Unser Glaube: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde 9783641634933

Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche erklärt, didaktisch aufbereitet und mit Hinweisen zur Benutz

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Unser Glaube: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde
 9783641634933

Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Hinweise zur vorliegenden Ausgabe
I. Die altkirchlichen Bekenntnisse
II. Die Augsburger Konfession
III. Die Apologie der Augsburger Konfession
IV. Die Schmalkaldischen Artikel
V. Abhandlung über die Amtsgewalt und die Vorrangstellung des Papstes
VI. Der Kleine Katechismus
VII. Der Große Katechismus
VIII. Die Konkordienformel
Anhang: Die Leuenberger Konkordie
Abkürzungsverzeichnis
Bibelstellenregister
Namensregister
Sachregister

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UNSER GLAUBE Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Ausgabe für die Gemeinde Im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) herausgegeben vom Amt der VELKD Redaktionell betreut von Johannes Hund und Hans-Otto Schneider

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2. Auflage der völlig neu bearbeiteten Auflage von 2013, 2021 Copyright © 2013 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. ISBN 978-3-641-63493-3 www.gtvh.de

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Inhalt Geleitwort ..........................................................................................

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Hinweise zur vorliegenden Ausgabe .............................................. 15 I.

Die altkirchlichen Bekenntnisse (Klaus Grünwaldt) ...... Einleitung ................................................................................... 1. Das Apostolikum .................................................................. 2. Das Nicäno-Konstantinopolitanum ................................... 3. Das Athanasianum ................................................................

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II. Die Augsburger Konfession (Notger Slenczka) ................ Einleitung ................................................................................... Inhaltsübersicht zu Augsburger Konfession und Apologie .... Text ..............................................................................................

31 33 39 41

III. Die Apologie der Augsburger Konfession (Christian Peters) .................................................................... Einleitung ................................................................................... Gliederungsübersicht (Rudolf Mau) ...................................... Text ..............................................................................................

99 101 106 117

IV. Die Schmalkaldischen Artikel (Helmar Junghans †) ........ Einleitung ................................................................................... Inhaltsübersicht ......................................................................... Text ..............................................................................................

385 387 389 391

V. Abhandlung über die Amtsgewalt und die Vorrangstellung des Papstes (Matthias Deuschle) ..... 429 Einleitung ................................................................................... 431 Text .............................................................................................. 435 VI. Der Kleine Katechismus (Hans-Otto Schneider) .............. Vorbemerkung ........................................................................... Inhaltsübersicht zu beiden Katechismen ............................... Text ..............................................................................................

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Inhalt

VII. Der Große Katechismus (Hans-Otto Schneider) ............ 501 Einleitung ................................................................................. 503 Text ............................................................................................ 505 VIII. Die Konkordienformel .......................................................... Einleitung (Irene Dingel) ..................................................... Inhaltsübersicht ....................................................................... Vorrede (Irene Dingel) ......................................................... Epitome (Irene Dingel) ......................................................... Solida declaratio (Johannes Hund) ......................................

645 647 655 657 673 733

Anhang: Die Leuenberger Konkordie ........................................... 919 Einleitung ................................................................................. 921 Text ............................................................................................ 923

Abkürzungsverzeichnis ................................................................... 934 Bibelstellenregister ........................................................................... 936 Namensregister ................................................................................. 950 Sachregister ....................................................................................... 958

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Geleitwort Credo: Ich glaube …! Das Bekenntnis des christlichen Glaubens ist ein fester Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes. Dies ist kein Zufall. Das Bekennen bzw. der Bezug auf ein geprägtes Bekenntnis ist ein Grundzug des Glaubens selbst. Jedes Bekenntnis – das aktuell mündlich gesprochene wie auch der schriftlich fixierte Bekenntnistext – ist Ausdruck des sich selbst reflektierenden und verstehenden Glaubens. Im Vollzug des Bekennens gibt der einzelne Christenmensch wie die Kirche als Ganze Rechenschaft über das, was den Grund und das Ziel ihrer Hoffnung bildet, was sie tröstet und trägt und woran sie sich in der Lehre orientiert. Das Bekenntnis formuliert somit den Inhalt des Glaubens, verweist auf ihn und bedient sich dazu theologischer Begrifflichkeit und Lehrbildung. Damit leistet das Bekenntnis ein Dreifaches: Es formuliert zum einen in konzentrierter Form den Konsens, dem die Verkündigung der Kirche und das Zeugnis der einzelnen Christen sich verpflichtet wissen. Solchermaßen dient das Bekenntnis der individuellen und kollektiven Selbstprüfung des Glaubens und hat zugleich eine identitätsstiftende Funktion. Zweitens stellen Bekenntnisse Kriterien bereit, das Evangelium recht zu verstehen und eine von diesem Konsens abweichende oder ihm widersprechende Lehre und Verkündigung zu identifizieren. Das Bekenntnis bildet daher auch die theologische Grundlage, auf der Christen mit Christen anderer Konfessionen, aber auch mit Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen ins Gespräch kommen bzw. Kirchen in einen ökumenischen Dialog eintreten können. Die Pluralität, in der wir leben, erfordert nicht weniger, sondern mehr Bekenntnis. Über den zeitgenössischen Dialog hinaus verbinden die Bekenntnisse drittens heutige Menschen mit Christen vergangener Jahrhunderte und ermöglichen zugleich die Weitergabe des Glaubens an künftige Generationen. Im Verlauf der Geschichte des Christentums hat das Bekenntnis seine dreifache Funktion in und unter verschiedenen Formen, Gattungen und Sprachgestalten wahrgenommen und erfüllt. Im Alten Testament werden die befreienden Geschichtstaten Gottes an seinem Volk Israel in bekennender Weise rekapituliert (vgl. Dtn 26,5–9). Im Neuen Testament finden sich knappe Bekenntnisformeln wie bei-

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Geleitwort

spielsweise das Bekenntnis des Petrus: »Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16,16). Hier bekennt ein Einzelner, was sich ihm persönlich erschlossen hat, eine Einsicht, die ihn in existenzieller Weise berührt. Die altkirchlichen Bekenntnisse – das sog. Nicänum und das Apostolikum – formulieren in liturgisch dichter Sprache die Grundlinien des Glaubens an den Dreieinigen Gott, den der Einzelne mit der Gemeinschaft der Glaubenden teilt. In der Folge der Auseinandersetzung der Reformatoren mit der römisch-katholischen Theologie und Kirche entstanden im 16. Jahrhundert zahlreiche weitere Bekenntnisschriften, die im Duktus theologischer Lehrbildung das lutherische – bzw. parallel dazu das reformierte – Verständnis des christlichen Glaubens in systematisch umfassender Weise entfalten. Die Bekenntnisschriften sind größtenteils Lehrdokumente, die den Konsens der reformatorischen Kirchen widerspiegeln und als solche den Anspruch erheben, die verbindliche Richtschnur für kirchliche Verkündigung, Lehre und Unterricht zu sein. Die Katechismen hingegen – insbesondere Luthers Kleiner Katechismus – verfolgen didaktische Ziele und verstehen sich als Anleitung zur Selbstvergewisserung des Einzelnen über seinen Glauben und zur persönlichen Einübung darin. Der Prozess der reformatorischen Bekenntnisbildung gelangte 1580 zu einem vorläufigen Abschluss. In der Folgezeit sind keine weiteren Bekenntnisse formuliert worden, die eine traditionsbildende Wirkkraft entfaltet haben. Einen neuen kirchenhistorisch markanten Einschnitt bildet erst im 20. Jahrhundert die »Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche«, die die Bekenntnissynode 1934 in Barmen verabschiedete. Die besondere Bedeutung, die die Erklärung von Barmen kirchengeschichtlich entfaltete, lag vor allem darin begründet, dass sie in der entschlossenen Abwehr der als Häresie erkannten nationalsozialistischen Ideologie der Deutschen Christen die reformatorischen Kirchen trotz und in den damals trennenden Lehrdifferenzen zu einem einmütigen Bekenntnis zusammenführte. Obgleich die Barmer Erklärung ihrem Selbstverständnis gemäß nicht den Anspruch erhebt, ein Bekenntnis zu sein, wurde sie in der Folgezeit in verschiedenen Gliedkirchen der EKD faktisch als ein solches rezipiert und in diesem Sinne auch im Gottesdienst rezitiert. Einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Bekenntnistraditionen und der ökumenischen Dialoge bildet die Leuenberger Konkordie von

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1973. Auch dieser Text versteht sich nicht als Bekenntnis, sondern will die Grundlage dafür bilden, dass Kirchen unterschiedlichen Bekenntnisstandes untereinander Kirchengemeinschaft erklären und praktizieren können. Möglich ist dies deshalb, weil das entscheidende gemeinschaftstiftende Moment nicht auf der Ebene des bekenntnismäßigen Konsenses – also auf der Ebene kirchlicher Lehre – verortet wird, sondern im »gemeinsamen Verständnis des Evangeliums«. Dieses Verständnis aber erschließt sich allein dadurch, dass Gott selbst sich in der Kraft seines Heiligen Geistes in den Herzen der Menschen bezeugt. Das Verständnis des Evangeliums verdankt sich mithin der Selbstoffenbarung Gottes. Als solche ist und bleibt sie dem menschlichen Bemühen, theologisch zu verstehen, prinzipiell vorgeordnet und kann daher auch nicht mit einer bestimmten Gestalt kirchlicher Lehre identifiziert werden. Die Leuenberger Konkordie stellt sich mit diesem Ansatz bewusst in die Traditionslinie von Artikel 7 des Augsburgischen Bekenntnisses, demzufolge die Kirche Jesu Christi allein an der evangeliumsgemäßen Predigt und der stiftungsgemäßen Darreichung der Sakramente erkannt wird. »Von Menschen eingesetzte Zeremonien«, so Artikel 7, sind demgegenüber nachrangig. Diesen unterschiedlichen Formen und Gattungen entsprechend nehmen die Bekenntnisse jeweils einen anderen »Sitz« im Leben der Kirche ein. So sind die altkirchlichen Bekenntnisse liturgischer Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes. Die lutherischen Bekenntnisschriften haben aufgrund ihres Status als Lehrdokumente zum großen Teil Eingang in die Kirchenverfassungen der lutherischen und unierten Landeskirchen gefunden und sind damit Teil der Kirchenordnung. Personen, die gemäß Artikel 14 des Augsburgischen Bekenntnisses in das Amt der öffentlichen Verkündigung berufen werden – in den meisten Landeskirchen sind dies Pfarrer/Pfarrerinnen und Prädikanten/Prädikantinnen –, werden im Rahmen ihrer Ordination bzw. Beauftragung auf die Bekenntnisschriften verpflichtet. Luthers Kleiner Katechismus hingegen stand über Jahrhunderte hinweg im Fokus des häuslichen, schulischen und kirchlichen Unterrichts. Die Theologische Erklärung von Barmen hat grundlegende Bedeutung für den innerprotestantischen Dialog zwischen den reformatorischen Kirchen überwiegend im bundesdeutschen Kontext entfaltet. Das in der Leuenberger Konkordie entfaltete ökumenische Modell der Kirchengemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen schließlich hat fundamentale Bedeu-

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tung für den Dialog der vorreformatorischen und reformatorischen Kirchen auf internationaler Ebene, vornehmlich im Kontext der Gliedkirchen, die die Konkordie unterzeichnet haben und als Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) in Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft miteinander verbunden sind. Aber auch die interkontinentale bekenntnisgleiche Gemeinschaft der Gliedkirchen des Lutherischen Weltbundes basiert auf dem Modell der Kirchengemeinschaft. Darüber hinaus wird gegenwärtig im akademischen wie auch im kirchlichen Kontext intensiv diskutiert, ob bzw. inwiefern das Modell der Kirchengemeinschaft auch für den Dialog mit nicht-evangelischen christlichen Kirchen, insbesondere mit der römisch-katholischen Kirche, fruchtbar gemacht werden kann. In dieser Ausgabe sind die Bekenntnisschriften zusammengestellt, die in das sog. Konkordienbuch Eingang gefunden haben. Diese Texte beginnen mit den drei altkirchlichen Bekenntnissen, die für die Reformatoren in ihrem Bemühen, Grundeinsichten der Alten Kirche zu reformulieren, theologisch grundlegend und richtungsweisend blieben. Dem entspricht der Anspruch der lutherischen Bekenntnisschriften, mit ihrer Lehre das Glaubenszeugnis der gesamten Kirche zum Ausdruck zu bringen. Die Texte verstehen sich daher als Zeugnisse der Katholizität der Kirche, die nicht die Sonderlehre einer Partikularkirche, sondern den Willen zu kirchlicher Einheit zum Ausdruck bringen. Die Entstehung der Texte des Konkordienbuches umfasst den Zeitraum von 1529 bis 1577 und damit fast 50 Jahre. Die Bekenntnisschriften haben nicht nur unterschiedlichen Charakter, sondern auch eine unterschiedliche Bedeutung für das Leben und die Lehre der Kirche entfaltet. So wird in vielen Landeskirchen dem Augsburger Bekenntnis und dem Kleinen Katechismus eine zentrale Stellung eingeräumt. Die reformatorischen Bekenntnisschriften verstehen sich selbst als Anleitung zum rechten Gebrauch der Heiligen Schrift und zu ihrem Verständnis, das sich Luther zufolge an nichts anderem als am Evangelium von Jesus Christus orientieren kann und soll. Die in den Bekenntnisschriften formulierten Einsichten bilden somit den hermeneutischen Schlüssel, der das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben als die Mitte der Schrift erschließt. Als solche bringen sie die Grundzüge des christlichen Glaubens in der Perspektive lutherischer Theologie zur Darstellung. Mit diesem

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Selbstverständnis verbindet sich die bleibende Aufgabe, den Wahrheitsanspruch der theologischen Lehrgehalte der Bekenntnisschriften an dem Zeugnis der Heiligen Schrift zu überprüfen. Damit ergibt sich zugleich auch eine Regel für den rechten Umgang mit den Bekenntnistexten. Diese verlangen keine Rezitation, sondern wollen vielmehr in und für die eigene Gegenwart reformuliert und mit Blick auf aktuelle Herausforderungen aktualisiert zur Sprache gebracht werden. Die Auseinandersetzung mit diesen grundlegenden Lehrdokumenten der Kirche fordert daher immer wieder dazu heraus, nicht den Buchstaben, sondern den Geist dieser Texte lebendig zu halten. Weil die Bekenntnisschriften die verbindliche Richtschnur für die Lehre und das Leben der reformatorischen Kirchen bilden, stellen sie auch die theologische Grundlage dar für den ökumenischen Dialog mit Kirchen anderer Konfessionen. In diesen Gesprächen standen in den letzten Jahrzehnten auch die in einzelnen Bekenntnistexten wie beispielsweise der Konkordienformel ausgesprochenen Verurteilungen von Lehraussagen zur Diskussion. Diese Verwerfungen markieren theologische Streitpunkte, die im Dialog der Konfessionen beraten werden und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für das ökumenische Miteinander theologisch beurteilt werden müssen. Leitend für diesen Diskurs sollten dabei der Respekt und die Achtung vor dem unterschiedlichen Wahrheitsbewusstsein sein, dem die ökumenischen Partner in ihrem Gewissen verpflichtet sind. In jüngster Zeit haben verschiedene ökumenische Dialoge zu dem Ergebnis geführt, dass die historischen Lehrverurteilungen die heutigen Partner in ihrem jeweiligen Selbstverständnis nicht mehr treffen. So stellt z. B. die Leuenberger Konkordie fest, dass die Lehrverurteilungen »nicht den gegenwärtigen Stand der Lehre der zustimmenden Kirchen treffen«. Die im Kontext der Konkordie verbundenen Kirchen gewähren einander daher Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Anmerkungen zu neueren ökumenischen Entwicklungen finden sich in den Fußnoten zu den entsprechenden Texten. Mit der Präsentation der lutherischen Bekenntnisschriften hat sich die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands zum Ziel gesetzt, Inhalte, Fragen und Herausforderungen, die für den innerevangelischen und ökumenischen Dialog von Bedeutung sind, auf der Ebene der Gemeinden bekannter zu machen und ins Gespräch zu bringen. Die Lektüre der mitunter recht spröden und sperrigen

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Texte erfordert zugegebenermaßen theologisches Interesse, Konzentration und Geduld. Warum sollten sich Christenmenschen in den Gemeinden dieser Mühe unterziehen? Warum sollte ein Gemeindeglied diese Texte kennen? Martin Luther hat zeitlebens betont, dass jeder Christ und jede Christin durch die Taufe im übertragenen Sinne zum Priester und zur Priesterin geweiht ist und daher Anteil hat an den priesterlichen Vollmachten des Opfers, der Fürbitte und der religiösen Unterweisung. Durch die Taufe ist jeder Mensch ungeachtet seines Geschlechts, seiner Herkunft oder seiner (Aus-)Bildung geistlich qualifiziert. Der Begriff des »Priestertums aller Gläubigen« oder präziser »aller Getauften«, der den Unterschied zwischen »Geistlichen« und »Laien« aufhebt, ist inzwischen nicht nur unter Protestanten Allgemeingut geworden. Weniger im öffentlichen Bewusstsein verankert ist die Einsicht, dass sich mit dieser Qualifikation eine große Verantwortung verbindet. Jeder getaufte Christ, so Luther, hat das Recht, aber auch die Pflicht, evangelische Lehre zu beurteilen. Alle Getauften sollten fähig sein, zu prüfen, ob die Verkündigung ihrer Gemeinde bzw. ihrer Kirche dem biblischen Zeugnis des Evangeliums – so wie es sich in der Perspektive der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben darstellt – entspricht oder nicht. Dazu aber muss man um die Lehrgehalte dieses Glaubens wissen. Diese Inhalte und Grundlagen erschließen sich im Studium der Bekenntnisschriften der reformatorischen Kirchen. Das vorliegende Buch möchte zu diesem Studium anregen, ermutigen und dazu beitragen, dass es der Leserin und dem Leser helfen möge, den eigenen Glauben selbstständig und theologisch verantwortet zu bezeugen. Vernunft und Glauben beschreiben keine Widersprüche. Abschließend seien noch einige Anmerkungen zur redaktionellen Gestaltung dieser Ausgabe angefügt. Die lutherischen Bekenntnisschriften werden unter dem Titel »Unser Glaube« seit 1986 von der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands den Gemeinden zugänglich gemacht. Das Buch hat in der Vergangenheit fünf Auflagen erfahren. Der nun vorliegende Text stellt demgegenüber eine komplette Neubearbeitung dar, die sich an folgenden Richtlinien orientiert: Die Übersetzungen der Originaltexte sind um eine verständliche und gut lesbare Sprache bemüht, die den Regeln heutiger Begrifflichkeit, Grammatik, Zeichensetzung und Syntax Rechnung trägt. Der Grad der sprachlichen Aktualisierung ist jedoch von Text

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zu Text unterschiedlich. Die vorliegende Präsentation der Quellentexte versteht sich als Hinführung zum Studium der wissenschaftlichen Ausgabe der lutherischen Bekenntnisschriften. Deshalb wurde zugleich darauf geachtet, dass die Wiedererkennbarkeit der Originaltexte sichergestellt ist. Diese Maßgabe war auch für die Übertragung einzelner Wörter und theologischer Fachbegriffe leitend. Den einzelnen Bekenntnisschriften ist jeweils eine kurze Einleitung vorangestellt; bibliographische Hinweise am Schluss regen zur weiterführenden Lektüre an. Die in den Fußnoten notierten Anmerkungen geben biographische Informationen zu im Text erwähnten Gestalten der Kirchengeschichte, schlüsseln Zitate und Anspielungen auf, geben knappe theologiegeschichtliche Informationen zum Verständnis des Textes und greifen Beschlüsse bzw. Erklärungen auf, die auf der Ebene der Gliedkirchen der EKD offiziell und für den ökumenischen Dialog richtungsweisend rezipiert worden sind. Der Textbestand der 5. Auflage wurde erweitert durch die Aufnahme der »Solida declaratio«, der »Feierlichen Erklärung«, die den zweiten, ausführlicheren Teil der Konkordienformel bildet, der auf die kurze Zusammenfassung, die Epitome, folgt. Darüber hinaus wurde auch der Text der Leuenberger Konkordie in die Ausgabe aufgenommen. Dieses Dokument ist von eminenter Bedeutung für den ökumenischen Dialog und bildet die Grundlage für die Verbundenheit der verschiedenen reformatorischen Kirchen und ihrer Traditionen. Auch mit Blick auf das 2013 anstehende 40-jährige Jubiläum dieses Dokumentes ist zu wünschen, dass dieser Text auch den Gemeinden zugänglich gemacht und in diesen bekannter wird. Wie oben bereits erwähnt, beansprucht die Leuenberger Konkordie hinsichtlich der Lehre und Ordnung der Landeskirchen einen anderen Status als das Corpus der Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts und verfolgt zudem auch eine andere Zielrichtung. Daher wurde der Text dem Konkordienbuch als Anhang beigefügt. Die vorliegende Neubearbeitung ist das Ergebnis eines intensiven und langjährigen Arbeitsprozesses, den ein Kreis von theologischen und anderen Fachpersonen in teilweise mühevoller Detailarbeit neben ihren beruflichen Pflichten erstellt hat. Für dieses ehrenamtliche Engagement danken wir herzlich: Dr. Michael Beyer, PD Dr. Matthias Deuschle, Prof. Dr. Irene Dingel, Prof. Dr. Ulla Fix, Prof. Dr. Klaus Grünwaldt, Prof. Dr. Helmar Junghans (†), Prof. Dr. Notger Slenczka

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und Prof. Dr. Günther Wartenberg (†). Ein besonderer Dank gilt dem Vorsitzenden des Arbeitskreises, Prof. Dr. Christian Peters, der neben der Textarbeit auch redaktionelle Arbeiten übernommen hat, sowie Dr. Johannes Hund und Dipl. Theol. Hans-Otto Schneider, die über ihre Übersetzungsarbeit an den Bekenntnisschriften hinaus die abschließenden redaktionellen Arbeiten im Auftrag der VELKD übernommen haben. Last but not least danken wir dem Gütersloher Verlagshaus für seine kompetente und überaus geduldige Betreuung dieses Buches.

Hannover/Schleswig im Sommer 2013

Gerhard Ulrich Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland Leitender Bischof der VELKD

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Hinweise zur vorliegenden Ausgabe »Unser Glaube« bietet die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche teils in Übersetzungen aus dem Lateinischen, teils in Übertragungen aus dem Frühneuhochdeutschen, um Interessierten auch ohne spezifische theologische oder historische Vorbildung den Zugang zu den Texten zu erleichtern. Gegenüber früheren Ausgaben1 wurde bei dieser Neubearbeitung zusätzlich die Solida Declaratio, der zweite Teil der Konkordienformel von 1577, mit aufgenommen,2 außerdem im Anhang auch die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (»Leuenberger Konkordie«) von 1973.3 Das Verständnis der Texte soll durch kurzgefasste Einleitungen erleichert werden, die neben Ausführungen zu Entstehung und Bedeutung der jeweiligen Bekenntnisschriften auch weiterführende Literaturhinweise enthalten. Umfänglicheren Texten wurden außerdem Inhaltsübersichten vorangestellt. Aufgrund des parallelen Aufbaus wurden die Übersichten zum Augsburger Bekenntnis und zu dessen Apologie ebenso zusammengefasst4 wie diejenigen zu den beiden Katechismen5 und zu Epitome und Solida Declaratio der Konkordienformel.6 Im Falle der umfangreichen Apologie zum Augsburger Bekenntnis tritt ergänzend eine eingehende, kleinteilige Gliederungsübersicht hinzu.7 Erläuterungen zu Einzelfragen sind zu den jeweiligen Stellen in textbegleitenden Fußnoten untergebracht.

1. Unser Glaube, 1.–5. Auflage, Gütersloh 1986–2004, bearbeitet von Horst Georg Pöhlmann. 2. Siehe unten S. 733–917. 3. Siehe unten S. 923–933. 4. Siehe unten S. 39f. 5. Siehe unten S. 459f. 6. Siehe unten S. 655. 7. Siehe unten S. 106–116.

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Hinweise zur vorliegenden Ausgabe

Darüber hinaus bietet der Band im Anhang mehrere Register:8 Verzeichnet werden 1. die vorkommenden Bibelstellen,9 2. die Namen und 3. eine Auswahl wichtiger Sachbegriffe. Die polemische Sprache, die an manchen Stellen, insbesondere in den Bekenntnisdokumenten des 16. Jahrhunderts, hervortritt, ist als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Bekennenden an den theologischen Auseinandersetzungen ihrer jeweiligen Zeit zu verstehen. Sie nachträglich abzumildern oder zu verwässern, das käme uns Heutigen nicht zu. Sie unreflektiert zu übernehmen und weiterzuführen wäre aber ebenso wenig zu verantworten. Die Verwerfungsaussagen dienten der deutlichen Akzentuierung des je eigenen theologischen Profils; dabei wurde die gegnerische Position bestenfalls holzschnittartig erfasst, eine ausgewogene, sachlich angemessene inhaltliche Würdigung wurde nicht beabsichtigt, geschweige denn erreicht. War insofern schon die Benennung bestimmter Irrlehren nicht unproblematisch, so muss die Zuordnung zu bestimmten Personen, insbesondere zeitgenössischen Gegnern, und deren Verwerfung umso kritischer gesehen werden. Soweit zeitgenössische Positionen im 16. Jahrhundert als Irrlehren eingeschätzt und verworfen wurden, ist deshalb zum einen zu fragen, ob die damalige gegnerische Position überhaupt zutreffend identifiziert wurde. Zum andern aber ist zu beachten, dass der Stand der theologischen Diskussion sowohl innerhalb wie außerhalb der lutherischen Kirchen sich seit dem Jahrhundert der Reformation verändert hat: Möglicherweise werden einst tatsächlich vertretene und einst als Irrlehren verworfene Positionen inzwischen durch die betreffenden Gruppen nicht mehr in gleicher Weise aufrechterhalten; möglicherweise wurde darin auch inzwischen infolge neuer Einsichten ein theologisch berechtigtes Anliegen erkannt.10 Es ist deshalb mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, was schon die Väter der Konkordienformel am Schluss der Einleitung zur Epitome festgehalten haben: »… allein die Heilige Schrift bleibt ein-

8. Siehe unten S. 936–969. 9. Die Abkürzungen der biblischen Bücher (siehe das Bibelstellenregister S. 936) entsprechen den Loccumer Richtlinien der ökumenischen Kommission zur Erarbeitung der Einheitsübersetzung der Bibel. 10. An einigen einschlägigen Stellen wurden die Ergebnisse ökumenischer Lehrgespräche der vergangenen Jahrzehnte in Fußnoten vermerkt.

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Hinweise zur vorliegenden Ausgabe

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ziger Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einzigen Prüfstein alle Lehren erwogen und beurteilt werden sollen und müssen, ob sie gut oder böse, recht oder unrecht sind. Die anderen Symbola und herangezogenen Schriften aber sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie zu deren jeweiliger Entstehungszeit die Heilige Schrift im Hinblick auf die strittigen Glaubensartikel in der Kirche Gottes von den damals Lebenden verstanden und ausgelegt […] worden ist.«11 Echte Bekenntnistreue erweist sich also im immer neuen Hören auf das Christuszeugnis der Heiligen Schrift und in der Bereitschaft, sich jederzeit durch sie zu neuen Einsichten leiten zu lassen. Dabei kann uns das Zeugnis der Vorfahren im Glauben eine wertvolle Hilfe sein und wichtige Denkanstöße vermitteln.

11. Siehe unten S. 675 (Hervorhebung nicht im Original).

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I. Die altkirchlichen Bekenntnisse

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Einleitung Die drei altkirchlichen Bekenntnisse, das Apostolikum, das NicaenoKonstantinopolitanum (Nicaenum) und das Athanasianum, gehören nächst der Heiligen Schrift zu jenen Glaubenszeugnissen, die zwar nicht alle, aber doch die überwiegende Mehrzahl der christlichen Kirchen miteinander gemeinsam haben. Als solche verbinden sie uns nicht nur mit den Christinnen und Christen der ersten Jahrhunderte, sondern auch mit den meisten großen Traditionen der heutigen Zeit. Die drei altkirchlichen Bekenntnisse sind von sehr unterschiedlicher Art. Während das Apostolikum ein typisches Taufbekenntnis ist, also ursprünglich von Täuflingen anlässlich ihrer Taufe gesprochen wurde, ist das Nicaenum ein Lehrbekenntnis, das die wichtigsten Aussagen zur Dreieinigkeit Gottes festhält. Demgegenüber ist das Athanasianum wohl am ehesten als eine theologische Abhandlung über die Lehren von der Trinität und Jesus Christus anzusprechen. Anders als das Apostolikum zeigen das Nicaenum und das Athanasianum deutliche Spuren der theologischen Auseinandersetzungen der ersten Jahrhunderte nach Christus. Dabei spiegelt das Nicaenum vor allem die Debatten des 4. Jahrhunderts über das Verhältnis Jesu und des Heiligen Geistes zum Vater wider. Die Diskussion über das Verhältnis Jesu zum Vater wurde im Arianischen Streit geführt. Der Streit ist benannt nach Arius (gest. 336), einem Schüler des antiochenischen Märtyrers Lukian. Für Arius ist nur der Vater ein wirklicher Gott. Der Sohn ist ein oberstes Engelwesen, das wie alle anderen Geschöpfe auch aus dem Nichts erschaffen worden ist. Er ist dem Vater seinem Wesen nach unähnlich und darum auch nicht präexistent, das heißt: ohne Anfang. Vielmehr gab es eine Zeit, in der Jesus Christus nicht existierte. Auch war Jesus nach der Meinung des Arius mit einem freien Willen begabt und deshalb wie alle anderen Geschöpfe der sittlichen Bewährung unterworfen. Allein der Tatsache, dass er sich bewährt hat, ist es zuzuschreiben, dass er Gott genannt werden kann. Deutlich ist damit, dass Arius den Sohn dem Vater unterordnet, die drei göttlichen Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, hier also hierarchisch, das heißt: ihrem Rang nach abgestuft werden. Damit jedoch wird in Frage gestellt, dass sich

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I. Die altkirchlichen Bekenntnisse

in Jesus Christus wirklich Gott selbst offenbart und so für die Menschen die Erlösung bewirkt hat. Stattdessen sieht Arius Jesu Bedeutung vor allem in seinem ethischen Handeln, eine Auffassung, die seitdem in regelmäßigen Abständen wieder auftaucht. Das Konzil von Nicaea hatte im Jahr 325 die Lehre des Arius für ketzerisch erklärt und in einer Vorform des späteren Nicaenum die Wesenseinheit von Vater und Sohn bekannt. Damit wurden die wichtigsten Grundlagen der Trinitätslehre festgelegt. Das entscheidende Stichwort des Konzils, »homoousios«, das heißt »eines Wesens«, ist dabei wohl von Ossius von Córdoba, dem Hofprediger Kaiser Konstantins I. (270/288, 306–337), in die Debatte eingebracht worden. Der Sache nach geht die Formulierung auf neutestamentliche Aussagen wie etwa Joh 10,30 (»Ich und der Vater sind eins«) zurück. Allerdings setzte sich der theologische Streit auch nach dem Konzil noch fort. Dabei wurde zum einen im Blick auf die Gottheit Jesu Christi die Interpretation der Wendung »eines Wesens (mit dem Vater)« vertieft. Zum anderen wurde heftig über die Gottheit des Heiligen Geistes gestritten. Diese war nämlich im Nicaenum von 325 noch nicht bedacht worden; es hatte dort lediglich geheißen: »(Wir glauben) […] an den Heiligen Geist.« In der endgültigen Fassung des Bekenntnisses, die von dem im Jahre 381 durch Kaiser Theodosius I. (347, 379–395) einberufenen Konzil von Konstantinopel verabschiedet wurde, ist darum vor allem der dritte Artikel breit ausgeführt. Der Heilige Geist erscheint darin als gleichberechtigte Person der Trinität, was während des Streites durch die sogenannten »Pneumatomachen« bestritten worden war. Diese hielten den Heiligen Geist nämlich lediglich für ein Geschöpf. In den Bekenntnissen der lutherischen Kirchen erscheint das Nicaenum in jener lateinischen Gestalt, die mit schon im 6. Jahrhundert anzutreffenden Formulierungen betont, dass der Heilige Geist nicht nur »aus dem Vater«, sondern »filioque«, das heißt »und aus dem Sohn« hervorgehe. Damit folgen diese Bekenntnisse der westlichen Tradition, die besonders an den das menschliche Heil bewirkenden Handlungen der drei göttlichen Personen interessiert ist. Dem gegenüber geht es der östlichen, orthodoxen Tradition vor allem um die Beziehungen (Relationen) innerhalb der Trinität. Das Athanasianum, das von der Tradition dem Kirchenvater Athanasius von Alexandrien (ca. 298–373) zugesprochen wurde, wahr-

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scheinlich aber erst im 5. Jahrhundert fixiert worden ist, ist in den heutigen Gemeinden weniger in Gebrauch als das Apostolische und das Nicaenische Bekenntnis. Zentraler Inhalt dieses Bekenntnisses ist zum einen die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes (Trinitätslehre) und zum anderen die Lehre von den zwei Naturen Jesu Christi (Zweinaturenlehre). Seine Aussagen folgen jenen Linien, die sich im Verlauf der Streitigkeiten des 4. und 5. Jahrhunderts als rechtgläubig durchgesetzt haben. Die Lehre von der Trinität hält dabei sehr anschaulich die Spannung zwischen der Einheit Gottes und der Dreiheit seiner Personen fest. So wie es bereits die Konzilien von Nicaea und Konstantinopel bekannt haben, werden auch hier die Wesenseinheit, die Göttlichkeit und das HerrSein der drei Personen gegen die damals erhobenen irrigen Behauptungen einer Abstufung innerhalb der Trinität oder der Geschöpflichkeit des Sohnes und/oder des Heiligen Geistes vertreten. Die Lehre von Jesus Christus folgt jener Lehre, die das Konzil von Chalkedon im Jahre 451 als rechtgläubig festgelegt hatte: Christus ist weder ein vergöttlichter Mensch noch ein vermenschlichter Gott. Er ist kein Mischwesen und wurde nicht verwandelt. Demgegenüber hält das Athanasianum fest: Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Er ist nicht vermischt oder verwandelt und auch nicht getrennt oder gesondert. Bemerkenswert ist, dass die Lehre über die Dreieinigkeit hier bereits den Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater »und aus dem Sohn« (lat. filioque) lehrt (s. oben). Im Schlussteil des Athanasianums wird eine große Nähe zum Apostolikum erkennbar. Das macht deutlich, dass der Text des Apostolikums, der uns in seiner abschließenden Form erst aus dem frühen 8. Jahrhundert überliefert wird, in seinen Grundzügen schon sehr viel älter ist. Er ähnelt dem stadtrömischen Bekenntnis, das bereits in der Mitte des 3. Jahrhunderts vorlag. Gegenüber den beiden anderen altkirchlichen Bekenntnissen fällt die Kürze des Apostolikums besonders im dritten Artikel (Heiliger Geist) auf. Dafür liegt der Schwerpunkt hier im zweiten Artikel (Jesus Christus). Allerdings ist festzustellen, dass sich dort kein Wort über die Heilsbedeutung des Todes Jesu findet. Der additive, reihende Stil dieses Bekenntnisses hat dem Missverständnis Vorschub geleistet, zum rechten Bekennen genüge eine Aufzählung von grundlegenden Wahrheiten.

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Das Apostolikum ist das in den westlichen Kirchen am weitesten verbreitete Bekenntnis; in den orthodoxen Kirchen spielt es keine Rolle, dort gilt das Nicaenum. Literatur: Karlmann Beyschlag, Grundriß der Dogmengeschichte. Bd. 1: Gott und Welt, Darmstadt 1982. John Norman Davidson Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse, Göttingen 1993. Reinhard Staats, Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel. Historische und theologische Grundlagen, Darmstadt 1996. Hans-Georg Link, Bekennen und Bekenntnis, Göttingen 1998 (Bensheimer Hefte 86). Artikel der Theologischen Realenzyklopädie (TRE): Frederick Ercolo Vokes/HansMartin Barth/Henning Schröer, Apostolisches Glaubensbekenntnis I-III, in: TRE 3 (1978), 528–571; Wolf-Dieter Hauschild, Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis, in: TRE 24 (1994), 444–456; Roger John Howard Collins, Athanasianisches Symbol, in: TRE 4 (1979), 328–333.

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Das apostolische Glaubensbekenntnis Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche1 Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.

1. Im lateinischen Original ist hier von der »sancta ecclesia catholica«, also von der »heiligen katholischen Kirche« die Rede. Der Begriff »katholisch« leitet sich dabei vom griechischen »katholikos«, das heißt: »das Ganze oder alle betreffend, allgemeingültig« ab. Erst seit dem Konzil von Trient (1545–1563) wird das Wort »katholisch« in einer seine ursprüngliche Weite einengenden Weise als ein die Konfessionen unterscheidender Begriff gebraucht. Dagegen ist zu sagen, dass sich auch die evangelisch-lutherische Kirche als eine katholische Kirche begreift, aber eben nicht als römisch-katholisch.

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Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,

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Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel

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der gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche. Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Amen.

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I. Die altkirchlichen Bekenntnisse

Das Athanasianische Glaubensbekenntnis Wer gerettet werden will, muss vor allem den allgemeinen2 Glauben festhalten. Wer diesen nicht unversehrt und unverletzt bewahrt, wird mit Sicherheit in Ewigkeit zugrunde gehen. Der allgemeine Glaube aber ist folgender:

[Von der Dreieinigkeit Gottes] dass wir einen Gott in [seiner] Dreieinigkeit und die Dreieinigkeit in [ihrer] Einheit verehren und weder die Personen vermischen noch ihr Wesen trennen. Denn eine ist die Person des Vaters, eine die des Sohnes und eine die des Heiligen Geistes. Aber die Gottheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ist eine einzige, sie haben die gleiche Herrlichkeit und eine gleichewige Majestät. Wie der Vater ist, so ist der Sohn und so ist der Heilige Geist: Ungeschaffen ist der Vater, ungeschaffen der Sohn und ungeschaffen der Heilige Geist. Unendlich ist der Vater, unendlich der Sohn und unendlich der Heilige Geist. Ewig ist der Vater, ewig der Sohn und ewig der Heilige Geist. Und dennoch sind nicht drei Ewige, sondern ein Ewiger. So wie auch weder drei ungeschaffen sind noch drei unendlich, sondern ein Ungeschaffener und ein Unendlicher. Also auch: allmächtig sind der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Aber dennoch sind nicht drei Allmächtige, sondern ein Allmächtiger. So ist der Vater Gott, der Sohn ist Gott, und der Heilige Geist ist Gott. Aber dennoch sind es nicht drei Götter, sondern Gott ist einer. So ist der Vater Herr, der Sohn ist Herr und der Heilige Geist ist Herr.

