Untergangs-Philosophie?: Von Hegel zu Spengler 9783486776119, 9783486776102

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Untergangs-Philosophie?: Von Hegel zu Spengler
 9783486776119, 9783486776102

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Untergangs-Philosophie? Von Hegel Zu Spengler

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UNTERGANGS-PHILOSOPHIE ? VON HEGEL ZU SPENGLER

Vortrag, gehalten an der Technischen Hochschule München von Professor Dr. M A N F R E D S C H R Ö T E R

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LEIBNIZ VERLAG MÜNCHEN BISHER

R. O L D E N B O U R G

VERLAG

MÜNCHNER HOCHSCHULSCHRIFTEN 5

Manfred

S c h r ö t e r , geboren am 29. November 1880 in München, Professor an der Tedin. Hochschule München

Copyright 1948 by Leibniz Verlag (bisher R. Oldenbourg Verlag) München. Veröffentlicht anter der Zulassungsnummer US-E-179 der Nadirichtenkontrolle der Militärregierung (Dr. Manfred Schröter und D r . Rudolf C . Oldenbourg). Auflage: 1-33. Satz u. Drude. Werkdrudcerei der Fränkischen Landeszeitung G.m.b.H., Ansbach.

Das Fragezeichen unseres Titelworts besagt, daß wir uns weder pessimistisch einer Untergangsphilosophie verschreiben noch auch optimistisch sie abweisen oder verleugnen wollen, wenn sie recht hat, sondern daß wir sie kritisch vergleichend beurteilen wollen, inwieweit sich nun ein Nein oder ein Ja zu ihr ergeben mag. Vielleicht ist es nur eine Einbildung von uns, daß wir nun unser selbstverschuldetes Unheil und Unglück gleich zu einem Weltenschicksal aufblähen, das doch von der Außenwelt her anders angesehen wird. Untergangsphilosophie als solche kann ja in verschiedenem Sinn verstanden werden. Von Hegel selbst, dem großen Optimisten des Freiheitsbewußtseins und eines vernunftdurchwalteten Weltablaufs stammt der schwermütige, oft zitierte Satz, daß „die Eule der Minerva erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt. Als der Gedanke der Welt erscheint die Philosophie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen". Das ist unzweifelhaft das Zeugnis einer Spätzeit, eines herbstlich reif gewordenen, gealterten Bewußtseins. Und doch wird kaum drei Jahre nach dem Tode Hegels (er starb 1831) ein fast ebenso weit deutender, nur entgegengesetzter Gedanke über dieses Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit geäußert — von Heinrich Heine, in seinem witzigen und etwas boshaften Pamphlet „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland", das voll geistreicher, bedeutsamer Einfälle steckt, auf die wir nochmals zurückkommen werden. Hölderlins großer Gedanke: „Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, aus Gedanken vielleicht geistig und reif die Tat?" wird hier von Heine auf die französische Revolution angewendet: Die Schriften und Gedanken Voltaires, Diderots, Rousseaus als Vorbereiter jener Schreckenstaten Dantons, Marats, Robespierres und all der Henker und Schlächter der Terrorzeit von 1792,. „Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden. Der Gedanke, den wir gedacht, ist eine Seele, die von uns ihren Leib verlangt. Robespierre war nichts als die Hand von Jean Jacques Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schöße der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen; und die unstete Angst, die dem armen Jean Jacques das Leben verkümmerte, rührte sie 3

vielleicht daher, daß er schon im Geiste ahnte, weldi eines furchtbaren Geburtshelfers seine Gedanken bedurften, um leiblich zur Welt zu kommen?" Die Nutzanwendung liegt auf der Hand. Himmler und Hitler als die furchtbaren Geburtshelfer und Verwirklicher der Gedanken Nietzsches und Spenglers von der prophezeiten Raubtierethik und Gewaltherrschaft der Stärkeren. Untergangsphilosophie erscheint hier gegenüber jener abendlichen Dämmerungsauffassung Hegels in einem ganz anderen, gefährlichen und unheimlichen Licht: Als Wetterleuchten gleichsam und wirksame Vorbereitung des kommenden Unheils selbst. Ist sie das in Wirklichkeit? Bevor wir uns entscheiden, kurz ein Blick auf weitere geistesgeschichtliche Ausprägungen dieses Verhältnisses. Im weiteren Sinne kann ja schon das erste größte Beispiel einer Staatsphilosophie: Piatons „Staat" und. die „Gesetze", sein Alterswerk, als Untergangsphilosophie bezeichnet werden. Denn diese radikale erzieherische Utopie des großen idealistischen Reformers ist ja als Ideal und Gegensatz zu seiner Zeit und Wirklichkeit entstanden, die in der Tat dem Untergang entgegentrieb. Auf die G e r e c h t i g k e i t als auf das Fundament des Ewigen hat Piaton Sein gewaltiges, wenn auch einseitig übersteigertes Traumbild des wahren Staates aufgebaut, indes zur gleichen Zeit der wirkliche griechische Staat Athens, der Sokrates ermordete, in Ungerechtigkeit, Haß und Gemeinheit sich zersetzte. — Die Greuel dieser Wirklichkeit schildert erbarmungslos der größte griechische Historiker : Thukydides, der kritische Geschichtsschreiber des noch von ihm selbst miterlebten, ai^ch fast drei Jahrzehnte dauernden griechischen Bruderkriegs, mit seinem Absturz in die Tyrannei gewissenloser Demagogen, in sinnlose, militärisch dilettantische Kriegsabenteuer, die dann zu dem völligen und endgültigen Untergang des Heeres und des Staates führten. Damals bei Piaton ist Philosophie die leidenschaftliche Verurteilung, die Warnung vor dem Untergang, der fordernde und ideale Gegenruf, der damals ungehört verhallte und doch über die Jahrtausende hin unerschüttert seinen Wert behalten hat. Und wieder sehen wir in einem Untergang von größtem Ausmaß sich die Ewigkeitsbedeutung der Philosophie behaupten, als 800 Jahre nach Piaton im Gottesstaat des Augustinus platonische Gedanken, christlich umgewandelt, sich über den Zusammenbruch des römischen Weltreichs als ideale Forderung erheben. Augustinus, nach Piaton der tiefste Denker, stirbt 430 während der Belagerung seiner Stadt durch die Vandalen — mitten schon im Sturm der Völkerwanderung. Aber aus seinem Werk „de Civitate Dei", dem Grundbuch christlicher Gesdiichtsphilosophie, läßt sich noch Karl der Große vorlesen, der Patriarch der kommenden aufsteigenden Völker- und Staatenwelt Europas. „Wenn die Gerechtigkeit aufhört", sagt Äugustin, dieser platonische Grundsatz und Grundbegriff 4

