unternehmers blieb er zutiefst überzeugt. Der

46 47 48

Gustav Krupp an Tilo von Wilmowsky, 1. Februar 1933, FAH 23/507. Vermerk von Gustav Krupp, 22. Februar 1933, FAH 23/793. Unveröffentlichtes Typoskript zu einer Biographie von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, [1980], S. 89, STA 1 v 194.

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Eigentümer der Krupp-Werke müsse von „wirklicher Arbeit und Hingabe“ an die Beschäftigten durchdrungen sein.49 Sein Schwager Tilo von Wilmowsky betonte rückblickend, Krupp sei auch von der Persönlichkeit Hitlers beeindruckt gewesen. Dafür spricht, dass schließlich im Arbeitszimmer Gustav Krupps auch eine Staffelei mit dem Kopf des „Führers“ stand.50 Seit 1936/37 sei es – so Wilmowsky – nicht mehr möglich gewesen, mit Krupp über das NS-Regime zu diskutieren.51 Der politisch desillusionierte Wilmowsky vertraute auch dem Diplomaten und Widerstandskämpfer Ulrich von Hassell an, es sei „hoffnungslos zu versuchen“, Gustav Krupp „zum Handeln zu bewegen“, zum Handeln gegen das Regime.52 Führende Nationalsozialisten wussten ebenfalls, dass Krupp alles andere war als ein Tatmensch. Ins Tagebuch schrieb Goebbels: „Netter Mann aber kein Heros.“53 Der Gleichschaltung des Reichsverbandes und seiner Umwandlung in einen „Reichsstand der Deutschen Industrie“ konnte und wollte Krupp keinen entschlossenen Widerstand entgegen setzen, obwohl ihm Geschäftsführer Kastl offen von den Terrormaßnahmen der Regierung berichtete.54 Ohnmächtig erlebte Krupp, wie seine verbands- und wirtschaftspolitischen Absichten scheiterten. Weder konnte er die Autonomie des Reichsverbandes bewahren noch seine Überzeugung von stärkerem globalem Handel umsetzen. Konsequent zog er sich Ende 1934 endgültig von der Spitze des neuen „Reichsstandes“ zurück. Ein Amt, das er seit Mai 1933 ausübte, gab er allerdings nicht auf, den Vorsitz im Kuratorium der AdolfHitler-Spende der deutschen Wirtschaft. Diese Organisation sammelte nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel Gelder der Wirtschaft für die NSDAP, Jahr für Jahr Millionenbeträge.55 Aus Sicht der Unternehmer unterband dieses Verfahren das „wilde“ Eintreiben von Zwangsspenden durch alle möglichen Partei- und parteinahen Stellen. Der allgemeine Konjunkturaufschwung seit 1933 und die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik nutzten auch der Firma Krupp. Nach Jahren von Verlusten wies die Bilanz für das Geschäftsjahr 1933/34 erstmals wieder einen Gewinn aus. Dazu trug maßgeblich das zivile Geschäft bei, noch kaum die Rüstungsproduktion, die Krupp aber jetzt stolz wieder verstärkte. Gustav Krupp konnte sein unternehmerisches Ideal verwirklichen, und zwar die Wiederherstellung der „alten“, vertikal und horizontal verflochtenen Firma mit einem Standbein im zivilen und einem im Rüs49 50 51 52 53 54 55

Gustav Krupp an seine Frau Bertha für den Fall seines Todes, 24. Mai 1940 (Abschrift), STA 2, S II-1. Ein Gespräch mit Herrn von Bohlen, in: Krupp. Zeitschrift der Kruppschen Betriebsgemeinschaft vom 1. August 1940, S. 207 f., hier S. 207. Aufzeichnung von Tilo von Wilmowsky, ca. Oktober 1947, FAH 4 F 84. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen (Hrsg.), Die Hassell-Tagebücher 1938–1944, Berlin 1988, S. 146 (bezogen auf 29. November 1939). Ähnlich zuvor auch Goerdeler, siehe ebd. S. 135 (6. November 1939). Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/III, München 2006, S. 222 (Eintrag vom 6. Juli 1933). Ludwig Kastl an Gustav Krupp, 25. Februar 1933, FAH 23/793. Der Krupp-Konzern zahlte insgesamt rd. 8,2 Millionen RM, siehe eidesstattliche Erklärung Curt Finzel, 5. März 1948, und Dokument NIK 12585, WA 40 B 1226.

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tungsbereich. Abhängig wollte er sich von der Rüstung aber keineswegs machen,56 hatte der Erste Weltkrieg doch die Risiken eines solchen Schrittes demonstriert. Das Bild von Krupp als der „Waffenschmiede des Deutschen Reiches“, von der staatlichen Propaganda wie vom Unternehmen selbst gern ausgemalt, stand weitgehend in Kontrast zur Realität. Entgegen mancher Tendenzen in der neueren historischen Forschung ist auch kaum zu bezweifeln, dass die Handlungsspielräume der Firma und ihres Leiters sukzessive abnahmen. Einige betriebswirtschaftlich zweifelhafte Investitionen gingen auf Druck des Staates zurück. Hitler persönlich verhinderte, dass Gustav Krupp 1937 den regimekritischen Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler in den Vorstand berief. Falsch wäre jedoch die Vorstellung, die Firma sei nur ein Spielball höherer Mächte gewesen. Die Firma war fest – und über weite Strecken willig – eingebunden in die Rüstungs- und Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“ und dazu gehörten sowohl die Beschäftigung von rund 100.000 Fremdund Zwangsarbeitern als auch die Übernahme von Fabriken in den von Deutschland besetzten Gebieten. Das Bild bleibt freilich ambivalent. An den Verbrechen der „Arisierungen“ wollte Gustav Krupp nicht mitwirken; an „Leichenfledderei“ beteilige er sich nicht.57 Der einzige Fall, in dem er überhaupt ein „jüdisches“ Unternehmen erwarb, das Hamburger Reederei- und Handelshaus Blumenfeld, beruhte auf einem angemessenen Kaufpreis (was nichts an der Tatsache einer Entrechtung der Familie Blumenfeld änderte). Ob Gustav Krupp genug tat, um Unrecht zu verhindern? Ob er mehr tun konnte? Welche Alternativen er besaß? Solche Fragen führen schnell auf das Feld moralischer Urteile. Den revolutionären Charakter und die entfesselte Dynamik des „Dritten Reiches“ begriff er – wie viele andere – nicht. Die nationalsozialistischen Verbrechen verdrängte er und blendete sie aus. Verborgen blieben sie ihm nicht, wie das Beispiel der „Arisierungen“ zeigt. Zumindest Andeutungen über den Holocaust erreichten auch ihn. Einer seiner Söhne schrieb ihm 1942 aus Lemberg, es seien noch „sehr viele Juden“ in der Stadt, „die aber jetzt in grossen Mengen ‚umgesiedelt‘ werden“; die „Aktion“ sei „sehr unerfreulich“.58 In seiner Antwort ging der Vater auf diesen Passus nicht ein. Mit offenem Protest auf Unrecht und Terror reagierte er nie, sondern mit vorsichtigem Taktieren. In mehreren Fällen bemühte er sich, Verfolgten, Bedrohten und Entrechteten zu helfen, immer vorsichtig, immer tastend. An Direktoriumsmitglied Arthur Klotzbach, im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten ein „Halbjude“, hielt Krupp bis zu dessen Tod 1938 fest. Dem schon erwähnten Carl Goerdeler finanzierte Krupp – gemeinsam mit Robert Bosch59 – Auslandsreisen, wohl ahnend, dass Goerdeler dabei Chancen zum Widerstand gegen das NS-Regime auslotete. Der Neurologe Oskar Vogt, dessen Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung un56 57 58 59

Reden von Gustav Krupp zur Generalversammlung, 25. Januar 1936: FAH 23/734, und am selben Tag vor dem Aufsichtsrat, WA 40 B 1311. Bezogen auf die Hahn’schen Werke in Duisburg. Eidesstattliche Versicherung von Bruno Fugmann, 19. März 1948, WA 40 B 1287. Berthold von Bohlen und Halbach an Gustav Krupp, 16. August 1942, FAH 23/796. Zu Robert Bosch vgl. den Beitrag von Joachim Scholtyseck in diesem Band.

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ter politischem Druck aufgelöst worden war, erhielt von Krupp Geld für ein neues Institut im Schwarzwald. Weitere Interventionen ließen sich aufzählen, doch zum „Widerstandskämpfer“ macht all das Gustav Krupp keineswegs. Es sind Akte gelegentlicher Widerständigkeit. Es sind Versuche, Moral und Anstand zu bewahren. Sie belegen, dass Krupp sicherlich kein ideologisch überzeugter Nationalsozialist war. Aber in Reden und Publikationen stellte er sich hinter das „Dritte Reich“ und feierte pathetisch „das Genie unseres Führers Adolf Hitler“.60 Die Deutschen würden sich „in Dankbarkeit und rückhaltlosem Vertrauen zu der weltgeschichtlichen Größe“ Hitlers bekennen.61 Das war die Diktion der Nationalsozialisten. Manches Mal schlug nun das Diplomatische ins Servile um. LETZTE JAHRE Offenkundig gewann Gustav Krupp nie die Erkenntnis, dass er sich letztlich einem totalitären Staat zur Verfügung stellte und ein verbrecherisches Regime unterstützte. Und er brachte weder den Mut noch die Weitsicht auf, sich gegen die Diktatur zu stellen oder sich von den Machthabern zumindest nicht vereinnahmen zu lassen. Genau dies geschah. Zu Krupps 70. Geburtstag am 7. August 1940 suchte ihn Hitler mit großem Gefolge in Essen auf, ehrte ihn mit dem Adlerschild des Deutschen Reiches und dem Goldenen Parteiabzeichen (obwohl Krupp erst im November Mitglied der NSDAP wurde). Das Ereignis fand breiten medialen Widerhall. Die Spitzel des Regimes meldeten, die Ehrung habe eine „starke Beachtung“ gefunden und im Allgemeinen hätte sich die Bevölkerung „zustimmend“ geäußert.62 Das spricht für Krupps Ansehen in Deutschland. Er selbst war ausgesprochen stolz auf die Auszeichnungen. Für das Regime wiederum erschien Krupp als Aushängeschild wichtig, als Symbol für den Schulterschluss zwischen alten Eliten und Nationalsozialisten. Seit etwa 1941 ließen die geistigen und körperlichen Kräfte des über 70-Jährigen allmählich nach. Die Frage der Nachfolge im Unternehmen stellte sich dringender, und 1943 übertrugen Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach die Firma auf ihren ältesten Sohn Alfried. Gustav Krupp zog sich jetzt aus dem Unternehmen zurück und verbrachte seine Zeit überwiegend in Schloss Blühnbach. Sein geistiger und körperlicher Verfall beschleunigte sich durch einen Schlaganfall und einen schweren Autounfall Ende 1944. Bei Kriegsende – zwei Söhne waren als Soldaten gefallen – litt er an weit fortgeschrittener Demenz bzw. Arteriosklerose; ein apathischer, nicht mehr ansprechbarer Mann, in Blühnbach von seiner Frau gepflegt, dem Tod entgegendämmernd. Die Alliierten wollten ihn im 60 61 62

Rede [zum Krupp-Tag], [26.] Januar 1934, FAH 23/777. Rede zur Krupp-Jubilarfeier, 1. Mai 1934: Krupp. Zeitschrift der Kruppschen Werksgemeinschaft vom 15. Mai 1934, S. 242–246, hier S. 243. Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. 5, Herrsching 1984, S. 1471 (Meldung vom 15. August 1940).

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Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zwar anklagen, doch die Ärzte stellten Reise- und Verhandlungsunfähigkeit fest. Am 16. Januar 1950 starb Gustav Krupp von Bohlen und Halbach in Blühnbach. FAZIT Seine Lebensspanne war immens: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, zwei Weltkriege. Den politischen Systemen hat sich Gustav Krupp von Bohlen und Halbach angepasst, hat sie repräsentiert, hat sich von ihnen vereinnahmen lassen – hier mehr, dort weniger. Als vorrangig empfand er immer das Ziel einer stabilen Ordnung. Klare Strukturen, klare Hierarchien und klare Autoritäten waren dafür essentiell. Der Begriff des Liberalen, wie ihn Graf Kessler im einleitenden Zitat benutzt, trifft Krupps Denken weniger. Dennoch verloren nur wenige Zeitgenossen negative Worte über ihn, zum Beispiel Erik Reger, der in seinem Roman „Union der festen Hand“ einen Industriellen namens „von Zander“ auftreten ließ, in dem eine Karikatur Gustav Krupps steckte. Aber selbst das ehemalige Direktoriumsmitglied Wilhelm Muehlon, der in seinen Memoiren höchst kritisch auf die Geschäftspraktiken der Firma zurückblickte, meinte, Krupp sei „ein außerordentlich anständiger Charakter und auch fähig zu wirklichen Opfern für allgemeine Interessen“.63 Muehlon schrieb das Anfang 1934. Aus heutiger Perspektive müsste man hinzufügen, dass Gustav Krupp im „Dritten Reich“ seinen inneren Kompass teilweise verlor und Mitverantwortung für das Geschehen nach 1933 trug. Diesen Kompass hatte schon der junge Mann fest justiert, und ihn leiteten zeitlebens Prinzipien wie Verbindlichkeit, Vernunft, Ordnung, Pflicht und Tradition. Graf Kessler charakterisierte Krupp aber auch als „Typus des bürokratisch beschränkten Herrschers“. Die Formulierung scheint von Kategorien des Soziologen Max Weber inspiriert worden zu sein, der drei Idealtypen von Herrschaft unterschied: legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab, traditionale Herrschaft und charismatische Herrschaft. Die erste ist gekennzeichnet durch Hierarchien und Arbeitsteilung, Regelwerke und Präzision, Professionalität und Vernunft, Berechenbarkeit und Disziplin. Der Leiter eines bürokratischen Verwaltungsstabes besitzt seine Stellung aufgrund von Aneignung, Wahl oder Designation. Viele Merkmale dieses Idealtyps treffen, wie beschrieben, auf Gustav Krupp zu, doch war er mehr und anderes als ein bürokratischer Herrscher, beruhte seine Legitimation doch auf althergebrachter, eben traditionaler Ordnung: Er repräsentierte die vierte Eigentümer-Generation an der Spitze des Unternehmens, und das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern war häufig persönlicher und nicht verwaltungstechnischer Natur. Tradition war ein Leitbegriff von Krupps Handeln und bestimmte es weitaus stärker als bürokratische Rationalität. Wesenszüge eines charismatischen Herrschers indes fehlten ihm. Seine Reden waren nicht mitreißend, seine Persönlichkeit ruhte nicht auf der Kraft des Außeralltäglichen, die andere in den Bann zieht. 63

Wilhelm Muehlon, Ein Fremder im eigenen Land. Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen eines Krupp-Direktors 1908–1914, hrsg. und eingel. von Wolfgang Benz, Bremen 1989, S. 60.

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Gustav Krupp wollte sich nicht bestimmen lassen von wilden Emotionen. Zeit seines Lebens blieb er vorsichtig, glich Interessen aus und mochte sich nicht exponieren. Oft heißt es in Briefen, näheres solle mündlich mitgeteilt werden, weil es sich nicht für das Schriftliche eigne. Er vermied zu polarisieren und drängte sich nicht nach vorn. Krupp war ein Mann, der den Wandel fürchtete und das Risiko verabscheute, der selbst im Gleichmaß lebte – und nach 1914 das Gleichmaß der Zeit vermisste. Das einzig Revolutionäre, das er je tat, bestand in der Heirat und dem Sprung in ein fremdes Milieu: vom Staatsdiener zum Industriellen. Als Unternehmer leitete ihn die Autorität der Toten: Was Alfred und Friedrich Alfred Krupp geschaffen hatten, nahm Gustav Krupp zum Maßstab. Psychologische Spekulation bleibt, ob ihm als Angeheiratetem neben zwei starken Frauen – Margarethe und Bertha Krupp – Selbstbewusstsein und innere Souveränität fehlten, neue Weichen zu stellen. Auf äußere Herausforderungen handelte er jedenfalls reaktiv und gab in neuen Zeiten alte Antworten. Gustav Krupp besaß keine eigenständige strategische Vision für das Unternehmen. Es ging ihm um die langfristige Stabilität der Firma als selbstständiges Familienunternehmen. Wie schon im 19. Jahrhundert sollte dieses Unternehmen Qualitätsprodukte herstellen, auf der ganzen Welt damit handeln, aber patriotisch denken und sozialer Verantwortung starkes Gewicht einräumen. Paradox: Gustav Krupp pochte auf die Tradition und verriet sie damit, denn seine Vorgänger hatten ja eher nach vorn geblickt und Neues gewagt, während er so oft zurück blickte. Zum echten Unternehmer wurde der Diplomat nie – jedenfalls nicht im Sinne eines homo oeconomicus, der allein für den Profit lebt, und nicht im Sinne eines „schöpferischen Zerstörers“, wie ihn der Nationalökonom Joseph Schumpeter beschrieben hat. Stattdessen verstand sich Gustav Krupp als Treuhänder und handelte als Schutzherr. Daran gemessen hatte er Erfolg, denn trotz aller Wechselfälle und obwohl die ökonomische Bedeutung der Firma in Relation zu anderen stetig abnahm, bewahrte er den Kern des Unternehmens und dessen Identität. Dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur fortbestand, sondern in den fünfziger Jahren kurzzeitig noch einmal das umsatzstärkste deutsche Unternehmen werden sollte, hat er nicht mehr erlebt.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Abelshauser, Werner, Gustav Krupp und die Gleichschaltung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 1933–1934, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 47 (2002), S. 3–26. Berdrow, Wilhelm, Die Familie von Bohlen und Halbach, Essen 1921. Burchardt, Lothar, Zwischen Kriegsgewinnen und Kriegskosten: Krupp im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 32 (1987), S. 71–122. Domizlaff, Svante / Rost, Alexander, Germania. Die Yachten des Hauses Krupp, Bielefeld 2006. Epkenhans, Michael / Stremmel, Ralf (Hrsg.), Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010. Friz, Diana Maria, Bertha Krupp und ihre Kinder. Das Leben meiner Großmutter, München 2011. Gall, Lothar, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000. Gall, Lothar (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002. James, Harold, Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen, München 2011. Keßler, Uwe, Zur Geschichte des Managements bei Krupp. Von den Unternehmensanfängen bis zur Auflösung der Fried. Krupp AG (1811–1943), Stuttgart 1995. Klass, Gert von, Die drei Ringe. Lebensgeschichte eines Industrieunternehmens, Tübingen und Stuttgart 1953. Köhne-Lindenlaub, Renate, Art. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, S. 138–143. Köhne-Lindenlaub, Renate, Die Villa Hügel. Unternehmerwohnsitz im Wandel der Zeit, 4. akt. Aufl., Berlin/München 2010. Köhne-Lindenlaub, Renate, Private Kunstförderung im Kaiserreich am Beispiel Krupp, in: Ekkehard Mai / Hans Pohl / Stephan Waetzoldt (Hrsg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich. Kunst im Wandel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1982, S. 55–81. Stremmel, Ralf, Historisches Archiv Krupp. Entwicklungen, Aufgaben, Bestände, 2. Aufl., Berlin und München 2009. Stremmel, Ralf, Kaiser Wilhelm II. und sein Idealbild vom Unternehmer. Ein Brief aus dem Jahr 1902, in: Wilfried Feldenkirchen/Susanne Hilger/Kornelia Rennert (Hrsg.), Geschichte – Unternehmen – Archive. Festschrift für Horst A. Wessel zum 65. Geburtstag. Essen 2008, S. 67– 83. Tenfelde, Klaus (Hrsg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, 2. Aufl., München 2000. Tenfelde, Klaus, „Krupp bleibt doch Krupp“. Ein Jahrhundertfest: Das Jubiläum der Firma Fried. Krupp AG in Essen 1912, Essen 2005. Weisbrod, Bernd, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978. Wolbring, Barbara, Die Krupps, in: Volker Reinhardt (Hrsg.), Deutsche Familien. Historische Portraits von Bismarck bis Weizsäcker, München 2005, S. 73–94.

BRUNO (1872–1941) UND PAUL CASSIRER (1871–1926) Ulrike Grammbitter In gebildeten Kreisen ist der Name Cassirer wohlbekannt. Der berühmteste Spross ist der Philosoph Ernst Cassirer, aber auch das Lebenswerk der Vettern Bruno und Paul Cassirer wird in Kunst- und Buchhandelskreisen bis in die jüngste Zeit geschätzt. Der Name Brunos ist dadurch verewigt, dass es ein nach ihm benanntes Pferderennen, das „Bruno-Cassirer-Rennen“, in Berlin-Mariendorf gibt. Seit Christian Kennert 1996 eine profunde Studie zu „Paul Cassirer und sein Kreis“ vorgelegt hatte, entwickelte sich eine umfangreiche Forschungsliteratur zu der Tätigkeit der beiden, deren Fokus allerdings auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausgerichtet ist. Die Vettern Bruno und Paul Cassirer stammten aus einer weitläufigen jüdischen Familie. Ihre Großeltern und Eltern waren Unternehmer,1 während sich bei der Enkelgeneration Industrielle und Akademiker die Waage hielten. Im Abstand von einem Jahr wurden Paul (1871) und Bruno (1872) in Breslau geboren. Über ihre Jugend ist wenig bekannt. Die Elternpaare zogen in den 1880er Jahren nach Charlottenburg, damals noch eine eigenständige Gemeinde. Beide studierten in Berlin und München, neuesten Forschungen zufolge Jura, während die ältere Literatur Kunstgeschichte als Studienfach benennt.2 Beide versuchten sich in dieser Zeit als Maler, Paul darüber hinaus auch als Schriftsteller, wobei er teilweise unter dem Pseudonym Paul Cahrs publizierte. Die Vettern weilten häufig zu längeren Aufenthalten in Paris und nahmen dort Kontakt mit den namhaften Kunsthändlern Paul Durand-Ruel und den Gebrüdern Bernheim-Jeune auf. Mitte der 1890er Jahre kehrten beide nach Berlin zurück und verkehrten dort in einflussreichen Kunst- und Sammlerkreisen. Zu den Malern Max Liebermann und Max Slevogt bestand zeitlebens ein sehr enges, fast familiäres Verhältnis. 1898 heiratete Bruno Cassirer seine Kusine Else, die Schwester Pauls. Im gleichen Jahr gründeten die Vettern gemeinsam in Berlin den Kunstsalon Cassirer, dem auch eine Verlagsbuchhandlung angegliedert war. Programmatisch suchten die beiden neue Wege der Kunstpräsentation mit thematisch orientierten Ausstellungen. So wurde die Kunstgalerie schnell eine der führenden Galerien für moderne Kunst nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland. Gleichzeitig spielten die beiden 1

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Die Großeltern hatten eine „Liqueurfabrik“ in Breslau. Louis Cassirer, der Vater Pauls, und Julius Cassirer, der Vater Brunos, gründeten in Berlin einen Bau- und Nutzholzhandel, ferner eine Kabelfabrik. Vgl. Rahel E. Feilchenfeldt / Thomas Raff (Hrsg.), Ein Fest der Künste. Paul Cassirer. Der Kunsthändler als Verleger, München 2006, S. 392. Vgl. Thomas Raff, „Er hatte Begabungen nach verschiedenen Seiten hin“. Paul Cassirers Münchner Jahre (1893–1897), in: ebd., S. 43–57, hier S. 43.

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einflussreiche Rollen bei der 1898 gegründeten Berliner Secession. Sie waren vorübergehend deren Sekretäre, ein einmaliger Vorgang, weil nun Persönlichkeiten, die selbst keine Künstler waren, die Geschicke einer Künstlervereinigung maßgeblich mitbestimmten. Das blieb zwangsläufig nicht ohne Widerspruch: ein berühmter Spott spielte mit dem Namen Cassirer und dem Beruf Kassierer, worin auch schon die Hauptvorwürfe angedeutet waren: Kunsthändlern gehe es mehr um ihre eigenen Einnahmen, als um die Förderung unbekannter Künstler. Nach drei erfolgreichen Jahren trennten sich Bruno und Paul Cassirer, wie im August 1901 dem „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ zu entnehmen war. Bruno führte den Buchverlag weiter, Paul die Kunstgalerie. Zudem gab es eine vertragliche Absprache, dass letzterer sieben Jahre lang nicht im Verlagswesen tätig sein dürfe. Als offiziellen Grund bezeichneten die beiden in ihrer gemeinsamen und persönlich unterzeichneten Erklärung „daß die Ausdehnung, die unser Unternehmen genommen hat, uns veranlasst, die Kunstausstellung und den Buch-Verlag voneinander zu trennen“.3 Als weiterer Grund wurde immer wieder der eigensinnige Charakter der Vettern angeführt, was aber angesichts der bekannten tiefen Feindschaft zwischen den beiden Männern nach ihrer geschäftlichen Trennung nicht sehr plausibel klingt. Überzeugender scheint dagegen der von Harry Nutt kolportierte Hinweis über eine Liaison Bruno Cassirers mit seiner Schwägerin zu sein.4 Nur vor diesem Hintergrund wird die Klage zahlreicher Künstler nachvollziehbar, dass man sich in Geschäftsbeziehungen zwischen Bruno und Paul Cassirer entscheiden müsse, weil keiner von beiden dulde, dass man auch mit dem jeweils anderen Kontakt halte – nachzulesen beispielsweise in den Briefen des Künstlers Ernst Barlach.5 PAUL CASSIRER Als 1908 die Vereinbarung zwischen den Vettern auslief, war Paul Cassirer bereits ein international anerkannter Kunstkenner und Kunsthändler und eines der einflussreichsten Mitglieder der Berliner Secession. Nun stieg er ins Verlagswesen ein, gründete die Pan-Presse, eine Druckerei, die auf Künstlergraphik und Buchillustrationen spezialisiert war, wobei die Aufträge nicht von Handwerkern, sondern von Künstlern ausgeführt wurden. Mit einer fast gleichlautenden Ausrichtung seines Verlagsprogrammes machte er seinem Vetter Bruno Konkurrenz. Er nahm nicht nur Bücher über Kunst auf, sondern widmete sich, wie dieser, neben der Buchillustration auch der Herausgabe von Originalgraphik, beides Gebiete, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung erfuhren. Auf dem Terrain der Belletristik ging es Paul um die Förderung zeitgenössischer deutscher Literatur. Als 3 4 5

Zit. nach Bernhard Echte / Walter Feilchenfeldt (Hrsg.), Kunstsalon Bruno und Paul Cassirer, Bd. 1, Wädenswil 2011, S. 481. Harry Nutt, Bruno Cassirer, Berlin 1989, S. 85. „Wer mit Bruno zu tun hat und wie ich mit Paul ein Abkommen, […] der steht […] zwischen zwei feindlichen Vettern“. Ernst Barlach, Die Briefe, hrsg. v. Friedrich Dross, München 1968, Bd. 1, S. 342.

Bruno (1872–1941) und Paul Cassirer (1871–1926)

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Verleger folgte er dabei weniger finanziellen Kalkulationen, vielmehr ließ er sich vorwiegend durch sein Interesse an den Werken und den Autoren leiten. Mit diesem zweiten Unternehmen errang er schnell ebenso große Anerkennung wie mit seiner Kunstgalerie. Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren für Paul Cassirer trotz aller Erfolge allerdings keine ungetrübte Zeit. In der Berliner Secession gab es starke Konflikte und 1913 brach die Vereinigung auseinander. Von nun an nahm er nur über die in seiner Galerie organisierten Ausstellungen und über die von ihm geförderten Künstler Einfluss auf das deutsche Kunstgeschehen, nicht mehr als Mitglied einer Künstlerorganisation. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich der 43-jährige Paul Cassirer freiwillig und wurde an der Westfront als Meldefahrer eingesetzt. Wie bei vielen Intellektuellen wich die anfängliche Begeisterung für den Krieg schnell der Ernüchterung, und er war froh, als er 1916 aus dem Kriegsdienst entlassen wurde. Hatte er zu Anfang des Krieges noch eine Zeitschrift mit dem Titel „Kriegszeit“ und dem Untertitel „Künstlerflugblätter“ herausgegeben, so gründete er nach seiner Entlassung eine Zeitschrift namens „Der Bildermann“ mit dem Untertitel „Steinzeichnungen für das deutsche Volk“ und berief als Redakteur den Pazifisten Leo Kestenberg. Mangels Interesse musste die Zeitschrift allerdings schon im Dezember des gleichen Jahres eingestellt werden. Neuen Einberufungsbefehlen verursacht durch das politische Engagement des Kunsthändlers und Verlegers – so veranstaltete er zum Beispiel literarische Abende in seiner Kunstgalerie, in denen pazifistische Texte vorgetragen wurden – entzog er sich durch legale Aufenthalte in der Schweiz bis zum Ende des Krieges. Dabei stand er unter der Protektion des Publizisten und Diplomaten Harry Graf Kessler. Die Führung der Kunsthandlung überließ er dem Kunsthändler Leo Blumenreich, den Verlag legte er in die Hände von Leo Kestenberg. Die Kriegserfahrungen und der Umgang mit Persönlichkeiten wie Leo Kestenberg, Gustav Landauer, Rudolf Breitscheidt und Hugo Simon führten zu einer Politisierung von Paul Cassirer. Bei seiner Rückkehr nach Berlin übernahm er Kestenbergs sozialistische Orientierung für die Ausrichtung des Verlages. Das Unternehmen sollte der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gerufen werden, weshalb Cassirer einen Almanach herausgab, der weniger ein Programm als ein Manifest darstellte, wie schon der Titel „Unser Weg 1919“ anklingen lässt. Ein Jahr später folgte „Unser Weg 1920“. In beiden Jahrbüchern griff der Verleger selbst zur Feder und äußerte seine Vorstellung über die Aufgabe von Kunst und die des Künstlers in der Gesellschaft. Zwei Verlagsreihen begründete er 1918: „Wege zum Sozialismus“, in der theoretischhistorische Schriften erschienen, und „Sozialistische Schriften zur Revolution“ mit aktuellen politischen Werken. Auch persönlich zog er Konsequenzen aus seiner Einschätzung der gesellschaftlichen Situation und trat nach seiner Rückkehr nach Berlin im November 1918 der USPD bei. Im Februar 1919 gehörte er zu den Beobachtern des in Bern tagenden internationalen Sozialistenkongresses, von dessen Teilnehmern einige zu den Autoren des Cassirer-Verlages zählten. Er verlegte sozialistische, kommunistische und anarchistische Beiträge. Beispielsweise gaben Karl Kautsky und Eduard Bernstein ihre Schriften bei Paul Cassirer heraus. 1919 erschienen Gesamtausgaben von Ferdinand Lasalles Schriften, sowie der Schriften

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von Kurt Eisner. Auch Ernst Toller, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Kasimir Edschmid zählten zu seinen Autoren; mit allen pflegte er persönliche Kontakte. Das philosophische Spektrum wurde durch Autoren wie Georg Lukács und Ernst Bloch abgedeckt. Paul Cassirer setzte sich neben seinen politischen Unternehmungen allerdings auch intensiv mit Problemen der Kunst seiner Zeit auseinander. In einem Zeitschriftenaufsatz „Utopische Plauderei“ vom März 1919 nahm Paul Cassirer ausführlich Stellung zum Verhalten der Künstler in der Gegenwart und zur Zielsetzung der Kunst: „Sie [die Künstler] hatten etwas vom Selbstbestimmungsrecht gehört, von dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen, und sie wandten dieses unbestimmte Wort auf sich an, wollten jeden Rest von Einfluss des Auftraggebers, des Zweckes zerstören; steuerten auf das tollste l’art pour l’art zu und nannten das Sozialismus, Recht auf Freiheit. […] Sie hatten nicht erkannt, in welch eine furchtbare Lage die Kunst am Ende der kapitalistischen Epoche geraten war, sie wollten diesen unseligen Zustand verewigen, sie wollten die Loslösung der Künstler von der Allgemeinheit sozusagen gesetzlich festlegen und ihn noch vergröbern.“6 Cassirer plädierte im Folgenden dafür, dass der Künstler es als seine neue Aufgabe ansehen müsse, die kulturellen Bedürfnisse des Volkes gestalterisch umzusetzen. Nach der Rückkehr des größeren Teils der USPD zur SPD 1922 veräußerte er die Verlagsrechte für die sozialistischen Schriften. Nach Aussage befreundeter Zeitgenossen verließ er damit enttäuscht den sozialistischen Weg. Er vernachlässigte in der Zeit von 1919 bis 1922 jedoch keineswegs seine Aktivitäten im künstlerischen Verlagsbereich. Die graphischen Künste waren seit der Jahrhundertwende im Umbruch, die Wertschätzung von originaler Druckgraphik erlebte nach dem Ersten Weltkrieg eine einzigartige Blüte. Sie war schnell und kostengünstig herzustellen, die gesteigerte Nachfrage verhalf somit den Künstlern zu größerer ökonomischer Sicherheit. Vor allem in der Zeit nach dem Ende des Krieges bis zur Einführung der Rentenmark 1923 gab es zahlreiche Luxus-Ausgaben im Bereich der Buchillustration sowie limitierte Graphikmappen in kostbarer Ausführung. Hauptsächlich die wirtschaftliche Unsicherheit, verbunden mit der rasanten Geldentwertung führte zur Flucht in Sachwerte. Nicht mehr nur an Kunst interessierte Sammler, sondern immer mehr zu neuem Reichtum Gekommene investierten jetzt in Kunst, die als sichere Geldanlage erschien. Um einen Eindruck von Paul Cassirers führender Rolle in diesem Bereich zu vermitteln, seien einige Beispiele genannt. Anregungen für seine Tätigkeit hatte der Verleger aus Frankreich bekommen. Ambroise Vollard initiierte um die Jahrhundertwende ein Umdenken bei der bildnerischen Buchgestaltung. Demnach sollte der Künstler die Dichter der Weltliteratur in einem schöpferischen Prozess malerisch interpretieren. Verstärkt machte sich nun die Vorliebe des Verlegers bemerkbar, von den Künstlern nicht nur Klassiker illustrieren zu lassen, sondern Werke der modernen Dichtkunst. Zusätzlich beeinflusste ihn die impressionistische Buchgestaltung von Edouard Manet. Doppelbegabte Künstler begannen ihre eigenen Texte zu illustrieren. So veröffentlichte der Maler Ludwig Meidner 1920 im Verlag ein 6

Zit. nach Eva Caspers, Paul Cassirer und die Pan-Presse, Frankfurt/Main 1989, S. 23.

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Buch namens „Septemberschrei“ mit Illustrationen und Texten von seiner Hand. Diese Art von Büchern nannte man Malerbücher, sie gelten bei Sammlern bis heute als gesuchte Zimelien. Der Künstler und Schriftsteller Ernst Barlach wurde von Paul Cassirer nach dem Ende des Ersten Weltkrieges dazu angeregt, sich dem Holzschnitt zuzuwenden, er hatte vorher hauptsächlich in der Technik der Lithographie gearbeitet. 1922 erschien im Verlag eine Graphikmappe von Marc Chagall mit dem Titel „Mein Leben“. Als siebenundzwanzigstes und vorletztes Werk der Pan-Presse wurde 1920 „Randzeichnungen zu Mozarts Zauberflöte“ mit Illustrationen von Max Slevogt in einhundert Exemplaren publiziert, das bereits vor der Auslieferung vergriffen war und einen Höhepunkt der Buchkunst in der Weimarer Republik darstellt. Zu den Schriftstellern, die im Cassirer-Verlag veröffentlichten und denen er besonders freundschaftlich verbunden war, zählten Else Lasker-Schüler, René Schickele und Bruno Schönlank. Über die Vielfalt der sonstigen Verlagstätigkeit gibt seit jüngster Zeit eine wissenschaftlich fundierte kommentierte Bibliographie Auskunft.7 Seit 1921 ging die Produktivität des Verlages zurück, da nach dem Weggang Kestenbergs ein fähiger Kopf für die Programmgestaltung fehlte, Cassirer aber sich wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten vermehrt um die geschäftliche Seite kümmern musste. Nachdem sich zudem sein Gesundheitszustand immer mehr verschlechterte, verkaufte er 1922 die Pan-Presse. DER KUNSTHÄNDLER ZUR ZEIT DER WEIMARER REPUBLIK Während sich Paul Cassirer als Verleger politisch positionierte und ein Beziehungsnetz mit Politikern, Schriftstellern und Künstlern pflegte, hatte er als Kunsthändler offensichtlich Schwierigkeiten mit den neuen Verhältnissen. Widmete sich Paul Cassirer nach dem Krieg energisch dem Wiederaufbau des Verlages und der PanPresse, erschien sein Handeln auf dem Kunstmarkt eher orientierungslos. Im Oktober 1919 veranstaltete er eine Ausstellung anlässlich des fünfzigsten Geburtstages von August Gaul, dem Bildhauer und langjährigen engen Freund. Im Dezember betrat er durch eine Präsentation von Architekturzeichnungen des damals noch völlig unbekannten Architekten Erich Mendelsohn Neuland. Im Januar 1920 erhielt Else Lasker-Schüler eine Ausstellung im Zusammenhang mit der Herausgabe ihrer Gesamtausgabe im Verlag Paul Cassirer. Zwischen 1921 und dem Tod des Kunsthändlers im Januar 1926 sind hingegen auffallend wenige Ausstellungsaktivitäten zu verzeichnen. Die präsentierten Künstler wie Edvard Munch, Paul Cézanne oder Oskar Kokoschka zählten zudem in den 1920er Jahren nicht mehr zur Avantgarde. Ein weiterer Grund für den ausbleibenden Erfolg im Kunsthandel lag an der speziellen Situation des Kunstmarktes in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Viele ursprünglich reiche Sammlerfamilien verarmten und waren zum Verkauf gezwungen. Da die ausländischen Währungen gegenüber der Reichsmark immer 7

Rahel E. Feilchenfeldt / Markus Brandis (Hrsg.), Paul Cassirer Verlag, Berlin 1898–1933. Eine kommentierte Bibliographie, München 2002.

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stärker wurden, war der deutsche Kunstmarkt für Ausländer, vor allem für Amerikaner attraktiv. Diese bevorzugten jedoch Malerei und Graphik der vorhergehenden Jahrhunderte, wohingegen die zeitgenössische Kunst weniger gefragt war. Die Regierung versuchte zwar eine Liste national wertvoller Kunstwerke zu erstellen, konnte dennoch nicht verhindern, dass viele bedeutende Kunstobjekte das Land verließen. Deutsche Sammler blieben zwar der modernen deutschen Malerei und Graphik treu, die noch bezahlbar war, nicht aber die Kriegsgewinnler, die aus Investitionsgründen kauften. Kunsthändler wie Paul Cassirer, die gleichzeitig Kenner und Kunstliebhaber waren, litten nicht nur wirtschaftlich unter diesen neuen Bedingungen, zumal sie es nunmehr verstärkt mit Käufern zu tun hatten, für die Kunst nur ein Kapital darstellte. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 1923 wurde in Kunstzeitschriften immer wieder die Auswirkung der Einstellung der Käufer thematisiert, Kunst lediglich als sichere Geldanlage zu sehen. Zugleich suchte Paul Cassirer nach neuen Vertriebswegen und Lösungen, um die Auswirkungen der Inflation abzufedern. Er eröffnete 1920 eine Filiale in Amsterdam und reiste im Spätherbst des Jahres 1922 nach New York, um die Voraussetzungen zu sondieren, in den dortigen Kunsthandel einzusteigen. Dabei hatte er sich mit dem aus einer Münchner Kunsthandelsdynastie stammenden Julius Wilhelm Böhler zusammengetan, der Verbindungen nach New York besaß. Im Frühjahr des nächsten Jahres unternahm er eine weitere Reise dorthin, die Unternehmung war aber nicht von Erfolg gekrönt. Die finanziellen Schwierigkeiten, die sich durch die Geldentwertung während des Aufenthaltes in New York ergaben, schilderte seine mitreisende Gattin, die Schauspielerin Tilla Durieux in ihrer Autobiographie anschaulich.8 Neben den Verlusten, die durch die Inflation entstanden, hatte Paul Cassirer mit zusätzlichen Belastungen zu kämpfen. Der französische Kunstmarkt blieb ihm als Angehörigen der Feindnation verschlossen, so dass er nicht mehr an die Vorkriegsbeziehungen anknüpfen konnte. Nachdem 1922 sein Gönner Paul Durand-Ruel gestorben war, drohte mit dessen Erben sowie mit der Kunsthandlung BernheimJeune in Paris Streit um die Sammlung Auguste Pellerin, die vor dem Krieg von allen drei Händlern gemeinsam angekauft worden war. Paul Cassirer hatte Teile davon, wie vereinbart, weiterverkauft und das Geld auf einem staatlichen Treuhandkonto in Deutschland hinterlegt. Die Erben bestritten die Verkaufsmodalitäten und forderten den Vorkriegsschätzwert. Erst nachdem Paul Cassirer den Vertrag, der längere Zeit nicht auffindbar war, vorweisen und damit die Rechtmäßigkeit seines Handelns nachweisen konnte, wurde ein drohender Prozess abgewendet, der den finanziellen Ruin für ihn bedeutet hätte. Diese Aufregungen setzten dem seit dem Krieg schon gesundheitlich angeschlagenen Kunsthändler stark zu. Aber nicht nur die geschäftlich schwierige Situation, sondern auch Eheprobleme setzten Cassirer derart zu, dass er keinen Ausweg mehr sah. Bei der Unterzeichnung der Scheidungspapiere in einer Berliner Anwaltskanzlei im Beisein der Noch-Gattin Tilla Durieux unternahm der psychisch und physisch angeschlagene Paul Cassirer einen Selbstmordversuch. Er verletzte sich durch einen Schuss so 8

Vgl. Tilla Durieux, Meine ersten neunzig Jahre, Reinbek 1976, S. 211.

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schwer, dass er kurze Zeit später an den Folgen verstarb. Sein überraschender Tod löste ein starkes Echo in Öffentlichkeit und Presse aus. Die Grabrede von Max Liebermann sowie der Nachruf René Schickeles wurden von Harry Graf Kessler im Mai 1926 als Handdruck seiner Cranach-Presse gedruckt. Kessler selbst verfasste ein „In memoriam Paul Cassirer“, das er mit den Worten beschloss: „Das Brüchige des kaiserlichen Systems ist in Kunst und Literatur viel früher gespürt und angegriffen worden als in der Politik. So war es nur natürlich, daß der geborene Revolutionär Paul Cassirer bei dieser Auflehnung eine Führerrolle übernahm. Das war seine historische Aufgabe; sein tragisches Geschick aber: daß die revolutionäre Heftigkeit seines Bejahens und Verneinens auch seine persönlichen Beziehungen nicht schonte. Doch in diesem bis zur Selbstvernichtung gesteigerten Ringen um das Endgültige und Vollendete lag gerade die befruchtende Triebkraft seines Genius.“9 Die Verlags- und Kunsthandlung Paul Cassirer wurde von den Kunsthistorikern Walter Feilchenfeldt, der seit 1919 dort beschäftigt war, und der Kunsthistorikerin Grete Ring, seit 1921 in der Firma tätig, übernommen und bis zu deren Emigration weitergeführt. Sie waren seit 1924 Teilhaber Paul Cassirers gewesen. BRUNO CASSIRER ALS VERLEGER IN DER WEIMARER ZEIT Nachdem Bruno Cassirer sich 1901 bei der Trennung von seinem Vetter Paul aus dem Kunsthandel sowie aus der Tätigkeit in der Berliner Secession zurückgezogen hatte, übte er aber noch indirekt durch seine 1902 gegründete Monatszeitschrift „Kunst und Künstler“ Einfluss auf das Kunstgeschehen aus. Diese Blatt wurde, nachdem der Kunstkritiker Karl Scheffler 1906 die Herausgabe übernommen hatte, rasch zu einer der bedeutendsten Kunstzeitschriften zum zeitgenössischen europäischen Kunstgeschehen, verlor aber nach dem Krieg den Anschluss an die Kunst der Avantgarde. 1933 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein und kam so einem Verbot zuvor.10 Auch mit seinem Verlagsprogramm war Bruno Cassirer in der Kunstszene meinungsbildend. Sein Verlag bot vor dem Ersten Weltkrieg kunstwissenschaftliche Schriften einflussreicher Museumsdirektoren wie Wilhelm von Bode, Max J. Friedländer, beide Berlin, und Alfred Lichtwark, Hamburg, an. Er publizierte aber auch Bücher für Kunstsammler, so zum Beispiel Paul Kristellers Standardwerk „Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten“, und kümmerte sich um die Herausgabe der Lebenszeugnisse von Künstlern. Weitere Themenfelder seines Verlages waren die Philosophie – so verlegte er die Schriften seines Vetters Ernst Cassirer – und die Belletristik. Seine Passion galt vor allem der Buchkunst. Seine Maxime lautete, nie ein Buch zu verkaufen, das er nicht auch selbst erwerben würde. Laut Karl Scheffler hat Bruno Cassirer das moderne, von einem Künstler illustrierte 9 10

Harry Graf Kessler, In memoriam Paul Cassirer, in: Harry Graf Kessler, Künstler und Nationen. Aufsätze und Reden 1899–1933, Frankfurt/Main 1988, S. 272–276, hier S. 275 f. Vgl. Karl Scheffler, Das letzte Wort, in: Kunst und Künstler, Berlin 32/6 (1933), S. 240. Vgl. auch Sigrun Paas, „Kunst und Künstler“, 1902–1933. Eine Zeitschrift in der Auseinandersetzung um den Impressionismus in Deutschland, Heidelberg 1976, S. 206.

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Buch eigentlich erst geschaffen und seine Form bestimmt.11 Er regte den fast siebzigjährigen Max Liebermann zum Illustrieren an, und er entdeckte das Kinder- und Jugendbuch als geeignetes bibliophiles Objekt. Von 1918 bis 1927 verlegte er eine Reihe von Märchenbüchern für Kinder und Erwachsene in fünfzehn Bänden, größtenteils von Max Slevogt, aber auch von Künstlern wie Leopold von Kalckreuth, Alfred Kubin und Olaf Gulbransson illustriert.12 Eines der letzten großen Werke der impressionistischen Buchkunst, das zugleich als eines der besten bezeichnet werden kann, erschien 1927: Goethes Faust II, in einer von Max Slevogt illustrierten Ausgabe mit über 500 Lithographien und elf Radierungen. Da der deutsche Markt ab etwa 1927 mit zum Teil schlecht gemachten Buchillustrationen überschwemmt wurde und illustrierte Bücher sich deshalb immer weniger gut verkauften, zog sich Cassirer aus diesem Segment zurück und förderte stattdessen verstärkt die zeitgenössische Belletristik. So beschäftigte er seit 1928 auf Empfehlung von Ernst Cassirer den promovierten Germanisten Max Tau als Lektor, der das Programm des Verlages entscheidend prägte. Tau förderte mit Billigung von Bruno Cassirer junge Autoren wie Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen und Alfred Döblin. Dadurch fand auch sozialkritische Literatur seinen Weg in den Verlag. Tau setzte sich für die Verbreitung zeitgenössischer norwegischer Literatur in Deutschland ein, indem er beispielsweise Bücher von Sigrid Undset ins Programm aufnahm. In den frühen 1920er Jahren betrat Bruno Cassirer thematisch Neuland mit einer elfbändigen Reihe, die „Kunst des Ostens“. Als Herausgeber konnte er den namhaften Kunsthistoriker und Sinologen William Cohn gewinnen. Diese Folge verbreitete in Deutschland erstmals umfassende Kenntnisse der Kunst Asiens. Bruno Cassirer hatte ein zweites unternehmerisches Standbein, das frei von Berührungen mit der Kunstszene blieb. Ab 1899 ist er als Traberbesitzer verbürgt, seit 1910 führte er das Gestüt Damsbrück in Falkensee bei Berlin. 1930 kaufte er das Gestüt Lindenhof nördlich von Templin in der Uckermarck und kümmerte sich nun mit der gleichen Energie, die er seinen Verlagsgeschäften angedeihen ließ, um die Zucht von Traberpferden. Seine Liebe galt ausschließlich dem Trabrennsport, der um die Jahrhundertwende in Deutschland nicht als Hobby der feinen Gesellschaft galt, sondern eher als ein Volkssport. Die Pferdebesitzer waren zunächst meist Händler, Metzgermeister oder Bauern. In Russland und Amerika gab es damals eine florierende Traberzucht, weil für die weiten Verkehrswege ausdauernde Wagenpferde gebraucht wurden, während in Frankreich militärische Gründe für diese spezielle Pferdezucht ausschlaggebend waren. In Deutschland hatte um diese Zeit das Auto als Verkehrsmittel das Pferd stärker verdrängt, deshalb wurden hier Trabrennen aus rein sportlichen Erwägungen veranstaltet. Vergleicht man die Aktivitäten des Verlegers und des Züchters miteinander, so war die Pferdeleidenschaft keinesfalls ein Zeitvertreib, mit dem sich der Buchproduzent von den Anstrengungen des Berufslebens ablenken wollte, sondern ein erfolgreiches zweites 11 12

Vgl. Karl Scheffler, Bruno Cassirer und das illustrierte Buch, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde, München, N. F. VII, 1972, S. 139–142, hier S. 139. Eine Bibliographie der beim Bruno Cassirer Verlag erschienenen Märchenbücher findet sich in Anke von Sichowksy / Gunter Steinbach, Kinder- und Jugendbücher im Bruno Cassirer Verlag, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde, München, N. F. VII, 1972, S. 146–152.

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Unternehmen. Sein Trabergestüt galt als eines der führenden Berlins, wobei Cassirer große Zuchterfolge verzeichnete, indem er als einer der ersten amerikanische Zuchtpferde kaufte. Sein Name ist eng mit der Trabrennbahn in Berlin-Mariendorf verbunden, die 1913 als modernste Anlage Deutschlands gegründet wurde und 1914 hätte schließen müssen, wenn nicht der Züchter mit seinem Privatvermögen gebürgt hätte. Der erste Trainer und Fahrer war Robert Großmann, der zwanzig Jahre mit Bruno Cassirer arbeitete. Ihm folgte der Ire Charlie Mills. Die politische Ansicht von Bruno Cassirer über den Ersten Weltkrieg ist nicht durch Äußerungen überliefert, wie überhaupt der Verleger im Gegensatz zu seinem Vetter Paul kein Mann war, der öffentliche Auftritte schätzte. Jedenfalls meldete er sich nicht freiwillig für den Kriegseinsatz. Ein Ereignis lässt jedoch Rückschlüsse auf seine politische Einstellung zu: der Berliner Traberverein Mariendorf, dessen Vorsitzender Cassirer war, begrüßte 1918 die Ausrufung der Republik. Sicher war dies ein strategisches Verhalten, da es Bestrebungen gab, den Pferdesport allgemein als Hobby des Adels und der Geldaristokratie zu verbieten. Der Trabrennsportverein überraschte mit seinem Vorpreschen die Gegner und konnte schon bald wieder Rennen austragen. Der Galopprennverein Union-Klub dagegen, der die Revolution für eine vorübergehende Erscheinung hielt und deshalb eine abwartende Haltung einnahm, musste eine längere Zwangspause einlegen, da er keine Renngenehmigung erhielt. Cassirers Ansehen überdauerte die Zeiten wie sein Platz in der gegenwärtigen „Hall of Fame“ des Trabrennsports zeigt und die Einschätzung seiner Person auf deren Website: „Bruno Cassirer war es auch, der dem Berliner Trabrennsport zu einem gesellschaftlichen Wandel verhalf, indem er Industrielle, Kaufleute, Geistesschaffende und auch ehemalige Offiziere dem Trabersport zuführte. Bruno Cassirers Bedeutung für den deutschen Trabrennsport ist immens. Er war ohne Zweifel der größte Mäzen Traber-Deutschlands der ersten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts“.13 Cassirer nutzte sein Organisationstalent beim Ausbau des Trabrennsports. So war er an der Aufstellung von allgemein gültigen Reglements für die Pferdezucht von Trabern beteiligt, aber auch an der Entwicklung der Regeln für die Rennen, und zwar immer mit Blick auf eine internationale Ausrichtung des deutschen Trabrennsports. Er war Vorsitzender der obersten Behörde für Traberzucht und -rennen, die er mitbegründet hatte, Vorsitzender des Vereins deutscher Trabrennstallbesitzer und Traberzüchter sowie Vorstandsmitglied der staatlichen Traberzuchtkommission. 1922 rief er die Zeitschrift „Blätter für Traberzucht und Rennen“ ins Leben, die ab 1925 regelmäßig erschien. BRUNO CASSIRER AM ENDE DER WEIMARER REPUBLIK Trotz Cassirers Erfolgen als Verleger und Züchter traute sich zu seinem runden Geburtstag im Dezember 1932 schon keine Zeitung mehr, eine ausführliche Würdigung zu veröffentlichen. Als Privatdruck erschien zu diesem Anlass „Vom Beruf 13

Online: http://www.trab-halloffame.de/index.php?doc=hall&sub=Personen&pageid=14, [letzter Abruf: 26. November 2014].

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des Verlegers. Eine Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bruno Cassirer“. Zu den Gratulanten gehörten Kollegen wie Ernst Rowohlt, Gustav Kiepenheuer, Samuel Fischer und Erich Reiss. In der Festschrift findet sich eine treffende Charakteristik Bruno Cassirers von Curt Glaser, bis 1933 Direktor der Berliner Kunstbibliothek, Kunsthistoriker und Kunstsammler: „Freunde Bruno Cassirers haben sich manchmal darüber unterhalten, was den Verleger, Kunstsammler und Rennstallbesitzer, der er in einer Person ist, eigentlich mehr interessiere, die Bücher oder die Bilder, die Bilder oder die Pferde, die Pferde oder nochmals die Bücher, und es war selten Einigkeit über die Frage zu erzielen, weil die Pferdeliebhaber die Bücherleidenschaft nicht verstanden und die Bücherfreunde von den beiden anderen nichts wissen wollten. Man suchte also den Punkt, aus dem die drei Passionen in einem Menschen zu erklären seien, und einigte sich schließlich auf den Mann, dem es Freude macht, selbst unsichtbar, Leistungen anderer sich dienstbar zu machen und zu lenken […].“14 1933 musste Bruno Cassirer alle Ämter, die er beim Trabrennsport innegehabt hatte, niederlegen, das Betreten der Rennbahn in Mariendorf war ihm als Juden untersagt. Als er dennoch dort erschien, wurde er der Rennbahn verwiesen. 1935 war er gezwungen, das Gestüt an seinen langjährigen Trainer Charlie Mills zu veräußern. Cassirer konnte sich lange nicht dazu entschließen, seinen Verlag zu verkaufen und zu emigrieren, obwohl viele seiner Autoren verboten wurden. 1936 erschien das letzte Buch im Verlag. Er vertrat den Standpunkt, man müsse in barbarischen Zeiten die Kultur verteidigen. Mit dieser liberalen und großbürgerlichen Einstellung war er den heraufziehenden Bedrohungen des nationalsozialistischen Regimes hilflos ausgeliefert. Erst 1937, als jüdischen Verlegern die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer entzogen wurde, begann er seine Emigration vorzubereiten und reiste 1938 mit seiner Familie nach Oxford aus.15 Auch Max Tau gelang es, nach Oslo zu fliehen. Beide planten, den Verlag in England wieder aufzubauen, aber wegen des Kriegsbeginns konnte Tau nicht mehr nach England gelangen. Der Schwiegersohn Günther Hell, der sich nach der Emigration George Hill nannte, gründete in Oxford den Verlag B. Cassirer Ltd., der bis heute besteht. Bruno Cassirer starb 1941 zutiefst vereinsamt in Oxford, abgeschnitten von seinem Lebensnerv der vielseitigen Berliner Aktivitäten. Zu Beginn der Weimarer Zeit hatten Bruno und Paul Cassirer beruflich ihren Zenit schon überschritten und zählten für die jungen Künstler und Schriftsteller eher zur konservativen Kulturelite. Versuchte Paul Cassirer nach dem Krieg noch einen Neuanfang, indem er sich durch seine Mitgliedschaft in der USPD deutlich positionierte und in seinem Verlag politische Schriftenreihen herausgab, blieb sein Vetter Bruno den kulturellen Werten des liberalen Großbürgertums treu, pflegte die Kunst und hielt sich von der Politik fern. Für Kunsthändler und Verleger verschlechterten sich in der Weimarer Republik die wirtschaftlichen Bedingungen ste14 15

Curt Glaser zit. nach Heinz Sarkowski, Bruno Cassirer. Ein deutscher Verlag 1898–1938, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde, München, N. F. VII, 1972, S. 107–138, hier S. 136. Zum Schicksal des Verlages siehe Sarkowski, Bruno Cassirer, S. 130 f.

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tig, wenn sie die Kunst der Moderne vertraten. Zur Aufgabe zwang dann endgültig die jüdische Abstammung. Es zählt zu den bleibenden Verdiensten beider Cassirers, dass durch ihre Vermittlung die Kunst des französischen und deutschen Impressionismus seit der Jahrhundertwende in Deutschland Anerkennung und Sammler fand. Sie förderten die Druckgraphik sowie das illustrierte Buch, die in der Frühzeit der Weimarer Republik dadurch eine Blütezeit erfuhren und sich als selbständige Sammelgebiete in Deutschland etablieren konnten. Seitdem gab es Ausstellungen, die allein mit Graphik beschickt wurden. Bedingt durch die Inflationszeit bis 1923, aber auch dadurch, dass viele Verlage dem Beispiel der Cassirers folgten und illustrierte Bücher sowie Mappenwerke, zuletzt auch in minderer Qualität auf den Markt warfen, nahm das Interesse der Sammler stark ab und die Preise sanken. Ohne das Vermögen der Familie hätten weder Paul noch Bruno auf die Dauer ihre anspruchsvolle Verleger- und Kunsthändlertätigkeit ausüben können. Das Vermächtnis ihrer beider Verlage sind die zahlreichen bibliophilen Meisterwerke, die die Herzen von Buchliebhabern bis heute höher schlagen lassen. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Caspers, Eva, Paul Cassirer und die Pan-Presse. Ein Beitrag zur deutschen Buchillustration und Graphik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1989. Durieux, Tilla, Meine ersten neunzig Jahre, Reinbek 1976. Enderlein, Angelika, Der Berliner Kunstmarkt und sein Einfluss auf die privaten und öffentlichen Sammlungen in der Weimarer Republik, in: Ulrike Wolff-Thomsen (Hrsg.), Geschmacksgeschichte(n), öffentliches und privates Kunstsammeln in Deutschland 1871– 1933, Kiel 2011, S. 176–193. Feilchenfeldt, Rahel E., Interaktionen. Verleger, Kunsthändler und Sammler in der Familie Cassirer, in: Annette Weber (Hrsg.), Jüdische Sammler und ihr Beitrag zur Kultur der Moderne, Heidelberg 2011, S. 133–147. Feilchenfeldt, Rahel E., Paul-Cassirer-Verlag, Berlin 1898–1933. Eine kommentierte Bibliographie, München 2002. Feilchenfeldt, Rahel E., / Raff, Thomas (Hrsg.), Ein Fest der Künste. Paul Cassirer. Der Kunsthändler als Verleger, München 2006. Kennert, Christian, Paul Cassirer und sein Kreis. Ein Berliner Wegbereiter der Moderne, Frankfurt/ Main 1996. Nutt, Harry, Bruno Cassirer, Berlin 1989. Paas, Sigrun, „Kunst und Künstler“, 1902–1933. Eine Zeitschrift in der Auseinandersetzung um den Impressionismus in Deutschland, Heidelberg 1976. Scheffler, Karl, Die fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeits- und Lebensbericht, München 1948.