2. Im lateinischen Text steht »katholisch«, siehe dazu die vorangehende Fußnote.

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Das Athanasianische Glaubensbekenntnis

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Und dennoch sind es nicht drei Herren, sondern der Herr ist einer. Denn so, wie wir von der christlichen Wahrheit dazu bewegt werden zu bekennen, jede der drei Personen für sich als Gott und Herr zu bekennen, so verbietet uns der allgemein anerkannte Glaube zu sagen, dass es drei Götter und Herren sind. Der Vater ist von niemandem gemacht worden. Er wurde weder geschaffen noch gezeugt. Der Sohn ist allein vom Vater: Er wurde weder gemacht noch geschaffen, sondern gezeugt. Der Heilige Geist ist vom Vater und vom Sohn: weder gemacht noch geschaffen noch gezeugt, sondern hervorgehend. Einer ist also der Vater, und es sind nicht drei Väter; einer ist der Sohn, und es sind nicht drei Söhne; einer ist der Heilige Geist, und es sind nicht drei Heilige Geister. Und in dieser Dreieinigkeit ist keine der Personen früher oder später, keine größer oder kleiner, sondern alle drei Personen sind gleichewig und gleich groß. Dies gilt, damit durch alles – wie es bereits gesagt wurde – sowohl die Einheit in der Dreiheit als auch die Dreiheit in der Einheit verehrt werde. Wer also gerettet werden will, der möge in dieser Weise von der Trinität glauben und denken.

[Die beiden Naturen Jesu Christi: Seine Gottheit und Menschheit] Aber zum ewigen Heil ist es außerdem notwendig, auch die Menschwerdung unseres Herrn Jesus Christus treu zu glauben. Dies ist also der rechte Glaube: Wir glauben und bekennen, dass unser Herr Jesus Christus, Gottes Sohn, sowohl Gott als auch Mensch ist. Als Gott ist er aus dem [göttlichen] Wesen des Vaters vor aller Zeit gezeugt, und als Mensch ist er aus dem [menschlichen] Wesen seiner Mutter in der geschichtlichen Zeit geboren worden. Vollendeter Gott und vollendeter Mensch, der aus einer vernünftigen Seele und menschlichem Fleisch besteht. Er ist dem Vater gleich gemäß seiner Gottheit, aber geringer als der Vater gemäß seiner Menschheit [seinem Menschsein]. Auch wenn er Gott ist und zugleich Mensch, so sind es dennoch nicht zwei, sondern es ist ein Christus.

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Einer aber nicht dadurch, dass die Gottheit in Fleisch verwandelt wurde, sondern dadurch, dass die Gottheit Menschheit angenommen hat. Einer ist er ganz und gar, nicht durch die Vermischung der [göttlichen und der menschlichen] Naturen, sondern durch die Einheit der Person. Denn gleichwie die vernünftige Seele und das Fleisch ein Mensch sind, so sind Gott und Mensch ein Christus. Er hat gelitten für unser Heil, ist ins Reich des Todes hinabgestiegen und auferstanden von den Toten. Er ist zum Himmel gefahren, sitzt zur Rechten des Vaters. Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Bei seiner Wiederkunft müssen alle Menschen mit ihren Leibern auferstehen und über ihre eigenen Taten Rechenschaft ablegen. Und diejenigen, welche Gutes hervorgebracht haben, werden eingehen ins ewige Leben, diejenigen aber, die Schlechtes hervorgebracht haben, ins ewige Feuer. Dies ist der allgemeine Glaube. Wer solches nicht treu und unverbrüchlich glaubt, kann nicht gerettet werden. Amen.

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Einleitung 1. Historischer Hintergrund. Die Haltung des Kaisers und die Reichstagsabschiede zur Religionsfrage waren bestimmt durch die außenpolitischen Zwänge, in die Karl V. (reg. 1519–1556) in seiner Auseinandersetzung mit dem französischen König Franz I. (reg. 1515–1547) einerseits und dem Osmanischen Reich andererseits geriet, das unter Süleiman I. (dem Prächtigen, reg. 1520–1566) immer wieder über den Balkan in Richtung Wien zog und zudem die Habsburger bzw. das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und dessen Verbündete – etwa die Republik Venedig – auf dem Mittelmeer in Atem hielt. Die bedrängte Lage und die Angewiesenheit auf militärischen und finanziellen Beistand zwangen Karl V. zu Zugeständnissen gegenüber den evangelischen Reichsständen in der Religionsfrage: Das Wormser Edikt (1521) hatte die Reichsacht über Luther (und alle seine Unterstützer) verhängt, die Konfiskation seiner Schriften verfügt und die Predigt des in seinem Sinn verstandenen Evangeliums untersagt. Die Durchführung des Edikts wurde aufgrund der Kriege mit Frankreich und dem Osmanischen Reich bereits 1523 auf dem Reichstag zu Nürnberg und noch weitergehend auf dem ersten Speyrer Reichstag aufgehoben unter der Maßgabe – so der Reichstag von 1526 –, »in den Sachen, die das Edikt [von Worms] … betreffen möchten, für sich so zu leben, zu regieren und zu halten, wie ein jeder [Reichsstand] solches gegen Gott und die kaiserliche Majestät hofft und meint verantworten zu können.« (Reichstagsabschied § 4). Der Umstand, dass Karl V. mit dem Friedensschluss von Cambrai (1529) die Auseinandersetzung mit Frankreich um die Vorherrschaft in Norditalien vorläufig siegreich beenden konnte, gab ihm Handlungsspielraum im Reich und die Möglichkeit, auf dem Zweiten Reichstag zu Speyer 1529 die Stände wieder auf die Bestimmungen des Wormser Edikts zu verpflichten – worauf die Evangelischen Stände mit dem Auszug aus dem Reichstag und der Protestation antworteten. 1530 lag die Belagerung Wiens durch die osmanischen Truppen gerade hinter dem Kaiser; die Gefahr vom Balkan her bestand aber fort. Karl V. wurde im April in Bologna, der nördlichsten Stadt des Kirchenstaats, zum Kaiser gekrönt und zog dann über die Alpen nach Augsburg, zu dem Reichstag, der dem Ausschreiben gemäß einerseits

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ein gemeinsames Engagement gegen die Bedrohung durch das Osmanische Reich beschließen sollte, zum anderen aber auch dazu dienen sollte, den Reichsständen die Verantwortung ihrer Maßnahmen in der Religionsfrage vor dem Kaiser zu ermöglichen, die bereits in Speyer 1526 in Aussicht gestellt worden war. Zur Vorbereitung des Auftretens auf dem Reichstag versammelte der Sächsische Kurfürst auf Anraten des Altkanzlers Gregor Brück die Wittenberger Theologen in Torgau mit dem Auftrag, eine Stellungnahme vorzubereiten, in der die Änderungen begründet und vor allem die Grenzen einer Einigung bestimmt werden sollten. Die hier entstandenen ›Torgauer Artikel‹ liegen dem zweiten Teil der CA zugrunde, den »Artikel[n], von welchen Zwiespalt ist, da erzählet werden die Mißbräuch, so geändert seind« (CA XXII–XXVIII). 2. Vorarbeiten und Vorbereitung des Reichstags. Der Eindruck, dass es auf dem Reichstag lediglich um die Rechtfertigung der liturgischen und institutionellen Änderungen gehen sollte, zerschlug sich, als die kursächsische Gesandtschaft am 2. Mai in Augsburg eintraf und dort mit den 404 Artikeln des Ingolstädter Theologen und Luthergegners der ersten Stunde, Johannes Eck, bekannt wurde, in denen dieser den reformatorischen Theologen in Zitatzusammenstellungen nicht nur die Abweichung von den meisten Glaubensartikeln vorwarf, sondern auch politische Unzuverlässigkeit – die theologische Unterstützung des Aufruhrs gegen die Obrigkeit und die Ablehnung eines Vorgehens gegen das Osmanische Reich. Damit war deutlich, dass die Rechtfertigung der vorgenommenen kirchlichen Änderungen ergänzt werden musste durch den Ausweis der Übereinstimmung der eigenen Lehre mit dem Glauben der Christenheit einerseits und dem Abweis der politischen Vorwürfe andererseits; diesem Zweck dienen die Artikel I–XXI. 3. Der Aufbau der CA. Die Gliederung dieser Artikel und der Aufbau der CA erscheinen rätselhaft. Während die beiden Bekenntnisse, die erkennbar die Grundlage bildeten – die Marburger (Marb) und die Schwabacher (Schwab) Artikel –, einen klaren, am Verlauf des Apostolikum orientierten, grob heilsgeschichtlichen Aufbau bieten, ist ein solch klarer Verlauf in der CA trotz der eindeutigen Bezugnahme auf die genannten Artikel nicht erkennbar. Es kommt zu eigentümlichen

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Umstellungen – die Bezugnahme auf die Sünde, die in den Schwabacher Artikeln noch der Christologie folgte und gemeinsam mit dem Rechtfertigungsartikel den anthropologisch-soteriologischen Niederschlag der Person und des Werkes Christi (Art. 2 und 3 Schwab) resümierte, rückt in der CA vor die in Art. 3 behandelte Christologie; die in Schwab getrennt behandelten Bestimmungen zur Person und zum Werk Christi (Schwab 2 und 3) werden in CA III kunstvoll ineinandergeschoben. Es kommt zu Doppelungen: Das Thema der Guten Werke wird mehrmals behandelt (Art. VI und XX; vgl. V und XV oder II und XVII bzw. XIX). Der Aufbau erschließt sich, wenn man darauf achtet, dass der Artikelzusammenhang, der die Doppelungen einführt (XIV–XXI), identifizierbare Reaktionen auf die 404 Artikel Johannes Ecks bietet. Trennt man diese Artikel ab, so weisen die verbleibenden 13 Artikel eine sehr klare Struktur auf: Eindeutig zusammengehörig sind die Sakramentsartikel, die nicht mit IX, sondern bereits mit VIII beginnen: dieser Artikel, der meistens als von VII abhängiger ekklesiologischer Artikel identifiziert wird, zielt in der Sache darauf ab, festzuhalten, dass die ordnungsgemäß gespendeten Sakramente auch dann gültig bleiben, wenn sie von unwürdigen Priestern verwaltet werden – es handelt sich also um einen sakramententheologischen Artikel, der die antidonatistischen Entscheidungen der Alten Kirche nachvollzieht. In den ersten Artikeln erschließt sich ebenfalls ein Zusammenhang, der durch Verweisungen gestiftet wird: Art. II weist voraus auf den christologischen Artikel; die Artikel V und VI verweisen mit den ersten Worten (»Solchen Glauben«) zurück auf Art. IV und benennen die Entstehungsbedingungen (V) und die Konsequenzen (VI) des Glaubens. Art. IV und III sind engstens miteinander verbunden: Art. III schließt christologische und soteriologische Aussagen eng miteinander zusammen, während Art. IV die spezifisch reformatorischen Prinzipien der Rechtfertigung daraus ableitet – erkennbar daran, dass in Art. IV mit der Zuordnung von Sündenvergebung und Gerechtigkeit die Verbindung von »Tod des Alten Menschen« und »neues Leben«, das die soteriologischen Aussagen des Art. III regiert, aufnimmt. Die sechs Artikel hängen also ebenfalls miteinander zusammen und werden im Wesentlichen regiert von Art. III, auf den auch der trinitätstheologische, christologisch fokussierte Art. I abzielt.

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Damit gruppieren sich die Art. I–XIII in zwei zusammengehörige Blöcke – das Evangelium von Christus einerseits und die Sakramente andererseits, die den Kirchenartikel VII rahmen; in diesem Artikel nun wird die Kirche – übrigens unter Aufnahme der Passage, die die Überarbeitung der Torgauer Artikel durch Melanchthon einleitet – mit dem Apostolikum definiert als »communio sanctorum«, was die deutsche Version aufklärt als »Gemeinschaft der Gläubigen« – die Heiligkeit besteht, wie Luther auch in »Von Konziliis und Kirchen« 1539 schreiben wird, im Glauben (WA 50, 626). Diese Gemeinschaft der Glaubenden wird dann identifiziert und kenntlich gemacht durch die Institutionen, durch die nach Überzeugung der Reformatoren Glaube entsteht: durch Wort und Sakrament; wo diese Institutionen in der rechten Weise präsent sind, sei das genug zur Einigkeit der Kirche. Damit wird deutlich, dass der genau in der Mitte der beiden jeweils 6 Artikel umfassenden thematischen Blöcke stehende Kirchenartikel umgeben ist von den Artikeln, die die rechte Verkündigung des Wortes (I–VI) und die dem Evangelium entsprechende Sakramentspraxis (VIII–XIII) definieren und für die evangelischen Territorien festlegen. Das Zentrum der CA ist dieser Kirchenartikel, von dem her sich der Aufbau inhaltlich (Benennung der kirchenkonstitutiven Institute: Wort und Sakrament) und formal (Prinzip der Rahmung) erschließt. 4. Die Wirkungsgeschichte. Die Confessio Augustana wurde vor dem Kaiser auf Deutsch – was der Kaiser nicht verstand – verlesen; die altgläubigen Theologen reagierten mit einer »Confutatio« (»Widerlegung«), die vom Kaiser als hinreichend akzeptiert wurde; die Religionssache wurde damit zugunsten der altgläubigen Stände und ihres Anspruchs entschieden und die Stände auf die Durchführung des Wormser Edikts verpflichtet. Noch auf dem Reichstag und während der Heimreise vom Reichstag arbeitete Melanchthon an einer Verteidigung (Apologia) der Confessio Augustana gegen die Einwände der päpstlichen Theologen, die er 1531 vollendete. Schon 1532 zwangen die außenpolitischen Verhältnisse und die Angewiesenheit des Kaisers auf militärische Unterstützung gegen die nun formell vereint agierenden Gegner in Frankreich und auf dem Balkan zu Zugeständnissen: Auf dem Nürnberger Reichstag

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von 1532 wird den Evangelischen Ständen faktisch Toleranz in der Religionsfrage zugebilligt – den Ständen, nicht den Individuen. Während die CA in der Folgezeit von Luther und anderen durchaus als ein Dokument von überindividuellem Rang erwähnt wurde und als grundlegende Urkunde des politischen Bündnisses der evangelischen Reichsstände galt, betrachtete Melanchthon sie vornehmlich als eine Privatschrift, die er in den 1540 einsetzenden Religionsgesprächen zwischen den reformatorischen und den altgläubigen Theologen modifizieren konnte. Um im Zusammenhang der Religionsgespräche eine Einigung mit den Schweizer Reformatoren zu erzielen, überarbeitete er 1540 den lateinischen Text des Art. X so, dass nicht, wie in CA X gesagt wird, Leib und Blut Christi unter der Gestalt des Brotes und Weins »ausgeteilt und genommen« wird, sondern dass beide lediglich »exhibeantur – dargeboten werden«; damit bleibt die Möglichkeit offen, dass nur die Glaubenden (und nicht die Ungläubigen) Leib und Blut auch tatsächlich zu sich nehmen. Vermieden wird zudem die Wiederholung des »vere adsint – sie [Leib und Blut] sind wahrhaftig gegenwärtig« der ursprünglichen lateinischen Version. Die sogenannte »Confessio Augustana variata« wird 1540 in der Tat auch von Johannes Calvin unterzeichnet. 1555 auf dem Reichstag zu Augsburg wird die Confessio Augustana zur Urkunde, die diejenigen Reichsstände identifiziert, deren Ordnung in Religionssachen derjenigen der päpstlichen Reichsstände gleichgestellt und toleriert wird: Die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens gelten den »Augsburger Confessionsverwandten«, d. h. den Reichsständen, die sich zur CA halten und durch sie gebunden wissen. Im Wormser Religionsgespräch von 1557 manifestieren sich die unter anderem auf unterschiedlichen Versionen der CA beruhenden Uneinigkeiten unter den lutherischen Theologen. Um den auch politisch gefährlichen Zustand, dass sich die Theologen wechselseitig das Recht der Berufung auf die CA absprechen, zu beenden, einigen sich die evangelischen Fürsten auf dem Fürstentag zu Naumburg 1561, sowohl die CA variata als auch die CA invariata zugrundezulegen. Dieses Bekenntnis von 1530 war es dann auch, das 1580 im Gefolge der Beilegung der interimistischen Streitigkeiten in das Konkordienbuch aufgenommen wird.

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II. Die Augsburger Konfession

Das Konkordienbuch rechtfertigt in seiner Vorrede die Aufnahme weiterer Bekenntnisschriften neben der CA damit, dass dadurch keine weiteren, die CA erweiternden oder gar ihr widersprechende Bekenntnisse aufgenommen werden, sondern lediglich angesichts eingerissener Interpretationsdifferenzen der Sinn der CA festgestellt werde. Damit ist deutlich, dass die CA nach der Aufbaulogik des Konkordienbuches die zentrale Bekenntnisschrift des Luthertums ist, deren Sinn die übrigen Bekenntnisschriften zur Geltung zu bringen und zu klären beanspruchen. Geboten wird hier eine Übertragung des frühneuhochdeutschen Textes der Erstausgabe der Confessio Augustana durch Melanchthon im Jahre 1531, der sogenannten editio princeps, ins Hochdeutsche.

Literatur: Georg Kretschmar, Der Kirchenartikel der Confessio Augustana Melanchthons, in: Erwin Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche, Münster 1980 (RGST 118), 411–439. Notger Slenczka, Das Bekenntnis als Schlüssel zur Schrift, in: Ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 65–89. Wilhelm Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana I und II, Gütersloh 1976/78. Leif Grane, Die Confessio Augustana, Göttingen 19863.

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Inhaltsübersicht zur Augsburger Konfession und zu ihrer Apologie Artikel

Inhalt

Augsburger Konfession

Apologie

Vorrede

S. 41

S. 117

I

Von Gott

S. 45

S. 121

II

Von der Erbsünde

S. 46

S. 121

III

Vom Sohn Gottes

S. 47

S. 132

IV

Von der Rechtfertigung

S. 48

S. 132

V

Vom Predigtamt

S. 49



VI

Vom neuen Gehorsam

S. 49



VII

Von der Kirche

S. 50

S. 208

VIII

Was die Kirche sei?

S. 51

S. 221

IX

Von der Taufe

S. 51

S. 222

X

Vom Heiligen Abendmahl

S. 52

S. 223

XI

Von der Beichte

S. 53

S. 224

XII

Von der Buße

S. 54

S. 227

XIII

Vom Gebrauch der Sakramente

S. 55

S. 273

XIV

Von der Kirchenleitung

S. 55

S. 277

XV

Von Kirchenordnungen

S. 56

S. 278

XVI

Von der Staatsordnung und der Regierung

S. 56

S. 289

XVII

Von der Wiederkunft Christi zum Gericht

S. 58

S. 293

XVIII

Vom freien Willen

S. 59

S. 293

XIX

Von der Ursache der Sünde

S. 60

S. 296

XX

Vom Glauben und guten Werken

S. 60

S. 296

XXI

Vom Dienst der Heiligen

S. 65

S. 299

Ende des ersten Teils

S. 66

S. 308

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40

II. Die Augsburger Konfession

XXII

Von den beiden Gestalten des Sakraments

S. 67

S. 310

XXIII

Vom Ehestand der Priester

S. 68

S. 314

XXIV

Von der Messe

S. 72

S. 330

XXV

Von der Beichte

S. 75



XXVI

Von der Unterscheidung der Speisen

S. 77



XXVII

Von Klostergelübden

S. 82

S. 358

XXVIII

Von der Gewalt der Bischöfe

S. 88

S. 376

Ende

S. 96

S. 383

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Confessio Augustana Confessio oder Bekenntnis des Glaubens einiger Fürsten und Städte, überantwortet seiner Majestät, dem Kaiser, in Augsburg im Jahr 1530. [Vorrede]1 Allerdurchlauchtigster, großmächtigster, unüberwindlichster Kaiser, allergnädigster Herr, Als Eure Kaiserliche Majestät in jüngster Zeit gnädig einen allgemeinen Reichstag hier nach Augsburg ausgeschrieben haben – unter Hinweis auf und mit dem ernstlichen Wunsch, Dinge [zu beraten], die unseren und des christlichen Namens Erbfeind, den Türken,2 betreffen: wie demselben mit nachhaltiger militärischer Hilfe fest widerstanden werden kann. Auch [dazu war der Reichstag ausgeschrieben,] darüber, wie mit den Differenzen im heiligen Glauben und der christlichen Religion3 zu verfahren wäre, zu beraten, und Mühe darauf zu verwenden, eines jeglichen Gutdünken, Ansicht und Meinung untereinander in Liebe und Güte zu hören, festzustellen und zu erwägen, und alle zu einer einigen christlichen Wahrheit zu bringen und auszugleichen; alles abzutun, was auf beiden Seiten nicht recht ausgelegt oder behandelt wäre, so dass wir alle eine einige und wahre Religion annehmen und halten und, wie wir alle unter dem einen

1. Die Vorrede ist ein höchst kunstvoll gestalteter, höfisch-diplomatischer Text; im Original sind die Sätze extrem lang und äußerst verschachtelt. Die hier gebotene Wiedergabe versucht, möglichst nah am Original zu bleiben. 2. »Der Türke« – gemeint ist das Osmanische Reich, dessen Heere unter Süleiman I. (ca. 1494–1566) seit 1521 mehrere Feldzügen über den Balkan gegen die Habsburgischen Kernlande (Österreich und Ungarn) und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation führten. Diese Bedrohung war einer der Hintergründe des Augsburger Reichstags (1529 belagerte das osmanische Heer Wien): Der Kaiser brauchte die Unterstützung der Kurfürsten und Reichsstände. Siehe unten Anm. 53. 3. Gemeint ist nicht eine »verfasste Religionsgemeinschaft«, sondern die Gestalt der »Gottesverehrung«.

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Christus sind und streiten,4 so auch alle in einer Gemeinschaft, Kirche und Einigkeit leben. Und weil wir, die unten genannten Kurfürsten und Fürsten mit den zu uns Gehörenden ebenso wie die anderen Kurfürsten, Fürsten und Stände, dazu aufgefordert sind, haben wir uns so aufgemacht, dass wir – ohne uns dessen rühmen zu wollen – unter den Ersten hierhergekommen sind. Eure Kaiserliche Majestät hat – auf untertänigsten Gehorsam hin und gemäß der erwähnten [Reichstags-]Ausschreibung Eurer Kaiserlichen Majestät – bezüglich der Dinge, die den Glauben betreffen, an die Kurfürsten, Fürsten und Stände insgesamt gnädiglich, aber mit Nachdruck und ernstlich den Wunsch gerichtet, dass ein jeder im Sinne der genannten Ausschreibung sein Gutdünken, Ansicht und Meinung bezüglich dieser Irrtümer, Differenzen und Missbräuche usw. auf Deutsch und Latein schriftlich einreichen möge. Daraufhin ist nach vorheriger Überlegung und Beratung bei Euer Kaiserlichen Majestät am vergangenen Mittwoch beantragt worden, dass wir für unsere Seite unser [Schriftstück], gemäß dem Antrag bei Eurer Kaiserlichen Majestät, am heutigen Freitag übergeben. Darum überreichen und übergeben wir im untertänigsten Gehorsam gegenüber Eurer Kaiserlichen Majestät das Bekenntnis unserer Pfarrer [und] Prediger und ihrer Lehren, und damit auch unseres Glaubens Bekenntnis: was und wie sie auf der Basis der Heiligen Schrift in unseren Landen, Fürstentümern, Herrschaftsbereichen, Städten und Gebieten predigen, lehren, halten und unterweisen. Und wir bieten Eurer Kaiserlichen Majestät, unserem allergnädigsten Herrn, untertänigst an, dass wir – sofern die anderen Kurfürsten, Fürsten und Stände zu diesem Zeitpunkt gleichfalls zweisprachig schriftlich ihre Ansicht und Meinung auf Latein und Deutsch übergeben werden –, uns mit ihnen wie mit Freunden gern über geeignete und ausgleichende Wege unterhalten und uns mit denselben, soweit irgend unter Erhalt der Billigkeit5 möglich, einigen wollen; so dass die schriftlichen Vorlagen und die [Hinweise auf] Mängel unserer

4. »Streiten«: Gemeint ist der Streit der »kämpfenden Kirche«, d. h. der noch nicht erlösten und der Anfechtung ausgesetzten Kirche. In diesem ersten Absatz (und in einigen kleineren Passagen im Folgenden) wird die Reichstagsausschreibung fast wörtlich zitiert. 5. »Gleichheit« – gemeint ist die aequitas, die Billigkeit.

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Vorrede

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beider Parteien in Liebe und Güte verhandelt und der Zwiespalt zu einer einigen Religion geführt werden möge, wie wir alle unter einem Christus sind und streiten, und Christus bekennen sollen – alles gemäß der Ausschreibung Eurer Kaiserlichen Majestät und nach göttlicher Wahrheit; wie wir auch Gott, den Allmächtigen, in höchster Demut anrufen und bitten wollen, dazu seine göttliche Gnade zu verleihen. Amen. Wenn aber bei unseren Herren, Freunden und Würdenträgern, den Kurfürsten, Fürsten und Ständen der anderen Partei, die Verhandlungen so, wie es das Reichstagsausschreiben Eurer Kaiserlichen Majestät meint – nämlich angenehme Verhandlungen untereinander –, weder anschlagen noch Ergebnisse haben, so soll es doch auf unserer Seite an nichts, was im Einklang mit Gott und dem Gewissen der christlichen Einigkeit förderlich sein kann, fehlen; wie Eure christliche Majestät und auch unsere genannten Freunde, die Kurfürsten, Fürsten, Stände und jeder, dem die christliche Religion am Herzen liegt, aus unserem und der Unseren nachfolgendem Bekenntnis gnädig, freundlich und zufriedenstellend zu vernehmen haben werden. Nachdem denn Eure Kaiserliche Majestät einst den Kurfürsten, Fürsten und Reichsständen gnädiglich zu verstehen gegeben hat – und zwar ausdrücklich durch eine öffentlich verlesene Anweisung, die auf dem Ersten Reichstag, der im Jahr 1526 in Speyer abgehalten worden ist –: dass Eure Kaiserliche Majestät aus dort angegebenen Gründen nicht die Absicht hatte, in Sachen, die den heiligen Glauben angehen, Beschlüsse fassen zu lassen, sondern sich beim Papst um ein Konzil bemühen und darauf drängen wollten.6 Und vor einem Jahr auf dem letzten Reichstag zu Speyer [1529]7 habt [Ihr] eine schriftliche Anweisung den Kurfürsten, Fürsten und Reichsständen durch den Statthalter Eurer Kaiserlichen Majestät im Reich, Seine Königliche Würden zu 6. 1526: Erster Reichstag zu Speyer, auf dem ein Moratorium in der Religionsfrage beschlossen wurde und die Reichsstände das Recht erhielten, bis auf Weiteres in ihren Territorien die Religionsfrage so zu regeln, wie sie es »vor ihrem Gewissen und vor ihrer Kaiserlichen Majestät sich zu verantworten zutrauten«. 7. Auf dem Zweiten Reichstag zu Speyer 1529 wurde die milde Regelung des Ersten Reichstags wieder aufgehoben und die Rückkehr zu den herkömmlichen Kirchenordnungen und -institutionen vorgeschrieben. Die evangelischen Reichsstände verließen deshalb unter Vorlage einer Protestation (öffentlich abgelegtes Zeugnis) den Reichstag.

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Ungarn und Böhmen,8 samt Eurer Kaiserlichen Majestät Verhandlungsführer9 und den kaiserlichen Beauftragten vortragen und anzeigen lassen: Dass Eure Kaiserliche Majestät die auf ein Allgemeines Konzil10 zielenden Anträge dieser Statthalter, Amtswalter und Räte der Kaiserlichen Verwaltung, auch der abwesenden Kurfürsten, Fürsten und Botschafter der Stände,11 die auf dem nach Regensburg ausgeschriebenen Reichstag12 versammelt waren, bedacht und es für förderlich befunden habe, ein solches [allgemeines Konzil] anzusetzen. Nun entwickelten sich aber die zwischen Eurer Kaiserlichen Majestät und dem Papst verhandelten Angelegenheiten in Richtung eines guten, christlichen Einverständnisses, so dass Eure Majestät gewiss seien, dass der Papst sich nicht weigern werde, ein Allgemeines Konzil abzuhalten; daher bestünde das gnädige Angebot Eurer Kaiserlichen Majestät, es zu fördern und darauf hinzuarbeiten, dass der Papst ein solches Generalkonzil mit Eurer Kaiserlichen Majestät baldmöglich auszuschreiben genehmigt und daran kein Mangel bestehen soll: so bieten wir für diesen Fall hiermit Eurer Kaiserlichen Majestät untertänigst die Teilnahme an einem solchen allgemeinen, freien, christlichen Konzil an, das auf allen Reichstagen, die Eure Kaiserliche Majestät während ihrer Regierungszeit im Reich abgehalten hat, durch Kurfürsten, Fürsten und Stände aus hohen und wertvollen Erwägungen beschlossen wurde. An dieses haben wir wegen dieser hochwichtigen Sache in Rechtsform immer wieder appelliert und uns berufen. Diese [Appellation] halten wir hiermit nochmals aufrecht und verstehen diese und weitere Verhandlungen nicht so, dass wir damit diesen Anspruch aufgeben. Es sei denn, die streitigen Fragen werden schließlich doch gemäß dem Reichs-

8. Ferdinand von Habsburg, Bruder Karls V., bis 1530 Reichsstatthalter, seit 1530 deutscher König. 9. Balthasar Merklin (von Waldkirch, 1479–1531), Bischof von Hildesheim. 10. Es war ein Wunsch des Kaisers und der evangelischen Reichsstände, zur Klärung der Religionsfrage ein Konzil einzuberufen; diesem Anliegen widersetzten sich die Altgläubigen bzw. der Papst, der das Konzil einzuberufen hatte. Das Konzil wurde schließlich auf 1537 nach Mantua einberufen, kam aber nun wegen der Verweigerungshaltung der protestantischen Stände und des französischen Königs nicht zustande. 11. Es handelt sich um die auf den Reichstag gesandten Vertreter der übrigen Reichsstände (etwa der Reichsstädte). 12. Reichstag zu Regensburg 1527, wegen geringer Beteiligung abgebrochen.

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Art. I: Von Gott

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tagsausschreiben Eurer Kaiserlichen Majestät in Liebe und Güte gehört, erwogen, beigelegt und zu einer christlichen Einigkeit in Ausgleich gebracht. Das bezeugen und protestieren13 wir hiermit öffentlich. Das ist unser und der Unsrigen Bekenntnis, wie es im Folgenden in einer Abfolge von Artikeln dargelegt wird.

Der erste [Von Gott].14 Erstens lehren und halten wir einträchtig nach dem Beschluss des Nizänischen Konzils,15 dass ein einiges göttliches Wesen sei, das Gott genannt wird und wahrhaftig Gott ist; und es sind doch drei Personen in diesem selben einigen göttlichen Wesen, von gleicher Macht, gleich ewig, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist; alle drei ein göttliches Wesen, ewig, unzerteilt, von unermesslicher Macht, Weisheit und Güte, unendlich, ein Schöpfer und Erhalter aller Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren. Und es wird unter dem Begriff »Person« nicht ein Teil oder eine Eigenschaft an einem anderen verstanden, sondern etwas Selbstständiges, wie auch die Väter das Wort in diesem Zusammenhang verwendet haben. Diesbezüglich werden alle Ketzereien verworfen, die diesem Artikel widersprechen, wie die Manichäer,16 die zwei Götter annehmen, 13. »Protestieren« heißt dasselbe wie »öffentlich bezeugen«; die Doppelung nimmt Bezug auf die »Protestation« von Speyer (vgl. Anm. 7). 14. Die Überschriften von Art. 1–19 und 21 sind den Ausgaben seit 1533 beigefügt. Sie werden hier und im Folgenden in eckige Klammern gesetzt. In den vorangehenden Ausgaben werden die Artikel in einer Überschrift gezählt. 15. Konzil von Nizäa, 325: Erster Abschluss der Auseinandersetzung mit Arius; Definition der Grundlagen der Trinitätslehre: Der Sohn ist eines Wesens (ὁμοούσιοϚ [homoúsios]) mit dem Vater. Die folgenden Aussagen sind fast wörtlich angelehnt an die entsprechenden Aussagen des Konzils von Konstantinopel 381, auf dem die nachnizänischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Gott Vater, Sohn und Geist mit einer Wiederholung des (erweiterten und präzisierten) Glaubensbekenntnisses von Nizäa beendet wurden, dem sog. NicaenoConstantinopolitanum (siehe oben S. 25). 16. Anhänger des »Propheten« Mani (216–276 [?]), des Begründers eines der weitestverbreiteten Kulte des Mittelmeerraumes neben dem Christentum, eine ver-

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einen bösen und einen guten. Desgleichen die Valentinianer,17 die Arianer,18 die Eunomianer,19 die Mohammedaner und dergleichen, auch die Juden und die alten und neuen Anhänger des [Paul von] Samosata,20 die nur eine Person annehmen und vom Wort und dem Heiligen Geist Sophistereien aufstellen und sagen, dass sie nicht unterschiedene Personen sein dürfen, sondern ›Wort‹21 sei das leibliche Wort oder die Stimme, und der Heilige Geist sei eine geschaffene Regung in den Kreaturen.

Der zweite [Von der Erbsünde]. Weiter wird gelehrt, dass nach dem Fall Adams alle Menschen, die auf natürliche Weise geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, das heißt: dass sie von Mutterleib an voller böser Lust und Neigung sind und von Natur aus keine wahre Gottesfurcht, keine wahre Liebe gegenüber Gott und keinen wahren Glauben an Gott haben können. [Es wird] auch [gelehrt], dass diese selbe angeborene Krankheit und Erbsünde wahrhaftig Sünde sei und alle diejenigen unter den

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mutlich vom Zoroastrismus beeinflusste Lehre von zwei einander bekämpfenden, göttlichen Grundelementen (Licht und Finsternis). Anhänger des christlichen Gnostikers Valentinus (2. Jh.). Anhänger des alexandrinischen Presbyters Arius (gest. 336), dessen Unterscheidung des Sohnes (als des freilich ersten und höchsten Geschöpfes) und des Vaters die Auseinandersetzungen des 4. Jhs. um die Trinitätslehre auslösten. Eunomius von Kyzikos (gest. 395) vertrat als radikaler Arianer in den nachnizänischen Auseinandersetzungen die »Unähnlichkeit« des Sohnes mit dem Vater: »Anhomöer« im Unterschied zu den Homöusianern, die eine Ähnlichkeit, und den Homousianern, die eine Gleichheit des Wesens des Sohnes mit dem des Vaters lehrten. Diese Position wurde auf dem Konzil von Konstantinopel 381 verurteilt, auf dem sich die Homousianer durchsetzten. Paul von Samosata (gest. nach 276) gilt als Vertreter einer Deutung der göttlichen Personen als Erscheinungsweisen eines in sich einheitlichen Wesens (Modalismus) und als Vertreter einer Christologie, die Jesus von Nazareth als bloßen Menschen deutet; verurteilt auf der Synode von Antiochia 268. Das Wort (λόγοϚ [lógos]) ist die Bezeichnung der zweiten Person der Trinität (des Sohnes; vgl. Joh 1,1); die Zuordnung des »Wortes« zum inneren Gedanken ist eine in der Alten Kirche viel verwendete, aber auch vieldeutige Analogie für das Verhältnis von Vater und Sohn.

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Art. III: Von dem Sohne Gottes

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ewigen Gotteszorn verdammt, die nicht durch die Taufe und den Heiligen Geist von Neuem geboren werden. Hier werden die Pelagianer22 verworfen und andere, die die Erbsünde nicht für Sünde halten; damit machen sie die Natur aus deren natürlichen Kräften gottesfürchtig und verletzen damit die Ehre des Leidens und Verdienstes Christi.

Der dritte [Von dem Sohne Gottes]. Desgleichen wird gelehrt, dass Gott der Sohn Mensch geworden sei, geboren aus der reinen Jungfrau Maria. Und dass die zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, in einer Person, damit unzertrennlich vereinigt, ein Christus sind, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, wahrhaftig geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben und begraben, damit er ein Opfer wäre nicht nur für die Erbsünde, sondern für alle andere Sünde, und Gottes Zorn versöhnt. Desgleichen dass dieser selbe Christus hinabgestiegen [sei] zur Hölle, wahrhaftig am dritten Tag von den Toten auferstanden, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, damit er ewig herrsche über alle Kreaturen und [sie] lenke, und damit er alle, die an ihn glauben, durch den Heiligen Geist heilige, reinige, stärke, tröste, ihnen auch Leben und allerlei Gaben und Güter austeile und sie gegen den Teufel und gegen die Sünde schütze und beschirme. Desgleichen, dass dieser selbe Herr Christus am Ende für alle sichtbar kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten usw. nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis.

22. Anhänger des Pelagius (gest. nach 418), der von einer grundsätzlichen Unversehrtheit der menschlichen Natur und des menschlichen Willens durch die Sünde ausging. Sein Name ist zur Bezeichnung einer Position geworden, die eine Fähigkeit des Menschen zur (Mit-)Wirkung zum Heil annimmt und sich gegen die von Augustin in der Auseinandersetzung mit ihm profilierte Erbsündenlehre wendet. Die Auseinandersetzung des Augustin mit seiner Position gehört zu den Schlüsselereignissen und die entsprechenden Schriften des Augustin (etwa: De natura et gratia) zum Fundament der abendländischen Theologie.

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Und es werden alle möglichen Ketzereien, die diesem Artikel widersprechen, verdammt.23

Der vierte [Von der Rechtfertigung].24 Und nachdem die Menschen in Sünden geboren werden und Gottes Gesetz nicht halten können, auch Gott nicht von Herzen lieben können, wird gelehrt, dass wir durch unsere Werke oder durch unsere Genugtuung die Vergebung der Sünde nicht verdienen können, und wir werden auch nicht wegen dieser Werke vor Gott als gerecht betrachtet, sondern wir erlangen die Vergebung der Sünde und werden 23. »Verdammt« bezieht sich auf die Wendung des Paulus in Gal 1,8f, wo Paulus diejenigen, die ein anderes Evangelium (als das von ihm verkündigte Evangelium von Christus) verkündigen, in den Bann tut (ἀνάϑεμα ἔστω [anáthema ésto] – der sei unter dem Bann). Paulus bedient sich damit der Formel, mit der das damalige Judentum den Ausschluss aus der Synagogengemeinschaft vollzog. Diese Formel wurde später die Wendung, mit der der Ausschluss von Vertretern bestimmter, als häretisch angesehener Lehren aus der Kirchengemeinschaft in den canones (Grenzziehungen) der Konzilsentscheidungen vollzogen wurde (»wer so und so lehrt: anathema sit – der sei unter dem Fluch«; sogenannte Konditionalverwerfung). 24. Über der Rechtfertigungslehre – und ihrer Bedeutung für Lehre und Praxis des Ablasses – kam es im 16. Jahrhundert zur Kirchenspaltung. Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GER) des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen von 1997 sowie ihre »Gemeinsame Offizielle Feststellung« (GOF) von 1999 sehen einen »Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« erreicht. Danach lehren Lutheraner wie Katholiken, dass wir allein durch Christus, allein aus Gnade und allein durch den Glauben gerechtfertigt werden. Beide sagen nach dem Anhang der GOF außerdem, dass der Christ »gerecht und Sünder zugleich« ist, sosehr sie diesen Satz unterschiedlich deuten. Nach der GER ist die Rechtfertigungslehre für Lutheraner wie für Katholiken »ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will«; sie ist – so der Anhang der GOF – »Maßstab oder Prüfstein des christlichen Glaubens. Keine Lehre darf diesem Kriterium widersprechen«. Zugleich wurde zu den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, soweit sie sich auf die Lehre von der Rechtfertigung beziehen, festgestellt, dass die in der GER vorgelegte und in der GOF erläuterte Darstellung der Lehre der lutherischen Kirchen nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen wird und die Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften nicht die hier vorgelegte Lehre der römischkatholischen Kirche treffen.