der Gerechtigkeit — justitia remota, „was sind die Staaten anderes als große Räuberbanden?" Diese Versittlichung des Staatsbegriffs, edelstes Erbe des antiken Geistes, wird zum erzieherischen Leitgedanken des Mittelalters, der sich nach weiteren acht Jahrhunderten dann in der Blüte der scholastischen Metaphysik (Bonaventura, Thomas, Eckhart, Dante) dogmatisch abklärt und vergeistigt, bis nach dem Umbruch der Reformation Luthers, Calvins und der Independenten Staat und Kirche sich verschiedenartig verselbständigen, aber die ethische Begründung unerschütterlich aufrecht erhalten. In vollem Gegensatz zur mittelalterlichen Konzeption beginnt erst in der Renaissance die dritte große europäische selbständige Kulturepoche mit der neuzeitlichen Geschichtslehre des großen Florentiners Macchiavelli, des ersten ganz modernen Kritikers des Völkerlebens, der in ihm wie einst Thukydides nur Machtgier, Egoismus, Leidenschaften und Raubtierinstinkte sieht, mit seiner Lehre von der notwendigen Macht der unerreichte Ahnherr aller Gewaltethiker, von Thomas Hobbes bis zu Nietzsche und Spengler. Homo homini lupus. „Ein Mensch ist für den anderen nur ein W o l f " , das ist die düstere Devise des großen englischen Staatsphilosophen Hobbes. Der Krieg aller gegen alle ist der menschliche Naturzustand, der dann den absoluten Staat, das Untier, den Leviathan, wie er ihn nennt, als notwendige Ordnungsmacht erfordert. Gemildert und ergänzt durch das Naturrecht der Aufklärung Lockes und Montesquieus hat diese Lehre dann Rousseau, kulturkritisch gewendet, zu der Vertragstheorie des Staates fortgebildet, ohne doch über den inneren Widerspruch zwischen Freiheit des Einzelnen und allgemeinem Volkswillen hinauszukommen, der zu der gleichen Zeit in der eben begründeten jungen Demokratie Amerikas praktisch zur Lösung kommen sollte. Theoretisch fand dann aus der Tiefe ethischer Willensbestimmung die auf Leibniz und auf Kant aufruhende Metaphysik des deutschen Idealismus zur universalen Fassung nicht sowohl des Mittelalters als Piatons zurück, in der nun wieder übergreifenden Idee der sittlichen Kulturgemeinschaft als eines die autonome Freiheit des Einzelnen erst wirklich erfüllenden, selbständig transzendent begründeten Systems und Reiches der Gerechtigkeit.—Wie eine jede der drei großen europäischen Kulturepochen ihren geistigen Ertrag als durchzuarbeitendes Erbe der ihr folgenden vermittelt, so baut sich wieder in der letzten, in der Neuzeit, eine Stufenfolge nationaler Kulturblütezeiten in sich steigender Verflechtung auf, die von der Renaissance, der italienischen, der spanischen, holländischen, der englischen, französischen endlich zur deutschen Klassik führt, in der sich der Gesamtertrag einschließlich der Antike, einschließlich des Mittelalters, zur begriffenen Synthese und Erkenntnis abklärt. Nicht um die zeitbedingte Systematik handelt es sich, sondern um das reifende Verständnis jener höchsten und 5