CARL BOSCH (1874–1940) – ZWISCHEN HÖHEN UND TIEFEN Kordula Kühlem Carl Boschs hauptsächliche Unternehmertätigkeit währte fast genauso lange wie die Weimarer Republik: Im Jahr ihrer Gründung wurde er Vorstandsvorsitzender der BASF, blieb auf diesem Posten bei der Fusion zur I. G. Farbenindustrie AG 1925 und wechselte nur zwei Jahre nach dem Ende der Republik in den Aufsichtsratsvorsitz. Vor 1919 und nach 1935 war der promovierte Chemiker mehr Wissenschaftler als Wirtschaftsführer: in der Zeit seines Aufstiegs als aktiver Erfinder, in der späteren Zeit als Wissenschaftsförderer. Wenn im Folgenden vor allem der Unternehmer im Mittelpunkt steht, so wird doch auch diese andere Seite seines Wirkens mit einbezogen, um der Symbiose zwischen Wissenschaft und Wirtschaft im Leben und Wirken von Carl Bosch gerecht zu werden. AUFSTIEG Carl Bosch wurde am 27. August 1874 in Köln als erstes von sechs Kindern der Eheleute Charlotte Pauline (Paula) Liebst (1851–1936) und Carl Friedrich Alexander Bosch (1843–1904) geboren. Der Vater besaß eine Handlung für Gas- und Wasserleitungsartikel, in der sich Carl schon als Heranwachsender mit handwerklichen Basteleien und vor allem chemischen Experimenten beschäftigte. Doch als er 1893 mit dem Reifezeugnis die Oberrealschule verließ, bestand sein Vater zuerst auf einer Lehre auf der Marienhütte in Kotzenau/Schlesien, sodann auf dem Studium des Hüttenfachs an der Technischen Hochschule Charlottenburg. Mit dem Wechsel an die Universität Leipzig im Sommersemester 1896 konnte Carl Bosch schließlich unter Professor Johannes Wislicenus vollständig seiner eigentlichen Leidenschaft, der Chemie, nachgehen. In dieser Zeit ergänzte er seine Studien nicht nur durch Vorlesungen aus anderen Bereichen, vor allem über die Zoologie niederer Tiere, sondern auch durch ausschweifende Geselligkeit, die ihm unter den Studenten den Titel „Oberbudenzauberer“ einbrachte.1 1898 schloss er seine Promotion mit der Note „summa cum laude“ ab,2 doch die Anfänge einer wissenschaftlichen Karriere als Saalassistent in Wisliceniusʼ Laboratorium scheiterten an den fehlenden Finanzmitteln. Bosch musste sich anderweitig orientieren und bewarb sich bei der Badischen Anilin- und Sodafabrik 1 2

Karl Holdermann, Im Banne der Chemie. Carl Bosch. Leben und Werk, bearb. von Walter Greiling, Düsseldorf 1953, S. 30. Unterlagen von der Geburts- bis zur Sterbeurkunde einschließlich Zeugnissen und Dissertation BASF Unternehmensarchiv W1/1/5 und W1/1/6.

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(BASF) in Ludwigshafen, bei der er am 15. April 1899 seinen Anstellungsvertrag unterzeichnen konnte. Neben der arbeitsreichen Sechstagewoche fand er aber weiterhin Zeit für sein Hobby, Kleintiere und Pflanzen zu sammeln, und zu mancher feuchtfröhlichen Kneipengeselligkeit bis in die frühen Morgenstunden, während er bei gesellschaftlichen und offiziellen Anlässen gern in Schweigen verharrte oder ganz fern blieb. Bei seinen Urlauben zu Hause lernte Carl Bosch Else Schilbach, eine Freundin seiner Schwester Paula, kennen, die er im Mai 1902 heiratete. Am 17. Juli 1906 wurde der Sohn Carl, am 16. April 1911 die Tochter Inge geboren. In kurzer Zeit machte Bosch als kompetenter und innovativer Wissenschaftler auf sich aufmerksam, dem die Betriebsleitung sogar das Problem der Ammoniaksynthese übertrug. 1908 gelang es schließlich durch ein Verfahren des Leiters des Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie an der TH Karlsruhe, Fritz Haber, mit einem akzeptablen Maß an eingesetzter Energie aus dem Stickstoff der Luft und Wasserstoff Ammoniak zu gewinnen. Daraus entwickelte Bosch mit einem immer größer werdenden Mitarbeiterstab das später sogenannte Haber-Bosch-Verfahren, durch das die Ammoniakgewinnung in industriellem Ausmaß und finanziell rentabel möglich wurde. Dabei zeigte sich bereits die für Bosch typische Arbeitsweise, die ausschließlich zielgerichtet auf bestehende Strukturen keine Rücksicht nahm und mit der Bosch viele tüchtige Wissenschaftler an sich zu ziehen und durch seine „ungeheure Intensität“3 zu begeistern verstand. In den folgenden Jahren entwickelte sich das neue Syntheseprodukt zum „Wachstumsmotor“ für die BASF,4 weshalb ab 1912 eine neue Ammoniakfabrik in Oppau entstand. In Anerkennung seiner Leistung wurde Bosch am 30. Dezember 1911 zum Prokuristen ernannt; im April 1914 folgte die Beförderung zum stellvertretenden Vorstandsmitglied und die Verleihung des Titels Direktor. Wenige Monate später brachte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine völlig neue Herausforderung für die chemische Industrie. Durch den Zusammenbruch der Salpetereinfuhr drohte dem Deutschen Reich schon ein paar Wochen nach Beginn der Kampfhandlungen, das Schieß- und Sprengpulver auszugehen. In dieser Situation erklärte sich die BASF bereit, das synthetisierte Ammoniak in Salpetersäure weiterzuverarbeiten. Höchstwahrscheinlich war es Carl Bosch, der dieses sogenannte „Salpeter-Versprechen“ der Obersten Heeresleitung gab, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Entscheidungskompetenz im Betrieb besaß. Auf jeden Fall ist dieses Versprechen bis heute eng mit seinem Namen verbunden, weil er für die BASF in den folgenden Jahren zuerst in Oppau, dann in Leuna für den Bau der notwendigen Anlagen verantwortlich war. Dabei – ein weiterer charakteristischer Zug seiner Arbeitsweise – war er zwar die bestimmende Persönlichkeit, delegierte aber gleichzeitig viel Verantwortung an Jüngere, hier z. B. Carl Krauch. Die Bedeutung von Boschs Person zeigte sich in der Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz und dem bayerischen Ludwig Kreuz 1916.5 Eine eher persönliche Freude für Bosch war dagegen die Verleihung des Professoren-Titels durch 3 4 5

Holdermann, Im Banne, S. 77. Jeffrey A. Johnson, Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 117–219, hier S. 161 und 165. Verleihungsurkunden von 1916, BASF Unternehmensarchiv W 1/4/2.

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die bayerische Regierung im September 19186 – denn inzwischen war aus dem Wissenschaftler ein Wirtschaftsführer geworden: seit November 1916 saß er als Nachfolger von Carl L. Müller im Vorstand der BASF. Den Aufstieg an die Unternehmensspitze verband er jedoch mit einer gleichzeitigen räumlichen Distanzierung: 1916, noch mitten im Krieg, zog Bosch mit seiner Familie nach Heidelberg. 1922 folgte dort der Neubau des Hauses am Schloßwolfsbrunnenweg. VORSTANDSVORSITZENDER DER BASF Im April 1919 folgte die Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden der BASF. Zwar wurde diese durch das Ausscheiden einiger Vorstandsmitglieder wie Robert Hüttenmüller, August Bernthsen und Heinrich von Brunck 1918/19 begünstigt; die Berufung würdigte aber auch die Leistungen von Carl Bosch während der Kriegsjahre; und auch in den wenigen Monaten seit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 hatte er bereits seine Führungsqualitäten bewiesen. Nach der Kapitulation des Deutschen Reichs waren Ammoniak bzw. der daraus zurück gewonnene Stickstoff nicht weniger nötig als während des Krieges. Das Interesse des Staates an dem wichtigen Syntheseprodukt zeigte sich in den Verhandlungen um dessen Verteilung und den Weiterbetrieb der Werke der BASF in Oppau und Leuna. Nur zögerlich stimmte Bosch der Gründung der staatlich kontrollierten Stickstoff-Syndikat GmbH am 8. Mai 1919 zu, da er eine – selbst teilweise – Sozialisierung vehement ablehnte.7 Dabei stand Bosch nur den radikalen wirtschaftlichen Plänen der durch die Revolution vom 9. November 1918 neu gebildeten deutschen Staatsführung ablehnend gegenüber. Insgesamt begrüßte er die politischen Neuerungen, zumindest nachdem klar war, dass die entstehende Staatsform keine sozialistische, sondern eine demokratische sein würde. Politisches Engagement wie manch anderer Unternehmer entfaltete Carl Bosch jedoch vorerst nicht. Allerdings wurde er in den Problembereichen aktiv, von denen die Chemieindustrie direkt betroffen war, wie bei den Auswirkungen der Besetzung und wirtschaftlichen Absperrung der linksrheinischen Gebiete und rechtsrheinischen Brückenköpfe. Außerdem beteiligte er sich als Sachverständiger an der Aushandlung der Waffenstillstands- und später der Friedensvertragsbedingungen. Für Bosch war sein Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens in Europa ein aufrichtiges Bedürfnis, fast schon eine „Friedensbesessenheit“8. Denn er warf sich selbst vor, durch die BASF mit der Bereitstellung von Chemikalien zur Giftgasherstellung und persönlich durch die Herstellung der synthetischen Salpetersäure zur Verlängerung des Krieges beigetragen zu haben. Deshalb war er schon in den letzten 6 7 8

Ernennung zum Professor durch König Ludwig III., 15. September 1918, BASF Unternehmensarchiv W 1/4/5. Sehr deutlich in dem Vortrag „Sozialisierung und chemische Industrie“, Mai 1921, BASF Unternehmensarchiv W1/5/4. Eidesstattliche Erklärung Kurt von Lersner 27. November 1947, BASF Unternehmensarchiv W 1/1/13.

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Monaten des Krieges in eine tiefe Depression verfallen und auch in den folgenden Jahren lastete diese selbst assistierte Schuld schwer auf ihm. Noch 1932 zweifelte er im Rahmen einer Rede, „ob es nicht besser gewesen wäre, wenn uns dies [die Salpeterproduktion, K. K.] nicht gelungen wäre. Der Krieg hätte ein schnelleres Ende mit wahrscheinlich weniger Elend und besseren Bedingungen […] gefunden.“ Schließlich kam er jedoch zu dem Schluss: „Es läßt sich der Fortschritt in Wissenschaft und Technik nicht aufhalten.“9 Der deutsche Einfluss auf den schließlich am 28. Juni 1919 unterzeichneten Versailler Vertrag blieb bekanntermaßen gering. Die Chemieindustrie wurde explizit zur Abgabe von 50 Prozent ihrer Lagerbestände und 25 Prozent ihrer laufenden Produktion bis 1925 an Zwischenprodukten, Farbstoffen und Medikamenten verpflichtet. Jedoch zeigten die Verhandlungen, dass trotz großer Anstrengungen der anderen Staaten die deutsche chemische Industrie noch immer in vielen Bereichen einen Wissensvorsprung besaß. Da auf der anderen Seite die Alliierten mit der Deklarierung der Ammoniakwerke als Rüstungsbetriebe, somit mit deren Demontage, drohten, und wichtige deutsche Chemiefabriken im besetzten Gebiet lagen, fanden sich beide Seiten bald zu Gesprächen bereit. Bosch avancierte schnell zum Verhandlungsführer auf deutscher Seite, der sich auch durch unkonventionelle Methoden auszeichnete. Beispielsweise verschaffte er sich den eigentlich verbotenen Ausgang aus dem mit Stacheldraht gesicherten Delegationshotel, um inoffiziell die Besprechungen fortzuführen. Aber hauptsächlich führte sein offenes Zugehen auf die ehemaligen Kriegsgegner, vor allem Frankreich, zu einer Einigung sowohl 1919 mit staatlichen Stellen als auch 1920/21 mit der französischen Chemiefirma Compagnie Nationale. Diese Vereinbarung zerbrach während der Ruhrkrise, in deren Verlauf im Mai 1923 französische Truppen auch die Werke der BASF in Ludwigshafen und Oppau besetzten. Bosch, der sich wie die anderen Vorstandsmitglieder der geplanten Verhaftung entziehen konnte, wurde am 10. August 1923 in Abwesenheit von einem französischen Militärgericht zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.10 Diese Strafe wurde erst Anfang 1924 wieder aufgehoben. Die Verhandlungsbereitschaft des Vorstandsvorsitzenden war allerdings gepaart mit einer grundsätzlichen Unnachgiebigkeit. Schon Anfang 1919 hatte er ohne Rücksicht auf Produktionsausfälle befohlen, alle Anlagen mit innovativer Technologie zu schließen, um den Wissenstransfer an die französische Besatzungsmacht zu vereiteln. Ausgesprochen selbstbewusst äußerte er im September 1923 gegenüber amerikanischen Pressevertretern, ohne das deutsche Wissen seien die Anlagen der BASF „für die Franzosen nicht mehr wert als ein Haufen Backsteine“.11 Während seiner Arbeit bei der Waffenstillstandskommission lernte Carl Bosch auch Carl Legien kennen, den Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Diesen traf Bosch regelmäßig, wie er auch mit der neuen Zusam9 10 11

Rede anlässlich der Verleihung der Exner-Medaille in Wien, 16. Dezember 1932, S. 1, BASF Unternehmensarchiv W1/5/12. Bericht der Juristischen Abteilung B, 11. August 1923, an den Vorstand der BASF (Abschrift vom 26. Juli 1938), BASF Unternehmensarchiv W1/1/8. Dazu Holdermann, Im Banne, S. 193.

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menarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Weimarer Republik keine Schwierigkeiten hatte; überhaupt arbeitete die Reichsarbeitsgemeinschaft Chemie als Untergruppe der Zentralarbeitsgemeinschaft sehr konstruktiv. Trotzdem reagierte er mit Bestürzung und Härte auf die Arbeitskämpfe in den Werken der BASF in den ersten Nachkriegsjahren, die in Leuna 1921 sogar in einen bewaffneten Aufstand mündeten. Die kompromisslose Haltung des Vorstands trug 1924 auch zur Eskalation eines Streiks anlässlich der Wiedereinführung des Neunstundenstages bei, der die BASF-Werke am Rhein elf Wochen lang lahm legte, obwohl Kollegen aus der Chemiebranche eine entgegenkommendere Haltung empfohlen hatten. Möglicherweise fehlte Bosch der persönliche Zugang zu den Arbeitnehmern. Das zeigte sich bei seiner Reaktion auf das verheerende Explosionsunglück in Oppau am 21. September 1921, das ca. 500 Menschenleben und Tausende von Verletzten und Obdachlosen forderte. Der Vorstandsvorsitzende besuchte umgehend die Unglücksstelle und organisierte schnell und effizient den Wiederaufbau – eine Reaktion, die auch als „Kaltblütigkeit“ ausgelegt wurde.12 Diesen Eindruck verstärkte zudem seine Gedenkrede. Die Trauer um sein „Lebenswerk […], an dem ich mit allen Fasern meines Herzens hänge“ nahm wesentlich mehr Raum ein als sein „Mitgefühl“ mit den Opfern; und sein Hinweis, die Toten seien „hinabgestiegen […] ins dunkle Reich der Schatten“, tröstete wohl nur wenige Angehörige.13 Offensichtlich vermochte Bosch es nicht, seine tatsächliche Erschütterung öffentlich auszudrücken. Diese zeigte sich in, für ihn typischer, anderer Weise: Nachdem es dem Leiter der BASF gelungen war, schon zur Jahreswende 1921/22 die Fabrik wieder in Gang zu setzen, wurde er schwer krank und konnte bis Mitte Juni 1922 seiner Arbeit nicht nachgehen. Bei seinem 25-jährigen Dienstjubiläum am 15. April 1924 war Carl Bosch auf einem Höhepunkt seiner Karriere angekommen. Er hatte nicht nur sein Unternehmen erfolgreich durch Kriegs- und Krisenzeiten geführt, er hatte sich ebenso für die Wissenschaft engagiert: als Mitglied im Vorstand des Vereins Deutscher Chemiker, im Verwaltungsrat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) und in der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 1920 wurde er Vorsitzender der neu gegründeten Adolf-Baeyer-Gesellschaft und seit demselben Jahr gehörte er dem Verwaltungsrat des Stifterverbandes der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an. Die Auszeichnung mit insgesamt vier Ehrendoktortiteln würdigte Boschs wissenschaftliches Engagement. VORSTANDSVORSITZENDER DER I. G. FARBENINDUSTRIE AG Bereits 1904 hatte sich die BASF mit der Agfa und den Farbenfabriken Elberfeld, vorm. Friedr. Bayer & Co. (FFB) zum sogenannten Dreibund zusammengeschlossen. 1916 folgte die Bildung der Interessengemeinschaft zwischen Dreibund und dem aus Hoechst, Cassella und Kalle bestehenden Dreiverband. An beiden Zusam12 13

Ebd., S. 181. Ansprache vom 25. September 1921, BASF Unternehmensarchiv W1/5/5, abgedruckt bei Holdermann, Im Banne, S. 184 f.

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menschlüssen war Carl Bosch noch kaum beteiligt gewesen, diese hatte vor allem der Direktor bzw. Generaldirektor der FFB, Carl Duisberg14, initiiert. Dieser schlug 1924 einen weitergehenden Zusammenschluss in Form einer Holding vor. Carl Bosch ging dieser Vorschlag jedoch nicht weit genug; er forderte eine Fusion der Chemiefirmen, für die Carl Duisberg 1904 und 1916 noch – allerdings vergeblich – plädiert hatte. Nicht nur wegen dieser gegensätzlichen Standpunkte, sondern auch aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen im Hinblick auf die zukünftige Organisation der neuen Gemeinschaft kam es im Herbst 1924/Frühjahr 1925 zu der sogenannten Duisberg-Bosch-Kontroverse, die im August 1925 durch ein „gentlemenʼs agreement“ beigelegt werden konnte. Bosch setzte sich mit seiner Überzeugung durch, weniger eine gut strukturierte Organisation – wie sie Duisberg vertrat –, sondern persönliche Qualitäten der führenden Manager, denen die nötige Bewegungsfreiheit gewährt werden müsste, wären für den Erfolg des zukünftigen Unternehmens grundlegend. Diese Haltung soll er mit den charakteristischen Worten umrissen haben: „Ich nehme mir vier meiner Freunde, denen gebe ich die verschiedenen Sparten der I. G., daraus sollen sie dann das Beste machen, was sie können. Wenn sie es nicht können, schmeiße ich sie raus.“15 Bosch übernahm nicht nur den Vorstandsvorsitz der am 9. Dezember 1925 rückwirkend zum 1. Januar 1925 gegründeten I. G. Farbenindustrie AG. Durch die Ausgliederung eines Arbeitsausschusses aus dem überdimensionierten Vorstand und dem daraus wiederum herausgehobenen Personalausschuss konnte er seine Leitungsvorstellungen verwirklichen. Während im Personalausschuss mit Hermann Schmitz nur ein Mitglied der früheren BASF saß, dominierten die Ludwigshafener den 1930 daraus entstehenden Zentralausschuss, in dem sie neben Bosch und Schmitz mit Wilhelm Gaus, Fritz Gajewski, Carl Krauch, August von Knieriem sowie Christian Schneider über die Hälfte der Mitglieder stellten, während die anderen Vorgängerfirmen mit Paul Duden und Georg von Schnitzler von Hoechst, Carl Krekeler und Heinrich Hörlein von den FFB, Erwin Selck von Cassella sowie Fritz ter Meer von Weiler-ter Meer vertreten waren. Allerdings wurden etliche von Duisbergs organisatorischen Vorstellungen verwirklicht, was zum System der „dezentralen Zentralisation“ der I. G. mit der Aufteilung in fachliche Sparten, verschiedene Ausschüsse und regionale Betriebsgemeinschaften führte. Außerdem erhielt der von Duisberg geleitete Aufsichtsrat und besonders der daraus ausgegliederte Verwaltungsrat für ein solches Gremium außerordentliche Befugnisse. Trotzdem war und blieb Bosch der Leiter des neuen Unternehmens und nutzte nach Vollzug der Fusion die Abwesenheit Duisbergs, um die Organisation und Produktion nach seinen Vorstellungen auszurichten. Dem Aufsichtsratsvorsitzenden war dabei durchaus bewusst, dass er mit seiner monatelangen Weltreise diese Möglichkeit eröffnete. Aus der Ferne kommentierte er die Berichte aus der Heimat 14 15

Zu Carl Duisberg vgl. den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. Zit. nach Gottfried Plumpe, Die I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin 1990, S. 139. Vgl. dazu auch Zitate Boschs zur Fusion wiedergegeben bei Stephan H. Lindner, Hoechst. Ein I. G. Farben Werk im Dritten Reich, München 2005, S. 29 f.

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mit den Worten: „Ich glaube, ja ich weiss es jetzt genau, ich habe recht daran getan, auch im Interesse der neuen Organisation, eine Zeitlang fortzugehen.“16 Zum Wohle des neuen Unternehmens akzeptierte Duisberg die Führung des Vorstandsvorsitzenden, was ihm dadurch erleichtert wurde, dass er sich mit diesem in der Zielsetzung einig wusste, die Carl Bosch nach Angaben eines Weggenossen folgendermaßen umschrieb: „Unser Stolz und Aufgabe muss sein, für die zu arbeiten, die nach uns kommen.“17 In den knapp zehn Jahren, in denen Carl Bosch an der Spitze der I. G. Farbenindustrie AG stand, entwickelte sich diese zu dem „wohl am breitesten diversifizierte[n] Chemieunternehmen der Zwischenkriegszeit“.18 Auf der einen Seite produzierte man weiter die althergebrachten Stoffe wie Farben und Pharmazeutika; auch der Stickstoff zählte inzwischen dazu. In allen drei Bereichen war das Unternehmen mehr und mehr auf den Export angewiesen, der im Stickstoffbereich 1928 über 50 Prozent ausmachte. Bosch selbst nahm deshalb 1926 und 1928 auch an den internationalen Stickstoffkonferenzen teil. Zu den neuen Bereichen gehörte die Ausdehnung der I. G. auf das Sprengstoffgeschäft durch die Übernahme mehrerer Firmen, die international als „Sensation“19 gefeierte Methanolsynthese, neue Kunstfaserprodukte sowie die „spektakulären Erfolge“20 auf dem Gebiet der Kunststoffforschung und der Industriekleber. Wichtig war außerdem die Kautschuksynthese; das Warenzeichen BUNA wurde 1930 eingetragen, doch erst durch die politische Entwicklung in Deutschland nach 1933 wurde dieser Bereich ausgebaut. Bereits 1924 hatte die BASF beschlossen, die Synthese von Mineralöl voranzutreiben. Ein Grund für die Befürwortung der Fusion zur I. G. durch Bosch soll schließlich auch darin gelegen haben, diesem neuen Vorhaben die finanziellen Mittel zu sichern. Da sich keine Gewinne einstellten, kam es 1929 zu einer Auseinandersetzung in der I. G. um die Mineralölsynthese, die Bosch jedoch für sich und sein Produkt entscheiden konnte. Die drastische Erhöhung des Zolls auf Mineralölimporte 1931 war für die Weiterführung der Produktion von großer Wichtigkeit, und Boschs Gespräch mit Finanzminister Hermann Dietrich beeinflusste offensichtlich den Entschluss der Reichsregierung. Schließlich konnte sich das künstliche Benzin nur in der Autarkie- und Kriegswirtschaft der 1930er und 1940er Jahre durchsetzen, wobei Bosch selbst stets hoffte, das Synthesebenzin eines Tages wirtschaftlich wettbewerbsfähig machen zu können. Durch das deutsche Renommee auf dem Gebiet der Synthese reagierten Ölunternehmen weltweit erwartungsvoll und auch mit Unbehagen auf den künstlichen 16 17 18 19 20

Schreiben Duisberg an Walther vom Rath vom 4. Juni 1926 aus Kanada, in: Kordula Kühlem (Bearb.), Carl Duisberg (1861–1935). Briefe eines Industriellen, München 2012, Nr. 198, S. 578. Aus der Vernehmung von Carl Krauch am 12. Januar 1948 in Nürnberg, BASF Unternehmensarchiv W 1/1/12. Plumpe, I. G., S. 432. Ebd., S. 246. Raymond G. Stokes, Von der I. G. Farbenindustrie AG bis zur Neugründung der BASF (1925– 1952), in: Abelshauser (Hrsg.), BASF, S. 221–358, hier S. 255.

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Kraftstoff der I. G. Doch obwohl in der Anfangsphase durch den hohen Weltmarktpreis für Benzin die Konkurrenzfähigkeit des künstlichen Treibstoffs durchaus realistisch erschien, setzte die I. G. nicht auf einen Alleingang, sondern arbeitete ab 1927 mit Standard Oil zusammen. Das amerikanische Unternehmen nutzte die deutsche Technologie zur Veredelung seiner natürlichen Mineralölprodukte. Selbst in den „goldenen Jahren“ der wirtschaftlichen Prosperität schloss die I. G. Ausgleiche, Absprachen und Kooperationen mit Konkurrenten „[e]ntsprechend der von Bosch bevorzugten Marktstrategie“21 auch in Bezug auf die Herstellung von Lacken, bei Stickstoff, Kunstfasern und synthetischem Methanol. Außerdem waren die meisten der neueren – wie auch die traditionellen – Produkte auf den Export und somit einen offenen Weltmarkt angewiesen; die Zusammenarbeit mit internationalen Partner war somit notwendig. Aus diesem Grund praktizierte die I. G. eine Politik der Verständigung mit anderen, auch internationalen Unternehmen, wie es schon die BASF und andere Vorgängerunternehmen gepflegt hatten. 1927 schloss sie mit dem französischen Farbstoffkartell Centrale des Matières Colorantes eine Übereinkunft, die 1929 durch ein definitives Abkommen bestätigt wurde. Im April 1929 wurde diese Kooperation auf die Schweizer I. G. und durch den Beitritt der britischen Imperial Chemical Industries (ICI) auf ein Vier-Parteien Abkommen oder Vierer-Kartell ausgedehnt. Um die während des Ersten Weltkrieges von der britischen Regierung beschlagnahmten und weiterverkauften Firmenvermögen und Schutzrechte auszugleichen und die verhängten Einfuhrregulierungen zu mildern, hatte die Interessengemeinschaft bereits 1923 ein Abkommen mit der British Dyestuffs Corporation paraphiert, das aber nicht zustande kam. Im Juni 1927 verhandelte Bosch persönlich mit dem Leiter der ICI, Sir Alfred Mond, über eine Zusammenarbeit. Zwar kam es nicht zum Abschluss des vorgesehenen Abkommens, aber eine Kooperation erfolgte bis zum Kriegsausbruch 1939. Auch in den USA waren im Weltkrieg deutsche Firmen und Patente von der Alien Property Custodian zuerst verwaltet, später verkauft worden. Nach der Verbesserung der bilateralen Beziehungen im Laufe der 1920er Jahre bekam die I. G. Farbenindustrie AG Entschädigungen zugesprochen. Gegen den amerikanischen „Farbstoffprotektionismus“22 baute die I. G. eine Verkaufsorganisation in den USA auf, die in der Gründung der American I. G. Chemical Corp. im April 1929 mündete. Insgesamt intensivierte die I. G. unter Bosch parallel zur Diversifikation ihrer Produktionsbereiche ihre Auslandskontakte. Vorkriegsmärkte wurden, zumindest teilweise, zurückerobert, andere wurden erschlossen, bzw. erweitert. Der Balkan sowie Südostasien, besonders China und Indien, aber auch Japan gehörten beispielsweise zu diesen zwar nicht neuen, aber wichtiger gewordenen Märkten. Der von der I. G. und ihrem Vorstandsvorsitzenden gesuchte internationale Ausgleich war zum Teil in Boschs Überzeugung begründet, zur langfristigen Befriedung Europas beitragen zu müssen. Noch 1931 erklärte er es zu einer „der 21 22

Plumpe, I. G., S. 245. Ebd., S. 113.

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wichtigsten Aufgaben […] durch Überwindung politischer Ressentiments und Propagierung wirtschaftlicher Vernunft die Grundlagen für eine Konsolidierung Deutschlands und Frankreichs und damit Europas zu legen“.23 Aus dieser Ansicht heraus unterstützte Carl Bosch die Paneuropa-Idee von Nikolaus Coudenhove-Kalergi und trat in das von seinem Onkel, dem Elektroindustriellen Robert Bosch24, geleitete Wirtschaftskomitee zur finanziellen Unterstützung der Paneuropa-Union ein. Mitglied wurde er auch in der Deutschen Sektion des 1927 gegründeten Komitees für deutsch-französische Verständigung. Doch dahinter stand auch ein handfestes wirtschaftliches Interesse. So sprach sich Bosch an der Spitze einer I. G.-Delegation im Mai 1926 vorübergehend gegen den Abschluss eines deutsch-französischen Handelsvertrags aus, weil eine privatwirtschaftliche Verständigung der beiden Chemieindustrien gescheitert war.25 Die endgültige Unterzeichnung des Handelsvertrags kam am 17. August 1927 erst zustande, als die oben erwähnte Übereinkunft der I. G. mit dem französischen Farbstoffkartell absehbar war. Auch Boschs Eintreten für den Young-Plan von 1930, der die Reparationsfrage neu regelte und von den rechtsgerichteten Parteien vehement bekämpft wurde, hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. In derselben Rede vom Mai 1932, in dem er den inzwischen allerdings bereits ausgesetzten Plan verteidigte, forderte er auch den „Wiederaufbau der Handelsbeziehungen in gegenseitigem Vertrauen und gegenseitigem Verständnis“.26 Während der Weltwirtschaftskrise dachte er zwar über eine Annäherung an die sich herausbildenden Wirtschaftsblöcke in Nord- und Südosteuropa nach, sah darin aber nur eine vorübergehende Notmaßnahme und plädierte prinzipiell weiter für eine freie Weltwirtschaft.27 In den internationalen Verhandlungen blieb zwar die Grenze zwischen Wirtschaft und Politik fließend, wie die Berichte von Verhandlungen Industrieller, an denen Bosch beteiligt war, mit Vertretern Frankreichs und Belgiens im Mai 193228 sowie im Januar 193329 deutlich zeigen. In einem Schreiben an Robert Bosch machte Carl Bosch im Oktober 1930 seine Prioritätensetzung der letzten Jahre jedoch sehr 23 24 25

26 27 28 29

Artikel Boschs im Berliner Börsen-Courier, 17. Februar 1931, „Wirtschaftsausgleich mit Frankreich“, BASF Unternehmensarchiv W 1/6/8. Zu Robert Bosch vgl. den Beitrag von Joachim Scholtyseck in diesem Band. Aufzeichnung Gesandtschaftsrat von Schmieden, Paris, über Gespräch der I. G.-Führung mit den Ministern Stresemann und Curtius, 15. Mai 1926, in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), B: 1925–1933, Bd. I,1: Dezember 1925 bis Juli 1926, Göttingen 1966, Nr. 221, S. 529–531. Vortrag Bosch vor der Generalversammlung der I. G., 12. Mai 1932, BASF Unternehmensarchiv W 1/5/11. Rede über „Handelspolitische Notwendigkeiten“ im Herbst 1932, zit. bei Helmuth Tammen, Die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft (1925–1933). Ein Chemiekonzern in der Weimarer Republik, Berlin 1978, S. 235–237. Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts von Bülow, 4. Mai 1932, über den Bericht von Lammers über die von ihm, Bücher und Bosch geführten Gespräche in Luxemburg, in: ADAP, B, Bd. XX: 1.3. bis 15.8.1932, Göttingen 1983, Nr. 73, S. 161–163. Schreiben Duchemin an Bücher über Gespräch u. a. mit Bosch über die Frage der Revision der deutschen Ostgrenze, 30. Januar 1933, in: ADAP, C: 1933–1937, Bd. I,1: 30.1. bis 15.5.1933, Göttingen 1971, Nr. 2, S. 2–4.

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deutlich: „Da ich mir von einem Vorgehen der Regierungen auch rein gar nichts verspreche […], so habe ich alle meine Energie daran gesetzt, zunächst die uns naheliegenden grossen fremden Konzerne zu einer Zusammenarbeit zu bringen.“30 Infolge der Weltwirtschaftskrise brach auch der Gesamtumsatz der I. G. zwischen 1929 und 1932 fast um die Hälfte ein. Neben der Sicherung des Gesamtunternehmens trieb Bosch die Sorge um die Arbeitnehmer um. 1929 bis 1931 ging die Zahl der Beschäftigten in der I. G. um jährlich 14–18 Prozent zurück. Bereits vor der Krise hatte Bosch ausgeführt: „Ich sehe eine viel größere moralische Verpflichtung darin, den 125.000 Menschen, die unsere Firma mit den indirekt zugehörigen Firmen jetzt beschäftigt, eine gesicherte Existenz zu gewährleisten, als […] immer eine Dividende auszuschütten.“31 Für die Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze in der Krise ohne große Lohnabschläge entwickelte er deshalb verschiedene Strategien wie die – jedoch erfolglose – Zusammenarbeit mit Arbeitnehmervertretern, die Rückstellung von Dividenden, ein Siedlungsprogramm, das durch den Bau von Wohnungen Arbeitsplätze schaffen sollte, und die Verkürzung der Arbeitszeiten. Explizit forderte er: „Helfen kann nur eine radikale Einschränkung der Arbeitszeit, ob 7 oder 6 Stunden.“ Dabei war Bosch durchaus bewusst, einen „ziemlich radikalen Standpunkt“ einzunehmen und, „dass eine solche Regelung von einem grossen Teil der Industrie als katastrophal aufgefasst wird“.32 Selbst in der I. G. stieß er damit auf Widerstand, was ihn der Aufsichtsratsvorsitzende unter Aufgabe seiner sonstigen Zurückhaltung deutlich wissen ließ.33 Die Durchsetzung seiner Vorstellung im eigenen Unternehmen wurde dadurch erschwert, dass Bosch während der Krise – und möglicherweise in Reaktion auf diese – erneut mehrmals krankheitsbedingt und teilweise langfristig ausfiel. Mit Erleichterung registrierte er schließlich den Rückgang der Arbeitslosigkeit, der sich ab Mitte 1932 bereits andeutete. Auch für das Gesamtunternehmen ging es ab Ende 1932 wieder bergauf; insgesamt konnte die I. G. die Weltwirtschaftskrise sogar „ohne existentielle Gefährdung“34 überstehen. Als Carl Bosch nach dem Tod Carl Duisbergs im März 1935 entschied, vom Vorstands- in den Aufsichtsratsvorsitz zu wechseln, übergab er die zweitgrößte Firma in Deutschland und einen der größten (Chemie-)Konzerne der Welt. Auf Boschs Bestreben übernahm den Vorstandsvorsitz sein Favorit Hermann Schmitz, dessen Karriere bis dahin stark durch ihn geprägt worden war. Selbst in dieser letzten Frage konnte Carl Bosch somit reüssieren. Dieses Durchsetzungsvermögen hatte sich in der I. G. seit den Fusionsverhandlungen 1924 immer wieder gezeigt: bei der Organisation des Zusammenschlusses, bzw. der Umorganisation 1930/31 mit der, wie oben gezeigt, stärkeren Zuschneidung 30 31 32 33 34

Schreiben C. Bosch an R. Bosch, 17. Oktober 1913, Robert Bosch GmbH, Historische Kommunikation (RB) 1 014 338. Aussage vor der Enquete-Kommission des Reichstags zur I. G. zit. bei Holdermann, Im Banne, S. 230. Alle Zitate in: Schreiben C. Bosch an R. Bosch, 17. Oktober 1930, RB 1 014 338. „Wir im Verwaltungsrat dagegen waren allerdings anderer Ansicht.“ Schreiben Duisberg an Bosch, 24.11.1930, in: Kühlem (Bearb.), Carl Duisberg, Nr. 224, S. 643–646. Plumpe, I. G., S. 491.

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des Zentralausschusses auf seine Person und bei der erwähnten Weiterführung der Benzinsynthese. Ein Beispiel war auch – bereits im Sommer 1924 – die Bewahrung des Werks Leuna vor dem Verkauf. Zwar trug den rhetorischen Kampf im Gemeinschaftsrat der Interessengemeinschaft Carl Duisberg aus, aber wenn man das Ergebnis am Ende betrachtet, war es ein erneuter Sieg für Carl Bosch. Über dessen Stil stellte ein Mitarbeiter im Rückblick fest, er benötigte wenige Worte, doch genügten diese, „eine Entscheidung in seinem Sinne herbeizuführen“.35 POLITISCHE HALTUNG Carl Bosch stand wohl der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahe. Eine liberale Grundhaltung zeichnete ihn aus, auf jeden Fall hielt er nichts von autoritären Regimen. In Bezug auf den Ruf nach einem „starken Mann“, in den einige seiner Kollegen mit eingefallen waren, erklärte Bosch schon 1921, „daß heute angesichts der Riesenaufgabe, die zu bewältigen ist, ein Mann nie und nimmer in der Lage sein wird, den auf ihn gesetzten Erwartungen zu entsprechen“.36 Die I. G. verfügte, wie schon vor ihr die Interessengemeinschaft von 1916, über einen Ausschuss politisch aktiver Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder. Die Schaffung dieses Gremiums 1922, das nach einem der Mitglieder, Wilhelm Ferdinand Kalle, Kalle-Kreis genannt wurde, geht wohl auf Carl Duisberg zurück und dessen Tätigkeit wird in der Forschung gerne in das sogenannte System Duisberg eingeordnet. Fest steht jedoch, dass nicht der Aufsichtsratsvorsitzende, sondern der Vorstandsvorsitzende offiziell Mitglied dieser Institution war. Somit war Bosch und nicht Duisberg bei den Sitzungen anwesend und damit in dessen Engagement eingebunden. Der Kalle-Kreis diente vor allem der Beeinflussung der politischen Öffentlichkeit und passte zu den Bemühungen um eine aktive Pressepolitik, beispielsweise durch Teilhaberschaft an der Frankfurter Zeitung. Gegen Ende der 1920er Jahre verstärkte sich Boschs (wirtschafts-)politisches Engagement. Im Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) übernahm er 1930 einen Vorstandssitz, wurde 1932 sogar Erster Stellvertretender Vorsitzender. Allerdings blieb die I. G. gegenüber dem RDI auf Abstand bedacht, während mit dem Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands (VzW) eine starke Interessenkongruenz bestand, zumindest seitdem Bosch 1928 dort den Vorsitz übernommen hatte. Den Rahmen des VzW nützte Bosch regelmäßig zu öffentlichen Stellungnahmen und Reden, die ihm sonst eher unlieb und lästig waren. Dabei soll er seine Reden immer selbst verfasst haben, weil er der Meinung war, „nicht mit Überzeugung etwas vortragen [zu können], was jemand anders geschrieben habe“.37 Die Zunahme seiner politischen Tätigkeit hing zum einen mit der sich immer mehr verschärfenden Wirtschaftskrise zusammen, aber auch mit der Regierungs35 36 37

Aussage Ernst Schwarz 1948, BASF Unternehmensarchiv W 1/1/21. Vortrag „Sozialisierung und chemische Industrie“, Mai 1921, S. 3, BASF Unternehmensarchiv W1/5/4. Aussage von Ernst Schwarz, 1948, BASF Unternehmensarchiv W 1/1/21.

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übernahme durch Heinrich Brüning.38 Möglicherweise hoffte Bosch auf das System der Präsidialkabinette, denn schon seit Anfang der Weimarer Republik beherrschte ihn ein „Mißtrauen vor aller politischen Parteiweisheit“.39 Ende 1932 warf er den Parteien explizit vor: „Sie kennen keine andere Aufgabe als an die Macht zu kommen und die Gegner abzudrängen von der Herrschaft.“40 Als Lösung dieser Diskrepanz zwischen Ablehnung sowohl eines diktatorischen Systems als auch der Herrschaft der Parteien erschien Bosch die vom Reichstag größtenteils unabhängige Regierung unter Reichskanzler Brüning. Dessen Versuch, durch Fachleute sein Kabinett zu stärken, unterstützte die I. G. Mit Paul Moldenhauer und Hermann Warmbold behielten bzw. übernahmen Unternehmensmitglieder Ministerämter, von denen sie jedoch noch während Brünings Kanzlerschaft wieder zurücktraten. Warmbold amtierte erneut als Wirtschaftsminister, als Franz von Papen am 1. Juni 1932 zum Reichskanzler ernannt wurde. Nunmehr beschloss der Vorstand der I. G. und namentlich auch dessen Vorsitzender am 5. September 1932, das Wirtschaftsprogramm der neuen Regierung zu unterstützen. Boschs Zustimmung bezog sich dabei wohl neben den generellen, vor allem steuerlichen, Erleichterungen für Unternehmen auf die Anreize zur Schaffung zusätzlicher Stellen und das Wohnungsbauprogramm, das er selbst schon früher zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit empfohlen hatte. Gegen staatlichen Zentralismus wandte Bosch sich dabei jedoch vehement, da er darin selbst in der Weltwirtschaftskrise ökonomisch den falschen Weg sah.41 Boschs Wort hatte Gewicht in Deutschland, besonders Anfang der 1930er Jahre, da er nicht nur Vorstandsvorsitzender eines der größten deutschen Unternehmen, sondern darüber hinaus seit dem 10. Dezember 1931 noch Chemie-Nobelpreisträger war. Der politische Einfluss von Carl Bosch persönlich darf trotzdem nicht überschätzt werden, auch wenn es ihm gelang, Zugang zum Reichskanzler zu erhalten. Eines dieser Treffen mit Brüning arrangierte der damalige Direktor der KWG, Friedrich Glum, um über die Gründung einer neuen politischen Kraft zu sprechen. Doch bei der Zusammenkunft dehnten die beteiligten Industriellen die Diskussion über wirtschaftliche Fragen so aus, „daß über das ganze Projekt, das ich vorbereitet hatte, überhaupt nicht gesprochen wurde“.42 Diese Anekdote wirft ein bezeichnendes Licht auf die Prioritätensetzung unter den Industriellen – gegenüber wirtschaftlichen Diskussionen mussten politische Pläne zurückstehen. Der 38 39 40 41 42

Holdermann, Im Banne, S. 268. Für Brüning auf der anderen Seite war Bosch einer der „großen, konstruktiven Führer der deutschen Industrie“, Heinrich Brüning, Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, S. 234. Vortrag „Sozialisierung und chemische Industrie“, Mai 1921, S. 18, BASF Unternehmensarchiv W1/5/4. Rede anlässlich der Verleihung der Exner-Medaille in Wien, 16. Dezember 1932, BASF Unternehmensarchiv W 1/5/12. Boschs Beitrag „Das Industrieproblem“ von 1932, zit. nach Jutta Kißener, Carl Bosch – Chemiker, Unternehmer, Wahlheidelberger, in: Peter Blum (Hrsg.), Pioniere aus Technik und Wirtschaft in Heidelberg, Aachen 2000, S. 157–165, hier S. 161. Friedrich Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen, Bonn 1964, S. 407. Anwesend bei dieser Besprechung waren laut Glum neben Bosch Krupp von Bohlen und Halbach, Vögler, Schmitz, Goldschmidt, Stimming und Bücher.

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an diesem Gespräch mit Brüning ebenfalls beteiligte Hermann Bücher urteilte im Rückblick über Bosch: „Er war politisch nur insoweit interessiert, als er von Berufs wegen mit der Politik in Berührung kam.“43 Bosch selbst schrieb am 1. Oktober 1930 an seinen Onkel Robert Bosch: „Ich bin der Meinung, in den heutigen Zeiten ruhiges Blut zu bewahren und die Leute machen zu lassen, was sie wollen.“44 NIEDERGANG Diese Haltung formulierte er auf die Nachfrage seines Onkels, wie man zum einen mit der NSDAP allgemein und zum anderen mit dem Vorwurf des Sympathisierens mit dieser Partei umgehen sollte. Für den Vorstandsvorsitzenden der I. G. war das offensichtlich kein wichtiges Thema, und inzwischen gilt es in der Forschung als sicher, dass die I. G. und Carl Bosch den Nationalsozialisten vor deren Machtübernahme äußerst skeptisch gegenüberstanden. Trotzdem wurde in der Frage der Benzinsynthese auf Boschs Anweisung der Kontakt mit der Parteileitung gesucht, da, wie oben geschildert, die Wirtschaftlichkeit des künstlichen Kraftstoffs von staatlichen Maßnahmen abhängig war. Auch wenn das Treffen der I. G.-Gesandten mit Adolf Hitler 1932 nur der Information diente, waren dessen Äußerungen offensichtlich „zufriedenstellend“. Bosch selbst soll sogar daraufhin über den Führer der NSDAP gesagt haben: „Dann ist der Mann vernünftiger, als ich gedacht habe.“45 Selbst wenn man also annimmt, dass dieses Gespräch auf die Benzinsynthese der I. G. wenn überhaupt nur marginalen Einfluss hatte, so darf ein anderes Ergebnis nicht außer Acht gelassen werden: Offensichtlich änderte das Treffen Boschs Bild von Hitler, weshalb er diesem nach dessen Machtübernahme am 30. Januar 1933 vorerst aufgeschlossen gegenüberstand. Diese Aufgeschlossenheit vertiefte sich in den ersten Regierungsmonaten. Positiv registrierte Bosch die Erfolge bei der Eindämmung der Arbeitslosigkeit und das Bekenntnis zur Privatwirtschaft. Das betonte Hitler schon bei der bekannten Besprechung mit Industriellen am 20. Februar 1933, an der Bosch zwar nicht teilnahm, über die er aber durch den I. G.-Vertreter, Georg von Schnitzler, unterrichtet wurde und in deren Nachgang er eine umfangreiche Spende für den von Hjalmar Schacht verwalteten Wahlfonds zugunsten der NSDAP und der „Kampffront Schwarz-weiß-rot“ bewilligte. Bosch persönlich traf mit Hitler bei einem weiteren Industriellentreffen am 29. Mai 1933 zusammen, und als am 20. September 1933 zum ersten – und einzigen – Mal der Generalrat der Wirtschaft einberufen wurde. Zwar erschöpfte sich die Diskussion vor allem in Detailfragen, aber immerhin veröffentlichte die I. G. wenige Tage später eine Presseerklärung, in der festgehalten wurde: „Die deutsche Wirtschaft steht unter dem Zeichen des Aufrufs der Regierung zur Arbeitsbeschaffung. Die I. G. Farbenindustrie hat ihre Mithilfe freudig zugesagt.“46 Bereits im Juni 1933 43 44 45 46

Affidavit Hermann Bücher, 10. Dezember 1947, BASF Unternehmensarchiv W 1/1/10. Schreiben C. Bosch an R. Bosch, 1. Oktober 1930, RB 1 014 338. Den Hinweis auf dieses Schreiben verdanke ich Prof. Dr. Johannes Bähr. Plumpe, I. G., S. 543. Zit. nach ebd., S. 700.

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hatte Robert Bosch an einen Bekannten geschrieben, „daß auch Herr Carl Bosch von der I. G. jetzt den Weg zu Hitler gefunden hat“.47 Doch auch in diesen ersten, von Bosch offensichtlich eher positiv konnotierten Monaten der nationalsozialistischen Regierung hatte er Zweifel. In einem Gespräch mit Hitler im Mai 1933 verwies er sehr nachdrücklich auf die Notwendigkeit von freier Wirtschaft und Wissenschaft, woraufhin der Reichskanzler das Gespräch mit den Worten beendete: „Der Geheimrat wünschen zu gehen!“48 Möglicherweise äußerte sich Bosch bei dieser Gelegenheit auch kritisch zu den ersten antisemitischen Aktionen der Nationalsozialisten. Diese Maßnahmen gegen jüdische Wissenschaftler, Beamte und andere Personen lehnte Bosch vehement ab. Sein tatkräftiger Einsatz für Betroffene ist in etlichen Fällen gut belegt, auch wenn einige Fragen weiter offen bleiben. An der Gedächtnisfeier für Fritz Haber nahm Bosch nicht nur teil, seinem Einsatz war es mit zu verdanken, dass diese trotz Verboten des Regimes in einem würdigen Rahmen stattfand, was er selbst durchaus als einen „Akt demonstrativer Nichtanpassung“ ansah.49 Zu diesem Zeitpunkt, im Januar 1935, stand Bosch der NS-Herrschaft bereits ablehnend gegenüber. Angestoßen hatten diesen Wandel sicherlich auch die gewaltsamen Übergriffe des 30. Juni 1934, von denen Bosch durch die Augenzeugen Kurt von Lersner und Heinrich Gattineau unterrichtet wurde. Den Bericht von Letzterem, der für einige Wochen verhaftet nur knapp der Ermordung entging, kommentierte Bosch mit den Worten: „Was sind das nur für Menschen! Wo soll das noch enden?“50 Kurze Zeit später ermöglichte ihm der Tod Carl Duisbergs, den Vorstandsvorsitz der I. G., wie geschildert, mit dem Vorsitz im Aufsichtsrat zu vertauschen, und in den folgenden Jahren konnte Carl Bosch sich heraushalten – aus der Politik, aus der wirtschaftlichen Aufrüstung und aus dem sich steigernden Antisemitismus. Öffentliches Engagement blieb selten, wie der Einsatz für die Berufung Carl Krauchs in die Vierjahresplanorganisation. Dabei vertiefte sich seine innere Zerrissenheit, je mehr er erkannte, inwieweit seine Firma zur Machtentfaltung und Kriegsplanung der Nationalsozialisten beitrug. Sein Ausweg war die Flucht in den Alkohol, der schon lange eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Vor der Öffentlichkeit konnte Boschs Zustand weitgehend verborgen werden, selbst der Vorsitz in der KWG wurde ihm 1937 noch übertragen. Eine Ausnahme bildete eine Rede als Vorsitzender des Vorstands im Deutschen Museum 1939 in offensichtlich angetrunkenen Zustand, die zu empörten Reaktionen der Nationalsozialisten und dem Verlust seines Amtes führte. Ein Refugium wurde für Carl Bosch der Tierpark Heidelberg, dessen Aufbau er maßgeblich unterstützt hatte. Kurz vor seinem Tod soll er seinem Sohn noch 47 48 49 50

Schreiben Robert Bosch an Mauk, 8. Juni 1933, in: Rolf Becker / Joachim Scholtyseck, Robert Bosch und die deutsch-französische Verständigung. Politisches Denken und Handeln im Spiegel der Briefwechsel, Stuttgart o. J., S. 185 f. Schilderung bei Holdermann, Im Banne, S. 272. Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, S. 699. Heinrich Gattineau, Durch die Klippen des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen zur Zeit- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1983, S. 116.

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prophezeit haben: „Es ist aus! Der Lump wird Frankreich besetzen, vielleicht auch England. Dann wird er das grösste Verhängnis begehen und Russland angreifen. Dann sehe ich entsetzliches. Es wird alles ganz schwarz […].“51 WÜRDIGUNG Der Unternehmer Carl Bosch steht oft im Schatten der beiden Unternehmen, die er als Vorstandsvorsitzender leitete: BASF und I. G. Farbenindustrie AG. Während deren Geschichte umfangreich aufgearbeitet ist, bleibt das Wirken ihres Leiters meist blass, was sicher auch am Fehlen eines persönlichen Nachlasses liegt. Doch schon Zeitgenossen urteilten: „Seine Worte waren in der I. G. das Gesetz […].“52 Tatsächlich wirkten Boschs wissenschaftliche Brillanz, seine Intensität und unorthodoxen Methoden mitreißend und bewirkten wichtige Neurungen und Fortschritte in den Unternehmen, die er beide zu großen Erfolgen führte, aber auch durch schwere Zeiten steuern musste. Seine Durchsetzungskraft darf dabei nicht unterschätzt werden, wenngleich er diese mit wenigen Worten und eher zurückhaltend ausübte. Boschs Zurückhaltung behinderten teilweise eine erfolgreiche Unternehmenspolitik, bzw. deren Kommunikation beispielsweise gegenüber der Arbeiterschaft, für die er sich auf der anderen Seite während der Weltwirtschaftskrise umfassend einsetzte. Seine introvertierte Zurückgezogenheit führte in Krisenzeiten sogar zu Krankheiten und schließlich zur Flucht in den Alkohol. In der Person Carl Boschs steckt viel von der Zerrissenheit – von dem Nebeneinander von Stärke und Schwäche –, die auch die Weimarer Republik prägte. Als Vorstandsvorsitzender der BASF bzw. der I. G. Farbenindustrie AG zwischen 1919 und 1935 war er einer der mächtigsten Unternehmer im Deutschen Reich und wirkte somit an einer Epoche mit, die ihn selbst zeichnete.

51 52

Sammlung von Aussprüchen Boschs, BASF Unternehmensarchiv W 1/1/9. Urteil von F. Jähne, zit. nach Plumpe, I. G., S. 160.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Abelshauser, Werner (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002. Chronik und Stammbaum der Familien Bosch der Schwäbischen Alb nebst einer Ahnentafel. Die Geschichte eines schwäbischen Bauerngeschlechts in vier Jahrhunderten, quellenmäßig erforscht und herausgegeben von Georg Thierer, Gussenstadt 1921. Coleman, Kim, IG Farben and ICI, 1925–53. Strategies for Growth and Survival, Basingstoke 2006. Deichmann, Ute, Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit, Weinheim 2001. Fischer, Wolfram, Dezentralisation oder Zentralisation – kollegiale oder autoritäre Führung? Die Auseinandersetzung um die Leitungsstruktur bei der Entstehung des I. G. Farben-Konzerns, in: Norbert Horn / Jürgen Kocka (Hrsg.), Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wirtschafts-, sozial- und rechtshistorische Untersuchungen zur Industrialisierung in Deutschland, Frankreich, England und den USA, Göttingen 1979. Gattineau, Heinrich, Durch die Klippen des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen zur Zeit- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1983. Hayes, Peter, Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi Era, Cambridge 1987. Heine, Jens Ulrich, Verstand und Schicksal. Die Männer der I. G. Farbenindustrie A. G. (1925–1945) in 161 Kurzbiographien, Weinheim 1990. Holdermann, Karl, Im Banne der Chemie. Carl Bosch. Leben und Werk, bearb. von Walter Greiling, Düsseldorf 1953. Kißener, Jutta, Carl Bosch – Chemiker, Unternehmer, Wahlheidelberger, in: Peter Blum (Hrsg.), Pioniere aus Technik und Wirtschaft in Heidelberg, Aachen 2000, S. 157–165. Köhler, Otto, … und heute die ganze Welt. Die Geschichte der IG Farben Bayer, BASF und HOECHST, Köln 1990. Lesch, John E. (Hrsg.), The German Chemical Industry in the Twentieth Century, Dordrecht 2000. Plumpe, Gottfried, Die I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin 1990. Oelsner, Reiner F., Bemerkungen zum Leben und Werk von Carl Bosch. Vom Industriechemiker zum Chef der IG Farbenindustrie, Mannheim 1998. Schivelbusch Wolfgang, Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren: Die Universität. Das Freie Jüdische Lehrhaus. Die Frankfurter Zeitung. Radio Frankfurt. Der Goethe-Preis und Sigmund Freud. Das Institut für Sozialforschung, Frankfurt/Main 1982. Stolle, Uta, Arbeiterpolitik im Betrieb. Frauen und Männer, Reformisten und Radikale, Fach- und Massenarbeiter bei Bayer, BASF, Bosch und in Solingen (1900–1933), Frankfurt/Main 1980. Tammen, Helmuth, Die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft (1925–1933). Ein Chemiekonzern in der Weimarer Republik, Berlin 1978. Zdemka, Klara, Drama um Bosch, in: 1925–1945. Kleine Zeitgeschichte, gesehen von der Museumsinsel in der Isar, S. 64–66, erschienen in: Kultur und Technik 8 (1994) Heft 1/2.

ERNST BRANDI (1875–1937) – DER SYSTEMVERÄNDERER Werner Abelshauser Die Geschichte der Weimarer Republik und ihres Übergangs in das „Dritte Reich“ gehört gewiss zu den am besten erforschten Abschnitten der jüngsten deutschen Vergangenheit. Umso mehr überrascht, dass manche ihrer zentralen Protagonisten erst spät ins Blickfeld der Forschung gerieten. Dies gilt nicht zuletzt für Ernst Brandi. Er war Chef des bei weitem größten deutschen Bergbaubetriebes, der Gruppe Dortmund der Abteilung Bergbau der Vereinigten Stahlwerke und fungierte noch dazu als Vorsitzender des Bergbau-Vereins, des Zechenverbands und zahlreicher Gemeinschaftswerke des deutschen Kohlenbergbaus. Darüber hinaus spielte er in der Deutschen Volkspartei, deren Wirtschaftsausschuss er vorsaß, die Rolle einer grauen Eminenz, vertrat die Interessen der Schwerindustrie in einflussreichen Zeitungen und übte im Umfeld der Ruhrlade, dem „geheimen Kabinett der Schwerindustrie“ (Turner), Macht aus, indem er den Einfluss der Kohlenwirtschaft bündelte. Vor allem aber war der Bergwerksdirektor und reaktionäre Interessenvertreter ein erklärter Systemveränderer, der den Untergang der Weimarer Republik programmatisch begründet und praktisch befördert hat. Das Bild, das die Geschichtswissenschaft von Ernst Brandi zeichnet, schien fest gefügt. Selbst Historiker, die, wie die große Mehrheit der Forscher, die deutsche Großindustrie „aufs Ganze gesehen“ von dem Vorwurf freisprechen, Hitlers Aufstieg zur Macht finanziert zu haben,1 sehen in dem obersten Repräsentanten des deutschen Bergbaus einen Grenzgänger zwischen dem konservativen und dem nationalsozialistischen Lager. Sie stellen ihn auf der Suche nach Unterstützern der NS-Machtergreifung im Lager der Schwerindustrie in eine Reihe mit Emil Kirdorf und Fritz Thyssen und zählen ihn zu den wenigen Unternehmern aus der ersten Garnitur der deutschen Wirtschaft, die schon früh Sympathien für die Hitler-Bewegung empfunden haben. Anders als bei dem bekennenden Faschisten Thyssen und dem zeitweiligen (1927–1928; 1934–1938) NSDAP-Mitglied Kirdorf bleiben die Handlungen und Motive Brandis aber weitgehend im Unklaren. Auch die Tatsachen selbst – gab es finanzielle Zuwendungen des Bergbaus an Hitler oder nicht – stehen alles andere als fest. Für Brandi waren alle zeitgenössischen Behauptungen dieser Art nichts anderes als „von vorn bis hinten törichte Vermutungen und falsches Zeug“.2 Hinweise auf Überweisungen an einzelne Nationalsozialisten (Walther 1 2

Henry Ashby Turner Jr., Verhalfen die deutschen ‚Monopolkapitalistenʻ Hitler zur Macht? in: Ders., Faschismus und Kapitalismus in Deutschland. Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft, 2. Aufl., Göttingen 1980, S. 9–32, hier S. 13. Brandi an den Dortmunder Oberberghauptmann Ernst Flemming vom 15. August 1932, Bundesarchiv (BArch) Koblenz, NL 1231, Bd. 36, Bl. 30.