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Art. VI: Vom neuen Gehorsam

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vor Gott als gerecht betrachtet um Christi willen und aus Gnade, durch den Glauben, wenn das Gewissen Trost empfängt aus der Verheißung Christi und glaubt, dass uns mit Gewissheit Vergebung der Sünde gegeben wird und dass Gott uns gnädig sein und ewiges Leben geben wolle um Christi willen, der durch seinen Tod Gott versühnt25 hat und für die Sünde genug getan hat. Wer so wahrhaftig glaubt, der erlangt Vergebung der Sünde, wird Gott wohlgefällig und vor Gott gerecht betrachtet, um Christi willen, Röm 3 und 4.

Der fünfte [Vom Predigtamt]. Damit dieser Glauben entsteht, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die als Mittel der Heilige Geist wirkt und – wo und wann er will – die Herzen tröstet und Glauben gibt denen, die das Evangelium hören, das lehrt, dass wir durch Christi Verdienst einen gnädigen Gott haben, wenn wir das glauben. Und es werden die Wiedertäufer26 und andere verdammt, die lehren, dass wir ohne das leibliche Wort des Evangeliums den Heiligen Geist durch eigene Vorbereitung und Werke verdienen.

Der sechste [Vom neuen Gehorsam]. Und es wird gelehrt, dass dieser Glaube gute Frucht und gute Werke bringen soll, und dass man allerlei gute Werke tun müsse, die Gott geboten hat, und zwar um Gottes willen; [es wird gelehrt], aber nicht auf solche Werke [in der Meinung] zu vertrauen, dass wir durch unsere Werke Gottes Gesetz erfüllen oder wegen unserer Werke als ge25. Vgl. unten Anm. 89. 26. Unter dem Stichwort »Wiedertäufer« fassen die Wittenberger Reformatoren eine schillernde Fülle von Strömungen zusammen, deren gemeinsamer Nenner ihr sakramentenkritischer Spiritualismus war, d. h. die Überzeugung, dass sie das Gottesverhältnis nicht auf die äußere Zusage der Vergebung durch das äußere Wort und das Sakrament gegründet sahen, sondern im Gefolge mystischer Traditionen spürbare innere geistliche Wirkungen von einer innerlichen Vorbereitung erwarteten (s. Anm. 31).

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recht betrachtet würden. Denn wir empfangen Vergebung der Sünde und werden als gerecht betrachtet durch den Glauben um Christi willen, wie Christus spricht: »Wenn ihr das alles getan habt, sollt ihr sprechen: Wir sind unfähige Knechte« [Lk 17,19]. So lehren auch die Väter, denn Ambrosius spricht: »So ist es beschlossen bei Gott, dass, wer an Christus glaubt, selig sei und nicht durch Werke, sondern allein durch den Glauben, ohne Verdienst, Vergebung der Sünden habe.«27

Der siebte [Von der Kirche]. Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, welche die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente gemäß dem Evangelium gereicht werden. Denn das ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, dass einträchtig in reinem Verständnis das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht notwendig für die wahre Einheit der christlichen Kirche, dass die von Menschen eingesetzten Ordnungen [wörtl.: Zeremonien] überall gleichförmig eingehalten werden, wie Paulus sagt im 4. Kapitel des Epheserbriefs [V. 5–6]: »Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.«28

27. Die hier zitierten Kommentare zu den Paulusbriefen aus der 2. Hälfte des 4. Jhs. wurden zuweilen fälschlich Ambrosius zugeschrieben; der anonyme Autor wird daher Ambrosiaster (oder Pseudo-Ambrosius) genannt; zitiert wird In epistolam I ad Corinthos I, 4 (PL 17, 195). 28. Bibelzitate werden hier und im Folgenden durchgehend nicht nach einer gängigen gegenwärtigen oder zeitgenössischen Übersetzung zitiert; die Verfasser der CA fertigten jeweils eigene Übersetzungen an und verbanden mit bestimmten Worten dieser Übersetzung im Kontext zuweilen Argumente (etwa unten zu Anm. 104), die verlorengehen, wenn man die Zitate nach (alten oder rezenten) Übersetzungen verifiziert.

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Art. IX: Von der Taufe

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Der achte [Was die Kirche sei]. Desgleichen: Wiewohl die christliche Kirche eigentlich nichts anderes ist als die Versammlung aller Gläubigen und Heiligen, bleiben in diesem Leben aber viele falsche Christen und Heuchler, ja sogar öffentlich bekannte Sünder unter den Frommen; gleichwohl sind die Sakramente wirksam, auch wenn die Priester, durch die sie gespendet werden, nicht fromm sind, worauf Christus hinweist: »Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Pharisäer usw.« [Mt 23,2]. Deshalb werden die Donatisten29 und alle anderen verdammt, die anderes [für richtig] halten.

Der neunte [Von der Taufe]. Von der Taufe wird gelehrt, dass sie notwendig sei und dass dadurch Gnade angeboten wird. [Es wird gelehrt], dass auch die Kinder getauft werden sollen, die durch diese Taufe Gott übereignet und ihm wohlgefällig werden. Deshalb werden die Wiedertäufer30 verworfen, die lehren, dass die Kindertaufe nicht recht sei.31 29. Die Donatisten vertraten eine Vollkommenheitsekklesiologie, nach der die Gültigkeit der Sakramente an der ethischen Vollkommenheit des Spenders hängt. 30. Hier sind nun unter dem Begriff »Wiedertäufer« die Positionen im Blick, die (mit Luther) den Glauben als das Zentrum des Gottesverhältnisses betrachten, dabei aber den Glauben auf ein inneres Wirken des Heiligen Geistes und eine daraus fließende Entscheidung des Menschen zurückführten, deren Ausdruck (aber nicht: deren Ursprung, bleibender Bezugspunkt und Halt) die Taufe und die durch sie vergewisserte Zusage ist. Wo die Taufe Ausdruck des Glaubens ist, setzt sie diesen voraus; eine Kindertaufe wird daher abgelehnt. Die Täufer betrachten sich selbst nicht als Wiedertäufer, sondern betrachten die Unmündigentaufe als ungültig. 31. Zur Verwerfung der »Wiedertäufer« ist Folgendes zu beachten: Für ein halbes Jahrtausend waren Lutheraner und Täufer bzw. Mennoniten, die sich als geistliche Nachfahren der Täufer verstehen, nicht nur durch Unterschiede in Lehre, Ordnung und Praxis der Kirchen getrennt, sondern auch durch das Erbe der Gewalt seit dem 16. Jahrhundert. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das weltweite Luthertum dieser dunklen Seite seiner Tradition gestellt und Initiativen der Versöhnung gesucht. Auf Grundlage der Ergebnisse einer Internationalen Lutherisch-Mennonitischen Studienkommission hat die Elfte Vollversammlung

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II. Die Augsburger Konfession

Der zehnte [Vom Heiligen Abendmahl]. Vom Abendmahl des Herrn wird folgendermaßen gelehrt: dass wahrer Leib und wahres Blut Christi wahrhaftig unter der Gestalt32 des Brotes und des Weins im Abendmahl gegenwärtig ist, da ausgeteilt und empfangen wird. Deshalb wird auch die Gegenlehre verworfen.

des Lutherischen Weltbundes 2011 in Stuttgart feierlich eine Beschlussfassung zum lutherischen Erbe der Verfolgung der Täufer angenommen: »Wenn Lutheranerinnen und Lutheraner sich heute mit der Geschichte der Beziehungen zwischen Lutheranern und Mennoniten im 16. Jahrhundert und danach beschäftigen, … empfinden sie tiefes Bedauern und Schmerz über die Verfolgung der Täufer durch lutherische Obrigkeiten und besonders darüber, dass lutherische Reformatoren diese Verfolgung theologisch unterstützt haben. … Im Vertrauen auf Gott, der in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte, bitten wir deshalb Gott und unsere mennonitischen Schwestern und Brüder um Vergebung für das Leiden, das unsere Vorfahren im 16. Jahrhundert den Täufern zugefügt haben, für das Vergessen oder Ignorieren dieser Verfolgung in den folgenden Jahrhunderten und für alle unzutreffenden, irreführenden und verletzenden Darstellungen der Täufer und Mennoniten, die lutherische Autoren und Autorinnen bis heute in wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Form verbreitet haben.« Des Weiteren heißt es: »Wir verpflichten uns, die lutherischen Bekenntnisschriften im Licht der gemeinsam beschriebenen Geschichte von Lutheranern und Mennoniten zu interpretieren; die Untersuchung von bisher ungelösten Fragen zwischen unseren beiden Traditionen im Geist wechselseitiger Offenheit und Lernbereitschaft fortzuführen, vor allem was die Taufe und das Verhältnis von Christen und Kirche zum Staat betrifft« (siehe Ökumenische Rundschau 49 [2010], 554f). Zuvor hatte bereits die VELKD theologische Gespräche mit der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden geführt, die 1996 zur Erklärung einer eucharistischen Gastbereitschaft und dem Bekenntnis der gegenseitigen Schuld führten. In der Erklärung halten die Lutheraner fest: »Wir erklären, dass die Verwerfungen, die im Augsburgischen Bekenntnis … gegen die Täufer gerichtet werden, heute die Gemeinden der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden nicht treffen.« 32. Der Begriff »Gestalt« (lat.: species) ist der klassische Terminus für das, was die Abendmahlselemente »ihrem Aussehen nach« sind im Unterschied dazu, dass sie Leib und Blut Christi sind.

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Art. XI: Von der Beichte

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Variata (lat.) 33 Vom Abendmahl lehren sie, dass mit Brot und Wein wahrhaftig der Leib und das Blut denen, die beim Abendmahl essen, dargeboten wird.

Der elfte [Von der Beichte]. Von der Beichte wird Folgendes gelehrt: dass man in der Kirche die Einzelbeichte erhalten und nicht abschaffen soll – obwohl es nicht notwendig ist, in der Beichte alle Untaten und Sünden aufzuzählen, zumal das doch gar nicht möglich ist, Ps 19[,13]: »Wer kennt die Missetat?«

33. Melanchthon betrachtete die CA immer auch als Privatschrift, die er im Laufe der 1530er Jahre überarbeitete und änderte und 1540 als Grundlage der Religionsgespräche von Worms, Regensburg und Hagenau erneut veröffentlichte: die lateinische sog. »CA variata – geändertes Augsburger Bekenntnis« im Unterschied zur »CA invariata – ungeändertes Augsburger Bekenntnis«. Eine in der Folgezeit für die Einigung mit den Schweizer Reformatoren wichtige Änderung war die Neufassung des Abendmahlsartikels, der nun so verstanden werden konnte, dass Christus nicht unter Brot und Wein, sondern durch das Geben von Brot und Wein den Empfängern dargeboten wird und ihnen gegenwärtig ist. Die im nicht einmal ein Jahr zurückliegenden Marburger Religionsgespräch und im vorangehenden Abendmahlsstreit äußerst strittige Frage, ob auch wirklich alle Empfänger (und nicht nur die Glaubenden) Leib und Blut auch wirklich zu sich nehmen, blieb unentschieden. Die vom Glauben unabhängige Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi unter den Gestalten, auf die Luther und in den innerlutherischen Streitigkeiten um die Abendmahlslehre die »Gnesiolutheraner – echte Lutheraner« Wert legten, wird damit ebenso vermieden wie die Feststellung, dass alle Empfänger, auch die »Gottlosen« (impii), diesen Leib und das Blut wirklich zu sich nehmen; übrigens bietet auch schon die lateinische Fassung der invariata keine eindeutige Lehre von der manducatio impiorum: »Vom Mahl des Herrn lehren sie, dass Leib und Blut Christi wahrhaftig da sind und an diejenigen, die beim Mahl essen, ausgeteilt wird, und sie verwerfen die anders Lehrenden.« Leib und Blut wird hier ausgeteilt – dass und ob auch unabhängig vom Glauben alle Mahlteilnehmer Leib und Blut essen, wird nicht festgestellt.

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II. Die Augsburger Konfession

Der zwölfte [Von der Buße]. Von der Buße wird gelehrt, dass diejenigen, die nach der Taufe gesündigt haben, zu jeder Zeit, wenn sie sich bekehren,34 Vergebung der Sünde erlangen können, und es soll ihnen die Lossprechung von der Kirche nicht verweigert werden. Nun ist die wahre, rechte Buße eigentlich nichts anderes, als Reue, Leid oder Schrecken über die Sünde zu empfinden, und doch daneben zu glauben an das Evangelium und die Lossprechung, dass die Sünde vergeben und durch Christus Gnade erworben sei. Dieser Glaube tröstet das Herz wieder und gibt ihm Frieden. Darauf soll auch eine Besserung folgen, dass man von den Sünden lasse; denn das sollen die Früchte der Buße sein, wie Johannes [der Täufer] sagt in Mt 3[,8]: »Wirkt rechtschaffene Früchte der Buße.« Hier werden diejenigen verworfen, die lehren, dass diejenigen, die einmal gottesfürchtig geworden sind, nicht wieder fallen können. Damit werden auch die Novatianer35 verdammt, die denen, die nach der Taufe gesündigt haben, die Lossprechung verweigerten. Auch werden die verworfen, die nicht lehren, dass man durch den Glauben, ohne unser Verdienst um Christi willen die Vergebung der Sünden erlangt, sondern dass wir dies durch unser Werk und durch unsere Liebe verdienen. Auch werden die verworfen, die lehren, dass ordnungsgemäße36 Bußleistungen nötig seien als Ablösezahlungen für die ewige Qual oder das Fegefeuer.

34. Wörtl.: »wenn sie bekert [!] werden« – damit wird die Passivität der Umkehr unterstrichen. 35. Novatian (gest. ca. 258), Vertreter einer rigoristischen Ekklesiologie, der die Kirche als Gemeinschaft der von Todsünden Freien fasste und die Gewährung der Vergebung von Todsünden [beispielsweise Verleugnung in der Verfolgungssituation] für bereits Getaufte ablehnte; 251 wurde er auf einer römischen Synode exkommuniziert. Seit 252 war er Gegenbischof von Rom. 36. Wörtl. »canonice« (lat.) – der [kirchlichen] Richtschnur (den Bußanweisungen) entsprechend.

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Art. XIV: Von der Kirchenleitung

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Der dreizehnte [Vom Gebrauch der Sakramente]. Vom Vollzug der Sakramente wird gelehrt, dass die Sakramente nicht allein als Zeichen eingesetzt sind, an denen man äußerlich die Christen erkennen kann, sondern dass sie Zeichen und Bezeugung des göttlichen Willens uns gegenüber sind, durch die unser Glaube geweckt werden und gestärkt werden soll. Deshalb zielen sie auch auf den Glauben und werden dann recht empfangen, wenn man sie im Glauben empfängt und den Glauben dadurch stärkt. Darum werden diejenigen verworfen, die lehren, dass die Sakramente ex opere operato37 gerecht machen ohne den Glauben, und [die] nicht lehren, dass dieser Glaube hinzukommen muss zur dort angebotenen Vergebung der Sünde, die durch den Glauben, nicht durchs Werk erlangt wird.

Der vierzehnte [Von der Kirchenleitung]. Von der Leitung der Kirche wird gelehrt, dass niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder das Sakrament reichen38 soll ohne ordnungsgemäße Berufung.

37. Die Lehre von der Wirksamkeit der Sakramente »ex opere operato – durch den reinen Vollzug« hebt ursprünglich darauf ab, dass die Würdigkeit (Sündenfreiheit/Gnadenstand) des Spenders des Sakraments die Wirkung des Sakraments nicht behindern kann; sie stellt den Empfänger frei von der (die Wirksamkeit des Sakraments in Zweifel ziehenden) Frage, ob denn der Spender des Sakraments wirklich im Stand der Gnade ist. Luther und in seiner Folge die übrigen Reformatoren verstehen diese Wendung so, dass dadurch das Sakrament zum Werk werde, das Heil vermittelt auch abgesehen vom Vertrauen auf die mit dem Sakrament verbundene Verheißung der Sündenvergebung. 38. »Das Sakrament reichen« ist der feststehende Ausdruck für das Austeilen von Brot und Wein beim Abendmahl.

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II. Die Augsburger Konfession

Der fünfzehnte [Von den Kirchenordnungen]. Von den Kirchenordnungen,39 die von Menschen eingesetzt sind, lehrt man diejenigen festzuhalten, die ohne Sünde eingehalten werden können und zu Frieden und guter Ordnung in der Kirche helfen, wie bestimmte Feiern, Festtage und dergleichen. Doch werden [die Gläubigen] dahingehend unterwiesen, dass man die Gewissen nicht belasten soll, als seien solche Dinge notwendige Dienste für Gott, ohne die niemand bei Gott gerecht sein könne. Darüber hinaus wird gelehrt, dass alle Vorschriften und Traditionen, die von Menschen mit dem Ziel eingerichtet wurden, dass man dadurch Gott versühne oder Vergebung der Sünde verdiene oder bei Gott als gerecht angesehen werde, dem Evangelium und der Lehre vom Glauben an Christus zuwiderlaufen. Deshalb sind Klostergelübde und andere Traditionen – etwa Speisevorschriften oder Fastentage –, mit denen man wie durch einen Dienst an Gott Vergebung der Sünde und Seligkeit zu verdienen meint, unwirksam und gegen das Evangelium.

Der sechzehnte [Von der öffentlichen Ordnung40 und weltlichem Regiment]. Von der öffentlichen Gewalt und der weltlichen Herrschaft41 wird

39. Kirchenordnungen sind nicht nur Rechtssätze, sondern alle Einrichtungen der Kirche – Feste, Kleiderordnungen, liturgische Ordnungen etc. Eigentlich müsste man übertragen mit »kirchliche Einrichtungen« oder »Institutionen«, dürfte darunter aber nicht nur Ämter verstehen. Ausführlich dazu siehe unten Art. 26 und 28. 40. Original: »Polizey«; dieser Begriff meint nicht die ausführende Gewalt, sondern entspricht dem griechischen ›πολιτία‹ [politía]: die verbindliche, öffentliche und nötigenfalls zwangsbewehrte Ordnung einer Stadt oder eines Staatswesens. Vgl. zu Anm. 99. 41. Wörtl.: »Von der Policey und weltlichem Regiment« – gemeint ist mit »Regiment« die von Institutionen des Gemeinwesens ausgeübte, öffentliche Regierung, die sich auch des Zwanges bedient. Wir haben den in der reformatorischen Tradition üblichen, wirkungsgeschichtlich zentralen Begriff »weltliches Regiment« leicht modifiziert (weltliche Herrschaft) beibehalten – er ist zu verstehen aus dem Gegensatz zum »geistlichen Regiment«, das der Heilige Geist unverfügbar in der Kirche ausübt und zu dem er sich nach reformatorischer Überzeugung der

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Art. XVI: Von der öffentlichen Ordnung

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gelehrt, dass alle Obrigkeit42 in der Welt und alle einer Ordnung folgende Herrschaft und Gesetze gute Ordnung sind, von Gott geschaffen und eingesetzt; und dass Christen ein obrigkeitliches Amt, ein Fürsten- oder Richteramt wahrnehmen können, ohne dadurch in Sünde zu fallen; dass sie nach kaiserlichem und anderem gültigen Recht richten und Recht sprechen dürfen; [sie dürfen] Verbrecher mit dem Schwert strafen, rechtmäßige Kriege führen,43 Prozesse führen, kaufen und verkaufen, der Eidpflicht genügen, Eigentum haben, eine Ehe eingehen etc. Damit werden die Wiedertäufer44 verdammt, die lehren, dass nichts von dem Genannten christlich sei. Es werden auch diejenigen verdammt, die lehren, dass es zur christlichen Vollkommenheit gehöre, Haus und Hof, Frau und Kind in einem ganz äußerlichen Sinne45 zu verlassen und sich der genannten

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menschlichen Verkündigung (und nicht etwa äußerer Zwangsmittel; siehe unten S. 88–96, Art. XXVIII) bedient. ›Obrigkeit‹ ist ein fester reformatorischer und in der reformatorischen Tradition wirkungsreicher Begriff für alle Institutionen, die Befehlsgewalt haben und eine Gehorsamspflicht einfordern können (also auch innerfamiliäre Instanzen); dem korrespondiert der Begriff »Untertan«. Eine gegenwartsfähige lutherische Lehre von der politischen Ordnung wird nach der Grundlage, der Gestaltung und den Grenzen solcher Über- und Unterordnungsverhältnisse in einer modernen Gesellschaft fragen müssen. Die CA rekurriert mit der Wendung »rechte Kriege führen« auf die klassische, auf Augustin zurückgehende Lehre vom gerechten Krieg, zu dem im wesentlichen folgende Kennzeichen gehören: Dass er von einer legitimen Obrigkeit (legitima potestas) geführt wird, dass er einen rechtmäßigen Grund hat (causa iusta), dass er mit einer gerechten Absicht geführt wird (intentio recta; d. h., es darf der gerechte Grund nicht zur Bemäntelung anderer Motive vorgeschoben sein); der Krieg darf erst nach erfolgloser Ausschöpfung aller anderen Mittel geführt werden (ultima ratio), er muss auf die Herstellung von Frieden abzielen (finis iustus) und er muss als Reaktion verhältnismäßig sein. Hinzu kommen Kriterien einer rechtmäßigen Kriegsführung (ius in bello) – Krieg ist nach reformatorischem Verständnis gerade kein rechtloser Zustand. Hier sind nun unter diesem Stichwort (in der Tat auch von einigen Täufergruppen vertretene) Positionen im Blick, die eine Trennung der Kirche von der Welt und die Gründung einer politischen Gemeinschaft auf der Grundlage, dass alle Mitglieder Christen sind, fordern. Diese Gemeinschaft verwirklicht dann das Ideal der Gewaltfreiheit, des Eigentumsverzichts etc. Wörtl.: »Leiblich verlassen« – Bezug sind die radikalen Nachfolgeworte Jesu (etwa: Mt 8,20–22; 11,34–39; 19,21), die von den radikalen Sekten der Reforma-

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Dinge zu entäußern – wo doch allein die wahre Gottesfurcht und der wahre Glaube an Gott die rechte Vollkommenheit ist. Denn das Evangelium lehrt nicht eine äußerliche, zeitliche, sondern eine innerliche, ewige Lebenshaltung und eine Gerechtigkeit des Herzens und lehnt die weltliche Herrschaft und Gewalt und den Ehestand nicht ab, sondern will, dass man dies alles festhalte und in diesen Ständen46 christliche Liebe und wahre gute Werke, ein jeder gemäß seinem Beruf,47 erweise. Deshalb sind die Christen verpflichtet, der Obrigkeit untertan und ihren Geboten und Gesetzen gehorsam zu sein in allem, was man tun kann, ohne dabei in Sünde zu fallen. Denn wenn das Gebot der Obrigkeit nicht erfüllt werden kann, ohne dass man in Sünde fällt, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen, Apg 5[,29].

Der siebzehnte [Von der Wiederkunft Christi zum Gericht]. Auch wird gelehrt, dass unser Herr Jesus Christus am Jüngsten Tag kommen wird zum Gericht, dass er alle Toten auferwecken, den Gläubigen und Auserwählten ewiges Leben und ewige Freude geben, die gottlosen Menschen aber und die Teufel in die Hölle und zu ewiger Strafe verdammen wird. Deshalb werden die Wiedertäufer48 verworfen, die lehren, dass die Teufel und die verdammten Menschen nicht ewige Pein und Qual haben werden. tionszeit wörtlich als Aufforderung zum Aufgeben alles irdischen Besitzes und aller sozialen Bindungen verstanden wurden. 46. Der Begriff »Stand« geht davon aus, dass es bestimmte Einrichtungen und Ordnungen gibt, durch die bestimmten Personen Aufgaben und Pflichten, damit aber auch Rechte zugewiesen sind (Ämter in diesem Sinne); diese Rechte und Pflichten werden auf göttliche Einrichtung zurückgeführt. Diese Ständelehre wurde in der späteren reformatorischen Orthodoxie systematisiert; man unterschied beispielsweise den status oeconomicus (Hausstand mit Hausväteramt), den status ecclesiasticus (kirchliche Ämter) und den status politicus (staatliche Ämter). 47. Der weltliche Beruf, d. h. die Aufgaben und Verpflichtungen, die dem Menschen in seiner sozialen Rolle zuwachsen, ist nach den Reformatoren der eigentliche Ort, an dem das Handeln der Liebe, zu dem die Christen bestimmt sind, konkret wird. Vgl. Art. 26. 48. Eine Allversöhnungslehre, die davon ausging, dass letztlich auch der Teufel noch versöhnt wird, wurde beispielsweise von Origenes vertreten.

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Art. XVIII: Vom freien Willen

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Desgleichen werden hier auch einige auch jüngst wieder aufgetretene jüdische Lehren verworfen, dass vor der Auferstehung der Toten völlig Heilige und Gottesfürchtige ein weltliches Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden.

Der achtzehnte [Vom freien Willen]. Vom freien Willen wird folgendermaßen gelehrt: dass der Mensch in gewissem Maß einen freien Willen hat, nach dem er äußerlich ehrbar leben und unter den Dingen wählen kann, die die Vernunft begreift; aber ohne die Gnade, Hilfe und Wirkung des Heiligen Geistes vermag der Mensch nicht Gott wohlgefällig werden, [kann nicht] Gott herzlich fürchten, lieben oder glauben oder die angeborenen bösen Lüste aus dem Herzen werfen. Sondern das geschieht durch den Heiligen Geist, der durch Gottes Wort gegeben wird. Denn Paulus spricht in 1 Kor 2[,14]: »Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes.« Und damit erkennbar wird, dass damit nichts Neues gelehrt wird, so sind dies die klaren Worte Augustins, die hier aus dem dritten Buch des Hypognosticon49 beigefügt sind: »Wir bekennen, dass in allen Menschen ein freier Wille ist; denn sie haben schließlich alle einen natürlich angeborenen Verstand und Vernunft, nicht, dass sie etwas mit Bezug auf Gott tun könnten, wie: Gott von Herzen zu lieben, zu fürchten, sondern allein in den äußerlichen Vollzügen dieses Lebens haben sie die Freiheit, Gutes oder Böses zu wählen. Mit »Gutes« meine ich das, was die Natur vermag, wie auf dem Acker zu arbeiten oder nicht, zu essen, zu trinken, zu einem Freund zu gehen oder nicht, ein Kleid an- oder auszuziehen, zu bauen, zu heiraten, ein Handwerk zu treiben oder ähnliches Nützliches und Gutes zu tun. Und doch ist und besteht das alles ohne Gott nicht, sondern alles ist aus ihm und durch ihn. Umgekehrt kann der Mensch auch Böses aus eigener Wahl unternehmen, wie vor einem Abgott niederzuknien, einen Totschlag zu verüben etc.« Hier werden diejenigen verworfen, die lehren, dass wir Gottes Gebote ohne die Gnade und [ohne den] Heiligen Geist einhalten kön49. Das »Hypognosticon« ist eine fälschlich Augustin zugeschriebene antipelagianische Schrift; zitiert wird Buch III, 4,5 (PL 45, 1623).

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nen, denn wenn wir zwar aufgrund unserer Natur äußerliche den Geboten entsprechende Werke zu tun vermögen, so können wir doch die erhabenen Gebote im Herzen nicht ausführen, nämlich: Gott wahrhaftig fürchten, ihn lieben, Gott glauben etc.

Der neunzehnte [Die Ursache der Sünde]. Vom Ursprung der Sünde wird bei uns gelehrt: Wiewohl Gott der Allmächtige die ganze Natur erschaffen hat und erhält, so wirkt doch der verkehrte Wille die Sünde in allen bösen Menschen und Verächtern Gottes, wie der Wille des Teufels und aller Gottlosen ist, der, sobald Gott seine Hand abzog, sich von Gott zum Bösen gewandt hat, wie Christus in Joh 8[,44] sagt: »Der Teufel redet Lügen von seinem Eigenen.«

[Der zwanzigste] Vom Glauben und guten Werken.50 Den Unsrigen [Theologen] wird zu Unrecht nachgesagt, dass sie gute Werke verbieten. Denn ihre Schriften über die Zehn Gebote51 und andere [Texte] beweisen, dass sie die rechten christlichen Stände und Werke gut und nutzbringend dargestellt und dazu ermahnt haben; davon hat man vor dieser Zeit wenig gelehrt, sondern meistens in allen Predigten zu kindischen und unnötigen Werken, wie Rosenkranz[gebet], Heiligenverehrung, Übernahme des Mönchgelübdes, Wallfahrten, von Menschen auferlegte Fastengebote, Feiertage, Bruderschaften, Ablass angehalten. Solche unnötigen Werke hält nun auch die Gegenseite nicht mehr so hoch wie zuvor, obwohl sie dennoch ihre Irrtümer nicht eingestehen, sondern sie wagen es, diese [Irrtümer] zu vertreten zur Unterdrückung der heilsamen und tröstlichen Lehre vom Glauben und um die Ehre unseres Herrn Christus zu schmälern.

50. Die Überschriften der Artikel 20 und 22–28 finden sich auch in den frühen Ausgaben, allerdings ohne Artikelzählung, die daher im Folgenden in eckige Klammern gesetzt ist. 51. Neben den (zur Zeit der Abfassung der CA noch nicht lang erschienenen) Katechismen wären Luthers »Sermon von den guten Werken« (1520), aber auch weitere reformatorische Gebotsauslegungen zu nennen.

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Weil aber diese Lehre vom Glauben, die das Hauptstück der christlichen Lehre ist, wie man zugestehen muss, lange Zeit nicht behandelt und nicht gepredigt, sondern viel falscher Gottesdienst dagegen eingerichtet worden ist, so hat unsere Seite die folgende Darstellung gegeben:

Wo Glaube ist und was der Glaube sei. Unser Herr Christus hat sein Evangelium in eine richtige und knappe Kurzfassung zusammengefasst, nämlich dass man Buße und Vergebung der Sünde lehren soll in seinem Namen [Lk 24,47]. Die Predigt von der Buße verurteilt die Sünde. Wer nun wegen seiner Sünde vor Gottes Zorn erschrickt, dem predigt das Evangelium auch die Vergebung der Sünde um Christi willen, aus Gnade, ohne unser Verdienst. Diese Vergebung wird allein durch den Glauben erlangt, wenn wir glauben, dass Gott uns um Christi willen unsere Sünde vergeben und gnädig sein will [vgl. CA 4]. So lehrt nun unsere Seite, dass wir durch den Glauben an Christus Vergebung der Sünde erlangen und nicht durch unsere vorangehenden oder folgenden Werke verdienen, sondern Vergebung allein aus Barmherzigkeit um Christi willen empfangen, und dass wir allezeit, auch wenn wir gute Werke haben, glauben sollen, dass wir um Christi willen vor Gott gerecht betrachtet werden, nicht aus dem Verdienst unserer Werke, denn wir können ja Gottes Gesetz selbst nicht erfüllen. Dies ist ein reicher, gewisser Trost für alle einfachen und erschrockenen Gewissen, und es ist klar in der Heiligen Schrift begründet und dargestellt, ja es ist der wichtigste Artikel des Evangeliums. Denn Paulus spricht im 2. Kapitel des Epheserbriefes [V. 8f] folgendermaßen: »Aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben, und dasselbe nicht aus euch, sondern es ist Gottes Gabe, nicht aus Werken, damit sich niemand rühme«; und Röm 4[,16 spricht er]: »darum müsse die Gerechtigkeit durch den Glauben uns aus Gnade kommen, damit die Verheißung fest bleibe« – das bedeutet: Wenn wir um unserer Werke willen Vergebung der Sünde empfangen sollten, so wären wir allezeit ungewiss, ob wir die Vergebung erlangt hätten. Denn wir finden allezeit Fehler an unseren Werken und müssten darum zweifeln, ob wir wirklich genug getan hätten. So würde die Verheißung

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hinfällig und unnütz werden, wenn sie auf unser Werk gebaut wäre, und das Gewissen könnte niemals zu Frieden und zur Ruhe kommen, wenn wir um unserer Werke willen gerecht sein müssten. Darum sollen wir allezeit, auch wenn wir nun neu geboren sind und gute Werke tun, als Mittler Christus behalten und glauben, dass Gott uns gnädig sei und uns als gerecht betrachte nicht deshalb, weil wir das Gesetz erfüllen, sondern um Christi willen, durch den uns zugesagt ist, dass uns Gott um seinetwillen [d. h. um Christi willen] gnädig sein wolle. Darum schreibt Paulus weiter in Röm 5[,1]: »Wenn wir nun durch den Glauben als gerecht betrachtet werden, haben wir Frieden mit Gott, und durch den Glauben haben wir Zugang zu Gott« etc., und die Schrift ist voll von solchen Sprüchen. Unerfahrene Menschen verachten und verfolgen diese Lehre, denn die Welt weiß von keiner anderen Gerechtigkeit als allein von der aus der Erfüllung des Gesetzes und aus einem vernünftigen Leben stammenden; sie weiß nicht, wie das Gewissen Gott gegenüber und im Gericht Gottes bestehen soll. Und doch, wenn Gott die Gewissen straft und erschreckt, dann nehmen diejenigen, die die Lehre vom Glauben und von Christus nicht kennen, die Sache in Angriff, suchen Werke und wollen mit eigenen Werken Gottes Zorn versöhnen und ewiges Leben erlangen; die einen laufen ins Kloster, die anderen verfallen darauf, die Messe zu halten,52 und es wird ein Werk nach dem anderen erfunden, um Gottes Zorn zu versöhnen. Das ist schlichte Blindheit und Verachtung Christi, und es verfallen die Herzen immer weiter in große Ungeduld Gott gegenüber, bis sie zuletzt ganz verzweifeln. Diesem Irrtum widersprechen wir gemäß dem Evangelium und stellen dagegen die Lehre vom Glauben, dass das Gewissen sich getrost darauf verlassen soll, dass wir Vergebung der Sünde ohne unser Verdienst um Christi willen haben und dass es eine Ehrverletzung Christus gegenüber sei, wenn wir eigene Werke suchen, um dadurch die Gnade Gottes zu verdienen. Und weil dieser Artikel die Ehre Christi und diesen hohen Trost der Gewissen betrifft, ist es notwendig, dass diese Lehre ernsthaft in der Christenheit behandelt wird. 52. Gemeint ist die Messe, die als gnadenwirksames Werk verstanden wird; diese Gnadenwirkungen können nach vor- und außerreformatorischem Verständnis anderen – auch Toten – zugewendet werden.

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Daraus ist auch zu entnehmen, wo Glaube ist und was wir »glauben« nennen. Denn wo kein Schrecken ist vor dem Zorn Gottes, sondern Freude am Leben in der Sünde, da ist kein Glaube. Denn Glaube soll die erschrockenen Herzen trösten und lebendig machen. Darum sagt auch Jesaja [Jes 57,15], Gott wolle in erschrockenen Herzen Wohnung nehmen. Darum ist es leicht, zu antworten, wenn manche sagen: Wenn der Glaube gerecht mache, dann sei es nicht notwendig, gute Werke zu tun. Dagegen lehren wir, dass diejenigen, die an ihren Sünden Freude haben und in ihrem Leben in der Sünde fortfahren, keinen Glauben haben. Denn wo kein Schrecken vor Gottes Zorn ist, da ist auch kein Glaube. So ist auch das Argument leicht aufzulösen, dass jemand sagt, dass die Teufel auch glauben, aber dabei nicht gerecht sind. Die Antwort darauf: »Glauben« heißt hier nicht, nur die Berichte zu kennen, sondern es heißt, diesen Artikel zu glauben: Vergebung der Sünde. Diesen Artikel glauben die Teufel und die Gottlosen nicht. Somit heißt »glauben« hier: im Schrecken des Gewissens sich getrost auf Gottes Zusage verlassen, dass er um Christi willen gnädig sein wolle. Und dass »glauben« folgendermaßen verstanden werden muss: nicht allein die Berichte zu kennen, sondern Gottes Verheißung zu ergreifen, das lehrt Paulus ganz eindeutig in Röm 4[,16], wo er sagt: »Darum wird man gerecht durch den Glauben, damit die Verheißung nicht unwirksam werde.« Darum will er, dass man durch den Glauben die Verheißung Gottes ergreifen soll. So schreibt auch Augustinus, dass man den Glauben so verstehen muss, wie wir davon reden.