abschließenden Summation, jener ideenhaften Selbsterkenntnis des europäischen Kulturbewußtseins, wie es sich damals in der Theorie vollendet hat. Schon diese flüchtige Vogelschau auf den wechselnden Wogengang der geistigen Entwicklung zeigt, daß sich schon mehrmals Weltepochen in gewaltiger Erschütterung und Wirrnis voneinander abgehoben haben, und immer waren diese Kulturkrisen auch von Untergangsphilosophie begleitet, die eben der Ausdrudk einer Übergangserschütterung ist, ob er nun metaphysisch oder religiös, existentiell oder soziologisch formuliert wird. Seismographen der Kulturerdbeben in der Bruchzone — so ließen diese Philosophen sidi bezeichnen, die vorahnend, hellhörig das Kommende vorausempfinden, entweder bald nach oder auch zugleich mit dem soeben erst erreichten Gipfel der Kulturerkenntnis. Dies ist ja auch die Lage unserer Gegenwart, die nur dadurch — und zwar in Sonderheit für deutsches Urteil — so verworren paradox erscheint, weil eben das Kulturvolk, das als letztes in der Reihe europäischer Nationen und aufsteigender Kulturstationen gleichsam deren philosophische Integration geleistet hatte, das deutsche — wenigstens nach seiner eigenen Überzeugung — nun im Lauf nur eines einzigen Jahrhunderts in einem Absturz sondergleichen geistig und politisch bis zur Selbstzerstörung seines Staates und seiner Kultur entarten konnte. U n d noch dazu sind diese letzten hundert Jahre zwischen der Gipfelblüte und dem heutigen Zusammenbruch Deutschlands erfüllt vom ständig wachsenden Bewußtsein, daß die Katastrophe kommt und kommen muß. Gleichzeitig also reift in Deutschland die Erkenntnis und das Kommen des wirklichen Untergangs. Betrachten wir nun die einzelnen Stufen dieser Untergangserkenntnis. Sie beginnt gerade hundert Jahre vor der Machtergreifung der Partei, also dem wirklichen Beginn des Untergangs, mit jener Schrift von Heine, 1833 (ein Jahr nach Goethes T o d ) , die wir erwähnten, ohne noch auf ihren merkwürdigen Inhalt einzugehen. „Die deutsche Philosophie", so beginnt er, ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung voll bewußt, „ist eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit. Die deutsche Revolution", die er hier ahnt und prophezeit, „wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil ihr die deutsche Philosophie vorausging . . . Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Dann wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen müßte . . . Wie auf den Stufen eines Amphitheaters werden die Völker sich um Deutschland gruppieren, um die großen Kampfspiele zu betrachten — wenn die Stunde erscheint, wo dort die Schaar der Gladiatoren anlangt, die auf T o d und Leben kämpfen sollen, und die

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Stunde wird k o m m e n . . . Erbarmungslos, mit Schwert und Beil werden sie den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten... Ja, sie werden die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören — die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen." „Lächelt nicht über den Phantasten", ruft er den Franzosen zu, an die das^ zuerst französisch geschriebene Buch gerichtet war, „der im Reich der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und kommt etwas langsam herangerollt, aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es nodi niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht... Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen. Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. Wenn ihr dann das Gepolter und Geklirre hört, hütet euch, ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen, und mischt euch nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen." Dieses Krachen in der Weltgeschichte haben wir ja nun gehört, und der Donner hat sein Ziel erreicht, wenn auch in etwas anderer Art, als es der Dichter sich gedacht hat. Er sah noch in dem Kommenden neben dem Schrecklichen auch positive und fruchtbare Möglichkeiten, indes nur das Schreckliche Wirklichkeit werden sollte. „Mit Entsetzen und Bewunderung", meinte Heine, würde es die Welt erfüllen — und sogar auch dieses Wort hat sich vollauf bewahrheitet, wenn auch nach mancher anfänglichen Bewunderung schließlich nur das Entsetzen über die größten Wahnsinnstaten der Geschichte übrig bleiben sollte. Bewundernswert erscheint der Tiefsinn dieses Mannes, der vor hundert Jahren in einsamer Vorahnung bis in den dunklen Grund des deutschen Wesens sah, aus dem erst die geniale Offenbarung und dann ein dämonisch grauenvolles Chaos aufbrechen konnte. Bewundernswert, weil damals von der letzteren Gefahr noch gar kein Anzeichen vorhanden war — es sei denn, daß im Spiegel philosophischer Besinnung sich zu jener Zeit die ersten Widersprüche gegen Hegels Optimismus anzukündigen begannen: Schopenhauers Weltbild der Verneinung mit dem sich zerfleischenden sinnlosen Daseinswillen, und noch tiefer: die Metaphysik des alten Sdielling mit dem christlichen, aber tragischen Schöpfergott und einer Welt des Schreckens in und unter ihm, die der Erlösung durch den menschgewordenen Gott bedarf als Antwort auf Schellings „verzweiflungsvolle letzte Frage: Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht Nichts?" — dieselbe