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Funk, Gregor Strasser, Josef Terboven) stammen aus dubiosen Quellen wie dem NS-nahen Publizisten und Lobbyisten August Heinrichsbauer, der nach 1945 Derartiges ohne Angabe von Quellen behauptet hat.3 Selbst wenn sie zuträfen, ließe sich daraus allein noch keine Unterstützung der NSDAP im Allgemeinen und Hitlers im Besonderen ableiten. Es ist zweifellos notwendig, solchen Spekulationen über finanzielle Zuwendungen nachzugehen und ihre Plausibilität zu erörtern. Es ist schließlich nicht irrelevant, welche Rolle der Koordinator der Weimarer Kohlenmacht im Prozess der ‚Machtergreifung‘ spielte. Wichtiger aber sind die wirtschaftlichen und politischen Gründe, die Brandi veranlasst haben, Anfang der dreißiger Jahre immer deutlicher einer Doppelstrategie zu folgen. Einerseits ließ er keinen Versuch aus, die nationalkonservative, bürgerliche Rechte gegen die revolutionäre Rechte zu sammeln, um andererseits gleichzeitig auch deren Anspruch auf angemessene politische Repräsentanz auf Regierungsebene mehr und mehr anzuerkennen. Der Bergbauführer vertrat damit innerhalb des konservativen Spektrums der deutschen Politik eine eigenständige und eigenwillige Position, stand aber in grundsätzlichen Fragen vor dem gleichen politischen Dilemma wie seine Mitstreiter aus den Reihen der bürgerlichen Rechte. Dies macht eine Analyse seiner Beweggründe umso dringender und für jeden tieferen Erklärungsansatz des Zusammenbruchs der Weimarer Republik doppelt nützlich. Es liegt nahe, derartige Fragen mit Hilfe des biographischen Ansatzes zu beantworten. Gerade Brandi hat bisher im Schatten anderer Schwerindustriellen gestanden, die als charismatische Führer großer Unternehmen mehr öffentliches Interesse auf sich zogen, als der angestellte Ruhr-Bergwerksdirektor und gewählte Repräsentant des deutschen Bergbaus. Dies ist allerdings viel leichter gesagt als getan. Der Mangel an ‚biographischen‘ Quellen macht es schwierig, die Gründe für einzelne Entscheidungen nachzuvollziehen. Die insgesamt eher schlechte Quellenlage lässt sich aber zum Teil mit Hilfe eines einfachen biographischen Modells ausgleichen, das den Wandel der Handlungs- und Denkweisen von Akteuren aus dem Zusammenspiel innerer Einstellungen und äußerer Herausforderungen und Schocks erklärt.4 Erstere stehen dabei für die Kontinuität des Denkens und Handelns, während exogene Ereignisse zur Überprüfung von Einstellungen zwingen, die den geänderten Rahmenbedingungen offenbar nicht mehr gerecht werden. Wie diese Überprüfung ausgeht, ob sie Verhaltensänderungen nach sich zieht oder nicht, ist dann von den Maßstäben abhängig, die einem Individuum als lebensgeschichtlich erworbene Kriterien für persönliche Entscheidungen über den Wandel der Lebensführung zur Verfügung stehen. Dazu zählen in erster Linie lebensgeschichtlich akkreditierte Handlungsvarianten, komparative materielle und emotionale Vorteile oder die Maßgaben der persönlichen Nutzenfunktion. Dieser analytische Rahmen reduziert die Dichte der für eine Analyse notwendigen Informationen auf für das Modell relevante Zusammenhänge und erlaubt so eine ‚Ökonomisierung‘ der Quellenarbeit. Die Untersuchung kann sich dabei also einerseits auf die institutionelle 3 4

August Heinrichsbauer, Schwerindustrie und Politik, Essen/Kettwig 1948. Siehe dazu: Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009, S. 10–20.

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Einbettung von Brandis Denk- und Handlungsweisen konzentrieren, wie sie ihm aus familiären und erzieherischen Einflüssen als jugendliche Prägung und vertraute Spielregeln überliefert wurde und in ihm ihre individuelle Ausprägung fanden. Hinzu kommt sein Eintritt in die Tradition der berufsständischen Elite der preußischen Bergassessoren, die das soziale Bewusstsein ihrer Angehörigen in der Regel stark geformt hat. Andererseits lassen sich die äußeren Herausforderungen, die ihm begegneten, auf den Schock des Weltkrieges, die Erfahrung der bürgerkriegsähnlichen Wirren im Ruhrrevier der Nachkriegszeit und die Anziehungskraft bedeutender Vorbilder aus der Industrie beschränken. In jedem Fall erlaubt es die Quellenlage sehr wohl, die berufliche Position des Unternehmers Brandi näher kennen zu lernen. Agierte er als Unternehmer, der für seinen wirtschaftlichen Verantwortungsbereich Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen hatte, fungierte er als Manager, der Routinen folgte, um fremde Entscheidungen durchzusetzen, oder übernahm er als Verbandsfunktionär Verantwortung für den institutionellen Rahmen seiner Branche und der Gesamtwirtschaft? Dies herauszufinden ist für das Verständnis der Organisationsweise der Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit und von Brandis Rolle bei der Destabilisierung der Weimarer Republik von großer Bedeutung. Spätestens unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre ist dieses unter dem Primat der Wirtschaft stehende System der verbandspolitischen Intervention in den Markt von allen Schulen des wirtschaftlichen Denkens heftig kritisiert worden und musste schließlich auch in der Praxis dem Primat der Politik weichen. Brandi zählt zweifellos zu den klassischen Protagonisten dieses Systems und hat dessen ‚Gleichschaltung‘ durch den NS-Staat nach 1932 auch persönlich erfahren. Schließlich sollte die biographische Skizze eines ihrer Führer auch Einblicke in die Anstrengungen einer ‚alten‘ Industrie zulassen, die drohende Deklassierung der Branche innerhalb des Verbunds mit der Eisen- und Stahlindustrie und mehr noch im direkten Vergleich mit den ‚neuen‘ Industrien abzuwenden, die wie die chemische Industrie, der Maschinenbau oder die Elektrotechnik ganz andere institutionelle Rahmenbedingungen für sich beanspruchten. Ohne diesen Hintergrund müssten viele, und gerade die radikalsten Schritte des Verbandsvorsitzenden Brandi innerhalb der Weimarer Interessenspolitik unverständlich bleiben. Dies gilt vor allem für seine Gegenposition zum Reichsverband der deutschen Industrie. Der Spitzenverband stand bis zur ‚Machtergreifung‘ Hitlers unter dem Einfluss der ‚neuen‘ Industrien, die den der Weimarer Republik zugrunde liegenden ‚historischen Kompromiss‘ mittrugen. Er sah aber seine Handlungsfreiheit als Folge der Vetomacht der Schwerindustrie stark eingeschränkt. Alle drei Fragestellungen, denen die Studie nachgehen will, stehen gewiss in einem engen sachlichen Zusammenhang. Sie folgen aber auch – jede für sich – ihrer eigenen Logik, die erst in der Person Ernst Brandis zu einem einheitlichen wirtschaftlichen und politischen Gemenge und Erscheinungsbild geformt wird.

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INSTITUTIONELLE EINBETTUNG Ernst Theodor Oswald Brandi wurde am 13. Juli 1875 in Osnabrück geboren. Sein Vater Hermann war gerade zum Königlich Preußischen Konsistorialrat ernannt worden, dem die Aufsicht über den katholischen Teil des Osnabrücker Schulwesens oblag. Das Patent erlaubte der Familie den Sprung in gutbürgerliche Verhältnisse und den Kauf eines repräsentativen Hauses. Ernst Brandis Mutter Antonie, geb. Russell, (1843–1925) entstammte der alten westfälischen Hütten- und Bergmannsfamilie Lossen. Zu ihrem engeren elterlichen Verwandtschaftskreis der Familien Russell und Landschütz zählten mehrere Bergassessoren – u. a. der Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks AG (GBAG), Bergrat Paul Randebrock (1856– 1912), der in den Jahren 1909 bis 1912 auch an der Spitze des Bergbau-Vereins und des Zechenverbands stand. Antonie Brandis Bruder, Emil Russell, sollte zum Mitinhaber der Disconto-Gesellschaft, einer der führenden Großbanken, avancieren und als Aufsichtsrat Einfluss auf zahlreiche Großunternehmen der Montanindustrie nehmen. Ernst Brandi war also vor allem von mütterlicher Seite im Hinblick auf seine spätere berufliche Karriere erheblich ‚vorbelastet‘. Die Familie musste 1892 aus dem beschaulichen Osnabrück nach Berlin umziehen, weil Hermann Brandi auf die Stelle eines Geheimen und Vortragenden Rats im Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, dem preußischen Kultusministerium, berufen wurde. Das Zeugnis der Reife, das Brandi in allen sprachliche Fächern genügende, in den meisten naturwissenschaftlichen Fächern gute Leistungen bescheinigte,5 sagt wenig über die Konflikte aus, die der in den Augen seiner Lehrer zur Selbstüberschätzung, Rechthaberei, Unwahrhaftigkeit und Unverschämtheit neigende Primaner an der Schule auszutragen hatte.6 Gleich nach dem Abitur, das er im Februar 1895 ablegte, absolvierte er beim Oberbergamt in Dortmund das vorgeschriebene, dem Studium vorgeschaltete praktische Jahr auf der Zeche Hansa in Huckarde. Wie jeder Bergmann arbeitete er von morgens fünf bis mittags eins die achtstündige Schicht – wie üblich im Gedinge. Das darauf folgende systematische, sechssemestrige Studium des Bergfachs absolvierte er in Verbindung mit der Clausthaler Bergakademie an der Königlichen Geologischen Landesanstalt und Bergakademie in Berlin, aus der 1916 unter anderem die Königliche Technische Hochschule in Berlin-Charlottenburg hervorging. Diese Kombination garantierte zu jener Zeit die bestmögliche wissenschaftliche Ausbildung. In den langen Universitätsferien hatte er mehrmals Gelegenheit, auf der Zeche Germania II in Marten, wo er einst seine erste Grubenfahrt machte, zu ‚steigern‘. Auch in dieser unteren Betriebsbeamtenstellung konnte er für seine Verhältnisse viel Geld verdienen und noch dazu seine bergmännische Ausbildung vervollkommnen. Wie schon während des praktischen Jahres genoss er dabei erneut die Gastfreundschaft im Hause Randebrock. Im Sommer 1900 bestand er in Berlin die Prüfung für den höheren Staatsdienst in 5 6

Falk-Realgymnasium zu Berlin, Zeugnis der Reife vom 16. März 1895, NL Ernst Brandi. Bescheid des Königlichen Provinzial-Schul-Kollegiums vom 20. Dezember 1894 auf die Beschwerde Hermann Brandis gegen einen Lehrer seines Sohnes vom 28. November 1894, NL Ernst Brandi.

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der Berg-, Hütten- und Salinenverwaltung mit „gut“ und trat dann seinen Dienst als Bergreferendar an. Das Referendariat ließ ihm aber auch Zeit für eine zweimonatige Reise durch England und Schottland. Der Aufenthalt im Ausland machte aus ihm einen „begeisterten Deutschen“.7 Nach über zweijähriger unsteter Referendartätigkeit verbrachte er deren Ende erneut in Dortmund, um in Ruhe seine Ausbildung abzuschließen. Zielstrebig fasste er nun auch die Gründung einer Familie ins Auge. Auf dem Barbarafest 1902 lernte er „mit Interesse“ die Dortmunder Industriellentochter Clara Jucho kennen. In diese Dynastie einzuheiraten, wurde Brandi offenbar nicht leicht gemacht. Es dauerte Monate, „ehe Vernunft und Herz sich einig waren“.8 Eine der Überlegungen auf Seiten der ‚Vernunft‘ könnte in der Vermögenslosigkeit des Schwiegersohnanwärters gelegen haben. Die Familie Brandi/Russell verfügte zwar über hohes Ansehen, doch war der vor der vorzeitigen Pensionierung stehende Wirkliche Geheime Oberregierungsrat und Ehrendoktor der Universität Göttingen nicht in der Lage, seinen Söhnen viel mehr als soziales Kapital zu hinterlassen. Dem Stahlbau-Unternehmer Caspar Heinrich Jucho, der vom herrschenden Bauboom an Brücken und Verkehrswegen, Industrieanlagen und städtischen Einrichtungen über die Maßen profitierte, mochte der künftige Schwiegersohn deshalb keine gute Partie für seine Tochter erscheinen. Besser noch ist ein anderes Hindernis dokumentiert, das in den konfessionellen Verhältnissen des Bräutigams lag. Die Familie Jucho war nicht nur protestantisch; ihr Oberhaupt gehörte auch der kleinen bürgerlich-liberalen „Deutschen Freisinnigen Partei“ an, die als radikale Verfechterin der Trennung von Staat und Kirche eine besonders kritische Haltung gegenüber dem politischen Katholizismus einnahm, für den Hermann Brandi im preußischen Kultusministerium nach dem Ende des Kulturkampfes gewissermaßen die Stellung hielt. Da schien Argwohn gegenüber einem katholischen Schwiegersohn durchaus angebracht. Offenbar hatte Hermann aber seinem Sohn Ernst eine tolerante und konstruktive Einstellung vermittelt, so dass dieser die Gretchenfrage nach seiner Religion letztendlich zur Zufriedenheit seiner künftigen Schwiegereltern beantworten konnte. In einem Brief an Clara Jucho ließ er jedenfalls keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen, seinen katholischen Glauben nicht zu praktizieren.9 Tatsächlich hatte er sich zu diesem Zeitpunkt schon weit von den Dogmen der katholischen Lehre entfernt. Das Studium der Darwinschen Evolutionstheorie führte ihn weg von der christlichen Schöpfungslehre und ließ ihn an eine monistische Naturphilosophie glauben, die von der pantheistischen Einheit von Gott und Welt ausgeht. Dieses wissenschaftliche Interesse machte Brandi auch empfänglich für die neuen Lehren aus den USA, die vor allem Idealismus mit Materialismus verbinden wollten. So gehörte er seit den 1890er Jahren zu den Anhängern von Ralph Waldo Trine, einem amerikani7 8 9

Beitrag Ernst Brandi (1907), in: Chronik des Hauses Hermann Brandi, zusammengestellt von Dirk Rogge, maschinenschr. Manuskript, Göttingen 1990, S. 175. Ebd. Ernst Brandi an Clara Jucho, Göttingen, vom 18. Juli 1903, in: Dein Ernst – Dein Clärchen. Eine starke Ehe im 20. Jahrhundert. Briefe und Aufzeichnungen aus dem 1. Weltkrieg, zusammengestellt von Hedi Mauritz, Privatdruck, Neu Isenburg 2005, S. 22 f.

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schen Autor von ‚Lebensbüchern‘, die eine grundsätzlich voluntaristische Sicht der Welt vermittelten. Brandi hatte sich damit noch vor dem Beginn seiner beruflichen Karriere eine Weltanschauung angeeignet, deren Design den Bedürfnissen eines Aufsteigers in der Welt der Schwerindustrie besser entsprach. Dem Assessorexamen folgten die üblichen, in der Regel unattraktiven Anstellungen im Staatsdienst. Umso mehr wusste er es zu schätzen, als ihn die Gelsenkirchener Bergwerks AG 1907 als „technischen Hilfsarbeiter“ der Direktion mit dem Titel Betriebsdirektor in die Leitung der Zechen Hansa und Minister Stein in Eving und Fürst Hardenberg in Lindenhorst berief. Randebrock, der zusammen mit Kirdorf Brandis Vertrag unterzeichnete, wollte sein Haus bestellen, nachdem er zum Leiter der Bergbauabteilung der GBAG und Stellvertreter des Vorstandsvorsitzenden Kirdorf avanciert war. Er erinnerte sich seines vielversprechenden Neffen und empfahl ihn für die Position auf den Dortmunder Zechen, die er früher selbst einmal eingenommen hatte. Der Bergassessor a. D. hatte nun auch die technische Leitung der Zeche inne, auf der er 1895 als ‚Bergbaubeflissener‘ seine Laufbahn begonnen hatte. Alles schien nach einem festen Plan zu laufen – ganz so wie es sich Brandi idealiter ‚vorgedacht‘ hatte. Die „unter Bescheinigung der Zufriedenheit mit Ihrer Dienstführung“ erteilte Entlassung aus dem Staatsdienst bedeutete für den jungen Betriebsdirektor auch finanziell den Einstieg in gesicherte Verhältnisse. Alles in allem eine Musterkarriere, die ihn nur zehn Jahre nach seinem Assessorexamen im Alter von 39 Jahren in die Führungselite der Montanwirtschaft des Ruhrreviers aufrücken ließ. KRISENJAHRE AN DER RUHR Die zielstrebige Arbeit des jungen Unternehmers wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs jäh unterbrochen. Ende August kam der Marschbefehl nach Charleroi, wo er als Adjutant des reaktivierten Generalmajors Ernst Quintus Sigismund von Gladiß (1856–1920) am Schutz der Eisenbahnlinien im belgischen Hinterland teilnehmen sollte. Brandi hatte nun Gelegenheit, über die Ursachen des Krieges und seine Folgen nachzudenken. Nie in der Geschichte sei ihm klarer geworden als jetzt, dass der Mensch einer dauernden friedlichen Kultur unfähig sei, schrieb er seiner Frau.10 Deshalb habe er den Krieg immer für unvermeidlich angesehen. Zwingende Gründe, „daß all das Elend und Herzleid einem höheren Zweck wegen zu rechtfertigen ist“, lagen nach seiner Überzeugung vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Für ihn war der Krieg eine Fortsetzung der britischen Weltmarktrivalität mit anderen Mitteln. Die Auseinandersetzung war in seinen Augen vor allem deshalb „hunds-hundsgemein“, weil sie „Verrat an der germanischen Rasse“ bedeutete. Vier Monate Krieg hatten ausgereicht, aus einem „begeisterten Deutschen“, der zu einem kritischen, aber abgewogenen Urteil über das einstige britische Vorbild fähig war, einen glühenden Nationalisten zu machen, der die Welt nur noch in einem manichäischen Schwarz-Weiß-Schema wahrnehmen konnte. Sein Leben in der bel10

Ernst an Clärchen, Mons, vom 3. Dezember 1914, in: Dein Ernst, S. 71.

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gischen Etappe frustrierte ihn immer mehr. Aber erst sein zweiter Antrag auf Entlassung aus dem Militärdienst, der vom Oberbergamt dringend befürwortet wurde, führte schließlich im Januar 1918 zum Erfolg. Zurück in Dortmund war das ruhige Leben vorbei. Jetzt stand Brandi in der vordersten Linie der ‚Heimatfront‘, die 1918 immer stärker wankte. Seine Rückkehr ins Revier fiel mit einer neuen Streikbewegung zusammen, die an der Ruhr weniger politische als wirtschaftliche Forderungen erhob. Ruhe wurde mit Versprechungen an die Bergarbeiter erkauft, die zunächst nichts kosteten, nach dem Krieg aber zu politischen Zankäpfeln wurden: die Sieben-Stunden-Schicht, eine gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsverfassung, die betriebliche Mitbestimmung und eine lange Liste sozialpolitischer Verbesserungen, die nach Kriegsende unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen realisiert werden mussten. Neben der Arbeitszeitfrage war im Bergbau vor allem die Forderung nach Sozialisierung umstritten. Mit ihr war der Bergwerksdirektor Brandi unmittelbar konfrontiert. Seit Oktober 1918 leitete er die Dortmunder Zechen Vereinigte Stein & Hardenberg und Hansa, die ihm von der technischen Seite her schon aus der Vorkriegszeit wohl vertraut waren. In der Sozialisierungsfrage, die Anfang 1919 akut wurde, nahm er eine kompromisslose Haltung ein. Er akzeptierte weder die staatliche „Zwangswirtschaft“, die sich seit Kriegsbeginn abzeichnete und immer noch in Kraft war, noch konnte er sich für die konservativ-sozialdemokratische Variante der Gemeinwirtschaft erwärmen, die vielen seiner Kollegen zunächst als das geringere Übel erschien, noch reichte seine Phantasie aus, sich unter Sozialisierung etwas vorstellen, was „die Entwicklung und Durchführung wirtschaftlich-technischer, sozialer und ethischer Fortschritte zur Hebung unserer Wirtschaft im Allgemeininteresse im Gegensatz zum Klasseninteresse“ zu fördern in der Lage war. Letzteres blieb für ihn aber die einzige Option, „nachdem wir den größten Krieg der Weltgeschichte verloren haben“.11 Der Vorschlag der Sozialisierungskommission, der von dem Sozialökonomen Emil Lederer vertreten wurde, mutete ihn „geradezu ungeheuerlich“ an. Danach sollte der deutsche Stein- und Braunkohlenbergbau mit seinen weit über 1000 Betrieben in eine gigantische Bürokratie unter dem Dach des Reichskohlenrates überführt werden. Er lehnte alle Vorschläge zur Neuordnung des Bergbaus ab und bekannte sich rückhaltlos zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit: „Ist der Privatkapitalismus tot, so stirbt mit ihm eine der stärksten Kräfte unserer Wirtschaft, das Unternehmerinteresse, die Erregermaschine, die, wie nach dem elektrischen Dynamoprinzip mit geringem Aufwand wachsend, die größten Kräfte und Werte erzeugt.“ Gewiss wollte auch er die Angestellten und Arbeiter „an geeigneter Stelle und im Rahmen ihrer Eignung gleichberechtigt und vollwertig, aber auch mitverantwortlich“ an der Führung des Bergbaus beteiligen. Gemeinwirtschaft durfte aber nicht zum Instrument für die Eroberung der wirtschaftlichen Macht als Vorstufe für die politische Herrschaft gemacht werden.12 Sie sollte vielmehr aus einem langsamen und stetigen Prozess entstehen, in dem die Arbeiter, aber auch

11 12

Ernst Brandi, Die Sozialisierung des Kohlenbergbaus, in: Stahl und Eisen 40 (1920), S. 1657. Ebd., S. 1660.

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andere stakeholder des Bergbaus, über Aktien einen unmittelbar greifbaren Anteil am Erfolg der Arbeit erhielten.13 Tatsächlich genügte die dilatorische Behandlung der Sozialisierungsfrage, um sie schließlich wieder von der politischen Agenda verschwinden zu lassen, weil sich auch ihre Befürworter über die Ausgestaltung nicht einig wurden. Für Brandi grenzten politische Spiele dieser Art an Zynismus. Er nahm den Kampf um seine unternehmerische Autonomie auf, wo immer er ihm angeboten wurde. So leistete er auch entschiedenen Widerstand gegen jede Form von Mitbestimmung, auch wenn sie auf soziale Belange begrenzt blieb. Dem Betriebsrätegesetz, das im Februar 1920 in Kraft trat, konnte er deshalb ebenfalls keine positive Seite abgewinnen. Er sah in dem „öden und leblosen Betriebsrätegesetz“ nur eine weitere Einschränkung und Politisierung der Unternehmensführung: „Jeder Betriebsleiter im Bergbau kann aus persönlichen Erfahrungen feststellen, daß die ihm durch dieses Gesetz erwachsenen Erschwernisse, angelegten Fesseln und verursachte Arbeitsmengen das Maß des erträglichen längst überschritten haben.“14 Es entsprach nicht seiner Lebenserfahrung, in der betrieblichen Mitbestimmung die Chance zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern zu erkennen, wie sie in den ‚neuen‘ Industrien seit langem üblich war. Die Verhältnisse im Bergbau schienen ihm dafür nicht geeignet. Konservative Mentalität und sozialpatriarchalische Einstellung waren in der Elite der Bergassessoren traditionell stark ausgeprägt. Sie fanden lange auch ihr Äquivalent in der Traditionsgebundenheit der Bergleute, die wegen der relativ großen wirtschaftlichen Unsicherheit und dem hohen Maß an Abhängigkeit vom Wohlwollen und dem bergtechnischen Können der Vorgesetzten ein altertümlich anmutendes Sozialklima und eine autoritäre Betriebsverfassung durchaus akzeptierten. Im Krieg und in der Nachkriegszeit kam dieses Gleichgewicht freilich gefährlich ins Wanken. Die Ursache entsprang nicht akademischen Debatten, sondern realen Konflikten, mit denen Brandi in der Praxis immer stärker konfrontiert wurde. Seit seinem Assessorexamen hatte der Bergwerksdirektor bis dahin in seinem beruflichen Umfeld ein Wechselbad mentaler Prägungen erlebt: der ersten Dekade stetiger und stabiler Entwicklung unter vorhersehbaren und glücklichen Rahmenbedingungen folgte eine zweite, in der Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und blutige Arbeitskämpfe den Takt schlugen. Seiner Karriere hat dies nicht geschadet, obwohl es auffällt, dass einige seiner Peers, wie der zwei Jahre jüngere Albert Vögler15, gerade die Kriegsjahre genutzt haben, um an ihm vorbeizuziehen. Auch hat ihn sein Glück nicht verlassen. Über alle äußeren Krisen hinweg blieb seine persönliche Sphäre intakt. Die beiden Konjunkturen seines Berufslebens haben aber, jede auf ihre Art, die Weltanschauung nachhaltig verfestigt, die sich schon der Bergreferendar angeeignet hatte.

13 14 15

Ebd. Ebd. Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band.

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DER INTERESSENVERTRETER Die Gründung der Vereinigten Stahlwerke AG (VSt) aus dem Zusammenschluss von Rhein-Elbe Union, Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, Bochumer Verein, Stahlwerke van der Zypen, Thyssen-Konzern und den Rheinischen Stahlwerke förderte die Karriere Brandis in doppelter Hinsicht. Zum einen übertrug ihm der Stahltrust 1926 die Leitung der Dortmunder Gruppe seiner neu formierten Abteilung Bergbau, die ihren Sitz in Essen hatte und aus vier Gruppen (außerdem Hamborn, Gelsenkirchen und Bochum) bestand. Das machte ihn zum Chef des mit Abstand größten Unternehmens des Ruhrbergbaus. Mit diesem gewaltigen Kohlenreich belehnt, rückte Brandi im Juni 1926 ganz selbstverständlich auch in den 40-köpfigen Vorstand der VSt ein. Wichtiger aber war sein Sitz im Bergausschuss, der die Abteilung Bergbau wie eine selbständige Tochterfirma des Konzerns führte. Zum anderen berief ihn der Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund (Bergbau-Verein) noch 1926 auf eine gerade frei werdende Vorstandsposition. Dies war schon ein deutliches Signal dafür, dass der Stahltrust dort seine Interessen angemessen vertreten sehen wollte. Der amtierende Vorsitzende, Friedrich Winkhaus, hatte das Amt, das traditionell in Personalunion mit dem Zechenverband stand, erst Anfang 1925 von Alfred Hugenberg übernommen. Über die Gründe, die schließlich zur Übernahme durch Brandi führten, ist nichts bekannt. Es liegt aber nahe, dass der gerade gegründete größte Montankonzern Europas darauf drang, seinem Gewicht entsprechend auch in beiden Verbänden die Führung zu übernehmen. Seine Inthronisierung war offenbar nicht umstritten, so dass schon Anfang 1927 feststand, dass er Winkhaus im Herbst nachfolgen würde. Ein Wahlgang fand nicht statt. Personell änderte sich ansonsten an der Spitze der beiden Verbände wenig, wohl aber im Stil. Brandi hatte bis dahin praktisch keine Erfahrung in der Führung von Verbänden sammeln können. Allerdings eilte ihm aus seiner Funktion als Vorsitzender des Westfälischen Industrieklubs Dortmund, die er seit 1922 wahrnahm, der Ruf einer integrierenden Persönlichkeit voraus, die allgemeine Wertschätzung genoss. Dort war es ihm gelungen, nach dem Vorbild des Düsseldorfer Industrie-Clubs einen Treffpunkt der Wirtschaftseliten einzurichten, der durch die Förderung des Gedankenaustauschs den Interessen der Mitglieder dienen wollte. Da der Bergbau im Klub die bei weitem stärkste Berufsgruppe stellte, blieb Brandi für viele seiner westfälischen Verbandsmitglieder auch persönlich kein Unbekannter mehr. In der Essener Verbandszentrale ging es freilich um mehr. Der neue Mann nutzte sein doppeltes Amt weder, wie Hugenberg, zur Durchsetzung eigener politischer Interessen, noch ließ er, wie Winkhaus, das verbandliche Innenleben sich frei entfalten. Er trat mit dem Anspruch auf, den Bergbau macht- und interessenpolitisch zu vertreten und tat dies mit voller Rückendeckung durch den mit Abstand größten Ruhrkonzern. Trat er bis dahin nur als eine von vielen Stimmen in Erscheinung, die bergbauliche Interessen – wenn auch besonders konsequent – vertreten hat, so stieg er nach seinem doppelten Machtzuwachs in die erste Garnitur der deutschen Schwerindustrie auf. Mit dem Ende der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller und dem Übergang auf Heinrich Brüning, der im Zweifel auf

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den ‚Diktatur-Artikel‘ 48 der Reichsverfassung zurückgreifen konnte, hatte sich die Verfassungswirklichkeit deutlich verändert. Vor allem die industriellen Interessenverbände hatten immer verlangt, das Regierungshandeln vom Koalitionskalkül der Parteien unabhängig zu machen, um somit zu stärker ‚sachorientierten‘ Lösungen der Wirtschaftsprobleme zu kommen. Auch Brandi sah in „unsere[n] unglücklichen, für Deutsche Verhältnisse gar nicht passende[n] Parlaments- und Parteiverhältnisse[n] das eigentliche Problem“, weil sie seiner Meinung nach nicht dem entsprachen, „was die Wirtschaft als Grundlage eines modernen Staatswesens bedeutet“.16 Noch im Februar 1930, einen Monat vor der Ausschaltung der Parlamentsherrschaft durch präsidiale Notverordnungen, hatte er seinem Sohn düster angedeutet, man könne „in absehbarer Zeit einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch mit all den schlimmen Folgen befürchten, da sich gewisse Verhältnisse zuspitzen“.17 Er hätte sich in dieser Lage sicher Hugenberg an der Spitze einer konservativen Sammlungsbewegung als Kanzler gewünscht, war sich aber schon früh darüber im Klaren, dass der DNVP-Vorsitzende „nicht die Popularität, die ja notwendig wäre, [hatte], sondern teils gehasst, teils gefürchtet wird“ und somit sein Erfolg mehr als zweifelhaft war.18 In Brüning dagegen erkannte er anfangs einen „starken Aktivposten für Deutschland“ und brachte ihm „ein grosses Vertrauen für eine ruhige und stetige Entwicklung zur Besserung“ entgegen. Am Ende war er aber – wie weite Kreise der Wirtschaft – „restlos […] vom Gegenteil überzeugt und zwar deshalb, weil das System Brüning den schwarz-roten Block bedeutet, d. h. die linke, stark sozialistische Zentrumsherrschaft unter tatkräftiger Duldung durch die Sozialdemokratie, und dieses Gespann, diese Zusammenarbeit ist möglich geworden durch die Herrschaft der Gewerkschaften“.19 Aber auch in grundsätzlichen Fragen hielt die Brüningsche Politik nicht, was sich Brandi und die meisten Schwerindustriellen von ihr versprachen. Von einem Kabinett, das die bürgerliche Rechte einschloss und von der Parlamentsmehrheit unabhängig mit Notverordnungen regierte, erwarteten sie nicht nur eine entschlossene Krisenpolitik, sondern auch entschiedene Schritte in Richtung auf jene Systemveränderung, die sie seit langem forderten. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um die Revision der materiellen Verfassung der Weimarer Republik, die den historischen Kompromiss von 1918/19 ermöglicht und die Geschäftsgrundlage für ein Bündnis zwischen liberalem Wirtschaftsbürgertum und der verfassungstreuen Arbeiterbewegung hergestellt hatte. Dazu war der Zentrumspolitiker und christliche Gewerkschafter Brüning aber nicht bereit, obwohl er als Frontkämpfer mit monarchistischen Neigungen Brandi noch im September 1931 zu der Feststellung inspirierte, „dass eine Regierung immer dort am stärksten ist, wo nationalpolitische Regierungen stark hervortreten wie zur Zeit in Deutschland“.20 16 17 18 19 20

Ernst Brandi an seinen ältesten Sohn, den Banker Fritz H. Brandi, Dillon Read & Co., New York, vom 9. November 1927, NL Ernst Brandi. Ernst Brandi an F. H. Brandi vom 26. Februar 1930, NL Ernst Brandi. Ernst Brandi an F. H. Brandi vom 25. Juli 1929, NL Ernst Brandi. Ernst Brandi an F. H. Brandi vom 7. März 1932, NL Ernst Brandi. Ernst Brandi an Sohn Hermann Brandi, Wales, vom 7. September 1931, NL Ernst Brandi.

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DER SYSTEMVERÄNDERER Brandis Sehnsucht nach einem ‚Kerl‘, der mit rücksichtsloser Energie das als richtig Erkannte durchführt, ist oft auf die Person Hitlers bezogen worden. Tatsächlich kann es aber keinen Zweifel geben, dass damit Hugenberg als Leitfigur der bürgerlichen Rechten gemeint war. Dem Führer der NSDAP und seiner Bewegung erteilte er in seiner Beurteilung fünf Monate später, also noch vor der Kanzlerschaft von Papens, denkbar schlechte Zensuren: „Hitler und seine Nazis sind heute ein gärender Haufen, eine gewaltige Volksbewegung, die sich und ihre Ideen noch niemals zu einer klaren Bewährung gebracht haben, die in ihren temperamentvollen Köpfen die konfusesten Ideen über Wirtschaftsstaat und Außenpolitik haben“.21 Für Hitler hatte Brandi deshalb eine andere Rolle im Sinn. Die Nationalsozialisten sollten von Papen dabei unterstützen, den ‚Neuen Staat‘ zu errichten. Als realistischer Beobachter der Weimarer politischen Szene wusste Brandi, dass angesichts der Wählerbewegung in die Ränder eine „tragfähige Mitte selbst mit gemäßigten Sozialdemokraten“ nicht mehr möglich war.22 Deshalb wollte er die NS-Bewegung zur konstruktiven Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Rechten heranziehen: „Es muß unser aller Aufgabe sein, sie wieder zur Vernunft und Konsequenz zu bringen.“23 Eine Chance sah er darin, dass die Nationalsozialisten in den kommenden Wahlen starke Einbußen erlitten und dadurch endlich zur Vernunft gebracht würden, „denn sie werden ihre Wähler nicht nach der linken marxistischen Seite, sondern mehr nach der übrigen nationalen Seite verlieren“.24 Nach dieser Analyse erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Brandi der NSDAP vor dem 20. Februar 1933 aus dem Spendentopf des Bergbau-Vereins Mittel zur Wahlkampfführung zur Verfügung gestellt haben könnte. Sie stützt vielmehr die Ergebnisse der historischen Forschung, die trotz akribischer Recherchen Zahlungen des Bergbau-Vereins und anderer Wirtschaftsverbände an Hitler oder die NSDAP in nennenswertem Umfang nicht nachweisen konnte. Brandis Charakterisierung der politischen Szene stützt vielmehr den Befund, dass die Schwerindustrie und insbesondere die Kohlenseite die Richtung ihrer finanziellen Einflussnahme auf den Versuch einer Sammlung der national-konservativen bürgerlichen Rechte konzentrierten. Brandi verkörperte zweifellos eine der treibenden Kräfte hinter dieser Sammlungspolitik. Er gehörte seit 1918 der Deutschen Volkspartei an und war Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses der Ruhrindustrie in dieser gemäßigt nationalkonservativen Partei, deren prominentester Vertreter Außenminister Gustav Stresemann war. Da die DVP nicht von ihren Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen leben konnte, war sie besonders vor Wahlkämpfen auf die finanzielle Unterstützung einzelner Unternehmen angewiesen, die Mitgliedern gehörten, aber auch auf pauschale Zuweisungen von Seiten der in ihren Reihen stark vertretenen Großindustrie. An der Verteilung dieser Mittel war Brandi zunächst nicht beteiligt. Sie fiel in die Zuständigkeit der im Januar 1928 auf der Kruppschen Villa Hügel konsti21 22 23 24

Ernst Brandi an F. H. Brandi, New York, vom 7. März 1932, NL Ernst Brandi. Ebd. Ebd. Ebd.

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tuierten ‚Ruhrlade‘, eines informellen, unregelmäßig und immer im vertraulichen gesellschaftlichen Rahmen tagenden Gremiums aus zwölf prominenten Schwerindustriellen der ersten Kategorie. Brandi gehörte diesem erlauchten Kreis nicht als ordentliches Mitglied an, fehlte ihm, dem Verbandsführer und angestellten Bergwerksdirektor, doch die Aura eines Eigentümers oder Chefs eines Ruhrkonzerns, die allein Sitz und Stimme in diesem geheimen Kabinett der Schwerindustrie verlieh. Auch fehlte es ihm am repräsentativen Umfeld, das den Treffen der Ruhrlade auf Jagdgesellschaften und herrschaftlichen Soireen regelmäßig ihr Gepräge gab. Allerdings wurde er mehrfach zu ihren Sitzungen hinzugezogen. Von Anfang an übernahm die Ruhrlade auch die Funktion, über die Verwendung der politischen Interventionsfonds der Schwerindustrie zu entscheiden. Sie regelte auch die Aufbringung dieser Mittel auf der Eisenseite, während die Festlegung und das Einsammeln der Beiträge der Kohlenseite beim Bergbau-Verein, also in den Händen von Brandi lagen. Insgesamt ging es dabei bis 1930 – später schmälerte die Krise den Ertrag der Umlage deutlich – um jährliche Summen zwischen 1,2 und 1,5 Mio. RM, wobei der Anteil der Kohlenseite bei rund 60 Prozent lag.25 Obwohl der Bergbau-Verein also den Löwenanteil an der Umlage aufbrachte, musste er sich in der Ruhrlade von den dort versammelten Chefs gemischter Konzerne, bei denen die Stahlseite den Ton angab, majorisieren lassen. Für den obersten Repräsentanten des Ruhrbergbaus war dies nicht zuletzt deshalb schwer zu verkraften, weil die Ruhrlade unter dem Einfluss ihres Vorsitzenden Paul Reusch26 gegenüber seinem Favoriten Hugenberg eine kritische Haltung einnahm. Erst als sich das Gremium im Frühjahr 1932 über die künftige Rolle des DNVP-Chefs zerstritt, nutzte der Vorsitzende des Bergbau-Vereins die Gelegenheit, die Verwendung des Fonds der Kohlenseite wieder in die eigene Regie zu übernehmen. Vermutlich verfügte er zu diesem Zeitpunkt bereits auch über enge Beziehungen zur ‚Wirtschaftsvereinigung zur Förderung der geistigen Wiederaufbaukräfte‘, die als Dachgesellschaft des Hugenberg-Konzerns fungierte. Sie war 1919 von Emil Kirdorf, Wilhelm Beukenberg (Phoenix), Hugo Stinnes27 und Alfred Hugenberg gegründet worden, um über die Verwendung des ‚nationalen Zweckvermögens‘ zu bestimmen, das schon immer im Wesentlichen aus dem Bergbau-Verein kam. 1934 trat Brandi dann diesem nie öffentlich namhaft gemachten Kreis der ‚zwölf nationalen Männer‘ bei, der sich allerdings bereits ein Jahr später im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik auflöste. Brandi hatte eine Zeit lang die Illusion geteilt, man könne auf die ‚verständnisvolle Mitarbeit‘ der Nationalsozialisten hoffen, um die Weimarer Verfassung auszuhebeln und zu einem Neuen Staat zu kommen. Als der Bergbau-Verein wieder selbst die Kontrolle über seinen politischen Interventionsfonds ausübte, verschärfte sein Vorsitzender allerdings die Gangart in dem Versuch, die national-konservative Rechte um die DNVP zu scharen. Mit Reuschs politischem Berater Erich von Gilsa war er sich einig, dass nun unverzüglich drei Schritte nötig waren.28 Mit „größ25 26 27 28

Henry Ashby Turner, Die ‚Ruhrladeʻ. Geheimes Kabinett der Schwerindustrie in der Weimarer Republik, in: Ders., Faschismus und Kapitalismus, S. 114–156, hier S. 126. Zu Paul Reusch vgl. den Beitrag von Benjamin Obermüller in diesem Band. Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band. Von Gilsa, Sterkrade, an Reusch, Oberhausen, vom 18. Januar 1932, HA/GHH 400 101293/4,

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ter Beschleunigung“ musste „ein Zusammengehen der rechtsgerichteten bürgerlichen Elemente seitens der Wirtschaft erzwungen werden“. Als Führer einer solchen Gruppe komme nur der Vorsitzende der DNVP in Frage, „weil augenblicklich kein anderer da sei, der in gleicher Weise wie Herr Hugenberg über die genügende parlamentarische Erfahrung verfüge und zugleich das genügend große Ansehen bei der politischen Rechten besäße“. Und schließlich bliebe wegen der unklaren Haltung der DVP „jetzt als einziger Weg zur Zusammenarbeit mit den Deutschnationalen nur noch der Übertritt einzelner Wahlkreise, Ortsgruppen oder Einzelpersonen zur Deutschnationalen Partei“. Gleichzeitig setzte sich in der Rheinisch-Westfälischen Arbeitsgemeinschaft der DVP die Forderung nach finanziellen Zwangsmaßnahmen durch, die „im Interesse des gebotenen Zusammenschlusses jetzt unbedingt gegenüber allen beteiligten bürgerlichen Parteien“ ergriffen werden müssten. Als Brandi versuchte, diesen Kurs in der DVP auch durchzusetzen, erlebte er freilich ein Fiasko. Obwohl von Gilsa Ende Januar demonstrativ seinen Übertritt zur DNVP vollzog, folgten ihm seine Parteifreunde nur zögernd. Selbst im Wirtschaftspolitischen Ausschuss der Schwerindustrie innerhalb der DVP, dessen Vorsitzender Brandi war, kam keine Entscheidung zustande, nachdem einzelne Mitglieder Widerstand leisteten. Offenbar war die Meinung weit verbreitet, Hugenberg verlange „die bedingungslose Kapitulation der DVP“. Die in der Partei weit verbreitete „Antipathie“ gegen Hugenberg ließ sich nicht so einfach überwinden, obwohl sich das Wahlvolk „bereits seit langem im Abmarsch nach rechts“ befand.29 Wie sich zeigen sollte, ging der Marsch allerdings nicht in die Richtung der DNVP, sondern direkt ins nationalrevolutionäre Lager der NSDAP. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Behauptung Heinrichsbauers, Brandi habe zu den Schwerindustriellen gehört, die bestimmte Personen in der NSDAP finanziell unterstützt hätten, um dem wirtschaftlichen Sachverstand innerhalb der Partei mehr Gewicht zu geben, sehr an Wahrscheinlichkeit.30 Der Publizist und Lobbyist, der im Dienste der Schwerindustrie stand und unmittelbar Zugang zu führenden Männern der NSDAP hatte, nannte ihn 1948 neben Herbert Kauert (GBAG/VSt) und Ernst Tengelmann (Essener Steinkohlenbergwerke AG/VSt) als einen der Geldgeber, die seit Sommer 1931 Gregor Straßer, Walther Funk und den Essener Gauleiter Josef Terboven durch persönliche Zuwendungen zu stärken suchten. Es soll sich dabei um monatlich „mehrere 1.000.- RM“ für Funk und monatlich 10.000 RM für Straßer gehandelt haben. Offenbar ging es dabei nicht um Mittel des Bergbau-Vereins oder des Zechenverbands, zumal diese bis Anfang 1932 von Hoesch-Generaldirektor Fritz Springorum nach den in dieser Hinsicht strikten Maßstäben der Ruhrlade vergeben wurden. Aber auch danach ist es kaum denkbar, dass Brandi gegen den Willen vieler NS-Gegner unter den Verbandsmitgliedern Mittel für die NSDAP verwendet hätte. Schon gar nicht hätten die fiskalischen Zechen, die Mitglieder des Bergbau-Vereins und des Zechenverbands waren, eine solche Praxis geduldet. Er hat es auch vehement bestritten, als ihn

29 30

abgedruckt in: Ilse Maurer / Udo Wengst (Bearb.), Politik und Wirtschaft in der Krise 1930– 1932. Quellen zur Ära Brüning, Nr. 403, Düsseldorf 1980, S. 1221. Von Gilsa, Sterkrade, an Reusch, Oberhausen, vom 8. Februar 1932, HA/GHH 400 101293/4b, abgedruckt in: ebd., Nr. 423, S. 1269. August Heinrichsbauer, Schwerindustrie und Politik, Essen/Kettwig 1948, S. 40–42.

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der Dortmunder Oberberghauptmann Ernst Flemming im August 1932 nach dem Wahrheitsgehalt entsprechender Gerüchte befragte. Brandi schloss freilich solche Zahlungen nicht gänzlich aus: „Ob und inwieweit einzelne Mitglieder oder Persönlichkeiten sich für diese Bewegung interessieren, das zu prüfen oder zu verhindern, ist nicht Aufgabe des Bergbauvereins oder Zechenverbandes.“31 Dies mochte ein selbstverständlicher Hinweis auf die Grenzen seiner Zuständigkeit gewesen sein, lässt aber auch Raum für Spekulationen über die Rolle der ‚Wirtschaftsvereinigung zur Förderung der geistigen Wiederaufbaukräfte‘, die auch über ungebundene Mittel aus dem Bergbau verfügte. RUHRKOHLE UND POLITIK Zunächst beobachtete Brandi die Ereignisse des Jahres 1933 mit großer Neugier und hoffnungsvoller Erwartung. Seinem Sohn Hermann, der bei der ÖsterreichischAlpine-Montangesellschaft, die zum deutschen Stahltrust gehörte, an seiner Doktorarbeit experimentierte, schilderte er die Lage „im Reich“ mit verhaltener Freude: „Die neue Regierung regiert wirklich, greift durch und sorgt für Ordnung“.32 Vor allem schien Brandis Rechnung aufgegangen sein, die bürgerliche Rechte könnte den Nationalsozialismus im Kabinett ‚einrahmen‘ und durch ihren wirtschaftlichen Sachverstand der ungestümen Machtergreifung Substanz und Seriosität verleihen. Immerhin übernahm Hugenberg das Reichswirtschaftsministerium, das Reichslandwirtschaftsministerium und das Preußische Landwirtschaftsministerium in Personalunion. Die praktische Entmachtung und politische Gleichschaltung des Kabinetts, die nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März eintraten, werden ihm aber nicht entgangen sein. Kein Zweifel, auch er gehörte zu denen, die von den wirtschaftlichen Erfolgen des großen Arbeitsbeschaffungsprogramms der Nationalsozialisten beeindruckt waren, führten sie doch Deutschland als eines der ersten großen Industrieländer aus der Krise heraus.33 Brandi musste allerdings bald erkennen, dass die Schwächung oder Ausschaltung der Gewerkschaften durch das NS-Regime nicht genügte, um die Rückkehr zu den sozialpolitischen Verhältnissen der Vorkriegszeit durchzusetzen. Mit ihrem Entschluss, ausgerechnet am 30. Januar 1933 – aber fast schon routinemäßig – den Manteltarif und die Lohnordnung zu kündigen, manövrierten sich die BergbauArbeitgeber vielmehr zwischen die politischen Fronten. Während die ‚BergbauIndustrie‘, das Organ der Gewerkschaften, dem Zechenverband vorwarf, „reaktionäre Morgenluft“ zu wittern und die neuen machtpolitischen Verhältnisse für sich auszunutzen, fuhr die Gauleitung Essen der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) sogar noch schärferes Geschütz auf. Das Gewerkschaftssurrogat nahm die Kündigung zum Anlass, von Sabotage am nationalen und sozialen 31 32 33

Brandi an Flemming vom 15. August 1932, BArch Koblenz, NL 1231, Bd. 36, Bl. 30. Ernst Brandi an Hermann Brandi, Donawitz (Österreich), vom 11. März 1933, NL Brandi. Werner Abelshauser, Germany. Guns, Butter, and Economic Miracles, in: The Economics of World War II. Six Great Powers in International Comparison, hrsg. v. Mark Harrison, Cambridge (UK) 1998, 2000, S. 122–176.

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Aufbau zu sprechen. Es sah in der neuen tarifpolitischen Kampfansage des Zechenverbands eine Aktion „profitgieriger Aktionäre“, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätten. Jetzt gelte die Devise „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“.34 Erschrocken zog der Zechenverband seine Initiative wieder zurück und verlängerte die bestehenden Verträge mit dem Alten Verband bis Februar 1934. Es dauerte lange und bedurfte der handfesten agitatorischen Nachhilfe durch die SA bis die Bergbau-Führung verstand, dass ‚reaktionäres‘ Verhalten im Sinne der Rückkehr zu den sozialen Verhältnissen der Vorkriegszeit auch im „Dritten Reich“ auf heftigen Widerstand stieß. Auf der symbolischen Ebene hieß dies, dass das eine, die schwarzweiß-rote ‚Reaktion‘, ohne das andere, die braune ‚Revolution‘ des Hakenkreuzes, nicht zu haben war. Da war es ein schwacher Trost, dass Brandi durch eine Verordnung Schachts am 22. Dezember 1934 die Führung der Bezirksgruppe Ruhr der Fachgruppe Steinkohlenbergbau übernahm, die wiederum der Hauptgruppe I (von VII) der gewerblichen Wirtschaft angehörte. Dies geschah nämlich zu einem Zeitpunkt, als der bisherige Leiter der Hauptgruppe I, Gustav Krupp, den Reichswirtschaftsminister gerade zum zweiten Mal und schließlich erfolgreich gebeten hatte, ihn wegen „Arbeitsüberlastung“ von seinem Amt zu entbinden. Brandi trat also in eine Organisation der Wirtschaft ein, die Krupp gerade verlassen hatte, weil er dort keinen Bewegungsspielraum für autonome unternehmerische Interessenpolitik mehr sah. Auch wenn er dem Sozialwirtschaftlichen Ausschuss der Reichsgruppe Industrie angehörte, im Beirat der Wirtschaftsgruppe Bergbau saß, in zahlreichen Gemeinschaftsorganisationen des Ruhrbergbaus aktiv mitarbeitete und in einem Dutzend Aufsichtsräten Einfluss nahm, musste auch Brandi erkennen, dass die Zeit relativ autonomer unternehmerischer Interessenvertretung vorbei war. Diese Erkenntnis und anhaltende Querelen mit der Gauleitung brachten ihn dazu, im April 1937 Wirtschaftsminister Schacht zu bitten, ihn von der Leitung der Bezirksgruppe Ruhr zu entbinden. Als Grund gab er – wie Krupp – Arbeitsüberlastung an. Dies war auch in seinem Fall eine wenig stichhaltige Argumentation, weil er in seinen ‚interessenpolitischen‘ Aufgaben durch die vom neuen Regime geschaffene, staatskorporative Organisation der Wirtschaft ja gerade gründlich ‚entlastet‘ worden war. Auch an seiner sonstigen beruflichen Situation hatte sich wenig geändert. 1933/34 entstand im Zuge einer Neuorganisation im Rahmen der Vereinigten Stahlwerke die GBAG wieder als selbständiges Unternehmen des Kohlenbergbaus. Brandi blieb aber nach wie vor für die Dortmunder Gruppe des neuen alten Unternehmens mit ihren 20.000 Beschäftigten verantwortlich. Zum Zeitpunkt seines Rücktritts waren auch noch keine Anzeichen seiner Krankheit zu erkennen. Er hatte die Arbeitsüberlastung wohl nur vorgeschoben, um zu verschleiern, dass er gezwungenermaßen oder aus eigenem Antrieb die Konsequenz aus seinem zerrütteten Verhältnis zur Partei zog. Der Machtverlust der Bergbauunternehmer schlug sich auch in ihrer personellen Repräsentation nieder. Am 22. Oktober 1937 starb Ernst Brandi. Eine Woche zuvor war er mitten in der Arbeit zusammengebrochen. Die Trauerfeier in der Grubenverwaltung und auf dem Dortmunder Hauptfriedhof versammelte zahlreiche Repräsentanten der Ruhr34

Querschüsse des Zechenverbands? National-Zeitung Nr. 41 vom 11. Februar 1933.

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industrie, darunter Albert Vögler, Fritz Thyssen und Gustav Knepper mit dem gesamten Vorstand der GBAG. Politische Töne waren nicht zu hören. Dies spiegelte die Haltung des Verstorbenen wieder, die er dienstlich und außerdienstlich vertrat. Es blieb Albert Vögler vorbehalten, auf seine Grenzen hinzuweisen. Vielleicht war es der Kontrast zu seiner eigenen politischen Beweglichkeit, der Vögler an Brandis Persönlichkeit faszinierte. Seine Pläne und Ideen, so der Konzernchef, waren nicht immer leicht mit den Möglichkeiten in Einklang zu bringen: „Dann konnte er hart werden und schroff.“ Und in einer für eine Trauerrede bemerkenswerten Offenheit räumte er ein, dass Brandis „sehnlichster Wunsch“, die erfolgreiche Zusammenarbeit „trotz der veränderten Verhältnisse“ fortzusetzen, nicht in Erfüllung ging: „Und daß dieses von ihm so heiß ersehnte Ziel nicht immer erreicht wurde, das hat ihn in seinen letzten Jahren oft bitter geschmerzt. Ernst Brandi stand in seinem Streben nach Klarheit, nach Wahrheit immer in der ersten Front, und die ist immer heftig umstritten. Und so wurde auch er zu einer umstrittenen Persönlichkeit, aber nur für die, die ihn nicht kannten.“35 DAS ENDE DER ILLUSION Der Wandel in Brandis Denken und Handeln kam nicht von ungefähr. Nachdem er unter dem Eindruck der dramatischen äußeren Ereignisse und des wirtschaftlichen Paradigmenwechsels im Ruhrbergbau an der Wirksamkeit der alten Spielregeln zu zweifeln begann, konnte er auf jene lebensgeschichtlich akkreditierten Handlungsvarianten zurückgreifen, die ihm zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein förderte eine extrem voluntaristische Weltsicht. Sie legte dem zur bergmännischen Standeselite Berufenen nahe, Probleme unter Einsatz von Willensstärke zu lösen und sich dabei – selbst in Zweckmäßigkeitsfragen – einig mit dem göttlichen Willen zu wissen. Da blieb wenig Platz für Kompromisse oder Opportunismus. Diese Gradlinigkeit und Klarheit des Denkens machten ihn in den eigenen Reihen unanfechtbar, grenzten aber auch immer wieder an Unbeweglichkeit und Selbstüberschätzung, die ihn als Interessenvertreter des Bergbaus umso angreifbarer werden ließen. Diese charakterliche Disposition machte aber nach 1933 den Unterschied aus, weil sie Brandi daran hinderte, sich – wie die meisten seiner Kollegen – der neuen Lage anzupassen. Sein Ritt auf dem Tiger, in der Absicht das Regime doch noch im Sinne konservativer, bürgerlicher Werte zu zähmen, endete für ihn persönlich im Fiasko. Brandis Bereitschaft, in den veränderten Verhältnissen die Erfüllung lange gehegter Wünsche zu sehen, war groß, stieß bald auf unauflösbare Widersprüche. An seiner beruflichen Praxis hatte die ‚Machtergreifung‘ wenig geändert. Marktwirtschaft gehörte weder vorher noch nachher zu den institutionellen Rahmenbedingungen des Kohlenbergbaus. Brandis starke wirtschaftsliberale Überzeugung wurzelte weniger in dem Verlangen, im Wettbewerb auf freien Märkten zu operieren. Im Ge35

Ansprache von Generaldirektor Dr. Albert Vögler, in: Sonderausgabe der „Zechenzeitung“ der GBAG, Gruppe Dortmund, Nr. 23 vom 10. November 1937, S. 10.

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genteil: wie die meisten seiner Kollegen aus der Schwerindustrie sah er das Prinzip Freiheit in der Autonomie und Selbstverwaltung der Wirtschaft gewahrt, auch wenn diese Organisationsweise in der Regel dazu diente, den Wettbewerb zu regulieren oder ganz auszuschalten. Die Durchsetzung der unternehmerischen Autonomie gegen Mitbestimmungsansprüche der Gewerkschaften und der Politik stand daher im Mittelpunkt der Revisionsforderungen gegen den ‚historischen Kompromiss‘ der auf Kooperation von liberalem Unternehmertum und organisierter Arbeit gegründeten Weimarer Republik. Gerade in diesem Kernpunkt liberal-konservativer Wirtschaftsideologie erwies sich das „Dritte Reich“ freilich als äußerst intransigent. Unter demokratischen Verhältnissen war es den Wirtschaftsverbänden nicht immer gelungen, den Primat der Wirtschaft durchzusetzen. Jetzt ließ das Regime keinen Zweifel daran, wer die Grenzen unternehmerischer Autonomie bestimmte: der nationalsozialistische Staat. Nicht nur waren die Verbände gleichgeschaltet; auch die Unternehmen selbst genossen private wirtschaftliche Freiheit nur insoweit, als sie bereit waren, diszipliniert den Forderungen der Staatsführung Rechnung zu tragen. Soweit wäre Brandi den Weg der neuen Herren mitgegangen. Auch er ordnete im Prinzip das private dem allgemeinen Interesse unter und erkannte den Primat des Staates an. Dies änderte freilich nichts an seiner entschiedenen Ablehnung jeder Einflussnahme durch – aus seiner Sicht – sachfremde Überlegungen und unfachmännische Funktionäre. In der von ihm so empfundenen Vorherrschaft der Gewerkschaften hatte er den Krebsschaden der Weimarer Republik gesehen – und doch standen ihm gerade in der korporativen Interessenpolitik Mittel und Wege zur Verfügung, den Einfluss der Gewerkschaften weitgehend zu neutralisieren. Die Erfolge des Verbandsfunktionärs beruhten nicht zuletzt darauf, dass er die Instrumente wirtschaftlicher Interessenpolitik, bis an die Grenze der politischen Korruption, virtuos handhabte und das verfassungsrechtliche Umfeld von Weimar dies auch zuließ. Offenbar war es Brandi sogar gelungen, den Bergbau-Verein dazu zu instrumentalisieren und die Operation vor den Augen der Mitglieder kunstvoll zu verschleiern. Jedenfalls räumte er, als er in die Defensive geraten war, dieses Vorgehen ein, um seinen Anteil am Aufstieg der NSDAP hervorzuheben. Tatsächlich ging es Brandi aber nie um die Hitler-Bewegung selbst. Als Mann der bürgerlichen Rechte wollte er – gerade auch gegen die revolutionäre Rechte – die eigenen Bataillone stärken, um das System von Weimar in seinem Sinne zu verändern.