Dass man gute Werke tun soll und muss, und wie man sie tun kann, und in welchem Sinne sie Gott wohlgefällig sind. Solcher Glaube, wenn er das erschrockene Herz tröstet, empfängt den Heiligen Geist; dieser fängt an, in denjenigen, die Gottes Kinder geworden sind, zu wirken, wie Paulus in Röm 8[,14] schreibt: »Dies sind Kinder Gottes, welche der Geist Gottes leitet.« So wirkt nun der Heilige Geist Erkenntnis der Sünde und Glaube, so dass wir die hohe und große Barmherzigkeit, die in Christus zugesagt ist, immer klarer erkennen und fester glauben und ewigen Trost und Leben daraus schöpfen. Darüber hinaus wirkt der Heilige Geist auch andere Tugenden, nämlich diejenigen, die Gott in den Zehn Geboten vorgeschrieben

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hat: Gott zu fürchten, zu lieben, zu danken, anzurufen, zu ehren, den Nächsten zu lieben, geduldig, keusch zu sein, die Obrigkeit als Gottes Ordnung zu erkennen und zu ehren etc.; denn wir lehren, dass wir Gottes Gebote, die uns auferlegt sind, tun sollen und müssen. Dazu lehren wir aber auch, wie man sie tun könne, und auch, wie sie Gott gefallen. Denn wenn auch die Menschen durch eigene, natürliche Kräfte äußerliche, ehrenhafte Werke zum Teil zu tun vermögen, so kann doch das Herz Gott nicht lieben, wenn es nicht zuvor glaubt, Gott wolle ihm gnädig sein. Dazu sind die Menschen außerhalb von Christus und ohne den Glauben und den Heiligen Geist in der Gewalt des Teufels, der sie auch zu mancherlei offensichtlichen Sünden treibt. Darum lehren wir zuerst vom Glauben, durch den der Heilige Geist gegeben wird, und [lehren], dass Christus uns hilft und gegen den Teufel schützt. Wenn dann das Herz weiß, dass uns Gott gnädig sein und uns erhören will um Christi willen, dann kann es Gott lieben und anrufen. Und wenn es weiß, dass uns Christus stärken und helfen will, so wartet es auf diese Hilfe, verzagt nicht im Leiden und widerstrebt dem Teufel. Darum sagt Christus: »Ohne mich könnt ihr nichts tun« [Joh 15,5]. Deshalb kann der, der nicht richtig vom Glauben lehrt, auch nicht nutzbringend von den Werken lehren, denn ohne die Hilfe Christi kann man ja Gottes Gebote nicht halten, wie klar zu sehen ist an den Philosophen, die sich aufs Höchste bemüht haben, recht zu leben, und dennoch in große Laster gefallen sind. Denn die menschliche Vernunft und Kraft ohne Christus ist viel zu schwach gegenüber dem Teufel, der sie zur Sünde treibt. Weiter lehren wir auch, wie die guten Werke Gott gefällig sind, nämlich nicht deshalb, weil wir Gottes Gesetz genugtun; denn abgesehen von dem einen Christus hat kein Mensch Gottes Gesetz je Genüge getan. Sondern die Werke gefallen deshalb, weil Gott die Person angenommen hat und sie als gerecht betrachtet um Christi willen. Um seinetwillen vergibt er uns unsere Fehler, die auch in den Heiligen noch bleiben. Darum soll man nicht darauf vertrauen, dass wir nach der Wiedergeburt gerecht sind unserer Reinheit wegen oder deshalb, weil wir das Gesetz erfüllen, sondern man soll auch dann Gott den Mittler Christus vorhalten und daran festhalten, dass Gott uns um Christi willen gnädig sei und dass unsere Werke der Barmherzigkeit bedürfen und [von sich aus] nicht so wertvoll sind, dass Gott sie als Gerechtigkeit annehmen müsse und uns dafür das Ewige

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Art. XXI: Von der Heiligenverehrung

Leben schuldig sei, sondern dass sie Gott deshalb gefallen, weil er der Person gnädig ist um Christi willen. Dass er aber der Person gnädig sei, ergreift ein jeder allein durch den Glauben. Daher gefallen Gott gute Werke allein in den Gläubigen, wie auch Paulus lehrt: »Was nicht aus Glauben geschieht, das ist Sünde« [Röm 14,23]; d. h.: Wenn das Herz im Zweifel ist, ob Gott uns gnädig sei, ob er uns erhöre, und es dann in diesem Zorn gegenüber Gott hingeht und Werke tut, so sind das doch Sünden, wie köstlich sie auch scheinen mögen, denn das Herz ist unrein; darum können die guten Werke ohne den Glauben Gott nicht gefallen, sondern das Herz muss zuvor mit Gott im Frieden sein, und [dem Evangelium] entnehmen, dass Gott sich unser annehme, dass er uns gnädig sei, uns als gerecht betrachte nicht wegen unseres Verdienstes, sondern um Christi willen aus Barmherzigkeit. Das ist die richtige christliche Lehre von den guten Werken.

Der einundzwanzigste [Von der Heiligenverehrung]. Von der Heiligenverehrung lehren unsere Theologen, dass man der Heiligen gedenken soll, um unseren Glauben zu stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren ist, und auch, wie ihnen durch den Glauben geholfen wurde; zudem, dass man sich ihre guten Werke zum Vorbild nehme, ein jeder in seiner ihm zugewiesenen Lebensaufgabe; so kann die Kaiserliche Majestät unter Wahrung ihrer Seligkeit und nach Gottes Willen dem Vorbild Davids folgen und Krieg gegen den Türken53 führen. Denn beide haben sie das Amt des Königs inne, das zum Schutz und Schirm ihrer Untertanen verpflichtet. 53. Gemeint ist natürlich das Osmanische Reich, siehe oben Anm. 2. Die Gefährdung durch das Osmanische Reich war einer der Gründe für die Ausschreibung des Reichstags (vgl. oben Vorrede): Der Kaiser brauchte die finanzielle und militärische Unterstützung der Reichsstände. Der Vorwurf der politisch-militärischen Unzuverlässigkeit hing der reformatorischen Lehre spätestens mit den 404 Artikeln des Ingolstädter Professors und Reformationsgegners Johannes Eck an, die kurz vor dem Beginn des Reichstags in Augsburg publiziert wurden und in denen er unter anderem Zitate aus Schriften reformatorischer Theologen bot, die das Recht der Obrigkeit, das Schwert zu führen, in Frage zu stellen schienen.

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Man kann aber nicht mit der Schrift belegen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll; »denn es ist allein ein einziger Versöhner und Mittler zwischen Gott und die Menschen gesetzt, Jesus Christus«, 1 Tim 2[,5]; »der der einzige Heiland ist, der einzige Hohepriester, Gnadenstuhl54 und Fürsprecher vor Gott«, Röm 8[,34]. Und der allein hat zugesagt, dass unser Gebet um seinetwillen erhört werden soll. Das ist nach der Schrift auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen selben Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft, 1 Joh 2[,1]: »So jemand sündigt, haben wir einen Fürsprecher bei Gott, der gerecht ist, Jesus Christus usw.«

Schluss des ersten Teils Das ist fast vollständig die Lehre, die in unseren Kirchen zu rechtem christlichem Unterricht und zum Trost der Gewissen, auch zur Besserung der Gläubigen gepredigt und gelehrt wird; wie wir denn auch unsere eigenen Seelen und Gewissen nicht vorsätzlich vor Gott durch den Missbrauch des göttlichen Namens oder Wortes in höchste und größte Gefahr setzen wollten oder unseren Kindern und Nachkommen eine andere Lehre als diejenige, die dem reinen göttlichen Wort und der christlichen Wahrheit gemäß ist, weitergeben oder vererben. Wenn denn diese [Lehre] in Heiliger Schrift klar gegründet und zudem der allgemeinen christlichen, ja auch der römischen Kirche, soweit den Schriften der Väter zu entnehmen ist, nicht zuwider noch entgegen ist, so sind wir auch der Meinung, dass unsere Widersacher in den oben aufgeführten Artikeln nicht uneinig mit uns sind. Deshalb verfahren diejenigen ganz unfreundlich, vorschnell und gegen alle christliche Einigkeit und Liebe, die sich ohne tragfähigen Grund in göttlichem Gebot oder Schrift zum Ziel setzen, die Unseren dieser Lehre wegen als Ketzer auszustoßen, zu verwerfen und zu meiden. Wenn denn nun bezüglich der Hauptartikel nichts offenkundig Unbegründetes oder ein Mangel vorliegt und dies unser Bekenntnis

54. Gnadenstuhl ist eigentlich ein kunstgeschichtlicher Darstellungstypus der Trinität, in dem der auf einem Thron sitzende Gott Vater den am Kreuz hängenden Sohn dem Betrachter darbietet; zwischen beiden ist der Geist in Gestalt einer Taube dargestellt. Hier geht es in Aufnahme von Röm 8,34 und Hebr 4,16 um das Sitzen Jesu »zur Rechten Gottes« und seine Fürsprache für die Kirche (ebd. und Hebr 7,25).

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Art. XXII: Von beiderlei Gestalt des Sakraments

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gottgemäß und christlich ist, so sollten sich die Bischöfe billigerweise – wenn denn bei uns ein Mangel bezüglich der [menschlichen] Tradition wäre – gelinder zeigen, wiewohl wir hoffen, einen tragfähigen Grund und Ursache darzutun, warum bei uns einige [menschliche] Traditionen und Missbräuche geändert sind.

[Artikel, über die Uneinigkeit besteht – hier werden die Missbräuche aufgelistet, die in den evangelischen Territorien geändert wurden.] Da nun bezüglich der Artikel des Glaubens in unseren Kirchen nicht im Widerspruch zur Heiligen Schrift oder zur allgemeinen christlichen Kirche gelehrt wird, sondern nur einige Missbräuche geändert wurden, die zum Teil mit der Zeit [von] selbst eingerissen, zum Teil mit Gewalt eingerichtet worden sind, ist es notwendig, diese aufzuzählen und den Grund anzugeben, warum darin Änderungen geduldet sind, mit dem Ziel, Kaiserlicher Majestät zu verdeutlichen, dass darin nicht unchristlich oder frevelhaft gehandelt wurde, sondern dass wir durch Gottes Gebot, das angemessener Weise höher zu achten ist als alle [menschliche] Gewohnheit, genötigt sind, diese Änderungen zuzulassen.

[Art. 22]55 Von beiderlei Gestalt56 des Sakraments Den Laien werden bei uns beide Gestalten des Sakraments gereicht, und zwar aus dem Grund, dass Christus das heilige Sakrament zu diesem Gebrauch eingesetzt und angeordnet hat: Mt 26[,27]: »Trinket alle daraus.« Da spricht Christus mit klaren Worten von dem Kelch, dass sie alle daraus trinken sollen. Und damit niemand diese Worte bestreiten und so umdeuten könne, als stehe er [der Kelch] den Priestern allein zu, zeigt Paulus 1 Kor 11[,20–29] an, dass die ganze Ver55. Von hier an (und bei Art. 20) wechselt die Zählung; die Ms. und Drucke bieten Überschriften, aber ohne Artikelzählung. Diese wird nun in eckigen Klammern hinzugefügt. 56. Vgl. oben Anm. 32.

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sammlung der Korinthischen Kirche [das Abendmahl unter] beide[n] Gestalten gebraucht hat. Und dieser Brauch ist lange Zeit in der Kirche beibehalten worden, wie man durch die Kirchengeschichten57 und die Schriften der Väter beweisen kann. Cyprian58 erwähnt an vielen Stellen, dass seinerzeit den Laien der Kelch gereicht worden ist. So sagt der heilige Hieronymus, dass die Priester, die das Sakrament reichen, dem Volk das Blut Christi austeilen. So gebietet der Papst Gelasius59 selbst, dass man das Sakrament nicht teilen soll.60 Man findet auch nirgends eine Rechtssatzung,61 die gebietet, nur eine Gestalt zu nehmen. Es weiß auch niemand, wann oder durch wen diese Gewohnheit, nur eine Gestalt zu nehmen, eingeführt wurde. Nun ist es offensichtlich, dass eine solche Gewohnheit, die gegen die Einsetzung Christi und auch gegen die alten Rechtssätze eingeführt ist, unrecht ist. Deshalb war es unangemessen, diejenigen Gewissen, die verlangten, das Abendmahl gemäß der Einsetzung Christi zu gebrauchen, zu belasten und sie zu zwingen, gegen die Ordnung unseres Herrn Christus zu handeln. Und da die Teilung des Sakraments der Einsetzung Christi widerspricht, wird bei uns auch die übliche Prozession mit dem Sakrament [an Fronleichnam] unterlassen.

[Art. 23] Vom Ehestand der Priester Es ist bei jedermann, bei Angehörigen hohen und niederen Standes, eine unüberhörbare Klage laut geworden über die verbreitete Unzucht und das wüste Verhalten und Leben der Priester, die nicht imstande waren, das Keuschheitsgelübde zu halten, und es war mit solchen gräulichen Lastern auf die Spitze getrieben worden. Um so

57. Gemeint sind die antiken Darstellungen der Geschichte der Kirche etwa durch Euseb von Caesarea und deren Fortsetzung durch Sozomenos, Theodoret und Sokrates, die die »Historia tripartita« des Epiphanios Scholastikos und des Cassiodor (Anm. 71) im 6. Jh. zusammenfasste und ins Lateinische übersetzte. 58. Bischof von Karthago (gest. 258). 59. Papst Gelasius I. (gest. 498). 60. Zitiert wird Decretum Gratiani p. III, De consecratione, d. 2 c. 12. 61. Canon (lat.): Die Richtschnur, die Norm; bezieht sich auf das Corpus Iuris Canonici, die seit Gratian zusammengestellte, dem weltlichen »Corpus Iuris Civilis« entsprechende Rechtssammlung der mittelalterlichen Kirche.

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viel Hässliches und großes Ärgernis, Ehebruch und andere Unzucht zu vermeiden, sind einige Priester bei uns in den Ehestand getreten. Diese geben als Grund an, dass sie dazu die höchste Not ihrer Gewissen genötigt und gedrängt hat, weil doch die Schrift klar sagt, dass der Stand der Ehe von Gott eingesetzt sei, um die Unzucht zu vermeiden, wie Paulus sagt [1 Kor 7,2]: »Um die Unzucht zu vermeiden, habe jeder seine eigene Ehefrau«; und desgleichen: »Es ist besser, ehelich zu sein, als zu brennen.« [1 Kor 7,9]. Und wenn Christus sagt Mt 19[,11]: »Nicht alle verstehen das Wort«, da zeigt Christus (der wohl wusste, wie es um den Menschen steht) an, dass nur wenige Leute die Gabe haben, keusch zu leben. »Denn Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen«, Gen 1[,27]. Ob es nun in menschlichem Vermögen und Kraft steht, ohne eine besondere Gabe und Gnade Gottes, durch eigenen Vorsatz oder Gelübde, das Geschöpf Gottes, der höchsten Majestät, besser zu machen oder zu verändern, hat die Erfahrung allzu klar gezeigt. Denn welch gutes, welch ehrbares, züchtiges Leben, welch christlicher, ehrlicher, redlicher Lebenswandel bei vielen daraus folgte, und welch gräuliche, schreckliche Unruhe und Qual ihrer Gewissen viele deshalb an ihrem letzten Ende hatten, ist am Tag, und viele haben es selbst bekannt. Weil denn Gottes Wort und Gebot durch kein menschliches Gelübde oder Gesetz geändert werden kann, haben aus diesen und anderen Ursachen und Gründen die Priester und andere Geistliche Ehefrauen genommen. So ist es auch aus den Kirchengeschichtsdarstellungen und aus den Schriften der Kirchenväter zu beweisen, dass es in der christlichen Kirche früher gebräuchlich war, dass die Priester und Diakone Ehefrauen hatten. Darum sagt Paulus in 1 Tim 3[,2]: »Ein Bischof soll unsträflich sein, Mann einer Frau.« Es sind auch in Deutschland erst vor 400 Jahren die Priester vom Ehestand mit Gewalt zum Gelübde der Keuschheit genötigt worden, und sie haben sich dem alle widersetzt, und zwar so entschieden und konsequent, dass ein Erzbischof zu Mainz, der das einschlägige päpstliche Edikt verkündigt hatte, beinahe in einem Aufruhr der gesamten Priesterschaft im Gedränge umgebracht worden wäre.62 Und das Gebot ist ganz am Anfang so voreilig und

62. Bezieht sich auf Siegfried I. von Mainz 1075.

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unschicklich eingeführt worden, dass der Papst in dieser Zeit den Priestern nicht nur eine künftige Ehe verboten hat, sondern auch die Ehe derjenigen, die schon lange verheiratet waren, aufgehoben hat, was doch nicht nur gegen alles göttliche, natürliche und weltliche Recht ist, sondern auch den Rechtssätzen, die die Päpste selbst aufgestellt haben, und den berühmtesten Konzilien völlig widerspricht und mit ihnen unvereinbar ist. Zudem kann man von vielen hohen, gottesfürchtigen und verständigen Menschen oft die Meinung und die Ansicht hören, dass solcher aufgezwungener Zölibat und Entzug des Ehestandes, den Gott selbst eingesetzt und freigestellt hat, niemals etwas Gutes, sondern viel große und schlimme Laster und viel Arges eingeführt habe. Es hat auch einer der Päpste, Pius II., selbst, wie seine Biographie zeigt, folgende Worte oft gesagt und als von ihm stammend schreiben lassen: es möge wohl einige Gründe geben, warum den Geistlichen die Ehe verboten sei; es gebe aber viel höhere, größere und wichtigere Gründe, ihnen die Ehe wieder zu erlauben.63 Zweifellos: Papst Pius hat dies Wort als ein verständiger, weiser Mann aus gründlicher Überlegung gesprochen. Daher wollen wir uns untertänigst an die Kaiserliche Majestät wenden im Vertrauen darauf, dass Eure Majestät gnädig bedenken werden, dass jetzt in den letzten Tagen und Zeiten, von denen die Schrift spricht, die Welt immer schlechter und die Menschen anfälliger und schwächer werden. Daher ist es wohl sehr notwendig, nützlich und christlich, dies gründlich einzusehen, damit, wo der Ehestand verboten ist, nicht ärgere und schändlichere Unzucht und Laster in den deutschen Landen einreißen. Denn nie wird jemand diese Sachen weiser oder besser ändern oder machen können als Gott selbst, der den Ehestand eingesetzt hat, um der menschlichen Schwäche zu helfen und der Unzucht zu wehren. Daher sagen die alten Rechtsvorschriften auch, dass man zeitweilig die Strenge und die Härte lindern und nachlassen muss, um der menschlichen Schwäche willen und um Ärgeres zu verhüten und zu vermeiden. Das wäre nun in diesem Falle auch gut christlich und von höchster Notwendigkeit. Was sollte denn auch der 63. Bartholomeo Platina, Liber de Vita Christi et Pontificum, Venedig 1518, 155v: »Sacerdotibus magna ratione sublatas nuptias maiori restituendas videri«.

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Ehestand der Priester und Geistlichen der allgemeinen christlichen Kirche schaden, gerade der Priester und anderer, die der Kirche dienen sollen? Es wird wohl in Zukunft an Priestern und Pfarrern Mangel geben, wenn dieses harte Verbot des Ehestandes länger währen sollte. Wenn nun dies – nämlich dass die Priester und Geistlichen heiraten dürfen – gegründet ist auf das göttliche Wort und Gebot, wenn dazu die Geschichtsbücher beweisen, dass die Priester einst geheiratet haben und wenn nun auch das Keuschheitsgelübde so viel hässlichen und unchristlichen Anstoß, so viel Ehebruch und schreckliche, unerhörte Unzucht und gräuliche Laster angerichtet hat, dass auch einige redliche unter den Domherren, auch einige Kurienherren in Rom dies oft selbst bekannt und unter Klagen darauf hingewiesen haben, dass solches Laster unter dem Klerus zu gräulich und übermächtig sei und Gottes Zorn erregen werde: So ist es ja beklagenswert, dass man den christlichen Ehestand nicht nur verboten, sondern an manchen Orten aufs strengste, als ob es eine große Übeltat wäre, zu strafen gewagt hat, wo doch Gott in der Heiligen Schrift den Ehestand in allen Ehren zu halten geboten hat. So ist auch der Ehestand in den kaiserlichen Rechtssatzungen und war in allen Herrschaftsgebieten, wo jemals Rechte und Gesetze bestanden, hoch gelobt. Nur in dieser Zeit beginnt man die Leute ohne Verschulden, allein um der Ehe willen, zu martern, sogar Priester, die man mehr als andere schonen sollte. Und das geschieht nicht nur gegen göttliches Recht, sondern auch gegen die kirchlichen Rechtssätze. Der Apostel Paulus nennt in 1 Tim 4[,1–3] die Lehre, die die Ehe verbietet, eine Teufelslehre. Und auch Christus selbst sagt in Joh 8[,44], der Teufel sei ein Mörder von Anfang an, was denn gut damit zusammenpasst, dass es freilich Teufelslehren sein müssen, die Ehe zu verbieten und es zu wagen, diese Lehre mit Blutvergießen durchzusetzen. Wie aber kein menschliches Gesetz Gottes Gebot ungültig machen oder ändern kann, so kann auch kein Gelübde Gottes Gebot ändern. Darum gibt auch der heilige Cyprian den Rat, dass die Frauen, die das Keuschheitsgelübde nicht halten können, heiraten sollen, und er schreibt in seinem 11. Brief Folgendes: »Wenn sie aber die Keuschheit nicht halten wollen oder können, dann ist es besser, dass sie heiraten, als dass sie durch ihre Lust ins Feuer fallen; und

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sollen sich gut vorsehen, dass sie den Brüdern und Schwestern kein Ärgernis bereiten.«64 Zudem verfahren auch alle kirchlichen Rechtssätze mit größerer Zurückhaltung und Nachsicht mit denen, die in der Jugend ein Gelübde abgelegt haben, wie denn der größere Teil der Priester und Mönche in der Jugend aus Unwissenheit in diesen Stand [der Ehelosigkeit resp. des Mönchtums] gekommen ist.

[Art. 24] Von der Messe Man legt den Unseren zu Unrecht zur Last, dass sie die Messe abgeschafft haben sollen. Denn es ist offensichtlich, dass die Messe – ohne dass wir uns selbst rühmen wollen – bei uns mit größerer Andacht und größerem Ernst gehalten wird als bei unseren Gegnern. So werden auch die einfachen Leute mit höchstem Eifer häufig über das Heilige Sakrament unterrichtet: wozu es eingesetzt und wie es zu gebrauchen sei, nämlich um die angefochtenen Gewissen damit zu trösten; dadurch wird das einfache Volk zur Kommunion und zur Messe hingeführt. So wurden auch an der Liturgie der Messe keine spürbaren Änderungen vorgenommen,65 außer dass an einigen Orten deutsche Gesänge neben den lateinischen gesungen werden, um das einfache Volk damit zu belehren und einzugewöhnen, zumal alle liturgischen Zeremonien in erster Linie dazu bestimmt sind, dass das einfache Volk daran lernt, was es von Christus wissen muss. Weil aber die Messe auf mancherlei Weise vor dieser [unserer] Zeit missbraucht worden ist, wie am Tag ist, dass ein Markt damit aufgemacht worden ist, dass man sie gekauft und verkauft hat und dass der größere Teil [der Messen] in allen Kirchen für Geld gehalten wurde. 64. Cyprian, Epistulae IV, 2 [im Text zitiert nach der Ausgabe des Erasmus als Brief 11] (PL 4, 378A = CSEL 3, 474). 65. In der Tat haben die Wittenberger Reformatoren für die gottesdienstliche Liturgie den Messkanon im Großen und Ganzen übernommen, allerdings die Passagen korrigiert bzw. uminterpretiert, die der Botschaft von der Rechtfertigung im Glauben und der den Gottesdienst bestimmenden Begegnung des Verheißungswortes und des Glaubens widersprachen – dazu gehören insbesondere die Passagen des Messkanons, die die Messe als Opfer (Christi mit der Kirche) auslegen.

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Art. XXIV: Von der Messe

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Solcher Missbrauch ist schon mehrmals, auch vor dieser Zeit, von gelehrten und frommen Leuten verurteilt worden. Als nun die Prediger bei uns davon gepredigt haben, sind die Priester an die schreckliche Drohung erinnert worden, die zu Recht einen jeden Christen bewegen soll, nämlich dass, wer das Sakrament unwürdig braucht, schuldig sei am Leib und Blut Christi [1 Kor 11,27]: darauf sind solche erkauften Messen und Winkelmessen,66 die bisher aus Zwang und um Geld und um der Gebühren willen gehalten wurden, in unseren Kirchen abgeschafft worden. Dabei ist auch der gräuliche Irrtum kritisiert worden, dass man nämlich gelehrt hat, unser Herr Christus habe durch seinen Tod nur für die Erbsünde Genugtuung geleistet und die Messe eingesetzt als Opfer für die anderen Sünden, und habe so die Messe zu einem Opfer gemacht für die Lebendigen und die Toten, um dadurch Gott zu versöhnen und für andere Vergebung der Sünde zu verdienen durch dieses Werk,67 auch wenn es durch Gottlose vollzogen wird.68 Daraus hat sich dann die wissenschaftliche Diskussion darüber ergeben, ob eine Messe, die für viele gehalten wird, genauso viel verdiene, wie wenn man für jeden eine besondere hielte. Daher kam es zu einer großen Menge unzähliger Messen, dass man mit diesem Werk bei Gott alles erlangen wollte, was man brauchte, und es ist daneben der Glaube an Christus und der rechte Gottesdienst vergessen worden. Darum wurde das Volk darüber belehrt – was auch zweifellos notwendig war –, dass man wisse, wie das Sakrament recht gebraucht wird. Und zwar erstens: dass es kein anderes Opfer für die Erbsünde und für alle anderen Sünden gebe als den einen Tod Christi, zeigt die Schrift an vielen Stellen. Denn so steht geschrieben im Brief an die Hebräer [9,26–28; 10,10.12–14], dass sich Christus einmal geopfert hat und dadurch für alle Sünden genuggetan hat. Es ist eine nie gehörte Neuigkeit in der Lehre der Kirche, dass Christi Tod nur für die 66. Winkelmessen ist die polemische reformatorische Bezeichnung für Messen, die nur der Priester, auch ohne Gemeindebeteiligung, abhält und bei der er allein kommuniziert; es kommt dabei auf den Vollzug des Opfers an, dessen Gnadenwirkungen einem Verstorbenen zugewendet werden können. 67. Die hier den Altgläubigen unterstellte Lehre, dass das neben das Kreuzesopfer tretende Messopfer Vergebung der Tatsünden erwerbe, ist so als offizielle Lehre der Kirche nie vertreten worden. 68. Dazu oben Anm. 37.

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Erbsünde und nicht auch für andere Sünden genuggetan haben sollte; deshalb ist zu hoffen, dass jeder versteht, dass dieser Irrtum nicht zu Unrecht kritisiert wurde. Zweitens lehrt der Heilige Paulus, dass wir vor Gott als gerecht angesehen werden durch den Glauben und nicht durch Werke [Röm 3,28]. Dem widerspricht ganz offensichtlich dieser Missbrauch der Messe, wenn man meint, durch dieses Werk Gnade zu erlangen; man weiß ja, dass man die Messe gebraucht, um dadurch die Vergebung der Sünde und alle Güter bei Gott zu erlangen – nicht allein der Priester für sich, sondern auch für die ganze Welt und für andere, Lebendige und Tote, und das durch das Werk, ex opere operato,69 ohne Glauben. Zum Dritten ist das heilige Sakrament eingesetzt, nicht um damit für die Sünde ein Opfer anzurichten – denn das Opfer ist zuvor schon geschehen –, sondern dass unser Glaube dadurch geweckt und die Gewissen getröstet werden, die durch das Sakrament hören, dass ihnen Gnade und Vergebung der Sünde durch Christus zugesagt ist. Daher verlangt dieses Sakrament den Glauben und wird ohne den Glauben vergeblich gebraucht. Weil nun die Messe nicht ein Opfer ist für andere, Lebende oder Tote, um deren Sünde wegzunehmen, sondern eine Gemeinschaft sein soll, in der der Priester und andere das Sakrament für sich empfangen, so wird es bei uns so gehalten, dass man an Festtagen, und auch sonst, wenn Mahlteilnehmer da sind, Messe hält und an diejenigen, die das [Abendmahl] begehren, austeilt. So bleibt bei uns die Messe in ihrem rechten Gebrauch, wie sie vorzeiten in der Kirche gehalten wurde, wie man beweisen kann aus dem Heiligen Paulus, 1 Kor 11[,20–29], dazu auch aus den Schriften vieler Väter. Denn Chrysostomus sagt, dass der Priester täglich dasteht und einige zur Teilnahme am Abendmahl auffordert, anderen aber verbietet, hinzuzutreten. Und auch die alten Sätze des kirchlichen Rechts zeigen an, dass einer das Amt wahrgenommen hat und an die anderen Priester und Diakone ausgeteilt hat. Denn so lauten die Worte im Kanon des Nizänum:70 Die Diakone sollen nach den Priestern der Ordnung gemäß das Sakrament empfangen vom Bischof oder Priester. 69. Siehe oben Anm. 37. 70. Can 18 des Konzils von Nizäa 325.

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Da man nun damit keine Neuerung vorgenommen hat, die in der Kirche vor alters nicht gewesen ist, und auch in den öffentlichen liturgischen Vollzügen keine spürbare Änderung geschehen ist und nur die anderen unnötigen Messen, die durch einen Missbrauch gehalten worden sind, neben der Gemeindemesse abgeschafft wurden, so sollte billigerweise diese Weise, die Messe zu halten, nicht als ketzerisch oder unchristlich verurteilt werden. Denn man hat früher auch in den großen Kirchen, in denen viel Volk war, auch an den Tagen, an denen das Volk sich versammelte, nicht täglich Messe gehalten, wie die Historia Tripartita des Cassiodor in Buch 971 anzeigt, dass man in Alexandria am Mittwoch und Freitag die Schrift gelesen und ausgelegt habe, und sonst [am Mittwoch und Freitag] alle Gottesdienste ohne die Messe gehalten habe.

[Art. 25] Von der Beichte Die Beichte ist durch die Prediger dieser [unserer] Partei nicht abgeschafft worden. Denn bei uns wird an dem Brauch festgehalten, das Sakrament denen nicht zu reichen, die nicht zuvor die Beichte abgelegt und die Absolution empfangen haben. Dabei wird das einfache Volk unermüdlich darin unterwiesen, wie tröstlich das Wort der Lossprechung sei und wie hoch die Lossprechung zu achten sei, denn sie sei nicht die Stimme oder das Wort des gegenwärtigen Menschen, sondern Gottes Wort, der die Sünde vergibt. Denn sie wird an Gottes Statt und aus Gottes Befehl gesprochen. Von diesem Befehl und von der Schlüsselgewalt,72 wie tröstlich und notwendig sie für die ange-

71. Cassiodor, Mönch und Gelehrter in Rom, gest. ca. 580, Mitverfasser der Historia tripartita (siehe oben Anm. 57). Historia tripartita IX, 38 (PL 69, 1155D). 72. »Macht der Schlüssel« – die »Schlüssel des Himmelreichs«, die nach Mt 16,19 dem Petrus übergeben werden und die mit der Gewalt zusammenhängen, mit Wirksamkeit für das Jüngste Gericht von der Sünde zu lösen oder an sie zu binden: »Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, das soll auch im Himmel los sein.« (Mt 16,19). Der Vers wurde als Übertragung der Vollmacht zur Wahrnehmung des sakramentalen Bußsakraments verstanden und gehört zu den zentralen Prärogativen, die der Papst als Nachfolger Petri für sich in Anspruch nimmt, die allerdings nach Mt 18,18 allen Jüngern (und in deren Folge nach röm.-kath. Verständnis den

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fochtenen Gewissen sei, wird mit großem Nachdruck gelehrt; dazu, dass Gott verlangt, dieser Lossprechung nicht weniger zu glauben, als wenn man Gottes Stimme vom Himmel hörte, und [dass Gott verlangt], uns dieser Lossprechung mit Gewissheit zu trösten und zu wissen, dass wir durch solchen Glauben Vergebung der Sünden erlangen. Von diesen notwendigen Lehrstücken haben zuvor die Prediger, die von der Beichte viel lehrten, nicht ein Wörtchen gesagt, sondern nur die Gewissen mit langen Aufzählungen der Sünden, mit Genugtuungen, mit Ablass, mit Wallfahrten und dergleichen gequält. Und viele unserer Gegner bekennen selbst, dass von dieser [unserer] Partei von der rechten christlichen Buße angemessener als lange Zeit zuvor geschrieben und abgehandelt worden sei. Und es wird von der Beichte so gelehrt, dass man niemanden drängen soll, die Sünde einzeln vollständig aufzuzählen.73 Denn das ist unmöglich, wie der Psalm sagt: »Wer kennt die Missetat?« [Ps 19,13]. Und Jeremia sagt: »Des Menschen Herz ist so böse, dass man es nicht auslernen kann.« [Jer 17,19]. Die arme menschliche Natur steckt so tief in Sünden, dass sie diese nicht alle sehen oder kennen kann; und sollten wir tatsächlich nur von denen losgesprochen werden, die wir aufzählen können, wäre uns wenig geholfen. Deshalb ist es nicht notwendig, die Leute zu drängen, die Sünden alle aufzuzählen. So haben es auch die Väter gehalten, wie man im Decretum Gratiani74 im ersten

Trägern des Bischofsamtes, nach evangelischem Verständnis allen Christen) übertragen wurde. 73. Die Pflicht zur vollständigen Aufzählung der begangenen Sünden – jedenfalls der von der Gnade Gottes ausschließenden Todsünden – ist nach röm.-kath. Verständnis die Voraussetzung für eine wirksame Lossprechung: Trienter Konzil sess 14, Sacrosancta oecumenica cap 5 (DH 1679–1683). Die Lehre bezüglich der vergessenen Sünden klärte das Trienter Konzil, das feststellte, dass die Vollständigkeit notwendig ist, dass aber trotz intensiven Bemühens vergessene Sünden in das Bekenntnis und die Lossprechung implizit inbegriffen sind; sie müssen aber ggf. bei der nächsten Beichtgelegenheit nachbenannt werden. 74. Der erste Teil des Corpus Iuris Canonici, zusammengestellt vom Bologneser Juristen Johannes Gratianus (gest. vor 1160), eine Sammlung von offiziellen kirchenrechtlichen Entscheidungen und Lösung der zwischen den Entscheidungen auftretenden Widersprüche (Concordia discordantium canonum – Harmonie der einander widersprechenden Normen), eingeteilt in 6 Bücher und »distinctiones – Abschnitte«, in denen jeweils Entscheidungen zu bestimmten Fragen zusammengeordnet sind.

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Abschnitt zur Buße findet, wo die Worte des Chrysostomus zitiert werden: »Ich sage nicht, dass du dich selbst öffentlich bloßstellen, noch vor einem anderen dich verklagen oder schuldig bekennen sollst, sondern folge dem Propheten, der sagt: Offenbare dem Herrn deine Wege [Ps 36,5 LXX]. Deshalb beichte Gott, dem Herrn, dem wahren Richter, bei deinem Gebet. Sage deine Sünde nicht mit der Zunge, sondern in deinem Gewissen.« Hier sieht man klar, dass Chrysostomus nicht dazu nötigt, die Sünden einzeln zu benennen und aufzuzählen. So lehrt auch die Glossa zu den Decreta in Abschnitt 575 über die Buße, dass die Beichte nicht durch die Schrift geboten, sondern durch die Kirche eingesetzt sei. Doch wird durch die Prediger dieser [unserer] Partei unermüdlich gelehrt, dass, obschon die vollständige Aufzählung der Sünden nicht notwendig ist, die individuelle Lossprechung [Einzelbeichte] zum Trost der erschrockenen Gewissen beibehalten werden soll. Eine solche Beichte ist auch dazu nützlich, dass man hört, wie die einfachen Leute im Glauben unterwiesen sind, und wo es nötig ist, sie besser zu unterweisen.

[Art. 26] Von der Unterscheidung der Speisen76 Vor Zeiten hat man so gelehrt, gepredigt und geschrieben, dass die Unterscheidung der Speisen und ähnliche Traditionen, die von Menschen eingesetzt sind, dazu dienen, dass man durch sie Gnade verdiene und für die Sünden genugtue, und dass es ein Dienst an Gott sei und Gott einen aufgrund dessen als gerecht betrachte. Aus diesem Grund hat man täglich neue Fasten, neue Zeremonien, neue Ordnungen und dergleichen erdacht und hat heftig und mit Nachdruck darauf gedrungen, als seien solche Dinge notwendiger Gottesdienst, und als ob man eine große Sünde beginge, wenn man es nicht hielte. Daraus ergab sich viel schädlicher Irrtum in der Kirche. 75. Glosse zum Decretum (Gratiani), die Kommentierung dieser Quelle des Kirchenrechts (siehe oben Anm. 61). 76. »Unterscheidung der Speisen« bezeichnet die Unterscheidung der während der Fastenzeit erlaubten von den nicht zugelassenen Speisen. Der Artikel erweitert den Sachbereich auf die Unterscheidung besonderer, nicht alltäglicher Zeiten oder auch geistlicher Stände und setzt sich daher mit der Unterscheidung des Geistlichen vom Profanen insgesamt auseinander.

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Zum ersten ist dadurch die Verheißung Christi und die Lehre vom Glauben verdunkelt worden, die uns das Evangelium mit großem Ernst vorhält, das mit Nachdruck darauf dringt, dass man das Verdienst Christi hochachte und wertschätze und wisse, dass der Glaube an Christus hoch und weit über alle Werke zu setzen sei. Deshalb hat der heilige Paulus heftig gegen das Gesetz des Mose und gegen die menschliche Tradition gekämpft, um uns zu lehren, dass wir vor Gott nicht gerecht werden aus unseren Werken, sondern allein durch den Glauben an Christus, dass uns Gott um Christi willen, ohne unser Verdienst, die Sünde vergibt und uns als gerecht betrachtet. Diese Lehre ist fast völlig verloschen dadurch, dass man gelehrt hat, mit Gesetzen, Fasten und dergleichen Vergebung der Sünde zu verdienen. Zweitens haben solche [menschlichen] Traditionen77 auch Gottes Gebot verdunkelt; denn man setzt diese [menschlichen] Traditionen weit über Gottes Gebot. Dies hielt man allein für christliches Leben: wer die kirchliche Festzeit so und so hielte, so und so betete, so fastete, so gekleidet wäre, das nenne man geistliches, christliches Leben. Daneben hielt man andere notwendige gute Werke für ein weltliches, ungeistliches Wesen, nämlich diejenigen, die jeder nach seinem Beruf zu tun schuldig ist, wie zum Beispiel, dass der Hausvater arbeitet, um Frau und Kind zu ernähren und zu Gottesfurcht zu erziehen, [dass] die Hausmutter Kinder gebiert und sie versorgt, [dass] ein Fürst und die Obrigkeit Land und Leute regiert etc. Solche Werke, die von Gott geboten sind, sollten ein weltliches und unvollkommenes Wesen sein; aber die [menschlichen] Traditionen sollten den glänzenden Ruf haben, dass sie allein heilige, vollkommene Werke hießen. Darum konnte solchen [menschlichen] Traditionen kein Maß oder Ende gesetzt werden. Drittens: Solche [menschlichen] Traditionen sind zu einer schweren Belastung der Gewissen geworden. Denn es war nicht möglich, alle [menschlichen] Traditionen zu halten, und es lebten doch die einfachen Leute in der Meinung, dies wäre ein notwendiger Gottes-

77. Im Original lat. »traditiones«, die für die Verfasser der CA »menschliche« Überlieferungen und nicht göttliches Gebot sind, das für sie nur aus der Schrift begründbar ist.