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Frage, auf die dann aus religiösen Tiefen Kierkegaard, der große dänische Denker und Ahnherr aller Existenzphilosophie und dialektischen Theologie, die gleiche, auf Gott hinweisende Antwort gab; und wenig später endlich der materialistische und sozialistische Umdeuter Hegelscher Metaphysik: Karl Marx, dessen Untergangsthese die besitzende und bürgerliche Klasse trifft, die vor der aufsteigenden Macht der Arbeiter, des schaffenden Proletariats zu weichen hat. Es fehlt die Zeit, um auf diese hier wesentlichen Mittelglieder näher einzugehen, die — vorerst freilich nur gedanklich — eine völlige Umschichtung der Kulturwelt ahnen lassen. Und bald darauf sieht schon der größte Kulturkritiker dieses Jahrhunderts, Jakob Burckhardt, die Gefahr des europäischen Kulturverfalls voraus: das „Nivellement der Massen", wie er es nennt, und sein notwendiges Korrelat, den Cäsarismus gewalttätiger, machtgieriger Despoten, jener terribles simplificateurs, der fürchterlichen Vereinfacher — „Aussterben des staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Bewußtseins, Entrechtung und Auslöschung des Individuums, Terror nach innen und Kriege nach außen — drohend steht die Verflechtung der gegenwärtigen Krisis mit gewaltigen Völkerkriegen in Aussicht .— der Hauptentscheid kann nur aus dem Inneren der Menschheit hervorgehen". Das ist der Schlußsatz des Kapitels „Geschichtliche Krisen" seines geschichtsphilosophischen Vermächtniswerkes „Weltgeschichtliche Betrachtungen". Diese berühmten Burckhardtschen Vorlesungen im Winter 1S70/71 hörte auch sein damaliger Kollege an der Basler Universität, der junge Friedrich Nietzsche. Gleich dem verehrten älteren Freund erkennt auch er, während der deutschen Siege schon, das späte müde Licht über dem nur scheinbaren Aufstieg Deutschlands, dessen Bismarckisch-preußisches Reich er als kulturlos nur gehaßt und immer leidenschaftlicher bekämpft hat. Er spricht schon von dem „Nachschimmer, in dem heute der Himmel unserer europäischen Kultur, ihr Abendhimmel glüht — vielleicht verglüht". Aber im Gegensatz zu Burckhardts tiefer, pessimistisch rückblickender Resignation ist Nietzsches ganze Philosophie ein ständiger Protest, ein flammender Aufruf gegen den Niedergang und das Verhängnis, das er kommen sieht mit den berühmten Eingangsworten seines Hauptwerks „Der Wille zur Macht" (1888!): „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine Katastrophe los, unruhig, gewaltsam, einem Strome ähnlich, der ans Ende will. Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte; ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus." Er bedeutet, „daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel, es fehlt die Antwort auf das Warum?" Er ist „die Uberzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins". 8

Sich selbst aber bezeichnet Nietzsche als einen „Wahrsagevogelgeist", der zurückblickt, .wenn er erzählt, was kommen wird, als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat — der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat. Seine Leidenschaft ist es gerade, die höchste Antwort neu zu geben, die obersten Werte neu zu setzen. „Umwertung aller Werte" nennt er darum sein Werk, mit den „Prinzipien einer neuen Wertsetzung", in dem er seinem fragwürdig einseitigen (weil nur auf höchste, isolierte Auslese bezogenen) Ideal Gestalt gibt in dem Bild des „Übermenschen". Denn „es ist etwas Fundamental-Verfehltes im Menschen". „Der Mensch ist etwas, was überwunden werden muß". Daher die diesseitige Weltbejahung und der Preis des Stärkerwerdens, der Erhöhung. „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht" lautet der Kernsatz dieses Werkes, das die Mitmenschheit als „Herdentier" und Versuchsmaterial zur Höherzüchtung selbst mißachtet und im Schlußkapitel doch als höchsten Herrschertypus den „römischen Cäsar mit Christi Seele" erwartet. — Schon dieses merkwürdige Paradox zeigt, welche Gegensätze sich in diesem leidenschaftlichsten, funkelndsten Geist unserer Geschichte auszugleichen hatten, und wie schwer es ist, aus seinem überreichen Gedankenfeuerwerk den einheitlichen letzten Sinn herauszuhören, den wir hier jetzt nur nach der kulturkritischen Seite hin betrachten. „Nur dem veredelten Menschen", warnt Nietzsche selbst, „darf die Freiheit des Geistes gegeben werden . . . in jedes anderen Mund ist sein Wahlspruch gefährlich" — und als gefährlich sollten sich auch seine unbedachten und oft maßlos übertriebenen Behauptungen erweisen. Dieser Vorwurf wiederholt und steigert sich bei Spengler, der, als letzter unserer Reihe, fast ein Jünger und Fortführer Nietzsches scheinen könnte, wie er auch selbst von sich bekennt „aus dem Ausblick Nietzsches einen Überblick gemacht zu haben". Nur ist um diese wenigen Jahrzehnte später das Weltbild radikaler, düsterer, eindeutiger geworden: die Katastrophe nähert sich nicht mehr, sie steht nun greifbar und unmittelbar bevor. Spengler schrieb den ersten Band seines Werkes während des ersten Weltkrieges und er nennt diesen Krieg „das erste Donnerrollen eines Jahrhunderts und Gewitters furchtbarer Kriege über den ganzen Planeten hin". — Der europäische Blick Burckhardts und Nietzsches weitet sich hier so zum planetarischen und kulturmorphologischen, der nun den Untergang nicht mehr als ein besonderes einzelnes Geschick der Gegenwart, sondern als das notwendige Verlaufsgesetz jedes Kulturprozesses überhaupt begreift und nicht mehr wertend, nur mehr formvergleichend kühl bewußt betrachtet. (Morphologie heißt Formbetrachtung.) „Vergänglidikeit", sagt Spengler, „Entstehen und Vergehen ist die Form des Wirklichen — für uns freilich, die wir dahinein geboren sind, von tragischer Größe und Gewalt.