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Werner Abelshauser

WEITERFÜHRENDE LITERATUR Abelshauser, Werner, Gustav Krupp und die Gleichschaltung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 1933–34, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2002), S. 3–26. Abelshauser, Werner, Ruhrkohle und Politik. Ernst Brandi 1875–1937. Eine Biographie, Essen 2009. Abelshauser, Werner/Himmelmann, Ralph (Hrsg.), Revolution in Rheinland und Westfalen. Quellen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Politik 1918–1923, Essen 1988. Chronik des Hauses Hermann Brandi, zusammengestellt von Dirk Rogge, maschinenschr. Manuskript, Göttingen 1990. Dascher, Ottfried, Der Westfälische Industrieklub Dortmund – Tradition und Wandel im 20. Jahrhundert, Dortmund 2008. Dein Ernst – Dein Clärchen. Eine starke Ehe im 20. Jahrhundert. Briefe und Aufzeichnungen aus dem 1. Weltkrieg, zusammengestellt von Hedi Mauritz, Privatdruck, Neu Isenburg 2005. Frese, Matthias, Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933–1939, Paderborn 1991. Heinrichsbauer, August, Schwerindustrie und Politik, Essen/Kettwig 1948. Milert, Werner/Tschirbs, Rudolf, Zerschlagung der Mitbestimmung 1933. Das Ende der ersten deutschen Betriebsdemokratie, hrsg. von der Hans Böckler Stiftung Düsseldorf 2013. Plumpe, Werner, Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur chemischen Industrie, München 1999. Przigoda, Stefan, Unternehmensverbände im Ruhrbergbau. Zur Geschichte von Bergbau-Verein und Zechenverband 1858–1933, Bochum 2002. Reckendrees, Alfred, Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A. G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000. Seidel, Hans Christoph, Bergbauelite und Parteielite. Der Rücktritt Ernst Brandis vom Vorsitz der Bezirksgruppe Steinkohlenbergbau Ruhr im Juni 1937, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2010), S. 3–30. Tschirbs, Rudolf, Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918–1933, Berlin/New York 1986. Unverferth, Gabriele, Artikel „Brandi“, in: Biographien bedeutender Dortmunder, Bd. 1, Dortmund 1994, S. 15. Weisbrod, Bernd, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978. Wisotzky, Klaus, Der Ruhrbergbau im Dritten Reich. Studien zur Sozialpolitik im Ruhrbergbau und zum sozialen Verhalten der Bergleute in den Jahren 1933 bis 1939, Düsseldorf 1983.

PAUL SILVERBERG (1876–1959) – POLITISCHER UNTERNEHMER WIDER WILLEN? Boris Gehlen Der rheinische Braunkohlenindustrielle Paul Silverberg (1876–1959) gehörte rein formal betrachtet zu den erfolgreichsten Unternehmern der Weimarer Republik. Die von ihm geleitete Rheinische AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation (RAG) trotzte wie kaum ein anderes Unternehmen der permanenten Weimarer Wirtschaftskrise, erwirtschaftete beständig Gewinne, hielt hohe Barreserven und schüttete selbst in der Weltwirtschaftskrise noch Dividenden von zehn Prozent und mehr an die Aktionäre aus. Doch Silverberg selbst mochte retrospektiv weder in der Krisenresistenz der RAG noch in seinen übrigen unternehmerischen Tätigkeiten, vornehmlich in den Aufsichtsräten deutscher Großunternehmen, seine wichtigsten Leistungen erblicken. Vielmehr nannte er die Abwendung der Sozialisierung von Grundstoffindustrien 1918/20 und die Umwandlung der Bank für deutsche Industrieobligationen in ein Kreditinstitut zur Umschuldung der ostelbischen Landwirtschaft und mittelständischer Industrieunternehmen 1929 bis 1932 als Höhepunkte seines Schaffens.1 Diese biographische Selbstkonstruktion, 1951 anlässlich seines 75. Geburtstages ausgesprochen, lässt sich in mehrfacher Hinsicht nutzen, um den Unternehmer Silverberg während der Weimarer Zeit zu beschreiben: Erstens sei sein Handeln nicht auf sein Kernunternehmen beschränkt gewesen, zweitens sei es auch ihm zu danken, dass in politischen Krisenzeiten freies Unternehmertum und kapitalistische Marktwirtschaft erhalten blieben, und damit habe er sich, so der Subtext, drittens selbstlos für Nationalstaat und Republik eingesetzt. Dies lässt sich, viertens, zugleich als subtile Abrechnung mit jenen Unternehmern deuten, die ihn um die Jahreswende 1932/33 durch eine Intrige aus der RAG gedrängt und seine Unternehmerkarriere beendet hatten: Friedrich Flick2, Fritz Thyssen und Albert Vögler. Zuvor freilich hatte Silverberg eine nahezu unangefochtene Spitzenstellung in der deutschen Wirtschaft besessen, die im Wesentlichen aus seinem Wirken in der Weimarer Zeit resultierte. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatte er sich „lediglich“ den Ruf des – lokal begrenzten – rheinischen „Braunkohlenkönigs“ erarbeitet.3 Der jüdisch-stämmige Silverberg war eher zufällig Unternehmer geworden. Er hatte ursprünglich eine Beamtenlaufbahn angestrebt, war deshalb 1895 zum Protestantismus konver1 2 3

Ansprache Silverbergs zu Anlass der Ehrungen zu seinem 75. Geburtstag, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/201. Zu Friedrich Flick vgl. den Beitrag von Tim Schanetzky in diesem Band. Felix Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer, 15., erw. Aufl., Charlottenburg 1925, S. 308.

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tiert, hatte sich freiwillig zum Offizier ausbilden lassen und schließlich in München sowie Bonn Rechtswissenschaft studiert. 1902 wurde er in Bonn zum Dr. iur. promoviert und beabsichtigte, sich zu habilitieren. Als sein Vater, der Bedburger Unternehmer Adolf Silverberg, 1903 überraschend starb, trat Paul Silverberg – nach einigem Zögern – dessen Nachfolge als Generaldirektor der Fortuna AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation an. Dort griff er Ideen seines Vaters auf und setzte sie konsequent um. Er erweiterte 1908 die Fortuna AG durch Fusion mit den Braunkohleunternehmen Gruhl und Donatus zur RAG und sicherte derart die langfristige Ertragsfähigkeit des Unternehmens. Durch die zunehmende Technisierung des Abraums im Tagebau und der Brikettierung war das Größenwachstum eine geeignete Strategie, um Skaleneffekte zu erzielen und die Stückkosten zu verringern. Dies war eine Voraussetzung, um im Wettbewerb zu bestehen, den die rheinische Braunkohle besonders mit der Ruhr-Steinkohle austrug. Neben der Produktion von Braunkohlenbriketts, die vorwiegend in Privathaushalten verheizt wurden, eignete sich der Rohstoff besonders dafür, elektrische Energie herzustellen. 1910 handelte Silverberg daher für die RAG mit der Stadt Köln einen Stromliefervertrag über 30 Jahre aus, der 1912 in Kraft trat, nachdem die RAG die entsprechenden Braunkohlenkraftwerke errichtet hatte. Die Produktion von Elektrizität war ein wachstumsstarkes Segment, das es der RAG ermöglichte, mit geringerem Rohstoffeinsatz höhere Erträge zu erzielen als bei der Brikettierung. Doch Silverberg nutzte nicht nur die Chancen, die sich aus verbesserten bzw. neuen Verwertungsmöglichkeiten für die Braunkohle ergaben, sondern er strukturierte über den Braunkohlen-Brikett-Verkaufsverein bzw. seit 1914 das Rheinische Braunkohlen-Syndikat auch die Marktstrukturen maßgeblich mit. Sein Ziel war es dabei besonders, der Marktmacht des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats mit einer wirkungsvollen Organisation entgegenzutreten. Er übernahm 1914 den Vorsitz im Aufsichtsrat des Braunkohlensyndikats und sukzessive weitere Spitzenpositionen in den Organisationen und Verbänden des rheinischen Braunkohlenbergbaus, die er schließlich seit 1917 allesamt bekleidete. Diese regionale und brancheninterne Führungsrolle bildete den Ausgangspunkt für das politische Unternehmertum Silverbergs seit 1918, als die vielfältigen institutionellen Neuerungen, die Modernisierung der industriellen Beziehungen, der Wandel des ökonomischen Staatsverständnisses und die außenwirtschaftlichen Verschiebungen, um nur einige zu nennen, eine Ausdehnung unternehmerischer Tätigkeiten in den politischen Raum nahezu erzwangen. Dass Silverberg während der Weimarer Zeit einer der politisch sichtbarsten Unternehmer war, ist ursächlich auf zwei Faktoren zurückzuführen. Erstens entsprach dies – hierin seinem einflussreichsten akademischen Lehrer, dem Nationalökonomen Lujo Brentano, folgend – dem unternehmerischen Selbstverständnis Silverbergs, das dem privaten Unternehmer eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zuschrieb. Zweitens war Silverberg in der äußerst luxuriösen Position, dass er als Unternehmer in der krisenresistenten RAG nicht in dem Maße gebraucht wurde wie viele seiner Standesgenossen. Während zahlreiche andere Unternehmen in der Weimarer Zeit mit Überkapazitäten, zu hohen Produktionskosten oder dem Wegfall von Patenten und/oder ausländischen Märkten zu kämpfen hatten, profitierte die

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RAG vom Aufschwung der Elektrizitätswirtschaft und von den Schwierigkeiten des Steinkohlebergbaus an der Ruhr, die nicht zuletzt durch Steinkohlereparationslieferungen an die Alliierten und den „Ruhrkampf“ hervorgerufen worden waren. In die derart entstandenen energetischen Versorgungslücken drang die Braunkohle und mit ihr die RAG vor. In der gesamten Weimarer Zeit traf Silverberg nur eine, im engsten Sinne unternehmensstrategische, Entscheidung. Bereits 1920/21 hatte er einen – unternehmerisch allerdings wenig sinnvollen – Versuch unternommen, bei Thyssen einzusteigen, und war bei August Thyssen4 auf Ablehnung gestoßen. Hierbei war offensichtlich in erster Linie Silverbergs persönlicher Ehrgeiz, in das Machtzentrum der deutschen Industrie vorzustoßen und zu den Ruhrindustriellen dazuzugehören, handlungsleitend gewesen. Dieses Ziel erreichte er schließlich 1924. Seitdem stieg die RAG sukzessive beim größten selbständigen Steinkohlenproduzenten an der Ruhr – der Dortmunder Harpener Bergbau AG – ein und sanierte das Unternehmen u. a. mit finanziellen Mitteln aus eigenen Gewinnen. Bis 1932 erwarb die RAG gut 40 Prozent des Harpen-Aktienkapitals und hielt somit die faktische Mehrheit in der Generalversammlung. Mit dem Einstieg bei Harpen, über den Silverberg den Aufsichtsrat der RAG übrigens erst etliche Monate nach den Aktienkäufen informierte, verfolgte der Braunkohlenindustrielle das Ziel, einen langfristigen rheinisch-westfälischen Energieverbund aufzubauen, der auf Stein- und Braunkohle basierte. Im Zuge des Einstiegs bei der Harpener Bergbau AG, deren Aufsichtsrat Silverberg seit 1927 vorsaß und dessen Modernisierung er von dieser Position aus maßgeblich mitorganisierte, zog der Unternehmer sich formal von der Leitung der RAG zurück und wechselte vom Posten des Generaldirektors auf den des Aufsichtsratsvorsitzenden. Seitdem leitete er die RAG präsidial. Er hatte sich zwar die ungewöhnliche Generalvollmacht verbriefen lassen, auch als Aufsichtsratsvorsitzender jederzeit und überall rechtsverbindlich für die Gesellschaft handeln zu dürfen, doch musste er von diesem Recht nie Gebrauch machen: Die Zusammenarbeit mit dem neuen Generaldirektor, Gustav Brecht, verlief reibungslos. Gleichwohl zeigt sich an dieser Bestimmung, dass er auf sein unternehmerisches Letztentscheidungsrecht nicht verzichten wollte. Sowohl bei der RAG als auch bei Harpen reichten ihm die Mandate im Aufsichtsrat, um die Strategie der Unternehmen und des Verbunds zu bestimmen. Diese starke Komponente der persönlichen Handlungsfreiheit hatte bei Silverberg Methode: Die Qualität eines Unternehmers zeigte sich in seinen Augen zum einen in der Fähigkeit, Konflikte im Unternehmen bzw. in der Unternehmensleitung zu moderieren, zum anderen und mehr noch in der Qualität seiner Entscheidungen. Seine Verfügungsmacht resultierte nicht nur im Selbstbild aus seiner personalen Autorität und einem gleichsam gemeinwohlwirksamen Schaffen des Unternehmers, sondern diese elitäre Überhöhung des Unternehmers als Gestalter der Gesellschaft verfocht Silverberg auch mit bemerkenswerter Konsequenz in seinen unternehmerischen Handlungen selbst. Er ließ sich im Wesentlichen von zwei Prämissen leiten: Erstens verstand er den Unternehmer als Moderator eines „Unternehmens an sich“ und folglich als dessen 4

Zu August Thyssen vgl. den Beitrag von Jörg Lesczenski in diesem Band.

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Sachwalter. Der langfristige Unternehmenserfolg sollte bei der Formulierung der strategischen Ziele der alleine gültige Maßstab sein, dem sich partikulare Eigentümer- und Arbeitnehmerinteressen, wie sie etwa in Dividenden- und Lohnforderungen zum Ausdruck kommen konnten, unterzuordnen hätten. Um die Aufgabe des Sachwalters des „Unternehmens an sich“ wahrnehmen zu können, schien es, zweitens, notwendig, dem Unternehmer ein hohes Maß an Entscheidungsautonomie zuzugestehen, das nicht zuletzt durch eine hohe Kreditwürdigkeit des Unternehmens sichergestellt werden sollte. Daher war es für Silverberg auch selbstverständlich, enge Kontakte zu den Banken zu pflegen, so besonders zu den Hausbanken der RAG: Sal. Oppenheim und Deutsche Bank. Silverberg gehörte zu den Verfechtern enger Industrie-Bank-Beziehungen, die den deutschen Kapitalismus lange prägten. In öffentlichen Debatten hob er den Wert der Beratung durch erfahrene Bankiers für die Führung von Großunternehmen hervor und verteidigte die aktienrechtlich implizierte Rolle der Bankiers in Aufsichtsräten mit Nachdruck.5 Sein vertrauensvolles Verhältnis namentlich zur Deutschen Bank ging den Zeitgenossen bisweilen zu weit. Beispielsweise bat Max Warburg ihn 1932 anlässlich der Sanierung von Hapag und Lloyd, er möge die „von Ihnen heiß geliebten Banken und Bankfirmen“ vorerst nicht informieren.6 Silverberg schätzte besonders die finanzielle Expertise der Bankiers und verwendete sich im Gegenzug auch für ihre Interessen. So ließ es sich Franz Urbig7 von der Deutschen Bank nicht nehmen, Silverberg zu dessen unfreiwilligem Abschied aus dem Aufsichtsrat der Bank 1934 möglicherweise etwas überpointiert, aber doch sachgerecht mit auf den Weg zu geben, „welchen Wert für die Bank Ihre beratende Mitarbeit hatte, die aus einer umfassenden Kenntnis von Menschen und Dingen auf dem Gebiete unseres Wirtschaftslebens floss“.8 Bezeichnenderweise hatte Silverberg beispielsweise im Vorfeld der Fusion der Deutschen Bank mit der Discontogesellschaft vermittelt und derart seinen Anteil an der Fusion. Als in ihrer Folge Robert Pferdmenges keine Spitzenposition bei der fusionierten Bank besetzten konnte, riet Silverberg ihm zum Einstieg bei Sal. Oppenheim. Gemeinsam wickelten sie nach dem Tod Louis Hagens9 1932 auch dessen Bankhaus A. Levy ab, dem Silverberg bereits zuvor als Teilhaber beigetreten war. Sein Wort hatte in der Finanzwelt einiges Gewicht, er galt zwischenzeitlich gar als Kandidat für den prestigeträchtigen Generalrat der Reichsbank. Daher verwundert es nicht, dass die Presse Silverberg nach seinem Abschied von der RAG im März 1933 künftig als Bankier sah. Dazu kam es zwar nicht mehr, doch diese enge Verbindung von Industrie und Banken sowie die Hochschätzung unternehmerischer Dispositionsfreiheit zum Wohle des Unternehmens waren fraglos die auffälligsten Konstanten im Wirken des Kölner Industriellen. Seine selbstgewählten Prämissen bildeten gewissermaßen Silverbergs Handlungsideal für die Innenbeziehungen von Unternehmen. Verstärkt nach 1918 war 5 6 7 8 9

Bankdirektoren als Aufsichtsräte, in: Plutus 17 (23. April 1910), Bundesarchiv (BArch) Koblenz N 1013/701. Warburg an Silverberg vom 26. Januar 1926, BArch Koblenz N 1013/700, Bl. 21. Zu Franz Urbig vgl. den Beitrag von Martin Müller in diesem Band. Urbig an Silverberg vom 23. März 1934, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/201. Zu Louis Hagen vgl. den Beitrag von Ulrich S. Soénius in diesem Band.

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sein strategisches Geschick freilich auch außerhalb, aber zum Wohl des Unternehmens, gefordert. Dies hing ursächlich mit den spezifischen Bedingungen der Kohlen- und Elektrizitätsmärkte zusammen. Nach den Vorstellungen zahlreicher revolutionärer politischer Kräfte, die bis weit in die Sozialdemokratie hineinwirkten, sollten beide Schlüsselindustrien nach 1918 verstaatlicht werden. Diese Sozialisierungsbestrebungen trafen bei den bislang privat geführten Unternehmen auf erheblichen Widerstand. Silverberg wirkte maßgeblich an der Politisierung des Unternehmertums mit und avancierte neben dem von ihm hoch geschätzten Hugo Stinnes10 zu einem Wortführer in der Sozialisierungsdebatte. Nicht zuletzt dem gemeinsamen Wirken von Stinnes und Silverberg war es zu verdanken, dass die Verstaatlichung von Elektrizitätswirtschaft und Kohlenbergbau unterblieb, auch wenn die Branchen fortan stärker staatlich reguliert waren als noch im Kaiserreich. Ihre politische Kooperation, die sich im Rahmen der Rhein-Ruhr-Besetzung wiederholte, als beide u. a. mit Konrad Adenauer Auswege durch Verhandlungen mit französischen Industriellen und Politikern suchten, hatten Silverberg und Stinnes auf unternehmerischer Ebene abgesichert. 1920 hatten Silverberg für die RAG und Stinnes für das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE) eine weitgehend informelle, aber von beiden Seiten als verbindlich betrachtete Kooperation abgeschlossen, Einflussbereiche demarkiert und sich generell zugesichert, das Verhalten der Unternehmen künftig eng abzustimmen. Dieses freundschaftsbasierte Kartell strukturierte fortan die private bzw. im Fall des RWE gemischtwirtschaftliche rheinisch-westfälische Elektrizitätspolitik mit, jedenfalls bis zum Tod von Hugo Stinnes 1924. Doch auch danach fühlte sich Silverberg dem RWE – seit 1926 in seiner Funktion als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender – verpflichtet und vermittelte beispielsweise in strittigen Fragen zwischen dem Essener Konzern und der preußischen Regierung. Die Elektrizitätspolitik war in den Weimarer Jahren ein beständiges wirtschaftspolitisches Konfliktfeld, das Zeitgenossen vom „Elektrokrieg“ sprechen ließ und das erst 1935 durch das Energiewirtschaftsgesetz dauerhaft befriedet wurde. Für die Unternehmer bedeuteten die staatlichen Steuerungsansprüche, die sich aus der Logik einer gemeinwohlorientierten Elektrizitätsversorgung (und fiskalischer Interessen) ergaben, freilich eine permanente Infragestellung des Status quo. Das RWE war davon weit stärker betroffen als Silverbergs RAG, da es eine umfangreiche Expansionsstrategie verfolgte und damit als Konkurrent staatlicher Elektrizitätsproduzenten auftrat. Silverberg hatte die RAG hingegen bereits 1916 auf eine andere Strategie festgelegt. Sie basierte auf den Kostenvorteilen der Braunkohlenverstromung – Strom aus Braunkohle war bis zu einem Drittel günstiger als aus anderen Energieträgern – und sollte durch optimale Ausnutzung der Kapazitäten, geringerem Kapitaleinsatz als Folge geringerer Investitionen in Übertragungsnetze und der Beschränkung auf ausgewählte kommunale und industrielle Kunden die dauerhafte Ertragskraft sichern. Der wichtigste kommunale Kunde der RAG war die Stadt Köln. Zwar war Paul Silverberg mit dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer seit Studien10

Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band.

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tagen bekannt und gehörte zu dessen freundschaftlich gesinnten Beraterkreis, aber sobald es um die Konditionen der Stromlieferungen ging, wurden beide zu harten Verhandlungspartnern in jeweils eigener Sache. Adenauer forderte mehrfach die Reduktion der Einkaufspreise. Silverberg kam ihm aber nur soweit entgegen wie er es für unternehmerisch vertretbar hielt. Er war durchaus bereit, einen Teil der Rationalisierungseffekte an die Kunden weiterzugeben, sträubte sich aber dagegen, die aus seiner Sicht verfehlte städtische Haushaltspolitik aus Mitteln eines privaten Unternehmens zu subventionieren. Schließlich beziehe, so hatte Silverberg Adenauer bereits 1920 mit auf den Weg gegeben, die Stadt Köln bereits den „billigsten Strompreis der Welt“.11 Diese Haltung war für einen Privatunternehmer gewiss nicht außergewöhnlich. Sie zeugt aber von einem wesentlichen Charakterzug bzw. einer Grundüberzeugung Silverbergs. Ökonomische Akteure, zu denen er auch den Fiskus zählte, standen in ausgeprägtem Wettbewerb, und in diesem „Wirtschaftskampf“ sollte jeder Akteur aus eigener Kraft bestehen können. Dieses zutiefst wettbewerblich und wirtschaftsliberal geprägte Ideal war bei Silverberg – anders als bei vielen seiner Unternehmerkollegen – freilich nicht bloßes Lippenbekenntnis. Er kritisierte nicht nur, wo er konnte, die Subventionspolitik des Weimarer Staates und hielt den „garantierten Kapitalismus“ generell für fatal, sondern handelte auch nach dieser Prämisse: Programmatisch verpflichtete er beispielsweise als Aufsichtsratsvorsitzender der AG für Bergbau, Blei- und Zinkfabrikation zu Stolberg und in Westfalen (Stolberger Zink) deren Vorstand, angebotene Subventionen „der öffentlichen Hand grundsätzlich abzulehnen […] mit der Begründung, dass die Gesellschaft sich nicht in die Reihe der Betriebe, die Staatshilfe annehmen, stelle aus der prinzipiellen Erwägung heraus, dass unwirtschaftliche, unrentable Betriebe nicht geschützt werden sollten im Interesse des Staates, der Staatsordnung, der Staatsfinanzen und einer vernünftigen Wirtschaftsführung“.12 Silverberg fiel eine solche prinzipientreue Haltung, die bei seinen Unternehmerkollegen nicht immer auf Gegenliebe stieß, vergleichsweise leicht, da er aus eigener Erfahrung keine strukturellen Unternehmensprobleme kannte. Doch die Klarheit seines Urteils und das Prinzip, nur im Interesse des Unternehmens zu handeln, für das er ein Mandat ausübte, machten ihn zugleich zu einem gefragten Ratgeber und Sanierer. Noch in seiner Zeit als Generaldirektor der RAG hatte Silverberg in der Stabilisierungskrise seit 1924 mitgeholfen, zwei sanierungsbedürftige Unternehmen maßgeblich umzustrukturieren: die kleine Bedburger Wollindustrie AG und den gigantischen Stinnes-Konzern. In beiden Fällen waren persönliche Beziehungen ausschlaggebend gewesen. Die Bedburger Wolle war eine Gründung seines Vaters, und Silverberg hatte 1915 vornehmlich aus familiärer Verpflichtung den Vorsitz im Aufsichtsrat des Unternehmens übernommen, obwohl er kein ausgewiesener Kenner der Textilbranche war. Er ließ sich daher bei der Sanierung des Unternehmens von seinem Cousin Ernst Schönbrunn beraten, der ihm Kontakte in die Mön11 12

Silverberg an Adenauer vom 2. Januar 1920, HAStK 902/227/1, Bl. 43–49. Aktennotiz betr. Stolberger Zink vom 11. Januar 1930, BArch Koblenz N 1013/475, Bl. 11.

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chengladbacher Textilindustrie vermittelte. Silverberg stellte durch die RAG einen Kredit bereit und bestimmte die maßgeblichen finanziellen Grundsatzfragen, z. B. anlässlich der Goldmarkeröffnungsbilanz. Er geriet allerdings mit den großen Aktionären, zu denen er selbst nicht zählte, immer häufiger aneinander und so bot ihm die Fusion der Bedburger Wolle mit einem Mönchengladbacher Unternehmen den Anlass, sich aus der Textilindustrie bzw. dem einstmals väterlichen Unternehmen zurückzuziehen. Waren seine Ideen bereits bei der Bedburger Wolle auf Widerstand gestoßen, konnte er sich auch bei der Sanierung des Stinnes-Konzerns, die nach dem Tod seines Freundes Hugo Stinnes 1924 notwendig wurde, nicht gegen die Interessen der Anteilseigner, besonders jene von Hugo Stinnes jr., durchsetzen. Silverberg war für die Abwicklung der Kohlen- und Energiebeteiligungen zuständig und teilte sich die große Aufgabe, das Konglomerat von über 1.500 Unternehmen zukunftsfähig zu machen, vor allem mit Albert Vögler13 und Franz Witthoeft. Sein Ziel war es, über den raschen Verkauf wertvoller Betriebe die Zahlungsfähigkeit zu verbessern, um einen größeren unternehmerischen Handlungsspielraum zu erlangen. Dies missfiel Hugo Stinnes jr. besonders deshalb, weil auch die Zeche Matthias Stinnes veräußert werden sollte, das traditionelle Herzstück des Familienunternehmens. Er entschied den Konflikt mittels seiner Eigentumsmacht schließlich für sich und sanierte selbst erfolgreich das Kohlengeschäft. Silverberg hatte sein formales Mandat zwischenzeitlich aus Verärgerung über die Alleingänge von Stinnes jr. niedergelegt, der Familie aber weiterhin als Berater zur Verfügung gestanden. Durch beide Sanierungsfälle hatte Silverberg bereits 1925/26 den größten Teil seiner Arbeitszeit außerhalb des eigenen Unternehmens verbracht – wenngleich mit mäßigem Erfolg. Besonders sein Engagement bei der Stinnes-Sanierung war dabei durchaus programmatisch für die gleichsam zweite Unternehmerkarriere Silverbergs, die sich weitgehend außerhalb der RAG und der angestammten Branchen Braunkohlenbergbau und Elektrizitätsproduktion vollzog: Er avancierte als Berater, Sanierer, „Big Linker“ und Verbandsfunktionär zu einem der bestvernetzten und einflussreichsten Unternehmer der Weimarer Zeit. Sichtbarstes Indiz hierfür war der Anstieg seiner Verwaltungs- und Aufsichtsratsmandate von 33 (1926) auf 61 (1931). Darunter befanden sich die Gremien einiger der größten und namhaftesten deutschen Unternehmen, z. B. der Deutschen Bank, der Gelsenkirchener Bergwerks AG, der Metallgesellschaft, der Mitteldeutschen Stahlwerke, des RWE, der Siemens-Schuckertwerke AG, der Deutschen Reichsbahn und nicht zuletzt der Vereinigten Stahlwerke AG. Im Vorfeld ihrer Gründung hatte er ebenso seinen Rat erteilt wie vor jener der IG Farben, obwohl er solchen ökonomischen Machtballungen prinzipiell skeptisch gegenüberstand. Als Reaktion auf die veränderte Wettbewerbssituation und besonders zum Zweck der Rationalisierung konnte er sich jedoch mit ihnen arrangieren. Seine zahlreichen Mandate dienten nicht ausschließlich der Pflege von Geschäftsbeziehungen, wie es den Multiaufsichtsräten der Weimarer Zeit häufig vorgeworfen wurde, sondern durch Rat und Tat wurde er auch unternehmerisch tätig: 13

Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band.

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Auf Wunsch der Deutschen Bank beteiligte sich Silverberg beispielsweise bei der Sanierung der Universum Film AG, und die Bank selbst optimierte auf seine Vorschläge hin die Abläufe im Aufsichtsrat. Bei der Deutschen Reichsbahn hatte er – noch ohne offizielles Mandat – erfolgreich auf eine Verbesserung des Rechnungswesens hingewirkt und für die Vereinigten Stahlwerke in Steuerangelegenheiten vermittelt. Weitere Beispiele ließen sich hinzufügen. Ferner nahm Silverberg temporäre Mandate bei Sanierungsfällen wie den Schifffahrtsgesellschaften Hapag und Lloyd wahr, bei denen er sich besonders der Unternehmensorganisation und der Kreditvermittlung widmete. Im kriselnden Nichteisen-Metallmarkt führte Silverberg als Aufsichtsratsvorsitzender die Stolberger Zink nach dem Tod ihres Generaldirektors und seines langjährigen Freunds, Victor Weidtmann, und verband sie durch einen Interessengemeinschaftsvertrag mit der Metallgesellschaft – gegen den Widerstand des Großaktionärs Otto Wolff14, den er persönlich nicht sonderlich schätzte. Sein weitgespanntes Informations- und Beziehungsnetz kam Silverberg schließlich bei seiner in der Selbstsicht wichtigsten Unternehmensreorganisation zugute. Die Bank für deutsche Industrieobligationen (Bafio) hatte ursprünglich die Reparationsverpflichtungen der deutschen Industrie verwaltet und war nach der Verabschiedung des Young-Plans 1929 im Grunde überflüssig. In dieser Situation baute Silverberg eine Idee, die maßgeblich von Oscar Wassermann, dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, geprägt worden war, zu einem Plan aus, die Bafio umzustrukturieren. Die jährlichen Zahlungen der Großunternehmen sollten beibehalten bzw. nur sukzessive reduziert und gemeinsam mit den verbliebenen Mitteln der Bank genutzt werden, um die ostelbische Landwirtschaft zu entschulden. Trotz einiger Widerstände in der Industrie sowie etlicher in der Politik erreichte Silverberg 1932 schließlich sein Ziel. Er selbst übernahm den Vorsitz im hochkarätig besetzten Aufsichtsrat der Bank, nachdem seine Vorschläge im politischen Prozess nur unwesentlich modifiziert worden waren: Neben der Landwirtschaft sollte fortan auch die mittelständische Industrie Kredite der Bank erhalten. Die Umgründung der Bafio war nicht nur ein unternehmerischer Erfolg, sondern auch ein Höhepunkt im Wirken des politischen Unternehmers und Verbandsfunktionärs Silverberg. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Silverberg über das Rheinland hinaus politische Vorstöße unternommen. Sein Vorschlag aus dem Jahr 1917, enger mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, war der tonangebenden Ruhrindustrie indes noch zu progressiv gewesen. Dennoch war die Aussöhnung von Kapital und Arbeit ein Hauptthema in Silverbergs verbandspolitischer Arbeit. Seine positiven Kooperationserfahrungen im rheinischen Bergbau, wo es in der gesamten Weimarer Zeit keine Lohnstreiks gab, ließen sich freilich nicht ohne weiteres auf andere Branchen übertragen, sodass Silverberg häufig mit den konservativen Ruhrindustriellen Konflikte austrug, obwohl ihre Positionen gar nicht so weit auseinanderlagen. Durch seine Rede auf der Dresdner Tagung des Reichsverbands der Deutschen Industrie,15 dessen Vorstand er seit 1922 und dessen Präsidium er 14 15

Zu Otto Wolff vgl. den Beitrag von Dittmar Dahlmann in diesem Band. Paul Silverberg, Das industrielle Unternehmertum Deutschlands in der Nachkriegszeit, in: Franz Mariaux (Hrsg.), Paul Silverberg. Reden und Schriften, Köln 1951, S. 49–73.

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seit 1923 angehörte, eskalierte 1926 der Konflikt um die Haltung der Industrie zu Gewerkschaften und Sozialdemokraten. Silverberg hatte sich im politisch sensiblen Teil seiner Rede zum einen deutlich zur Weimarer Reichsverfassung bekannt und zum anderen dafür geworben, künftig gemeinsam mit der Sozialdemokratie Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten. Für Silverberg hieß dies im Grunde nichts anderes, als zunächst solche Maßnahmen zu treffen, die private Unternehmen wieder rentabel arbeiten ließen. Hierzu schienen insbesondere Steuersenkungen und die Reduktion von Lohnkosten geeignet. Er sah politisch klar, dass solch schwerwiegende Einschnitte in das Weimarer Sozialstaatsversprechen nicht gegen die SPD durchgesetzt werden konnten. Daher war sein Angebot eher taktischer Natur, auch wenn er prinzipiell davon überzeugt war, dass ein genereller Gegensatz zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht existiere. Den freien Gewerkschaften warf er gelegentlich vor, sich nicht genug um die Belange der Arbeiter zu kümmern und stattdessen allgemeinpolitische Ziele zu verfolgen. Auch wenn Silverbergs Dresdner Kooperationsangebot keineswegs umfassend war, kritisierten ihn namentlich die Schwerindustriellen des Ruhrgebiets und die Mittelständler aus Sachsen. Unterstützung fand Silverberg bei den exportorientierten Industrien und in der Spitze des RDI, besonders bei dessen Präsidenten Carl Duisberg16 und dem geschäftsführenden Präsidialmitglied Ludwig Kastl. Dass Duisberg überhaupt Präsident des RDI geworden war, war nicht zuletzt Silverberg zu verdanken, der ihn zur Übernahme des Amtes gedrängt hatte und ihn u. a. durch die Zusicherung, selbst mehr Arbeit im Verband zu übernehmen, zu einer Zustimmung bewegt haben dürfte. Im Reichsverband baute Silverberg derart zugleich seinen Einfluss sukzessive aus. Im Zuge der Umstrukturierung der Führungsspitze 1930 rückte er gar zum stellvertretenden Vorsitzenden auf, dem die Verantwortung für zahlreiche wirtschaftspolitisch zentrale Felder oblag. Anders als viele Unternehmerkollegen, die über weit geringere zeitliche Ressourcen verfügten, wurde Silverberg auch programmatisch tätig. Er leitete von 1922 bis 1925 den RDI-Sonderausschuss für ein Wirtschaftsprogramm und legte 1923 ein eigenes, äußerst radikales Programm vor, das allerdings eher als liberale Utopie zu werten war und in erster Linie taktischen Charakter hatte. Es sollte in der politisch und ökonomisch zugespitzten Situation des Jahres 1923 verdeutlichen, wie stark die Unternehmer bislang Rücksicht auf andere gesellschaftliche Gruppen genommen hatten und wie ihre Forderung aussähen, wenn sie keine Rücksicht nähmen. Trotz seiner Radikalität entsprach das Programm aber fraglos Silverbergs ökonomischen Leitlinien. Besonders wichtig waren ihm die Eigenkapitalbildung der Unternehmen, solide Haushaltsführung sowie die Begrenzung staatlicher Umverteilungspolitik und der gesamten ökonomischen Staatstätigkeit: „Grundsätzlich, meine Herren, wissen Sie, dass gegen diese wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand kein schärferer Gegner existiert als ich.“17 Bei aller wirtschaftsliberalen Dogmatik erkannte Silverberg aber die politischen Spielregeln an und war kompromissbereit. Hatten zunächst die industriellen 16 17

Zu Carl Duisberg vgl. den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. Paul Silverberg, Die Lage der deutschen Wirtschaft im Urteil des Generalagenten für die Reparationszahlungen vom 16. November 1927, BArch Koblenz N 1013/10, Bl. 59–88, Bl. 77 f.

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Beziehungen und die Verkehrspolitik seine Aufmerksamkeit gefunden, folgte seit der Mitte der 1920er Jahre mehr und mehr die Finanzpolitik. In seiner großen Rede in der Berliner RDI-Tagung 192918 sparte er zwar nicht mit Kritik am Umgang mit den öffentlichen Finanzen, aber er machte zugleich einen Plan öffentlich, nach dem das Reich das Vermögen der Reichsbahn nutzen sollte, um das Kreditvolumen zu erhöhen. Die Reparationsbestimmungen setzten solchen Vorhaben enge Grenzen, aber Silverbergs Vorschlag bewegte sich im Rahmen des Erlaubten. In den vielzüngigen Debatten, namentlich zu Beginn der 1930er Jahre, modifizierte und wiederholte er seinen Vorschlag zwar, drang damit aber ebenso wenig durch wie mit seinen Forderungen nach einer „Finanzdiktatur“. Ihm schwebte eine staatliche Stelle mit weitreichenden Kompetenzen vor, die die Haushaltsdisziplin in Ländern, Kommunen und Reich sicherstellen sollte. Seine prinzipiell konstruktiven Ideen unterschieden ihn von der häufig ablehnenden, bisweilen gar demokratiefeindlichen Haltung anderer unternehmerischer Interessenvertreter. Weil er sich zudem stets der Sache verpflichtet fühlte und eigensüchtige Motive in der Regel zurückstellte, war er trotz seines nicht immer einfachen, selbstbewussten und besserwisserischen Charakters ein gefragter Mann, wenn es um die Besetzung hoher Verbandsposten ging. Er war neben seinen Mandaten im Braunkohlenbergbau, im RDI und einigen lokalen Kölner Organisationen auch Mitglied im Vorstand des Langnamvereins, des Deutschen Industrie- und Handelstags und der Vereinigung Deutscher Arbeitergeberverbände. Zudem gehörte er von Beginn an der 1926 gegründeten Ruhrlade an, in der sich die führenden zwölf Ruhrindustriellen zusammengeschlossen hatten; durch seinen Einstieg bei Harpen gehörte Silverberg nun ebenfalls zum exklusiven Kreis der Ruhrindustrie. Rein formal war am Ende der Weimarer Republik kein Unternehmer so gut vernetzt wie der Multiaufsichtsrat und Multifunktionär Paul Silverberg. Dies machte ihn auch für Politiker zu einem gefragten Ansprechpartner. Den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer beriet er vornehmlich in Infrastrukturfragen persönlich und in seinen zahlreichen Funktionen in der Industrie- und Handelskammer Köln. Er gehörte zu den Großunternehmern, die Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding 1929 mit Kassenkrediten unterstützten, als dem Reich die Zahlungsunfähigkeit drohte. Zum DVP-Parteifreund Gustav Stresemann unterhielt er regelmäßigen Kontakt, ferner saß er als Unternehmervertreter im Reichswirtschaftsrat. Seine politisch exponierteste Rolle hatte Silverberg aber als Wirtschaftsberater Heinrich Brünings inne, mit dem er sich in dessen Kanzlerzeit alle zwei Wochen traf und der ihn 1931 gar als Verkehrsminister ins Kabinett berufen wollte. Silverberg lehnte dies ab, weil er zunächst als einziger Unternehmer vorgesehen war und keine Alibi-Funktion übernehmen wollte. Am Vorabend der Bankenkrise schlug Silverberg Brüning vor, den Reichsbankpräsidenten Hans Luther, den Silverberg für einen Hauptschuldigen an der Finanzkrise des Reichs hielt, durch Hjalmar Schacht zu ersetzen; Silverberg arrangierte ein Gespräch zwischen Brüning

18

Paul Silverberg, Sozial- und Finanzpolitik (12. Dezember 1929), in: Mariaux, Silverberg, S. 107–136.

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und Schacht, dem er selbst – zu seinem späteren Bedauern – nicht beiwohnte. Brüning hielt schließlich an Luther fest. Trotz solcher sachlichen Rückschläge gehörte Silverberg auch 1932 noch zu den Unterstützern des Kanzlers, als sich viele Industrielle bereits für andere politische Optionen erwärmten. Silverberg, der seit 1929 für die DVP im rheinischen Provinziallandtag saß, nahm nach dem Sturz Brünings allerdings Kontakt zu Gregor Strasser von der NSDAP auf, von dem er sich erhoffte, die radikalen und antikapitalistischen Kräfte der Partei bändigen zu können. Eine Regierungsbeteiligung der NSDAP, wie gelegentlich behauptet wurde,19 verfocht Silverberg indes nie. Ende 1932 hatte der Braunkohlenindustrielle zudem gewichtigere Probleme, als sich um die hohe Politik zu kümmern. Der RAG, an der er seinem Unternehmerleitbild folgend stets nur einen geringen Aktienanteil besessen hatte, drohte die feindliche Übernahme. Die Zeitgenossen sprachen hingegen von „Überfreundung“,20 weil mit Friedrich Flick, Albert Vögler und Fritz Thyssen drei Akteure gegen Silverberg arbeiteten, mit denen er in der Vergangenheit mehr oder minder intensiv kooperiert hatte. Der Übernahme, die schließlich am 31. März 1933 zu Silverbergs Abschied von der RAG führte, lagen zum einen unternehmerische, zum anderen persönliche Motive zugrunde, die eng miteinander verknüpft waren. Ausgangspunkt war die „Gelsenbergaffäre“ vom Juni 1932, als Friedrich Flick seine Anteile an der Gelsenkirchener Bergwerks AG an das Reich veräußerte. Damit ging mittelbar auch die Kontrolle über die Vereinigten Stahlwerke, bei denen Albert Vögler Generaldirektor und Fritz Thyssen Aufsichtsratsvorsitzender waren, auf den Fiskus über, da Gelsenberg die Generalversammlungsmehrheit der Vereinigten Stahlwerke besaß. Flicks Aktion hatte sie offensichtlich vor vollendete Tatsachen gestellt – eine Lesart, die sie im Kreis der Ruhrlade vertraten, die aber von Paul Silverberg angezweifelt wurde. Da beide nunmehr Vertreter eines Staatsunternehmens seien, so Silverberg sinngemäß, könnten sie auch nicht mehr für die Privatindustrie sprechen. Im anschließenden heftigen Streit schloss sich allerdings niemand Silverbergs harsch vorgetragener Meinung an. Damit hatte er den auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise ohnehin fragilen Zusammenhalt an der Ruhr weiter belastet – und Vögler und Thyssen sahen sich fortan nicht mehr unbedingt an jenes Ehrenwort gebunden, dass sich die Ruhrlademitglieder gegeben hatten: Kein Mitglied der Ruhrlade solle in geschäftlichen Dingen gegen ein anderes agieren. Stattdessen arbeiten Thyssen und Vögler hinter Silverbergs Rücken mit Friedrich Flick zusammen, der seit Ende der 1920er Jahre ein mittelgroßes Aktienpaket an der RAG gehalten hatte, bis 1932 aber durch verschiedene Transaktionen, die u. a. mit dem Verkauf seiner Gelsenbergaktien einhergingen, zum Großaktionär der RAG aufgestiegen war. Silverberg versuchte, sich mit Flick zu einigen, machte aber unter dem Eindruck der zeitgenössischen Aktienrechtsdiskussion einen entscheidenden Fehler: Er kündigte den bestehenden Vertrag mit Flick, der u. a. ein gemein19 20

Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S. 153– 173. „Um Braunkohle, Strom und Geld“, in: Frankfurter Zeitung – Ausschnitt in: Roddergrube AG – Zeitungsausschnitte, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 310/920.

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sames Stimmrecht und eine Zustimmungspflicht beim Verkauf der RAG-Aktien vorgesehen hatte. Silverberg fürchtete, dass im Zuge der Aktienrechtsnovelle – er war an den entsprechenden Diskussionen im Reichswirtschaftsrat beteiligt – solche Poolverträge ihre Gültigkeit verlören. Stattdessen schlug er Flick ein Gentleman Agreement gleichen Inhalts vor, das aber nicht rechtsverbindlich war. Nach dem Verkauf von Gelsenberg fehlte Flick eine Steinkohlenbasis für seinen mitteldeutschen Stahlkonzern. Er hatte es daher auf die Steinkohle bzw. die Harpenbeteiligung der RAG abgesehen; die Braunkohlen- und Elektrizitätsproduktion sollte mit Hilfe von Thyssen und Vögler an das RWE übergehen. Beide hielten unmittelbar und mittelbar über das RWE – sie saßen gemeinsam mit Silverberg in dessen Aufsichtsrat – Anteile an der RAG. Mit diesen Anteilen sicherten sich Flick, Thyssen und Vögler schließlich die Mehrheit an der RAG, und Flick konnte über die Harpenbeteiligung verfügen. Das alles geschah hinter Silverbergs Rücken; er wurde im November 1932 vor vollendete Tatsachen gestellt, suchte nach Auswegen, fand sie und verwarf sie wieder, weil er seine eigene Position nicht auf Kosten der RAG erkaufen wollte. Für die RAG-Aktionäre handelte er noch eine Dividendengarantie von zwölf Prozent aus und verließ schließlich die Rheinische Braunkohle im März 1933 – nicht ohne die letzte Pointe selbst zu setzen. Als der RWEAufsichtsrat über die Transaktionen und die Integration der RAG in den Konzern befand, stimmte Silverberg für den Erwerb „seines“ Unternehmens. Das RWE, so seine lakonische Begründung, habe schließlich gar kein besseres Geschäft machen können.21 Dem Prinzip, immer im Sinne der Gesellschaft zu handeln, die er gerade vertrat, blieb er bis zum Ende seiner Unternehmertätigkeit treu. Zwar suchte Silverberg Mitte 1933 noch nach neuen Betätigungsfeldern, aber die politischen Umstände ließen dies nicht mehr zu. Er trat seit März 1933 aus sämtlichen Gremien der Wirtschaft aus und emigrierte Ende Dezember 1933 in die Schweiz nach Lugano, nahm 1936 die liechtensteinische Staatsbürgerschaft an und kehrte auch nach 1945, trotz intensiver Bemühungen Konrad Adenauers, nicht mehr nach Deutschland und nicht mehr zur RAG zurück. Er starb 1959 in Lugano. Paul Silverberg prägte die Weimarer Wirtschaft und sie prägte ihn. So simpel diese Aussage anmuten mag, so untrennbar war die Art und Weise, wie Silverberg als Unternehmer agierte, mit den sozialen, ökonomischen und (ordnungs-)politischen Wechsellagen der Weimarer Zeit verbunden. Aus einer tief empfundenen, aber auf seinen eigenen Erfahrungsraum limitierten Verantwortung des Unternehmers für die Gesellschaft dehnte er sein Wirken nach 1918 in andere Unternehmen und den politischen Raum aus – nicht weil er es gewollt hätte, sondern weil die Zeitläufte dies nahelegten. Insofern war Silverberg ein politischer Unternehmer wider Willen. Umso mehr schmerzte ihn, dass sein (weitgehend) selbstloser Einsatz für Wirtschaft und Staat nicht belohnt wurde, sondern dass überdies Unternehmer, die er für verlässliche Kollegen hielt, seine Karriere beendeten und dass der geliebte Staat ihn zur Emigration zwang.

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Mariaux, Silverberg, S. LXXXVI.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Gehlen, Boris, Die Rheinische Aktiengesellschaft für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation (RAG) – ein Familienunternehmen?, in: Susanne Hilger / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Netzwerke – Nachfolge – Soziales Kapital. Familienunternehmen im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009, S. 121–138. Gehlen, Boris, Für Köln und „den billigsten Strompreis der Welt“. Konrad Adenauer und die rheinische Elektrizitätswirtschaft 1932/33, in: Geschichte im Westen 20 (2005), S. 136–154. Gehlen, Boris, Hilfe zur Selbsthilfe. Paul Silverberg, der RDI und die Bank für deutsche Industrieobligationen 1929 bis 1933. Ein Beitrag zur Wirksamkeit persönlicher Vernetzung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007), S. 1–26. Gehlen, Boris, Paul Silverberg (1876–1959). Ein Unternehmer, Stuttgart 2007. Gehlen, Boris, Vom „kleinen Brentano“ zum „kleinen Stinnes“? Paul Silverberg (1876–1959), in: Werner Plumpe (Hrsg.), Unternehmer – Fakten und Fiktionen, München 2013, S. 97–123. Gehlen, Boris / Schanetzky, Tim, Die Feuerwehr als Brandstifter. Silverberg, Flick und der Staat in der Weltwirtschaftskrise, in: Ingo Köhler / Roman Rossfeld (Hrsg.), Pleitiers und Bankrotteure. Zur Geschichte ökonomischen Scheiterns vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2012, S. 217–250. Kellenbenz, Hermann, Paul Silverberg (1876–1959), in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 9, Münster 1967, S. 103–132. Mariaux, Franz (Hrsg.), Paul Silverberg. Reden und Schriften, Köln 1951. Mosse, Werner E., Zwei Präsidenten der Kölner Industrie- und Handelskammer. Louis Hagen und Paul Silverberg, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u. a. (Hrsg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 308–340. Neebe, Reinhard, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981.

ALBERT VÖGLER (1877–1945) Alfred Reckendrees Als Generaldirektor der Vereinigte Stahlwerke AG (1926–1935; künftig: VSt) zählte Albert Vögler zu den einflussreichsten Wirtschaftsführern der Weimarer Republik, doch sein wirtschaftliches und politisches Betätigungsfeld reichte weit darüber hinaus. 1924/25 amtierte er in mindestens 12 Aktiengesellschaften (AG) als Vorsitzender des Aufsichtsrats und er nahm mindestens 37 weitere Aufsichtsratsmandate wahr. 1931/32, auf dem Zenit seines Einflusses, hielt er 17 Aufsichtsratsvorsitze und 36 weitere Mandate als Mitglied oder stellvertretender Vorsitzender eines Aufsichtsrats (siehe Tabelle 1 am Ende des Textes); die meisten Gesellschaften waren mit der VSt verbunden. In der Weimarer Zeit hatte Vögler auch politische Funktionen übernommen, unter anderem als Abgeordneter des Reichstags (1920–1924), als Mitglieder der Sozialisierungskommission oder als Sachverständiger der deutschen Delegationen bei den Friedensverhandlungen in Spa (1920) und den Verhandlungen über den Young-Plan in Paris (1929). Zudem war er in wichtigen wirtschafts- und forschungspolitischen Organisationen in zentraler Funktion aktiv (u. a. Mitglied des Reichswirtschaftsrats, Präsidium des Reichsverbandes der deutschen Industrie, Zentralausschuss der Reichsbank, Vorsitzender des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, Vorstand des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, Vorsitzender des Vorstands des Deutschen Museums, Schatzmeister der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften). Eine Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik kommt daher an Albert Vögler, der in vielen Bereichen, nicht nur in der Wirtschaft sondern auch in Politik und Kultur einflussreich und prägend war, nicht vorbei. Doch zwischen der Bedeutung der Person und dem Wissen über Albert Vögler klafft eine große Lücke. Die allgemeinen Daten der Ausbildung, des Berufslebens oder seiner Funktionen sind zwar bekannt und er hat in ungewöhnlich vielen Archiven Spuren hinterlassen, weil sein Name in Protokollen, Anweisungen, Briefen, Telegrammen als Autor oder Adressat erscheint. Doch sind weder Nachlässe (geschäftliche, private oder politische) noch Tage- oder Notizbücher oder Briefwechsel nennenswerten Umfangs bekannt – nicht einmal umfangreiche Handakten scheinen erhalten zu sein. Wenn viele Biographien ein „Bild“ ihrer Protagonisten zeichnen können, das sich auf persönliche Briefe, Tagebücher, geschäftliche Unterlagen oder auch auf Zeitzeugen stützen kann, so ist dies im Falle Vöglers kaum möglich. Über dieses Quellenproblem hatte sich Gert von Klass in seiner umfangreichen Biographie Albert Vögler. Einer der Grossen des Ruhrreviers (1957) souverän hinweggesetzt. Sie schildert mitunter sogar dessen Gedanken und Motive. Allerdings konnte Klass Zeitgenossen über deren persönliche Erfahrungen mit Vögler befra-

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gen und auf Vorstudien von Ingrid Bauert-Keetmann zurückgreifen. Klass passte sein Manuskript mitunter an interessengeleitete Interventionen seiner Gesprächspartner an; doch sind die meisten überprüfbaren Fakten in Klass‘ Darstellung zuverlässig. Vielleicht ist auch seine apologetische Schilderung der Person Vöglers und dessen wirtschaftlicher Ideen nicht falsch, doch oft ist sie mit dem überlieferten Material nicht zu belegen. Die biographischen Skizzen von Manfred Rasch und Ulrike Kohl sind in ihren Absichten bescheidener. Sie rücken spezifische Themen in den Mittelpunkt und stützen ihre Argumente auf nachprüfbare Belege. Insbesondere Manfred Rasch hat die verfügbare Archivüberlieferung akribisch ausgewertet. Auf dessen biographische Angaben stützt sich auch die folgende „biographische Vignette“, die Vöglers unternehmerische Aktivitäten während der Zeit der Weimarer Republik ins Zentrum rückt. Doch selbst diese Beschränkung lässt angesichts begrenzter Literatur und schwieriger Materiallage nicht mehr als eine Skizze zu. So lange keine neuen Quellen zugänglich sind, bleibt die Person Albert Vögler hinter allgemeinen biographischen Daten verschlossen – ob solche existieren, erscheint allerdings sehr fraglich. 1. AUSBILDUNG UND BERUFLICHE ANFÄNGE Albert Vögler wurde am 8. Februar 1877 in (Essen-)Dellwig geboren. Er war das zweite von acht Kindern der Eheleute Karl Friedrich (1844–1930) und Bertha Vögler (1845–1945). Sein Vater war ein Bergmann, der zum Steiger und 1901 zum Betriebsführer der Zeche Hugo in (Gelsenkirchen-)Buer avancierte. Die Familie ermöglichte Albert eine technische Ausbildung. Er besuchte eine Realschule in Essen und erhielt eine zweijährige Ausbildung bei der Maschinenfabrik und Gießerei Isselburger Hütte (Kreis Borken) bevor er nach dem einjährigen Militärdienst an der Technischen Hochschule in Karlsruhe Maschinenbau studierte (Oktober 1896 bis April 1900) und das Studium mit der Abschlussnote „gut“ beendete. Seine ersten Berufserfahrungen sammelte der junge Ingenieur in der Maschinenfabrik Baum (Herne) und seit 1902 beim Georgs-Marien-Bergwerks- und Hüttenverein (Kreis Osnabrück), wo er schnell zum Assistenten des leitenden Hüttendirektors wurde. Nach drei Jahren zog es Vögler im September 1905 als Oberingenieur der „Union“ Actiengesellschaft für Bergbau, Eisen- und Stahl-Industrie zu Dortmund (Dortmunder Union) zurück ins Ruhrgebiet. Schnell zum Direktor der Dortmunder Union ernannt (1906), betraf sein Arbeitsfeld die Modernisierung der Energiewirtschaft des vertikal gegliederten Unternehmens. Durch einen komplexen Energieverbund zwischen Kokereien, Hochofen- und Stahlwerken und die Umwandlung von Wärme in Elektrizität, die wiederum in den Bergwerken und Walzwerken genutzt werden konnte, sollte die Effizienz der Anlagen gesteigert werden; Vögler bearbeitete dieses Feld offensichtlich erfolgreich. Im Jahr 1910 übernahm die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten AG (1910, Deutsch-Lux) die unter permanenten Finanzierungsproblemen leidende Dortmunder Union. Diese Übernahme markierte eine Zäsur für Vögler. Im Rahmen der Fusion wurde er stellvertretendes Deutsch-Lux-Vorstandsmitglied und kam

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in einen engen Arbeitskontakt mit deren Schlüsselfigur, dem Aufsichtsratsvorsitzenden Hugo Stinnes1. Vögler war nun für die konzerneigenen Hüttenwerke eines der größten deutschen Eisen- und Stahlkonzerne zuständig und avancierte auch bei Deutsch-Lux. 1912 ernannte ihn der Aufsichtsrat zum ordentlichen Vorstandsmitglied und am 1. Januar 1917 zum Generaldirektor. Kurz darauf folgte Vögler Friedrich Springorum als Vorsitzender des Vereins deutscher Eisenhüttenleute. Die beiden Funktionen belegen sowohl das große Vertrauen, das Hugo Stinnes in den 40-jährigen „selfmade-man“ hatte, wie die hohe Reputation, die Vögler sich in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie inzwischen erworben hatte. 2. VÖGLER ALS MANAGER Versucht man Albert Vögler als Manager zu charakterisieren, so besticht sein Vermögen, Unternehmensstrategie im Kontext gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge zu definieren und Vorschläge zu entwickeln, die die Lage der rheinisch-westfälische Eisen- und Stahlindustrie insgesamt verbessern sollten. Dies betrifft vor allem seine Bemühungen um eine umfassende Kooperation der Eisen- und Stahlkonzerne, insbesondere die Gründung der VSt, und die Gründung der Ruhrgas AG (1927). Vögler spielte in der Durchsetzung dieser neuen Kombination nicht nur aufgrund seiner industriepolitischen Vorstellungen eine entscheidende Rolle, sondern auch weil er Konflikte zwischen großen Konzernen moderieren konnte, da ihm seine Partner wirtschaftlichen und technischen Sachverstand jenseits interessengeleiteter Unternehmenspolitik attestierten. Als Generaldirektor der VSt zeichnete ihn eine außergewöhnliche Kompetenz zur Leitung großer Organisationen aus. Vögler konnte moderieren und er war kompromiss- und durchsetzungsfähig; vor allem aber wusste er einzuschätzen, welches Verhalten die jeweilige Situation erforderte. Aufgrund eines guten Gespürs für Personalentscheidungen, aber auch aufgrund der unbestritten hierarchischen Entscheidungsstruktur innerhalb des Konzerns, war er in der Lage, Verantwortlichkeit so zu delegieren, dass er in alle wichtigen Entscheidungen eingebunden war. Potentielle innerorganisatorische Konflikte wusste Vögler durch klare Entscheidungen einzudämmen. Das Wirken des strategisch orientierten Managers lässt sich an vier Beispielen demonstrieren: die Diskussion um einen branchenweiten Zusammenschluss der Eisen- und Stahlindustrie an der Ruhr (1919), die Gründung der Rheinelbe- und der Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union, und schließlich Vöglers Rolle in der VSt sowie seine Haltung zu industriellen Beziehungen.

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Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band.