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dienst, und Gerson78 schreibt, dass viele damit in Verzweiflung verfallen sind, manche haben sich auch selbst umgebracht, weil sie keinen Trost gehört haben. Denn man sieht bei den Verfassern der Bußsummen79 und den Theologen, wie sehr die Gewissen verwirrt sind: Sie haben versucht, die menschlichen Traditionen zusammenzufassen, und haben maßvolle Regelungen80 gesucht, um den Gewissen zu helfen; sie haben so viel damit zu tun gehabt, dass darüber alle heilsame christliche Lehre von notwendigeren Dingen, etwa vom Glauben, vom Trost in ernsten Anfechtungen und dergleichen, niedergegangen ist. Darüber haben auch viele fromme und gelehrte Leute vor dieser Zeit sehr geklagt, dass solche [menschlichen] Traditionen viel Streit in der Kirche anrichten, und dass fromme Leute, dadurch gehindert, zur rechten Erkenntnis Christi nicht kommen konnten. Ja auch dem Augustin hat es missfallen, dass man die Gewissen mit so vielen [menschlichen] Traditionen beschwert, und daher leitet er dabei dazu an, dass man sie nicht für notwendige Dinge halten soll.81 Darum haben die Unseren nicht aus Frevel oder aus Verachtung der geistlichen Autorität heraus von diesen Dingen gelehrt, sondern die höchste Not hat es gefordert, [die Gläubigen] über die genannten Irrtümer zu unterweisen, die aus dem Missverständnis der menschlichen Traditionen erwachsen sind. Denn das Evangelium nötigt dazu, die Lehre vom Glauben in der Kirche zu treiben, die doch nicht verstanden werden kann, wenn man der Meinung ist, dass man durch eigene, selbstgewählte Werke die Vergebung der Sünde verdient. Und davon wird so gelehrt, dass man durch das Einhalten der genannten [menschlichen] Tradition nicht Gott versöhnen oder für die Sünde genugtun

78. Johannes Gerson, 1363–1429, scholastischer Theologe in Paris, Vertreter der Überordnung des Konzils über den Papst. 79. Gemeint ist die »Summa Angelica – die Summe des Angelus« oder die »Summa de casibus conscientiae – Summe der Gewissensdinge«, eine von dem 1495 verstorbenen Generalvikar der Franziskanerobservanten Angelus de Clavasio verfasste, alphabetisch geordnete enzyklopädische Bußtheorie. Weitere Bußsummen stammen beispielsweise von Raymund von Penyafort oder von Sylvester Prierias. 80. Gemeint ist die »aequitas« – die maßvolle, ausgleichende Regelung im Unterschied zur unnachsichtigen Durchsetzung des Rechts. 81. Gemeint ist vermutlich die pseudoaugustinische, weit verbreitete Schrift »De vera et falsa poenitentia« (PL 40, 1113–1130).

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kann oder Vergebung der Sünde verdienen kann. Und es soll deshalb auch kein zwingender Gottesdienst daraus gemacht werden, als könnte niemand ohne solche Traditionen vor Gott gerecht sein. Der Grund dafür wird aus der Schrift gezogen: Christus (Mt 15[,9]) entschuldigt die Apostel, als sie die gewohnheitsmäßigen Traditionen nicht eingehalten haben, und spricht dabei: »Sie ehren mich vergeblich mit menschlichen Geboten.« Da er dies einen »vergeblichen Dienst« nennt, kann er nicht notwendig sein. Und bald danach: »Was zum Mund eingeht, verunreinigt den Menschen nicht.« [Mt 15,11]. Desgleichen spricht Paulus Röm 14[,17]: »Das Himmelreich besteht nicht in Speise oder Trank« Kol 2[,16]: »Niemand soll euch richten mit Bezug auf Speise, Trank, Sabbat etc.« Apg 15[,10f] spricht Petrus: »Warum versucht ihr Gott, indem ihr das Joch auf die Hälse der Jünger legt, welches weder unsere Väter noch wir haben tragen können? Wir glauben vielmehr, durch die Gnade unseres Herrn Jesu Christi selig zu werden, gleichwie auch sie.« Hier verbietet Petrus, die Gewissen mit weiteren äußerlichen Zeremonien zu beschweren, es seien die des Mose oder anderer. Und 1 Tim 4[,1–3] werden solche [menschlichen] Traditionen »Teufelslehre« genannt, denn so lauten die Worte des Heiligen Paulus: »Der Geist aber sagt deutlich, dass in den letzten Zeiten einige vom Glauben abfallen werden und den irrenden Geistern und den Lehren der Teufel anhängen werden, [bewegt] durch diejenigen, die gleisnerische Lügner sind und ein Brandmal in ihrem Gewissen haben und verbieten, zu heiraten, und [schreiben vor], die Speisen zu meiden, die Gott [dazu] geschaffen hat, dass sie mit Danksagung von den Gläubigen genommen werden und von denen, die die Wahrheit erkannt haben.« Denn es ist der genaue Gegensatz zum Evangelium, solche Werke einzusetzen oder zu tun mit dem Ziel, dass man damit Vergebung der Sünden verdiene, oder als könne niemand ohne solche Dienste Christ sein. Dass man aber unsere Seite beschuldigt, sie verbiete Enthaltsamkeit und Zucht wie Jovinian,82 wird sich aus ihren Schriften widerlegen lassen. Denn sie haben allezeit vom heiligen Kreuz gelehrt, das die Christen schuldig sind zu leiden. Und dies ist die rechte, ernstliche und nicht erdichtete Zucht. 82. Asket, gest. vor 406, ein Kritiker einer auf die Askese gestützten Heiligkeitstheologie, mit dem sich der Kirchenvater Hieronymus auseinandersetzte.

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Außerdem wird gelehrt, dass ein jeder verpflichtet ist, sich mit leiblicher Übung, wie z. B. Fasten und anderer Mühe, so zu halten, dass er nicht Anlass zur Sünde gebe, nicht aber, dass er mit solchen Werken Vergebung der Sünde verdiene oder darum vor Gott als gerecht betrachtet wird. Und diese körperliche Übung soll nicht nur an einigen bestimmten Tagen, sondern beständig betrieben werden. Davon redet Christus Lk 21,[34]: »Hütet euch, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen.« Desgleichen: »Die Teufel werden nur ausgetrieben durch Fasten und Gebet« [Mk 9,29]. Und Paulus sagt, er kasteie seinen Leib und bringe ihn zu Gehorsam [1 Kor 9,27]; damit zeigt er an, dass die Enthaltsamkeit dazu dienen soll, nicht Vergebung der Sünde damit zu verdienen, sondern den Leib in Übung zu halten, dass er nicht an dem hindere, was jedem nach seinem Beruf zu vollbringen befohlen ist. Es wird also nicht das Fasten verworfen, sondern dies [verworfen], dass man daraus einen notwendigen Dienst für bestimmte Tage und Speisen, zur Verwirrung der Gewissen, gemacht hat. Es werden von dieser [unserer] Partei auch viele Zeremonien und menschlichen Traditionen beibehalten, wie z. B. die Ordnung der Messe und Feste etc., die dazu dienen, dass in der Kirche Ordnung gehalten wird. Daneben aber wird das Volk unterwiesen, dass wir um Christi willen durch den Glauben als gerecht betrachtet werden, nicht aufgrund dieser Werke, und dass man sie ohne Belastung des Gewissens halten soll, so dass, wenn man es ohne Ärgernis83 zu erregen unterlässt, man nicht zum Sünder wird. Diese Freiheit in äußerlichen Zeremonien haben auch die alten Väter gehalten, denn in der Ostkirche hat man das Osterfest zu einer anderen Zeit als in Rom gehalten. Und als einige diese Uneinheitlichkeit für eine Spaltung in der Kirche halten wollten, sind sie von anderen ermahnt worden, dass es nicht notwendig sei, in solchen [menschlichen] Gewohnheiten Gleichheit 83. »Ärgernis« ist hier der Anstoß, den ein Verhalten bei anderen erregt; der Begriff und seine Verwendung geht zurück auf die Stellungnahme des Paulus zum Essen des auf dem Markt verkauften Fleisches, das meistens aus dem Zusammenhang des Götzenkultes stammte, in Röm 14 und 1 Kor 10,14–22: Paulus rät dort denen, die ihre grundsätzlich bestehende Freiheit zum Essen in Anspruch nehmen wollen, dazu, auf die Schwachen Rücksicht zu nehmen, die an diesem Verhalten Anstoß nehmen und in ihrem Glauben Schaden nehmen könnten (Röm 14,13–23; 1 Kor 10,27–33).

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einzuhalten. Und Irenäus84 sagt: »Uneinheitlichheit im Fasten trennt nicht die Einigkeit des Glaubens«; wie auch im [Decretum Gratiani] Abschnitt 12 bezüglich dieser Uneinheitlichheit in den menschlichen Ordnungen geschrieben steht, dass sie der Einheit der Christenheit nicht entgegenstehe. Und die »Historia Tripartita«85 stellt in Buch 9 viele Beispiele uneinheitlicher Kirchengewohnheiten zusammen und überschreibt sie mit einem sehr nützlichen christlichen Spruch: »Die Absicht der Apostel ist es nicht gewesen, Feiertage einzusetzen, sondern Glaube und Liebe zu lehren.«

[Art. 27] Von den Klostergelübden Wenn man von den Klostergelübden reden will, ist es erstens notwendig, sich klarzumachen, wie man es bisher damit gehalten hat, wie sich das Leben in den Klöstern vollzogen hat, und dass darin täglich sehr viel nicht allein gegen Gottes Wort, sondern auch gegen die päpstlichen Rechte gehandelt worden ist. Denn zur Zeit des heiligen Augustin ist der Mönchsstand frei gewesen;86 in der Folgezeit, als die rechte Zucht und Lehre zerrüttet war, hat man Klostergelübde erfunden und damit wie mit einem erdachten Gefängnis die Zucht wiederum aufrichten wollen. Darüber hinaus hat man neben den Klostergelübden noch viele andere weitere Dinge erfunden und mit solchen Bindungen und Lasten viele, auch vor dem angemessenen Alter, beladen. So sind auch viele Personen aus Unwissenheit in ein solches Klosterleben geraten, die, wenngleich sie eigentlich nicht zu jung gewesen sind, doch ihre Fähigkeiten nicht hinreichend eingeschätzt und verstanden haben. Sie alle, so verstrickt und verwickelt, sind gezwungen und gedrängt worden, in diesen Bindungen zu bleiben, ohne Rücksicht darauf, dass auch das kirchliche Recht viele von ihnen freisetzt. Und mit den Jungfrauen ist noch strenger verfahren

84. Irenäus von Lyon (ca. 130–ca. 200). Zitiert bei Euseb, Kirchengeschichte V, 24,13 (Ed. Schwartz GCS 9, 494,24). 85. Siehe oben Anm. 57 und 71. Das Zitat: Hist. tripart. IX, 38 (PL 69, 1154A). 86. Gemeint: Ein Mönch hatte die Wahl, das zölibatäre Leben auf sich zu nehmen und es wieder abzulegen.

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worden als mit den Mönchen, wo es sich doch geziemt hätte, die Jungfrauen – als das schwächere Geschlecht – zu schonen. Dieselbe Strenge hat auch vielen frommen Menschen in vorangehenden Zeiten missfallen; denn sie haben wohl gesehen, dass man das junge, unerfahrene und ungelehrte Volk wegen ihres Lebensunterhalts in die Klöster gesteckt hat. Daraus folgte dann viel Sünde und Ärgernis, und die Gewissen sind in große Gefahr und Bindungen gefallen. Da haben viele Menschen geklagt über die Tyrannei der Mönche, die darin nicht nur kein Evangelium, sondern auch keine Rechtssatzungen hören wollten. Über diese Härten hinaus haben sie die Gewissen auch mit falscher Lehre verführt, dass nämlich ihr Klosterleben die Vergebung der Sünden verdienen sollte, der Taufe gleich sein sollte, christliche Vollkommenheit sein sollte, nicht allein Gottes Gebot erfülle, sondern darüber hinaus die evangelischen Räte87 einhalte; so rühmen sie das Klosterleben und stellen es viel höher als die Taufe und die übrigen äußerlichen, von Gott eingesetzten Stände, beispielsweise höher als die Obrigkeit, das Predigtamt, den Ehestand. Früher waren die Klöster Schulen, in denen man junge Leute in der christlichen Lehre und anderen nützlichen Wissenschaften erzogen hat, damit sie anschließend zur Kirchenleitung und zum Predigen Verwendung finden konnten. Aber jetzt machen sie eine ganz andere Sache daraus [indem sie behaupten], dass es ein Dienst an Gott, eine Gottesverehrung, ein Opfer für die Sünde sei, dass es christliche Heiligkeit und Vollkommenheit sei. Wie es aber die Mönche mit ihrem heiligen Leben, mit dem sie sich rühmen, [in Wirklichkeit] halten, das wollen wir aus Nachsicht beiseite lassen. Erstens aber wird bei uns von denjenigen, die sich aus dem Klosterleben in den Ehestand begeben haben, gelehrt, dass der Ehestand allen freistehen soll, die zu ewiger Keuschheit nicht geeignet sind. Denn kein Gelübde kann Gottes Ordnung und Gebot aufheben. Nun 87. Die »evangelischen Räte – consilia evangelica« sind nach vorreformatorischer und röm.-kath. Lehre – in Aufnahme von Mt 19,21 [»wenn du vollkommen sein willst …«] – über die Einhaltung der göttlichen Gebote hinausgehende Anweisungen Jesu, durch deren Befolgung ein Leben in der Vollkommenheit möglich ist, die aber nicht für jeden Christen verbindlich sind. Die mit den Mönchsgelübden übernommene Verpflichtung zu Keuschheit [Mt 19,11f], Armut [Mt 19,21] und Gehorsam sind solche »evangelischen Räte«.

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ist dies ein klares Gebot, dass, um Unzucht zu vermeiden, jeder seine eigene Ehefrau haben soll [1 Kor 7,2] Und nicht allein durch das Gebot, sondern auch durch die Natur und Gottes [Schöpfungs-]werk werden diejenigen zum Ehestand getrieben, denen Gott nicht die besondere Gabe der ewigen Keuschheit gegeben hat. Deshalb tun diejenigen, die sich in den Ehestand begeben, nicht Unrecht, weil sie Gottes Gebot und Ordnung folgen, nicht Unrecht. Was kann man nun dagegen sagen? Das Gelübde mag binden, wie es will, es kann doch Gottes Gebot nicht aufheben und darf nicht gegen Gottes Gebot binden; die Sätze kirchlichen Rechts lehren selbst, dass in allen Gelübden die übergeordnete Autorität ausgenommen sein soll, so dass kein Gelübde die Macht der Obrigkeit einschränken darf. Darum soll in diesen Gelübden auch die Autorität Gottes ausgenommen sein, so dass sie gegen Gottes Befehl nicht binden können. Wenn alle Gelübde binden sollten, dann hätten die Päpste auch keine Macht gehabt, Gelübde nachzulassen. Nun weiß man aber, dass die Päpste viele aus den Klöstern entlassen haben, wie den König von Aragon88 und andere; daraus folgt notwendig, dass manche Gelübde nicht verbindlich und keine rechten Gelübde sind. Weiter ist es nicht recht, dass man auf das Gelübde drängt und nicht zuvor überlegt, ob das [überhaupt] Gelübde sind oder nicht. Gelübde soll man mit Bezug auf rechtmäßige und mögliche Dinge eingehen, und es soll freiwillig geschehen. Nun steht aber ewige Keuschheit nicht in der Macht eines jeden; so weiß man auch, dass junge Leute zum Teil zum Klosterleben genötigt werden, zum Teil sich, weil sie unerfahren sind, aus Unverstand hineinbegeben; sie wussten nicht um ihre Unfähigkeit [zur Enthaltsamkeit] und haben auch nicht verstanden, ob ein solches Leben vor Gott wohlgefällig sei, oder nicht. Was nun aus Zwang oder Unkenntnis geschieht, das kann man nicht freiwillig geschehen nennen. Weil dies nun keine Gelübde sind, ist es gar nicht nötig, zu diskutieren, ob sie binden oder nicht binden. Denn wenn es keine Gelübde sind, so binden sie auch 88. Ramir II. (gest. 1147, König von Aragon 1134–1137), war ursprünglich Mönch, erhielt aber nach dem Tod seines Bruders Alfons I. eine Dispens zur Eheschließung (1135). Er kehrte nach der Geburt einer Tochter und nach der Regelung der Thronfolgefrage wieder ins Kloster zurück.

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nicht. Deshalb lassen auch Kirchenrechtssätze die Gelübde nach, die von Menschen abgelegt wurden, die noch nicht älter als fünfzehn Jahre waren, und zwar darum, weil in diesem Alter noch niemand seine Fähigkeit [zur Enthaltsamkeit] kennt. Und ein weiterer [Kirchenrechtssatz] ist noch milder, der verbietet, vor dem achtzehnten Lebensjahr Gelübde abzulegen. Durch diese Rechtssätze werden viele freigesprochen, die jetzt noch in Klöstern sind. So schreibt auch Augustin,89 dass man die Ehe derer, die zuvor Keuschheit gelobt haben, nicht trennen soll; denn auch wenn man jemanden strafen wollte dafür, dass die Gelübde gebrochen wurden, folgt daraus noch nicht, dass man auch die Ehe dieser Personen trennen muss. Obgleich nun Gottes Gebot über den Ehestand sehr viele Menschen von den Klostergelübden entbindet, so geben doch die Theologen unserer Seite noch weitere Gründe dafür an, dass die Klostergelübde unwirksam und nicht verpflichtend sind. Denn jeder Gottesdienst, der von den Menschen erfunden und erwählt wird, mit dem Ziel, dadurch Vergebung der Sünden zu verdienen, und [mit dem Ziel], dass Gott sie annehmen soll als Gerechtigkeit und uns darum gerecht zu schätzen und ewiges Leben zu geben schuldig sei – solche Werke und Stände, die in dieser Absicht eingehalten werden, sind gegen Gott. Denn Christus spricht [Mt 15,9]: »Sie ehren mich vergeblich mit Menschengeboten.« Und Paulus streitet nachdrücklich an vielen Stellen dafür, dass man Vergebung der Sünde nicht durch unser Werk und durch von uns gewählten Dienst an Gott erlangt, und dass auch niemand vor Gott als gerecht betrachtet wird aufgrund solcher erfundener Dienste an Gott, sondern dass wir Vergebung der Sünde um Christi willen haben, und dass wir auch um Christi willen als gerecht betrachtet werden, wenn wir denn glauben. Nun ist es am Tag, dass die Mönche gelehrt und dafür gehalten haben, dass ihre erfundenen Gelübde und ihr Dienst an Gott die Vergebung der Sünden verdienen sollten, dass sie damit für die Sünde genugtun, dass sie deshalb vor Gott als gerecht betrachtet werden. Was ist das nun anderes, als dass sie ihre Möncherei an die Stelle Christi setzen und die in Christus verheißene Barmherzigkeit verleugnen. Daraus folgt, dass solche Gelübde, die in dieser Meinung 89. Augustin, De bono viduitatis 9 (PL 40, 437f) nach Decr. Grat. p. II. C. 27. q. 1. c. 41.

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abgelegt wurden und festgehalten werden, nicht verbindlich sind; denn auch das Recht sagt, dass Gelübde nicht vincula iniquitatis sein sollen, das heißt: Sie sollen nicht zur Sünde verpflichten. Darum ist es angemessen, dass alle Gelübde, die gegen Gottes Weisung und Gebot sind, für ungültig erklärt werden. Der heilige Paulus sagt auch Folgendes [Gal 5,4]: »Wollt ihr gerecht werden durch das Gesetz, so seid ihr von Christus abgefallen, und habt die Gnade verloren.« Das heißt: Diejenigen, die sich vornehmen, mit eigenen Werken Vergebung der Sünde zu verdienen, und meinen, Gott zu gefallen um ihrer Werke und ihrer Gesetzeserfüllung willen, und die sich nicht fest darauf verlassen, dass sie allein aus Barmherzigkeit, durch den Glauben empfangen, dass sie auch um Christi willen Gott gefallen, nicht aufgrund ihrer eigenen Werke – die verlieren Christus, ja sie weisen ihn zurück; denn sie setzen ihr Vertrauen, das Christus allein gehört, auf ihre eigenen Werke; desgleichen: Sie halten ihre eigenen Werke gegen Gottes Zorn und Gericht, nicht den Mittler und Versühner Christus; darum rauben sie Christus seine Ehre, und geben sie ihren Orden. Denn das ist offensichtlich, dass die Mönche vorgeben, sie verdienten mit ihren Gelübden die Vergebung der Sünden und gefallen Gott um solcher Werke willen. Also lehren sie das Vertrauen auf die eigenen Werke, nicht auf Christi Versöhnung.90 Solches Vertrauen steht offensichtlich gegen Gott und erweist sich als vergeblich, wenn Gott richtet und das Gewissen erschreckt. Denn unsere Werke können nicht bestehen gegen Gottes Zorn und Gericht, sondern allein so wird Gottes Zorn versöhnt, wenn wir Gottes Verheißung ergreifen, die in Christus zugesagt ist, und glauben, dass uns Gott nicht um unserer Werke willen, sondern aus Barmherzigkeit um Christi willen gnädig sein wolle. Deshalb lehnen diejenigen, die auf ihre eigenen Werke vertrauen, Christus ab und wollen ihn nicht, denn sie wollen nicht auf ihn vertrauen. 90. Wörtlich: »versunung« – der reformatorische Sprachgebrauch unterscheidet nicht zwischen »Versöhnung« und »Sühne«, weil die Reformatoren den Tod Christi als Sühnetod verstehen und als die Weise betrachten, in der die Versöhnung des Menschen mit Gott zustande kommt. Daher der doppeldeutige Begriff »versunung«, den man strenggenommen mit »Versühnung« übertragen müsste. Gemeint ist aber »versöhnen«, wie der folgende Satz mit der Verwendung des Wortes im Zusammenhang einer Anspielung auf Röm 5,9f zeigt.

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Weiter rühmen die Mönche, dass ihre Orden die christliche Vollkommenheit seien, denn sie halten die Gebote und die Räte.91 Das bedeutet nun wirklich, auf Werke zu vertrauen! Und dieser Irrtum widerspricht aufs Höchste dem Evangelium, dass sie vorgeben, sie erfüllten das Gesetz Gottes so, dass kein Mangel mehr daran sei, ja dass sie noch etwas übrig haben, das sie dann als Genugtuung und Bezahlung anderen zuwenden; sie machen sich so selbst zu Christus und wollen durch ihre überzähligen Werke andere selig machen. Das bedeutet nun wirklich, Christus wegzuwerfen, denn wenn sie Gottes Gesetz erfüllen und ihm genugtun, brauchen sie Christus nicht und hat Gott an ihnen nichts zu strafen und zu richten. Darüber hinaus ist dies ein großer, schädlicher, heidnischer Irrtum, dass christliche Vollkommenheit in einer Lebensweise und in Werken besteht, die Menschen sich selbst erwählen, nämlich etwa in diesen äußerlichen Werken wie nicht zu heiraten, kein Eigentum zu haben, Gehorsam, oder besonderen Kleidern und Speisen. Zu diesen Dingen gibt es kein göttliches Gebot, sondern christliche Vollkommenheit besteht darin, mit Ernst Gott zu fürchten, und doch darauf zu vertrauen, dass wir um Christi willen einen gnädigen Gott haben, und in solchem Glauben zuzunehmen und ihn zu üben, Gott anzurufen, Hilfe von Gott zu erwarten in allen Sachen, und äußerlich gute Werke, die Gott geboten hat, zu tun, ein jeder nach seinem Beruf.92 In diesen Dingen besteht die christliche Vollkommenheit, nicht im ehelosen Stand, im Betteln, [Mönchs-]Kappen, Gürteln und dergleichen. Darum ist es ein schädliches Ärgernis in der Christenheit, mit diesen Orden einen eigenen Dienst an Gott anzurichten und denselben zu rühmen, dass man dadurch Vergebung der Sünden verdiene und dass diese Werke die Vollkommenheit vor Gott seien. Damit wird Christi Amt und Verheißung verdunkelt, denn die [einfachen] Leute werden dadurch von Christus zum Vertrauen auf die eigenen Werke abgewendet; dazu werden Gottes Gebote verdunkelt, wenn man solche falschen, erfundenen Werke neben und über Gottes Gebot setzt, indem man dies – nicht ehelich zu sein, kein Eigentum zu haben, die [Mönchs-]Kappe zu tragen – als ein engelglei91. Dazu oben Anm. 87. 92. Dazu oben zu Art. 16.

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ches Leben anpreist und dagegen die Stände, die von Gott geboten sind, herabsetzt, dass man sie als Sünde betrachtet oder als achte Gott solche Werke nicht, wie es denn vorgekommen ist, dass viele mit belastetem Gewissen im Stand der Ehe, in obrigkeitlichen Ämtern, in Eigentum und in einem Beruf gewesen sind nur darum, weil sie nicht unterrichtet waren, dass diese Stände und Werke von Gott angeordnet und recht sind; sie haben das Mönchsleben allein für eine hohe, christliche Heiligkeit gehalten. Daher haben viele, wie man liest, ihre Ehe und manche andere lobenswerte Ämter verlassen und haben das Mönchsleben übernommen. Daher ist es höchst notwendig, dass rechte Prediger die Leute eifrig lehren, dass christliche Vollkommenheit im Glauben besteht und in den Werken, die Gott geboten hat, nicht in der Möncherei und in Gelübden, die Gott nicht geboten hat. So hat auch Gerson vor dieser Zeit diejenigen kritisiert, die die Möncherei als christliche Vollkommenheit rühmen. Wo nun die Gelübde mit solch großen Irrtümern verbunden sind, nämlich: dass man durch eigene, erfundene Mönchswerke Vergebung der Sünde verdienen könnte; dass man darum vor Gott als gerecht betrachtet würde; dass sie Gottes Gesetz erfüllen; dass sei Gottes Gebot und die [evangelischen] Räte; dass sie überzählige Werke haben und [sie] anderen zuwenden, um für sie genugzutun – so kann jeder Einsichtige leicht urteilen, dass solche Gelübde, die mit so viel Irrtum abgelegt werden, nicht verbindlich und keine Gelübde sind.

[Art. 28] Von der Gewalt93 der Bischöfe Manche haben die geistliche und weltliche Gewalt höchst unangemessen ineinander gemengt, haben gelehrt, dass der Papst, aufgrund des Befehls Christi, ein Monarch und Herr über alle weltlichen Güter, 93. Es ist relativ schwierig, im folgenden Artikel die Begriffe »Macht«, »Gewalt« und »Herrschaft« korrekt zu übertragen. Alle Begriffe drücken eine Mischung zwischen Einflussnahme [Gewaltausübung], Befugnis [Vollmacht] und Herrschaftsbereich [Machtbereich] aus. Die Begriffe wurden im Wesentlichen so übernommen, wie sie im Original stehen; lediglich »Macht« wurde mit »Vollmacht« übertragen. Es ist aber zu beachten, dass der Begriff »Gewalt« gewöhnlich keine Konnotation von Unrechtmäßigkeit hat, sondern eine rechtmäßige Befugnis ausdrückt.

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Königreiche und Herrschaften sein soll und die Befugnis habe, den König einzusetzen und abzusetzen. Und es sind häufig Kriege daraus entstanden, dass die Päpste Kaiser und andere Könige haben absetzen wollen. So haben sie auch im Bereich der geistlichen Herrschaft die Schlüsselgewalt94 dahin gedeutet, dass die Päpste neue Gottesdienste gebieten dürfen, um die Gewissen zu belasten mit vorbehaltenen Bußfällen95; sie haben auch ins Fegefeuer damit eingegriffen,96 haben auch sonst in mancherlei Weise die Exkommunikation missbraucht. Davon haben bereits vor dieser Zeit manche fromme und gelehrte Leute geschrieben. Deshalb haben auch die Unseren Anlass genommen, die Gewissen über die beiden Gewalten, die weltliche und die geistliche, zu unterweisen und den Unterschied aufzuzeigen, der allen Christen nützlich und notwendig zu wissen ist. Und sie haben allezeit gelehrt, dass beide Gewalten die höchsten und besten Gaben Gottes auf Erden sind, weshalb man sie beide in tiefster Demut und Dankbarkeit ehren soll. Und es ist nach dem Evangelium die Gewalt der Bischöfe und ein Befehl Gottes, das Evangelium zu predigen, Sünder zu verurteilen und zu binden,97 Sünde zu vergeben und die Sakramente auszuteilen, denn diesen Befehl gibt Christus seinen Aposteln, als er spricht: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nehmt hin den Heiligen Geist. Wem ihr die Sünde vergebt, dem sollen sie vergeben sein. Wem ihr nicht vergebt, dem soll nicht vergeben sein« [Joh 20,22f]; und Mk 16[,15]: »Geht hin und predigt das Evangelium in aller Welt.« Und diese Gewalt wird allein durch Wort und Sakrament ausgeübt, wenn man vielen oder je einem für sich Gottes Wort sagt, die Sünde verurteilt, bindet, oder vergibt und löst. Denn das Evangelium bringt nicht ein körperliches Reich, sondern ewige Güter: den Heiligen 94. Siehe oben Anm. 72. 95. Das »reservatum casuum« bezeichnet die Fälle im Bußverfahren, die dem Papst oder den Bischöfen vorbehalten sind, für die also nur der Papst oder der zuständige Bischof die Lossprechung gewähren kann; dazu gehören bestimmte Formen der Exkommunikation und auch die Ungültigerklärung von Ehen. Dispense (Anm. 72) sind ohnehin reserviert. 96. Bezieht sich auf die – durch den Papst etwa im Ablass gewährte – Verkürzung der zeitlichen Sündenstrafen, zu denen das Fegefeuer gehört. 97. Im Sinne der Bindegewalt im Bußsakrament.

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Geist, ewige Gerechtigkeit und ewiges Leben. Diese Güter kann man nicht anders erlangen als durch Gottes Wort und Sakrament, wie Paulus sagt: »Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, durch die selig werden alle, die daran glauben« [Röm 1,16]. Wenn nun die geistliche Gewalt ewige Güter der Seele anbietet und allein durch Wort und Sakrament ausgeübt wird, ist sie weit unterschieden von der weltlichen Gewalt, die leibliche Güter gibt und erhält; diese wird mit körperlichem Zwang ausgeübt, schützt den Leib, Haus und Hof, gegen äußerliche und öffentliche Beleidigung, und wehrt ihr nicht nur mit Worten, sondern mit körperlicher Strafe, damit Friede und äußerliche Ordnung erhalten wird. Darum hindert oder beirrt auch die geistliche Gewalt die weltliche Obrigkeit überhaupt nicht, denn das Evangelium schützt die Seele, die weltliche Gewalt den Leib; das Evangelium spricht von ewigen Dingen und Gütern der Seele, und lässt die Obrigkeit das äußerliche Regiment führen und halten über den Leib und die leiblichen Güter und hat damit gar nichts zu tun; es mahnt nur, dass wir dieser weltlichen Gewalt gehorsam sein sollen, und wir sollen wissen, dass dieser Stand98 [der Obrigkeit] Gott gefalle, da Gott ihn geordnet hat dem leiblichen Leben zugute. Deshalb soll man die geistliche und die weltliche Gewalt richtig zu unterscheiden wissen, damit sich die weltliche Gewalt nicht geistlicher Aufgaben bemächtige, als gehörten sie aus Christi Anordnung zu ihrem Amt; geistliche Gewalt hat den Befehl, das Evangelium zu predigen und das Sakrament zu reichen, hat aber nicht den Befehl von Christus, dass sie sich zum Herrn über alle Güter und Königreiche in der Welt setze, dass sie Könige ein- oder absetze, dass sie weltliches Recht mit Bezug auf Zinsen und andere weltliche Dinge setze. Denn Christus spricht so: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« [Joh 18,36]; desgleichen: »Wer hat mich zu einem Richter über euch gesetzt?« [Lk 12,14] Und Paulus spricht: »Unser Reich99 ist im Himmel« [Phil 3,20], das heißt: Wir richten keine neue, weltliche Herrschaft auf Erden an, sondern lassen die weltliche Herrschaft bleiben, und lehren daneben

98. Vgl. Anm. 46 99. Im deutschen Original steht hier »Polizey« als Übersetzung des paulinischen »πολίτευμα«; im folgenden, das Zitat erläuternden Satz spricht das Original davon, dass »keine neue politia« errichtet werde; gemeint ist die Ordnung einer öffentlichen Gemeinschaft.

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etwas vom ewigen Wesen, das nicht äußerlich ist, sondern in der Seele. Desgleichen: »Unsere Waffen sind nicht körperlich, sondern stark durch Gott, die Gedanken im Herzen niederzureißen« [2 Kor 10,4]. Auf diese Weise lehren die Unseren vom Unterschied der beiden Gewalten und weisen an, sie beide in aller Demut und Dankbarkeit als die höchsten Gaben Gottes auf Erden zu ehren. Haben aber die Bischöfe weltliche Gewalt, so haben sie sie nicht deshalb, weil Christus befohlen hätte, dass das geistliche Amt herrschen solle, sondern sie haben diese Gewalt als Gabe von den Kaisern, Königen und Fürsten zur Erhaltung ihrer Güter und nach weltlichem Recht. Diese weltliche Gewalt ist ein anderes Amt als das geistliche und geht das geistliche nichts an, wie auch des Heiligen Paulus Handwerk nicht zu seinem Predigtamt gehört. Wenn man nun von der »Jurisdiktion [Rechtsprechungsvollmacht] der Bischöfe« spricht, so soll ihre weltliche Gewalt vom geistlichen Amt und der geistlichen Jurisdiktion unterschieden werden; und es steht den Bischöfen als Bischöfen, das ist: als denjenigen, denen befohlen ist, das Evangelium zu predigen, nach göttlichem Recht und nach dem Evangelium keine andere Rechtsprechungsvollmacht zu als: die Sünde zu vergeben, die Lehre, die dem Evangelium widerspricht, zu verwerfen, und andere öffentliche Sünden mit dem Bann100 zu strafen, ohne jede körperliche Gewalt, sondern mit dem Wort; in diesen Fällen sind die Kirchen nach göttlichem Recht verpflichtet, ihnen [den Bischöfen] gehorsam zu sein, wie Christus spricht: »Wer euch hört, der hört mich.« [Lk 10,16]. Wenn aber die Bischöfe etwas gegen das Evangelium lehren oder festsetzen oder gebieten, so verbietet Gott den Gehorsam, Mt 7[,15]: »Hütet euch vor den falschen Propheten«, und Gal 1[,8]: »Wenn ein Engel vom Himmel ein anderes Evangelium predigt, als ich gepredigt habe, so soll er unter dem Bann sein«; und 2 Kor 13[,8]:101 »Wir haben Vollmacht nicht gegen die Wahrheit, sondern für die Wahrheit.« Desgleichen: »Uns ist Vollmacht gegeben zu bauen, nicht zu verderben.« [2 Kor 10,8]. Genauso lehren auch die kirchlichen Rechtssätze,102 und Augustin schreibt in diesem Sinne gegen Petili100. Exkommunikation, d. h. Ausschluss vom Abendmahl. 101. Die Stelle ist im Original falsch angegeben; dort steht 2 Kor 3. 102. Angegeben ist das Decretum Gratiani II q 7 cap. 8 und 13.

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anus.103 Man soll auch den ordnungsgemäß eingesetzten Bischöfen nicht gehorchen, wo sie irren oder etwas für richtig halten, was gegen die Heilige Schrift ist. Daneben haben die Bischöfe eine zweite Rechtsprechungsvollmacht in manchen Fragen, wie beispielsweise Ehefragen, Kirchengüter etc. In diesen Dingen haben sie eine besondere Gerichts- und Rechtsprechungsvollmacht durch menschliches Recht und nicht, weil Christus diese Dinge zu ihrem [geistlichen] Amt hinzugefügt hätte. Weil sie nun diese Rechtsprechungsvollmacht nach menschlichem Recht haben, folgt, dass, wenn sie diese nicht ausüben, sich die weltliche Obrigkeit dieser Dinge annehmen und Recht sprechen muss, um den Frieden zu erhalten. Weiter fragt man, ob Bischöfe und Pfarrer Gewalt haben, neue Dienste an Gott einzurichten und zu gebieten, wie etwa Fasten, Feiertage und andere Zeremonien? Und diejenigen, die den Bischöfen diese Gewalt zuweisen, zitieren die Worte Christi: »Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht tragen; wenn aber der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten.« [Joh 16,12f]. Sie zitieren auch das Beispiel der Apostel, die Blut und Ersticktes zu essen verboten haben [Apg 15,29], sie zitieren den Sabbat, der auf einen anderen Tag verlegt wurde, als er in den Zehn Geboten eingesetzt ist. Und dieses Beispiel streichen sie sehr heraus und wollen damit beweisen, dass sie auch Vollmacht haben, Gottes Gesetz zu ändern. Aber auf diese Frage hin antworten die Unseren folgendermaßen: dass die Bischöfe keine Gewalt haben, etwas zu ordnen oder zu gebieten, das dem Heiligen Evangelium widerspricht, wie wir oben gezeigt haben und auch die kirchlichen Rechtssätze lehren. Nun widerspricht es dem Evangelium, [menschliche] Traditionen aufzurichten oder zu gebieten in der Meinung, dass wir dadurch Gott versühnen sollten, Vergebung der Sünde verdienen oder für die Sünde genugtun, 103. Petilianus war ein Donatistenbischof, Gegner Augustins im Ketzertaufstreit (um die Frage, ob die von Häretikern durchgeführte Taufe gültig und wirksam sei; die Donatisten vertraten eine Vollkommenheitsekklesiologie, nach der die Gültigkeit der Sakramente an der Kirchenzugehörigkeit und d. h. der Vollkommenheit des Spenders hängt); gegen ihn verfasste Augustin die Schrift »Contra litteras Petiliani – Gegen die Briefe des Petilianus«. Vgl. Augustin, De unitate ecclesiae XI, 28 (PL 43, 410f; CSEL 52, 264,13).