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Unser Blick für Geschichte ist ein verräterisches Zeichen dafür, daß sich der Weg abwärts senkt. Nur auf dem Gipfel hoher Kulturen, bei ihrem Übergang zur Zivilisation tritt für einen Augenblick diese Gabe durchdringender Erkenntnis a u f . . . wir Menschen des 20. Jahrhunderts steigen sehend hinab. Auch die Antike starb, aber sie wußte nichts davon, sie hat noch ihre letzten Tage mit rückhaltlosem Glück, als Geschenk der Götter durchlebt. Wir kennen unsere Geschichte, wir werden mit Bewußtsein sterben und alle Stadien der eigenen Auflösung mit dem Scharfblick des erfahrenen Arztes verfolgen". Man sieht den Fortschritt im Bewußtsein unserer Untergangsphilosophie: Vom Grau in Grau der Dämmerungserkenntnis Hegels über das Wetterleuchten von Heines Vision zu Burckhardt, Nietzsche, Spengler. Burckhardt trauert, Nietzsche warnt noch, Spengler konstatiert. Und doch leben audi in ihm noch beide Seelen: die fordernde und die betrachtende. Nur sind sie hier in seinem Werk getrennt. Betrachtend ist Spengler als Kulturmetaphysiker und Kulturmorphologe in den beiden Bänden „Untergang des Abendlandes"; fordernd aber ist er als Geschichtsprophet und politischer Schriftsteller, zu dem er später mehr und mehr geworden ist. Die unkritische Vermischung dieser beiden verschiedenen Gesichtspunkte erzeugt die Mißverständnisse und Unklarheiten über Spenglers Stellung und Beurteilung. Daraus erklärt sich auch der Widerspruch, daß er, der die Partei in seiner letzten Schrift, den „Jahren der Entscheidung", spöttisch höhnend angriff und im Dritten Reich als Pessimist und Defaitist verboten wurde, heute umgekehrt als Chauvinist, Militarist und Nihilist verfehmt bleibt. Hier ist zu unterscheiden zwischen der unbestrittenen Genialität des Morphologen und der Problematik seines späteren politischen Schrifttums. Wir übergehen hier die schwierigen Fragen seiner unzulänglichen Geschichtsmetaphysik. Der bleibende Ertrag seiner Morphologie aber, das ist seiner Gestalten- und Erscheinungslehre der Kulturen, ist die Einsidit in die wenigen verschiedenen Hochkulturen der Gesdiichte (Ägypten, Babylon, China und Indien, die Antike, der Islam, das Abendland, endlich die altamerikanischen Kulturen), deren jede nadi ihm einen grundsätzlich gleichartigen Lebensprozeß durchläuft: aufblühend, reifend zur klassischen Höhezeit, absinkend, welkend und erstarrend in der Zivilisation imperialistischer Ausbreitung und Verflachung. „So kann sie, ein abgestorbener Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte hindurch die morschen Äste emporstrecken . . . Das ist der Sinn aller Untergänge in der Geschichte, von denen der in seinen Umrissen deutlichste als Untergang der Antike vor uns steht, während wir die frühesten Anzeichen des eigenen — eines nach Verlauf und Dauer jenem kongruenten Ereignisses —, den Untergang des Abendlandes heute schon deutlich in und um uns spüren". Als anschaulichstes Beispiel setzt er die späte römische Zivilisation der damals schon verblühten grie10

chischen Kultur entgegen: „Was hat es zu bedeuten, daß die Römer Barbaren gewesen sind, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. Griechische Seele und römischer Intellekt, so unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Und das gilt nicht nur von der Antike. Immer wieder taucht dieser cäsarische Typus stark geistiger, vollkommen unmetaphysischer Menschen auf, in deren Händen das geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit liegt. Sie haben den babylonischen, ägyptischen, indischen., chinesischen, römischen Imperialismus durchgeführt. In solchen Zeiten sind der Buddhismus, der Stoizismus, der Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift, die ein erlöschendes Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal zu ergreifen und umzugestalten vermögen." Der Kritiker mag immer wieder gegen die gewaltsame Vereinfachung dieses Geschichtsbildes protestieren, gegen diese isolierten Kulturwelten mit ihrem schematischen Ablauf der Phasen — doch der Gewalt seiner Einfühlungskraft, der Fülle überraschender Beobachtungen und Vergleiche wird kein Einsichtiger die Bewunderung versagen. Seit Herder und Hegel, Ranke und Burckhardt hat wohl kein umfassenderer Blick das Ganze unserer Weltgeschichte so eindringlich anschaulich und selbständig eigenwillig neu durchleuchtet. Seine Liebe, seine Sehnsucht gilt dabei den Höhepunkten der Kulturen und ihren großen Offenbarungen, doch seine Sorge, seine Leidenschaft gilt den Spätzeiten des Verfalls, des Welkens und Vergehens. Darauf beruht der Zauber und die Verführungskraft seiner Darstellungskunst. Spengler ist der unerreichte Schilderer des Abstiegs und der Untergänge der Kulturen, der „Zivilisation als Schicksal der Kultur, als stufenweiser Abbau abgestorbener Kulturformen . . . Zivilisationen sind ein Abschluß, ein Ende unwiderruflich, aber mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht — sie folgen dem Werden als das Gewordene, der Entwicklung als die Starrheit, dem Land und der seelischen Kindheit als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt". Wie mit fahlem Scheinwerferlicht beleuchtet Spengler diese späten Weltstädte mit ihrer Todessymbolik, in deren „Steinmassen, den leeren Gehäusen einer erloschenen Seele, wurzelloser internationaler Menschenschutt wie Sand verrieselt und der späte, verhängnisvolle freie Geist wie eine Flamme prachtvoll aufsteigt und jäh in der Luft verlodert", indes die späte „zweite Religiosität die greisen Seelen wärmt, die alle Zweifel für immer überwunden hat". Spengler andererseits ist auch der Schilderer des Bauernhauses in seine« kindhaften Heiligkeit, des schöpferisch gewaltigen Aufbruchs der religiösen Frühzeiten der Hochkulturen. Von ihm stammt das geschichtsphilosophisch so tiefe Wort über den „Vorfrühling der Völkerwanderung, da die