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Weichenstellungen 1919/20 Die Novemberrevolution und die Pariser Friedensverhandlungen, in deren Folge mehrere Eisen- und Stahlkonzerne wegen der Gebietsverluste ihre Produktions- und Organisationsstrukturen anpassen mussten, bedeuteten eine große Herausforderung für die Eisen- und Stahlindustrie, insbesondere für Deutsch-Lux, das erhebliche Produktionskapazitäten in Luxemburg und an der Saar abtreten musste. Doch die gesamte deutsche Wirtschaft hatte eine wirtschaftliche Krisensituation zu bewältigen und musste sich an die parlamentarische Demokratie anpassen. Die Einführung von Betriebsräten, „Mitbestimmung“ durch Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und der 8-Stunden-Tag waren wichtige Diskussionspunkte in den Anfangsjahren der Republik, doch von besonderer Bedeutung war die Frage der Sozialisierung der Großindustrie. Zwar befürchteten die meisten Industriellen schon 1919 keine umfassende Sozialisierung mehr. Doch die Wirtschaftselite erwartete, dass sie für den Kohlenbergbau nicht abzuwehren sei: „Es rast die See und will ihr Opfer haben, – ich glaube der Kohlenbergbau wird dieses Opfer sein“,2 schrieb Paul Reusch3 im Dezember 1918 an Carl Duisberg4. Angesichts der politischen Konstellation hielt Vögler es für geboten, sich an der Diskussion über die Gemeinwirtschaft zu beteiligen: „die Regierung, mag sie wollen oder nicht, [wird] zu Eingreifen in die Wirtschaft gedrängt […]. Es wird im Gesamtinteresse darum besser sein, daran mitzuarbeiten als nur Opposition zu betreiben und dadurch die Lage jedenfalls nicht zu verbessern.“5 Andere Industrielle hielten dies für ein „Begräbnis der rheinischwestf. Industrie und des Unternehmertums“ (Peter Klöckner).6 Vögler aber trat zusammen mit dem Gewerkschafter Otto Hué und Bergrat Gruber die Position eines „Sozialisierungskommissars“ der vorläufigen Reichsregierung an. Er versicherte sich des Rückhalts im Lager der Schwerindustrie, indem er wichtige Fragen in der im Juni 1919 gegründeten „Sozialisierungskommission“ der Ruhrindustriellen zur Diskussion stellte. Ihr Ziel war es, die Sozialisierung der Eisenindustrie zu verhindern; für den Kohlenbergbau sah man kaum noch eine Rettung. Daher schlug Vögler im Sommer 1920 als letzten Ausweg vor, alle Kohlenbergwerke in Gewerkschaften mit starker finanzieller Beteiligung des Reichs einzubringen. Dies hätte die private Rechtsform und privatwirtschaftlichen Einfluss erhalten, die Gewerkschaften und Beschäftigten außen vor gelassen und eine Grundlage geboten, unter günstigeren politischen Umständen die Eigentumsverhältnisse wieder zugunsten kapitalistischer Unternehmer zu verändern.

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Schriftwechsel P. Reusch mit C. Duisberg, Bd. I, 1917–1922: 1.12.1918, Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA), GHH 30019390/7. Zu Paul Reusch vgl. den Beitrag von Benjamin Obermüller in diesem Band. Zu Carl Duisberg vgl. den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. A. Vögler an K. Gerwin (Stahlwerksverband), 24.6.1919, ThyssenKrupp Konzernarchiv (TKA), ATH 712/2. Aktennotiz betr. Sozialisierung, Vortrag des Herrn v. Buttlar vom Reichswirtschaftsamt am 27. März, 29. März 1919, Hoesch-Archiv (HA), H5a5.

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Vöglers weitreichende industriepolitische Vorstellungen in diesen Jahren spiegeln sich am besten in seinem Vorschlag zur Gründung einer Interessengemeinschaft der Eisen- und Stahlindustrie an der Ruhr. Im Juli 1919 legte er den Stahlkonzernen ein Memorandum vor, das eine Lösung für die drängendsten Nachkriegsprobleme darstellen sollte. Vögler dachte an einen Zusammenschluss der Hüttenwerke an der Ruhr. Die Produktionskapazitäten sollten durch Neuaufteilung der Produktion und durch abgestimmte Fertigungsschwerpunkte besser ausgelastet, unrentable Betriebe stillgelegt und Neubauten gemeinsam finanziert oder zumindest koordiniert werden. Sein Vorschlag sah die einheitliche Verwaltung der Gas-, Elektrizitäts- und Transporteinrichtungen, gemeinsame Lagerhaltung, gemeinsamen Ein- und Verkauf und koordinierte Forschung vor. Das Vorbild war die 1916 gegründete „Interessengemeinschaft der deutschen Teerfarbenfabriken“, die sog. „Kleine I. G.“ in der deutschen Chemieindustrie. Vögler wollte den Wettbewerb zwischen selbständigen Unternehmen erhalten, aber die „Konkurrenz nach aussen“ beseitigen. Die vorgeschlagene Gemeinschaft der Hüttenwerke war auch als ein politisches Projekt gedacht: Der „Arbeitgeber-Verband im kleinen“ bedeute einen internationalen Wettbewerbsvorteil, denn derjenige Staat, der „das soziale Problem schnell und zweckmässig“ löse, erhole sich am besten von den Kriegsfolgen. Daher waren Sozialeinrichtungen und umfassende Pensionskassen wichtige Bestandteile des Konzepts; Vögler wollte die „Arbeiterschaft nicht am Gewinn, [wohl] aber an dem Unternehmen“ beteiligen, denn die „Arbeiterbewegung als solche erkennen wir an […] Sozialismus bekämpfen wir“.7 Die Repräsentanten der meisten Ruhrkonzerne stimmten Vöglers Vision über die Zukunft der Industrie als mittelfristige Entwicklung zu, lehnten es aber ab, konkret daran zu arbeiten, weil man entweder in der Wiederherstellung der Vorkriegskartelle das vordringliche Ziel sah oder diese verhindern wollte. Nur August Thyssen8 stimmte nahezu vorbehaltlos zu; er wollte darüber hinaus auch den Kohlenbergbau in die Gemeinschaft integrieren. Obschon viele Vöglers Ideen teilten, wurde sein Konzept nicht weiterverfolgt. Im Herbst 1919 war die Perzeption der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zu unterschiedlich und die Ziele der Industriellen lagen zu weit auseinander: Sie befänden sich „alle noch voll in der Gärung und würden kaum etwas Befriedigendes erreichen“, konstatierte Bruno Bruhn (Krupp).9 Doch mancher befürchtete auch die Dominanz des wirtschaftlich mächtigen und politisch einflussreichen Hugo Stinnes: „Die Notizen sind […] interessant, namentlich auch […] wie Vögler hier einzelne Grundfäden für einen künftigen Eisentrust leise zu ziehen sucht, dem wir aus allgemeinen Gründen zutrieben, und den Deutsch-Luxemburg aus Interessen seines Konzerns besonders zu fördern und in bestimmter Richtung zu lenken sucht. Es liegt mir fern, Herrn Vögler hieraus den geringsten Vorwurf zu machen. Wir müssen uns nur darüber klar sein, dass bei der starken Stellung von Stinnes, Vögler und manchem anderen Mitgliedern seines 7 8 9

Memorandum vom 12. Juli 1919, zit. nach Gerald D. Feldman / Heidrun Homburg (Hrsg.), Industrie und Inflation. Studien und Dokumente zur Politik der deutschen Unternehmer 1916– 1923, Hamburg 1977, S. 219–224, hier S. 222. Zu August Thyssen vgl. den Beitrag von Jörg Lesczenski in diesem Band. Niederschrift Klemme, 17. Juli 1919, RWWA, GHH/3000030–17.

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Konzerns die Führung aller solcher Dinge in ihre Hände gelange muß“, schrieb Otto Wiedfeldt in einem etwas anderen Zusammenhang.10 Als der Weg eines horizontalen Zusammenschluss der Hüttenwerke versperrt blieb, verfolgte Deutsch-Lux eine alternative Strategie der Anpassung an die Nachkriegszeit: die vertikale Integration nachgelagerter Verarbeitungsunternehmen und die Bildung einer Interessengemeinschaft mit dem Siemens-Konzern (Siemens & Halske AG und Elektrizitäts AG vorm. Schuckert & Co). Ausschlaggebend für die langfristig angelegte Kooperation der beiden Großkonzerne waren die Rohstoffsicherung bei dem Verarbeitungskonzern und die Absatzsicherung bei dem Stahlkonzern. Vögler insistierte darauf, die Gelsenkirchener Bergwerks AG (GBAG), die über erhebliche Kohlenfelder verfügte, in die IG einzubeziehen und so den schwerindustriellen Einfluss gegenüber Siemens zu verstärken. Ein älteres Ziel von Hugo Stinnes aufgreifend, konnte er gegen Widerstände aus dem Hause Siemens zunächst im August 1920 die Rheinelbe-Union bilden (eine IG aus Deutsch-Lux, GBAG und Bochumer Verein); vier Monate später gründeten Rheinelbe und die beiden Siemens-Gesellschaften die Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union (SRSU). In der Rheinelbe-Union setzte Vögler seine Ideen aus dem Memorandum im Kleinen um. So ermöglichte eine Neuorganisation der Produktion in den Verarbeitungswerken des Schalker Vereins (GBAG), der Friedrich Wilhelm-Hütte (DeutschLux) und des Bochumer Vereins größere Stückzahlen und eine Reduzierung der jeweiligen Produktpalette. Vögler wollte aber die Selbständigkeit der Unternehmen erhalten. An Carl Duisberg schrieb er: „Sie [in der IG der chemischen Industrie] diktieren durch die Union von Oben nach Unten [… Wir bei Rheinelbe] entwickeln und bauen ohne Diktat und unter freier Würdigung aller Meinungen von Unten nach Oben auf. Für uns wenigstens ist unsere Methode die richtigere. Ob dies auch für [einen] vertikalen Zusammenschluss möglich [ist], vermag ich nicht zu sagen. Ich nehme es aber an.“11 Allerdings wurde in der SRSU auf eine entsprechende Neuordnung der Produktion und Reorganisation der Verwaltung verzichtet; sie fungierte als Gewinnund Finanzierungsgemeinschaft und als „Rückversicherungsgesellschaft“ für die Aktionäre. Die auf 80 Jahre geschlossene, unkündbare SRSU war zu großen Teilen Vöglers Produkt. Weder die Siemens-Familie noch Hugo Stinnes waren leicht davon zu überzeugen, ihre einflussreiche Position in ihren Konzernen aufzugeben. Der Gemeinschaft war kein Erfolg beschert. Ein Gewinnausgleich konnte in den ersten fünf Jahren nicht vorgenommen werden und Ende 1925 schrieb Carl Friedrich von Siemens enttäuscht an Vögler, dass die vertikale Zusammenarbeit grundsätzlich viele Vorteile böte, doch der Weg falsch und der Vertrag mangelhaft gewesen sei. Man könne lange suchen, „ehe man ein Beispiel stärkerer Ungründlichkeit bei Abschluß eines so wichtigen und so lange dauernden Vertrages finden wird.“ Eigentlich sei eine Fusion der Gesellschaften notwendig gewesen, doch er habe mit 10 11

O. Wiedfeldt an Krupp von Bohlen und Halbach, 5. August 1920, Historisches Archiv Krupp (HA Krupp), WA 4/1999. A. Vögler an C. Duisberg, 6. Januar 1921, Bayer Archiv Leverkusen, Autographensammlung Duisberg.

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Rücksicht auf die Familieninteressen die Selbständigkeit des Hauses Siemens nicht aufgeben können.12 Der „Stahltrust“ Nach der langen Inflationsperiode, die es der Schwerindustrie ermöglicht hatte, die Anpassung an die Nachkriegszeit auf einige Fusionen und die Umstellung der Rüstungs- auf die Friedenswirtschaft zu begrenzen, drängten sich die bereits am Kriegsende bestehenden Probleme erneut und zugespitzt in den Vordergrund. Das Dilemma bestand darin, die Kapazitäten der Industrie abzubauen (oder zumindest nicht mehr zu erweitern) und zugleich in neue Anlagen investieren und alte Produktionsanlagen stilllegen zu müssen. In den Kriegsjahren hatte man kaum investiert und auch während der Inflation hatten die meisten Unternehmen ihre Anlagen bestenfalls instandgehalten, aber keine umfangreichen Modernisierungen vorgenommen. Zwar gab es Ausnahmen wie Thyssen, doch bei der Währungsstabilisierung arbeitete kaum ein Eisen- und Stahlkonzern kostendeckend. Inzwischen sahen die meisten Industriellen die Kartelle nicht mehr als ein hinreichendes Instrument für die Bewältigung der Strukturprobleme an. Sie schufen weder stabile Möglichkeiten der Kapitalverwertung noch konnten die einzelnen Mitglieder darauf verzichten, ihre Strategie auf eine kartellfreie Zeit auszurichten, weil die Verträge immer auf wenige Jahre begrenzt waren. Die Unternehmen waren gezwungen, die Produktionskosten zu senken, um Absatzmöglichkeiten bzw. potentielle Gewinne zu schaffen, sie konnten weder die Nachfrage vergrößern noch war es sinnvoll, individuell die Produktionskapazitäten zu reduzieren. Daher wurde die von Vögler bereits 1919 skizzierte Notwendigkeit einer branchenweiten Kooperation immer drängender. Dies hatten im Winter 1924/25 auch Verhandlungen der Stahlkonzerne über millionenschwere amerikanische Anleihen zur Überbrückung ihrer Finanzierungsprobleme gezeigt. Sie waren erforderlich geworden, weil der deutsche Kapitalmarkt keine hinreichenden Mittel bereitstellen konnte. Als im Juli 1925 auf Einladung von Jacob Haßlacher, Generaldirektor der Rheinischen Stahlwerke, die Konzernspitzen von Hoesch, Krupp, Phoenix, Deutsch-Lux, Rheinische Stahlwerke und Thyssen zu Gesprächen über ein Gemeinschaftsunternehmen zusammentrafen, hatten bereits verschiedene Seiten einen branchenweiten Zusammenschluss gefordert, um die tiefe Strukturkrise bewältigen zu können. Zunächst sollte eine Interessengemeinschaft der Stahlkonzerne, wie sie bereits vielfach erprobt war, gebildet werden; sie hätte die Interessen der Eigentümer – wie Otto Wolff13 meinte, die „Imponderabilien“ – nicht so sehr tangiert. Er hatte die Verhandlungen mit auf den Weg gebracht. Doch stellte sich heraus, dass erhebliche Stilllegungen und Neuinvestitionen erforderlich waren und dass die erforderlichen Finanzmittel für den Zusammenschluss, die nur auf dem amerikanischen Kapital12 13

C. F. von Siemens an A. Vögler (Entwurf, 27. Dezember 1925), Siemens-Archiv (SAA), NL CF v. Siemens 4/Lf635. Zu Otto Wolff vgl. den Beitrag von Dittmar Dahlmann in diesem Band.

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markt aufgebracht werden konnten, nicht ohne Fusion zu erhalten waren. Albert Vögler zählte zu den ersten die begriffen, dass „nur in der Fusion die Lösung zu suchen“ sei.14 Doch damit stellten sich ganz andere Fragen als bei der Gründung einer IG, die lediglich die erwarteten Gewinne verteilen sollte. Das Anlagevermögen der einzelnen Konzerne musste angemessen bewertet und später durch Anteile am neuen Unternehmen ausgedrückt werden; es musste bestimmt werden, ob beispielsweise die Kohlenbergwerke, die Verarbeitungsunternehmen oder die Handelsgesellschaften mit eingebracht werden sollten. Die Klärung dieser und vieler weiterer Fragen erforderte etwa sechs Monate. Vögler war nach dem Zusammenbruch des Stinnes-Imperiums im Frühjahr 1925, ein Jahr nach dem Tode Hugo Stinnes‘, die Schlüsselperson bei DeutschLux. Da er dort unabhängig von einzelnen Großaktionären agieren konnte, war er bei den „Stahltrust“-Verhandlungen in einer besonderen Rolle. Bei den anderen Beteiligten waren deren Großaktionäre entweder aktiv in die Verhandlungen eingebunden oder die Generaldirektoren mussten sich permanent rückversichern. Vögler konnte erheblich freier agieren. Daher rückte er bald in eine besondere Rolle. Er wurde zum Moderator und Schlichter bei Konflikten und zur Triebkraft in den Verhandlungen, indem er zustimmungsfähige Lösungen vorschlug und Entscheidungen vorantrieb. Im Prinzip agierte er wie 1919; er beschrieb ein Problem und dessen technisch beste Lösung. Er verwehrte sich gegen kleinliche Forderungen und eitle Begehrlichkeiten der Großaktionäre, weil dahinter die „großen Gesichtspunkte“ zurückblieben. Für die Eigentümer sei die Aussicht auf Verdienst wichtiger als ein möglichst großes Aktienpaket: „Sind nicht alle Beteiligten davon durchdrungen, dann hat die ganze Fortsetzung der Arbeiten keinen Zweck.“15 Es wird immer wieder gefragt, warum ausgerechnet Vögler der erste Generaldirektor der VSt wurde und nicht Fritz Thyssen als Repräsentant des stärksten beteiligten Stahlkonzerns. Gert von Klass verweist auf einen Brief, in dem August Thyssen seine endgültige Zustimmung zur Fusion davon abhängig gemacht haben soll, dass Vögler die Funktion übernehme, weil er seinem Sohn Fritz die Leitung des Unternehmens nicht zugetraut habe.16 Der Brief wurde bislang in keinem Archiv gefunden. Fritz Thyssen war allerdings bereits Ende August 1925 die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden in Aussicht gestellt worden; auch später zeigt er kein Interesse daran, in den Vorstand der VSt einzutreten. Vögler erscheint indes als der plausible Kandidat: er war von unmittelbaren Interessen einzelner Großaktionäre unabhängig, niemand brauchte die Privilegierung eines der Gründerunternehmen zu fürchten, er verfügte über eine große Akzeptanz in der Schwerindustrie und in der Politik, er besaß eine langjährige Erfahrung in der Leitung eines großen Kon-

14 15 16

A. Vögler an J. Haßlacher, 17. August 1925 (am 19. August 1925 an W. Fahrenhorst, A. Klotzbach, F. Thyssen weitergeleitet), TKA, RSW/170–00–1-a-1. A. Vögler, 18. September 1925, TKA, RSW/170–00–1-a-2. Gert von Klass, Albert Vögler. Einer der Grossen des Ruhrreviers, Tübingen 1957, S. 143. Er bezieht sich wohl auf H. Dinkelbach, Erinnerungen an Albert Vögler. Niedergeschrieben ohne Unterlagen in einer Unterhaltung mit Herrn v. Klass für die Biographie Albert Vögler, 27. Januar 1955, TKA, A/8943.

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zerns und er hatte die Gründungsverhandlungen moderiert, Konflikte geschlichtet und strategisch gestaltet. Als Generaldirektor der VSt war Vögler die unbestrittene Führungsperson innerhalb des Konzerns, in dessen ausgedehnten Produktionsanlagen in Kohlenbergbau und Kokerei, Eisen- und Stahlerzeugung sowie Weiterverarbeitung bis zu 200.000 Menschen beschäftigt waren. Zur Leitung dienten ein komplexes System von Vorstandsausschüssen und eine relativ kleine Hauptverwaltung in Düsseldorf. Vor allem im ersten Jahr hielt sich Vögler durch Berichte über alle Einzelheiten informiert und war an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt. Dieses Aufsichtssystem lockerte er als die neuen Stabsabteilungen funktionierten und das Unternehmen Routinen entwickelte. Dies mag der Arbeitsbelastung geschuldet sein, doch entspricht die zunehmende Verantwortungsübertragung an die zuständigen Manager Vöglers später formulierten personalpolitischen Vorstellungen. Ab Ende 1927 behielt er sich nur noch wichtige Entscheidungen, beispielsweise über große neue Investitionen vor. Allerdings kannten die Vorstände und Abteilungsleiter ihre Entscheidungsspielräume und wussten wann Vögler zu konsultieren war. Er nahm innerhalb der VSt eine gleichsam „präsidiale“ Stellung ein. Der Vorstand war allerdings ebenso wenig ein Entscheidungsgremium wie der Aufsichtsrat, der den Vorstand kontrollieren sollte. Alle wichtigen industriepolitischen Entscheidungen, z. B. hinsichtlich Übernahmen, wurden zusammen von Vögler und den wichtigsten Aktionären, Thyssen und GBAG (auf die 1926 Deutsch-Lux und Bochumer Verein fusioniert worden waren), vorbereitet. Das Triumvirat Albert Vögler, Fritz Thyssen und Friedrich Flick17, der ab 1927 zum bestimmenden Aktionär der GBAG wurde, traf de facto alle wichtigen Entscheidungen. Wenn sie einverstanden waren, wurden die Repräsentanten der übrigen Gründerkonzerne einbezogen und schließlich der Aufsichtsrat oder einer der Aufsichtsratsausschüsse. Vögler war sich bewusst, dass ein Unternehmen dieser Größe kaum zentral zu führen war und Entscheidungen, die sich auf einzelne Märkte oder Produktionsbereiche bezogen, besser dezentral getroffen werden sollten. Ab 1929/30 betrieb er daher zusammen mit Heinrich Dinkelbach und einigen anderen die Bildung von „Gruppen“ innerhalb der VSt, die nach regionalen Kriterien und Produktmärkten gebildet werden sollten. Dies hätte die Gründung der VSt gewissermaßen abgeschlossen, wurde jedoch durch die Weltwirtschaftskrise unterbrochen. 1933/34 wurde die Reorganisation vollzogen und die VSt in eine Art Holdinggesellschaft umgewandelt, die allerdings – weil die amerikanischen Anleihegeber einer weitergehenden Lösung widersprachen – das gesamte Anlagekapital besaß. Die Produktion oblag indes selbständigen Tochtergesellschaften. So sollte unternehmerische Verantwortung dezentralisiert und marktnäheres Verhalten ermöglicht werden. Vögler erläuterte dem Aufsichtsrat, dass eigene juristische Personen mit eigener Leitung eine bessere Zurechenbarkeit von Erfolg und Misserfolg ermöglichten. Das Ziel sei die Verantwortlichkeit für ein Werk und die genaue Übersicht darüber, wie sich jede Produktionsstätte in kaufmännischer, technischer und finanzieller Hinsicht entwickle. Die Verantwortlichkeit des Managements stand im Zentrum, 17

Zu Friedrich Flick vgl. den Beitrag von Tim Schanetzky in diesem Band.

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oder im Jargon des Jahres 1933: „ausschlaggebend sind[.] Menschenfragen insbesondere mit Rücksicht auf die Verantwortung der leitenden Herren.“ So zielte die Reorganisation auch auf unternehmerischen Nachwuchs, denn in einem einheitlich geleiteten Unternehmen wie es die VSt bis dahin dargestellt hatte, war es kaum möglich, früh herauszufinden, wer für Leitungsaufgaben qualifiziert war. Seine überaus modernen Vorstellungen des multidivisionalen Unternehmens verband Vögler indes mit der NS-Ideologie: „Ich glaube aber auch, […] dass der uns ja alle tief befriedigende Führergedanke, der durch das ganze Volk zieht, geeignet ist, das, was wir heute tun, im Lichte der heutigen Zeit als ein durchaus Gewordenes und Selbstverständliches darzustellen.“18 Vöglers großer Handlungsspielraum wurde dennoch mitunter von den wirtschaftlichen Interessen der Eigentümer begrenzt. Er bekam dies zu spüren, als Friedrich Flick 1932 in einer geheimen Transaktion sein Aktienpaket der GBAG an den deutschen Staat verkaufte und die VSt dadurch indirekt in Staatskontrolle gerieten. Selbst als loyaler Vertrauter Flicks und sowohl Aufsichtsratsvorsitzender der GBAG wie der Flick’schen AG Charlottenhütte, war Vögler offenbar erst spät über diese Transaktion informiert worden. Allerdings sah er kein grundlegendes Problem in der neuen Eigentümerkonstellation. Die GBAG sei nicht „sozialisiert“ worden, sondern „der Mehrheitsaktionär habe nur gewechselt in die öffentliche Hand. Auch bei anderen grossen Unternehmungen, wie R. W. E., sei die öffentliche Hand beteiligt, ohne dass dadurch die Freiheit des Unternehmens in entscheidendem Ausmasse beeinträchtigt sei.“19 Die weitere Entwicklung gab ihm nur teilweise Recht. Arbeitsbeziehungen Vögler war nicht nur Generaldirektor der VSt, ebenso wenig wie er in den Nachkriegsjahren nur Generaldirektor von Deutsch-Lux war. Rückt man jedoch den „Unternehmer“ Vögler ins Zentrum, so scheint sein Verhältnis zu den Beschäftigten und zur Arbeiterbewegung bemerkenswert. Spätestens seit dem Memorandum von 1919 ging es Vögler darum, die Arbeiter mit dem Kapitalismus zu versöhnen und für das Unternehmen und dessen Erfolg zu interessieren. Seine Haltung glich derjenigen Carl Duisbergs. Noch 1919 wollte Vögler die „Arbeiterschaft nicht am Gewinn, [wohl] aber an dem Unternehmen“ beteiligen.20 Ende der zwanziger Jahre, als die schwerindustriellen Unternehmen nach dem „Ruhreisenstreit“ von 1928, in dem die Stahlindustrie mit umfassenden Aussperrungen auf vermeintlich zu hohe gewerkschaftliche Forderungen reagiert und die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften weitgehend für sich entscheiden hatte, sah die Lage anders aus. Angesichts der trüben wirtschaftlichen Aussich18 19 20

Ausführungen Vöglers auf der gemeinsamen Sitzung der Aufsichtsräte am 27. Oktober 1933. Vortrag mit Lichtbildern, TKA, VSt/3053. Vertrauliche Ausführungen von Herrn Dr. Vögler in der Sitzung des engeren Ausschusses des Aufsichtsrats der G. B. A. G. am 1. Juli 1932, 21. Juli 1932 gez. Holle, Bergbau-Archiv Bochum, 55/446. Memorandum vom 12. Juli 1919.

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ten ging es Ende 1929 darum, die Lohnsumme weiter zu senken. Vögler wollte nun für einen 15-prozentigen Lohnverzicht den Arbeitern einen Gewinnanteil in Abhängigkeit von der Höhe der Dividende anbieten. Er stand aber im Arbeitgeberverband der Eisen- und Stahlindustrie und im Reichsverband der Industrie auf verlorenem Posten. Die meisten folgten Paul Reusch, der gesagt haben soll: „wir sollten das Bestreben haben, die Gewerkschaften zu erschlagen und nicht, wie es durch den Vorschlag Dr. Vögler geschehe, jetzt wo es den Gewerkschaften nicht besonders gut ginge, ihnen noch den Steigbügel halten.“21 Vögler war kein Freund der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung; doch er bekämpfte weder die Arbeiter noch ihre Organisationen, die er in der von Hugo Stinnes und Carl Legien etablierten Kooperation in der Zentralarbeitsgemeinschaft lange als verlässliche Partner erlebt hatte, sondern deren mehrheitlich sozialistischen Ziele. Bereits 1919 hatte Vögler geschrieben, die „Arbeiterbewegung als solche“ anzuerkennen, aber den Sozialismus zu bekämpfen. Vögler behandelte die Arbeiter ähnlich wie seine Kollegen im Vorstand der VSt oder in anderen Organisationen: er wollte sie für seine Ziele gewinnen und sie in das Unternehmen und in die kapitalistische Wirtschaft einbinden. Er war insofern ein moderner Manager, der sich von ökonomischen Zielen und nicht so sehr von der Weltanschauung leiten ließ. 3. VÖGLER UND DER NATIONALSOZIALISMUS Im März 1935 trat Vögler als Generaldirektor der VSt zurück und wechselte als stellvertretender Vorsitzender in deren Aufsichtsrat. Allerdings bedeutete dies keinen Rückzug aus der Leitung. Nachdem die VSt 1933/34 zu einer Holdinggesellschaft geworden war, oblagen Produktion und Vertrieb mehr als zwei Dutzend selbständigen „Betriebsgesellschaften“. Vögler übernahm nun als „Delegierte[r] des Aufsichtsrats“ die Aufgabe, „die Zusammenarbeit der Betriebsgesellschaften untereinander und mit den Vereinigten Stahlwerken als Muttergesellschaft auszubauen“.22 1940, als Fritz Thyssen von den Nationalsozialisten ausgebürgert, enteignet und seiner Ämter enthoben worden war, weil er dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 als Mitglied des Reichsrats nicht hatte zustimmen wollen und in die Schweiz emigriert war, wurde Vögler Aufsichtsratsvorsitzender der VSt. Seine Haltung zum Nationalsozialismus ist bis heute nicht eindeutig bestimmbar, dazu fehlen einschlägige Überlieferungen. In jedem Fall war sein Verhältnis zur Weimarer Demokratie angespannt und er „befürwortete“ wohl „autoritäre Herrschaftsstrukturen“.23 Bereits Mitte der 1920er hatte Vögler sich von der Politik der DVP entfernt. In den Krisenjahren der Republik unterstützte er die DNVP, er 21 22 23

Dr. Rosdeck/Bierwes. Bericht betr. Vorstandssitzung Arbeitnordwest, Vorschlag Dr. Vögler, 30. November 1929, MA, M 81.110. VSt-Aufsichtsrat 27. März 1935, TKA, VSt 4103. Manfred Rasch, Über Albert Vögler und sein Verhältnis zur Politik, in: Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen. Forschungen und Forschungsberichte 28 (2003), S. 127– 156, S. 139.

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förderte aber auch die NSDAP. Anders als Fritz Thyssen zählte er nicht zu deren offenen Unterstützern; er ließ sich auch nicht generell für ihre politische Ziele einspannen. Vögler war nie Mitglied der NSDAP, obgleich er nach 1933 ebenso wie andere Industrielle als (Ehren-)Mitglied deren Reichstagsfraktion angehörte. Er hoffte in den Krisenjahren der Republik wohl auf eine durchsetzungsfähige und wirtschaftsfreundliche Regierung, die mit besonderer Autorität ausgestattet werden sollte. Seit Frühjahr 1932 hatte er die von Hjalmar Schacht initiierte „Arbeitsstelle Schacht“ unterstützt, in der sich rechtsorientierte Industrielle sammelten, um auf die wirtschaftspolitische Programmatik der NSDAP Einfluss zu nehmen. Die „Arbeitsstelle“ koordinierte ihre Arbeit mit den NS-„Wirtschaftsexperten“ um den Kleinunternehmer Wilhelm Keppler. Die vor allem von Paul Reusch und der Gutehoffnungshütte finanziell unterstützte „Arbeitsstelle“ hatte kaum Einfluss auf die NSDAP, doch trug sie dazu bei, die Trennlinie zwischen anti-demokratischen Industrieführern und dem Nationalsozialismus zu überbrücken. Wie wichtig sie für die Machtübertragung an die Regierung Hitler am 30. Januar 1933 war, ist noch immer umstritten. Innerhalb der VSt unterstützte Vögler als Generaldirektor bereits früh die Verbreitung des Gedanken der Betriebsgemeinschaft, der an autoritäre Ideen leicht anschlussfähig war. Spätestens seit 1933 griff er die Idee der nationalen Wirtschaftsführung auf; Manfred Rasch vermutet, Vögler sei „an der Restaurierung einstiger „nationaler Größe“ Deutschlands interessiert“24 gewesen. Dies ist nicht unplausibel, weil Vögler sich schon in der Weimarer Zeit für die geheime Aufrüstung eingesetzt und sofort nach 1933 die Rüstungsproduktion in den Werken der VSt gefördert hatte. Falls Vögler der NS-Ideologie intellektuell kritisch gegenüber gestanden haben sollte, so unterstützte er das Regime durch seine Praxis eindeutig. Er nutzte nicht einmal sein Ausscheiden aus dem VSt-Vorstand dazu, sich aus allen wirtschaftspolitischen Funktionen zurückzuziehen, wenngleich er 1936 auch den VdEh-Vorsitz abgab; vielmehr ließ er sich wiederholt in den Dienst des Regimes nehmen. Insbesondere während des Kriegs unterstützte er mit seinen Möglichkeiten die Aufrüstung, unter anderem im Industrierat der Luftwaffe. Manfred Rasch schlussfolgert, Vögler „dürfte den autoritären Staat begrüßt haben, über dessen tatsächliches Antlitz er sich aber offensichtlich Illusionen machte“.25 Ob sich Vögler solche Illusionen machte ist ungewiss, doch spätestens 1942 dürfte das nicht mehr der Fall gewesen sein. Nach Auskunft von Ernst Poensgen und Friedrich Flick sprach er offen darüber, dass er sich im Falle eines russischen Einmarsches das Leben nehmen wolle.26 Ob er sich zu sehr in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickt sah oder ob er nur ein Sowjet-Deutschland befürchtete, ist kaum zu beantworten. Flick berichtete 1954, Vögler sei nach Beginn des Russland-Krieges „sehr deprimiert gewesen und habe […] gesagt: Herr Flick, 24 25 26

Rasch, Vögler. Verhältnis zur Politik, S. 141. Ebd. Brief von Ernst Poensgen an Hermann Wenzel, 7. Juni 1945 dokumentiert in Ulrike Kohl, Die Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Max Planck, Carl Bosch und Albert Vögler zwischen Wissenschaft und Macht, Stuttgart 2002, S. 186; sie verweist auf eine Überlieferung in TKA/VSt 4146.

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wenn es schief geht, dann nehmen Sie am besten eine Pistole und schießen sich und Ihre Angehörigen tot, meine Dispositionen sind getroffen.“ Als die amerikanische Besetzung des Ruhrgebiets absehbar war, tendierte er laut Flick wieder dazu, sich an einem Wiederaufbau der Industrie nach dem Krieg zu beteiligen, was dagegen spricht, dass er sich zu sehr in Verbrechen verstrickt sah: „Im Jahre 1945 habe Vögler […] erklärt: Ich habe es mir anders überlegt. Ich bin bereit am Wiederaufbau Deutschlands mitzuwirken. Aber verhaften lasse ich mich nicht.“27 Am 14. April 1945 nahm sich Albert Vögler nach seiner Gefangennahme durch US-amerikanische Soldaten mit einer Giftkapsel das Leben. 4. WAR VÖGLER EIN „UNTERNEHMER“? Albert Vögler zählte zu den bestbezahlten Managern der Weimarer Republik; 1932 war er in mindestens 42 Aufsichtsräten vertreten, vielfach aus seinen Funktionen als Generaldirektor der VSt und Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke AG (RWE) resultierend. Als Manager war er den jeweils dominierenden Aktionären oder Aktionärsgruppen loyal verpflichtet, dies galt für Stinnes wie später für Flick. Vögler war aber mehr als ein gutbezahlter Angestellter – nicht nur weil er nicht durch „vertragliche Beziehungen irgendwelcher Art, insbesondere auch nicht Anstellungs- oder Besoldungsverträge an V.St. gebunden“ war.28 Er entwickelte seine Ziele und Ideen unabhängig von Anweisungen seiner Großaktionäre und gestaltete die Unternehmenspolitik und die Strategie der von ihm geführten Konzerne Deutsch-Lux und VSt mit eigenen Ideen. Er koordinierte seine Vorstellungen mit den Eigentümern und wusste was ihnen gegenüber vertretbar und durchsetzbar war. Selbst Hugo Stinnes, der der Ansicht war, dass der Kapitaleigentümer in einem Unternehmen bestimmend sein sollte, warnte in seinem Testament vor der Eigenständigkeit Vöglers.29 Doch dieser Eigentümer-Unternehmer war in industriellen Großorganisation inzwischen eher die Ausnahme. Albert Vögler und viele andere Generaldirektoren kennzeichnen diese Entwicklung. Vögler setzte „neue industrielle Kombinationen“ (Schumpeter) durch ohne selbst wirtschaftliches Risiko zu tragen, denn am Aktienkapital war er nur in geringem Umfang beteiligt. Schon bei Deutsch-Lux, aber insbesondere bei der Gründung der VSt und deren Weiterentwicklung zu einem multidivisionalen Konzern, war Vögler derjenige, der die Ideen durch pragmatische Vorschläge, Moderation und Schlichtung durchsetzte und implizit die Entscheidungen traf. Legt man einen „funktionalen“ Unternehmerbegriff zu Grunde, ist Albert Vögler gleichsam ein Prototyp des Unternehmers innerhalb einer bürokratischen Großorganisation. 27 28 29

Gert von Klass, Aktennotiz 8. Dezember 1955 über ein Gespräch mit Friedrich Flick, 7. Dezember 1955, TKA, ATH 8943. Vertrauliche Ausführungen von Herrn Dr. Vögler in der Sitzung des engeren Ausschusses des Aufsichtsrats der G. B. A. G. am 1. Juli 1932 […], 21. Juli 1932 gez. Holle, Bergbau-Archiv Bochum, 55/446. Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, 1870–1924, München 1998, S. 610.

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Alfred Reckendrees Tabelle 1: Albert Vögler, Aufsichtsratsposition in dt. AGs (1924/25–1942/43)

A. Riebeckʼsche Montanwerke AG (bis 1925: Hugo Stinnes-Riebeck Montan- u. Oelwerke AG) AG Charlottenhütte AG für Energiewirtschaft2 Allba-Nordstern Lebensversicherungs AG Allgemeine Gas- und Electricitäts-Gesellschaft2 Alterum Kredit-AG August Thyssen-Hütte AG* (1933) Bandeisenwalzwerke AG* (1933) Bank für deutsche Industrie-Obligationen Bayrische Vereinsbank Beldam-Werke, Maschinen- und Apparatefabrik AG Bergbau- und Hütten-AG „Friedrichshütte“ * Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation (bis 1926) Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation* (1933) Braunkohlen- und Brikettwerke Röddergrube AG2 Braunkohlen-Industrie-Aktiengesellschaft Zukunft2 (1932 ausgeschieden) Braunschweigische Kohlen-Bergwerke Carl Berg AG Demag AG (1925: Deutsche Maschinenfabrik AG) Deutsche Edelstahlwerke AG* Deutsche Eisenbahnsignalwerke AG, Eisenbahnsignal-Bauanstalt Jüdel (1928) Deutsche Eisenwerke AG* (1933) Deutsche Kreditsicherungs AG Deutsche Röhrenwerke AG* (1933) Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- u. Hütten AG (bis 1926) Dortmund-Hoerder Hüttenverein AG* (1933) Elekrizitäts-AG vorm. Lahmeyer2 Elektrizitäts-AG vormals Schuckert & Co. Elektrizitätswerk Berggeist AG2 Elektrizitätswerk Rauschermühle2 Elektro-Osmose AG, Graf Schwerin Gesellschaft Emder Verkehrsgesellschaft AG Essener Steinkohlenbergwerke AG Frankfurter Maschinenbau-AG

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Friedrich Thomee AG* (1932 ausgeschieden) G. Neukranz AG für chemische Produkte Gebr. Böhler & Co. AG, Berlin bzw. Wien Geisweider Eisenwerke AG* (1932 ausgeschieden) Gelsenkirchener Bergwerks-AG (* neugegr. 1933) Gussstahl -Werk Witten* H. A. Meyer & Riemann, Chemische Werke AG HAPAG Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-AG Hannoversche Maschinenbau-AG vormals Georg Egestorff (Hanomag)* Harbker Kohlenwerke AG Harpener Bergbau AG Heinr. Aug. Schulte AG* Henschel & Sohn AG Hessische Eisenbahn-AG Hohenzollernhütte AG Hüttenwerke Siegerland AG* (1933) Hugo Stinnes-Riebeck Oel-AG Kraftwerk Rheinau AG Königsberger Zellstoff-Fabriken und Chemische Werke Koholyt AG Licht- und Kraftwerke der Moselkreise AG2 Mannheimer Lagerhaus-Gesellschaft Maschinenbau-Unternehmungen AG (MUAG) Midgard, Deutsche Seeverkehrs AG Mitteldeutsche Stahlwerke AG (1926) Münsterische Schiffahrts- u. Lagerhaus AG Niedersächsische Kraftwerke AG2 Norddeutsche Braunkohlenwerke AG Norddeutscher Lloyd Nordstern Transport-Versicherungs AG Oberstein-Idarer Elektricitäts-AG2 Phoenix AG für Bergbau u. Hüttenbetrieb Preußische Elektrizitäts AG Reichsbank Rhein- und See-Schiffahrts-Gesellschaft in Köln Rheinisch Westfälisches Kohlensyndikat Rheinische AG für Braunkohlen und Brikettfabrikation

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Rheinisch-Westfälische Stahl- u. Walzwerke AG* (bis 1926: Gelsenkirchener Gussstahl u. EisenWerke AG) Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke AG (RWE) Rhein-Main-Donau AG Rhein-Nahe-Kraftversorgung AG Ruhrgas AG (1926, RWKS und Mitgliedsunternehmen) Ruhrstahl AG* (1930) Schüchtermann & Kremer-Baum AG für Aufbereitung (1932 ausgeschieden) Siemens & Halske AG Siemens-Schuckertwerke AG (1925: SiemensSchuckertwerke GmbH) Stahlwerke Brüninghaus AG* (1932 ausgeschieden) Stahlwerks-Verband AG Süddeutsche Eisenbahngesellschaft AG2 Saar-AG in St. Ingbert Thyssen Eisen- u. Stahl AG (1926) Vereinigte Berliner Kohlenhändler AG Vereinigte Deutsche Metallwerke AG (1932 ausgeschieden) Vereinigte Stahlwerke AG (1926) Vereinigte Industrie-Unternehmungen AG (VIAG) Westfälisch Anhaltische Sprengstoff AG, Chemische Fabriken Westfälische Transport-AG Westfälische Union AG für Eisen- und Drahtindustrie Überland-Zentrale Helmstedt AG

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XXX = das Unternehmen bestand zu diesem Zeitpunkt nicht * = Tochtergesellschaften der Vereinigte Stahlwerke AG 2 = Tochtergesellschaften der RWE AG 10 Mitglied des Vorstands/der Direktion 12 Generaldirektor/Vorsitzender des Vorstands 20 Mitglied des Aufsichts-/Verwaltungsrats 21 stellvertretender Vorsitzender des Aufsichts-/Verwaltungsrats 22 Vorsitzender des Aufsichts-/Verwaltungsrats Quellen: Handbuch der Aktiengesellschaften, hrsg. vom Verlag für Börsen- und Finanzliteratur A.-G., Berlin 1925, 1932, 1943.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Kohl, Ulrike, Die Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Max Planck, Carl Bosch und Albert Vögler zwischen Wissenschaft und Macht, Stuttgart 2002. Rasch, Manfred, Über Albert Vögler und sein Verhältnis zur Politik, in: Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen. Forschungen und Forschungsberichte 28 (2003), S. 127–156. Rasch, Manfred, Albert Vögler. Manager mit technischem Sachverstand und volkswirtschaftlichem Verständnis. Versuch einer biographischen Skizze, in: Westfälische Lebensbilder 17 (2005), S. 22–59. Rasch, Manfred, Zwischen Politik und Wissenschaft. Albert Vögler und der Verein Deutscher Eisenhüttenleute, in: Helmut Maier / Manfred Rasch / Andreas Zilt (Hrsg.), 150 Jahre Stahlinstitut VDEh 1860–2010, Essen 2010, S. 95–138. Reckendrees, Alfred, Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A. G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000. Klass, Gert von, Albert Vögler. Einer der Grossen des Ruhrreviers, Tübingen 1957.

ROBERT GERLING (1878–1935) Boris Barth I. ROBERT GERLING UND DAS FEUERKARTELL Einleitend muss auf die deutsche Versicherungswirtschaft seit dem späten Kaiserreich eingegangen werden, da der rapide Aufstieg von Robert Gerling (sen.) und des Gerling-Konzerns in den frühen 1920er Jahren sonst unverständlich bliebe. Wichtige Weichenstellungen, die in der frühen Weimarer Republik Erträge abwerfen sollten, waren bereits im späten Kaiserreich vorgenommen worden. Für die deutsche Versicherungswirtschaft stellten industrielle Feuerversicherungen eine zentrale, potentiell gewinnbringende, aber auch riskante Sparte dar. Seit den 1880er Jahren prägte die sehr schnelle Industrialisierung die Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreiches. Ganze Industrieregionen wurden buchstäblich aus dem Boden gestampft; neue Branchen wie die Elektro- oder Chemieindustrie entstanden und wuchsen rapide, doch wurde bei der Errichtung neuer Fabriken häufig viel zu wenig auf den vorbeugenden Brandschutz geachtet. Zudem führte das schnelle und wenig geplante Wachstum der Großstädte dazu, dass neue Feuerrisiken in die Kalkulationen einbezogen werden mussten, ohne dass auf Erfahrungen zur industriellen Risikoabschätzung zurückgegriffen werden konnte. Zahlreiche Feuerversicherer lieferten sich seit den späten 1880er Jahren einerseits ruinöse Preiskämpfe um industrielle Kunden, andererseits trieben Großschäden mehrere deutsche Rückversicherer in den Ruin. Nachdem vor der Jahrhundertwende sechs deutsche Rückversicherer, d. h. etwa 20 Prozent aller Marktteilnehmer, bankrottgegangen waren, weil sie Großschäden nicht mehr decken konnten, drängten die Rückversicherer ultimativ auf Tarifabsprachen und auf grundlegende Reformen. Kurz vor der Jahrhundertwende schlossen sich deshalb alle deutschen Feuerversicherer zu einem Preiskartell zusammen. Dieses Kartell setzte sehr schnell deutlich höhere Preise als zuvor für Versicherungspolicen durch und stabilisierte die Situation der Branche. Aus heutiger Perspektive trug das Kartell ferner erheblich zum Brandschutz bei, weil die Industriellen durch den wachsenden Preisdruck, den das Syndikat bewusst verstärkte, zum ersten Mal dazu gezwungen wurden, in ihren Fabriken präventive Maßnahmen zu ergreifen. Flächendeckend wurden neuartige wirkungsvolle Handfeuerlöscher, elektrische Alarmanlagen und vor allem automatische Feuerlöschbrausen, Vorläufer der heutigen Sprinkleranlagen, installiert. Auf diese Weise wurde nicht nur die Zahl der Schäden deutlich reduziert, sondern auch die Schadensfolgen wurden eingegrenzt. Seitens der industriellen Großkunden entstand jedoch aus mehreren Gründen schnell eine erhebliche Unzufriedenheit mit dem so genannten „Feuerkartell“, bzw.

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dem „Feuersyndikat“. Erstens wurde die Existenz des Kartells mehrere Jahre geheim gehalten, auf jede Öffentlichkeitsarbeit wurde verzichtet und die Preispolitik war nach außen hin nicht transparent. Die Kundschaft nahm lediglich die massiven Preissteigerungen bei Neuverträgen wahr, die im Durchschnitt etwa 50 Prozent betrugen. Nimmt man die indirekten Preiserhöhungen (erhöhte Eigenbeteiligungen und Ausschluss von Risiken) hinzu, so verdreifachten sich beispielsweise die Prämien in der Tabakindustrie. Der zweite Grund war strukturell bedingt: Industrielle Feuerversicherungen stellten schon vor dem Ersten Weltkrieg ein komplexes Produkt dar, das sich nur schwer standardisieren ließ, weil sich beispielsweise die Risikoabschätzung in der Textilindustrie, in der mit brennbarer Baumwolle gearbeitet wurde, völlig anders darstellte, als bei Zementwerken, Glasbläsereien oder bei Handelsfirmen, die sich auf Kolonialwaren spezialisiert hatten. Brauereien waren ein schwer kalkulierbares Risiko, weil Malzstaub hoch explosiv ist, während die Brand- und Explosionsgefahr in Weinkeltereien eher gering war. Dennoch war das Kartell um Tarifgerechtigkeit bemüht und versuchte für jede Branche, Fabrikgröße, Gebäudetyp, Gefahrenlage etc. einheitliche Verträge zu entwerfen. Allein die Vorschriften für die Dicke, die Höhe, das Material und die Bauweise von Brandschutzmauern, die für günstige Feuertarife zugrunde gelegt wurden, konnten bald nur noch von Experten durchschaut werden, weil nicht nur für jede Branche, sondern auch für jede denkbare Gebäudeart auf detaillierte Übereinstimmung bei der Beurteilung möglicher Gefahrenherde Wert gelegt wurde. Schon nach wenigen Jahren entstand ein Dschungel von Tarifen, Regelungen und Sonderbestimmungen. Kleine und mittlere Unternehmer litten darunter, weil sie häufig Verträge abschlossen, deren Folgen sie nicht übersahen und die für sie wenig geeignet oder viel zu teuer waren. Ob drittens diese Situation tatsächlich von gewieften Agenten zum eigenen Vorteil ausgenutzt wurde, wie zeitgenössisch gelegentlich behauptet wurde, mag vorgekommen sein, ist aber nur schwer nachweisbar. Ein direkter Missbrauch der Monopolstellung des Syndikates ist nur in sehr wenigen Ausnahmefällen belegt. Dokumentiert ist aber, dass Agenten oder Makler immer wieder durch phantasievolle Geschäftskonstruktionen und Werbegeschenke, die zwar nicht dem Text, aber dem Sinn der Kartellvereinbarungen widersprachen, die Einheitlichkeit der Kartellgesellschaften unterliefen. Klagen aus der Unternehmerschaft begegnete das Kartell mit neuen Regelungen, die versuchten, jeden weiteren Sonderfall angemessen zu berücksichtigen, durch die die ohnehin ausufernden bürokratischen Bestimmungen aber nur noch komplizierter als zuvor wurden. Da alle neu abgeschlossenen Verträge von einer Zentralstelle in Magdeburg geprüft wurden, entstand zusätzlich eine ausufernde Verwaltungsbürokratie, die finanziert werden musste. Viertens hatte das Kartell bereits 1904/05 seine Funktion erfüllt: Die Krise der Branche war überwunden, und die Feuerversicherer strichen erhebliche Profite ein. Eine führende Firma, die „Magdeburger Feuer“, zahlte 1903 41,67 Prozent Dividende, stockte ihre Reserven auf und steigerte die Tantiemen für Aufsichtsrat und Direktion erheblich. Da viele Feuerversicherer dem Kartell sehr hohe Gewinne verdankten, waren sie – salopp gesprochen – auf den Geschmack gekommen und sahen keinen Grund, zur freien Konkurrenz zurückzukehren.

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Robert Gerling wurde am 13. August 1878 geboren. Sein Vater produzierte im Tal der Wupper Steinnussknöpfe, ein Luxusprodukt, das aus den Früchten einer Palme hergestellt wurde; wenn er sich selbst als „Fabrikant“ bezeichnete, dürfte diese Selbsteinschätzung stark übertrieben gewesen sein. Aus unklaren Gründen brach Robert Gerling trotz ausgezeichneter Leistungen 1892 die Schule ab und begann mit 14 Jahren eine Lehre in einem kleinen Kölner Versicherungsunternehmen. Er behauptete später, dass er ursprünglich nach Amerika habe auswandern wollen, wahrscheinlicher ist, dass seine Eltern, die unter chronischen Geldproblemen litten, nicht in der Lage waren, ihm und seinen sechs Geschwistern eine höhere schulische Ausbildung zu finanzieren. Mangelndes Bildungsinteresse kann man Robert Gerling nicht vorwerfen. Aus den wenigen Quellen, die für diese Zeit überliefert sind, geht hervor, dass es sich um einen ungewöhnlich fleißigen und ehrgeizigen jungen Mann gehandelt hat, der über ein außerordentliches mathematisches Talent verfügte, von dem er in seinem gesamten Leben profitierte.1 Von dem geringen Lohn, den er als Lehrling erhielt, nahm er abends Privatunterricht bei einem in Köln lebenden Franzosen und lernte ein fast akzentfreies Französisch. Ferner war er Mitglied in einer Lesegesellschaft, in der er seine Lücken in der Schulbildung autodidaktisch zu verbessern versuchte. Nach erfolgreichem und vorzeitigem Abschluss der Lehre arbeitete er in verschiedenen Firmen und stieg schon kurz nach der Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres in der Preußischen National-VersicherungsGesellschaft (Stettin) zum Inspektor für das Rheinland auf. In einem Bewerbungsschreiben von 1898 bezeichnete er sich dank „… einer guten Auffassungsgabe als bildungsfähig…“.2 Bei seiner vielfältigen Tätigkeit auf mehreren, ganz unterschiedlichen Positionen in der Versicherungsbranche wurde Robert Gerling kontinuierlich mit den Klagen der industriellen Kunden über die intransparente und vermeintlich starre Politik des Feuerkartells konfrontiert. Am 15. März 1904 wagte er den Weg in die Selbständigkeit und gründete in Köln ein kleines Maklerbüro, das Bureau für Versicherungswesen GmbH, in der Wohnung seiner Schwester. Wilhelm Marum, ein wohlhabender jüdischer Wäschefabrikant, mit dem die Familie befreundet war, stellte ihm das notwendige Startkapital zu sehr günstigen Konditionen zur Verfügung. Da sich Robert Gerling zu Beginn seiner Tätigkeit neben einer Schreibkraft und einem Lehrling kein weiteres Personal leisten konnte, sprang die Familie ein. Nur indirekt lässt sich aus den spärlichen Quellen erschließen, dass eine seiner Schwestern, die bald auch Prokura erhielt, in den ersten Jahren erhebliche Verantwortung übernommen hat, die weit über die Tätigkeit einer Büroangestellten hinausging. Dieses Faktum taucht jedoch in der späteren maskulin-heroischen Darstellung von Wolf von Niebelschütz nicht auf, die sich ausschließlich auf die mythisch verklärte Genialität des Firmeninhabers konzentrierte. Fassbar ist ferner, dass der jüngerer Bruder Richard Gerling, der 1904 den „Rheinischen Versicherten- Verband e. V. 1 2

Erinnerungen Lauer, Erinnerungen Nücke, in: Rheingruppen Archiv I, 040 (II), handschriftlicher Entwurf R. Gerlings auf Rückseite einer Bilanz, in: ebd. I. 002, Erinnerungen Frau Enners, in: ebd. I, 07 (I). Rheingruppen-Archiv, Ordner BENA, 3. November 1898, Robert Gerling an Direktor Walter, Preußische National-Versicherungs-Gesellschaft, Stettin.