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denn damit wird Christus seine ihm zustehende Ehre genommen und [diese Ehre] den von Menschen erfundenen Werken zugeeignet. Nun ist es aber offensichtlich, dass aufgrund dieser Meinung immer wieder [menschliche] Traditionen in der Kirche eingerichtet und aufgehäuft wurden; dadurch ist die Lehre vom Glauben an Christus unterdrückt worden: dass man ohne Verdienst um Christi willen Vergebung der Sünden erlange, und dass wir als gerecht betrachtet werden durch den Glauben. Dagegen hat man immer mehr Fasten, Feiertage, Genugtuung, Heiligenverehrung und dergleichen aufgestellt, und wollte dadurch die Vergebung der Sünden verdienen. Und es ist ein allgemeiner Irrtum gewesen, dass im Neuen Bund genau so ein äußerlicher Gottesdienst bestehen müsse mit festgesetzten Tagen, Speisevorschriften und Opfern wie im Gesetz des Mose, und dass Christus den Aposteln und Bischöfen befohlen habe, solche Zeremonien so anzuordnen, dass sie ein Dienst an Gott sein sollten, und so notwendig, dass ohne sie niemand ein Christ sein sollte, und dass christliche Heiligkeit ein solcher äußerer Vollzug wäre. Damit hat man die Gewissen belastet: Das sollte alles Todsünde sein: verbotene Speisen zu essen, die Gebetszeiten nicht einzuhalten, in der Beichte nicht alle Sünden aufzählen;104 und es gibt so viele Todsünden, dass es noch keine so umfassende Beichtsumme gibt, in der sie alle zusammengetragen sind. Woher haben die Bischöfe die Vollmacht, die Kirchen und die Gewissen so zu belasten? Wo doch viele eindeutige Sprüche es verbieten, [menschliche] Traditionen aufzustellen als einen Dienst an Gott, der dazu dient, Vergebung der Sünden zu verdienen, oder der nötig wäre zur Seligkeit. Paulus sagt den Kolossern: »Niemand soll euch richten mit Bezug auf Speise, Trank, Feiertage, etc.« [Kol 2,16]; desgleichen: »Wo ihr mit Christus den äußerlichen Ordnungen abgestorben seid – warum richtet ihr wieder ein Gesetz auf? – nämlich: das sollst du nicht anfassen, das sollst du nicht kosten, das sollst du nicht anrühren, wo doch alle diese Dinge sich verzehren unter den Händen und Menschengebot sind, die nur einen Schein von Weisheit haben« [Kol 2,20–23]. Desgleichen an Titus [Tit 1,14]: »Ihr sollt jüdische Fabeln und das Gebot

104. Vgl. oben Anm. 73.

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von Menschen, die die Wahrheit nicht annehmen, nicht beachten.« Und Christus verwirft Mt 15[,14] solchen Gottesdienst und sagt, dass es unnütze Gottesdienste sind, und nennt diejenigen Blinde und Blindenführer, die aus diesen Dingen einen Dienst an Gott machen, und sagt, man solle sie fahren lassen. Wenn die Bischöfe die Vollmacht haben, solche Gottesdienste zu errichten und zu gebieten und die Gewissen zu beschweren: Warum verbietet dann die Schrift diese Gottesdienste und nennt sie »doctrinas daemonum – Teufelslehre« [1 Tim 4,1]? Der Heilige Geist hat doch wohl nicht vergeblich so gewarnt? Darum folgt: Weil Menschengebote, die gebieten, Vergebung der Sünden zu verdienen, oder aus denen man notwendige Gottesdienste macht, dem Evangelium widersprechen, haben die Bischöfe keine Vollmacht, solche [menschlichen] Traditionen zu gebieten. Denn man muss in der Kirche diesen wichtigsten Artikel des Evangeliums rein und klar festhalten: dass wir Vergebung der Sünde nicht verdienen durch unser Werk, auch nicht als gerecht betrachtet werden um unserer selbstgewählten Gottesdienste willen, sondern um Christi willen, durch den Glauben. Weiter muss man auch diese Lehre kennen und daran festhalten: dass im Neuen Bund kein solcher Gottesdienst mit festgesetzter Speise und Kleidung und dergleichen notwendig ist wie im Gesetz des Mose; und dass niemand die Kirche belasten und solche Dinge zur Sünde machen soll. Denn so spricht Paulus zu den Galatern im 5. Kapitel [V. 1]: »Lasst euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft zwingen.« Aber mit den Feiertagen und anderen Kirchenordnungen soll man es so halten, dass die Bischöfe und Pfarrer Ordnungen machen dürfen, nicht, als ob sie Dienst an Gott sind, oder die Vergebung der Sünde verdienen, sondern um der äußerlichen Ordnung willen: dass es ordentlich und friedlich in den Kirchen zugehe. Und die Bischöfe sollen diese Ordnungen den Kirchen nicht auferlegen als Dinge, die zur Seligkeit notwendig sind, und um die Gewissen zu belasten und es als Sünde zu betrachten, wenn man es – ohne Ärgernis105 zu erregen – nicht einhält. So hat auch Paulus angeordnet, dass die Frauen ihre Häupter in der Kirche bedecken sollten [1 Kor 11,5–16]; desgleichen,

105. Vgl. Anm. 82.

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dass diejenigen, die die Schrift auslegen, untereinander eine Reihenfolge einhalten sollen [1 Kor 14,26–33]. Solche Ordnungen sollen die Kirchen um des Friedens willen einhalten, damit keiner dem anderen einen Anstoß gebe, und damit es ordentlich zugehe – nicht, dass die Gewissen beschwert werden, indem sie es für notwendige Gottesdienste halten und [meinen,] dass sie sündigen, wenn sie es, ohne Ärgernis zu erregen, unterlassen. Wie man es ja auch nicht für Sünde halten würde, wenn eine Frau (sofern sie damit kein Ärgernis erregt) mit unbedecktem Haupt in der Kirche stünde, so sollte man es mit dem Sonntag, Ostern, Pfingsten und ähnlichen Ordnungen halten. Denn die Kirche hat den Sabbat nicht verlegt oder aufgehoben, sondern Gott selbst hat sie gelehrt, dass wir im Neuen Bund nicht verpflichtet sind auf das Gesetz des Mose. Darum haben die Apostel den Sabbat fallen gelassen, um uns damit zu erinnern, dass wir nicht auf das Gesetz des Mose verpflichtet sind. Aber weil es doch notwendig ist – damit das Volk wisse, wann es zusammenkommen soll –, einen festen Tag zu bestimmen, haben sie den Sonntag eingerichtet, dass man an ihm Gottes Wort hören und lernen soll; desgleichen sind auch die Festtage eingerichtet, wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten etc., dass man an ihnen die wunderbaren Ereignisse lehrt. So hilft die festgesetzte Zeit, dass man die Erinnerung an große Dinge sicherer behält; aber es ist nicht der Sinn, dass solche Feiertage auch auf jüdische Weise eingehalten werden müssen, als sei das Fest an sich selbst ein notwendiger Gottesdienst im Neuen Bund, sondern sie sollen um der Belehrung willen eingehalten werden. Vor dieser Zeit ist viel ungereimte Lehre von der Abänderung des Sabbats und anderer Zeremonien getrieben worden: Dass Christus den Aposteln und Bischöfen befohlen habe, Zeremonien einzurichten, wie im Alten Bund Zeremonien notwendig gewesen sind; dieser Irrtum ist eingerissen, da man den Glauben vergessen hat und durch das Werk die Gnade Gottes verdienen wollte; darum hat man ein notwendiges Ding daraus gemacht, als wolle Gott niemanden ohne solchen Gottesdienst in Gnade annehmen, und als wäre christliche Heiligkeit ein solches äußeres Werk und Zeremonie. Und es sind die Gewissen damit so geängstigt worden, dass sie viel mehr mit diesen unnötigen Dingen zu tun hatten als mit Gottes Geboten, wie Gerson mit eindeutigen Worten beklagt. Und wiewohl manche Gelehrten Linderung und Milde gesucht haben, kann dennoch das Gewissen

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nicht aus den Stricken kommen, solange es solche Dinge für notwendige Gottesdienste hält, durch die man vor Gott gerecht werden müsse und ohne die man nicht gerecht werden könne. Die Apostel haben verboten, Blut und Ersticktes zu essen; daran hält man sich jetzt nicht mehr, und dieses Verbot wird gebrochen, ohne dass man dadurch in Sünde fällt. Denn die Apostel wollten nicht die Gewissen beschweren und ein zur Seligkeit notwendiges Ding aus dieser Zeremonie machen, und den zum Sünder erklären, der es nicht einhielt; sondern sie haben, um ein Ärgernis für die schwachen [Röm 14,1–9] Juden zu vermeiden, diese Ordnung für diese Zeit gemacht. Denn man muss gegen dieses Verbot andere Sprüche der Schrift und die Meinung der Apostel halten. Man hält ja nur wenige kirchliche Rechtsvorschriften wörtlich ein, und es sind viele mit der Zeit weggefallen, wie Strafvorschriften. Wenn man nun dies alles für notwendige Dinge halten sollte: Welche Last der Gewissen würde daraus folgen? Darum ist es notwendig, die Gewissen zu unterweisen, dass man die [menschlichen] Traditionen so weit einhalte, dass Ärgernis vermieden wird und dass man – abgesehen vom Ärgernis – keine Dinge zur Sünde mache, die das Evangelium frei haben will. So würden auch die Bischöfe ihren angemessenen Gehorsam leicht erhalten, wenn sie nicht zu einigen [menschlichen] Traditionen nötigen, die ohne Sünde nicht eingehalten werden können. Denn mit diesen Dingen wird keineswegs der Versuch unternommen, den Bischöfen ihre Herrlichkeit und ihre Gewalt zu nehmen; aber sie sollten auch ihre Gewalt zur Besserung und nicht zum Verderben der armen Gewissen gebrauchen, und sollten rechte Lehre nicht verhindern, und unangemessene [menschliche] Traditionen lindern und nachlassen, wie denn des Öfteren [menschliche] Traditionen in den Kirchen wegen der Gelegenheit und der Zeitläufte geändert haben, wie ein jeder, der etwas davon versteht, auf dem Gebiet des kirchlichen Rechts sehen kann. Wo man aber dies bei den Bischöfen nicht erreichen kann, dann muss man wissen, dass man Gott mehr gehorchen soll als den Menschen, und es werden die Bischöfe vor Gott Rechenschaft ablegen müssen für die Spaltung, die durch ihre Härte in der Kirche besteht. Das sind die wichtigsten Artikel, die als streitig betrachtet werden. Denn wiewohl man viel mehr Missbräuche und Unrechtmäßiges hätte

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vortragen können, haben wir doch, um Weitläufigkeiten zu vermeiden und den Umfang zu reduzieren, nur die wichtigsten aufgezählt, aus denen die anderen leicht zu beurteilen sind. Denn man hat in der Vorzeit sehr geklagt über den Ablass, über Wallfahrten, über den Missbrauch des Banns. Es hatten auch die Pfarrer unendliche Streitigkeiten mit den Mönchen um das Beichtehören, das Begräbnis, die Predigten bei besonderen Gelegenheiten und wegen vieler anderer Dinge mehr. Dies alles haben wir in bester Absicht übergangen, damit man die vordringlichsten Punkte in dieser Angelegenheit umso besser bemerken möge. Es soll auch nicht so angesehen werden, dass darin etwas aus Hass gegen jemanden oder mit der Absicht übler Nachrede nachgesagt oder vorgetragen sei, sondern wir haben allein die Punkte aufgezählt, von denen wir es für nötig hielten, sie vorzutragen, und zur Kenntnis gegeben, damit man daraus umso besser entnehmen kann, dass bei uns nichts, weder in der Lehre noch in den Zeremonien, angenommen worden ist, das entweder der Heiligen Schrift oder dem allgemeinen Brauch der christlichen Kirche entgegen wäre. Denn es ist ja am Tag und offensichtlich, dass wir mit allem Eifer, mit Gottes Hilfe (ohne ruhmredig zu werden) verhindert haben, dass keine neue und gottlose Lehre sich in unsere Kirchen einschleicht, einreißt und überhand nimmt. Die oben genannten Artikel haben wir dem Ausschreiben [des Reichstages] gemäß übergeben wollen, um unser Bekenntnis und unsere Lehre darzustellen. Und wenn sich jemand findet, der dessen bedarf, dem erbietet man sich, weitere Rechenschaft unter Begründung aus der göttlichen, heiligen Schrift zu geben.

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Einleitung Die »Verteidigung des Augsburger Bekenntnisses« (»Apologia Confessionis Augustanae«) antwortet auf die »Konfutation«, eine von altgläubiger Seite in Auftrag gegebene »Widerlegung« des »Augsburger Bekenntnisses«, die am 3. August 1530 vor den auf dem Reichstag zu Augsburg versammelten Ständen verlesen worden war. Zu diesem Zweck übernimmt die Apologie die Gliederung und das Artikelschema des Augsburger Bekenntnisses (vgl. oben S. 39f). Als »Kommentar« ist sie allerdings weit umfänglicher als das von ihr ausgelegte Bekenntnis. Nachdem die fünf Fürsten und zwei Reichsstädte am 25. Juni 1530 ihr Augsburger Bekenntnis vorgelegt hatten, erhielt eine Kommission altgläubiger Theologen den Auftrag, eine Beurteilung und Widerlegung desselben zu verfassen. Bereits Mitte Juli legte sie dem Kaiser einen ersten Entwurf vor. Der Kaiser wies ihn jedoch als viel zu umfangreich und zu polemisch zurück. Eine Woche später rang sich Karl V. (1500, reg. 1519–1556, 1558) dann aber doch dazu durch, dem Drängen der Ständemehrheit nachzugeben und – anders, als er dies in seinem Ausschreiben zum Reichstag in Aussicht gestellt hatte – auf Seiten der Altgläubigen in die Auseinandersetzung mit den Lutherischen einzutreten (22. Juli 1530). Die mittlerweile völlig umgearbeitete Konfutation wurde deshalb auch zuletzt in seinem Namen proklamiert (3. August 1530). Dies geschah in dem gleichen Raum, in dem zuvor auch schon das Augsburger Bekenntnis verlesen worden war. Karl V. forderte die evangelischen Stände sogleich auf, die Konfutation anzunehmen, da diese »christlich und also gestellet wäre, dass sie nicht möge widerleget und abgelehnt werden«. Dennoch war man nicht bereit, den Lutherischen den Text der Konfutation auszuhändigen. Man knüpfte dessen Herausgabe an völlig inakzeptable Bedingungen: Vorherige (!) Zustimmung zur Verwerfung des Augsburger Bekenntnisses; Geheimhaltung des Textes der Konfutation; Verzicht auf Gegenschriften. Die lutherischen Stände lehnten dies ab und kündigten ihrerseits eine »Widerlegung der Widerlegung« (»so viel sie der[er] [= davon] behalten hätten«) an. Grundlage der bereits Anfang August beginnenden Arbeit an der Apologie waren fragmentarische Mitschriften, die der Nürnberger

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Humanist Joachim Camerarius (1500–1574) und einige andere während der Verlesung der Konfutation am 3. August 1530 angefertigt hatten. Schon bald lag ein erster Rohtext vor. Er ging im Wesentlichen auf Philipp Melanchthon zurück. Auch während der Ausschussverhandlungen des Reichstages (»Vierzehnerausschuss« vom 16. bis 21. August; »Sechserausschuss« vom 24. bis 28. August) ging die Arbeit an der Apologie weiter, trat aber zeitweise in den Hintergrund. Als sich Ende August das Scheitern aller Vermittlungsversuche abzeichnete, kehrte man sofort wieder zum begonnenen Projekt zurück. Am 29. August 1530 erhielten der Altkanzler Gregor Brück (1485–1557) und andere Mitglieder der kursächsischen Delegation den offiziellen Auftrag, eine »Verteidigung des Augsburger Bekenntnisses« zu verfassen (das hieß genauer: den bereits vorliegenden Textentwurf der Apologie zu überarbeiten und Reinschriften zur Übergabe an den Kaiser zu erstellen). Die Hauptarbeit hatte erneut Philipp Melanchthon zu leisten. Sie erfolgte unter erheblichem Zeitdruck, da mit einem baldigen, für die Lutherischen ungünstigen Reichstagsabschied zu rechnen war. Während der Reichstagssitzung am 22. September 1530 protestierte der Altkanzler Brück scharf gegen eine Formulierung im vorgelegten Entwurf des Reichstagsabschiedes, wonach das Augsburger Bekenntnis »durch die heiligen Evangelien und Geschriften mit gutem Grund widerlegt und abgeleint [= abgelehnt] sei«. Gleichzeitig versuchte Brück, Karl V. ein Exemplar der nunmehr fertiggestellten Apologie zu überreichen. Als der Kaiser es schon entgegennehmen wollte, hielt sein Bruder, König Ferdinand von Böhmen und Ungarn (1503, reg. 1526–1564), ihn davon ab. Anders als das Augsburger Bekenntnis wurde die Apologie also nie offiziell übergeben. Bereits auf der tags darauf begonnenen Heimreise vom Reichstag machte sich Melanchthon erneut an eine Überarbeitung des Textes. Er sollte möglichst bald zusammen mit dem Augsburger Bekenntnis veröffentlicht werden. Ende Oktober erhielt Melanchthon aber aus Nürnberg unverhofft eine Abschrift der Konfutation. Die Einsicht in den ihm bis dahin weithin unbekannten Text (bei der Verlesung am 3. August war Melanchthon nicht zugegen gewesen) erregte ihn aufs äußerste und veranlasste ihn zur erneuten gründlichen Überarbeitung des Gesamttextes der Apologie. Sie kam in nicht wenigen Passagen einer völligen Neubearbeitung gleich.

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Besondere Mühe bereitete Melanchthon die Formulierung des Rechtfertigungsartikels der Apologie (Artikel IV–VI). Die Arbeit daran erstreckte sich über mehrere Monate (etwa Dezember 1530 bis Februar 1531). Zum Leidwesen der Setzer – Druck und Textarbeit liefen weithin parallel – griff Melanchthon zum Teil noch in schon gedruckte Textpassagen ein, kassierte z. B. einmal den ganzen Anfang des Rechtfertigungsartikels (5½ Doppelblätter). Die Fertigstellung der Apologie verzögerte sich so bis in den April 1531. Ende April/Anfang Mai 1531 konnte dann endlich der erste Druck der lateinischen Doppelausgabe von Augsburger Bekenntnis und Apologie (die »Editio princeps«) erscheinen. Diese, ihres Formates wegen auch als »Quartausgabe« bezeichnet, bot die seit Langem erwarteten »offiziellen« Texte beider Schriften. Das Titelblatt kündigte auch schon die deutschen Übersetzungen an. Melanchthon selbst hatte allerdings Vorbehalte gegen die neue Ausgabe. Der Text der Apologie schien ihm weiterhin unfertig zu sein. Wahrscheinlich hatte er ihn nur widerwillig, unter massivem äußeren Druck, aus der Hand gegeben. Vor allem den Rechtfertigungsartikel empfand er als noch immer zu unpräzise formuliert. Viele ihm wichtige Differenzierungen traten nicht deutlich genug hervor. Dazu kamen Dispositionsprobleme, vor allem im zweiten Teil des Artikels. Schon wenige Tage nach dem Erscheinen des Quarttextes machte sich Melanchthon deshalb an eine erneute gründliche Überarbeitung der lateinischen Apologie. Sie beschäftigte ihn den ganzen Sommer über und führte ihn nicht selten bis an die Grenzen seiner psychischen und physischen Kräfte. Anfang September konnte dann endlich ein auch Melanchthon zufriedenstellender Apologietext erscheinen (die »Editio secunda«, ihres Formates wegen auch als »Oktavausgabe« bezeichnet). Der neue Text war erheblich kürzer und sehr viel klarer strukturiert als der Quarttext. Melanchthon ließ es sich nicht nehmen, die ersten Exemplare persönlich zu versenden. In den Begleitbriefen an lutherische Fürsten und theologische Freunde spürt man den Stolz auf das endlich abgeschlossene Werk. Melanchthon selbst ließ später nie einen Zweifel daran, welcher Textfassung er den Vorzug gab: dem gründlich überarbeiteten Oktavtext vom September 1531. So erscheint dieser Text dann auch in allen nach dem September 1531 erschienenen Ausgaben, z. B. in den

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maßgeblichen Ausgaben des »Corpus Misnicum« (1560/1561). Auch die (umstrittene) Erstausgabe des lateinischen Konkordienbuches von 1580 bietet noch den Oktavtext. Erst die nach 1584 erschienenen Ausgaben des Konkordienbuches kehren wieder zu dem von Melanchthon ungeliebten, von den Späteren wohl für ursprünglicher erachteten Quarttext zurück. Es bleibt aber festzuhalten, dass die »Editio secunda«, der Oktavtext vom September 1531, der für die Reformationszeit selbst bestimmende Text der Apologie ist. Auch unter theologischen und formalen Gesichtspunkten ist ihm, anders, als dies seit 1584 stets geschehen ist, der Vorrang vor dem Quarttext einzuräumen. Die Mitglieder des »Schmalkaldischen Bundes« begriffen das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie bereits im Herbst 1531 als ihre gemeinsame Lehrgrundlage. Wenig später, im Verlauf von Verhandlungen in Schweinfurt, wurden beide Texte auch von den Oberdeutschen als mit ihren Bekenntnissen übereinstimmend anerkannt (April 1532). Anlässlich des »Tages von Schmalkalden« (Februar 1537) war es dann schon selbstverständlich, dass die versammelten Theologen neben dem Augsburger Bekenntnis auch dessen Apologie mit unterschrieben. Mit seiner Apologie hat Melanchthon in der Tat einen der wichtigsten Lehrtexte der lutherischen Reformation geschaffen. Besonders der breit und gründlich ausgeführte Rechtfertigungsartikel war von größter Bedeutung für das Verständnis dieser zentralen Lehre lutherischer Kirchen. Die in unserer Ausgabe vorgelegte Übersetzung bietet erstmals den vollständigen Text der für die Reformationszeit selbst maßgeblichen »Editio secunda« (Oktavausgabe) der Apologie vom September 1531. Die im Wesentlichen durch Justus Jonas (1493–1555) besorgte deutsche Fassung der Apologie (1531) ist keine Übersetzung im eigentlichen Sinne, sondern eine kommentierende Umschreibung, der zunächst der lateinische Quarttext, dann aber auch Teile des im Entstehen begriffenen Oktavtextes zugrunde gelegen haben. Die neue Übersetzung folgt dem Abdruck des Oktavtextes im 27. Band des »Corpus Reformatorum«. Wo der Oktavtext den Text der Quartausgabe verändert, steht Kursivdruck. Darüber hinaus werden durch die Oktavausgabe vorgenommene Kürzungen mit […] kenntlich gemacht. Insgesamt ist die zweite Ausgabe um etwa ein Fünftel kürzer als die erste.

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Da der Originaltext in sehr langen Passagen kaum gegliedert ist, wurden als Orientierungshilfe Zwischenüberschriften [kursiv, in eckigen Klammern] eingefügt. Die Gesamtgliederung, in der die eingefügten Überschriften kursiv, jedoch ohne Klammern erscheinen, ermöglicht einen Überblick über die Struktur und die Gedankengänge des Gesamtwerkes.

Literatur: Adolf Sperl: Art. Augsburger Bekenntnis III. Apologie, in: TRE 4 (1979), 632–639. Herbert Immenkötter (Bearb.): Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530, 2., verbesserte Auflage, Münster 1981 (Corpus Catholicorum 33). Gunter Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bde., Berlin/New York 1996. Christian Peters: Apologia Confessionis Augustanae. Untersuchungen zur Textgeschichte einer lutherischen Bekenntnisschrift (1530–1584), Stuttgart 1997. Herbert Immenkötter, Gunter Wenz (Hgg.): Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichstages 1530 im historischen Kontext, Münster 1997. Christian Peters: Art. Apologie des Augsburger Bekenntnisses, in: RGG4 1 (1998), 632.

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Gliederungsübersicht Fehlende Artikelüberschriften bzw. -zählungen (siehe Nachweise beim Text) wurden ergänzt. Hinzugefügte Untergliederungen erscheinen in Kursivschrift. Abschnitte ohne Kennzeichnung: Textform der Editio princeps (Mai 1531), soweit sie in dem von Melanchthon überarbeiteten Text (Editio secunda »Oktavausgabe« September 1531, bis 1584 maßgeblicher Text) beibehalten wurde. * Änderungen in der Oktavausgabe (bei noch überwiegendem Textbestand der Editio princeps) ** Völlige oder überwiegende Neubearbeitung in der Oktavausgabe

Vorrede 1 2 3

Vorgeschichte der Verteidigung* Entstehung des Textes Absichten Melanchthons

Art. I: Von Gott 4

Der dreieinige Gott

Art. II: Von der Erbsünde 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Radikalität der Erbsünde Schuldcharakter der Erbsünde Definition der Erbsünde: Fehlen von Gottesfurcht und Gottvertrauen Übereinstimmung der reformatorischen Lehre mit der kirchlichen Tradition Definition: Begierde Verhältnis von Erbsünde und Taufe Die Begierde ist selbst Sünde, nicht neutral Sünde als Widerstreben gegen Gott Macht des Teufels und Übermacht Christi Appell an den Kaiser: Reformatoren vertreten die katholische Lehre von der Erbsünde

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Art. III: Von Christus 14 Zweinaturenlehre und Heilswerk Christi Art. IV: Von der Rechtfertigung 15 Rechtfertigung als Hauptlehre: Sie ehrt Christus und tröstet die Gewissen 16 Fundamentale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium 17 »Gerechtigkeit des Gesetzes«: ein heilloser Irrweg Der Irrtum von der »natürlichen Gottesliebe« 18 Christi Gerechtigkeit würde entbehrlich werden 19 Angeblicher »Zustand der Gnade« 20 Selbsttäuschung über »Verdienste« 21 Lob der Vernunftgerechtigkeit Falsche Beurteilung des eigenen Tuns 22 Schrift und Kirchenväter belegen das Unvermögen von Vernunft und Willen Fehlurteil der Gegner: Nichtbeachtung der ersten Tafel des Dekalogs 23 »Hervorgelockte Werke«: Verkennung von Gottes Gericht und Gewissensschrecken Das Evangelium: Verheißung der Rechtfertigung um Christi Willen 24 Sündenvergebung als Geschenk 25 Gerechtigkeit des Christusglaubens statt Gesetzesgerechtigkeit Was ist »rechtfertigender Glaube«? 26 Christusglaube: nicht nur historisches Wissen, sondern Empfangen der Rechtfertigungszusage Wechselbeziehung von Vergebungszusage und Glauben 27 Glaube empfängt die Barmherzigkeit Gottes Schriftbeweis für den empfangenden Glauben 28 Vertiefung des Schriftbeweises ** Minderung des Glaubens durch die Gegner Dass allein der Glaube an Christus gerecht macht 29 Entstehung des Glaubens: Trost und neues Leben 30 Glaube bedeutet: Kommen des Heiligen Geistes * 31 Nur durch den Glauben hat man Christus als Mittler 32 Glaube: nicht nur ein Anfang, sondern Empfang der ganzen Rechtfertigung

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33 Rechtfertigung durch den Glauben »allein« Dass wir Vergebung der Sünden allein durch den Glauben an Christus erlangen 34 Erläuterung zu »Vergebung durch Glauben« * 35 Versöhnung um Christi willen – deshalb: Glauben 36 Der Glaube selbst ist Gerechtigkeit vor Gott Belege aus der Schrift* Ausschluss der Werke – nicht nur der kultischen, auch der moralischen Glaubensgerechtigkeit – nicht Zufalls-, sondern Hauptthema Christus unser Heil – durch den Glauben 37 Kirchenväter bezeugen Glaubensgerechtigkeit 38 Rechtfertigende Liebe als »geformter Glaube«? * Liebe folgt dem rechtfertigenden Glauben 39 Klarheit über Glaubensgerechtigkeit – schlimme Folgen ihrer Leugnung * Von der Liebe und der Erfüllung des Gesetzes 40 Das ins Herz geschriebene Gesetz 41 Verkanntes und erkanntes Gesetz 42 Erfüllbarkeit des Gesetzes durch Christus und den Heiligen Geist* 43 Beginnende Erfüllung: innerlich und äußerlich 44 Liebe zu Gott – untrennbar vom Glauben 45 Rechtfertigung durch Liebe – ein Irrglaube * 46 Warum rechtfertigt die Liebe nicht? * 47 Der Einwand Lk 7,47: Rechtfertigende Liebe? 48 »Rechtfertigung durch Liebe« würde die Versöhnung durch Christus verleugnen ** 49 Auch im Glauben nur ein Anfang von Gesetzeserfüllung ** 50 Frieden des Gewissens nicht durch Werke, sondern nur durch Glauben ** 51 Für immer angewiesen auf Christus als Mittler und auf Sündenvergebung ** 52 Beginnende Erneuerung im bleibenden Widerstreit zur Sünde ** 53 Auch bei beginnender Gesetzeserfüllung: Rechtfertigung allein durch Glauben **

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Antwort auf die Argumente der Gegner 54 Unterscheidung von Gesetz und Evangelium führt aus Ungewissheit zur Klarheit * 55 »Gute Werke« im Licht dieser Unterscheidung ** 56 Fehlurteile über die »Werke« im Blick auf die Heiligen ** 57 Geschichte des Irrtums über die Werke: Heiden und Juden * Nachahmung statt Glauben? * 58 Biblische Argumente der Gegner gegen die Rechtfertigung durch Glauben Zu 1 Kor 13,2. 13: Rechtfertigung durch Liebe? ** 59 Zu Kol 3,14: Liebe als »Band der Vollkommenheit« * Gegner preisen die Liebe und verleugnen sie zugleich 60 Zu 1 Petr 4,8: »Liebe deckt auch der Sünden Menge« * 61 Zu Jak 2,24: »… dass der Mensch durch Werke gerecht wird« * 62 Zu Dan 4,24: Frei von Sünden »durch Wohltat an den Armen«? ** 63 Zu Lk 6,37: »Vergebet, so wird euch vergeben« ** 64 Zu Lk 11,41: Gebt Almosen, »dann ist euch alles rein« ** 65 Zur scholastischen These: Glaube rechtfertigt nicht, da er dem Verstand, Gerechtigkeit aber dem Willen zugeordnet ist ** 66 Gesetzeserfüllung und »Verdienst« statt bleibender Mittlerschaft Christi? ** 67 Christus bringt nur die »erste Gnade«? Fatale Folgen dieser Meinung ** 68 Gerecht um Christi willen auch nach begonnener Erneuerung ** 69 Begründen »Verdienste« den Unterschied von Geretteten und Verlorenen? ** 70 Das Unterscheidende: allein der Glaube ** 71 Zur sophistischen Deutung von Lk 17,10: auch der Glaube »unnütz«? ** 72 Ewiges Leben als Lohn für »Verdienste«? ** 73 Zutreffender Sinn des Lohngedankens: nicht Heilsgrund, sondern Ausgleich für Tun und Leiden ** 74 Unaufgebbare Einsicht: Heil aus Gottes Barmherzigkeit durch Glauben ** 75 Vertrauen auf Gottes Gnade: nicht zu verfälschen durch Rückbezug auf eigenes Tun ** 76 Abschluss: Bestehen auf der Wahrheit der Glaubensgerechtigkeit **

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Art. VII: Von der Kirche 77 Kirche ist »Versammlung der Heiligen«, Leib Christi als Gemeinschaft des Glaubens 78 Zeugnisse der Schrift und der Tradition 79 »Versammlung der Heiligen«: kein äußeres Gemeinwesen, sondern Gottes Volk im Heiligen Geist 80 »Versammlung der Heiligen«: das vom Teufelsreich geschiedene, verborgene Reich Christi 81 »Versammlung der Heiligen«: kein platonischer Staat, sondern »Säule der Wahrheit« auf dem Grund Christus 82 Papstmonarchie – Gegensatz zur wahren Kirche 83 Gottlose in der Kirche als Spender der Sakramente 84 Einheit der Kirche auch bei ungleichen Traditionen 85 Paulus warnt vor »notwendigen« Riten 86 Ostertermine: Rücksichtnahme, nicht Zwang Art. VIII: Was die Kirche ist 87 Gottlose Lehrer verlassen, aber keine Spaltungen herbeiführen Art. IX: Von der Taufe 88 Gegen die Täufer ist an der Kindertaufe festzuhalten Art. X: Vom Heiligen Abendmahl 89 Leibliche Gegenwart Christi, wie in der Kirche bezeugt * Art. XI: Von der Beichte 90 Reformation bringt Gewissheit der Absolution ans Licht 91 Häufiger Sakramentsgebrauch, aber ohne zeitliche Festlegung 92 Kein Zwang zur Aufzählung aller Sünden Art. XII: Von der Buße 93 Zentrale Bedeutung der Lehre von der Buße 94 Verworrenheit der dreigliedrigen scholastischen Bußlehre: (1) Reue

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(2) Beichte [(3) Genugtuung; s. u. Nr. 109] Irrtümer der römischen Bußlehre Reformatorische Bußlehre: Reue und Glaube * Reue: Schrecken des Gewissens durch das Gesetz Glaube: Aufrichtung des Gewissens durch das Evangelium * Schlüsselgewalt: Absolution als Stimme vom Himmel Schriftbelege für die zwei Teile der Buße * Gottes Werke von Anfang bis heute: Gesetz und Evangelium – Reue und Glaube Bernhard von Clairvaux: Glaube als Vertrauen auf Gottes aufrichtende Barmherzigkeit ** Unverzichtbare Zugehörigkeit des Glaubens zur Buße * Selbstwidersprüche der Gegenposition Konsens der Kirche spricht für, nicht gegen den Glauben als Teil der Buße Bußakte als »Verdienst« machen das Gesetz statt des Evangeliums zum Heilsgrund * Kernpunkt des Streits: Gewissheit der Gewissen statt Zweifel und Verzweiflung Nur Unverstand behauptet, für die Kirchenväter gehöre der Glaube nicht zur Buße *

Über die Beichte und die Genugtuung 108 Beichte vor Gott (= Reue) und vor Menschen. Altkirchliche Bußpraxis * 109 Altkirchlicher Sinn und illegitimer Gebrauch des Begriffs »Genugtuung« 110 Haarsträubender Schriftbeweis der Konfutation zugunsten von Genugtuungen * 111 Dringender Appell an Campeggio, die Klärung entscheidender Fragen nicht weiterhin zu unterdrücken * 112 Absurde Konsequenzen der Umdeutung biblischer Bußworte auf Genugtuungen 113 Haltlose Behauptungen über das Auferlegen oder Umwandeln von Strafen durch die Schlüsselgewalt * 114 Gegen Schuld, ewigen Tod oder Fegfeuerstrafen richten Genugtuungswerke nichts aus

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115 Die wahre Bestrafung für Sünde ist die Reue ** 116 Erlösung durch Christus allein. Art und Ziel erfahrbaren göttlichen »Strafens« der Sünde ** 117 Biblische Beispiele: Anfechtungen müssen nicht »Strafen« sein * 118 Kirchenväter beschränken »Genugtuungen« auf die öffentliche Buße 119 Angebliche Forderungen des Evangeliums und die wahren Gebote Gottes 120 Begrenzte kirchenrechtliche Bedeutung von »Ablass« und »vorbehaltenen Fällen« Schluss: Erst die evangelische Lehre bringt Klarheit über die Buße Art. XIII: Von der Anzahl und vom Gebrauch der Sakramente 121 Die Zahl der Sakramente. Eigentliche Sakramente: Taufe, Abendmahl, Buße 122 Zur sonstigen Verwendung des Sakramentsbegriffs 123 Rechter Sakramentsgebrauch: der Glaube Art. XIV: Von der kirchlichen Ordnung 124 Hochschätzung der kirchlichen Ordnung – und deren Zerstörung durch das Handeln der Bischöfe Art. XV: Von den menschlichen Überlieferungen in der Kirche 125 Rechtfertigung durch menschliche Satzungen wird durch das Zeugnis der Schrift ausgeschlossen * 126 Rechtfertigung durch menschliche Satzungen ist ein Merkmal des Antichrist-Reiches ** 127 Vernunft hält die Satzungen für notwendig, doch sie verdunkeln Gottes Gebote und martern fromme Gewissen * 128 Das klare Schriftzeugnis gegen die menschlichen Satzungen 129 Evangelische Gemeinden halten sich an die kirchlichen Ordnungen in ihrem legitimen Sinn 130 Behutsamkeit bei der Änderung menschlicher Satzungen

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Gliederungsübersicht

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Art. XVI: Von der politischen Ordnung 131 Unterscheidung zwischen dem Reich Christi und den weltlichen Dingen 132 Das Evangelium bestätigt politische und ökonomische Ordnungen in ihren Grenzen * Art. XVII: Von der Wiederkunft Christi zum Gericht 133 Gericht zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis Art. XVIII: Vom freien Willen 134 Fähigkeit und Grenzen des menschlichen Willens * Art. XIX: Vom Ursprung der Sünde 135 Nicht aus Gottes universalem Schaffen, sondern aus der Abkehr des Willens von ihm kommt die Sünde Art. XX: Von den guten Werken 136 Ungeheuerliche Verdammung der Glaubensgerechtigkeit namens einer Rechtfertigung durch Werke 137 Nichtssagende Belege der Gegner für ihr Urteil Art. XXI: Von der Anrufung der Heiligen 138 Die Alte Kirche kennt keine Anrufung der Heiligen 139 Verehrung der Heiligen im evangelischen Sinne Fürbitte von Engeln und Heiligen 140 Anrufung von Heiligen bleibt unbegründbar und ungewiss * 141 Unverantwortbares Überbieten: Heilige nicht nur als »Fürbitter«, sondern auch als »Versöhner« * 142 Verehrung Marias * 143 Heidnische Vorstellungen von den »Aufgaben« der Heiligen * Heiligenlegenden als Tummelplatz des Aberglaubens [Schluss des ersten Teils der Apologie] 144 Unlauteres Vorgehen der Gegner Appell an den Kaiser

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III. Die Apologie der Augsburger Konfession

Art. XXII: Von beiderlei Gestalt des Abendmahls 145 Der ganzen Kirche ist das ganze Abendmahl gegeben Die Begründungen für den Kelchentzug sind inakzeptabel 146 Die wahren Motive des Kelchentzugs: Unterwerfung der Laien unter die Herrschaft des Priesterstandes Art. XXIII: Von der Priesterehe 147 Das Ansinnen an den Kaiser, gegen verheiratete Priester vorzugehen, dient den Gegnern zum Machterhalt unter dem Schein von Frömmigkeit 148 Gründe für die Ablehnung des Zölibatsgesetzes: (1) Zuordnung von Mann und Frau durch Schöpfung und Gottes Gebot 149 (2) Naturrechtscharakter der Ehe: Legitimes natürliches Verlangen der Geschlechter 150 (3) Ehe als Heilmittel gegen Unzucht; Seltenheit der Gabe der Enthaltsamkeit (4) Päpstliches Zölibatsgesetz widerspricht Konzilsbeschlüssen 151 (5) Widerlegung abergläubischer Reinheitsvorstellungen * Biblische Würdigung der Ehe 152 Jungfräulichkeit und Ehe Verantwortlicher Gebrauch statt Herabsetzung der Ehe ** 153 (6) Zölibatsgesetz verursacht schlimme Ärgernisse und grausame Sanktionen Zusammenfassung 154 Widerlegung gegnerischer Argumente für den Zölibat 155 Ihre Stellung zum Zölibatsgesetz haben die Fürsten vor Gott zu verantworten Art. XXIV: Von der Messe 156 Wahrung von Traditionen und legitimer Gebrauch der Messe bei den Evangelischen 157 Gerechtigkeit durch den Glauben – das entscheidende Argument gegen die Lehre von der Wirksamkeit der »Opfer«-Messe

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Gliederungsübersicht

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Was ist ein Opfer, und welche Arten von Opfern gibt es? 158 Die nötige Unterscheidung von Sakrament und Opfer Zwei Arten des Opfers: Sühnopfer und Dankopfer 159 Zum Begriff Sühnopfer: Er verweist auf das Opfer Jesu Christi 160 Die Glaubenden, Versöhnten bringen Dankopfer Geistliches Opfer des Neuen Testamentes: Evangelium, Glaube, Anrufung, Danksagung 161 Das »tägliche Opfer«: Nicht die Zeremonie der Messe, sondern der ganze Gottesdienst der Gläubigen * 162 Der wahre Schmuck der Kirche: Nicht äußerliche Pracht, sondern Predigt, Sakramentsgebrauch und Gebet 163 Das klare Zeugnis des Hebräerbriefs: Christus ist das einzige Sühnopfer für alle Sünden aller Menschen, abgebildet durch das levitische Priestertum im Alten Testament, zugeeignet durch den Dienst des Geistes im Neuen Testament * 164 Zusammenfassung: Erwiesener Irrtum von der Messe als durch den Vollzug wirkendem »Opfer« Was die Kirchenväter über das Opfer gedacht haben 165 Kirchenväter verstehen die Messe als Dankopfer Vom Gebrauch des Sakramentes und vom Opfer 166 Das Abendmahl – ein Gnadenzeichen Gottes * 167 Das Abendmahl – ein Dankopfer des Glaubens Über Benennungen der Messe 168 Ursprünglicher Sinn der Bezeichnungen »Liturgie«, »Messe«, »Opfer« Von der Messe für Tote 169 Zueignung an Tote widerstreitet dem Evangelium, ist auch nicht aus der griechischen Messliturgie zu begründen 170 Kulthandlungen als Versöhnungsmittel: Schon die Propheten bekämpften diesen Irrtum, der erst mit dem Papstreich untergehen wird * Die Größe des Streits für den rechten Gebrauch der Messe Art. XXVII: Von den Klostergelübden 171 Die Prophetie des Franziskaners Johannes Hilten: Niedergang des Mönchtums *

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172 Gravierende Fragen zu den Gelübden – zu behandeln anhand von Luthers Buch »Über die Mönchsgelübde« 173 Sündenvergebung allein durch Christus, nicht aufgrund der Gelübde. Strenges Leben nach dem Evangelium ist vorgetäuscht 174 Der wahre Charakter mönchischen Lebens: eine ethisch neutrale, nicht »verdienstliche« Lebensform 175 Haltlose Behauptung der Konfutatoren über Verdienstlichkeit des Mönchtums als Lehre der Schrift – Bernhard von Clairvaux bezeugt das Gegenteil 176 Zur Rede vom Mönchtum als »Stand der Vollkommenheit« bzw. »des Strebens nach Vollkommenheit« 177 Jesu Worte über das »Verlassen« von Besitz, Frau und Kindern meinen ein Erleiden um des Evangeliums willen, nicht das Erwählen des Mönchsstandes 178 Das Keuschheitsgelübde ist ohne die Gabe der Enthaltsamkeit ungültig 179 Gottlose Kulte in den Klöstern sowie nicht-freiwillige Gelübde entbinden die Mönche von ihrer Lebensform 180 Die biblischen Lebensformen der Nasiräer (Num 6), Rechabiten (Jer 35) und Witwen (1 Tim 5) entsprechen nicht den Klostergelübden Zusammenfassung Art. XXVIII: Von der kirchlichen Amtsgewalt 181 Die Konfutation macht die Privilegien des geistlichen Standes statt der unerträglichen Lasten der Gläubigen zum Streitpunkt 182 Die wirkliche Frage bleibt unbeantwortet: Ob Bischöfe das Heil an ihre Satzungen binden dürfen 183 Die geistliche und die richterliche Vollmacht des Bischofs sind an das Evangelium gebunden; Ordnungen sollen dem Frieden dienen, ohne heilsnotwendig zu sein 184 Die Vollmacht der Lehrenden (nach Lk 10,16; Hebr 13,17; Mt 23,3) dient allein dem Hören auf das Wort Christi 185 Der Vorwurf, die evangelische Lehre verursache Ärgernisse und Aufruhr, ist unbegründet und fällt in vielfacher Weise auf die Gegner selbst zurück **

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Verteidigung des Bekenntnisses1 [Vorrede:] Philipp Melanchthon grüßt den Leser [1 Vorgeschichte der Verteidigung] Nachdem das Bekenntnis unserer Fürsten öffentlich verlesen worden war, haben einige Theologen und Mönche eine »Widerlegung« unserer Schrift zusammengestellt,2 für deren Verlesung der Kaiser dann gleichfalls sorgte. Von unseren Fürsten forderte er, dieser Widerlegung zuzustimmen. Die Unseren aber hatten gehört, dass viele Artikel missbilligt worden wären, deren Verwerfung sie guten Gewissens nicht hinnehmen konnten. Deshalb baten sie um eine Abschrift der Widerlegung, sowohl um sehen zu können, was die Gegner verwürfen, als auch um ihre Argumente zurückweisen zu können. Sie nahmen an, dass die Gegner ihnen in einer solch wichtigen Sache, die die Religion und die Unterrichtung der Gewissen betrifft, ihre Schrift anstandslos zur Verfügung stellen würden. Aber die Unseren konnten dies nur unter derart gefährlichen Bedingungen erreichen, dass sie diese nicht annehmen konnten, wenn sie sich nicht ins sichere Verderben stürzen wollten.3 Danach wurde ein Vermittlungsversuch unternommen, bei dem es sich erwies, dass sich die Unseren keiner noch so beschwerlichen Last verweigerten, sofern sie diese nur ohne Verletzung des Gewissens auf sich nehmen konnten. Die Gegner aber forderten hartnäckig, wir sollten bestimmte offenkundige Missbräuche und Irrtümer billigen. Da wir das nicht tun konnten, verlangte die Kaiserliche Majestät ein zweites Mal, dass unsere Fürsten der

1. Lateinischer Titel: Apologia confessionis. 2. Vgl. die Einleitung. – Die »Widerlegung« (lat.: Confutatio, künftig mit »Konfutation« wiedergegeben) des Augsburger Bekenntnisses war auf Veranlassung Kaiser Karls V. zusammengestellt worden. An ihrer Abfassung mitgewirkt hatten etwa 20 altgläubige Theologen, darunter – als die wichtigsten – Johannes Eck, Johann Fabri, Johann Cochlaeus, Johannes Dietenberger und Konrad Wimpina. 3. Der Kaiser hatte schon am 5. August 1530 erkennen lassen, dass er nicht gewillt war, den Lutherischen die Möglichkeit einer neuerlichen schriftlichen Äußerung einzuräumen. Er verlangte eine Einigung auf der Grundlage der (für die Lutherischen unannehmbaren) Konfutation.