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jungfräuliche und doch schon mütterliche Germanensehnsudit sich im Süden eine Heimat suchte, um für ihre künftige Kultur ein Nest zu bauen. Heute, nach eineinhalb Jahrtausenden, am Ende dieser Kultur, schweift der wurzellose Geist durch alle Landschaften und gedanklichen ¿Möglichkeiten. Der zivilisierte Mensch, der intellektuelle Nomade ist wieder ganz Mikrokosmos, heimatlos, geistig frei, wie die Jäger und Hirten einst es sinnlich waren. Ubi bene ibi patria, wo es dir gut geht, ist die Heimat — das gilt vor und nach einer Kultur. Dazwischen aber liegt die Zeit, wo der Mensch für ein Stück Erde stirbt". Worte, die uns heute in unseren Trümmerstädten eigentümlich nah berühren. Unverkennbar tönt aus ihnen eine tiefe einfühlende Liebe zu dem Urgeheimnis menschlicher Kultur, um das das Denken dieses Mannes unablässig kreiste. Und unverkennbar wiederum spricht sein Haß aus allen seinen übertreibenden Darstellungen der letzten Abstiegsphasen später Zivilisationen, mit den brutalen Machtkämpfen um den „Besitz der Welt als Beute". Diese Tendenz beginnt im zweiten Band des „Untergangs des Abendlandes" bei der Darstellung des Staats, des Rechts, der Wirtschaft und der Technik und ihrem gegenseitigen Entwicklungsringen um die abwechselnde Vorherrschaft, und dieser Machtgedanke steigert sich in seinen politischen Schriften und Warnrufen förmlich monomanisch. Hobbes und Macchiavelli werden überboten in dem düsteren Schlußbild der in Barbarei absinkenden, wieder geschichtslos-primitiven Menschheit, nur mehr noch beherrscht von den urwüchsigen Mächten des Blutes: „Die Rasse bricht wieder hervor und knechtet die Ideale oder wirft sie mit Gelächter in den Abgrund." Die allgemeine Reaktion hierauf ist ja bekannt und die „cäsarischen Naturen", die uns das Dritte Reich bescherte, wirken grotesk, als eine blutige Satire. Weit stärker aber als die impulsive Abwehr der tyrannischen Behauptung, daß wir solchen Endzuständen unentrinnbar immer- weiter ausgeliefert seien, trifft Spengler wie Nietzsche der erhobene schwere Vorwurf, mit all ihrer Machtverherrlichung und dem brutalen Recht des Stärkeren nun selbst derartige Instinkte aufgepeitscht und damit das Verhängnis mit heraufgeführt zu haben. Insonderheit das Ausland, das sich ganz und gar nicht einem Untergang entgegengehen fühlt, kann mit grimmigem Hohn auf diese Schriften weisen, die auch die geistige Verderbtheit Deutschlands offenbaren. Hat doch ein englischer Historiker versucht, die ganze neuere Geistesentwicklung Deutschlands, von Herder und von der Romantik an, in lückenloser Folge herausgegriffener Zitate als Vorstufe Hitlerscher Ideologie unter Beweis zu stellen: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, und das Ergebnis zeigt sich ja als das vernichtendste Fiasko, das die Weltgeschichte kennt. 12