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gründete und leitete, dem Bureau mehrere Jahre lang Kunden vor allem aus dem Mittelstand zuführte. Dieser Verein bot den Mitgliedern gegen eine geringe Jahresgebühr mehrere Serviceleistungen: Erstens bot er vor allem kleinen und mittleren Firmen aus Branchen, die vom Syndikat als risikoreich eingeschätzt wurden, eine kompetente Überprüfung des gesamten Versicherungsschutzes an. Zweitens vermittelte er in vielen Fällen über das Bureau eine günstigere und individuell zugeschnittene Police, und drittens erteilte der Verein Rechtsauskünfte, bzw. vermittelte in Streitfragen. Anfangs rekrutierte sich die Kundschaft vor allem aus dem regionalen Köln-Krefelder Raum und dem Bergischen Land, und sie bestand aus kleinen Industriellen, Handwerksbetrieben oder Handelsfirmen. Schnell sprach sich aber herum, dass durch die kompetente Beratung eine substanzielle Verbesserung und Verbilligung des Versicherungsschutzes möglich war, so dass die Mitgliederzahl bis 1908 auf fast 3000 anstieg. Darunter fanden sich nun auch einige Großindustrielle, die oft ihre weit verzweigte eigene Kundschaft mit einbrachten. Einen deutlich erhöhten Beratungsbedarf, verbunden mit zahlreichen neuen, z. T. sehr profitablen Abschlüssen, stellte der Verband nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges fest, weil alle bisherigen Verträge Kriegsklauseln enthielten, die niemand zuvor gelesen oder ernst genommen hatte. Da ferner ein Teil der bis dahin zivilen Produktion auf Rüstungsfertigung umgestellt wurde, kamen auf die industriellen Feuerversicherer ganz neue Herausforderungen zu. Gerling versuchte seit 1907/09 mit einer komplizierten Firmenstruktur auch einen eigenen Erstversicherer aufzubauen, doch begann dieser wegen der konsequenten Gegenmaßnahmen des Syndikates erst kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mäßig zu prosperieren. Die Grundlagen für den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg, der 1916 einsetzte, wurden aber bereits in der Vorkriegszeit gelegt. Erstens positionierte sich Gerling gegenüber der Industrie bewusst in der Stellung des Außenseiters, der die Fahne des freien Marktes und des Liberalismus hochhielt, sich dem Diktat des Syndikates nicht beugte, und der der Industrie statt dessen eine echte Partnerschaft anbot. Zum beiderseitigen Vorteil sollte auf kurz- und mittelfristige Profite verzichtet und eine langfristige Bindung angestrebt werden, in der sich Feuerversicherungen deutlich verbilligen und auch in der Qualität verbessern ließen. Zudem forderte Gerling seine industriellen Kunden auf, nach der Feuerversicherung auch alle weiteren Versicherungen bei ihm einzubringen, so dass sie nur noch einen Ansprechpartner hatten und dadurch ihren organisatorischen Aufwand reduzieren konnten. Das Schlagwort von der Versicherung als dem „Partner“ der Industrie, bzw. die Vorstellung einer privaten Risikogemeinschaft wurde in der bewusst spärlichen Werbung mit einigem Erfolg verwendet. Zweitens erwies sich Gerling als innovativer Organisator. Die Struktur seiner langsam wachsenden Firmengruppe war – gelinde gesagt – unkonventionell und wäre in dieser Form in keinem Lehrbuch zu finden gewesen. Bereits die Idee, über einen privaten Verein seinem Maklerbüro Kundschaft zuzuführen, das wiederum Abschlüsse sammelte und dann die damit erzielten Rabatte – entgegen den Bestimmungen des Syndikats – wieder an die Kundschaft zurückgab, zeigt deutlich diese Denkweise. Problematisch daran war, dass der Verband die Geschäfte eines Versicherungsagenten mit denjenigen der Interessenvertretung der Versicherten

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verknüpfte. Solange die Versicherten aber mit dieser Konstruktion einverstanden waren, blieb interne Kritik aus. Die Organisation von Gerlings Firmen, zu denen seit 1907 weitere Gründungen von Erst- und Rückversicherern kamen, blieb stets extrem pragmatisch und flexibel, zielte aber darauf ab, die Industriellen so weit wie möglich in eine solidarische Haftungsgemeinschaft hineinzuziehen. Nur ein einziges Prinzip wurde auch in der Weimarer Zeit beibehalten, als der Konzern bereits aus mehreren hundert Firmen bestand, die von außen gesehen höchst unübersichtlich mit- und ineinander geschachtelt waren: Die Verwaltung musste stets so klein, übersichtlich und so zentralisiert wie möglich bleiben. Drittens bezog Gerlings Geschäftsmodell – anders als das des Kartells – die materiellen Interessen seiner Geschäftspartner direkt mit ein, d. h. seine Kunden konnten auf konkrete materielle Vorteile zählen. Vor allem aber scheint Gerling die Bedeutung der so genannten „weichen“ Faktoren im Geschäftsleben sehr bewusst gewesen zu sein. Gerade im Falle Gerlings spielte die Kategorie „Vertrauen“ eine besondere Rolle, weil er seine Kundschaft nicht im Massengeschäft suchte, sondern den Typ des anspruchsvollen und selbstbewussten Unternehmers ansprach, zu dem er häufig durch eine joviale Art ein persönliches Verhältnis aufbaute. Aus unabhängigen Quellen geht hervor, dass er auch bei schwierigen Verhandlungen stets verbindlich, integer und höflich blieb, sich bis in die Details hervorragend vorbereitete und Loyalität sehr hoch schätzte. Aus derartigen Treffen entstanden zahlreiche sowohl geschäftliche, als auch persönliche Freundschaften. II. DER RASANTE AUFSTIEG DES NEUEN KONZERNS Am Ende des Ersten Weltkrieges verfügte Robert Gerling über eine zwar kleine, aber straff strukturierte Firmengruppe, von denen mehrere Gesellschaften seit 1916 auch das direkte Versicherungsgeschäft betrieben. Ein struktureller Vorteil gegenüber der deutschen Konkurrenz bestand darin, dass Gerling vor 1914 nur sehr geringe Auslandsengagements eingegangen war. Diese wurden, wenn Zahlungsverpflichtungen bestanden, nach 1918 wegen des wachsenden Währungsgefälles teuer und unprofitabel. Der politische Zusammenbruch des Kaiserreiches scheint Gerling wenig interessiert zu haben, er erkannte aber sofort die außerordentlichen geschäftlichen Möglichkeiten, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit für seinen entstehenden Versicherungskonzern boten. Auch diese Periode ist von dem Gegensatz zwischen dem relativ starren Syndikat und dem dynamischen Familienunternehmen geprägt, das die zahlreichen Krisen maximal für sich nutzte. In vielem ähneln der Aufstieg und die von außen betrachtet unübersichtliche, verschachtelte Struktur von Gerlings Firmen bis 1923 dem Stinnes-Konzern, und ebenso wie dieser nutzte Gerling Inflation und Hyperinflation resolut zur Expansion. Deshalb wurde Gerling gelegentlich in der Presse als der „VersicherungsStinnes“ bezeichnet. Genau wie beim Stinnes-Konzern war der Gerling-Konzern in dieser Phase fast vollständig von den Entscheidungen seines dominanten Leiters abhängig. Stinnes starb jedoch 1923, und sein Firmenkonglomerat kollabierte da-

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raufhin wegen der Unfähigkeit seiner Nachfolger, während Gerling die folgende Stabilisierungskrise fast mühelos meisterte. Die Expansion der Firma fand auf mehreren Ebenen gleichzeitig statt, die stets aufeinander bezogen und ineinander verflochten waren, an dieser Stelle aber aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt werden sollen. 1. Vor dem Ersten Weltkrieg lag der räumliche Schwerpunkt des Konzerns eindeutig im Rheinland und in einigen westdeutschen Industrieregionen. Seit dem Dezember 1917 wurde schnell und gleichzeitig systematisch ein Netz von Agenturen aufgebaut, das alle wichtigen Plätze des Deutschen Reiches abdeckte. Bis 1923 entstanden 40, später 48 Geschäftsstellen, die allerdings mit zwei bis drei Mitarbeitern konsequent klein gehalten werden sollten, um Verwaltungskosten zu sparen und ausschließlich bewährtes Personal zu beschäftigen. Da das Geschäftsvolumen rapide anwuchs, ließ sich diese Strategie nicht durchhalten. 1924 arbeiteten in München 22 fest angestellte Personen, in Freiburg 13, in Mannheim 12 und in Essen, wo sich die Verwaltungszentralen mehrerer schwerindustrieller Firmen befanden, 10. Mit einigem Erfolg wurden industrielle Kollektivverträge, die vom Syndikat kaum angeboten worden waren, verkauft, ab 1922/23 auch in großen Stil kollektive Lebensversicherungen für Belegschaften. Da die Zahl von Gerlings Firmen stark zunahm und die Struktur des Konzerns zudem immer unübersichtlicher wurde, wurde Anfang November 1920 in Köln die Rheingruppe als Holding gegründet, in der alle Gewinne und Verluste gepoolt wurden. Auf diese Weise wurde auch die Einheitlichkeit der Verwaltung gewährleistet. 2. Gerling setzte konsequent seine Strategie fort, Unternehmer an seinen Konzern heranzuziehen, indem er ihnen deutliche materielle Vorteile bot. Aus diesem Grunde wurden zwischen 1920 und 1922 parallel zum Ausbau des Agenturnetzes über 20 Regionalgesellschaften gegründet. Hierbei handelte es sich um Briefkastenfirmen, die selbst nicht arbeiteten und auch keine eigene Organisation aufbauten, die aber über einen eigenen Aufsichtsrat verfügten, in dem Tantiemen gezahlt wurden. Für diese Aufsichtsräte, die eigentlich nichts zu beaufsichtigen hatten, wurden systematisch Industrielle, Bankiers, Inhaber von Handelsfirmen, Syndizi und Vorsitzende von Handelskammern, einflussreiche Wirtschaftspolitiker und jede Art von Multiplikatoren angeworben, die in der Industrie nützlich sein konnten. Diese Aufsichtsräte schlossen als Gegenleistung ihre Versicherungen beim Gerling-Konzern ab, bzw. führten ihre eigene Kundschaft an den Konzern heran. Diese Strategie scheint dem Bankwesen entlehnt worden zu sein, in dem es schon im Kaiserreich üblich gewesen war, regionale Filialen mit eigenen Aufsichtsräten zu besetzen, um wichtige Kundschaft langfristig zu binden. Die kartellisierten Versicherungsgesellschaften hatten meistens darauf verzichtet, weil sie ohnehin kaum miteinander konkurrierten und wurden nun von Gerling quasi überrannt. 1922 liest sich die Liste der über 300 Aufsichtsräte der Regionalgesellschaften wie ein „Who is Who“ der deutschen Wirtschaft. Ein weiterer Vorteil dieses Systems bestand darin, dass indirekt ein Kreis von hervorragenden Beratern für nahezu alle Fragen des Industriegeschäfts zur Verfügung stand, auf die Gerling von Fall zu Fall

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zurückgriff. Der stetige Kontakt zu den Finanzexperten und Bankiers bewährte sich in der Hyperinflation. 3. Mehrere Gerling-Gesellschaften gaben Aktien aus, die aber nicht an der Börse gehandelt, sondern gezielt im befreundeten Unternehmerlager platziert wurden. Aktionärslisten zeigen, dass diese Strategie sehr sorgfältig verfolgt wurde: Die Aktien wurden günstig an Fabrikanten, Bankiers, „Rentiers“ und an Personen verkauft, die eine einflussreiche gesellschaftliche Stellung inne hatten. Beispielsweise war die gesamte Krefelder Textilindustrie, zu der bereits vor dem Krieg enge Kontakte bestanden hatten, mit ihren Zulieferern und Großkunden direkt am Konzern beteiligt. Auf diese Weise wurden Bindungen zu Kunden verstärkt und über Dividendenzahlungen Gewinne direkt an die Kundschaft weitergegeben, die dann wiederum ein Interesse am Gedeihen des Versicherungskonzerns entwickelten. Ferner hatte die Kundschaft ein reales Interesse daran, Schäden zu vermeiden, bzw. Schadensfolgen zu minimieren. Investitionen in den Brandschutz zahlten sich mit einer gewissen Verzögerung materiell aus und wurden freiwillig vorgenommen, nicht gezwungenermaßen wie bei denjenigen Firmen, die beim Syndikat versichert waren. 4. Da der Konzern zunächst ausschließlich im industriellen Geschäft tätig blieb und das Massengeschäft ausklammerte, konnte auf Werbung fast vollständig verzichtet werden. Vor allem die Aufsichtsräte der Regionalgesellschaften und die industriellen Großkunden waren selbst Träger der Werbung. Der Kostenvorteil, der hieraus entstand, wurde auch hier direkt an die Kunden weitergegeben, deren Policen sich leicht verbilligten. Auf diese Weise entstand eine Art von Schneeballeffekt, der neue Kundschaft an den Konzern heranzog. Offensiv formulierte Gerling mehrfach, die beste Werbung bestünde darin, dass der Versicherer im Schadensfall sofort zahle.3 Mit dem Material, das zur Verfügung steht, lässt sich nicht mehr klären, ob dieses Prinzip wirklich konsequent verfolgt wurde. Einige spektakuläre Fälle sind aber nachweisbar, in denen telefonisch schon Abschlagszahlungen an Firmen zugesagt und geleistet wurden, während der Brand noch von der Feuerwehr gelöscht wurde. Gerling sorgte dafür, dass sich dieses unbürokratische Verhalten schnell herumsprach. Nur ein Familienunternehmer konnte auf diese Weise agieren. Aktiengesellschaften mussten, auch wenn sie sich bei der Schadensregulierung um Schnelligkeit bemühten, zunächst die Stellungnahmen ihrer Schadensabteilungen abwarten. 5. Der Boykott der Syndikatsgesellschaften hatte dem Gerling-Konzern vor und während des Ersten Weltkrieges erhebliche Probleme bereitet, weil unabhängige Makler keine Gerling-Policen verkaufen durften und deshalb der Aufbau eines eigenen, teuren Direktvertriebes notwendig geworden war. Nachdem dieser zu Anfang der 1920er Jahre nach der Überwindung von Startschwierigkeiten etabliert war, erwies sich der kurz- und mittelfristige Nachteil als langfristiger Vorteil. Gebetsmühlenartig schärfte Gerling seinen Mitarbeitern ein, dass bei Neuabschlüssen vollständig auf Makler zu verzichten sei, weil dem kurzfristigen Vorteil eine Verteuerung des Gesamtgeschäftes gegenüberstünde. 3

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Schon vor dem Krieg waren einige Agenten, die sich den größten Teil ihrer Abschlüsse von Maklern besorgt hatten, entlassen worden. Auch diese Maßnahme verbesserte langfristig die Kostenstruktur des Konzerns. 6. Um Kapital der Inflation zu entziehen, wurden vor allem in Köln, wo immer dies möglich war, Immobilien gekauft. Eingehende Prämien wurden so schnell wie möglich dazu verwendet, Häuser oder Grundstücke zu erwerben. Beim Ende der Inflation verfügte Gerling über einen Immobilienbesitz, der vorsichtig geschätzt auf 17,5 Millionen Goldmark taxiert wurde. Gerling war sich darüber bewusst, dass dieser Besitz für seinen Konzern wenig produktiv war. Immerhin stellten Immobilien eine wertbeständige Sicherheit dar, die mit Hypotheken beliehen werden konnte und somit eine Reserve bildeten. 7. Schon zu Beginn der deutschen Inflation war der Konzern bemüht, sein Devisenpolster auszubauen, d. h. ein weiterer Teil der eingehenden Prämien wurden so schnell wie möglich in Devisen umgewandelt und festgelegt. Hohe Kursverluste ließen sich wegen des stark schwankenden Außenwertes der Mark nicht vermeiden, wurden aber in Kauf genommen. Diese Vorsichtsmaßnahme wurde von vielen Syndikatsgesellschaften nicht getroffen, weil sie letztendlich auf eine Stabilisierung der deutschen Währung setzten. Leider lässt sich nicht mehr klären, ob diese Idee von Gerling selbst kam, wahrscheinlich wurde sie ihm von einem oder mehreren Bankiers, die als Aufsichtsräte in seinen Regionalgesellschaften saßen, nahegelegt. Der kurzfristige Nachteil, dass Kapitalien dem operativen Geschäft zunächst entzogen wurden, fiel für Gerling deshalb nicht ins Gewicht, weil das Geschäft kontinuierlich wuchs und die Liquidität durch die stetigen Prämieneingänge sichergestellt war. Um den Transfer von Devisen und die Umwandlung von Mark-Valuta in Devisen, die durch staatliche Auflagen stark reguliert und erschwert waren, zu erleichtern, wurden Anfang 1923 zwei Tochtergesellschaften in der Schweiz und in den Niederlanden formell als Rückversicherer gegründet. Allerdings wurden sie selbst nicht als solche tätig, weil sie fast überhaupt kein Geschäft akquirierten. Auch fanden keine nennenswerten Retrozessionen an ausländische Rückversicherer zum Schutz des Konzerns statt. Der Sinn der ausländischen Gründungen bestand darin, dass MarkÜberweisungen schnell konvertiert und damit der Geldentwertung entzogen wurden, während Schadenszahlungen in Deutschland weiterhin in entwerteter Mark geleistet wurden. Zudem wurden Aktien von Schweizer Gesellschaften erworben, die ebenfalls als wertbeständig angesehen wurden. Gegen Ende der Hyperinflation verfügte der Gerling Konzern dadurch über eine Devisenstärke in Höhe von umgerechnet 7,5 Mill. Goldmark, die ihm zahlreichen deutschen Versicherern gegenüber einen entscheidenden Marktvorteil sicherte. 8. Auf dem Höhepunkt der deutschen Inflation konnten durch diese Devisenstärke zwei große deutsche Lebensversicherungsfirmen für einen sehr geringen Preis gekauft werden, die sich nahezu perfekt ergänzten. Gerling bereitete bereits kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges den Einstieg in das Geschäft mit Lebensversicherungen vor, scheute aber davor zurück, einen eigenen Verwaltungsapparat aufzubauen. Dieser sollte von einer bestendenden Firma übernommen werden. Die beiden Lebensversicherer, die nun erworben wurden,

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verfügten über eine gewachsene und solide Kundenstruktur, waren aber in der Hyperinflation zahlungsunfähig geworden, weil sie Auslandsverpflichtungen in Devisen leisten mussten. Gerling fiel es leicht, diese Verpflichtungen zu übernehmen. Fast 25 Prozent aller deutschen Lebensversicherungen (3,5 Millionen Policen) waren bei der „Friedrich-Wilhelm, Preußische Lebens- und Garantie-Versicherungs AG“ gezeichnet worden, die einerseits ein grundsolides und konservatives Geschäft betrieben hatte, die sich andererseits Ende 1922 aber am Rande des Bankrotts befand. Ergänzend hierzu wurde im Dezember 1923 die Magdeburger Lebensversicherung-Gesellschaft gekauft, die ebenso über ein solides Geschäft verfügte, auf dem Höhepunkt der Hyperinflation aber ihre Valuta-Schulden von nur 12.000 Schweizer Franken (umgerechnet später 425.000 Rentenmark) nicht mehr begleichen konnte. Die Magdeburger stellte die ideale Ergänzung dar, weil sie sich auf das Großlebensgeschäft und auf Unfallversicherungen spezialisiert hatte. Beide Firmen verfügten zudem über einen erheblichen Immobilienbesitz, den sie kurzfristig nicht hatten verwerten können. Zudem konnte Gerling nun in Verbindung mit seinen beiden Auslandsgesellschaften in Deutschland wertbeständige Lebensversicherungen auf Dollar-Basis anbieten, die sofort sehr nachgefragt wurden. 1923 zerbrach das Feuer-Kartell endgültig. Die Inflationszeit hatte mehrere organisatorische und konzeptionelle Schwächen schonungslos aufgedeckt, und das Syndikat war nicht in der Lage gewesen, angemessene, bzw. marktkonforme Antworten auf die neuen Herausforderungen zu finden. Die aufgeblähte zentrale Verwaltung erwies sich als viel zu teuer, ließ sich aber nicht sinnvoll reduzieren – im Gegenteil: die steigende Inflation führte zu weiter wachsenden Personal- und Verwaltungskosten. Während Gerling als allein verantwortlicher Familienunternehmer sehr schnell improvisierte und wichtige Entscheidungen manchmal innerhalb von wenigen Tagen traf und umsetzte, war dies dem Kartell nicht möglich. Bei der großen Zahl von Firmen, die in ihm vertreten waren, mussten stets divergierende Interessen berücksichtigt und Kompromisse gefunden werden. Zudem agierte das Kartell schon seit 1921 nicht mehr einheitlich: Der Beschluss der Syndikatsleitung, den Gerling-Konzern vollständig zu boykottieren, wurde von mehreren Mitgliedern nicht befolgt, weil sie sich von einer Kooperation mehr versprachen oder erkannt hatten, dass das Kartell angesichts der dramatischen ökonomischen Entwicklungen in der Nachkriegszeit dringend reformbedürftig war. Nach dem Ende der Hyperinflation hatte Robert Gerling sein wichtigstes geschäftliches Ziel erreicht: Das Feuerkartell war zerschlagen. Die unkonventionelle Art, mit der der Konzern geführt wurde, zeigte sich aber auch nach 1923. Gerling unterschied konzeptionell kaum zwischen Erst- und Rückversicherern. Eine seiner beiden ausländischen Rückversicherer wurde bewusst ausschließlich als konzerninterne Gesellschaft genutzt. Dies widersprach jedem Lehrbuch, weil dadurch der Gesamtkonzern zu etwa einem Drittel in sich selbst rückversichert war. Gerling umging dieses Problem dadurch, dass der konzerninternen Rück in der Schweiz, die zudem als Holding für ausländische Aktien fungierte, ausschließlich die erstklassigen Risiken überwiesen wurden, und die Prämien dadurch im Konzern verblieben. Alle anderen Risiken wurden in die üblichen Konsortialbeteiligungen für

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Rückversicherungen eingebracht, zu denen Gerling nach dem Ende des Syndikates Zugang hatte. Um die Gefahren weiter zu minimieren, wurde stets auf maximale Liquidität bei den Erstversicherern geachtet, was ebenfalls dem Lehrbuch widersprach. Selbst Großschäden sollten ohne Rückgriff auf Reserven jederzeit von den Erstversicherern gedeckt werden. Der Nachteil dieser Strategie bestand darin, dass erhebliche Kapitalien ertraglos immobilisiert wurden, die Vorteile zeigten sich aber während der Deflationszeit und der großen Wirtschaftskrise, die den Konzern kaum berührte. Die Maxime, stets so liquide wie möglich zu bleiben und nicht auf Banken angewiesen zu sein, bewährte sich besonders während der großen Bankenkrise von 1931. Robert Gerling hatte einen ausgezeichnet positionierten Konzern aufgebaut, der auf Grund seiner speziellen Struktur in der Lage war, schwerste Erschütterungen ohne große Probleme zu überstehen, wie sich nach 1929 zeigen sollte. Selbst auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise konnte der Konzern 12 Prozent Dividende an seine Aktionäre ausschütten. III. ZUR PERSON ROBERT GERLINGS IN DER WEIMARER REPUBLIK Wenn sich auch die geschäftliche Seite des Gerling-Konzerns gut rekonstruieren lässt, ist es schwierig, die Person Robert Gerling zu fassen, der wie viele erfolgreiche Unternehmer nicht zwischen Privatleben und geschäftlicher Existenz unterschied. Dem zeitgenössisch propagierten Hang zum Heldentod konnte er nichts abgewinnen: Während des Ersten Weltkrieges nutzte er seine guten Kontakte zur lokalen Kölner Bürokratie, bzw. zu einem befreundeten Arzt, um den Dienst an der Front zu vermeiden. Zwar wurde er einberufen, er blieb aber in Köln stationiert und erhielt bei wichtigen Sitzungen oder Terminen Urlaub von der Armee; Zeiten, in denen hoher Bedarf nach Kanonenfutter bestand, verbrachte er gerne im heimischen Lazarett. Das Ende des Krieges scheint er trotz der deutschen Niederlage mit Erleichterung begrüßt zu haben, weil damit – in seinen Worten – Elend, Hunger und die Verstümmelungen junger Männer aufhörten. Die wenigen, verstreuten Äußerungen zu politischen Ereignissen ergeben kein schlüssiges Gesamtbild; Politik scheint ihn überhaupt nicht interessiert zu haben. Auf dem Höhepunkt der Ruhr-Krise im August 1923 äußerte er sich pessimistisch. Die politische Lage reife einer Entscheidung entgegen, die ihn veranlasse, „recht bald für mich und die Kinder französische Wörterbücher zu kaufen […] denn bei allen großen Umwälzungen kommen nur die vorwärts, die sich nicht allzu lange bei der Klage darüber aufhalten, was sie nun alles verloren haben, vielmehr sofort wieder an die neue notwendige Arbeit gehen und sich auf die neuen Verhältnisse bestens einstellen, wobei sie ruhig ihre Ideale behalten, aber in den Winterschlaf schicken können – solange, bis man sich durch den harten Winter wieder hindurchgearbeitet hat…“.4 Erst nach massivem Druck durch einen befreundeten Industriellen unterzeichnete Gerling 1924 einen informellen Protest der liberalen Kölner Honoratioren gegen den rheinischen Separatismus, ohne sich allerdings in 4

20. August 1923, Robert Gerling an Eleonore Enners, in: Rheingruppen-Archiv, Ordner BENA.

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irgendeiner Form zu exponieren. Seit dem Ende der 1920er Jahre finden sich einige nationalistische Äußerungen. Es muss offen bleiben, ob diese aus echter Überzeugung kamen oder dem Umstand geschuldet waren, dass die deutsche Schwerindustrie und viele mittelständische Unternehmen – die wichtigste Kundschaft – rapide nach rechts rückten. Auch scheint Gerling zeitweise mit berufsständischen Vorstellungen für die gesamte deutsche Versicherungswirtschaft geliebäugelt zu haben, die eigentlich seiner radikal-liberalen Weltanschauung widersprachen, ohne diese aber konsequent verfolgt zu haben. In seiner Firma kultivierte Gerling bewusst den Ruf eines patriarchalischen Unternehmers, der die Hierarchien flach hielt. Einem Büroboten, der ihm eine zwar freche, aber schlagkräftig-witzige Antwort gab, wurde sogleich eine große Zukunft vorausgesagt. Direktoren hingegen, die nur wenige Minuten zu spät zur Arbeit kamen, wurden vor versammelter Mannschaft abgekanzelt, bzw. mussten sofortige Gehaltseinbußen hinnehmen. Um diesen zwar willkürlichen, aber populären Charakterzug rankten sich zahlreiche Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt sich nicht mehr überprüfen lässt, die aber zeigen, dass dieser Führungsstil in seinem Unternehmen durchaus als angemessen akzeptiert wurde. Stets betonte er ferner, dass er der Belegschaft hervorragende freiwillige Sozialleistungen bieten würde. Den einzigen Streik in seiner Firma empfand er 1920 als persönliche Kränkung. Firmeninterne Gründe hierfür gab es nicht, denn es wurde aus Sympathie zu den Kollegen anderer Gesellschaften gestreikt. Robert Gerling scheint dagegen sehr hart durchgegriffen und auch Mitarbeiter entlassen zu haben. Es entsteht der Eindruck, dass sich Gerling auf dem Höhepunkt seiner geschäftlichen Erfolge unterbeschäftigt fühlte, bzw. dass ihm nach seinem Sieg über das Syndikat seit der Mitte der 1920er Jahre eine Perspektive fehlte. Sein Konzern befand sich in einer ökonomisch unangreifbaren Position und Geld spielte keine Rolle mehr. Robert Gerling scheint sich schlicht gelangweilt zu haben, wenn er plötzlich aus einer Laune heraus einen seiner Direktoren zu sich rufen ließ und mit ihm in einem erstklassigen Kölner Restaurant mehrere Flaschen Wein, bevorzugt Mosel, leerte. Der alte und etablierte katholische und jüdische Kölner Geldadel rümpfte ohnehin hinter vorgehaltener Hand die Nase über den neureichen Aufsteiger, der sich mit der sogenannten Marienburg in einer der teuersten Gegenden Kölns eine schlossartige Villa im Stil der deutschen Renaissance mit angrenzendem Park leistete. Robert Gerling kaufte sich ferner mehrere luxuriöse Motoryachten, mit denen er mit großen Gesellschaften Ausflüge auf dem Rhein unternahm, stets in Begleitung von Industriellen, die seiner Firma nützlich waren. Zwar machte er niemals einen Führerschein, schenkte aber seinen drei minderjährigen Söhnen jeweils einen Maybach mit Chauffeur, um die Härten des Schulweges zu lindern, und er ließ sich stolz in dandyhafter Pose vor den Luxuswagen fotografieren. Dem Ferntourismus konnte er nicht viel abgewinnen. Gemeinsam mit seinem ältesten Sohn Robert (jun.) reiste er mit dem Dampfer in der Ersten Klasse nach New York, doch interessierte ihn die Stadt überhaupt nicht. Das Schiff verließ er nur einmal, um New York vom Taxi aus zu besichtigen, dann kehrte er in seine Kabine zurück und wartete mehrere Tage auf die Rückfahrt nach Europa. Von einer Reise mit dem Zeppelin nach Südamerika, die Gerling 1932 mit einem engen Freund unternahm, liegt ein

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umfangreicher Reisebericht vor. Auch diese Fahrt sagte ihm nicht zu: Die Weine an Bord waren mäßig, Zigarrenrauchen war strikt verboten, der Blick aus dem Fenster bot meist nur wenig Abwechslung, und Südamerika blieb ihm gänzlich fremd.5 Ende 1932 erkrankte Robert Gerling an einer schmerzhaften bakteriellen Darminfektion, die mit den damaligen medizinischen Mitteln nicht heilbar war, und die nur mit strikten Diäten und Kuren behandelt werden konnte. Im gleichen Jahr zog er nach St. Moritz in die Schweiz. Er überließ das Alltagsgeschäft seinen bewährten Mitarbeitern und leitete die Kölner Firma aus der Ferne, bzw. kümmerte sich nur noch um grundsätzliche strategische Weichenstellungen. Ob die Entscheidung in die Schweiz überzusiedeln mit dem wachsenden Erfolg des Nationalsozialismus zu tun hatte, ist zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich. Gerling war ein viel zu unpolitischer Mensch, als dass er die Gefahr gesehen hätte, die von Hitler ausging. Gerüchte über große Zahlungen des Konzerns an die NSDAP, die Anfang der 1930er Jahre von unbekannter Seite in die Presse lanciert worden waren, erwiesen sich als falsch. Vor 1933 ist nur eine einmalige Spende von 500 Mark an die NS-Mittagsspeisung nachweisbar. Stattdessen dürften ausschließlich private Gründe für den Umzug in die Schweiz verantwortlich gewesen sein: Seit der Mitte der 1920er Jahre hatte Robert Gerling regelmäßig seinen Urlaub in St. Moritz verbracht, er liebte den Wintersport, und auch seine Familie war von dem Ort sehr angetan. Zudem war Gerlings stete Anwesenheit in Köln gerade wegen seiner großen geschäftlichen Erfolge nicht mehr notwendig – der Konzern hatte sich zum Selbstläufer entwickelt. Von der chronischen Krankheit geschwächt verstarb Robert Gerling am 25. Januar 1935 an einer Lungenentzündung. Robert Gerling konnte seinen Konzern nur deshalb so erfolgreich positionieren, weil er die spezifische Struktur des Familienunternehmens nutzte. Eine Aktiengesellschaft hätte eine derart riskante Strategie der Expansion, wie sie der Konzern vor dem Ersten Weltkrieg und vor allem in der Inflationszeit verfolgte, wohl kaum wagen können. Zudem konnte sich die Strategie des „outsiders“ nur langfristig rentieren, für eine Aktiengesellschaft wäre es sehr viel vernünftiger gewesen, dem Syndikat beizutreten und damit kurzfristige Gewinne sofort zu realisieren. Der Begriff des „Inflationsgewinners“ hatte vor dem Hintergrund von 1923 in Deutschland einen eindeutig negativen Beigeschmack, suggeriert er doch, dass ein skrupelloser Kapitalist große Profite realisiert, während die breiten Massen ihre letzten Spargroschen verlieren. Dahinter stand aber ein Volksgemeinschaftsgedanke, der dem rheinischen Kapitalismus, der schon vor dem Kaiserreich entstanden war und der freihändlerisch-liberale Gedanken mit patriarchalischer Verantwortung kombinierte, ursprünglich fremd war. Robert Gerlings Stärke bestand in seiner Fähigkeit, unkonventionelle Wege zu gehen und in den Herausforderungen extremer ökonomischer Krisen nicht vor den zahlreichen Risiken zurückzuschrecken, sondern die wenigen Möglichkeiten zu sehen und zu nutzen. „Glück“ ist keine analytische Kategorie, die der Unternehmenshistoriker benutzen sollte, aber letztlich ist der Erfolg Gerlings auch dadurch zu erklären, dass er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war 5

Bericht Hans Harney über eine Zeppelin-Luftschiffreise vom 11. September bis zum 21. September 1932, in: Rheingruppen-Archiv, 1.07 (V).

Robert Gerling (1878–1935)

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und mit einigem Scharfsinn die richtigen Mittel gefunden hat, um seine eigenen Fähigkeiten und die seiner Mitarbeiter optimal einzusetzen. Robert Gerlings Stellung als Unternehmer in der Weimarer Republik ist schwer zu bewerten. Wolf von Niebelschütz, einer seiner Biographen, hat seinen Aufstieg in der klassischen Form der heroischen und dramatisierenden Unternehmerbiographie geschildert: Der junge, brillante aber mittellose Mann mit der genialen Geschäftsidee muss sich mit allerlei missgünstigen Neidern, bösartigen Konkurrenten, erbitterten Feinden, dem nichtsnutzigen Mittelmaß und den Schwierigkeiten der Zeit herumschlagen, bis ihm am Schluss dank seiner Genialität und Durchsetzungsfähigkeit, seines Könnens und einiger weniger Freunde, die gläubigen Jüngern gleichen, der Sieg über die bis zuletzt mit Unverständnis agierende Mehrheit gelingt. Eine derartige Interpretation, die bis in die 1960er Jahre hinein in Deutschland populär war, ist dem heutigen Historiker glücklicherweise fremd geworden und hat den Blick auf die Realitäten eher versperrt als erweitert. Man könnte den Aufstieg Robert Gerlings auch mit einem anderen Narrativ fassen: Für den Nationalökonomen Werner Sombart stellten junge innovative Unternehmer Condottieri oder Konquistadoren dar. In dieser Perspektive verkörperte Robert Gerling den Prototyp des entschieden liberalen Unternehmers, der als produktiver Zerstörer auftrat, verkrustete Strukturen aufbrach, die entscheidende Lücke im Markt erkannte und damit das kapitalistische System vor Erstarrung und Bürokratisierung bewahrte. Derartigen Stereotypen zufolge entsprach Robert Gerling eher US-amerikanischen als deutschen Vorstellungen. Zwar hat er seine Karriere nicht als Tellerwäscher, sondern als Lehrjunge begonnen, aber das Modell des durchsetzungsfähigen selfmade man, der zum Multimillionär wird, entspricht präzise der reinen liberalkapitalistischen Lehre. Der Aufstieg Robert Gerlings wäre allerdings niemals möglich gewesen, wenn die Konkurrenz nicht schwere Fehler begangen hätte. Das Feuersyndikat hat fast 24 Jahre lang existiert. Für ein derart heterogenes Kartell, dem mehrere hundert Firmen mit unterschiedlichen Interessen angehörten, ist das eine bemerkenswerte Leistung. Die deutschen Feuerversicherer haben in dieser Periode trotz erheblicher Widerstände im Kaiserreich, dem Weltkrieg und z. T. auch noch in der chaotischen Nachkriegszeit enorme Profite realisiert. Auch wenn Robert Gerling dieses Faktum wahrscheinlich nicht zugegeben hätte, war sein Aufstieg nur möglich, eben weil das Syndikat zuvor den Markt bereinigt und neu strukturiert hatte. Hätte er seine Firma während der chaotischen Preiskämpfe der 1890er Jahre gegründet, wäre er wahrscheinlich schnell bankrottgegangen, weil die strukturellen Voraussetzungen für eine gleichwertige Partnerschaft zwischen Versicherer und Industrieunternehmen überhaupt nicht vorhanden gewesen wären. Zudem hatte das Syndikat durch drastische Maßnahmen die Zahl der Feuerunfälle in der Industrie bereits gesenkt, und die Jahre 1906 bis 1910, in denen die ersten Industriellen zu Gerling überliefen, waren sehr schadensarm. Indirekt profitierte er also erheblich von den Maßnahmen des Syndikates. Gerlings radikalliberales Credo, das er stets zur Begründung seiner Erfolge anführte, war notwendigerweise darauf angewiesen, dass ein Monopolist zuvor die freien Marktkräfte zum Vorteil aller vorübergehend außer Kraft gesetzt hatte.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Arps, Ludwig, Auf sicheren Pfeilern. Deutsche Versicherungswirtschaft vor 1914, Göttingen 1965. Arps, Ludwig, Deutsche Versicherungsunternehmer, Karlsruhe 1968. Barth, Boris, Die Anfänge des Gerling-Konzerns 1904 bis 1926. Der „Outsider“ Robert Gerling, das „Feuerkartell“ und die Lücke im Markt, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 50 (2005), S. 36–62. Barth, Boris, Der Gerling-Konzern als Familienunternehmen, in: Susanne Hilger / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Familienunternehmen im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009, S. 103– 118. Niebelschütz, Wolf von, Robert Gerling. Ein dramatisches Kapitel deutscher Versicherungsgeschichte, Tübingen 1954.

OTTO WOLFF (1881–1940) – EIN EVANGELISCHER KAUFMANN AUS DEM RHEINLAND Dittmar Dahlmann Otto Wolff wurde am 8. April 1881 als Sohn des katholischen Kirchenorganisten und Musiklehrers Johann Peter Wolff und der evangelischen Unternehmertochter Albertine Kalthoff in Bonn geboren und dort evangelisch erzogen.1 Nach dem frühen Tod des geliebten Vaters 1892 beendete er die Schule mit dem Einjährigen und begann eine Lehre als Kaufmann. Nach deren Abschluss war er einige Zeit als Handelsvertreter tätig, wozu 1901 auch ein längerer Paris-Aufenthalt gehörte, wo er gute Französischkenntnisse erwarb. Nach seiner Militärzeit als EinjährigFreiwilliger war er als Reisender auf Provisionsbasis für ein Kölner Schrott- und Eisenhandelsunternehmen tätig, bei dem er auch seinen späteren Kompagnon Ottmar Strauss, den Sohn eines jüdischen Unternehmers, kennenlernte.2 Beide gründeten Ende Juni 1904 mit einem von Wolffs Mutter geliehenen Startkapital von 30.000 Mark eine Firma für Eisenhandel, in die Strauss offiziell im Oktober des Jahres als persönlich haftender Gesellschafter eintrat. An dieser Offenen Handelsgesellschaft besaß Wolff 57,5 Prozent und Strauss 42,5 Prozent der Anteile.3 Das neugegründete Unternehmen entwickelte sich erfolgreich, konnte bald Mitarbeiter einstellen und schon am 1. Januar 1906 neue Geschäftsräume am Kölner Neumarkt beziehen. Eine erste Krise überstand die Firma 1908 dank eines Blankokredits des Kölner Privatbankhauses A. Schaaffhausen‘scher Bankverein, dessen Bonner Niederlassung Wolffs ehemaliger Vormund Albert Kistemann leitete. Nach dieser Krise ging es für das Unternehmen zügig aufwärts. Es folgten größere Aufträge, darunter die Demontage der Kölner Gitterbrücke im Jahr 1909 1

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Der Artikel basiert auf meinem Beitrag Das Unternehmen Otto Wolff. Vom Alteisenhandel zum Weltkonzern (1904–1929), in: Peter Danylow / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik, Berlin 2005, S. 13–97 sowie auf den Beiträgen von Eckart Conze, „Titane der modernen Wirtschaft“. Otto Wolff (1881–1940), in: ebd., S. 99–151 und Jost Dülffer, Die „Gruppe Otto Wolff“ 1929 bis 1945, in: ebd., S. 153–243. Diese Beiträge beruhen großteils auf dem Bestand Otto Wolff AG (Abt. 72) in der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln (RWWA) und der Auswertung weiterer Archive im In- und Ausland. Ottmar Strauss wurde am 19. Mai 1878 entweder in Mülhausen (Elsass) oder in Ludwigshafen als jüngstes von acht Kindern aus der ersten Ehe des jüdischen Unternehmers Emanuel Strauss geboren. Dieter Mechlinski, Der Geheime Regierungsrat Ottmar Edwin Strauss – Biografie eines vergessenen Königswinterer Mitbürgers, 7. Aufl., Königswinter 2012, S. 5; Elfi Pracht, Ottmar Strauss. Industrieller, Staatsbeamter, Kunstsammler, in: Menora. Jahrbuch für deutschjüdische Geschichte 4 (1994), S. 39–70, hier S. 39. RWWA, Abt. Otto Wolff AG 72–532–4: firmeninterne Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Firma Otto Wolff.

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und bald darauf auch der Einstieg in das Neueisengeschäft, in den Handel mit Walzwerkerzeugnissen, insbesondere Weiß- und Feinbleche. Während die Geschichte der „Otto-Wolff-Gruppe“, wie sich das Unternehmen gerne selbst bezeichnete, recht gut dokumentiert ist, wissen wir über den „Privatmenschen“ nur relativ wenig. 1905 heiratete Wolff die fünf Jahre ältere Anna Maria Sieberg, deren Bruder bis 1926 einer der Prokuristen der Firma war. Die Ehe wurde 1925 einvernehmlich geschieden. Das Paar hatte keine gemeinsamen Kinder, adoptierte aber 1914 und 1916 zwei unehelich geborene Jungen, von denen der erste den Namen Otto Wolff, der zweite den Namen Hans Wolff erhielt. Der dritte Sohn, Otto Wolff von Amerongen, war sein leibliches Kind und entstammte seiner Beziehung mit Else Pieper, der ersten Angestellten der Firma seit 1905, die bald das Sekretariat übernahm. Da Otto Wolff zum Zeitpunkt der Geburt seines Sohnes, am 6. August 1918, noch verheiratet war, wurde zur Wahrung der Form im März 1918 eine Ehe mit dem Freiherrn Hans Taets von Amerongen organisiert, die allerdings nach zwei Jahren wieder geschieden wurde. Otto Wolff heiratete allerdings nicht erneut und adoptierte seinen leiblichen Sohn auch erst 17-jährig im Jahre 1935. Seit 1912 wurden Geschäftsbeziehungen zu Krupp und Mannesmann angeknüpft, bei denen das Unternehmen Otto Wolff sicherlich der Juniorpartner war. Zugleich expandierte die Firma nun auch ins Ausland und hatte Beteiligungen, Vertretungen und Niederlassungen in London, Stockholm, Mailand, Paris und Rio de Janeiro. 1912 überschritt der Umsatz erstmals die Millionengrenze, was am Jahresende im Kölner Hotel Savoy ebenso gebührend gefeiert wurde wie im Juni 1914 das zehnjährige Bestehen der Firma, die sich in dieser doch recht kurzen Zeit zu einem etablierten Unternehmen im Eisen- und Blechhandel entwickelt hatte. Otto Wolff und Ottmar Strauss feierten offensichtlich gerne und ausgiebig. In jener Zeit gehörten sie zwar noch nicht zu den Kölner Millionären, wie es in den 1920er Jahren und später immer wieder behauptet wurde, waren aber auf einem guten Weg dorthin. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Strauss als garnisonsverwendungsfähig eingezogen, Wolff hingegen war nicht kriegsverwendungsfähig. So leitete er das Unternehmen von Köln aus, während Strauss bald ins Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt in Berlin (WUMBA) gelangte, schließlich ins Reichsmarineamt, wobei er die Interessen der Firma nie aus den Augen verlor. Seit November 1914 vertieften sich zudem die geschäftlichen Beziehungen zwischen Wolff und Krupp. Darüber hinaus engagierte sich das Unternehmen Otto Wolff noch stärker im Weißblechgeschäft und im Maschinenbau. Aufgrund der Expansion wurden am 1. Juli 1916 neue Geschäftsräume in der Zeughausstraße bezogen und kurz darauf auch die Nachbarhäuser erworben. Ein Jahr später stieg Wolff auch in das Import- und Exportgeschäft mit den Niederlanden ein und gründete in Amsterdam ein entsprechendes Unternehmen (Nedeximpo), eine Gründung, die sich in den folgenden Jahren als zukunftsträchtig erweisen sollte. Umsätze und Gewinne stiegen erheblich an; 1918 lag der Umsatz bei 13,6 Mio. Mark. Offensichtlich gelang es Otto Wolff trotz der schwierigen Kriegsjahre, seine Belegschaft zu motivieren. Ob und in welcher Höhe Wolff und Strauss Kriegsanleihen zeichneten, entzieht sich unserer Kenntnis. In jedem Falle

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beteiligte er sich an der „U-Boot-Spende“ und gab auch Gelder an die Deutsche Vaterlandspartei und die Deutsche Kolonialgesellschaft. In dieser Hinsicht zeigte er sich, wie Eckart Conze resümierte, als „überzeugter ‚Wilhelminer‘“, der es an vaterländischer Gesinnung und seinem Kriegs- und Siegeswillen nicht fehlen ließ.4 Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg standen Wolff und Strauss auf Seiten der liberalen Parteien. Während Wolff wohl eher der Deutschen Volkspartei (DVP), der wirtschaftsfreundlichen Partei Gustav Stresemanns nahestand, trat Strauss in die linksliberale Deutsche Demokratische Partei ein. Beide unterstützten entweder die Parteien oder deren Presseorgane, bisweilen taten sie auch beides. Auch in den ersten beiden Jahren nach Kriegsende blieb Strauss in Berlin, Wolff hingegen kümmerte sich in Köln um die Geschäfte und um Politik. Beide, wie kaum anders denkbar, pflegten und erweiterten ihre Beziehungen zu politischen Kreisen. In Köln stand Wolff dem seit 1917 amtierenden Oberbürgermeister Konrad Adenauer nahe sowie den Bankiers Louis Hagen5 und Simon Alfred Freiherr von Oppenheim und dem Unternehmer Paul Silverberg6 (Rheinbraun). 1919 lernte er zudem Robert Pferdmenges kennen, mit dem ihn bald ein enges Verhältnis verbinden sollte. Strauss, den beispielsweise Maximilian Harden in jenen Jahren für eine „graue Eminenz“ hielt und dessen Privatvermögen im Winter 1918/19 auf vorgeblich 500 Millionen Mark geschätzt wurde, war Geheimer Regierungsrat im Preußischen Staatskommissariat für öffentliche Ordnung, bewegte sich zudem im Umfeld von Matthias Erzberger und hielt sich zuweilen während der Beratungen der Nationalversammlung auch in Weimar auf, wo er Feste und Empfänge gab, Tafelrunden und Kartenabende veranstaltete, all dies geprägt von „echt kölnischer Lebe- und Gebelaune“.7 Straussʼ und Wolffs Nähe zu Erzberger verwickelte die beiden Kölner Unternehmer in die Erzberger-Affäre, die Karl Helfferich, Mitglied der republikfeindlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), mit seinen verleumderischen Vorwürfen von Korruption, Vetternwirtschaft und der Vermengung staatlicher mit privater und unternehmerischer Interessen gegen Erzberger auslöste. Die Vorwürfe ließen sich vor Gericht rasch entkräften und schließlich gewann Erzberger den Prozess gegen Helfferich. Dennoch war Erzbergers Ansehen beschädigt. Auf der Rechten bestand stets der Verdacht, dem Kommerz die nationalen Interessen zu opfern und übermäßigen jüdischen Einfluss zu dulden. Strauss und Wolff blieben seit dieser Zeit wieder und wieder die Zielscheiben offener oder versteckter antisemitischer Hetze. Den Nationalsozialisten war das Unternehmen stets ein Dorn im Auge und sollte unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Trotz der bisweilen chaotischen Verhältnisse in den ersten Jahren der Weimarer Republik setzte das Unternehmen Otto Wolff seinen Expansionskurs fort. Dies galt sowohl für die Ausweitung der Beziehungen, Kontakte und Geschäfte mit den Niederlanden, von wo aus sich auch der britische und der Markt in Übersee öffneten, als auch für die innerdeutschen Aktivitäten. Das Exportgeschäft spielte unmit4 5 6 7

Conze, „Titane der modernen Wirtschaft“, S. 113. Zu Louis Hagen vgl. den Beitrag von Ulrich S. Soénius in diesem Band. Zu Paul Silverberg vgl. den Beitrag von Boris Gehlen in diesem Band. Conze, „Titane der modernen Wirtschaft“, S. 116 f.

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telbar nach Kriegsende eine derart wichtige Rolle, dass in der Firma Ende 1918 eine zentrale Exportabteilung gegründet wurde. Immer wichtiger wurden auch die Beziehungen zu den Banken, um die Ausweitung der Geschäfte finanzieren zu können. Neben Oppenheim, Hagen und Pferdmenges, der den A. Schaaffhausen’schen Bankverein leitete, verfügte Wolff über gute Verbindungen zu J. H. Stein und zu Franz Koenigs vom Bankhaus Delbrück, Schickler & Co. bzw. Delbrück, von der Heydt & Co. Dabei galten Hagen und Koenigs in den Anfangsjahren der jungen Republik als Hausbankiers der Otto Wolff-Gruppe. Bald nach Kriegsende begann das Unternehmen Otto Wolff, größere Aktienpakete jener produzierenden Firmen aufzukaufen, mit denen es teilweise bereits in enger Verbindung stand. Dazu gehörten die Vereinigten Stahlwerke van der Zypen und Wissener Eisenhütte AG, die Rasselsteiner Eisenwerksgesellschaft und die Rheinischen Stahlwerke (Rheinstahl). Im Herbst 1919 kaufte Otto Wolff mit Hilfe der Banken ein großes Aktienpaket der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb und ließ im Namen der Nedeximpo weitere Aktien in vorsichtiger und diskreter Weise aufkaufen. Mitte November 1919 stellte das Unternehmen Otto Wolff dieses Aktienpaket sowie Aktien von Rheinstahl und Defries im Wert von rund fünf Mio. Mark dem Reichsfinanzministerium zur Verfügung. Sie wurden an ein Teilunternehmen der Royal Dutch gegen ein Darlehen von 40 Mio. Mark bei vier Prozent Zinsen verpfändet. Diese Transaktion erfolgte, damit das Reich Öl kaufen konnte, denn das niederländische Unternehmen wollte nur gegen entsprechende Sicherheiten liefern. Die Rückzahlung des Darlehens erfolgte fristgerecht bis Ende November 1922. Aktivitäten in den Niederlanden und die Zusammenarbeit mit dortigen Unternehmern verfolgte Otto Wolff in den folgenden Jahren recht intensiv. Insbesondere pflegte man die Beziehungen zu führenden Bankiers und Unternehmern wie A. G. Kröller, Cornelis Johannes Karel van Aalst und Frederik H. Fentener van Vlissingen. Die beiden Letztgenannten waren die führenden Köpfe der 1917 gegründeten Koninklijke Nederlandse Hoogovens en Staalfabrieken (KNH) bei Ijmuiden an der Nordseeküste, deren größter Aktionär der niederländische Staat war. Das niederländische Unternehmen suchte Beteiligungen und Geschäftsbeziehungen mit deutschen Unternehmen und stand bereits in Verbindung mit dem Duisburger Thyssen-Konzern und der Gutehoffnungshütte (GHH) in Oberhausen. Nunmehr kam es durch die Vermittlung des Bankiers Franz Koenigs auch zu Beziehungen mit der Firma Wolff in Köln. Die beiden Unternehmen vereinbarten, sich in größerem Maßstab an Phoenix zu beteiligen, an dem Wolff bereits Anteile hielt. Die Verbindung sollte vor allem dazu dienen, das Exportgeschäft des Kölner Unternehmens noch weiter auszubauen, denn es sollte für den Export von Eisen und Stahl in die Niederlande und deren Kolonien ein Exklusivrecht erhalten. Wolff versuchte zudem seit Anfang der 1920er Jahre, die drei großen Eisen- und Stahlunternehmen, an denen er maßgeblich beteiligt war, Phoenix, Rheinstahl und van der Zypen/Wissen, zu einer Fusion zu bewegen. Grundsätzlich gelungen ist dies allerdings nicht, auch wenn schließlich Hoogovens, die Haniel-Gruppe, größter Aktionär bei Phoenix, und Otto Wolff in einer gemeinsamen Aktion den Generaldirektor von Phoenix, Wilhelm

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Beukenberg, und den Vorstand des Aufsichtsrates, die Bankiers Louis Hagen und Simon Alfred Frhr. von Oppenheim, von ihren Posten verdrängten. Seit jenen Jahren kreuzten sich auch häufiger die Wege von Otto Wolff und Friedrich Flick8, beide soziale Aufsteiger, die in den kommenden beiden Jahrzehnten immer wieder einander in die Quere gerieten, wobei wohl festzuhalten ist, dass Flick der nüchternere Geschäftsmann war. Zwar gelang es Wolff nicht, die von ihm angestrebte Fusion der drei Großunternehmen Phoenix, Rheinstahl und van der Zypen/Wissen in die Tat umzusetzen und auch die Gründung einer Interessengemeinschaft dieser drei Unternehmen missglückte, weil es immer wieder divergierende Interessen anderer Großaktionäre gab, die Wolffs Pläne durchkreuzten. Durchgängig erfolgreich war das Unternehmen Otto Wolff auf seinem ureigenen Gebiet, dem Handel und hier ganz besonders im Export. Es kann daher nicht verwundern, dass im Mai 1922 die Exportabteilung der Firma in eine selbstständige Kommanditgesellschaft umgewandelt wurde und als neue Firma die Eisenausfuhr Otto Wolff & Co. KG gegründet wurde. Die neue Firma übernahm den Alleinverkauf der drei Unternehmen Phoenix, Rheinische Stahlwerke und van der Zypen/Wissen für die Ausfuhr der Eisen und Stahlerzeugnisse in alle Länder, wobei es für bestimmte Länder Sonderverträge gab, weil dort bereits Unternehmen agierten, an denen Wolff in verschiedenster Form beteiligt war oder die zur Otto-Wolff-Gruppe gehörten. In jener Zeit begannen auch die schon zur damaligen Zeit als „Russengeschäfte“ bezeichneten Geschäftsbeziehungen zwischen der Firma Otto Wolff und der Sowjetunion. Es lässt sich anhand des überlieferten Materials nicht klären, wie die Aufnahme dieser Geschäfte erfolgte. Im April 1921, also kurz vor dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Handelsabkommens vom 6. Mai 1921, gab es den ersten Auftrag für Wolff zur Lieferung von Eisenbahnschienen und LokomotivSiederohren. Für die Durchführung dieses Auftrages wurde ein Konsortium unter Führung von Friedr. Krupp gegründet. In der Folgezeit, noch vor Abschluss des Rapallo-Vertrages zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, lieferte Wolff Röhren, Bleche, Eisenbahnkupplungen und andere Eisen- und Stahlprodukte in die UdSSR. Der Vertrag erleichterte die Geschäftsbeziehungen und führte zu einer Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. So wurde am 9. Oktober 1922 unter wesentlicher Beteiligung von Otto Wolff die Deutsch-Russische Handels-Aktiengesellschaft (Russgertorg) in Berlin gegründet, die allerdings kaum ein Jahr reibungslos funktionierte, so sehr Wolff sich auch bemühte, da die Kreditforderungen der sowjetischen Seite kaum zu erfüllen waren. Im Januar 1924 kündigte Wolff den Vertrag mit der Sowjetunion, blieb aber weiterhin an Geschäften mit der Sowjetunion interessiert und wies auch öffentlich, so schon 1923 in einem Beitrag für die „Kölnische Zeitung“ darauf hin, dass der russische Markt ein „unerwarteter Ersatz für die „durch den unglücklichen Ausgang des Krieges in der Welt verlorenen Märkte“ sei.9 So war Wolff auch an der im Juli 1926 gegründeten Industriefinanzierungsgesellschaft Ost (IFAGO) beteiligt, 8 9

Zu Friedrich Flick vgl. den Beitrag von Tim Schanetzky in diesem Band. Dahlmann, Unternehmen Otto Wolff, S. 50. Wolffs Artikel erschien in der Kölnischen Zeitung vom 25. August 1923, Abendausgabe, S. 1.

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die hauptsächlich in der Beratung und Finanzierung der Exportgeschäfte tätig war. Zugleich bemühte er sich darum, die Exportgeschäfte durch Beteiligung ausländischer Unternehmer, etwa US-amerikanischer oder französischer Firmen, auszudehnen. Als sich am Ende der 1920er Jahre die deutsch-sowjetischen Beziehungen verschlechterten, kamen auch die wirtschaftlichen Beziehungen weitgehend zum Erliegen, die, wie es in einem Nachruf auf Otto Wolff hieß, „sein Steckenpferd“ gewesen seien.10 Sie erhielten kurze Zeit später, als die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sich immer deutlicher abzeichneten, erneut eine große Bedeutung. Seine Unabhängigkeit im Denken und Handeln bewies Wolff in der Zeit des „Ruhrkampfes“ zwischen Januar und November 1923. Auch wenn er einerseits der Regierung von Gustav Stresemann nahestand und andererseits durchaus gewisse Sympathien für einen „Rheinlandstaat“ hatte, so suchte er doch einen Ausgleich der Interessen und der Positionen herzustellen. Zudem war er durchaus frankophil orientiert und hoffte, durch seine Gespräche mit der Besatzungsmacht zur Entspannung der Lage beitragen zu können. Dies hat ihm in bestimmten Kreisen den Ruf eines Vaterlandsverräters und skrupellosen Geschäftsmannes mit einer sozialreaktionären Einstellung eingebracht. Jeder Versuch einer Verständigung mit Frankreich trug bereits das Odium des Verrats. Trotz heftiger Widerstände von Seiten der Reichsregierung und anderer Unternehmer im Ruhrgebiet schloss Wolff gemeinsam mit den Vorständen von Phoenix und Rheinstahl ein Abkommen mit der französisch-belgischen Seite über die Wiederaufnahme der Reparationsleistungen und die Zahlung der rückständigen Kohlensteuer. Diesem Abkommen der Wolff-Gruppe folgten zunächst Krupp in Essen und dann die übrigen Unternehmen, die durchaus bessere Konditionen erhielten als Wolff, was ihn heftig erbitterte. In jedem Falle blieb Wolff ein Verfechter einer wirtschaftlichen und auch politischen Annäherung von Frankreich und Deutschland und dies nicht nur, weil seine Schwester mit einem Franzosen verheiratet war. Spätestens seit den 1920er Jahren lebte Wolff sowohl in Köln als auch in Berlin und war zudem häufig auf Reisen, sei es per Schlafwagen, im Auto oder sogar im Flugzeug. In beiden Städten verfügte Otto Wolff über ansehnlichen Immobilienbesitz. In Köln war dies eine Villa in der Wörthstraße sowie Häuser und Grundstücke in der Germanicusstraße, am Bayenthalgürtel, in der Alteburgstraße und am KaiserFriedrich-Ufer, in Berlin besaß er ein Haus am Lützowufer und Immobilien in der Großen Querstraße und in der Tiergartenstraße. Außer diesen städtischen Immobilien besaß Wolff noch ein Bauernhaus im Bergischen Land, in das er sich häufiger zurückzog. Gesellschaftlichen Verpflichtungen kam er sowohl als Gastgeber als auch als Gast nach, und gutem Essen und Trinken stand er keinesfalls ablehnend gegenüber. Seine zumeist wohl nur kurzen Rückzüge aus dem hektischen Großstadtleben, in der seine Sehnsucht nach Ruhe zum Tragen kam, reichten nicht aus, um gesundheitlichen Probleme unter Kontrolle zu bekommen. So nahmen seit der Mitte der 1920er Jahre seine Kur- und Erholungsaufenthalte in Bad Kissingen, im Enga10

Oscar Schmidt, Der Kölner Eisenhändler. Erinnerungen aus Gesprächen mit Otto Wolff, in: Kölnische Zeitung vom 28. Januar 1940.

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din oder in Karlsbad stetig zu. Seine offensichtlich unbezähmbare Esslust führte zu starkem Übergewicht, zu Zuckerkrankheit und einem Herzleiden. Dennoch hat Wolff sich keinesfalls geschont und reiste trotz all dieser gesundheitlichen Probleme in den Jahren 1935 und 1937 aus – nicht nur – geschäftlichen Interessen nach China, wo er sich im Umfeld des Generals und Führers der nationalchinesischen Bewegung Chiang Kai-shek bewegte, der bei Wolffs Tod ein längeres Kondolenztelegramm sandte. Jedoch gab es nur einen kleinen Kreis enger persönlicher Freunde, zu denen unter anderem Oscar Schlitter, Direktor und Vorstandsmitglied der Deutschen Bank in Berlin, gehörte. Aus der Korrespondenz zwischen ihnen geht das Miteinander von geschäftlich-vertraulichen Informationen und privaten Beziehungen deutlich hervor.11 Privat sammelte Wolff Bücher und seine Bibliotheken in Köln und Berlin umfassten Mitte der 1930er Jahre rund 13.000 Bände, darunter befanden sich auch bibliophile Drucke aus dem Umkreis des Expressionismus und des Bauhauses. Die Bibliotheken wurden von einer Historikerin betreut, denn ihr Schwerpunkt lag eindeutig auf historischen Werken. Besonders interessierte Wolff sich für Preußen in der Zeit Friedrichs II., für das Napoleonische Zeitalter und die europäische Revolutionsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Zum Bestand gehörten auch Autographen, Handschriften, Flugschriften und Pamphlete. Diese „Sammlung Otto Wolff“ ging nach Wolffs Tod in den Bestand der Kölner Universitätsbibliothek ein. Zu den weiteren Interessensgebieten Wolffs gehörten die Wirtschafts-, Finanzund Geldgeschichte. Wirtschaftshistorische Themen behandelte er in seiner Biographie des Großkaufmanns, Bankiers und Börsenspekulanten Gabriel-Julien Ouvrard, die er mit Hilfe des Historikers Dr. Alfred Ludwig Schmitz, von dem auch das Nachwort stammt, 1932 publizierte.12 Die Wissenschaftlichkeit kann man dem Werk keinesfalls absprechen, auch wenn es, wie bisweilen angemerkt wird, autobiographische Züge trägt. Dabei ist anzumerken, dass Wolff im 20. Jahrhundert an Unternehmen wie dem Bankhaus Hope & Co. in Amsterdam und dem Unternehmen der Gebrüder Stumm beteiligt war, mit denen schon Ouvrard mehr als einhundert Jahre zuvor Geschäftsbeziehungen gehabt hatte. Ein weiteres Buchprojekt zur Finanzierung des Dreißigjährigen Krieges konnte Wolff nicht mehr vollenden. Kehren wir zurück zu den geschäftlichen Aktivitäten der Otto-Wolff-Gruppe. Sie überstand die Ruhrbesetzung und die Inflationsphase zwar nicht unbeschadet, aber doch ohne größere Verluste und Einbußen. Ein Verlustgeschäft war der Erwerb von Anteilen an der Mansfeld AG für Bergbau und Hüttenbetrieb in Eisleben in den Jahren 1923 bis 1925. Auch Phoenix entwickelte sich nicht, wie Wolff es wohl erwartet hatte, und machte weiterhin keine Gewinne. Insgesamt lief die Entwicklung bei Kohle und Stahl schlecht. Im Exportgeschäft hingegen liefen die Geschäfte anscheinend gut, auch wenn uns serielle Daten fehlen und sich dies nur mit punktuellen Aufstellungen belegen lässt. Inzwischen war England der wichtigste Abnehmer geworden, vor Rumänien und Serbien, in diesen beiden Fällen handelte es sich ausschließlich um Reparati11 12

Historisches Archiv der Deutschen Bank, Frankfurt/Main (HADB), P 5192. Otto Wolff, Die Geschäfte des Herrn Ouvrard. Aus dem Leben eines genialen Spekulanten, Berlin 1932, 2. Aufl. 1933.