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Konfutation zustimmen sollten. Dies lehnten unsere Fürsten ab.4 Denn wie sollten wir in Sachen der Religion einer Schrift zustimmen, die wir nicht einsehen durften? Auch hatten sie gehört, dass auch solche Artikel verworfen worden waren, bei denen sie die Urteile der Gegner nicht ohne Frevel billigen konnten. [2 Entstehung des Textes] Sie aber hatten mir und einigen anderen den Auftrag erteilt, eine Verteidigung des Bekenntnisses zu verfassen. In ihr sollten der Kaiserlichen Majestät die Gründe dargelegt werden, weshalb wir die Konfutation nicht annehmen können, und das entkräftet werden, was die Gegner vorgebracht hatten. Einige der Unseren hatten nämlich bei der Verlesung die Hauptpunkte der Artikel und Argumente festgehalten.5 Diese Verteidigung übergaben sie zuletzt der Kaiserlichen Majestät, die daraus ersehen sollte, dass wir uns aus sehr bedeutenden und gewichtigen Gründen gehindert sehen, die Konfutation anzunehmen. Aber die Kaiserliche Majestät nahm die ihr überreichte Schrift nicht an. Später erschien dann ein gewisses Dekret6, in dem sich die Gegner rühmen, unser Bekenntnis aus der Schrift widerlegt zu haben. Hier also, lieber Leser, hast du jetzt unsere Verteidigung7. Aus ihr kannst du sowohl ersehen, was die Gegner verurteilt haben (wir haben es nämlich nach bestem Wissen berichtet), als auch, dass sie einige Artikel gegen das klare Schriftzeugnis des Heiligen Geistes verworfen haben. Sie sind weit davon entfernt, unsere Sätze durch die Schrift erschüttert zu haben. Obwohl wir aber zunächst die Apologie in gemeinsamer Beratung mit anderen in Angriff nahmen, so habe ich doch während des Druckes etliches hinzugefügt. Deshalb setze ich meinen Namen dazu, damit niemand behaupten kann, das Buch sei ohne klare Angabe des Verfassers erschienen.

4. Dies geschah (in schriftlicher Form) am 9. und am 13. August 1530. 5. Vor allem der Nürnberger Humanist und Melanchthonfreund Joachim Camerarius; siehe oben die Einleitung. 6. Gemeint ist der sehr schroffe Entwurf eines Reichstagsabschiedes vom 22. September 1530. 7. Künftig wie üblich als »Apologie« bezeichnet.

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Vorrede

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[3 Absichten Melanchthons] Immer habe ich es so gehalten in diesen Streitfragen, dass ich, sosehr es mir überhaupt möglich war, die übliche Lehrweise einhielt, damit es einmal leichter zur Einigung kommen könne. Nicht viel anders verfahre ich auch jetzt, obgleich ich mit Recht die Zeitgenossen von den Meinungen der Gegner weiter wegführen könnte. Aber die Gegner behandeln die Sache in einer Weise, die zeigt, dass sie weder Wahrheit noch Eintracht suchen, sondern unser Blut saufen wollen. Auch diesmal habe ich so maßvoll wie möglich geschrieben; sollte etwas zu schroff gesagt erscheinen, so muss ich hier vorausschicken, dass ich mit den Theologen und Mönchen streite, die die Konfutation verfasst haben, nicht mit dem Kaiser oder den Fürsten, die ich, wie ich es schuldig bin, verehre. Ich habe aber kürzlich die Konfutation zu sehen bekommen und bemerkt, dass sie so hinterhältig und verleumderisch geschrieben ist, dass sie auch besonnene Menschen an manchen Stellen täuschen könnte. Dennoch bin ich nicht auf alle Sticheleien eingegangen; das wäre nämlich eine endlose Arbeit gewesen. Sondern ich habe die wichtigsten Gründe zusammengefasst, damit es bei allen Völkern ein Zeugnis über uns gibt, dass wir richtig und fromm vom Evangelium Christi denken. Wir haben keine Freude an der Uneinigkeit. Es ist auch nicht so, dass uns die Gefahr für uns nichts ausmachte, deren Größe wir angesichts des brennenden Hasses, den wir bei unseren Gegnern bemerken, leicht begreifen. Wir können aber die offenkundige und für die Kirche notwendige Wahrheit nicht aufgeben. Deshalb meinen wir, dass Beschwerlichkeiten und Gefahren um der Ehre Christi willen und zum Nutzen der Kirche durchgestanden werden müssen. Und wir vertrauen darauf, dass Gott diesen unsern Dienst anerkennen wird, und hoffen, dass die Nachwelt gerechter über uns urteilen wird. Denn es ist nicht zu bestreiten, dass viele Stücke der christlichen Lehre, auf die es in der Kirche besonders ankommt, von den Unseren an den Tag gebracht und ins Licht gestellt worden sind. Unter welchen und wie gefährlichen Meinungen sie früher verschüttet lagen bei den Mönchen, Kanonisten8 und sophistischen Theologen9, will ich hier 8. Lehrer des kanonischen Rechtes (Kirchenrecht). 9. »Sophist« hier = »Schönredner«, »Schwätzer« o. ä. Gemeint sind die mittelalterlichen Schultheologen (Scholastiker).

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nicht erzählen. Wir haben das öffentliche Zeugnis vieler vortrefflicher Leute, die Gott für diese höchste Wohltat danken, dass er über viele notwendige Stücke Besseres gelehrt hat, als allenthalben bei unseren Gegnern zu lesen ist. Wir empfehlen deshalb unsre Sache Christus. Er wird einst diese Streitigkeiten richten. Ihn bitten wir, er möge sich der bedrängten und zerstreuten Kirchen annehmen und sie wieder zu frommer und dauerhafter Eintracht zurückführen.

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Apologie des Bekenntnisses [Art. I:] Von Gott [4 Der dreieinige Gott] Den ersten Artikel unseres Bekenntnisses erkennen unsere Gegner an. In ihm legen wir dar, dass wir glauben und lehren, dass es ein einziges, göttliches, unteilbares usw. Wesen gibt und dennoch drei unterschiedene Personen ebendieses Wesens, göttlich und gleichfalls ewig, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Diesen Artikel haben wir immer gelehrt, und wir verteidigen ihn und meinen, dass er sichere und zuverlässige Zeugnisse in der Heiligen Schrift hat, die nicht erschüttert werden können. Und wir behaupten fest, dass die, die anders denken, außerhalb der Kirche Christi und Götzendiener sind und Gott Schmach antun.

[Art. II:] Von der Erbsünde [5 Radikalität der Erbsünde] Den zweiten Artikel »Von der Erbsünde« billigen die Gegner, aber so, dass sie dennoch unsere Definition der Erbsünde, die wir dabei vorgetragen haben, zurückweisen. Hier, sogleich am Eingang, wird die Kaiserliche Majestät erkennen, dass es denen, die die Konfutation verfasst haben, nicht nur an Urteilskraft, sondern auch an Lauterkeit gefehlt hat. Denn während wir unbefangen und beiläufig streifen wollten, was zur Erbsünde gehört, verdrehen sie künstlich durch eine zugespitzte Deutung den Sinn des Satzes, der doch an sich nichts Ungereimtes enthält. Sie sagen so: Ohne Gottesfurcht und ohne Glauben zu sein sei eine »Tatschuld«; sie bestreiten also, dass es sich hierbei um die »Erbschuld« handelt.10 Dass diese Spitzfindigkeiten ihren Ursprung in den Schulen und nicht im Rat des Kaisers haben, ist offensichtlich. Nun kann zwar 10. Nach scholastischer Auffassung ist erst der mit Zustimmung des Willens vollzogene sündhafte Akt im eigentlichen Sinne als Sünde und somit als schuldhaft zu betrachten.

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diese Spitzfindigkeit leicht widerlegt werden. Doch damit alle rechtschaffenen Menschen erkennen, dass wir nichts Unsinniges in dieser Sache lehren, bitten wir zunächst darum, dass man sich den deutschen Text des Bekenntnisses ansehen möge. Das wird uns vom Verdacht der Neuerung befreien. Dort nämlich heißt es: »Weiter wird gelehrt, dass nach dem Fall Adams alle Menschen, die natürlich geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, dass sie alle vom Mutterleib an voll böser Lust und Neigung sind, keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur [aus] haben können.«11 Diese Stelle bezeugt, dass wir nicht nur Handlungen, sondern auch das Vermögen oder die Gaben zum Bewirken von Furcht und Vertrauen gegenüber Gott denen absprechen, die nach der fleischlichen Natur geboren worden sind. Wir sagen nämlich, dass alle so Geborenen die »Begierde« haben und dass sie deshalb wahre Furcht und Vertrauen gegenüber Gott nicht aufbringen können. Was ist hier zu tadeln? Für treffliche Leute glauben wir freilich hinreichend gerechtfertigt zu sein. Denn in diesem Sinne spricht [auch] die lateinische Fassung der Natur die Fähigkeit dazu ab. Das heißt, sie spricht ihr die Gaben und das Vermögen ab, Furcht und Vertrauen gegenüber Gott aufzubringen, bei den Erwachsenen auch solche Handlungen. Wie wir, wenn wir von der Begierde sprechen, nicht nur Handlungen oder Früchte meinen, sondern die fortwährende Neigung der Natur. [6 Schuldcharakter der Erbsünde] Wir werden aber später noch ausführlicher zeigen, dass unsere Auslegung mit der gebräuchlichen und althergebrachten Definition übereinstimmt. Zuvor nämlich muss gezeigt werden, aus welchem Grund wir an dieser Stelle diese Worte gewählt haben. Die Gegner behaupten in ihren Schulen, der »Stoff« (wie sie sagen) der Erbsünde sei die Begierde. Deshalb durfte dies bei der Definition nicht übergangen werden, zumal heute, wo manche darüber wenig gottesfürchtig philosophieren. Denn einige von ihnen behaupten, die Erbsünde sei nicht ein Fehler oder eine Verderbtheit in der Natur des Menschen, sondern die

11. Deutscher Text des Augsburger Bekenntnisses, Art. 2, unsere Ausgabe S. 46.

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Last oder das Schicksal der Sterblichkeit, die alle, die von Adam abstammen, ohne eigene Verfehlung aufgrund der fremden Schuld tragen müssen.12 Sie fügen noch hinzu, dass niemand um der Erbsünde willen zum ewigen Tode verdammt werde: so wie von einer Sklavin Sklaven abstammen und diese Verfasstheit ohne Fehler der Natur, nur wegen des Unglücks der Mutter übernehmen. Wir haben, um zu zeigen, wie sehr uns diese gottlose Meinung missfällt, die Begierde erwähnt. In bester Absicht haben wir die Krankheiten [der menschlichen Natur] genannt und dargelegt, dass die Natur der Menschen verdorben und fehlerhaft geboren wird. [7 Definition der Erbsünde: Fehlen von Gottesfurcht und Gottvertrauen] Wir haben sie aber nicht nur eine Begierde genannt, sondern auch gesagt, dass Gottesfurcht und Glaube fehlen. Das haben wir deshalb hinzugefügt: Auch die scholastischen Lehrer13 verharmlosen die Erbsünde, weil sie die Definition der Erbsünde, die sie von den Kirchenvätern übernommen haben, ungenügend verstehen. Sie reden vom »Zunder«14. Er sei eine Beschaffenheit des Körpers. Und albern, wie sie sind, fragen sie: Ob es zu dieser Schwäche durch die Vergiftung des Apfels oder durch die Anhauchung der Schlange gekommen sei? Ob sie durch Heilmittel noch verschlimmert würde? Durch Fragen solcher Art haben sie das Hauptproblem verdeckt. Wenn sie von der Erbsünde reden, erwähnen sie daher gar nicht die schwereren Fehler der menschlichen Natur, nämlich Unkenntnis Gottes, Verachtung Gottes, Fehlen der Gottesfurcht und des Gottvertrauens, Gottes Gericht hassen, vor dem richtenden Gott fliehen, Gott zürnen, an der Gnade verzweifeln, Vertrauen auf gegenwärtige Dinge usw. Diese Seuchen, die dem Gesetz Gottes aufs heftigste entgegenwirken, haben die Scholastiker überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ja im Gegen12. So Zwingli in seinem Bekenntnis für den Augsburger Reichstag, der »Fidei ratio ad Carolum imperatorem« von 1530. 13. Vertreter der Schultheologie des Mittelalters (Scholastik). 14. Gemeint ist ein nach der Taufe zurückbleibender Rest der Erbsünde: das der Vernunft widerstreitende, zum Bösen neigende, das Gute erschwerende Begehren der Sinnlichkeit, das nicht schon als solches »Sünde« sei, sondern (wie der durch einen Funken entflammte Zunder) erst durch die Einwilligung der Vernunft zur »wirklichen Sünde« werde.

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teil, sie gestehen der menschlichen Natur bisweilen sogar unbeeinträchtigte Kräfte zu, [nämlich] Gott über alles zu lieben und seine Gebote zu erfüllen, und dies sogar im Hinblick auf das innerste Wesen der Handlungen. Sie sehen dabei nicht, dass sie Widersprüchliches vertreten. Denn: Gott aus eigenen Kräften über alles lieben zu können und seine Gebote zu erfüllen – was ist das anderes als die ursprüngliche Gerechtigkeit zu haben? Wenn aber die menschliche Natur derart große Kräfte besitzt, dass sie aus sich selbst heraus Gott über alle Dinge lieben kann (wie dies die Scholastiker zuversichtlich behaupten) – worin soll dann noch die »Erbsünde« bestehen? Wozu aber wird dann noch die Gnade Christi notwendig sein, wenn wir doch aufgrund eigener Gerechtigkeit gerecht werden können? Wozu bedarf es des Heiligen Geistes, wenn die menschlichen Kräfte aus sich selbst heraus Gott über alle Dinge lieben und seine Gebote erfüllen können? Wer sieht hier nicht, wie verkehrt die Gegner denken? Die leichteren Krankheiten der menschlichen Natur lassen sie gelten, die schwereren aber nicht. Sie, an die uns die Schrift doch überall erinnert und die die Propheten unablässig beklagen, nämlich fleischliche Sicherheit, Gottesverachtung, Gotteshass und ähnliche uns angeborene Laster. Aber nachdem die Scholastiker der christlichen Lehre die Philosophie einer Vollkommenheit der Natur beigemischt und, mehr als gut war, dem freien Willen und den »hervorgelockten« Werken zugerechnet haben, haben sie außerdem noch gelehrt, dass die Menschen aufgrund einer philosophischen oder weltlichen Gerechtigkeit (von der auch wir sagen, dass sie der Vernunft zugänglich ist und auf irgendeine Weise in unserer Gewalt steht) vor Gott gerechtfertigt würden. Sie konnten die innere Verdorbenheit der menschlichen Natur nicht wahrnehmen. Sie kann nämlich nur durch das Wort Gottes erkannt werden, das die Scholastiker in ihren Disputationen nicht oft behandeln. Dies waren die Gründe, warum wir bei der Beschreibung der Erbsünde auch die Begierde erwähnt und den menschlichen Kräften die Fähigkeit zur Gottesfurcht und zum Vertrauen auf Gott abgesprochen haben. Wir wollten nämlich zeigen, dass die Erbsünde auch diese Seuchen umfasst: die Unkenntnis in Bezug auf Gott, die Verachtung Gottes, das Fehlen von Gottesfurcht und Gottvertrauen, die Unfähigkeit, Gott zu lieben. Dies sind die schlimmsten Fehler der menschli-

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chen Natur, und sie stehen eigentlich im Widerstreit mit der ersten Tafel der Zehn Gebote15. [8 Übereinstimmung der reformatorischen Lehre mit der kirchlichen Tradition] Und doch haben wir damit nichts Neues gesagt. Die alte Definition besagt nämlich – richtig verstanden – genau dasselbe, wenn sie sagt: »Die Erbsünde ist ein Mangel an ursprünglicher Gerechtigkeit.« Was aber heißt hier »Gerechtigkeit«? Die Scholastiker streiten an dieser Stelle über spitzfindige Fragen, erklären aber nicht, was die Erbsünde ist. Ferner umfasst die Gerechtigkeit nach der Heiligen Schrift nicht nur die zweite Tafel der Zehn Gebote16, sondern auch die erste. Die [aber] enthält Gebote über die Gottesfurcht, den Glauben und die Liebe zu Gott. Deshalb beinhaltet die ursprüngliche Gerechtigkeit nicht nur eine Ausgewogenheit der körperlichen Eigenschaften, sondern auch folgende Gaben: eine zuverlässige Gotteserkenntnis, Gottesfurcht, Gottvertrauen oder doch immerhin eine gewisse Rechtschaffenheit und die Kraft, solche Regungen hervorzubringen. Und dies bezeugt auch die Heilige Schrift, wenn sie sagt, der Mensch sei »zum Bilde und zum Gleichnis« Gottes geschaffen.17 Denn was bedeutet dies anderes, als dass sich im Menschen eben die Weisheit und Gerechtigkeit abbildet, die Gott erfasst und in der sich Gott selbst spiegelt? Das heißt, dass dem Menschen Gaben verliehen worden sind: die Erkenntnis Gottes, die Gottesfurcht, das Gottvertrauen und dergleichen? So nämlich deuten Irenäus und Ambrosius die Gottebenbildlichkeit. [Ambrosius], der auch sonst noch viel zu dieser Frage anmerkt, schreibt einmal Folgendes: »Es gibt also keine nach dem Bilde Gottes geschaffene Seele, in der nicht Gott alle Zeit ist.«18 Auch zeigt Paulus in seinen Briefen an die Epheser und Kolosser, dass das Abbild Gottes die Gotteserkenntnis, »die Gerechtigkeit und die Wahrheit« ist.19 Und Petrus Lombardus hat keine Scheu zu behaupten,

15. Die »erste Tafel«: die Gebote, die sich auf Gott beziehen (erstes bis drittes Gebot nach der lutherischen Zählung). 16. Die »zweite Tafel« umfasst die Gebote, die sich auf die Mitmenschen beziehen. 17. Gen 1,26f. 18. Ambrosius von Mailand († 397), Hexaemeron VI, 8, 45 (PL 14, 260A). 19. Eph 5,9; Kol 3,10.

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die ursprüngliche Gerechtigkeit sei eben die Gottesebenbildlichkeit, die dem Menschen von Gott verliehen worden sei.20 Wir tragen hier Formulierungen der Alten vor, die der Abbild-Deutung des Augustin in keiner Weise zuwiderlaufen. Wenn die herkömmliche Definition die Sünde als einen Mangel an Gerechtigkeit bezeichnet, bestreitet sie nicht allein den Gehorsam der niederen menschlichen Kräfte, sondern auch die Gotteserkenntnis, das Gottvertrauen, die Gottesfurcht und die Gottesliebe – oder zumindest die Fähigkeit, solche Regungen hervorzubringen. Denn selbst die Theologen in ihren Schulen lehren, dass dies nicht ohne besondere Gaben und die Unterstützung der Gnade geschieht. Und damit dies verständlich wird, nennen wir eben diese Gaben: die Gotteserkenntnis, die Gottesfurcht und das Vertrauen auf Gott. Daraus wird ersichtlich, dass die alte Definition ganz dasselbe sagt, was wir sagen, wenn wir [den Menschen] Gottesfurcht und Gottvertrauen absprechen, und zwar nicht nur Handlungen, sondern auch die Gaben und die Kraft, dies zu bewirken. [9 Definition: Begierde] Genau dies ist auch der Sinn der Definition, die sich bei Augustin findet, der die Erbsünde für gewöhnlich »Begierde« nennt und damit zum Ausdruck bringt, dass die Begierde an die Stelle der ursprünglichen Gerechtigkeit getreten ist. Denn die kranke Natur, die Gott nicht fürchten und lieben und ihm nicht glauben kann, sucht und liebt die fleischlichen Dinge; und sie verachtet entweder im Gefühl der Sicherheit das Gericht Gottes, oder hasst es, weil sie erschreckt ist. Auf diese Weise fasst Augustin sowohl den Mangel als auch den sündhaften Zustand, der sich aus ihm ergibt, zusammen. Dennoch ist die Begierde nicht nur eine Verdorbenheit der körperlichen Eigenschaften, sondern auch eine böse Hinwendung zum Fleischlichen im Bereich der edleren Kräfte. Aber sie begreifen nicht, was sie sagen, wenn sie dem Menschen zugleich die nicht durch den Heiligen Geist getötete Begierde und eine alles übersteigende Liebe zu Gott zuschreiben. Deshalb haben wir bei der Beschreibung der Erbsünde mit Recht beides zum Ausdruck gebracht, nämlich jene Mängel, Gott nicht glau-

20. Petrus Lombardus († 1160), Sententiae II, 16, 4 (PL 192, 684).

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ben und ihn nicht fürchten oder lieben zu können, und ebenso, die Begierde zu haben, die wider Gottes Wort das Fleischliche sucht, d. h. nicht nur Vergnügungen des Körpers sucht, sondern auch fleischliche Weisheit und Gerechtigkeit, und in diese Güter ihr Vertrauen setzt, womit sie Gott verachtet. Und nicht allein die alten Lehrer, sondern auch die späteren – sofern sie nur etwas verständiger sind – lehren, dass dies zusammen tatsächlich die Erbsünde sei: die diversen Mängel, die ich aufgezählt habe, und die Begierde. Denn so sagt Thomas: »Die Erbsünde bedeutet einen Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit und damit verbunden eine ungeordnete Verfassung der Seelenteile. Deshalb ist sie nicht nur ein bloßer Verlust, sondern [zugleich auch] ein bestimmter verdorbener Zustand.«21 Und Bonaventura schreibt: »Wenn gefragt wird, was die Erbsünde sei, so ist dies die richtige Antwort: Sie ist eine ungezügelte Begierde. Richtig ist auch die Antwort: Sie ist ein Mangel an der geschuldeten Gerechtigkeit. Und in jeder dieser beiden Antworten ist die andere eingeschlossen.«22 Dasselbe meint auch Hugo von St. Viktor, wenn er sagt: »Die Erbsünde ist Unkenntnis im Geist und Begierde im Fleisch.«23 Er macht nämlich deutlich, dass wir von Geburt an eine Unkenntnis in Bezug auf Gott, Unglauben, Misstrauen, Verachtung und Hass gegenüber Gott in uns tragen. All dies nämlich meint er, wenn er von Unkenntnis spricht. Und diese Auffassungen stimmen mit der Heiligen Schrift überein. Denn Paulus nennt sie bisweilen ganz ausdrücklich einen Mangel, so z. B. in 1 Kor 2[,14]: »Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes.« Und anderswo hebt er hervor, dass die Begierde in den Gliedern wirksam sei und viele böse Früchte trage.24 Zu beidem könnten wir noch viel mehr Belege anführen. Aber in einer derart offenkundigen Sache bedarf es keiner [weiteren] Beweise. Der kluge Leser kann leicht erkennen, dass ohne Gottesfurcht und ohne Glauben zu sein nicht nur Tatsünden sind. Sie sind nämlich dauerhafte Schäden in der nicht erneuerten Natur. Wir lehren also nichts anderes über die Erbsünde, als die Schrift oder die katholische Kirche von ihr lehren. Vielmehr befreien wir die 21. 22. 23. 24.

Thomas von Aquin, Summa Theologica Ia/IIae, q. 82 a. 1 ad 1. Bonaventura, In sententiis II, 30, 2c. Hugo von St. Viktor, De sacramentis I, 7, 28 (PL 176, 299A). Röm 7,5.

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wichtigsten Schrift- und Väterworte, die infolge der sophistischen Streitereien der späteren Theologen verschüttet worden sind, vom Unrat und haben sie wieder ans Tageslicht gebracht. Denn die Sache selbst verrät, dass die neueren Theologen nicht begriffen haben, was die Väter ausdrücken wollten, als sie von einem »Mangel« sprachen. Eine richtige Erkenntnis der Erbsünde ist aber unbedingt notwendig. Denn die Größe der Gnade Christi kann nur dann verstanden werden, wenn zuvor unsere eigenen Krankheiten erkannt sind. Und die ganze Weisheit des Menschen ist bloße Heuchelei vor Gott, wenn wir nicht begriffen haben, dass unser Herz von Natur ganz ohne Liebe, Furcht und Vertrauen zu Gott ist. Deshalb sagt der Prophet: »Als ich zur Einsicht kam, schlug ich an meine Brust.«25 Und weiter: »Ich sprach in meinem Zagen: Alle Menschen sind Lügner«26, d. h., sie denken nicht richtig von Gott. [10 Verhältnis von Erbsünde und Taufe] Hier dreschen die Gegner auch auf Luther ein, weil der geschrieben hat: »Die Erbsünde bleibt nach der Taufe.«27 Und sie fügen hinzu, dieser Artikel sei durch Papst Leo X. völlig zu Recht verdammt worden.28 Aber die Kaiserliche Majestät wird bemerken, dass dies nur eine plumpe Verdrehung der Tatsachen ist. Die Gegner wissen nämlich, in welchem Sinne Luther die These verstanden wissen wollte, dass die Erbsünde auch nach der Taufe noch vorhanden sei. Denn immer hat er daran festgehalten, dass die Taufe die Schuld der Erbsünde beseitigt, obwohl die Quelle der Sünde, wie sie es nennen (nämlich die Begierde), bleibt. Und im Blick darauf hat er noch hinzugefügt, dass der Heilige Geist, der durch die Taufe verliehen ist, die Begierde zu töten beginnt und neue Regungen im Menschen weckt.29 Auf dieselbe Weise spricht auch Augustin, wenn er sagt: »Die Sünde wird in der Taufe vergeben, doch nicht so, dass sie nun nicht mehr da

25. Jer 31,19. 26. Ps 116,11. 27. So Luther in seiner zweiten These zur Leipziger Disputation 1519: Disputatio et excusatio F. Martini Lutheri etc. (1519), in: WA 2, 160,33–35. 28. In der Bannandrohungsbulle gegen Luther vom 15. Juni 1520. 29. So vor allem in Luthers Widerlegung des Loewener Theologen Jacobus Latomus (»Rationis Latomianae confutatio«) von 1521, in: WA 8, (36)43–128.

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ist. Sie wird nur nicht mehr zugerechnet.«30 Damit bezeugt er ganz offen, dass die Sünde noch da ist und bleibt, aber doch nicht mehr zugerechnet wird. Und diese Formulierung hat den Späteren so gut gefallen, dass sie sogar in den Dekreten zitiert worden ist. Und Augustin sagt in seiner Schrift »Gegen Julian«31: »Dieses Gesetz, das in den Gliedern haftet, ist durch die geistliche Wiedergeburt vergeben und bleibt [dennoch] im sterblichen Fleisch. Es ist vergeben, weil die Schuld durch das Sakrament, durch das die Gläubigen neu geboren werden, aufgehoben ist; es bleibt aber, weil es die Begierden weckt, mit denen sich die Gläubigen herumschlagen [müssen].«32 Dass Luther derart denkt und lehrt, wissen die Gegner. Und obwohl sie die Sache nicht verwerfen können, verdrehen sie doch seine Worte, um ihn, obwohl unschuldig, durch diesen Kunstgriff zu überwältigen. [11 Die Begierde ist selbst Sünde, nicht neutral] Sie aber behaupten, dass die Begierde eine »Strafe«, nicht aber eine »Sünde« sei. Luther hält daran fest, dass sie eine Sünde ist. Oben wurde festgestellt, dass Augustin die Erbsünde als »Begierde« definiert. Sie sollen sich bei Augustin beschweren, wenn dieser Satz etwas Anstößiges enthält. Außerdem sagt Paulus: »Ich wusste nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: ›Du sollst nicht begehren!‹«33; und ebenso: »Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.«34 Diese Schriftbeweise können durch keine Spitzfindigkeit aufgehoben werden. Denn unmissverständlich nennen sie die Begierde eine Sünde. Allerdings eine, die denen, die in Christus sind, nicht zugerechnet wird, obwohl die Sache, wenn sie nicht vergeben wird, eigentlich des Todes würdig ist. So denken, von Streitfällen abgesehen, auch die Väter. Denn Augustin widerlegt in einer ausführlichen Erörterung die Auffassung derer, die meinten, dass die Begierde im

30. Augustin, De nuptiis et concupiscentia I, 25 (PL 44, 430). 31. Julian von Aeclanum († um 454), Anhänger des Pelagius, der sich gegen die Erbsündenlehre Augustins wandte. 32. Augustin, Contra Julianum II, 3 (PL 44, 675). 33. Röm 7,7. 34. Röm 7,23.

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Menschen kein Fehler sei, sondern ein »Mittelding«, so wie z. B. die Farbe eines Körpers oder ein schlechter Gesundheitszustand Mitteldinge genannt werden. [Sünde als Widerstreben gegen Gott] Wenn aber die Gegner beteuern, der Zunder sei ein Mittelding, so werden [dem] nicht nur viele Sätze der Heiligen Schrift, sondern auch fast die ganze Kirche entgegenstehen – wenngleich die Väter an dieser Stelle keinen völligen Konsens erzielen konnten. Wer hätte je gewagt zu behaupten, es seien Mitteldinge, Gottes Zorn [und ebenso] seine Gnade und sein Wort in Zweifel zu ziehen? Zornig zu sein über Gottes Urteilssprüche und entrüstet darüber, dass Gott nicht sofort aus allen Anfechtungen rettet? Zu murren, wenn gottlose Menschen mehr Glück haben als fromme? Gereizt zu werden durch Zorn, Gier, Ehrsucht und Reichtum usw.? Und fromme Menschen erkennen dies auch bei sich selbst, wie die Psalmen und die Propheten zeigen. In den Schulen aber haben sie an dieser Stelle ganz fremde Auffassungen aus der Philosophie eingeführt: dass wir hinsichtlich der Leidenschaften weder gut noch böse und daher weder zu loben noch zu tadeln seien; ebenso, dass Sünde nur das sei, dem man willentlich zustimme. Diese Sätze sind von den Philosophen im Blick auf weltliche Gerichte, nicht aber im Blick auf das göttliche Gericht aufgestellt worden. Um nichts klüger flicken sie noch andere Lehrsätze an, dass die Natur nicht böse sei. Wird dies im richtigen Zusammenhang behauptet, so haben wir nichts dagegen; aber falsch wird es gewendet, wenn damit die Erbsünde verharmlost wird. Und doch liest man solche Lehrsätze bei den Scholastikern, die völlig unpassend eine philosophische oder politische Sittenlehre mit dem Evangelium vermischen. Und das wurde nicht nur in den Schulen erörtert, sondern, wie geschehen, auch unters Volk getragen. Und diese Meinungen wurden herrschend, stärkten das Vertrauen auf die menschlichen Fähigkeiten und unterdrückten die Erkenntnis der Gnade Christi. Deshalb hat Luther, der das Ausmaß der Erbsünde und der menschlichen Schwäche zeigen wollte, gelehrt, dass jene Reste der Erbsünde im Menschen ihrer Natur nach nicht Mitteldinge sind, sondern der Gnade Christi bedürfen, um nicht zugerechnet zu werden, sowie des Heiligen Geistes, um abgetötet zu werden.

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[12 Macht des Teufels und Übermacht Christi] Die Scholastiker verharmlosen beides, Sünde und Strafe, indem sie lehren, der Mensch könne aus eigenen Kräften die Gebote Gottes erfüllen. Im 1. Buch Mose aber wird die für die Erbsünde auferlegte Strafe anders geschildert. Dort wird nämlich die menschliche Natur nicht nur dem Tod und anderen körperlichen Übeln unterworfen, sondern auch der Herrschaft des Teufels. Denn da ergeht dieses schreckliche Urteil: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen.«35 Mangel und Begierde sind Strafen und Sünden. Der Tod, die anderen körperlichen Übel und die Tyrannei des Teufels sind im eigentlichen Sinne Strafen. Denn die menschliche Natur ist der Knechtschaft preisgegeben und wird vom Teufel gefangen gehalten, der sie durch gottlose Auffassungen und irrige Anschauungen betört und zu Sünden jeder Art verleitet. Wie aber der Teufel nicht überwunden werden kann, es sei denn mit Christi Hilfe, so können wir uns auch nicht aus eigenen Kräften aus dieser Knechtschaft befreien. Die Weltgeschichte selbst zeigt, wie groß die Macht der Teufelsherrschaft ist. Die Welt ist voll von Gotteslästerungen und Irrlehren. Und durch solche Fesseln hält der Teufel die, die vor der Welt als weise und gerecht gelten, gefangen. Bei anderen machen sich noch schlimmere Laster bemerkbar. Weil uns aber Christus gegeben ist, der auch diese Sünden und Strafen tilgt und die Herrschaft des Teufels, die Sünde und den Tod zerstört, werden die Wohltaten Christi nicht erkannt werden können, wenn wir nicht unsere Übel erkennen. Deshalb haben unsere Prediger auch so sorgfältig von diesen Dingen gesprochen und nichts Neues vorgetragen, sondern die Heilige Schrift und die Auffassungen der heiligen Väter wiedergegeben. [13 Appell an den Kaiser: Reformatoren vertreten die katholische Lehre von der Erbsünde] Dies – so meinen wir – wird der Kaiserlichen Majestät genügen hinsichtlich der kindischen und kalten Verdächtigungen, die die Gegner gegen unseren Artikel ins Feld geführt haben. Wir sind nämlich überzeugt, richtig und in Übereinstimmung mit der allgemeinen Kirche

35. Gen 3,15.

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Christi zu denken. Wenn aber die Gegner diesen Streit erneut entfachen wollen, so wird es bei uns nicht an Leuten fehlen, die ihnen antworten und für die Wahrheit eintreten. Denn die Gegner in dieser Sache verstehen zum großen Teil selbst nicht, was sie sagen. Oft widersprechen sie sich selbst. Sie erklären weder das Wesen der Erbsünde noch die »Mängel«, wie sie sagen, richtig und genau. Wir wollen hier aber nicht die Zänkereien dieser Leute bis ins Kleinste erörtern. Nur meinen wir, die Lehre der heiligen Väter, der auch wir folgen, mit verständlichen und deutlichen Worten vortragen zu müssen.