Unter solcher Perspektive könnte unser Geisteserbe, unser Glaube an die deutsche Klassik als den letzten inneren Ertrag der europäischen Kulturentwicklung nur als Hochmut oder Einbildung erscheinen — wie umgekehrt die Reaktion auf das Bewußtsein unseres Zusammenbruchs von einem klugen schottischen Arzt jüngst erst als „deutsche Krankheit", als begreifliche hysterische Überkompensation bezeichnet worden ist, die man aus dem Geschehenen verstehen und zu heilen suchen müsse. Er wies sogar auf unseren Nibelungenmythus hin, in dessen Schwermut und Vernichtungstragik als dem „Inbegriff des deutschen Wesens", wie er sagt, wir nun als auserwähltes Volk des Leidens uns bespiegeln und damit von neuem isolieren. Ganz richtig sieht hier dieser Ausländer eine Gefahr und Schranke unseres Wesens, die aber unserem Charakter, unserem Schicksal schuldhaft eingeboren ist und sich in jenem tiefsinnnigen Mythus selbst symbolisiert hat. Allein schon die Gestalt des finsteren Hagen ist einmalig in der Sagenwelt: Der Siegfried-Mörder, der das Volk wissend zum Tode führt und in der letzten Nacht noch vor der Halle wacht, neben ihm der Spielmann Volker, der „Fiedler Kühnster", unter dessen mächtigem und süßem Geigenton die Todgeweihten noch einmal entschlummern — das sind die beiden Pole, der helle und der dunkle unseres Wesens. Von Spenglers später Untergangsphilosophie bis hin zu diesem ältesten Untergangsmythus unserer frühen Sagen reicht in der Tat ein innerer Zusammenhang, der nun wie ein Symbol auch die Bilanz unserer Betrachtung abschließend zusammenfaßt: Der innere Zusammenhang von Untergangserkenntnis und wirklichem Untergang, so können wir die Eingangsfrage unserer Wanderung beantworten, ist von weit tieferer und schicksalhafterer Art, als es der Vorwurf meint, die Schriften Nietzsches oder Spenglers hätten den Zusammenbruch durch ihre Thesen selbst mit vorbereitet. Keine Verursadiung, keine Kausalbeziehung liegt hier vor, sondern eine geheime innere Entsprechung, die sich in der geistigen Erkenntnis langsam steigend vorbereitet und das äußere Schicksal unseres Volkes in seiner zerrissenen Geschichte immer wieder als den Ausfluß und das schließliche Ergebnis seiner inneren Veranlagung mit ihren großen Vorzügen und schweren Mängeln begreifen läßt. Gewiß mögen herausgenommene, halbverstandene Phrasen jener Schriften, von der Propaganda aufgegriffen und vergröbert, mannigfach und schwer geschadet haben, und mit Redit ist mehrfach darauf hingewiesen worden, wie so manche dieser problematischen Behauptungen dann unter Hitler sich in furchtbarer Karikatur verwirklicht haben und ad absurdum geführt worden sind. Aber nicht minder zweifellos ist, daß das Dritte Reich sich völlig ebenso entfaltet hätte, auch wenn keine Zeile Nietzsches oder Spenglers je geschrieben worden wäre. Der letzte Grund für beide liegt noch tiefer. 13

Keineswegs sollen damit all die Entgleisungen und Übertreibungen entschuldigt sein, selbst wenn sie psychologisch, als Reaktionen auf das eigene Leiden an der Zeit erklärbar wären. Es sind bedenkliche, beklagenswerte Flecken auf dem Schild des deutschen Geistes, und berechtigt ist der Wunsch, daß diese Bücher nur von reifen, urteilsfähigen, kritischen Lesern in die Hand genommen werden sollten. Aber unzulänglich ist es, um derartiger Mißgriffe willen auch den sonstigen wertvollen Reichtum dieser Denker zu verkennen und sie mit den üblichen Schlagworten (Amoralität, Relativismus, Nihilismus) nun in Bausch und Bogen zu verdammen. Damit würden wir uns vor den Kennern gerade auch im Ausland lächerlich oder verächtlich machen, und unwürdig vollends ist es. an dem großen deutschen Geisteserbe unserer Vergangenheit irre zu werden und in ihm die Keime jener späteren Entartung sehen zu wollen. Hier ist überlegene Reife und Selbständigkeit des Urteils zu verlangen, die unterscheidet, richtet und die wirkliche Entwicklung überschaut. Sie zeigt dann, unserer Überzeugung nach, die Untergangsphilosophie nicht als Kausalbegründung oder Vorbereitung der Entartung und des Untergangs, wohl aber als den vorausweisenden Begleitspiegel, den Manometer gleichsam für den Stand des inneren Kulturprozesses, an dem die langsam absinkende Kraft eines erschöpften oder sich erschöpfenden Volksgeistes abzulesen ist. Denn keinem Volk ist unbegrenzte Kraft und Dauer auch im Geistigen gegeben. Der deutsche Geist hat seinen Erntetag gehabt, und immer noch gilt Schillers Wort vom „Erntetag der ganzen Zeit", der er gewesen ist. Das seitdem wachsende Bewußtsein eines Niedergangs, ja eines Untergangs verrät dem Kenner das Nachlassen und Versagen der geistigen Schichten, die die einst erkannten Ideale staatlich-kulturell nicht zu verwirklichen vermochten und denen darum die Führung mehr und mehr entgleiten mußte, bis herab zum Bodensatz der Unterschicht, die wehrlos einer überlegenen Demagogenpropaganda ausgeliefert war. Gerade daß die letzten großen Kulturkritiker, Nietzsche und Spengler, selbst schon in der späteren Phase ihres Denkens zu einseitiger „Gewaltethik" entarten konnten, zeigte, wie schon die Kultursubstanz verbraucht war, und ließ ahnen, was eintreten würde, wenn der Untergrund, gleichsam der Schlamm des Volkes, unheilvoll zerstörerisch nach oben dringen könnte, wie wir es dann erlebt haben. Die Untergangserkenntnis ist so von der Wirklichkeit des Unterganges überholt worden und überholt auch in dem Sinne, daß Nietzsche wie auch Spengler mehrere Jahrhunderte dafür im Auge hatten, während sich für Deutschland ja der Untergang in einer Katastrophe explosiv entladen hat. Damit steht unsere Betrachtung nun an ihrem Schluß vor einer eigentümlichen Umwendung: Der Untergang, den ein Jahrhundert warnend und vorahnend prophezeit hat, liegt, in gewissem Sinne, hinter uns. Nicht wahr14