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onslieferungen von Eisenbahnmaterial. Die Ausfuhr in die UdSSR spielte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kaum noch eine Rolle, dafür rückte allmählich der asiatische und afrikanische Markt zumindest punktuell in den Blickpunkt des Unternehmens. Nach der Gründung der Rohstahlgemeinschaft im November 1924 wurden bald darauf die Weichen für weitere einschneidende Änderungen in der deutschen Montanindustrie gestellt. Auf einer Sitzung der Personalkommission der Rheinischen Stahlwerke in Berlin im Sommer 1925 regte Wolff angesichts der schlechten Lage auf dem Stahlmarkt an, die „Stahlerzeugung möglichst aller großen Thomaswerke des Reviers“ in einer Betriebsgemeinschaft zusammenzulegen, wodurch die Erzeugung „ganz wesentlich“ eingeschränkt und somit auch verbilligt würde.13 Dieser Gedanke wurde sowohl in Kreisen der Stahlerzeugung im Ruhrgebiet als auch von den Banken mit großer Zustimmung aufgegriffen. Wenige Tage später erschien in der „Kölnischen Zeitung“ ein Artikel mit der Überschrift „Was soll geschehen?“, der Wolff zugeschrieben wird. Darin wurden gleichfalls der Zusammenschluss der Werke und die Gründung einer „Spitzengesellschaft“ im Bereich der Martin- und Thomaswerke und der Kohlegruben propagiert.14 Bis zur Gründung der „Vereinigten Stahlwerke A. G.“ (VESTAG) dauerte es dann jedoch noch einige Monate, und Krupp zog es trotz einer schlechten Ertragslage vor, selbstständig zu bleiben. Sehr umstritten war die Einbringung der Bergwerke in die neue Gesellschaft, die einigen Unternehmen auf Anordnung ihrer Großaktionäre, so bei Rheinstahl durch die IG Farben, untersagt wurde. Wolff hatte sich in seiner Rastlosigkeit aber bereits wieder neuen Projekten zugewandt, einer Beteiligung an dem angeschlagenen Unternehmen der Gebr. Stumm in Neunkirchen an der Saar. An diesem Unternehmen war eine französische Gruppe, die Société des Forges et Aciéries de Nord et Lorraine (Norloron), beteiligt, die vor erheblichen Problemen stand. Dieses Geschäft wurde angeregt durch die Deutsche Bank, und so trafen sich Oscar Schlitter und Otto Wolff in Berlin, um die Angelegenheit zu erörtern. Bei dieser Transaktion trat die Otto Wolff-Gruppe gar nicht in Erscheinung, da jeder Anschein des Erwerbs französischen Aktienkapitals durch einen deutschen Großindustriellen vermieden werden sollte. Offiziell also lief dieses Geschäft über die Amsterdamer Delfo ab und abgewickelt wurde es von der Deutschen Bank und dem Amsterdamer Bankhaus Gebr. Teixeira de Mattos. Der Stumm-Konzern wurde in der Folgezeit umstrukturiert und dann auch in die Rohstahlgemeinschaft und in die Einzelverbände aufgenommen. Obwohl er im Saarland lag, gehörte er doch den Interessenverbänden in Deutschland an, verfügte auch über relativ hohe Quoten und konnte so dementsprechend mitreden. Im Jahr darauf übernahmen Wolff und Neunkirchen mehrere kleinere Firmen der Eisenund Stahlindustrie im Siegerland, sodass nunmehr Saar und Siegerland verbunden waren und man über das Rohmaterial für den Selbstverbrauch verfügte. Wolff baute auf diese Weise seine Position als Händler für Eisen- und Stahlerzeugnisse aller Art auf dem deutschen und internationalen Markt weiter aus und 13 14

Protokoll der Sitzung vom 6. Juli 1925, RWWA 72–550–12. „Was soll geschehen?“, in: Kölnische Zeitung vom 9. Juli 1925. Zur Urheberschaft des Artikels Reckendrees, Das „Stahltrust“-Projekt, S. 150, Anm. 4.

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konnte wohl auch durch die Nähe zur französischen Montanindustrie eine gewisse Unabhängigkeit vom deutschen Markt erreichen. Insbesondere mit dem Erwerb von Neunkirchen/Homburg und dessen Verbindung mit den Siegerländer Unternehmen schuf er sich – zumindest vorübergehend – eine Einflusssphäre, die außerhalb der deutschen Montanindustrie lag. Zudem fühlte Wolff sich Frankreich seit seiner Jugend in besonderem Maße verbunden. Seinen Erwerb von Neunkirchen/Homburg soll er mit den Worten: „Der wohlbeleibte Herr aus der Zeughausstraße hat sich ganz einfach vom linken aufs rechte Füßchen gestellt“, kommentiert haben.15 Allerdings verlor Otto Wolff in jenen Jahren den entscheidenden, hinter den Kulissen ausgetragenen Machtkampf mit Friedrich Flick um die Kontrolle der VESTAG. Flick war seit 1927 Mitglied des Aufsichtsrates der VESTAG, ein Jahr später wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt und gelangte damit in die wichtigen Kommissionen des Aufsichtsrates. Zudem hatte er ein enges Verhältnis zu Albert Vögler16, der Aufsichtsratsvorsitzender von Gelsenberg, woran Flick einen großen Aktienanteil hatte, und Vorstandsvorsitzender der VESTAG war. Es gelang Flick durch einen geschickten Schachzug, Gelsenberg zur Muttergesellschaft der Rheinelbe-Union zu machen, das damit auch den größten Teil der auf Rheinelbe entfallenden VESTAG-Aktien (39,5 Prozent) übernahm. In den folgenden Jahren beteiligten sich Wolff und Strauss an verschiedenen Unternehmungen, um die Position der Firma in bestimmten Teilbereichen der Metallindustrie zu verbessern, was allerdings nicht gelang. Es spricht für eine gewisse Konzeptlosigkeit bei der Führung der Otto Wolff-Gruppe, dass Wolff sich, wohl auf Zuraten von Oscar Schlitter, im Frühjahr 1927 an dem maroden Flaggschiff der deutschen Filmindustrie, der Universum-Film AG (Ufa) beteiligte. Das Unternehmen war vor allem bei der Deutschen Bank, die 1917 an der Gründung beteiligt gewesen war, hochverschuldet. Zwar wurde Alfred Hugenberg (Scherl) zum größten Aktionär, aber Wolff trat, obwohl sein Anteil recht bescheiden war, in den Aufsichtsrat und den aus fünf Mitgliedern bestehenden Arbeitsausschuss ein, der das entscheidende Gremium zur Kontrolle des Vorstandes war. Vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 schien es, als ginge es der Otto Wolff-Gruppe wirtschaftlich recht gut. Im späten Frühling gewährte das Unternehmen der Reichsregierung einen kurzfristigen Kredit in Höhe von fünf Millionen Mark. Im Sommer konnte das 25-jährige Firmenjubiläum in kleinem Kreis gefeiert werden. Die beiden Firmeninhaber erhielten eine auf Büttenpapier gedruckte Festschrift, in der die Geschichte des Unternehmens geschildert wird.17 Hier findet sich auch eine Auflistung der Aufsichtsräte und Firmenverwaltungen, in denen entweder Ottmar Strauss oder Otto Wolff oder beide gemeinsam vertreten waren. Dazu gehörten: Vereinigte Stahlwerke, Phoenix, van der Zypen/ Wissen, Mansfeld, Stolberger Zink, Rasselstein, Rheinmetall, Demag, Deutsche Bank, AEG, Daimler-Benz, Ufa, BASF und Mannesmann. Mit wenigen Ausnah15 16 17

Oscar Schmidt, Der Kölner Eisenhändler. Erinnerungen und Gespräche mit Otto Wolff, in: Kölnische Zeitung vom 28. Januar 1940. Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band. Ein Büttenexemplar in: RWWA 72–740–4; siehe auch 72–749–5: Speisekarte der Festveranstaltung.

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men also bewegte sich das Unternehmen in Kreisen der Eisen-, Stahl- und Metallindustrie. Allerdings war es trotz großer Anstrengungen nicht gelungen, die Herstellerfirmen auf ihre Geschäftspolitik auszurichten. Im Zentrum des Interesses der Otto-Wolff-Gruppe stand stets der Eisen- und Stahlhandel. Die Krise in Deutschland vom Sommer 1931 traf das Unternehmen schwer. Binnen kurzem war die Firma überschuldet und nicht mehr liquide. Die Versuche, Hilfe von der Reichsregierung zu erhalten, scheiterten. So konnte man die Jahre 1931/32 nur deshalb überstehen, weil Offene Handelsgesellschaften im Unterschied zu Aktiengesellschaften keine Bilanzen veröffentlichen mussten, und weil die Hausbanken, deren wichtigste Sal. Oppenheim und A. Levy sowie die Deutsche Bank mit dem Vorstandsmitglied Oscar Schlitter waren, stillhielten und ein Ende der Krise erhofften. Ein Konkurs Wolffs hätte mit einiger Sicherheit zumindest auch zum Zusammenbruch der beiden Kölner Bankhäuser geführt. In diesen Krisenzeiten setzte Wolff wiederum auf die „Russengeschäfte“ und konnte in den Jahren 1932 und 1933 nochmals große Aufträge in der Sowjetunion platzieren. Dies allerdings endete bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Aufgrund seiner hohen privaten Verschuldung war Wolffs Teilhaber Ottmar Strauss schon im August 1931 wegen eines weitgehend geheim gehaltenen Vertrages als persönlich haftender Gesellschafter ausgeschieden, er behielt jedoch seine Aufsichtsratsmandate und erhielt eine großzügige Monatsrente. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde dieser Vertrag zweimal zu Ungunsten von Strauss fast vollständig verändert. Er emigrierte schließlich 1936 in die Schweiz. Daraufhin wurden alle seine in Deutschland befindlichen Vermögenswerte aufgrund eines erzwungenen Vergleichs im Mai 1938 beschlagnahmt. Hierbei handelte es sich durchaus um eine spezifische Form der „Arisierung“. Es ist hier nicht der Ort, um das Verhalten Otto Wolffs gegenüber seinem langjährigen Kompagnon umfassend zu erörtern. Eckart Conze hat darauf verwiesen, dass Wolff diese „Arisierung“ nicht persönlich betrieben und auch nicht auf seinen persönlichen Vorteil bedacht war. Zudem sei für die Zeit nach 1933 bei einer Bewertung des Umgangs der Firma Wolff mit Ottmar Strauss zwischen den Maßnahmen der Firmenleitung, die nunmehr Rudolf Siedersleben repräsentierte, und Otto Wolffs persönlichem Verhalten zu unterscheiden.18 Am Ende der Weimarer Republik befand sich die Otto-Wolff-Gruppe in der schwersten Krise ihrer nunmehr fast 30-jährigen Existenz. Auch wenn Wolff, wie so viele andere Unternehmer in jener Zeit, der NSDAP Geld gespendet hat, so bedeutet dies nicht, dass er der Partei oder ihren Organisationen nahestand. Er lehnte die Partei und eine mögliche Regierung unter Adolf Hitler entschieden ab. Ob er in den frühen 1930er Jahre weiterhin die weitgehend bedeutungslos gewordene DVP unterstützte oder wählte, entzieht sich unserer Kenntnis. Cornelius Trimborn, der langjährige Syndikus der Firma, äußerte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dahingehend, Wolff habe in jener Spätphase das Zentrum gewählt.19 18 19

Conze, „Titane der Wirtschaft“, S. 134–138. Vgl. auch Dülffer, Die „Gruppe-Otto-Wolff“, S. 155–158. Cornelius Trimborn, Nachträgliche Fixierung und Ergänzung meiner Auskunft …, 11. Februar 1947, RWWA 72–595–10.

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In jedem Falle unterhielt Wolff gute Beziehung zu dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, der von Ende März 1930 bis Ende Mai 1932 Reichskanzler war. Noch besser war wohl seine Verbindung zu General Kurt von Schleicher, der grauen Eminenz des „Kabinetts der Barone“, den er seit den 1920er Jahren kannte. Allerdings fehlen über diese Beziehungen entscheidende Quellen. Für die Wahlen zum Reichspräsidenten 1932 unterstützte Wolff die Kandidatur Paul von Hindenburgs gegen Adolf Hitler sowohl durch eigene Spenden als auch durch eine entsprechende Sammeltätigkeit. Ebenso spendete er Gelder für die Aktivitäten von Schleichers und trug auch dessen Politik mit. So kam es im Herbst 1932 zu einer Versammlung namhafter deutscher Industrieller in Wolffs Berliner Wohnung, auf der darüber beraten wurde, wie Gelder zur Unterstützung der Regierung von Papen aufgebracht werden könnten. Als sich die Lage nicht beruhigte, plädierten Wolff und andere dafür, Kurt von Schleicher zum Reichskanzler zu ernennen, der am 1. Dezember 1932 das Amt übernahm. Wolff hat offensichtlich auch die politischen Konzeptionen von Schleichers bejaht, die auf eine autoritäre Struktur der Republik hinausliefen. Dies betraf wohl auch die sogenannte „Querfront“-Konzeption, also eine Militärdiktatur der Reichswehr mit einer gewerkschaftlich abgesicherten Massenbasis, die jedoch von anderen Unternehmern nicht mitgetragen wurde. Wolff sah darin, wie dies Axel Schildt ausführt, ein Konzept, das aufgrund der Verstaatlichungspläne von Schleichers auch zu einer Sanierung der Otto-Wolff-Gruppe hätte führen sollen.20 Als aktiver Gegner der NSDAP und der Kanzlerschaft Adolf Hitlers geriet Wolff nach der „Machtergreifung“ ins Fadenkreuz der „braunen Bewegung“, die ihn nun unter Druck setzte. Wolff verlor noch 1933 einige Aufsichtsratsmandate, und man strengte ein Strafverfahren gegen ihn wegen Steuerhinterziehung an, das im Januar 1934 begann, dann aber bald im Sande verlief. Das Unternehmen, das kurz vor der Liquidation stand, überlebte nur, weil dies angesichts der hohen Verschuldung nicht nur die kreditierten Banken mit in den Abgrund gezogen hätte, sondern auch massive Auswirkungen auf die gesamte rheinisch-westfälische Industrieregion gehabt hätte. Da, wie es in einem vom Reichswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Gutachten hieß, die Fortführung der Firma ohne die Person Otto Wolff nicht denkbar sei, entschloss sich das Ministerium einen Beauftragten in der Gestalt von Rudolf Siedersleben als Generalbevollmächtigten, Teilhaber, „Betriebsführer“ und nach dem Tode Wolffs als Chef des Unternehmens, in die Firma zu entsenden. Wolff, der schon froh sein konnte, den sogenannten Röhm-Putsch unbeschadet überstanden zu haben,21 blieb nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren. Wolff verblieb aktiv in der Leitung der Firma und war vor allem bemüht, durch entsprechende Nachfolgeregelungen das Unternehmen in der Hand der Familie zu 20 21

Axel Schildt, Militärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfront-Konzeption der Reichswehrführung um General von Schleicher am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1981, S. 155 und 174, zit. bei Conze, „Titane der Wirtschaft“, S. 131. Das Haus bei Potsdam, in dem General Kurt von Schleicher am 30. Juni 1934 von der SS erschossen wurde, hatte Otto Wolff ihm zur Verfügung gestellt. Zu vermuten steht, dass Wolff nur aufgrund guter Verbindungen verschont wurde.

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erhalten. Jedoch war er mittlerweile schwerkrank und hielt sich häufiger in Kliniken, Sanatorien und Kurhotels auf. Wolff verstarb am 22. Januar 1940 in seiner Berliner Wohnung an seinem Herz- und Zuckerleiden und wurde auf dem Kölner Melatenfriedhof beigesetzt. Eine abschließende Beurteilung Wolffs sowohl als Unternehmer als auch als Persönlichkeit fällt schwer, weil dazu viele Unterlagen fehlen, insbesondere die, die sich auf sein „Privatleben“ beziehen. Schon die Zeitgenossen fällten ausgesprochen widersprüchliche Urteile und attestierten ihm eine „bourgeoise, primitive Gutmütigkeit“ oder „einen unbedingt überlegenen Verstand“ und eine „hohe, wenn auch einseitige Bildung“.22 Als Unternehmer war er wohl eher ein Kaufmann als ein Industrieller, dem Handel stand er näher als der Produktion. Zudem waren seine Aktivitäten bisweilen von einer gewissen Sprunghaftigkeit geprägt, die manches Mal das Ziel aus den Augen zu verlieren schien. Vielseitig interessiert und hochgebildet, von einer spezifisch rheinischen Mentalität geprägt, die dem „guten“ Leben sinnenfroh zuneigte, war er eine der prägenden Unternehmerfiguren der Weimarer Republik, dabei keineswegs frei von Widersprüchen, aber doch geprägt von einem liberalen Grundverständnis.

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Conze, „Titane der Wirtschaft“, S. 100 f.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Conze, Eckart, Titane der modernen Wirtschaft. Otto Wolff (1881–1940), in: Peter Danylow / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik, München 2005, S. 99–152. Dahlmann, Dittmar, Das Unternehmen Otto Wolff: vom Alteisenhandel zum Weltkonzern (1904– 1929), in: Peter Danylow / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik, München 2005, S. 13–98. Dülffer, Jost, Die „Gruppe Otto Wolff“ 1929–1945, in: Peter Danylow / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik, München 2005, S. 153–244. Feldman, Gerald D., Die Deutsche Bank vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise 1914– 1933, in: Lothar Gall u. a., Die Deutsche Bank 1870–1995, München 1995, S. 138–314. Frei, Norbert / Ahrens, Ralf / Osterloh, Jörg / Schanetzky, Tim, Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009. James, Harold, Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen, München 2011. Köhler, Henning, Adenauer und die rheinische Republik. Der erste Anlauf, Opladen 1986. Kreimeier, Klaus, Die UFA-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, Frankfurt/Main 2002. Pierenkemper, Toni, Von Krise zu Krise. Die Friedr. Krupp AG von der Währungsstabilisierung bis zum Ende der Weimarer Republik 1924–1933, in: Lothar Gall (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, S. 167–266. Pohl, Manfred, Die Finanzierung der Russengeschäfte zwischen den beiden Weltkriegen. Die Entwicklung der 12 großen Rußlandkonsortien, Frankfurt/Main 1975. Pohl, Manfred, Geschäft und Politik. Deutsch-russisch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen 1850– 1988, Mainz 1988. Quarg, Gunter (Bearb.), Handschriften und Autographen aus der Sammlung Otto Wolff (1881– 1940). Bestandsverzeichnis, Köln 1990. Quarg, Gunter, Otto Wolff (1881–1940), in: Kölner Sammler, Gelehrte, Diplomaten, Unternehmer und ihre Bücherkollektionen in der Universitäts- und Stadtbibliothek, Köln 2003, S. 160–167. Reckendrees, Alfred, Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A. G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000. Rosenfeld, Günter, Sowjetunion und Deutschland 1922–1933, Köln 1984. Schneider, Hubert, Das sowjetische Außenhandelsmonopol 1920–1925, Köln 1973. Soénius, Ulrich S., Im Auftrag des Reichswirtschaftsministeriums: Rudolf Siedersleben, in: Peter Danylow / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik, München 2005, S. 245–294. Wentzcke, Paul, Ruhrkampf. Einbruch und Abwehr im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 2 Bde., Berlin 1932.

GÜNTHER QUANDT (1881–1954) – ÜBERWINDER DER BRANCHEN, INVESTOR UND FAMILIENUNTERNEHMER Judith Michel Günther Quandts unternehmerische Schaffenszeit reichte vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die frühe Nachkriegszeit. Während er im Kaiserreich überwiegend in den väterlichen Tuchfabriken in Brandenburg tätig war und sich im Ersten Weltkrieg in staatlichen Funktionen der Textilindustrie widmete, bot ihm die Weimarer Zeit neue Beschäftigungsfelder. In diesen wirtschaftlich turbulenten Jahren erwarb Quandt maßgebliche Beteiligungen an Firmen in der Kali-, Akkumulatoren- und Rüstungsindustrie. Sein Familienunternehmen wurde so um die wichtigsten Standbeine erweitert; die nun errichteten Unternehmensstrukturen und das somit erwirtschaftete Vermögen blieben auch in den folgenden Jahrzehnten Grundlage für die Weiterentwicklung der Quandt-Gruppe. BRANDENBURGISCHE HERKUNFT UND BETÄTIGUNG IN BERLIN Der 1881 geborene Günther Quandt wuchs in der bürgerlichen Atmosphäre eines klassischen, paternalistisch geführten Familienunternehmens im brandenburgischen Pritzwalk auf. Sein Vater Emil bildete ihn und seine jüngeren Brüder Werner und Gerhard in der eigenen Tuchfabrik, den Draeger-Werken, aus. Zudem sandte er sie in Betriebe befreundeter Unternehmer sowie auf höhere Fachschulen, um sie in die technischen und kaufmännischen Vorgänge der Tuchindustrie einzuführen und für die Unternehmensnachfolge vorzubereiten. Günther Quandts Ausbildung wurde 1901 jedoch vorzeitig abgebrochen als seinem Vater die im nahe gelegenen Wittstock ansässigen Tuchfabrik Friedrich Wilh. Wegener zum Kauf angeboten wurde. Der risikoscheue Patriarch rang sich erst nach Beratung mit seinem ältesten Sohn zum Erwerb des veralteten Betriebs durch, dessen Leitung schließlich der 20-jährige Günther Quandt übernahm. Sein Geschick bei der in den folgenden Jahren erfolgten umfassenden Modernisierung der Wittstocker Fabrik wurde 1906 belohnt, als ihm sein Vater Prokura erteilte. Im selben Jahr heiratete er Antonie Ewald, die Tochter eines Pritzwalker Maschinenfabrikanten, mit der er die Söhne Hellmut (1908) und Herbert (1910) bekam. Das Familienunternehmen erfuhr 1911 eine weitere Ausdehnung durch die Heirat von Günthers Schwester Edith mit dem Tuchfabrikanten Fritz Paul, dem ein kleiner aber moderner Konkurrenzbetrieb in Wittstock gehörte. Ein Gesellschaftervertrag zwischen den Brüdern Günther, Gerhard und Werner sowie dem neu hinzugewonnenen Schwager schrieb die Draeger-

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Paul-Wegener GmbH als gemeinsames Eigentum fest, das von den Gesellschaftern gleichberechtigt geleitet werden sollte. In den folgenden Jahren nahm Günther Quandt jedoch insbesondere gegenüber den jüngeren Brüdern eine dominierende Stellung in der Leitung der Tuchfabriken ein, obgleich er mit Beginn des Ersten Weltkriegs die brandenburgische Provinz verließ, um sich in Berlin mit der staatlichen Rohstoffbewirtschaftung der Tuchindustrie zu befassen. Vor allem in der Kriegswollbedarf AG nutzte Quandt die Gelegenheit, Kontakte zu den Behörden und anderen Industriellen zu knüpfen und vermochte geschickt die Interessen der eigenen Tuchfabriken zu fördern. Da die Betriebe schon immer Uniformtuche hergestellt hatten, bedeutete der Krieg für sie ohnehin die Chance auf große Aufträge. Durch seine Tätigkeit in der Kriegswollbedarf AG erhielt der junge Unternehmer Einblicke in Probleme einer Mangelwirtschaft in Bezug auf Arbeitskräfte, Rohstoffe und Transportmöglichkeiten, was ihm bei der Leitung seiner später erworbenen Firmen vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten zugutekommen sollte. Nach dem Friedensschluss blieb Quandt in der staatlichen Übergangswirtschaft engagiert und beteiligte sich an der Abwicklung der Kriegswollbedarf AG. Dabei versuchte er erneut, gute Bedingungen für seine eigenen Firmen zu erwirken, aber auch allgemein die Lieferung ausländischer Rohstoffe sicherzustellen sowie Exportmöglichkeiten zu schaffen und die Überflutung des heimischen Markts mit ausländischen Produkten zu verhindern. Im Frühjahr 1919 übernahm Quandt zudem ein Amt in der Reichsstelle für Textilwirtschaft, welche die Beschaffung, Verteilung und Verarbeitung der Rohstoffe sowie die Preise der Erzeugnisse regelte. Wie schon während des Krieges bemühte sich Quandt nun, einem Einbruch der Textilbranche entgegenzuwirken, indem er eine Kartellbildung unterstützte, die er zum Vorteil seiner Firmen zu nutzen versuchte. Auch wenn Quandt nach dem Krieg seine Geschäfte überwiegend von Berlin aus führte und sich in anderen Branchen zu engagieren begann, mischte er sich von der Hauptstadt aus auch in den 1920er Jahren immer wieder in die familiären Tuchgeschäfte ein. Da Quandt eine Ausbildung in der Textilbranche genossen hatte, war er mit kaufmännischen und technischen Angelegenheiten gleichermaßen vertraut. In diesen Jahren rationalisierte er zusammen mit seinen Gesellschaftern mehrfach die Tuchfabriken. Er forcierte Neubauten, den Einsatz modernerer Maschinen, die Verkürzung und Mechanisierung innerbetrieblicher Transportwege, die Verbesserung von Lagermöglichkeiten und die infrastrukturelle Anbindung. DIE ÜBERWINDUNG DER TUCHBRANCHE: EINSTIEG IN DIE KALIINDUSTRIE Hatte der Erste Weltkrieg Quandt die Möglichkeit eröffnet, das heimatliche Pritzwalk zu verlassen und sich in der Textilbranche weiter zu vernetzen, so bot ihm die Wirtschafts- und Währungskrise nach dem Krieg die Chance, sein unternehmerisches Betätigungsfeld zu erweitern. Auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten für seine in der Textilindustrie erwirtschafteten Gewinne erwarb Quandt in den un-

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terschiedlichsten Branchen Aktien. Sein erster Versuch, sich in ein Unternehmen einzukaufen, unternahm er noch in der ihm vertrauten Tuchindustrie. Über Mittelsmänner ließ er 1919/20 heimlich Aktien der im schlesischen Grünberg ansässigen Deutschen Wollwarenmanufaktur ankaufen. Dieses Unterfangen fiel jedoch dem Generaldirektor des Unternehmens auf, der eine Majorisierung durch Günther Quandt zu verhindern versuchte, indem er diesen zum Verkauf seiner Stammaktien drängte. Schließlich gab Quandt nach; im Gegenzug erhielten er und sein Vetter Kurt Schneider je einen Sitz im Aufsichtsrat der Firma. Bevor das durch den Verkauf der Stammaktien freigewordene Geld entwertet werden konnte, investierte es Quandt sofort in Aktien und Kuxe der Bergbau-, insbesondere der Kaliindustrie. Quandt scheiterte ebenso daran, die Mühlenbau und Industrie AG in Braunschweig sowie den Kunstseideproduzenten J. P. Bemberg AG mit Sitz in Wuppertal-Oberbarmen zu übernehmen, gleichwohl er für den Ankauf der Anteile alle Aktien mit Ausnahme der Kalikuxe abstieß. Rückblickend äußerte sich Quandt in seinen Memoiren zu dieser Phase des schnellen An- und Verkaufs von Aktien folgendermaßen: „Früher hatte ich mich konsequent darauf beschränkt, das väterliche Erbe zu konsolidieren. Jetzt besaß ich anstelle einer schönen fachlichen Beteiligung einen Buntbesitz von zwanzig verschiedenen Werten. Doch überall nur einen Brocken; nirgends hatte ich etwas zu sagen. Fast wäre ich zum Börsenspekulanten geworden, was mir in der Seele zuwider war.“1 Tatsächlich gehörte Quandt zu jenen Geschäftsleuten, welche die Wirtschafts- und Währungskrise, die viele Menschen an den Rande der Existenzfähigkeit brachte, geschickt für ihre unternehmerische Expansion zu nutzen verstanden. Schon Zeitgenossen hoben seinen „Drang nach wirtschaftlicher Ausbreitung“2 sowie „ein intuitives Gefühl für den Wert und die Entwicklung von Aktien“3 hervor. Finanziert wurden diese meist über Strohmänner durchgeführten Spekulationen aus dem Vermögen der familiären Tuchfabriken und mit Bankkrediten. Seit den frühen 1920er Jahren nutzte Quandt zudem eine in Berlin eingetragene obskure Handelsgesellschaft mit dem Namen Companhia Perfuradora Brasileira GmbH, über die er unerkannt Einfluss auf verschiedene Aktiengesellschaften nahm. Es war kein Zufall, dass Quandt bei den oben beschriebenen erfolglosen Übernahmebemühungen stets seinen Bestand an Kalikuxen zu erhalten und zu mehren versuchte. Die deutsche Kaliindustrie bot sich zu dieser Zeit für Übernahmeprozesse besonders an, da diese nach dem Ersten Weltkrieg ihre Monopolstellung verloren hatte, was durch Konzentrationsprozesse aufgefangen werden sollte. In dieser Branche gelang es Quandt schließlich auch, eine entscheidende Menge an Anteilen zu erwerben, die ihm eine Einflussnahme ermöglichte. Bereits während des Krieges hatte er erste Kuxe der Kali fördernden Gewerkschaft Wintershall angekauft. Dabei kooperierte er mit Jakob Goldschmidt von der Darmstädter und Nationalbank. 1 2 3

Herbert Quandt / Harald Quandt (Hrsg.), Günther Quandt erzählt sein Leben, München 1961, S. 88. Bescheinigung über Edgar Haverbeck von Horst Pavel vom 1. Oktober 1946, Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 171 Hannover, Nr. 11947. Friedrich Dörge, Unveröffentlichte Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 215, Privatarchiv Hans Dörge.

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Der Einstieg in die Kalibranche wurde Quandt zudem durch seine Beziehungen zu dem Textilindustriellen Fritz Rechberg erleichtert, den er schon lange aus der Tuchbranche kannte. 1918 wurden beide in den Grubenvorstand der Gewerkschaft Wintershall aufgenommen, in dem Rechberg bald den Vorsitz übernahm. Rechberg brachte Quandt auch in Kontakt mit August Rosterg, dem Generaldirektor von Wintershall.4 Einige Jahre später könnte Rechberg diese Vermittlung bereut haben, als er in Gegensatz zu August Rosterg geriet, dem er vorwarf, die im Deutschen Kalisyndikat zusammengeschlossene Kaliindustrie unter die Vorherrschaft des WintershallKonzerns und damit unter Rostergs Herrschaft zwingen zu wollen. Als Rechberg innerhalb der Gewerkschaft Wintershall die Machtfrage stellte, opferte Quandt die langjährigen guten Beziehungen zu Rechberg, stellte sich mit seinen Kuxen auf die Seite des aggressiv handelnden Rostergs und nahm damit „mit ziemlicher Sicherheit eine Schlüsselrolle in diesen Machtkämpfen“5 ein. Auch wenn die Gruppe um Rosterg nicht alle Ziele verwirklichen konnte, ging sie mehr oder weniger siegreich aus der Auseinandersetzung hervor. Quandt konnte nun seine Position festigen, indem er stellvertretender Vorsitzender und später Vorsitzender des Grubenvorstandes der Gewerkschaft Wintershall wurde. Zudem nahm er den Posten des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden bei der Kali-Industrie AG ein – eine 1921 gegründete Holding-Gesellschaft, welche die zahlreichen in den 1920ern von Wintershall erworbenen Unternehmen aufnahm und die 1928 in Wintershall AG umbenannt wurde. Zu Beginn der 1930er Jahre platzierte Quandt außerdem seinen Sohn Herbert in den Aufsichtsräten der Wintershall AG und der Gewerkschaft Wintershall. Rosterg und Quandt nahmen zwar keine gleichwertige Führungsposition bei Wintershall ein, sie ergänzten sich jedoch zum gegenseitigen Nutzen: „Quandt brachte unternehmerische Initiative, bewährte organisatorische Fähigkeiten, die Verbindungen zu den wichtigen Männern der politischen und wirtschaftlichen Machthierarchie, die Kenntnis der dschungelhaft wuchernden wirtschaftspolitischen Gesetzgebung, die Anlage zur Diskretion und den untrüglichen Blick für die Chancen wie auch für die Grenzen der Wirklichkeit mit. Rosterg öffnete ihm ein größeres und ertragreicheres Tätigkeitsfeld, als die Textilindustrie bis zum Beginn der Kunstfaserära einem Mann von Quandts Qualitäten hätte bieten können.“6 Die genauen Besitzverhältnisse bei Wintershall sind für diese Zeit nicht rekonstruierbar. Es ist anzunehmen, dass Rosterg die meisten Anteile besaß, gefolgt von Quandt mit einer Sperrminorität. Herbert Quandt erinnerte sich später: „Rosterg blieb der erste Mann, der aber stets in den schwierigen, an Konkurrenzkämpfen reichen Nachkriegsjahren alle wichtigen Vorgänge mit Quandt beriet.“7 Die Reorganisation 4 5 6 7

Zu August Rosterg vgl. den Beitrag von Patrick Bormann in diesem Band. Joachim Scholtyseck, Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München 2011, S. 97. Kurt Pritzkoleit, Männer, Mächte, Monopole. Hinter den Türen der westdeutschen Wirtschaft, Düsseldorf 1960, S. 75. Herbert Quandt, Familiengeschichte vom 13. Dezember 1978, Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt (HWA), Abt. 2017, Nr. 57–82.

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von Wintershall lag überwiegend in der Hand des Kalifachmanns Rosterg. Bei der Auseinandersetzung um die Umgestaltung der deutschen Kaliindustrie wird der Techniker Rosterg allerdings nicht nur auf die finanzielle Unterstützung Quandts, sondern auch auf seinen kaufmännischen Sachverstand zurückgegriffen haben. Durch Umstrukturierungen, Stilllegungen und Neuerwerbungen wurde Wintershall in den folgenden Jahren nicht nur in der Kalibranche zu einem dominierenden Konzern, sondern fasste auch in der Chemie- und Mineralölindustrie Fuß. DAS HERZSTÜCK DER QUANDT-GRUPPE: ERWERB DER ACCUMULATORENFABRIK AG Während Quandt bei Wintershall zwar eine einflussreiche, nicht jedoch die beherrschende Stellung einnehmen konnte, erwarb er 1922/23 mit der Accumulatorenfabrik AG das Unternehmen, welches später zum Herzstück der Quandt-Gruppe werden sollte. Langfristig vorgezeichnet war dieser Weg mitnichten. Zunächst stellte der heimliche Ankauf von AFA-Aktien lediglich einen weiteren Versuch Quandts dar, sein Vermögen vor der Inflation zu retten. Als vorteilhaft schienen sich hierbei insbesondere die Bleivorräte der Accumulatorenfabrik zu erweisen, die der AFA über den Krieg hinaus erhalten geblieben waren. Ansonsten hatte das traditionsreiche Unternehmen im Krieg fast alle seine internationalen Niederlassungen und Freundschaftsverträge verloren, so dass sich Quandt diesbezüglich keine besonderen Zukunftsaussichten ausmalte. Es ist daher anzunehmen, dass er sich von seinen AFA-Anteilen wieder getrennt hätte, wenn er nicht bald das Potential der boomenden Elektroindustrie und die Möglichkeit, in einem Unternehmen einer ihm neuen Branche die Geschäftsführung zu übernehmen, erkannt hätte. Auch dieser Übernahmeversuch verlief nicht reibungslos. Über Bankinstitute, Strohmänner und die Companhia Perfuradora Brazileira konnte Quandt zunächst unerkannt die Sperrminorität erlangen. Als dies dem Aufsichtsrat der AFA bekannt wurde, plante dieser eine Kapitalerhöhung und wollte Maßnahmen gegen eine Überfremdung der Aktiengesellschaft ergreifen. Gegen diese Pläne fand Quandt schließlich in Paul Hamel aus dem Bankinstitut Sponholz & Co. einen Mitstreiter. Obwohl die beiden Aktionäre weitere Anteile über Jakob Goldschmidt erwerben konnten, verfehlten sie dennoch zunächst die einfache Mehrheit. In Gesprächen mit dem Firmengründer Adolph Müller sowie Mitgliedern des Aufsichtsrats konnte Quandt schließlich eine Kapitalerhöhung zwar nicht verhindern, ihm wurden jedoch vier Aufsichtsratssitze zugesprochen. Neben Günther Quandt zogen nun seine Brüder Werner und Gerhard sowie sein Cousin Kurt Schneider in den Aufsichtsrat ein. Nachdem Quandt, Hamel und Goldschmidt durch weitere Zukäufe im Juni 1923 fast die Dreiviertelmajorität besaßen, nahm der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende Carl Fürstenberg nach erbitterten Auseinandersetzungen zugunsten von Quandt seinen Hut. Zusätzlich wurden Quandts Schwager Fritz Paul sowie Hamel und Goldschmidt in den Aufsichtsrat aufgenommen. Auch unter den geänderten Machtverhältnissen behielt der Firmengründer Adolph Müller, ein geradezu klassischer Erfinder-Unternehmer, der mit einem gu-

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ten Geschäftssinn ausgestattet war, formal das Sagen und blieb für die technischen Angelegenheiten zuständig. Quandt arbeitete sich hingegen in die kaufmännischen Belange ein. Obgleich er sich kaum in das Tagesgeschäft einbrachte, strebte der Neueinsteiger schon bald danach, sich verstärkt in die Unternehmensleitung einzubringen und sich in die Materie der Elektrobranche einzuarbeiten. Später erinnerte er sich: „[Ich nahm] nach und nach einen großen Teil der kaufmännischen Geschäftsführung unauffällig in meine Hände, studierte nacheinander alle einzelnen Abteilungen: Korrespondenz, Banken, Buchhaltung und Bilanzen, Personal- und Sozialführung, Kasse und Krankenkasse, literarisches und chemisch-technisches Büro, Einkauf und Verkauf, Handel und Export – kurz, ich durchwanderte die Abteilungen dieses großen Unternehmens, um von der Gesamtleitung und den Verästelungen, den Tochter- und Freundgesellschaften, ein klares Bild zu gewinnen. Alle Sparten wurden so gründlich erlernt, daß ich jederzeit in der Lage war, die kaufmännische und gegebenenfalls die Gesamtleitung in die Hand zu nehmen.“8 Zunächst änderte sich jedoch personell wenig und auch die anstehenden Reorganisationsaufgaben verblieben in der Hand des Firmengründers. Quandt selbst vermerkte zu seiner Rolle nach der Übernahme des Unternehmens: „Immer war ich bemüht, an dem guten, eingefahrenen Geleise dieses Weltunternehmens ohne Not nichts zu ändern, einzig und allein besorgt, daß auch die letzten Reste der Kriegsund Inflationsschäden beseitigt würden.“9 An der großen Reorganisationskonferenz im Jahr 1924 nahm Quandt daher selbst nicht teil, sondern es war Müller, der ein Programm entwarf, das die Massenfertigung bei gleichzeitiger Wahrung qualitativer Standards vorsah. Dazu sollten die technischen Produktionsabläufe optimiert, die bürokratischen Prozesse und Transportwege verkürzt und der Vertrieb neu strukturiert sowie die Produktion auf wenige Standardtypen reduziert werden. Die Stammarbeiter sollten durch Anreize statt Sanktionen zu besserer Leistung motiviert werden. Diese Rationalisierungsmaßnahmen waren zeittypisch. Obgleich Quandt bei Konzeption und Durchführung der Rationalisierungsbemühungen im Hintergrund blieb, war er am Thema interessiert. Mit leitenden Mitarbeitern reiste er wiederholt ins Ausland, um sich insbesondere in amerikanischen Fabriken über rationellere Produktionsweisen zu informieren. Nach Müllers Tod im Jahr 1928 erfolgte während der Weltwirtschaftskrise ein weiterer Rationalisierungsversuch. Inwieweit Quandt dabei federführend wirkte, lässt sich schwer sagen, da von ihm hierzu kein Konzept vorliegt. Durchaus als Rationalisierungsmaßnahme kann der von Quandt forcierte Abschluss von umfassenden Freundschaftsverträgen mit Unternehmen in aller Welt betrachtet werden, da dadurch Kosten und Risiken bei Forschung und Entwicklung reduziert, Synergieeffekte erzielt und der Konkurrenzkampf um Absatzmärkte verhindert werden konnte. Daneben interessierte sich Quandt insbesondere für Marketing, Vertrieb und Bauvorhaben in den einzelnen Werken. Technische Detailfragen scheint er hingegen an ihm vertraute Techniker delegiert zu haben.

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Quandt/Quandt (Hrsg.), Günther Quandt erzählt sein Leben, S. 142. Ebd., S. 143.

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Auch bei den in den 1920er Jahren vorgenommenen Anpassungen an gewandelte Kundenwünsche, konnte Quandt an Müllers Weichenstellungen anknüpfen. So reagierte man beispielsweise auf die Elektrifizierung der Bergwerke mit Lokomotiven und Grubenlampen bereits 1913 mit dem Erwerb der Berglampenfabrik Concordia Elektriztäts-AG in Dortmund. 1927 erfolgte mit der Übernahme der Dominitwerke AG der Aufkauf eines weiteren Konkurrenten, der Grubenausrüstung produzierte. Die beiden Unternehmen verwendeten nun für ihre Produktion von Grubenlokomotiven und Handlampen die Nickel-Cadmium-Batterien der Deutsche Edison-Akkumulatoren-Company GmbH (DEAC), einer weiteren AFA-Tochter. Die DEAC, welche auch für die Produktion von Stahlakkumulatoren zuständig war, ist ferner ein Beispiel, dass der Wiedereinstieg in die Rüstungsproduktion nicht 1933 oder gar erst 1939 zu suchen ist. Bereits 1926 wurden erste Versuchsreihen von der späteren Wehrmacht in Auftrag gegeben – erste Bestellungen erfolgten 1929.10 Unter dem Namen Varta vertrieb die AFA Starterbatterien, die aufgrund der boomenden Automobilindustrie ihren Absatz fanden. Mit dem Hinzukauf der Firmen Primafa und Titania im Jahr 1925, welche mit der 1926 erworbenen Trockenbatterie- und Taschenlampenfabrik Pertrix fusioniert wurden, konnte man nun das gesamte Batteriesortiment anbieten. Die strategischen Zukäufe in den 1920er Jahren dienten somit der Ausschaltung der Konkurrenz und der Erweiterung des Produktportfolios; zudem konnte die AFA mit Hilfe der Tochterunternehmen vertikal die vor- und nachgelagerten Produktionsschritte ausführen. Quandt war es ein Anliegen, die verschiedenen AFA-Produkte international nach einer gemeinsamen Strategie zu vermarkten. Unter den Namen Varta, Pertrix und DEAC gelang es, einen qualitativen Markennamen zu etablieren. Nach Überwindung der Nachkriegswirren erfuhr das Unternehmen in den meisten Sparten zwar keinen rasanten Aufwärtstrend, es entwickelte sich aber insgesamt zufriedenstellend. Doch bereits 1929 führte die Wirtschaftskrise zu bedeutenden Umsatzeinbrüchen, die lediglich durch Gewinne einiger Beteiligungsfirmen und durch Großaufträge mit der Sowjetunion teilweise aufgefangen werden konnten. Insgesamt schien es sich als vorteilhaft erwiesen zu haben, dass das Unternehmen inzwischen recht breit aufgestellt war: „Die Verschärfung des wirtschaftlichen Niederganges hat sich auch bei unserem Unternehmen bemerkbar gemacht, wenngleich durch die mannigfaltigen Betriebszweige unseres Unternehmens ein gewisser Ausgleich herbeigeführt wurde.“11 Ein wirklicher Aufschwung gelang jedoch erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und insbesondere nach dem verstärkten Eingang von Rüstungsaufträgen. Adolph Müller war bis zu seinem Tod im Jahr 1928 eine dominierende Persönlichkeit, Quandt wird dessen Entscheidungen jedoch nicht nur mitgetragen, sondern vor allem im Bereich der Finanzen, des Marketing, des Vertriebs und der in- und ausländischen Expansion mitgestaltet haben. Nach Müllers Tod besetzte Günther Quandt einige Schlüsselpositionen mit Vertrauten, auf deren technische Expertise 10 11

DEAC-Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Unternehmens von 1955, Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund (WWA), F 137, Nr. 1099. Geschäftsbericht der AFA für das Geschäftsjahr 1931 vom 23. März 1932, WWA, S 7, Nr. 206/1.

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er sich verließ. Er selbst wurde bei den wichtigsten Tochterfirmen Aufsichtsratsmitglied bzw. -vorsitzender. Seinen Sohn Herbert brachte er auch bei der AFA-Gruppe in den 1930er und 1940er Jahren in verantwortungsvolle Positionen. DER FINANZJONGLEUR: ÜBERNAHME DER BERLIN KARLSRUHER INDUSTRIEWERKE Die dritte wichtige Investition für die Quandt-Gruppe in den Weimarer Jahren war der Einstieg in die Berlin Karlsruher Industriewerke AG (BKI), die später wieder ihren ursprünglichen Namen – Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG (DWM) – annahm. Diese Firma war im Kaiserreich ein bedeutendes Rüstungsunternehmen gewesen, das nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der Beschränkungen des Versailler Vertrages auf die Produktion von zivilen Gütern umstellen musste. Die BKI-Tochter Mauser-Werke AG, die für ihre Waffenproduktion weltbekannt war, befand sich nach dem Krieg zunächst ebenfalls in der Krise. Etwas besser sah die Lage bei einem weiteren Tochterunternehmen, der Dürener Metallwerken GmbH aus, das durch seine Duraluminiumproduktion führend war. Auch bei dieser Übernahme, deren genauer Verlauf nicht in allen Details nachvollziehbar ist, agierte Quandt mit Hilfe seines Geschäftsfreunds Paul Hamel. Zusammen mit dem Stahlunternehmer Paul Rohde gingen sie gegen eine wegen mangelnder Rendite geplante Kapitalhalbierung der Unternehmensleitung vor. Den drei Anteilseignern gelang es, die Pläne des Aufsichtsrats als aktionärsfeindlich darzustellen und die Hoffnung zu wecken, eine für die Anteilseigner günstigere Sanierung des maroden Unternehmens durchführen zu können. Mit dieser Linie hatten sie nicht nur die Wirtschaftspresse auf ihrer Seite, sondern konnten auch genügend Unterstützung unter den anderen Aktionären sammeln, um sich auf der Hauptversammlung im Juli 1928 gegen den Kreis um Generaldirektor Paul von Gontard durchzusetzen. Daraufhin trat der gesamte Aufsichtsrat zurück und die „Putschisten“ übernahmen das Ruder. Trotz anderslautender nachträglicher Beteuerungen war die Finanzinvestition wohl von langer Hand geplant. Dass die Revolte gegen die Kapitalherabsetzung nur vorgeschoben war, zeigte sich schnell, da auch die neuen Machthaber im Zuge der nun folgenden Reorganisation das Grundkapital fast halbierten und die Ausschüttung der Dividende aussetzten. Die folgenden Jahre nach dem Machtwechsel zeigten, dass es Quandt bei der Übernahme der sanierungsbedürftigen Unternehmensgruppe anfangs nicht wie bei der AFA darum ging, einen einheitlichen, schlagkräftigen Konzern zu errichten. Er schien vielmehr kein Problem damit zu haben, sich von unrentablen Einzelteilen des Unternehmens zu trennen und erfolgversprechende Firmen aus der Unternehmensgruppe herauszulösen. Schon kurz nach der Übernahme stand Quandt mit der Gesellschaft für elektrische Unternehmungen in Verhandlungen, welche die BKI-Aktien zu einem Verhältnis von 3:1 umtauschen wollte und die Möglichkeit einer späteren Fusion der beiden Unternehmen erörterte. Die Dürener Metallwerke erlebten als Aluminiumhersteller durch den Boom der Luftfahrtindustrie einen Aufschwung und wirtschafteten schon bald wieder ertragreich. Sie sollten daher bei

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dieser Transaktion aus dem BKI-Verbund ausgegliedert werden, da Quandt überlegte, die Aktien des Tochterunternehmens durch die AFA übernehmen zu lassen.12 Letztlich kam es dazu jedoch ebenso wenig wie zu einem Verkauf der Dürener Metallwerke an Rheinmetall oder Otto Wolff13, die sich ebenfalls für die aufstrebende BKI-Tochter interessierten.14 Von unprofitablen Standorten und der unrentablen Kugellagerproduktion trennten sich die neuen Investoren schnell. Selbst die Zukunft des Mutterkonzerns als Fabrikationsunternehmen stand Ende 1929 in Frage. Zu einer Einstellung der Produktion und Umgestaltung der Berlin Karlsruher Industriewerke in eine reine Holding-Gesellschaft kam es jedoch nicht. Allerdings standen die traditionellen Standorte Karlsruhe und Oberndorf der BKI bzw. der Mauser-Werke ernsthaft auf dem Prüfstand. So war die Verlegung der gesamten Produktion nach Berlin geplant, die Mauser-Werke fürchteten gar ihre vollständige Stilllegung. Nur durch Kredite der Stadt Karlsruhe und Badens bzw. durch württembergische Staatshilfe wurden die Standortschließungen schließlich verhindert. Bei den BKI wurde 1931 sogar der Firmensitz wieder von Berlin zum Produktionsstandort Karlsruhe zurückverlagert. Über den Mauser-Werken schwebte die Drohung der Schließung des Oberndorfer Standortes jedoch weiterhin wie ein Damoklesschwert. Es dauerte mehrere Jahre, bis Doppelstrukturen in der Waffenfertigung von BKI und Mauser aufgelöst und die Produktion erfolgreich rationalisiert werden konnte. Es ist fraglich, ob diese Bemühungen allein ausgereicht hätten, die BKIGruppe wieder zu sanieren, da die Rüstungssparte erst mit der Erteilung nationalsozialistischer Rüstungsaufträge wieder profitabel wurde. Auch lässt sich nicht sagen, ob Quandt ohne diese Entwicklung nicht doch die Abstoßung einzelner Werke und die Ausgliederung der Dürener Metallwerke weiter forciert hätte. Als Parallele zum Vorgehen in der AFA-Gruppe könnte man den Erwerb der Maschinen für Massenverpackung GmbH im Jahr 1929 betrachten, da dadurch die Produktpalette strategisch ergänzt wurde. Dennoch war innerhalb des BKI-Verbunds das Portfolio weniger aufeinander abgestimmt und die Töchter blieben eigenständiger. Ähnlich wie bei Wintershall und bei der AFA regierte Quandt in der Weimarer Zeit auch bei den BKI-Firmen über den Aufsichtsrat. Nach der Palastrevolution wurde er bei den Berlin Karlsruher Industriewerken und den Dürener Metallwerken Aufsichtsratsvorsitzender. Bei den Mauser-Werken übernahm Rohde den Vorsitz, während Quandt sein Stellvertreter wurde. Unter den Familienmitgliedern erhielt zunächst nur der Cousin Kurt Schneider einen Posten im Aufsichtsrat der BKI. Dies könnte daran liegen, dass Quandt anfangs nicht vorhatte, dauerhaft das Gesamtunternehmen zu behalten und ihm daher eine familiäre Durchdringung nicht notwendig erschien. Anders als bei der AFA besaß er außerdem nach dem geglückten Coup noch keine Anteilsmehrheit bei den BKI. Erst in den frühen 1940er Jahren erlangte er auch dort die Majorität. Im Gegensatz zur AFA wurde bei den BKI das Führungspersonal nach der Übernahme sofort weitgehend ausgetauscht. Mit der 12 13 14

Aktenvermerke vom 28. September 1928 bzw. vom 5. Oktober 1928, Bundesarchiv Lichterfelde (BArch), R 8119 F/1120. Zu Otto Wolff vgl. den Beitrag von Dittmar Dahlmann in diesem Band. Aktenvermerk vom 1. Dezember 1928, BArch, R 8119 F/1120.

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Errichtung eines Wirtschaftsausschusses wurden zudem neue Lenkungsstrukturen geschaffen, denen bald der langjährige Generaldirektor von Gontard zum Opfer fiel. Über dieses Gremium steuerten Quandt, Hamel und Rohde die Reorganisation der übernommenen Unternehmensgruppe. GÜNTHER QUANDTS UNTERNEHMERISCHE EIGENSCHAFTEN Zum Ende der Weimarer Republik hatte sich Quandt neben der Tuchindustrie in drei sehr unterschiedlichen Geschäftsfeldern etabliert, was ihm später den Titel „Überwinder der Branchen“15 einbringen sollte. Es ist kaum vorstellbar, dass Großunternehmen wie Wintershall, die AFA und die BKI in wirtschaftlich normalen Zeiten (teilweise) in Familienbesitz gelangt wären, da der Kapitalbedarf für Übernahmen dieser Art zu groß gewesen wäre. Durch die wirtschaftliche Extremsituation bzw. die Beschränkungen für Rüstungsunternehmen in der Nachkriegszeit gelang Quandt jedoch mit geschickten finanziellen Schachzügen der Aufstieg in die Welt der Großindustriellen. Bei allen Investitionsentscheidungen schien die Branche keine Rolle gespielt zu haben – was zählte, waren die Gewinnaussichten. Dabei kann die starke Diversifizierung sowohl innerhalb der Quandt-Gruppe als auch innerhalb der einzelnen Unternehmen als strategische Entscheidung betrachtet werden, die der Verteilung des Risikos dienen sollte. Da Quandt seine Unternehmen nicht nach einem Masterplan gegründet hatte, sondern breit aufgestellte Firmen erwarb und diese dann erweiterte, entstand ein komplexes Geflecht zwischen Mutterkonzernen und Beteiligungen. Hatten die Erwerbungen in der Inflationszeit zunächst zur Vermögenssicherung beigetragen, stellten sich die Kali- und Elektroindustrie schon bald als zukunftsträchtige Geschäftsfelder heraus. Obwohl Quandt sich in die Geschäftsführung der AFA intensiv einarbeitete, fand auch hier wie bei Wintershall eine Arbeitsteilung zwischen dem Kaufmann Quandt und technischen Fachleuten statt. Der Einstieg in den maroden BKI/DWM-Konzern stellte zunächst eine reine Finanzinvestition dar. Ohne die anziehende Rüstungskonjunktur hätte Quandt vermutlich die Unternehmensgruppe weiter zerschlagen und gewinnbringend verkauft. In der Weimarer Zeit schien Quandt also weniger ein schöpferischer Unternehmer als ein geschickter Investor zu sein. Ein BKI/DWM-Mitarbeiter erinnerte sich, bei stundenlangen Sitzungen sei Quandt bisweilen eingenickt: „Fiel jedoch von einer Seite das Wort Aktie oder Firmenkauf, dann wurde sein Blick kristallklar, und er übernahm sofort das Wort.“16 Etwas anders muss seine Tätigkeit in der Tuchindustrie bewertet werden. Zwar waren auch die väterlichen Tuchfabriken Erwerbungen und keine Neugründungen und obgleich Günther Quandt sich hier mit Detailfragen der Produktion und Modernisierung auseinandersetzte, ist auch hier nicht bekannt, dass er für besondere Innovationen in der Branche verantwortlich war. Dennoch kann man ihn hier noch 15 16

Günther Quandt. Der Überwinder der Branchen, in: Das Reich vom 20. Juli 1941. Dörge, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 215.

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am ehesten als klassischen Familienunternehmer beschreiben, der sich mit technischen und kaufmännischen Angelegenheiten gleichermaßen auseinanderzusetzen hatte. Bei den komplexen Unternehmensgruppen der AFA und der BKI/DWM fehlte Quandt nicht nur das technische Detailwissen, sondern auch der Paternalismus fand seine Grenzen. Sein unternehmerischer Erfolg lag mit Sicherheit darin begründet, dass er hier zwar die Generallinien vorgab, aber auf unterer Ebene auch zu delegieren wusste. Es ist anzunehmen, dass nur Kernentscheidungen über Quandts Schreibtisch gehen konnten, ansonsten mussten sich die Strukturen eines Managementunternehmens automatisch ein Stück weit durchsetzen. Indem Quandt selbst über Aufsichtsrat und Wirtschaftsausschüsse Kontrolle ausübte und insbesondere bei Wintershall und der AFA, später auch bei den DWM ungeachtet der fachlichen Expertise Familienmitglieder in den Aufsichtsräten positionierte, gestaltete er diese Strukturen jedoch um, so dass sich auch hier Elemente des Eigentümerunternehmens wiederfinden. Die Quandt-Gruppe stellte daher eine Mischform zwischen klassischem paternalistischen Familienunternehmen und Managerunternehmen dar. Nicht nur bei der Besetzung von Aufsichtsratsposten spielten die familiären Bindungen eine Rolle in Quandts unternehmerischer Tätigkeit. Neben Bankkrediten wurde auch das Familienvermögen für die Übernahmen genutzt. In den 1920er Jahren entwickelten sich schließlich verschiedene, miteinander verwobene Holding-Gesellschaften – zu den wichtigsten zählten die Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen (Agfi), die Gebrüder Draeger GmbH und die Berliner Terrain-Centrale GmbH – durch die der Familienbesitz verschachtelt, Mehrfachbesteuerung vermieden und „mit dem geringsten Kapitalaufwand ein Höchstmaß an Kontrolle“17 erzielt werden konnte. Zum Selbstverständnis des Familienunternehmers zählte auch, sich früh mit der Nachfolgefrage auseinanderzusetzen. Nachdem Günther Quandts erste Frau Antonie 1918 an der Spanischen Grippe gestorben war, heiratete er die über zwanzig Jahre jüngere Magda Ritschel, mit der er 1921 den dritten Sohn Harald bekam. Eigentlich hätte es mit drei Söhnen ein Leichtes sein sollen, einen Nachfolger aufzubauen. Der erste Sohn Hellmut verstarb jedoch 1927 unerwartet im Alter von 19 Jahren an einer schlecht behandelten Blinddarmentzündung. Der zweite Sohn Herbert war auf Grund eines Augenleidens fast blind, weshalb zunächst ein Gut in Mecklenburg für ihn erworben wurde, für den Fall, dass er unternehmerisch nicht tätig werden könnte. Harald war zunächst noch zu jung, um für die Nachfolge vorbereitet zu werden. Später kam es nach der Trennung von Magda zu einem Sorgerechtsstreit, der für Quandt insofern schwer zu gewinnen war, als 1931 der spätere Reichspropagandaminister Josef Goebbels Haralds Stiefvater wurde. Wie zuvor Hellmut wurde daher Herbert seit dem Tod des Bruders auf die Unternehmensnachfolge vorbereitet, indem er theoretisch an einer Handelsschule, praktisch in eigenen Betrieben und denen befreundeter Unternehmer in der Elektrobranche im In- und Ausland zum Kaufmann ausgebildet wurde.

17

Pritzkoleit, Männer, Mächte, Monopole, S. 76.

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Günther Quandt kann also durchaus als Familienunternehmer bezeichnet werden, der die Strukturen seiner großen, diversifizierten Unternehmensgruppe an die familiären Bedürfnisse anpasste und seine Nachfolge systematisch vorbereitete. In seinen Erinnerungen portraitierte er sich zudem als Wirtschaftsbürger: „Sparsamkeit, Pflichttreue, Unbestechlichkeit sind Tugenden, die immer gelten.“18 Tatsächlich kam er jedoch eher als Vertreter eines neuen Bürgertums nach Berlin, der sich zwar konventionell darstellte, jedoch kein eigenes Gespür für die traditionelle bürgerliche Lebenswelt zu haben schien – dies spiegelt sich beispielsweise in seinem Kauf eines repräsentativen Hauses in Charlottenburg samt kompletter Innenausstattung wider. Auch die Bereitschaft, seine Übernahmeprojekte nicht nur mit Eigenkapital, sondern auch mit hohen Krediten zu finanzieren, passt nicht zu einem bürgerlichen Kaufmannsverständnis. Ein ehemaliger Mitarbeiter kam daher zu dem Schluss: „Günther Quandt selbst hatte keine besonderen Interessen, die nicht mit Geld zu tun hatten. Er kannte keine religiösen Gefühle, keine musischen Neigungen und keine Ressourcen im Freundeskreis.“19 Folgt man dieser Lesart, hat man auch eine mögliche Erklärung, warum wenig über Günther Quandts politische Einstellungen zu erfahren ist – solange der Staat eine zurückhaltende, wirtschaftsfreundliche Politik pflegte, gab es für Quandt keinen Grund sich zu positionieren. Dies heißt nicht, dass er sich nicht pragmatisch mit politischen Stellen und Verbänden vernetzte, wenn es ihm aus unternehmerischer Sicht opportun erschien. Für die späte Weimarer Zeit ist nach seiner bereits beschriebenen Beschäftigung als Referent der Reichsstelle für Textilwirtschaft eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft zum Studium des Faschismus belegt, in der Stahlhelmmitglieder, Männer aus dem Dunstkreis der Konservativen Revolution, DNVP-Mitglieder und Nationalsozialisten versammelt waren. Etwa ein Viertel der Mitglieder waren Unternehmer, die auf der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Bolschewismus und Liberalismus waren. Inwieweit sich Quandt in dieser Vereinigung engagierte ist nicht mehr nachvollziehbar. Die Gesellschaft löste sich dann bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wieder auf. 1931 traf Quandt – vermutlich vermittelt durch Rohde – zweimal mit Adolf Hitler zusammen. Dabei unterbreitete er überwiegend aus betriebswirtschaftlicher Perspektive Vorschläge zur Verbesserung der Wirtschaftslage und zur Überwindung der Arbeitslosigkeit. Diese Ideen waren „wenig revolutionär“20 und wurden zu dieser Zeit auch von anderen Unternehmern propagiert: Die Arbeitszeit sollte von acht auf sechs Stunden gesenkt und Ratenkäufe verboten werden. Zudem sollte die Erwerbslosenfürsorge gestrichen und Maßnahmen zur Steigerung öffentlicher und privater Bauaufträge ergriffen werden. Quandt war also früh bereit, sich mit den Nationalsozialisten an einen Tisch zu setzen, auch wenn er skeptisch gegenüber den sozialistischen Elementen des NS-Programms war. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war er gezwungen, sich intensiver mit ihnen auseinanderzusetzen, da zahlreiche Verbände, denen Quandt seit längerer Zeit angehörte, aufgelöst wurden. Zudem bekam er nun die Macht 18 19 20

Quandt/Quandt, Günther Quandt erzählt sein Leben, S. 24. Dörge, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 215. Scholtyseck, Der Aufstieg der Quandts, S. 266.

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Goebbels im Kampf um seinen Sohn Harald deutlicher zu spüren. Dass mit den neuen Machthabern nicht zu spaßen war, erlebte Quandt am eigenen Leib, als er Anfang Mai 1933 unter dem Vorwurf der Korruption für sechs Wochen inhaftiert und anschließend noch bis Anfang September 1933 unter Hausarrest gestellt wurde. Die Inhaftierung wurde nicht, wie anfangs von Quandt vermutet, von Goebbels veranlasst, sondern ging vermutlich auf das Konto unkontrollierter nationalsozialistischer Revolutionäre, die eigenmächtig gegen die bisherigen Wirtschaftseliten vorgehen wollten. Inwieweit dies dazu beitrug, dass Unternehmen der Quandt-Gruppe nun – wenn auch in überschaubarem Maße – an die NSDAP spendeten und Günther Quandt in die Partei eintrat, lässt sich nicht eindeutig klären. Auch wenn Günther Quandt sich dem politischen und wirtschaftlichen System der Weimarer Republik vermutlich nicht sonderlich verbunden gefühlt haben wird, war er doch nicht aktiv an ihrem Sturz beteiligt. Die „Machtergreifung“ erwies sich für ihn persönlich zunächst als beunruhigend. Selbst später wurde er zwar nie ein glühender Verfechter nationalsozialistischer Ideologie, verstand es jedoch, das Regime für die Profitmaximierung, insbesondere in der Rüstungsbranche, zu nutzen. Dass er bei seinen in der Weimarer Zeit getätigten Erwerbungen von Anfang an auf eine Wiederaufrüstung oder gar einen Krieg spekuliert hatte, bestritt er später allerdings vehement.21 Zwar hatten nicht nur die DWM als klassischer Rüstungskonzern, sondern auch die AFA während des Ersten Weltkriegs von den Rüstungsaufträgen profitiert; beide Firmengruppen hatten jedoch zwangsweise nach dem Krieg auf Zivilproduktion umstellen müssen. Wohl gab es vereinzelt schon vor 1933 erneute Aufträge im Rüstungssektor; gerade Quandts Vorgehen bei der BKI/DWM-Gruppe, aus finanziellen Erwägungen den Erhalt der traditionellen Rüstungsfirmen in Frage zu stellen, weist allerdings darauf hin, dass er zum Zeitpunkt des Erwerbs noch nicht mit einer Aufrüstung oder gar einem erneuten Krieg rechnete. Als sich die politische Lage schließlich doch in diese Richtung änderte, erwirtschaftete er aber dankbar auch in diesem Sektor Profit. Günther Quandt war in erster Linie ein Mann der Finanzen, der geschickt und bisweilen skrupellos die wirtschaftlichen und politischen Begebenheiten für seine Gewinne zu nutzen verstand. Die besonderen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik mit ihren Wirtschaftskrisen und Nachkriegsbeschränkungen erlaubten es dem ursprünglich mittelgroßen Familienunternehmer, in Großkonzerne verschiedener Branchen einzusteigen und damit die Grundlagen seines wirtschaftlichen Imperiums zu schaffen. Dort delegierte er die technischen Details an seine Fachleute. Er selbst organisierte in erster Linie die Geschäftsführung nach seinen Vorstellungen, wobei er die Managementstrukturen der Großunternehmen an die Anforderungen eines Familienunternehmers anpasste. Es muss Spekulation bleiben, ob die Reorganisation, Rationalisierung und strategische Erweiterung seine Unternehmensgruppen zu vergleichbarem Erfolg geführt hätten, wenn es nicht zur Aufrüstung unter den Nationalsozialisten gekommen wäre. Es ist jedoch anzunehmen, dass der um21

Stellungnahme des Dr. Ing. E. h. Günther Quandt zur Klageschrift des Öffentlichen Klägers vom 8. Februar 1948, HWA, Abt. 2017, Nr. 38.

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triebige Finanzier auch unter anderen politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen seinen Weg gemacht hätte. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Jungbluth, Rüdiger, Die Quandts. Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie, Frankfurt/Main 2015. Jungbluth, Rüdiger, Die Quandts. Ihr leiser Aufstieg zur mächtigsten Wirtschaftsdynastie Deutschlands, 4. Aufl., Bergisch Gladbach 2006. Nadolny, Burkhart / Treue, Wilhelm, Varta. Ein Unternehmen der Quandt-Gruppe 1888–1963, München 1964. Pritzkoleit, Kurt, Männer, Mächte, Monopole. Hinter den Türen der westdeutschen Wirtschaft, Düsseldorf 1960. Quandt, Harald / Quandt, Herbert (Hrsg.), Günther Quandt erzählt sein Leben, München 1961 [Exemplar in HWA, Abt. 2017, Nr. 9]. Scholtyseck, Joachim, Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München 2011. Stremmel, Ralf, Zeitgeschichte im Fernsehen. Die preisgekrönte Dokumentation „Das Schweigen der Quandts“ als fragwürdiges Paradigma, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 455–481. Treue, Wilhelm, Herbert Quandt. Ein Unternehmer der dritten Generation, Bad Homburg 1980.

FRIEDRICH FLICK (1883–1972) – DER GARANTIERTE KAPITALISMUS Tim Schanetzky Friedrich Flick war der Öffentlichkeit die längste Zeit der Weimarer Republik ein Unbekannter. Aus der industriellen Provinz des Siegerlandes kommend, hatte er sich im Krieg, in den Wirren der Inflation und während der kurzen Stabilisierungsphase von Währung und Wirtschaft an die Spitze der deutschen Industrie emporgearbeitet: Über verschachtelte Beteiligungen kontrollierte er 1931 die Vereinigten Stahlwerke, den zweitgrößten Montankonzern der Welt. Daneben war er Haupteigentümer eines Konzerns rund um die bayerisch-thüringische Maximilianshütte und die Mitteldeutschen Stahlwerke. Angesichts dieser beispiellosen Machtposition war Flick zwar unter Bankiers und Politikern, bei den Unternehmern von Kohle, Eisen und Stahl und auch den aufmerksamen Lesern der Wirtschaftspresse bekannt. Aber der Unternehmer agierte gern im Verborgenen und entzog sich soweit wie möglich der Öffentlichkeit. Erst im Sommer 1932 nahm ihn die breite Masse erstmals wahr: Auf dem Höhepunkt des Juli-Wahlkampfes, aus dem die NSDAP als stärkste politische Kraft hervorgehen sollte, wurde publik, dass das Reich dem vom Bankrott bedrohten Flick sein wertvollstes Aktienpaket abgekauft hatte – zu einem phantastischen Preis, vorbei am Kabinett, am letzten Tag der Regierung Brüning. Anders als bei der Bankenkrise von 1931 wurden im Flick-Skandal keine Kontroll- und Führungsfragen verhandelt. Auch ging es nicht um den Größenwahn einer gescheiterten Konzernexpansion wie beim Zusammenbruch der Nordwolle. Vielmehr handelte es sich um einen politischen Skandal, in dem das Verhältnis zwischen Staat und Unternehmen zur Zeit der Präsidialregierungen grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Die Affäre prägte Flicks öffentliches Bild für Jahrzehnte, und seine Kritiker – links wie rechts – hoben zwei Aspekte besonders hervor: dass Flick kein „richtiger“ Unternehmer sei, sondern lediglich spekulativ agiere; und dass es ihm seit Jahren gelinge, Politik nicht nur als „produktive Kraft“1 einzusetzen, sondern sich dank staatlicher Hilfe vom unternehmerischen Risiko des Scheiterns zu befreien. Rudolf Aron brachte dies 1936 auf den Punkt, indem er Flick einen „Meister in der Kunst“ nannte, „am öffentlichen Feuer seine Privatkastanien zu rösten“.2 Diese Einschätzung ging auf die Recherchen des wohl profiliertesten Wirtschaftsjournalisten des deutschsprachigen Exils zurück. Erst kurz zuvor hatte Aron die geheime Rüstungsfinanzierung der Nazis aufgedeckt – ein journalistischer Coup, 1 2

Alfred Reckendrees / Kim C. Priemel, Politik als produktive Kraft? Die „Gelsenberg-Affäre“ und die Krise des Flick-Konzerns, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2006), S. 63–93. Joachim Haniel, Der Roman des Herrn Flick, in: Das Neue Tage-Buch 4 (1936), S. 60–64, hier S. 60.

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der auf der sorgfältigen Auswertung von Unternehmensbilanzen und Reichsbankstatistiken beruhte. Von Flick, so klagte der gemäßigte Marxist, habe er in einem Vierteljahrhundert zwar „Dutzende von Aktientransaktionen, aber noch nicht eine industrielle Leistung gesehen“. Sein Urteil unterschied sich damit kaum von der demonstrativen Geringschätzung, mit der auch völkische Intellektuelle auf Flick herabgeblickt hatten. So charakterisierte etwa Giselher Wirsing den Unternehmer als skrupellosen Spekulanten. Am Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise betonte der spätere Hauptsturmführer der SS und noch spätere Chefredakteur von „Christ und Welt“, dass der „eigentliche Unternehmer“ stets mit dem Werk und seinen Arbeitern verbunden sei. Spekulanten wie Flick hingegen interessierten sich für diese Welt nur, sofern sie „sich in Aktien und Obligationen ausdrücken“ lasse.3 In dem staatlichen Rettungsmanöver von 1932 sahen Flicks Kritiker nur den vorläufigen Endpunkt einer langen Entwicklung. Folglich muss weit zurückgeblendet werden, um Antworten auf zwei zentrale Fragen zu finden: Welche unternehmerische Strategie verfolgte Friedrich Flick, und was waren die Mittel ihrer Umsetzung? Flick wurde 1883 in Ernsdorf bei Siegen geboren. Das Milieu, aus dem er stammte, war für eine Unternehmerlaufbahn nicht untypisch: Sein protestantischer Vater hatte als Landwirt und Grubenholzhändler gute Kontakte in die Montanindustrie des Siegerlandes. Flick absolvierte eine kaufmännische Ausbildung und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Kölner Handelshochschule. Nach mehreren Stationen bei kleineren Stahlbetrieben kam Flick 1915 als kaufmännischer Vorstand zur Charlottenhütte in Niederschelden an der Sieg. Praktisch und theoretisch umfassend gebildet, fleißig und mit unbedingtem Willen zum Erfolg ausgestattet, nutzte er die Expansionsmöglichkeiten, die der Weltkrieg bot. Schon damals lag der Schlüssel zum Erfolg beim Staat: Flick verstand sich darauf, die Interessen der Charlottenhütte in den Bewirtschaftungsgremien glänzend zu vertreten. Hinzu kam, dass bei garantierter staatlicher Nachfrage bis Kriegsende berechenbare Verhältnisse herrschten. Flick setzte darauf, die üppigen Einnahmen durch einen Expansionskurs vor der Geldentwertung zu schützen. Das von ihm angestoßene Fusionsfieber – der Charlottenhütte schloss er binnen drei Jahren acht Unternehmen an – hatte aber noch einen weiteren Zweck: Es steigerte die Produktion des Unternehmens ohne langwierige Bauvorhaben, deren Zukunft nach Kriegsende ungewiss gewesen wäre. Flick schulte in dieser Zeit nicht nur sein Geschick im Umgang mit Fusionen und ihrer Finanzierung, sondern er kaufte selbst Aktien der Charlottenhütte. Ihm gelang es bis 1921, die Kapitalmehrheit unter seine Kontrolle zu bringen. Seither agierte er stets als Eigentümer. Die Kriegsniederlage und der revolutionäre Umsturz leiteten eine fast siebenjährige Phase ein, in der die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse höchst unsicher und die gesellschaftlichen Umwälzungen gewaltig waren. Trotz des Versailler Friedensvertrages blieb die Reparationsfrage zunächst offen; ebenso unklar war der Verlauf der Ostgrenze des Deutschen Reiches. Dies förderte einen politischen Konsens, der den bereits im Krieg begonnenen Verfall der Währung weiter duldete – er diente der stillen Liquidation der Kriegsverschuldung, erleichterte die 3

Giselher Wirsing, Herr Flick und Herr Dietrich, in: Die Tat 24 (1932), S. 347–350.

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Reintegration der Soldaten in den Arbeitsmarkt, förderte den Export und stützte mit der Wirtschaft zugleich das politische System. Alle Gerichte bestätigten zudem das Nominalwertprinzip: Trotz der Geldentwertung blieb eine Mark eine Mark. Wer Schulden hatte oder neue aufnahm, konnte sie wenig später und in entwerteter Währung beinahe zum Nulltarif begleichen. Diese rechtspositivistische Festlegung warf die bestehenden Verhältnisse über den Haufen: Nicht nur die Gläubiger hatten darunter zu leiden, sondern auch jene Rentiers, deren Vermögen nicht mehr genug Ertrag abwarf. Wer in dieser Notlage von der Vermögenssubstanz zehrte, stand bald mittellos da. Die Geldentwertung bestrafte das Beharren auf gewohnten Positionen. Wer hingegen ihre Dynamik durchschaute und die Mittel hatte, sich anzupassen, dem eröffnete sie große Gewinnchancen. Flick gehörte zu jenen „Königen der Inflation“, die nicht nur der sozialdemokratische Journalist Paul Ufermann mit einer Mischung aus Faszination und Ekel betrachtete, weil sie binnen Monaten zu ungeheuerlichem Reichtum aufstiegen.4 Ähnlich wie Camillo Castiglioni oder Hugo Stinnes5 hatte auch Flick schon während der letzten beiden Kriegsjahre bemerkt, dass die Verhältnisse durchaus berechenbar waren – sofern man einen weiteren Verfall des Geldwertes einkalkulierte. Bis Anfang 1920 sank die Kaufkraft der Mark auf ein Zehntel ihres Vorkriegswertes, und zweieinhalb Jahre später betrug ihr Wert nur noch ein Hundertstel. Aber erst mit der Ruhrbesetzung vom Januar 1923 steigerte sich der Wertverfall ins Absurde. Dass Flick seine Chance nun jenseits des Siegerlandes zu suchen begann, hatte freilich auch damit zu tun, dass die Ruhrkonzerne seit der Kriegsniederlage in sein heimisches Revier eindrangen. Ein von Flick bereits vorbereitetes Fusionsmanöver scheiterte, weil Klöckner und Thyssen6 sich für dasselbe Objekt interessierten. Als dieser dann an die Ruhr ausweichen und der Charlottenhütte eine eigene Steinkohleversorgung sichern wollte, kam ihm erneut Klöckner in die Quere. Einen Ausweg fand Flick in Oberschlesien, wo er im Frühsommer 1920 die feindliche Übernahme der Bismarckhütte wagte. Das war nicht nur deshalb ein kühner Plan, weil das Unternehmen 900 Kilometer entfernt lag und mit 15.000 Beschäftigten doppelt so groß war wie seine Charlottenhütte. Hinzu kam, dass in Oberschlesien ein Bürgerkrieg tobte. Der polnische Staat beanspruchte den Großteil des dortigen Industriereviers, und 1921 sollte eine Volksabstimmung über dessen territoriale Zukunft befinden. Nicht nur zwischen Deutschen und Polen wurde gekämpft. Volksaufstände und Streiks nährten auf deutscher Seite die Furcht, dass die Provinz in die Hände der Bolschewisten fallen könnte; entsprechend brutal schlugen Polizeieinheiten und Freikorps die Aufstände nieder. Flick war sich dieser Risiken bewusst, aber er sah wohl vor allem die damit verbundenen Chancen – weil absehbar war, dass die adligen Magnaten vom Schlage der Henckel von Donnersmarck, Ballestrem oder Tiele-Winckler Mühe haben würden, ihren Besitz zu halten, sobald dieser in Polen liegen würde. 4 5 6

Paul Ufermann: Könige der Inflation, Berlin 1924. Zu Hugo Stinnes vgl. den Beitrag von Per Tiedtke in diesem Band. Zu August Thyssen vgl. den Beitrag von Jörg Lesczenski in diesem Band.

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Tatsächlich glückte der Angriff auf die Bismarckhütte. Schon im Juli 1920 kontrollierte die Charlottenhütte etwas über 40 Prozent des Kapitals. Faktisch hatte sie schon damit eine Hauptversammlungsmehrheit, da nie alle Aktionäre von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten. Dennoch wurde noch bis Jahresende um die Macht bei der Bismarckhütte gerungen: Deren Direktorium ließ zur Verteidigung von der Nationalbank ebenfalls Aktien aufkaufen. Flick aber fand zu einem Akkord mit Nationalbank-Direktor Hjalmar Schacht und übernahm dessen Aktienpaket. Danach hatte die Bismarckhütte ihre eigene Übernahme zu finanzieren. Als Vehikel dafür diente zunächst die Westfälische Stahlwerke AG. In die Bochumer Tochtergesellschaft musste die Bismarckhütte mehrere Betriebe einbringen, und Flicks Charlottenhütte übernahm deren Aktien dann im Tausch gegen einen Teil ihrer Bismarckhütten-Aktien. Im Juni 1921 verkaufte sie Westfalenstahl an den Koblenzer Industriellen Carl Spaeter. Danach hielt die Charlottenhütte noch 53 Prozent der Bismarckhütte, was für die absolute Kontrolle genügte, da nun weitere 33 Prozent des Kapitals im Eigenbesitz der Gesellschaft waren. Die Geldentwertung im Blick, suchte Flick sofort nach Anlagemöglichkeiten für die Einnahmen aus dem Westfalenstahl-Geschäft. Es traf sich, dass der Haupteigentümer der Kattowitzer AG für Bergbau und Eisenhüttenbetrieb verkaufsbereit war. Inzwischen stand fest: Oberschlesien sollte geteilt, Ostoberschlesien polnisch werden – unter dem Eindruck des dritten polnischen Volksaufstandes hatten sich die Siegermächte und der Völkerbund über das gegenteilige Votum der Volksbefragung hinweggesetzt. Dies bewog den Grafen von Tiele-Winckler zum Verkauf seiner Kattowitz-Aktien an die Charlottenhütte. Flick griff sofort zu und sah darin eine weitere Chance, die „nicht unerheblichen flüssigen Mittel der Bismarckhütte“, darunter wertbeständige Devisen, für sich nutzbar zu machen. Die Bismarckhütte hatte der Charlottenhütte deren Kattowitz-Beteiligung für 300.000 Britische Pfund abzukaufen. So bekam Flick „erhebliche Geldbeträge in die Hände“7, ohne seine Verfügungsgewalt über die Unternehmen einzuschränken: Die Charlottenhütte behielt die faktische Dreiviertelmehrheit bei der Bismarckhütte, die wiederum die Mehrheit des Kattowitz-Kapitals beherrschte. Auch das Vermögen der Kattowitzer AG wurde für die weitere Expansion genutzt: Im Laufe des Jahres 1922 baute sie ihre Position bei der Oberschlesischen Eisenindustrie AG aus; dort kam Flick bald auf 46 Prozent des Kapitals, was als faktische Hauptversammlungsmehrheit genügte. Flick hatte zwei Jahre benötigt, um eine dominierende Stellung in der oberschlesischen Montanindustrie zu erobern. Dazu nutzte er das Vermögen der von ihm erworbenen Gesellschaften auf mehreren Verschachtelungsstufen. Öffentlich bekannt wurde davon kaum etwas, denn alle Geschäfte liefen im Stillen ab. Ob sich die Werke sinnvoll ineinander fügten, ob die politischen Risiken beherrschbar waren – Flick kümmerte es nicht. Er machte deutlich, dass er seinen Besitz möglichst bald in „sichere“ deutsche Beteiligungen einzutauschen gedachte. Sein eigentliches Ziel war noch immer die Ruhr.8 Im Frühjahr 1923 öffnete ihm Hugo Stinnes die 7 8

Westfälisches Wirtschaftsarchiv (WWA), F 65/69, Redemanuskript Flick, o. D. WWA, F 65/69, Redemanuskript Flick, o. D.

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Tür zur dortigen Montanindustrie: Er übernahm die Hälfte des oberschlesischen Besitzes, und im Gegenzug erhielt Flick nicht nur zwei Minderheitsbeteiligungen am Bochumer Verein und an der Gelsenkirchener Bergwerks AG, sondern auch eine Viertelmillion Pfund in bar. Zu einer Zeit, als bereits 49.000 Mark für den Dollar gezahlt werden mussten, erleichterten Devisen die weitere Expansion. Dem seit Kriegsende ums Überleben kämpfenden Krupp-Konzern wollte Flick seine Mannesmann-Beteiligung abkaufen – doch Krupp9 lehnte ab. Notgedrungen investierte Flick in Mitteldeutschland, wo er schrittweise die Mehrheit an der Linke-HofmannLauchhammer AG übernahm, die in den Vorjahren stark expandiert hatte. Auch sein dortiges Engagement wurde von der Unternehmensleitung nicht eben begrüßt, aber Flick profitierte von einem internen Machtkampf und konnte auf Unterstützung durch Teile des Linke-Managements bauen. Den rastlosen Expansionskurs wird man nicht allein mit den Bedingungen der Inflation oder der Vielzahl der günstigen Gelegenheiten erklären können, die sich vielen Unternehmern zu dieser Zeit boten. Er war vor allem das persönliche Werk eines Aufsteigers, dessen Ehrgeiz sich ganz darauf richtete, in das Machtzentrum seiner Branche vorzustoßen. Deshalb war es wohl tatsächlich zweitranging, ob die unter dem inflationären Geldschleier zusammengekauften industriellen Kombinationen am Markt bestehen konnten, denn die Geschäfte hatten einen unbestreitbaren Erfolg: Im Alter von 40 Jahren war Friedrich Flick in der deutschen Wirtschaftselite angekommen. Längst hatte er Wohn- und Firmensitz von Siegen nach Berlin verlegt, wo die Familie eine großbürgerliche Villa in Grunewald bewohnte. Dort wuchsen die drei Söhne im Bewusstsein heran, später einmal Erben eines Großindustriellen zu werden, der dem Aufsichtsrat von Dresdner Bank, AEG, Gelsenberg, Bochumer Verein, Linke-Hofmann-Lauchhammer sowie den Kontrollgremien bei den oberschlesischen Unternehmen angehörte. In den Respekt seiner Branchenkollegen mischte sich allerdings das typische Misstrauen, das gerade den Parvenüs der Inflationszeit entgegenschlug. Bei Krupp etwa erkannte man zwar an, dass Flick „außerordentlich geschickt manövriert“ habe. Aber Gustav Krupp von Bohlen und Halbach stellte Flick in eine Reihe mit den schlecht angesehenen – und häufig jüdischen – Schrotthändlern, denen man den „Eintritt in die Schwerindustrie überhaupt nicht erleichtern“ wollte.10 Den Handel geringzuschätzen, zählte seit je zum Kern des industriellen Selbstbildes, und den dabei nicht selten mitschwingenden Antisemitismus griff auch der Wirtschaftsjournalist Felix Pinner auf. Er präsentierte Flick als Beleg dafür, dass sich Inflationsprofite „überall und unbeschadet der Rasse und Konfession“ zeigten. Der protestantische Siegerländer habe nicht anders gewirtschaftet als jüdische Inflationsgewinner wie Hugo Herzfeld, Camillo Castiglioni oder Jakob Goldschmidt. Sie alle ließen eine „wirtschaftsproduktive Idee“ vermissen, und auch Flick habe bisher noch „keinen neuen Hochofen, kein neues

9 10

Zu Gustav Krupp von Bohlen und Halbach vgl. den Beitrag von Ralf Stremmel in diesem Band. Historisches Archiv Krupp (HAK), WA 4/1396, Schriftwechsel Wendt und Schäffer, 2. und 3. Mai 1923.

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Walzwerk oder sonst irgendetwas gebaut, […] sondern nur immer Aktien, Besitz und Werke hin- und hergeschoben.“11 Solchen Beobachtern ist anzumerken, dass sie Flick an einer unausgesprochenen Referenz maßen – dem ortsgebundenen Unternehmer, der seinen Betrieb von kleinen Anfängen durch organisches Wachstum und mit einer langfristigen Strategie fortentwickelt. Diese Idealvorstellung war nicht nur deshalb romantisch, weil derartige Unternehmen zur selben Zeit in großer Zahl untergingen oder sich während der Umwälzungen von Krieg, Inflation und Währungsstabilisierung grundlegend wandelten. Sie ging auch an der Realität vorbei, weil Flick zwar noch immer die Charlottenhütte als Instrument für seine Transaktionen verwendete, sich aber mit dem Tagesgeschäft ihrer Stahlbetriebe im Siegerland längst nicht mehr befasste. Nah bei den Berliner Banken und Ministerien entstand zu dieser Zeit in der Bellevuestraße ein Privatsekretariat Flicks, von dem die Charlottenhütte in allen finanziellen Belangen geführt wurde. Während der zwanziger Jahre agierte Flick vorwiegend als Finanzinvestor, der mit Industriebeteiligungen handelte und die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten nutzte – für den industriellen Betrieb der Werke interessierte er sich kaum noch. Unter den Gewinnern der Inflation stach Flick vor allem deshalb hervor, weil sein Industriebesitz die mit der Währungsstabilisierung einhergehende Krise überlebte. Für die Montanindustrie war dies weit mehr als eine Stabilisierungskrise, weil nun erst die gewaltigen Überkapazitäten zum Tragen kamen, die während des Krieges – und danach – aufgebaut worden waren. Deren wirklicher Umfang blieb zunächst verdeckt, weil die Geldentwertung wie ein Schutzzoll gewirkt hatte. Er bewahrte die deutsche Industrie nicht nur vor der ausländischen Konkurrenz, sondern ermöglichte ihr gleichzeitig ein Exportdumping. Damit war 1924 Schluss; sofort setzten sinkende Nachfrage, fallende Preise und allgemeine Kapitalknappheit die Konglomerate unter Druck. Flick gelang es zwar noch im Spätsommer 1924 und wenige Monate nach dem plötzlichen Tod von Hugo Stinnes, in Verhandlungen mit dessen Sohn weitere Bismarckhütte-Aktien zu verkaufen und seine Minderheitspositionen an der Ruhr auszubauen. Danach aber galt es, die von ihm beherrschten Unternehmen vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Dass es Flick gelang, diese schwierige Phase zu überstehen, ist vor allem einem industriepolitischen Kurswechsel geschuldet, von dem er nicht nur profitierte, sondern den er selbst mit vorantrieb. Im Mittelpunkt stand die Überlegung, dass Kartelle und Syndikate keine Antwort auf das Problem der Überproduktion und des damit verbundenen Preisverfalls hatten. Ähnlich wie in der Chemieindustrie, die sich zur selben Zeit endgültig zur IG Farbenindustrie AG zusammenschloss, bot sich als Ausweg die horizontale Konzernbildung an. Als Beispiel ist Westoberschlesien zu nennen, wo es Flick nach zähen Verhandlungen gelang, seine Oberschlesische Eisenindustrie AG mit der konkurrierenden Oberschlesischen Eisenbahn-Bedarfs-AG sowie der Donnersmarckhütte zu fusionieren. Alle Beteiligten hatten wichtige Teile ihrer Betriebe an Polen verloren. Die Gründung der Oberschlesischen Hüttenwerke AG wurde auch an der Ruhr aufmerksam verfolgt, weil dort zur selben Zeit über ein 11

Felix Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer, Berlin 1924, S. 102 f.

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ähnliches Vorhaben verhandelt wurde. Zwar gelang am Ende kein Branchentrust wie in der Chemieindustrie. Aber als sich im Frühsommer 1926 die Ruhrkonzerne Deutsch-Luxemburg (Stinnes), Phoenix (Otto Wolff12), Rheinstahl (IG Farben) und Thyssen in der Vereinigte Stahlwerke AG verbündeten, war damit ebenfalls eine Rationalisierungsgemeinschaft intendiert: Benachbarte Werke sollten zusammengelegt, unrentable Betriebe geschlossen, Investitionen an volkswirtschaftlich sinnvoller Stelle gebündelt werden. Dabei war auch daran gedacht, den mit dem Dawes-Plan leichter zugänglichen Kapitalmarkt der USA zur Finanzierung von Rationalisierungsinvestitionen heranzuziehen. Dass die Entstehung des Stahlvereins politisch erwünscht war, unterstrich der staatliche Verzicht auf einen Großteil der bei der Fusion anfallenden Steuern. Flick war bei der Errichtung des Stahlvereins zunächst außen vor. Aber mit dem früheren Stinnes-Vertrauten Albert Vögler13 verständigte er sich darauf, später auch seinen Werksbesitz in den Trust einzubringen. Im Gegenzug erhielt Flick eine kleine Beteiligung am Stahlverein. Dieser war mit fast 200.000 Beschäftigten das größte deutsche Privatunternehmen; weltweit übertraf ihn in seiner Branche nur noch die U. S. Steel Corporation. Er vereinigte die Hälfte der deutschen Roheisenund Walzstahlproduktion auf sich und war an vielen Syndikaten mit Quoten von 50 Prozent beteiligt. Neben diese Marktmacht trat das Versprechen einer umfassenden Rationalisierung, die zunächst als Flurbereinigung unter den Werken begann. Bis Ende 1926 legte der Trust von 240 Betrieben 57 still. Von 33 Hochöfen standen bald nur noch 23 im Feuer; 7 Stahlwerke und 15 Walzwerke wurden geschlossen. Bis 1930 stellten 16 Zechen ihre Förderung ein. Um die Macht über den Stahlverein wurde von Beginn an gerungen, und anfangs sah nichts danach aus, dass Flick diesen Kampf für sich entscheiden könnte. Aber ihm gelang es bemerkenswert schnell, die Gründungsarchitektur des Trusts trickreich für sich zu nutzen. Alle Gesellschaften hatten lediglich ihren Werksbesitz eingebracht und waren dafür mit Aktien des Trusts entschädigt worden – sie bestanden somit als reine Holdinggesellschaften fort. Die größte Einzelaktionärin war mit rund 40 Prozent die Gelsenkirchener Bergbau AG, an der Flick bereits seit 1922 beteiligt war. Flick begann im Dezember 1926, seine direkte Beteiligung am Stahlverein abzustoßen und im Gegenzug massiv Gelsenberg-Aktien zu kaufen. Unterstützt wurde er dabei von der Darmstädter und National-Bank, die ihm den nötigen Kredit einräumte. Binnen zwei Monaten führte sein Angriff dazu, dass er in die höchsten Führungsgremien des Stahlvereins einzog. Wie hoch Flicks Gelsenberg-Beteiligung im Frühjahr 1927 wirklich war, ist heute nicht mehr feststellbar – erst 1932 wurde deutlich, dass er sich mit der Hauptversammlungsmehrheit begnügt hatte. Den Weg zur Kontrolle über den Trust ebnete ihm dann Otto Wolff, indem dieser seine Phoenix-Aktien an Gelsenberg und Fritz Thyssen verkaufte. Auch beim Phoenix operierte Flick verdeckt, wo er die Kontrolle gemeinsam mit Thyssen ausübte; die alleinige Kapitalmehrheit besaß Gelsenberg nicht. Diese komplexe 12 13

Zu Otto Wolff vgl. den Beitrag von Dietmar Dahlmann in diesem Band. Zu Albert Vögler vgl. den Beitrag von Alfred Reckendrees in diesem Band.

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Konstruktion reflektierte die realen Machtverhältnisse: Tatsächlich bestimmte Flick nicht allein über den Trust, sondern hatte sich mit Vögler und Thyssen abzustimmen. Aber sein Einfluss war groß genug, um die Finanzierung dieses Coups innerhalb des Stahlvereins durchzusetzen. Einen Großteil der Lasten lud er Gelsenberg auf, daneben trug aber auch die Charlottenhütte eine gewaltige Verschuldung. Nur ein Teil der direkten Verpflichtungen rührte dabei vom Erwerb der Kontrollmehrheit her. Der andere Teil war darauf zurückzuführen, dass Flick 1929 zunächst die Mehrheit bei der Eisenwerk-Gesellschaft Maximilianshütte AG und bis zum Frühjahr 1931 dann auch noch die Mehrheit der Mitteldeutschen Stahlwerke AG erworben hatte – eine Betriebsgesellschaft des Trusts, in die Flick erst drei Jahre zuvor seinen mitteldeutschen Werksbesitz eingebracht hatte. Im zweiten Jahr der Weltwirtschaftskrise und am Vorabend der Bankenkrise beherrschte Flick Europas größten Montankonzern. Daneben befand sich mit dem Konzern Maxhütte-Mittelstahl auch der drittgrößte deutsche Stahlproduzent in seinem Privatbesitz: eine maßlose Überdehnung seiner finanziellen Kräfte. Dass Flick im Frühjahr 1931 über den Erwerb eines Bergwerksunternehmens ebenso verhandelte wie über eine mögliche Interessengemeinschaft mit der Ilseder Hütte, dass er darüber hinaus bereit war, zur Finanzierung dieser Transaktion einen Teil seiner Gelsenberg-Aktien ab- und mit ihnen die Machtposition beim Stahlverein aufzugeben, lässt nur einen Schluss zu: Es handelte sich um ein Übergangsstadium. Eigentlich sah Flick seine Zukunft zu dieser Zeit bereits auf dem mitteldeutschen Markt. Dabei wird eine Rolle gespielt haben, dass er mit der Eroberung des Stahlvereins zwar einen wichtigen Prestigeerfolg errungen hatte. Allerdings war der Siegerländer des Taktierens in den Gremien des Konzerns und der dabei unvermeidlichen Niederlagen wohl überdrüssig und wollte eigener Wege gehen. Die kontrollierte Umsetzung dieses Kurswechsels hing allerdings davon ab, ob die Banken mitspielten – davon aber konnte seit dem Sommer 1931 nicht mehr die Rede sein. Weil die Bankenkrise die konjunkturelle Talfahrt beschleunigte, geriet Flick nun selbst in finanzielle Bedrängnis. Seine Macht stand auf tönernen Füßen, weil er sie durch Kredite finanziert hatte. Auf mehreren Verschachtelungsstufen dienten Aktienpakete als Sicherheit für Kredite, mit denen wiederum Aktien gekauft worden waren. Schon vor Ausbruch der Bankenkrise sanken deren Börsenkurse so weit, dass den Gläubigerbanken zusätzliche Sicherheiten zustanden. Nun aber war absehbar, dass bei der Charlottenhütte auch die Einnahmen wegbrechen würden. Kaum eine Gesellschaft, an der Flick direkt beteiligt war, schüttete noch eine Dividende aus. Von den rund 110 Millionen Mark Bankschulden, die allein auf Gelsenberg lasteten, waren 48 Millionen bereits im Frühjahr 1932 fällig. Bei der Charlottenhütte liefen weitere Kredite über 30 Millionen Mark zur selben Zeit aus. Solche Summen ließen sich unter Krisenbedingungen nicht mehr umschulden, so dass die Zahlungsunfähigkeit drohte. Flick suchte zunächst gemeinsam mit Thyssen und Vögler nach einer Lösung, scheiterte damit aber an Widerständen innerhalb des Stahlvereins – und bei den Banken, die während des Winters nervös zu werden begannen. Ausgangspunkt aller Rettungsbemühungen war immer ein möglicher Verkauf von Teilen der Gelsenberg-Beteiligung. In Maxhütte und Mittelstahl hingegen sah Flick seine Zukunft. So versteht

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sich wohl auch die Empfehlung, die sein enger Vertrauter Otto Steinbrinck zum Jahreswechsel 1931/32 aussprach. Er forderte Flick zur „nötigen Rücksichtslosigkeit“ auf und rief „Egoismus“ als Motto für das neue Jahr aus. Ab sofort zähle nur noch die eigene Zukunft.14 Flicks egoistische Lösung erschütterte als „Gelsenberg-Affäre“ die Öffentlichkeit und trug nicht unwesentlich zur politischen Delegitimierung der Präsidialkabinette bei. Der Unternehmer rettete sich, indem er seine Gelsenberg-Beteiligung an das Deutsche Reich verkaufte. Dass zuvor Gerüchte kursierten, wonach ein französisches Konsortium ein Interesse an der Beteiligung bekundet habe, war gewiss kein Zufall. Flick griff auf die Dienste eines einflussreichen Mittlers zwischen Politik und Wirtschaft zurück: Bei der Entscheidung über Subventionen oder staatliche Rettungsaktionen hatte das Wort von VIAG-Generaldirektor Max von der Porten großes Gewicht – so auch diesmal. Reichsfinanzminister Hermann Dietrich reagierte wunschgemäß, und der Liberale hatte kaum eine Wahl. Einen Verkauf nach Frankreich konnte er ebenso wenig begrüßen wie die neuerliche Destabilisierung der Großbanken durch den Zusammenbruch des Flickschen Finanzierungsgebildes. Dietrich musste sich im Frühjahr 1932 zwischen den beiden Wahlgängen der Reichspräsidentenwahl entscheiden als es hieß: Hindenburg oder Hitler. Weitere wirtschaftliche Rückschläge konnte sich das Kabinett Brüning in dieser politischen Situation kaum erlauben. Hinzu kam, dass Flick alle Mittel nutzte, um seine Interessen durchzusetzen. Eines davon war fraglos Korruption, über deren genaues Ausmaß heute mangels Quellen nur noch spekuliert werden kann. Weil das Geschäft bis zum letzten Tag der Regierung Brüning in der Schwebe blieb, spendete Flick reichlich – allein im Dauerwahlkampf des zweiten Halbjahres 1932 stattete er die Mitte-Rechts-Parteien mit über einer Dreiviertelmillion Mark aus. Erst als die Regierung Brüning nur noch kommissarisch im Amt war, wurde das konspirativ abgewickelte Geschäft besiegelt: Weder das Kabinett, noch die zuständigen Spitzenbeamten wussten, dass der Fiskus nominell 100 Millionen Mark Gelsenberg-Aktien übernahm und dafür 90 Millionen Mark zahlte. Wenige Wochen nach dem Regierungswechsel kamen die ersten Details in die Öffentlichkeit, und sie lösten einen gewaltigen Skandal aus. Im Juli-Wahlkampf entzündete er sich vor allem am Kaufpreis, der knapp 60 Millionen Mark über dem Kurswert der Aktien lag. Kritiker auf der Linken bezeichneten ihn als viel zu hoch. Aber auch innerhalb der Industrie war Flicks Ansehen schwer beschädigt. Seine Kritiker hielten ihm nicht nur seinen Egoismus vor, der zur ordnungspolitisch höchst unerwünschten Verstaatlichung des Stahlvereins geführt habe, sondern sie stellten auch heraus, dass der Staat Flick einen Wettbewerbsvorteil verschaffte. Die ganze „Schiebung zugunsten einer sanierungsbedürftigen Einzelperson“15 – so brachte der Bankier Max von Schinckel die Vorwürfe auf den Punkt – habe Flick mit weit mehr Geld ausgestattet, als zur Rettung der Charlottenhütte nötig gewesen wäre. 14 15

National Archives and Records Administration (NARA), T 83/73/252a, Steinbrinck an Flick, 30. Dezember 1931. Bergbau-Archiv Bochum, 55.446, Vermerk Holle, 2. Juli 1932.

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Dass Flick bereit und als Kapitaleigentümer auch in der Lage war, seine eigenen Interessen rücksichtslos zu verfolgen, wussten viele seiner Branchenkollegen wohl schon vor dem Gelsenberg-Geschäft. Danach bedurfte dieses Bild keiner Bestätigung mehr. Flick verkörpert damit einen Unternehmertypus, der besonders die Schwäche des Weimarer Staates für sich zu nutzen verstand und seine Strategie zu einem nicht geringen Teil auf wechselnde Manöver von Verstaatlichung und Privatisierung gründete. Der Regensburger Wirtschaftshistoriker Fritz Blaich warf die entscheidende Frage auf: Hatten Politiker nicht schon weit vor der Weltwirtschaftskrise dazu beigetragen, die Wirtschaftsordnung der Republik grundlegend zu verändern? Direkte und indirekte Subventionen des Staates hatten einen „garantierten Kapitalismus“ geschaffen, von dem nicht nur Flick profitierte.16 Die Aktivität der öffentlichen Banken und der Reichs-Kredit-Gesellschaft, aber auch kommunale Kreditbürgschaften führten nicht nur zu Wettbewerbsverzerrungen, sondern sie schalteten das Risiko des unternehmerischen Scheiterns in vielen Fällen aus. Schon für die Gebietsverluste des Versailler Vertrages hatte der Fiskus die Industrie großzügig entschädigt; ebenso flossen staatliche Gelder im Zuge der Ruhrbesetzung. Während der Stabilisierungskrise stützte der Staat nicht nur den Krupp-Konzern, und in der Weltwirtschaftskrise erhielten neben den Großbanken auch die maroden Reedereien Hapag und Norddeutscher Lloyd großzügige Unterstützung aus Steuergeldern. Wie scharf der Kontrast zwischen ordnungspolitischen Lippenbekenntnissen und tatsächlicher Akzeptanz dieser Subventionspolitik war, demonstrierte unfreiwillig Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Als Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Industrie war er im Juni 1932 wild entschlossen, den Fall Flick in den Gremien der Spitzenorganisation auf die Tagesordnung zu setzen. Flick genügte ein Nebensatz, um den Angriff zu parieren: Gern sei er zu einer solchen Erörterung bereit, nur müssten dann eben auch „alle anderen Fälle von Geschäften mit der öffentlichen Hand (Verkäufe an den Staat, Subventionen, Darlehen usw.) in den Kreis der Erörterung einbezogen“ werden.17 Krupp forderte von seinen Mitarbeitern sofort eine Zusammenstellung über die Subventionierung des eigenen Unternehmens. Diese sprach für sich, und zur Erörterung im Reichsverband kam es nie. Besonders in Oberschlesien hatte Flick gelernt, dass die Aussicht auf staatliche Subventionen selbst in wirtschaftlich guten Zeiten glänzend war. Die dortigen Beteiligungen des Stahlvereins stammten teils aus seinem früheren Besitz, teils aus dem Stinnes-Vermögen. Flick selbst war seit 1927 kaum noch beteiligt, betreute aber den dortigen Industriebesitz des Trusts. In der Praxis bedeutete das vor allem, seine Dauersubventionierung durch das Reich und den preußischen Fiskus zu sichern. Einfallstor dafür war die von allen Weimarer Regierungen fortgeführte „Deutschtumspolitik“: Die Frage der Ostgrenze sollte politisch offengehalten werden, und um den Gebietsanspruch überhaupt aufrecht erhalten zu können, musste die deutsche Bevölkerung in Polen ausreichend Arbeit finden und von der Abwan16 17

Fritz Blaich, „Garantierter Kapitalismus“. Subventionspolitik und Wirtschaftsordnung in Deutschland zwischen 1925 und 1932, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 22 (1977), S. 50–70. HAK, FAH 23/793, Flick an Vögler, 30. Juni 1932.

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derung abgehalten werden. Dieser Hintergrund erklärt, warum Flick bei Außenminister Gustav Stresemann den Eindruck verfestigen konnte, gerade die Schwerindustrie sei eine „Kraftquelle des Deutschtums“ in Ostoberschlesien.18 Bis Ende 1927 gelang es Flick, Preußen und das Reich zu einem bemerkenswerten Geschäft zu bewegen: Die ostoberschlesischen Beteiligungen des Stahlvereins sollten zur Hälfte verstaatlicht werden; zugleich sagte der Fiskus beträchtliche Mittel zu, mit denen auch die Vereinigte Königs- und Laurahütte gekauft und die „Ostposition“ weiter ausgebaut werden sollte. Das Gesamtvolumen betrug rund 38 Millionen Mark, und damit sollte sichergestellt werden, dass deutsche Beschäftigte in den Betrieben bevorzugt behandelt oder vor der „Polonisierung“ zumindest geschützt wurden. Die Tinte unter den Verträgen war noch nicht trocken, als Flick im Januar 1928 zu sondieren begann, ob man die Staatsbeteiligung nicht wieder reprivatisieren könne. An sich gab es dafür eine vertragliche Optionsregelung, aber der Unternehmer wollte günstigere Konditionen aushandeln. Im Hintergrund stand nicht nur eine bessere konjunkturelle Lage. Vielmehr sollten die polnischen Unternehmen in eine US-Holding eingebracht und der amerikanische Kapitalmarkt in Anspruch genommen werden; die 50-prozentige Staatsbeteiligung hätte dies unmöglich gemacht. Bis zum Sommer gelang es tatsächlich, die staatliche Seite von der Reprivatisierung der gerade erst zur Hälfte verstaatlichten Unternehmen zu überzeugen. Auch wenn man von den komplizierten Einzelheiten absieht, ist dieses Doppelgeschäft mit dem Fiskus aufschlussreich. Es dokumentiert die Methoden der Interessenpolitik, ohne deren Kenntnis auch das Gelsenberg-Geschäft nicht verständlich wäre: Flick griff auf eine ganze Reihe von Lobbyisten zurück und spielte geschickt die nationale Karte, verschleierte überdies sein persönliches finanzielles Interesse. Ihm gelang es nicht nur, das Auswärtige Amt gegen das Wirtschafts- und Finanzressort auszuspielen, sondern auch beträchtlichen politischen Widerstand zu überwinden. Ministerialbeamte äußerten unverhohlene Kritik: Offenbar gehe es Flick darum, die Risiken des Ostoberschlesiengeschäfts zu verstaatlichen, die Chancen und Erträge jedoch zu privatisieren. Flick gelang es, solche Kritiker ruhig stellen zu lassen. Auch bei der Vorbereitung des Gelsenberg-Geschäfts griff er auf seine politischen Kontakte zurück: Parallel dazu wurde auch über weitere Subventionen für die „Ostposition“ verhandelt, und an der Schlüsselstelle für beide Vorhaben vermittelte mit Max von der Porten ausgerechnet jener Multifunktionär, der Flicks Oberschlesien-Anträge in der Vergangenheit stets befürwortet hatte – so auch diesmal. Hinzu kam ein beträchtliches Erpressungspotential, weil das staatliche Engagement in der polnischen Industrie absoluter Geheimhaltung unterlag. In dieser Hinsicht unterlief Flicks Vertrautem Otto Steinbrinck im Frühjahr 1932 ein bezeichnender Fehler: In einer internen Notiz sprach er wie selbstverständlich davon, dass die Gelsenberg-Aktien an die „Gruppe B“ gehen sollten – seit 1927 die bei allen Oberschlesien-Geschäften übliche Tarnbezeichnung für die öffentliche Hand.19 18 19

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 31138k, Grünau an Auswärtiges Amt, 25. Juni 1926. NARA, T 83/68, Vermerk Steinbrinck, 2. Mai 1932.

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Angesichts des überwältigend negativen Echos auf die Gelsenberg-Transaktion sollte man meinen, dass Flick Geschäfte mit dem Staat danach nur noch als reine Notmaßnahme in Betracht zog. Nichts jedoch wäre falscher als das. Bereits im September 1932 überlegte er, wie ein Regionalmonopol auf dem mittel- und süddeutschen Stahlmarkt erreicht werden könnte. Alle Übernahmeobjekte befanden sich in Staatsbesitz: neben der Luitpoldhütte (Bayerischer Fiskus) und der Ilseder Hütte (Viag/Reich) auch die Gussstahlwerke Döhlen (Sächsischer Fiskus). Aus diesem Plan wurde zwar nichts. Aber seine Überlegungen zeigen, wie selbstverständlich Flick mit Staatsbeteiligungen kalkulierte. Noch deutlicher wurde dies 1935, als er maßgeblich dazu beitrug, den Stahlverein zu reprivatisieren. Zwei Punkte sind von besonderer Bedeutung. Erstens war es Flick, der mit dem Kauf der Essener Steinkohlenbergwerke den Löwenanteil zur Privatisierung beisteuerte – immerhin knapp 70 Millionen Mark. Seine zentrale Position bei dem Geschäft ist zweitens nur erklärlich, weil zugleich ein Schlussstrich unter das staatliche Engagement in Ostoberschlesien gezogen wurde: Indem der polnische Fiskus den dortigen Besitz übernahm, ermöglichte er auf deutscher Seite eine abschließende Flurbereinigung des komplizierten Geflechts von Beteiligungen, Kreditverpflichtungen, Optionsregelungen und politischen Ansprüchen. Nachdem er die Verstaatlichung des Stahlvereins verursacht hatte, war Flicks Beitrag zur Reprivatisierung ein Akt von höchster Symbolkraft. Und es war nicht das letzte Mal in seiner Laufbahn, dass er auf das Mittel der Verstaatlichung und einer späteren Reprivatisierung zurückgriff: Genauso gab er nach dem Zweiten Weltkrieg einen Teil seiner Macht bei der Maxhütte an den bayerischen Staat ab, um die Beteiligung zurückzukaufen, sobald die Entflechtungspolitik Geschichte war. Andere Geschäfte scheiterten, wie etwa der Verkauf seines Steinkohlebesitzes an die Bundesbahn 1952; wieder andere Manöver liefen nur in eine Richtung – wie 1925 beim Verkauf der Preußengrube an die Stadt Breslau, 1956 beim Joint-Venture mit den Stadtwerken in Nürnberg, 1965 bei der Privatisierung der Hessischen Berghütte. Selbst wenn man alle Vorhaben beiseite lässt, die aus der engen Kooperation mit dem NS-Staat folgten – heereseigene Rüstungsbetriebe, Treuhänderschaften im Besatzungsgebiet, besonders aber die „Arisierung“, an der er sich in ungewöhnlichem Umfang und im vollen Bewusstsein ihrer Unrechtmäßigkeit beteiligte – wird man behaupten dürfen, dass Flick die Kooperation mit dem Staat über alle politischen Systemwechsel hinweg betrieb, ja dass sie zu seinem eigentlichen unternehmerischen Markenzeichen wurde. In diesem Sinne war die Republik von Weimar das Laboratorium, in dem Flick seine unternehmerischen Fertigkeiten erstmals zur vollen Entfaltung brachte. Weil der Erfolg ihm Recht zu geben schien, hielt er an seinen Methoden fest – nach dem 30. Januar 1933 ebenso wie nach dem 8. Mai 1945, vor den Nürnberger Richtern und auch in den Jahren des westdeutschen Wirtschaftswunders.

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Bähr, Johannes u. a., Der Flick-Konzern im Dritten Reich, München 2008. Gehlen, Boris / Schanetzky, Tim, Die Feuerwehr als Brandstifter. Silverberg, Flick und der Staat in der Weltwirtschaftskrise, in: Ingo Köhler / Roman Rossfeld (Hrsg.), Pleitiers und Bankrotteure. Zur Geschichte ökonomischen Scheiterns vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2012, S. 217–250. Frei, Norbert u. a., Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009. Pinner, Felix, Deutsche Wirtschaftsführer, Berlin 1924. Priemel, Kim C., Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007.

CLAUDE DORNIER (1884–1969) Lutz Budraß „Dass uns die Friedensbedingungen die vollständige Aufgabe der Heeresfliegerei auferlegen, ist die beste Anerkennung für Truppe und Flugzeuge.“1 Dieser Satz des späteren Leiters der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, Wilhelm Hoff, gibt eine Selbstgewissheit wieder, die sich im deutschen Flugzeugbau am Ende des Ersten Weltkriegs durchgesetzt hatte. Die Schärfe des Versailler Vertrages diente nicht nur nach der Überzeugung Hoffs dazu, einen Konkurrenten mit Gewalt auszuschalten, dem technisch nicht mehr beizukommen war. Anders als in Frankreich, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, in denen sich die Unternehmen allmählich aus Betrieben von Flugpionieren herausgebildet hatten, war der Flugzeugbau in Deutschland akademisch fundiert. Die Institutionalisierung der Luftfahrtforschung, die rege Diskussion über die angewandte Aerodynamik und schließlich die Zusammenfassung dieser Aktivitäten durch die militärischen Stellen während des Ersten Weltkriegs hatten zu einem technischen Spurt des deutschen Flugzeugbaus beigetragen, der die alliierten Konkurrenten weit hinter sich ließ. Das Zentrum des „neuen“ deutschen Flugzeugbaus bildeten zwei Unternehmen: Junkers und Zeppelin. Hugo Junkers2 hatte seit 1914 an einem Flugzeug arbeiten lassen, dessen Grundform als aerodynamisch optimierter, freitragender, ganz aus Aluminium bestehender Eindecker um 1917 fertig war. Junkers spielte aber nur eine untergeordnete Rolle als Lieferant von Kriegsflugzeugen. Führend im „neuen“ deutschen Flugzeugbau war der Luftschiffbau Zeppelin. 1912 hatte Zeppelin eine erste Flugzeugbauabteilung gegründet und im August 1914 zwei Arbeitsgruppen mit dem Bau von „Riesenflugzeugen“ beauftragt. Mit vierzig und mehr Metern Spannweite sollten diese Flugzeuge die beim Bau des Starrluftschiffs erworbenen Kenntnisse über statisch komplexe Trägersysteme auf den Flugzeugbau übertragen. Claude Dornier bearbeitete das Teilprojekt, ein ausschließlich aus Aluminium aufgebautes Riesenflugzeug für den Einsatz auf dem Wasser zu konstruieren. Er entwickelte seit 1915 – in engem Kontakt zur aerodynamischen Forschung – insgesamt vier verschiedene Riesenflugboote, die zunächst mehrheitlich, später ganz aus Duralumin bestanden, der gehärteten Aluminiumlegierung, die am Gerüst der Starrluftschiffe erprobt worden war. Dass er während des Ersten Weltkriegs zu einem der wichtigsten deutschen Flugzeugkonstrukteure aufstieg, war Claude Dornier nicht in die Wiege gelegt. Als 1 2

Wilhelm Hoff, Die Entwicklung der deutschen Heeresflugzeuge im Kriege, in: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 64 (1920), S. 493–499 u. 523–528, hier S. 493. Zu Hugo Junkers vgl. den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band.

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Lutz Budraß

Sohn eines französischen Weinhändlers und französischer Staatsbürger 1884 geboren, blieb Dornier allein durch diesen Umstand bis 1945 ein Außenseiter unter den deutschen Flugzeugunternehmern. 1907 an der TH München diplomiert, trat er 1910 in die Versuchsanstalt des Luftschiffbaus ein und erhielt 1912, nachdem ihm die Konstruktion einer drehbaren Luftschiffhalle gelungen war, eine eigene Versuchsabteilung. Mit dieser Einrichtung sollte Dornier die Chance gegeben werden, seine ausgewiesenen Fähigkeiten als Statiker zur Geltung zu bringen. Die „Abteilung Do“ hatte freilich nicht nur den Dreiecksträger des Luftschiffgerüsts, sondern auch den Antriebspropeller für den Zeppelin zu überarbeiten. Dornier blieb bis 1932 bei Zeppelin, und sein Aufstieg in den 1920er Jahren war mit diesem Unternehmen verbunden, das 1918 bereits einen diversifizierten Konzern bildete, der wesentliche Vorprodukte des Flugzeugs herstellte. Alfred Colsman, seit dem Tod Zeppelins 1917 Geschäftsführer der Luftschiffbau Zeppelin GmbH (LBZ), herrschte bei Ende des Ersten Weltkriegs nicht nur über die Zeppelin GmbH Lindau, wo Dornier arbeitete, sondern auch über die Flugzeugwerke Zeppelin GmbH in Staaken. Zudem besaß der Luftschiffbau Zeppelin aber einen der größten deutschen Flugmotorenproduzenten, Maybach, und die Zahnradfabrik Friedrichshafen, die sich frühzeitig auf den Bau von Flugzeuggetrieben spezialisiert hatte. In Lindau, wo die Abteilung Dornier untergekommen war, entstanden die Projekte für den Flugzeugbau der Zukunft. In seiner letzten Kriegskonstruktion, einem Jagdeinsitzer, präsentierte Dornier Lösungen für das statische System des Flugzeugs, die über eine einfache Entlehnung von Konstruktionsprinzipien aus dem Starrluftschiffbau weit hinausgingen. Gleichzeitig wurden die Eckpatente der Flugzeugstatik in diesem Flugzeug zusammengeführt, die Dornier während des Krieges angemeldet hatte. Er setzte bei diesem Doppeldecker mit freitragenden, „dicken“ Flügeln ohne Verstrebungen auf die größere Festigkeit des Duralumins, um eine weitgehende aerodynamische und vor allem statische Verfeinerung zu erreichen. Dornier galt deshalb bei Kriegsende vielen Beobachtern, auch im Vergleich zu Junkers, als der technisch führende deutsche Flugzeughersteller. In der Summe, schloss ein britischer Beobachter 1923, sei die „Bauart Dorniers theoretisch und praktisch derjenigen von Junkers sehr überlegen“.3 Aus der Perspektive des Jahres 1918 gab es zwar Grund zu der Annahme, dass Dornier bei einer kontinuierlichen Förderung der unangefochtene Führer des Flugzeugbaus in Deutschland bleiben würde. Angesichts der Beschränkungen für den Flugzeugbau im Gefolge des Versailler Vertrages sah die Führung des ZeppelinKonzerns die Zukunft jedoch in der Rückkehr zum eigentlichen Kernprodukt, dem Starrluftschiff.4 Deshalb wurde der Flugzeugbau in Lindau ebenso geschlossen wie die Zeppelin-Werke GmbH in Berlin-Staaken. Die wichtigste Tochtergesellschaft, die Firma Karl Maybachs, orientierte sich an anderen Produktlinien, um die Erfahrungen aus dem Flugmotorenbau des Ersten Weltkriegs zu nutzen; Maybach verließ 3 4

E.-A. Beach, Der Metallbau von Dornier und Junkers, Übersetzung aus La Aéronautique, August 1923, Deutsches Museum, München/Archiv