lieh seinen Folgen und Auswirkungen nach, aber als das wirkliche, das eingetretene Ereignis. Damit aber ist die hier betrachtete Untergangsphilosophie am Ende, ist ihr Sinn erfüllt. Wir anerkennen, daß sie richtig sah, aber wir leugnen, daß sie nunmehr nach ihrer -Erfüllung für die ganz veränderten Bedingungen der Zukunft noch Bedeutung hat. Was abgeschlossen ist, ist der selbständige Kulturprozeß Europas, an dem Deutschland mit den anderen Nationen schöpferisch beteiligt war. D i e s e geistige Entwicklungslinie in Europa ist zu Ende. Was vor uns liegt, ist eine völlig neue — die planetarische Epoche der die ganze Erde nun umfassenden Kulturwelt aller Völker. Und es ist lehrreich, daß der Scharfsinn Spenglers, der sich bei der Schau in die Vergangenheit bewährt, beim Ausblick in die Zukunft durchaus irrt. Er sieht immer nur den Ausgang einer einzelnen, der abendländischen Kultur, die er mit früheren vergleicht. Doch er sieht nicht die gänzlich neuen, unvergleichbaren Weltverhältnisse und Weltbedingungen, die seit und mit dieser entscheidungsvollsten Wendung alles Weitere bestimmen: Die großen älteren, uralten und erst jung aufsteigenden Kulturwelten (Europa, Indien und Ostasien, der Islam und — alles überschattend — Rußland und Amerika) treten gleichzeitig in die gegenseitige und allgemeine Auseinandersetzung ein — ein bisher niemals noch geschehener Vorgang. Es ist der Beginn des W e 11 kulturprozesses. Denn erst jetzt, zum erstenmal, sind all diese Kulturen samt den riesigen Weltkontinenten durch die letzte und entscheidende Schöpfung des Abendlandes, die moderne Technik, ungeahnt einander angenähert und unmittelbar verbunden. Dieses „Uberreich" der selbst ja noch ganz jungen Technik, der Maschinentechnik, das sie alle überlagert und selbständig seinem unheimlichen, sprunghaften Entwicklungsantrieb folgt, umgreift die Völker unserer Erde und stellt sie vor neue und gesteigerte Probleme — Probleme der Kultur sowohl wie der Weltzivilisation, auf die wir hier nicht mehr eingehen können. Weder Maßstäbe noch Begriffe früherer Perioden sind auf diesen unbändigen Wachstumssturm noch anzuwenden, der nun mit der Gegenwart beginnt und unvergleichbar neue Aufgaben und Aussichten eröffnet, doch der in Art und Ablauf durchaus unbekannt und vorerst unerkennbar ist. Wir erleben jetzt den Anfang wohl der folgenreichsten Ubergangs- und Wendezeit der Weltgeschichte, mit all ihrer Wirrnis, ihrer vielleicht tödlichen Gefahr und ihren unendlichen Möglichkeiten. In diese neue Weltperiode tritt jedes Volk verändert ein, verändert gegenüber seiner früheren Entwicklung und Geschichte, und noch mehr als für die anderen Völker gilt dies, wie begreiflich, jetzt für Deutschland, das aus dem Zusammenbruch und Untergang sich wieder aufzurichten sucht und das doch als das Mittelland Europas eben in dem Brennpunkt der sich kreuzenden 15

Weltinteressen liegt. Als „die tragische Werkstatt Europas" hat es Eugen Diesel bezeichnet, „in der die Zerreißprobe vor sich geht". Als neu geformtes Teilstück einer europäischen Gemeinschaft wird es in dem uns wie allen anderen Lebenden noch unbekannten Gang des Weltkulturprozesses seine Stelle finden, entsprechend der ihm sdion gewordenen und noch verheißenen Hilfe und entsprechend seiner eigenen Entschlußkraft zu der neuen inneren und äußeren Wandlung und zur Wahrung seines besten inneren Besitztums. Denn auch im Völker- wie im Einzelleben gilt das ewige Gesetz der großen inneren Gerechtigkeit, daß sich das Schicksal letzthin niir aus dem Charakter formt, daß der Charakter eines Volkes auch sein Schicksal schuldhaft zubereitet. Dieser inneren Schuldigkeit wird Deutschland, wie auch jeder einzelne von uns hier, nachzukommen haben für die schweren weiteren und nahen Aufgaben, die seiner warten auf dem Weg zu dem ersehnten fernen Endziel: einer Weltkulturgemeinschaft der Gerechtigkeit, um es platonisch — des Gottesreiches der Civitas Dei, um es augustinisch zu benennen, und wofür wir als Ergänzung aus der neueren Philosophie trotz allem den Geleitspruch Nietzsches wählen möchten: „Wir Heimatlosen und modernen Menschen sind mit einem W o r t — und es soll unser Ehrenwort sein — g u t e E u r o p ä e r , die Erben Europas, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes" — eines Geistes, wie wir nun nach unserem Rückblick auf die Untergangsphilosophie abschließend sagen können, der nicht seinem Untergang, wohl aber seinem ernstesten, entscheidungsvollsten Übergang entgegensieht.

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