[Art. III:] Von Christus [14 Zweinaturenlehre und Heilswerk Christi] Den dritten Artikel lassen die Gegner gelten. In ihm bekennen wir, dass in Christus zwei Naturen sind, nämlich die menschliche Natur, die vom Wort aufgenommen wurde in die Einheit seiner Person;36 und dass derselbe Christus gelitten hat und gestorben ist, um uns den Vater zu versöhnen; und dass er wieder auferweckt worden ist, damit er herrsche, die Gläubigen rechtfertige und heilige usw. in Übereinstimmung mit dem Apostolischen und Nizänischen Glaubensbekenntnis.

[Art. IV:] Von der Rechtfertigung37 [15 Rechtfertigung als Hauptlehre: Sie ehrt Christus und tröstet die Gewissen] Im vierten, fünften und sechsten und weiter unten im zwanzigsten Artikel verurteilen sie uns, weil wir lehren, dass die Menschen nicht um ihrer eigenen Verdienste willen, sondern umsonst, um Christi

36. Vgl. Joh 1,14. 37. Zu den Übereinstimmungen in der Rechtfertigungslehre, die die lutherischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche heute sehen, und zu den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, die die Darstellung der Rechtfertigungslehre in der »Gemeinsamen Erklärung« und der »Gemeinsamen Offiziellen Feststellung« nicht treffen, siehe S. 48, Anm. 24.

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willen, die Vergebung der Sünden erlangen durch den Glauben an Christus. Denn sie verdammen beides, sowohl, dass wir bestreiten, dass die Menschen durch ihre eigenen Verdienste die Vergebung der Sünden erlangen, als auch, dass wir behaupten, dass die Menschen durch den Glauben die Vergebung der Sünden empfangen und durch den Glauben an Christus gerechtfertigt werden. Weil es aber in diesem Streit um das Hauptstück der christlichen Lehre geht, das, richtig verstanden, die Ehre Christi ins Licht stellt und vermehrt und den frommen Gewissen den nötigen und reichlichen Trost gewährt, bitten wir, die Kaiserliche Majestät möge uns in dieser hochwichtigen Angelegenheit freundlich anhören. Denn weil die Gegner weder wissen, was die Vergebung der Sünden, noch was der Glaube, noch was die Gnade, noch was die Gerechtigkeit ist, verhunzen sie diesen Lehrpunkt elend. Sie verdunkeln den Ruhm und die Wohltaten Christi und stehlen den frommen Gewissen den ihnen in Christus gewährten Trost. [16 Fundamentale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium] Um aber unser Bekenntnis bekräftigen und die Vorwürfe der Gegner entkräften zu können, ist zu Beginn einiges vorauszuschicken, damit die Quellen beider Lehrarten, die der Gegner und die unsere, erkennbar werden. Die ganze Schrift muss in die zwei folgenden Hauptstücke eingeteilt werden: in das Gesetz und in die Verheißungen. Denn an einigen Stellen verkündigt sie das Gesetz und an anderen die Verheißung von Christus. So z. B. wenn sie verspricht, dass Christus kommen wird, und um seinetwillen die Vergebung der Sünden, die Rechtfertigung und das ewige Leben verheißt. Oder wenn Christus im Evangelium, nachdem er erschienen ist, die Vergebung der Sünden, die Rechtfertigung und das ewige Leben zuspricht. In dieser Abhandlung aber nennen wir die Zehn Gebote das »Gesetz« (wo immer in der Heiligen Schrift sie auch zu lesen sind). Über die Zeremonien und die Judizialgesetze des Mose reden wir jetzt nicht. [17 »Gerechtigkeit des Gesetzes«: ein heilloser Irrweg] Von beiden [Stücken] greifen die Gegner das Gesetz auf, weil die menschliche Vernunft von Natur aus in gewisser Weise das Gesetz erkennt (sie hat es nämlich von Gott her als ins Herz geschriebene

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Einsicht). Und nun suchen sie durch das Gesetz Vergebung der Sünden und Rechtfertigung. Die Zehn Gebote aber fordern nicht nur äußere, weltliche Werke, die in gewisser Weise auch die Vernunft vollbringen kann, sondern auch andere, die weit über dem, was die Vernunft kann, liegen. Nämlich Gott wirklich zu fürchten, ihn wirklich zu lieben und anzurufen, wirklich überzeugt zu sein, dass er [uns] erhört, und Gottes Hilfe zu erwarten im Tode und in allen Anfechtungen; schließlich fordern die Gebote Gehorsam gegen Gott im Tode und in allen Anfechtungen, damit wir vor diesen nicht fliehen und uns abwenden, wenn Gott sie auferlegt. [Der Irrtum von der »natürlichen Gottesliebe«] Im Anschluss an die Philosophen lehren die Scholastiker hier nur eine Gerechtigkeit der Vernunft, also weltliche Werke. Und sie erdichten noch dazu, die Vernunft könne Gott auch ohne den Heiligen Geist über alles lieben. Denn solange der menschliche Geist unbeschwert ist und den Zorn und das Urteil Gottes nicht spürt, kann er sich einbilden, Gott zu lieben und um seinetwillen Gutes tun zu wollen. So lehren sie, dass die Menschen die Vergebung der Sünden verdienen, indem sie tun, was in ihnen ist, wenn die Vernunft im Schmerz über die Sünde einen Akt der Gottesliebe hervorbringt oder um Gottes willen Gutes tut. Und weil diese Auffassung den Menschen von Natur aus schmeichelt, hat sie eine Fülle kirchlicher Gebräuche hervorgebracht und vermehrt, so z. B. die Mönchsgelübde, die Missbräuche der Messe; und danach haben andere aufgrund dieser Meinung noch weitere Gebräuche und Vorschriften ersonnen. Und um das Vertrauen auf solche Werke noch zu nähren und zu mehren, haben sie behauptet, Gott müsse einem, der so handelt, notwendig gnädig sein, [wenn auch] nicht aufgrund einer »Notwendigkeit des Zwanges«, sondern »der Unveränderlichkeit«. [18 Christi Gerechtigkeit würde entbehrlich werden] In dieser Auffassung wurzeln viele verderbliche Irrtümer. Sie hier aufzuzählen würde aber zu lange dauern. Nur eines möge der kluge Leser bedenken: Wenn dies die christliche Gerechtigkeit ist, wo liegt dann der Unterschied zwischen der Philosophie und der Lehre Christi? Wenn wir die Vergebung der Sünden durch diese unsere hervorgelockten Werke verdienen, was leistet dann Christus noch?

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Wenn wir durch die Vernunft und ihre Werke gerechtfertigt werden können, wozu brauchen wir dann noch Christus oder die Wiedergeburt? Auch ist es aufgrund dieser Anschauungen schon so weit gekommen, dass viele uns verspotten, weil wir lehren, dass eine andere als die philosophische Gerechtigkeit gesucht werden müsse. Wir haben gehört, dass einige Leute anstatt der Predigt – unter Hintanstellung des Evangeliums – die Ethik des Aristoteles vorgetragen haben. Und sie taten nichts Falsches, wenn wirklich wahr ist, was die Gegner verteidigen. Denn Aristoteles hat derart gelehrt über die weltlichen Sitten geschrieben, dass in diesen Dingen eigentlich gar nichts mehr zu erforschen bleibt. Wir sehen, dass es Bücher gibt, in denen bestimmte Worte Jesu mit denen des Sokrates, des Zenon38 oder anderer verglichen werden, ganz so, als sei Christus gekommen, um uns irgendwelche Gesetze vorzutragen. [Und zwar Gesetze], durch deren Befolgung wir die Vergebung der Sünden verdienten, sie also nicht mehr umsonst (d. h. um des Verdienstes Christi willen) empfingen. Wenn wir hier die Lehre der Gegner übernähmen, dass wir die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung durch Werke der Vernunft verdienen, gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen der philosophischen oder wahrhaft pharisäischen Gerechtigkeit und der christlichen Gerechtigkeit. [19 Angeblicher »Zustand der Gnade«] Um Christus nicht ganz zu übergehen, fordern die Gegner aber dennoch die Kenntnis der Geschichte von Christus. Und sie gestehen ihm zu, er habe es für uns verdient, dass wir mit einem gewissen »Zustand« begabt würden, der »ersten Gnade«, wie sie es nennen. Diese verstehen sie als einen Zustand, der es uns möglich macht, Gott leichter zu lieben. Was sie diesem Zustand zuschreiben, ist allerdings dürftig. Sie behaupten nämlich, dass die Willensakte vor und nach jenem Zustand von der gleichen Art sind. Sie bilden sich ein, der Wille könne Gott lieben; aber der Zustand stachle ihn dennoch dazu an, dies lieber zu tun. Und sie fordern zunächst, dass dieser Zustand durch vorangehende Werke verdient werde; sodann verlangen sie, das Wachstum dieses Zustandes und das ewige Leben durch Werke des Gesetzes zu 38. Zenon [der Jüngere] († 262 v. Chr.), Gründer der philosophischen Schule der Stoa.

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verdienen. So begraben sie Christus, damit die Menschen ihn nicht als Mittler in Anspruch nehmen und darauf vertrauen, um seinetwillen, umsonst die Vergebung der Sünden und die Versöhnung zu empfangen. Vielmehr sollen sie sich einbilden, durch eigene Gesetzeserfüllung Vergebung der Sünden zu erlangen und durch eigene Gesetzeserfüllung vor Gott gerecht gesprochen zu werden, obwohl doch dem Gesetz niemals Genüge geschieht. Denn die Vernunft vollbringt nichts anderes als weltliche Werke. Dabei fürchtet sie Gott nicht und glaubt auch nicht wirklich, dass er für sie sorgt. Und obwohl sie von diesem Zustand sprechen, so kann es doch ohne Glaubensgerechtigkeit unmöglich Liebe zu Gott in den Menschen geben, noch kann man verstehen, was die Gottesliebe ist. [20 Selbsttäuschung über »Verdienste«] Und wenn sie einen Unterschied ersinnen zwischen dem »Verdienst aus Billigkeit« und dem »aus Würdigkeit«, so ist das nur eine Täuschung, damit man nicht merkt, dass sie offenkundig Pelagianer39 sind. Denn wenn Gott notwendig Gnade erweist für das Billigkeitsverdienst, so ist es ja kein solches mehr, sondern ein Verdienst aus Würdigkeit. Sie aber sehen nicht, was sie da sagen. Nach jenem Zustand der Liebe, so fabulieren sie, verdiene der Mensch die Gnade aus Würdigkeit. Gleichwohl verlangen sie zu zweifeln, ob dieser Zustand auch [wirklich] erreicht ist. Wie wissen sie dann aber, ob sie die Gnade aufgrund der Billigkeit oder aufgrund der Würdigkeit verdienen? Aber – diese ganze Sache ist von müßigen Leuten ersonnen worden, die nicht wussten, wie uns die Vergebung der Sünden widerfährt und wie uns im Gericht Gottes und den Gewissensqualen das Vertrauen auf die Werke ausgetrieben wird. Die selbstsicheren Heuchler meinen immer, dass sie es der Würdigkeit wegen verdienen, mag jener Zustand nun da sein oder nicht, weil sich die Leute von Natur aus auf die eigene Gerechtigkeit verlassen. Die erschrockenen Gewissen aber schwanken und zweifeln; unterdessen suchen sie nach anderen Werken und häufen sie an, um sich zu beruhigen. Sie glauben niemals, das Würdigkeitsverdienst zu erlangen, und stürzen in Verzweiflung, 39. Anhänger des Augustingegners Pelagius, der zu Beginn des 5. Jahrhunderts auftrat und die Freiheit des menschlichen Willens gegen die Lehre von der Erbsünde betonte.

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wenn sie nicht außer der Gesetzeslehre auch das Evangelium von der umsonst geschenkten Sündenvergebung und Glaubensgerechtigkeit hören. So lehren die Gegner nichts als die Gerechtigkeit der Vernunft oder doch des Gesetzes, auf welche sie schauen wie die Juden auf das verhüllte Angesicht des Mose.40 In den selbstsicheren Heuchlern, die dem Gesetz Genüge zu tun meinen, wecken sie Anmaßung, eitles Vertrauen auf die Werke und Verachtung der Gnade Christi. Die furchtsamen Gewissen dagegen treiben sie zur Verzweiflung, die, weil sie voller Zweifel Werke tun, nie erfahren können, was Glaube ist und wie er wirkt. Deshalb verzweifeln sie schließlich völlig. [21 Lob der Vernunftgerechtigkeit] Wir aber denken so von der Gerechtigkeit der Vernunft: Gott fordert sie, und wegen des Gebotes Gottes müssen notwendig die ehrbaren Dinge getan werden, die die Zehn Gebote fordern, nach dem Schriftwort: »So ist das Gesetz unser Zuchtmeister«41, und ebenso: »Das Gesetz ist für die Ungerechten gegeben.«42 Denn Gott will, dass die fleischlichen Menschen durch diese äußerliche Ordnung in die Schranken gewiesen werden. Und um diese aufrechtzuerhalten, hat er Gesetze, Schriften, Lehre, Obrigkeit und Strafen gegeben. Zwar kann auch die Vernunft aus ihren eigenen Kräften irgendwie eine solche Gerechtigkeit herstellen, wenngleich sie oft durch die ihr angeborene Schwäche und den andrängenden Teufel besiegt wird, der sie zu schlimmen Untaten verleitet. Zwar haben auch wir dieser Vernunftgerechtigkeit gern das ihr gebührende Lob gezollt (denn unsere verdorbene Natur hat kein größeres Gut, und zu Recht sagt Aristoteles: »Weder der Morgen- noch der Abendstern sind schöner als die Gerechtigkeit«43, und Gott belohnt sie auch mit leiblichen Gütern). Dennoch darf sie nicht derart gepriesen werden, dass Christus dadurch Schmach angetan wird.

40. 41. 42. 43.

Ex 34,30–35; 2 Kor 3,13. Gal 3,24. 1 Tim 1,9. Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 3.

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[Falsche Beurteilung des eigenen Tuns] Denn falsch ist es, dass wir durch unsere Werke die Vergebung der Sünden verdienen. Und falsch ist es auch, dass die Menschen um der Gerechtigkeit der Vernunft willen vor Gott als gerecht gelten. Falsch ist auch dies, dass die Vernunft aus ihren Kräften Gott über alles lieben und sein Gesetz erfüllen kann. Sie kann nämlich nicht wirklich Gott fürchten, nicht wirklich glauben, dass er Gebete erhört, nicht Gott gehorsam sein wollen angesichts des Todes und anderer Schickungen Gottes. Sie kann nicht davon ablassen, Fremdes zu begehren usw., obwohl die Vernunft weltliche Werke vollbringen kann. Falsch ist es auch und eine Schmähung für Christus dazu, dass Menschen, die die Gebote Gottes ohne Gnade erfüllen, nicht sündigen. [22 Schrift und Kirchenväter belegen das Unvermögen von Vernunft und Willen] Für diese unsere Lehre können wir Beweise beibringen, nicht nur aus der Heiligen Schrift, sondern auch aus den Kirchenvätern. Denn Augustin schreibt gegen die Pelagianer sehr ausführlich darüber, dass die Gnade nicht um unserer Verdienste willen verliehen wird. Und in seiner Schrift »Von Natur und Gnade« sagt er: »Wenn das natürliche Vermögen durch den freien Willen erkennen kann, wie man leben soll, und zu einem guten Leben ausreicht, so ist Christus umsonst gestorben44 und das Ärgernis des Kreuzes45 völlig sinnlos. Warum soll deshalb auch ich hier nicht aufschreien? Ja, ich werde schreien und sie voll christlichen Schmerzes anklagen: ›Ihr habt Christus verloren, die ihr durch die Natur gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.‹46 ›Denn ihr erkennt die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und sucht eure eigene Gerechtigkeit aufzurichten und seid so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.‹47 Denn so wie Christus ›das Ende des Gesetzes‹ ist, so ist er auch der Erlöser der verdorbenen 44. 45. 46. 47.

Gal 2,21. 1 Kor 1,23. Gal 5,4. Röm 10,3.

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menschlichen Natur ›zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt‹48.«49 Und Joh 8[,36] heißt es: »Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.« Durch die Vernunft können wir also nicht von den Sünden befreit werden und die Vergebung der Sünden verdienen. Und Joh 3[,5] steht geschrieben: »Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.« Wenn wir aber durch den Heiligen Geist wiedergeboren werden müssen, so rechtfertigt uns die Gerechtigkeit der Vernunft nicht vor Gott; sie erfüllt das Gesetz nicht. Röm 3[,23]: »Sie ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten«, d. h., sie ermangeln der Weisheit und der Gerechtigkeit, die Gott anerkennt und rühmt. Ebenso heißt es Röm 8[,7f]: »Fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag’s auch nicht. Die aber fleischlich gesinnt sind, können Gott nicht gefallen.« »Dies aber sind so klare Beweise, dass sie keines scharfen Verstandes bedürfen, sondern nur eines aufmerksamen Zuhörers«, um es mit Augustin zu sagen, der ebendiese Worte in der gleichen Streitfrage benutzt hat.50 Wenn aber ein fleischlicher Sinn Feindschaft gegen Gott ist, so steht fest, dass das Fleisch Gott nicht liebt. Und wenn das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht unterworfen werden kann, kann es Gott auch nicht lieben. Und wenn ein fleischlicher Sinn Feindschaft gegen Gott ist, so sündigt das Fleisch auch dann, wenn wir äußere, weltliche Dinge tun. Und wenn ein solcher Sinn dem Gesetz Gottes nicht unterworfen werden kann, so sündigt er auch dann, wenn er nach menschlichem Urteil außerordentliche oder hervorragende Dinge vollbringt. [Fehlurteil der Gegner: Nichtbeachtung der ersten Tafel des Dekalogs] Die Gegner schauen hier [nur] auf die Gebote der zweiten Tafel, die die weltliche Gerechtigkeit umfassen, die auch die Vernunft begreift. Damit zufrieden, glauben sie, das Gesetz Gottes zu erfüllen. Dabei lassen sie aber die erste Tafel ganz außer Acht, die gebietet, Gott zu lieben, fest davon überzeugt zu sein, dass er der Sünde zürnt, ihn wirklich zu fürchten und gänzlich sicher zu sein, dass er uns erhört. 48. Röm 10,4. 49. Augustin, De natura et gratia XL, 47 (PL 44, 270). 50. Augustin, De gratia et libero arbitrio VIII, 19 (PL 44, 892).

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Wenn aber der Heilige Geist nicht da ist, verachtet das menschliche Herz entweder in falscher Sicherheit das Urteil Gottes, oder aber es flieht angesichts der Strafe und hasst den richtenden Gott. Deshalb ist es der ersten Tafel nicht gehorsam. Da die Verachtung Gottes und der Zweifel an seinem Wort, an den Drohungen und Verheißungen demnach [bereits] in der Natur des Menschen liegen, sündigen die Menschen tatsächlich auch dann, wenn sie – ohne den Heiligen Geist! – ehrbare Dinge tun. Sie tun diese dann nämlich aus einem gottlosen Herzen heraus, ganz nach jenem Spruch: »Was aber nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde.«51 Sie handeln dann nämlich unter Missachtung Gottes, so wie auch Epikur52 nicht glauben wollte, dass Gott sich um ihn sorge, ihn beachte oder erhöre. Und diese Missachtung verdirbt die scheinbar ehrbaren Werke, denn Gott richtet die Herzen. [23 »Hervorgelockte Werke«: Verkennung von Gottes Gericht und Gewissensschrecken] Völlig unklug behaupten die Gegner dann zuletzt auch noch dies: Die Menschen könnten, obwohl sie dem Zorn verfallen wären, durch ein hervorgelocktes Werk der Liebe die Vergebung der Sünden verdienen. – Dabei ist es doch unmöglich, Gott zu lieben, ohne dass man zuvor im Glauben die Vergebung der Sünden ergriffen hat! Denn wenn das Herz wirklich fühlt, dass ihm Gott zürne, kann es Gott nicht lieben, es sei denn, er zeigt sich versöhnt. Solange ihm Gott aber Schrecken einjagt und es so scheint, als wolle Gott uns in den ewigen Tod stoßen, so lange kann sich die menschliche Natur nicht dazu aufraffen, den zürnenden, richtenden und strafenden Gott zu lieben. Für innerlich unbeteiligte Leute ist es natürlich leicht, derartige Phantasien über die Liebe auszuspinnen, z. B. dass auch ein einer Todsünde Angeklagter Gott über alles lieben könne. Sie wissen nämlich gar nicht, was »Zorn« oder was »Gericht Gottes« bedeutet. Aber wenn es im Kampf steht und in der Schlachtreihe, dann erfährt das Gewissen schnell, wie hohl diese philosophischen Hirngespinste sind. Paulus sagt: »Das Gesetz richtet Zorn an.« Er sagt nicht: Durch das Gesetz 51. Röm 14,23. 52. Epikur († 270 v. Chr.), Gründer der nach ihm benannten philosophischen Schule.

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verdienen die Menschen die Vergebung der Sünden. Denn das Gesetz klagt die Gewissen immer nur an und erschreckt sie zu Tode. Es rechtfertigt also nicht, denn das durchs Gesetz erschreckte Gewissen flieht vor dem Urteil Gottes. Wer darauf vertraut, sich durch das Gesetz, d. h. durch eigene Werke die Vergebung der Sünden verdienen zu können, irrt also. Und damit genug von der Gerechtigkeit der Vernunft oder des Gesetzes, wie sie unsere Gegner lehren. Denn schon bald (wenn wir unser Verständnis der Glaubensgerechtigkeit erläutern) zwingt uns die Sache selbst dazu, weitere Beweise zu erbringen; auch sie werden dazu beitragen, die Irrtümer der Gegner, die wir bisher aufgezählt haben, über den Haufen zu werfen.

Das Evangelium: Verheißung der Rechtfertigung um Christi willen [24 Sündenvergebung als Geschenk] Aus eigenen Kräften können die Menschen Gottes Gesetz also nicht erfüllen. Sie sind alle unter der Sünde und des ewigen Zornes und Todes schuldig. Deshalb können wir auch nicht durchs Gesetz von der Sünde befreit und gerechtfertigt werden, vielmehr ist die Verheißung der Sündenvergebung und Rechtfertigung um Christi willen gegeben. Er ist uns gegeben, damit er für die Sünden der Welt Genugtuung leiste, ist eingesetzt als Mittler und Versöhner. Und diese Verheißung hängt nicht von unseren Verdiensten ab, sondern bietet die Sündenvergebung und Rechtfertigung umsonst an, wie Paulus sagt: »Ist’s aber aus Werken, so ist’s nicht mehr Gnade.«53 Und an anderer Stelle: »Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wird ohne Zutun des Gesetzes offenbar«54, d. h., die Sündenvergebung wird umsonst angeboten. Auch hängt die Versöhnung nicht von unseren Werken ab. Wenn aber die Sündenvergebung von unsern Verdiensten abhinge und die Versöhnung durch das Gesetz käme, dann wären sie nutzlos. Denn weil wir das Gesetz nicht erfüllen können, so folgt daraus, dass wir auch die verheißene Versöhnung niemals erlangen würden. Deshalb schlussfolgert Paulus auch in Röm 4 [,14]: »Wenn aus dem Gesetz das Erbe kommt, dann ist der Glaube nichts, und die Verheißung ist da53. Röm 11,6. 54. Röm 3,21.

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hin.« Wenn nämlich die Verheißung von unseren Verdiensten und vom Gesetz abhinge, wir aber das Gesetz niemals erfüllen können, so folgte daraus, dass die Verheißung sinnlos wäre. [25 Gerechtigkeit des Christusglaubens statt Gesetzesgerechtigkeit] Wenn uns aber die Rechtfertigung durch eine umsonst geschenkte Verheißung zuteilwird, so folgt daraus, dass wir uns nicht selbst rechtfertigen können. Wozu wäre sonst die Verheißung nötig? Und weil die Verheißung nur im Glauben ergriffen werden kann, verkündet das Evangelium, das eigentlich nichts anderes ist als die Verheißung der Sündenvergebung und der Rechtfertigung um Christi willen, die Gerechtigkeit des Glaubens an Christus. Das Gesetz lehrt diese Gerechtigkeit nicht; sie ist auch keine Gesetzesgerechtigkeit. Denn das Gesetz fordert von uns Werke und Vollkommenheit. Die Verheißung aber bietet uns, wenn wir von Sünde und Tod schier erdrückt werden, umsonst die Versöhnung um Christi willen an. Die aber wird nicht durch Werke, sondern allein durch den Glauben empfangen. Dieser Glaube kommt nicht im Vertrauen auf eigene Verdienste zu Gott, sondern allein im Vertrauen auf die Verheißung oder die in Christus versprochene Barmherzigkeit. Dieser besondere Glaube55 also, mit dem ein jeder glaubt, dass ihm selbst die Sünden um Christi willen vergeben werden und dass Gott um Christi willen versöhnt und gnädig ist, erlangt die Vergebung der Sünden und rechtfertigt uns. Und weil er in der Buße, d. h. in den Schrecken des Gewissens, die Herzen tröstet und aufrichtet, erneuert er uns auch und bringt den Heiligen Geist, so dass wir dann das Gesetz Gottes erfüllen können: nämlich Gott lieben, Gott wirklich fürchten, wirklich glauben, dass Gott [uns] erhört, Gott gehorsam sein in allen Anfechtungen. [Dieser Glaube] tötet die [böse] Begierde usw. Der Glaube, der die Sündenvergebung umsonst empfängt, weil er dem Zorn Gottes den Mittler und Versöhner Christus entgegenhält, führt vor Gott also nicht unsere Verdienste und unsere Liebe ins Feld. Dieser Glaube ist die wahre Erkenntnis Christi. Er nimmt die Wohltaten Christi in Gebrauch. Er erneuert die Herzen und geht der Erfüllung des Gesetzes voraus. Von diesem Glauben aber wird in der Lehre unserer Gegner mit keinem Wort 55. Melanchthon gebraucht hier den auch von Luther in diesem Sinne benutzten Ausdruck »fides specialis«.

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gesprochen. Deshalb werfen wir den Gegnern vor, dass sie nur die Gesetzesgerechtigkeit lehren. Sie lehren nicht die Gerechtigkeit des Evangeliums, das die Gerechtigkeit des Glaubens an Christus verkündigt.

Was ist »rechtfertigender Glaube«? [26 Christusglaube: nicht nur historisches Wissen, sondern Empfangen der Rechtfertigungszusage] Die Gegner wollen uns weismachen, der Glaube sei nur ein geschichtliches Wissen von Christus. Und deshalb lehren sie, er könne auch im Zustand der Todsünde fortbestehen. Sie reden also gar nicht von dem Glauben, von dem Paulus so oft sagt, dass die Menschen durch ihn gerechtfertigt werden. Denn die, die vor Gott als gerecht gelten, befinden sich ja gar nicht im Zustand der Todsünde. Aber der Glaube, der uns rechtfertigt, ist nicht nur ein geschichtliches Wissen von Christus, sondern eine Zustimmung zu der Verheißung Gottes, durch die uns umsonst, d. h. um Christi willen, die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung angeboten werden. Und damit niemand meint, er sei nur ein Wissen, fügen wir noch hinzu: Der Glaube besteht darin, die angebotene Sündenvergebung und Rechtfertigung zu wollen und zu empfangen. Der Unterschied zwischen diesem Glauben und der Gerechtigkeit aus dem Gesetz ist leicht zu erkennen: Der Glaube ist ein Gottesdienst56, der [darin besteht, dass man] die von Gott angebotenen Wohltaten annimmt; die Gesetzesgerechtigkeit [hingegen] ist ein Gottesdienst, der Gott unsere Verdienste anbietet. Gott aber will im Glauben verehrt werden; d. h., er will, dass wir von ihm (selbst) das annehmen, was er verheißt und anbietet. [Wechselbeziehung von Vergebungszusage und Glauben] Dass aber das Wort »Glaube« nicht nur ein historisches Wissen meint, sondern den Glauben, der der Verheißung zustimmt, bezeugt auch Paulus deutlich, wenn er sagt: »Deshalb kommt die Gerechtigkeit aus dem Glauben, damit die Verheißung festbleibe.«57 Er ist nämlich da56. Röm 9,4; 12,1. 57. Röm 4,16.

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von überzeugt, dass die Verheißung nur im Glauben empfangen werden kann. Deshalb rückt er die Verheißung und den Glauben in eine enge Wechselbeziehung und verbindet sie miteinander. Gleichwohl wird sich leicht bestimmen lassen, was der Glaube ist, wenn wir das [Apostolische] Glaubensbekenntnis betrachten. Dort nämlich wird folgendes Kennzeichen genannt: »Vergebung der Sünden«. Deshalb reicht es nicht aus zu glauben, dass Christus geboren worden ist, gelitten hat und wieder auferweckt worden ist. Wir müssen vielmehr auch hinzunehmen, was der Endzweck dieser ganzen Geschichte ist: Vergebung der Sünden. Und auf diesen Artikel müssen auch alle übrigen bezogen werden, dass uns nämlich um Christi willen und nicht aufgrund unserer Verdienste Vergebung der Sünden geschenkt wird. Denn wozu wäre es nötig gewesen, Christus um unserer Sünden willen hinzugeben, wenn auch unsere eigenen Verdienste für unsere Sünden hätten genugtun können? [27 Glaube empfängt die Barmherzigkeit Gottes] Sooft wir also vom rechtfertigenden Glauben sprechen, muss man wissen, dass hier drei Dinge zusammenfallen: die »Verheißung« (und zwar die umsonst geschenkte), die »Verdienste Christi« (gleichsam als das Lösegeld) und die »Versöhnung«. Die Verheißung wird im Glauben empfangen; dass sie umsonst geschenkt wird, schließt unsere Verdienste aus und zeigt an, dass diese Wohltat nur aus Erbarmen angeboten wird; Christi Verdienste sind das Lösegeld, weil es doch eine Sühne für unsere Sünden geben muss. Die Heilige Schrift fleht häufig um Barmherzigkeit. Und die heiligen Väter sagen oft, dass wir durch die Barmherzigkeit gerettet werden. Immer dann, wenn von Barmherzigkeit gesprochen wird, muss man folglich berücksichtigen, dass dabei der Glaube gefordert wird, der die Verheißung der Barmherzigkeit empfängt. Und umgekehrt gilt: Immer dann, wenn wir vom Glauben sprechen, dann wollen wir, dass man seinen Gegenstand, d. h. die verheißene Barmherzigkeit vor Augen hat. Denn der Glaube rechtfertigt und erlöst nicht deshalb, weil er ein an sich würdiges Werk ist, sondern nur deshalb, weil er die verheißene Barmherzigkeit empfängt. [Schriftbeweis für den empfangenden Glauben] Und dieser Kult, dieser Gottesdienst wird von den Propheten und in den Psalmen durchweg hoch gepriesen, obwohl doch das Gesetz die

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umsonst geschenkte Sündenvergebung nicht lehrt. Aber die Erzväter kannten die Verheißung über Christus, dass nämlich Gott um Christi willen die Sünden vergeben will. Weil sie so erkannten, dass Christus das Lösegeld für unsere Sünden sein würde, deshalb wussten sie auch, dass unsere Werke nicht das Entgelt für eine solch große Sache sind. Im Glauben empfingen sie deshalb auch die umsonst geschenkte Barmherzigkeit und die Vergebung der Sünden – ganz so wie die Heiligen im Neuen Testament. Hierauf beziehen sich auch all die zahlreichen Erwähnungen der Barmherzigkeit und des Glaubens in den Psalmen und bei den Propheten, wie z. B. diese: »Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?«58 Hier bekennt [David] seine Sünden und bringt nicht seine Verdienste vor. Und er fügt hinzu: »Denn bei dir ist die Vergebung.«59 Hier richtet er sich wieder auf, und zwar im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes. Und er führt die Verheißung an: »Meine Seele harrt auf sein Wort, meine Seele hofft auf den Herrn.«60 Das heißt: »Weil du[, Gott,] die Vergebung der Sünden versprochen hast, werde ich sie durch diese deine Verheißung erhalten.« [28 Vertiefung des Schriftbeweises61] Und Paulus schreibt über Abraham: »Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden«,62 d. h., Abraham hat geglaubt, er habe allein um der Verheißung willen einen gnädigen Gott. Er hat der Verheißung Gottes zugestimmt, und er hat es nicht hingenommen, aus ihr herausgerissen zu werden, auch wenn es so erschien, als sei er unrein und unwürdig. Er glaubte, Gott halte sein Versprechen um seiner Wahrhaftigkeit willen aufrecht, nicht wegen unserer Werke oder Verdienste. Auch können die erschrockenen Herzen keinen Frieden finden, wenn sie denken müssen, sie gefielen um eigener Werke, Liebe oder Erfüllung des Gesetzes willen, weil im Fleisch die Sünde steckt, die uns immer anklagt. Die Herzen kommen aber dann zur Ruhe, wenn sie sich in jenen Schrecken darauf verlassen, dass wir Gott deshalb ge-

58. 59. 60. 61. 62.

Ps 130,3. Ps 130,4. Ps 130,5. Einschub der Oktavausgabe in den Text der Editio princeps. Röm 4,3; Gal 3,6; Jak 2,23; vgl. Gen 15,6.

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fallen, weil er es verheißen hat, und [daran glauben,] dass er seine Versprechen um seiner Wahrhaftigkeit willen aufrechterhält, nicht wegen unserer Würdigkeit. So hat Abraham folgende Stimme vernommen: »Fürchte dich nicht, Abram! Ich bin dein Schild«63 usw. Daraufhin hat er sich aufgerichtet und geglaubt, Gott sei ihm gnädig, nicht weil er selbst das verdient hätte, sondern weil man Gottes Verheißung notwendig für wahr halten muss. Dieser Glaube also wird ihm zur Gerechtigkeit angerechnet, d. h., weil er der Verheißung zustimmt und die angebotene Versöhnung ergreift, ist er wahrhaft schon gerecht und angenehm bei Gott, nicht um seiner eigenen Würdigkeit willen, sondern weil er die umsonst geschenkte Verheißung Gottes ergreift. Dieses Beispiel aus dem ersten Buch Mose hat Paulus nicht umsonst so sehr gefallen. Wir sehen, wie stark er es hervorhebt, wie sorgfältig er bei ihm verweilt, weil er sah, dass die Natur des Glaubens an dieser Stelle leicht begriffen werden kann; er sah, dass [hier] in aller Deutlichkeit ein Beispiel für die Zurechnung der Gerechtigkeit angeführt wird. Er sah, dass den Werken der Ruhm, die Rechtfertigung zu verdienen und den Gewissen zum Frieden zu verhelfen, entrissen wird. Wenn Abraham deshalb »gerecht« genannt wird, weil er der Verheißung zustimmt und die angebotene Versöhnung ergreift, setzt er dem Zorn Gottes nicht Verdienste oder Werke entgegen. Deshalb hat diese Stelle – sorgfältig bedacht – die frommen Menschen sattsam über die ganze Angelegenheit belehren können; jedenfalls hat sie so begriffen werden können, wenn die erschrockenen Gemüter sie sich vor Augen stellen und auf die gleiche Weise darauf vertrauen, sie müssten der umsonst geschenkten Verheißung zustimmen. Denn sie können anders keinen Frieden finden; außer, wenn sie darauf vertrauen, einen gnädigen Gott zu haben, weil der es versprochen hat [gnädig zu sein], nicht weil unsere Natur, unser Leben oder unsere Werke würdig sind. [Minderung des Glaubens durch die Gegner] Deshalb wurden auch die Väter nicht durch das Gesetz gerechtfertigt, sondern durch die Verheißung und den Glauben. Es ist deshalb verwunderlich, wie sehr die Gegner den Glauben verkleinern. Und dies, obwohl sie doch sehen müssten, dass er überall als die hauptsächliche

63. Gen 15,1.

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Form des Gottesdienstes gepriesen wird. So z. B. in Ps 49: »Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.«64 So will Gott bekannt werden. So will er verehrt werden, dass wir Wohltaten von ihm empfangen – und zwar um seiner eigenen Barmherzigkeit willen, nicht wegen unserer Verdienste. Das ist ein überreicher Trost in allen Anfechtungen. Die Gegner aber machen alle derartigen Tröstungen zunichte, indem sie den Glauben für unbedeutend erklären und verächtlich machen und allein lehren, dass die Menschen durch Werke und Verdienste mit Gott umgehen.

Dass allein der Glaube an Christus gerecht macht [29 Entstehung des Glaubens: Trost und neues Leben] Damit niemand meint, wir würden hier bloß von einer Geschichtskenntnis reden, ist zuerst zu sagen, wie uns der Glaube zuteilwird. Danach wollen wir zeigen, dass er rechtfertigt und wie dies zu verstehen ist; und wir werden das entkräften, was die Gegner einwenden. Christus gebietet Lk 24[,47], zu predigen Buße in seinem Namen und Vergebung der Sünden. Denn das Evangelium überführt alle Menschen, dass sie unter der Sünde und alle des ewigen Zornes und Todes schuldig sind. Und es bietet um Christi willen Sündenvergebung und Rechtfertigung an, die im Glauben empfangen werden. Die Predigt der Buße, die uns anklagt, versetzt die Gewissen in echtes und tiefes Erschrecken. Da müssen die Herzen wieder Trost empfangen. Das geschieht, wenn sie der Verheißung Christi glauben, dass wir um seinetwillen die Vergebung der Sünden erlangen. Dieser Glaube, der uns in jenen Ängsten aufrichtet und tröstet, empfängt die Vergebung der Sünden, rechtfertigt und macht lebendig. Denn jener Trost ist ein neues und geistliches Leben. All dies ist klar und durchsichtig. Es kann von frommen Menschen erkannt werden und hat das Zeugnis der Kirche für sich. Die Gegner können nirgends erklären, wie der Heilige Geist gegeben wird. Sie erdichten deshalb, die Sakramente brächten den Heiligen Geist durch ihren Vollzug, ohne gute Regung dessen, der das Sakrament empfängt, als wäre das Geschenk des Heiligen Geistes eine unnötige Sache.

64. Ps 50,15.

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[30 Glaube bedeutet: Kommen des Heiligen Geistes] Wir aber reden von einem Glauben, der kein kraftloser Gedanke ist, sondern vom Tode befreit, neues Leben in den Herzen schafft und ein Werk des Heiligen Geistes ist. Er kann nicht zusammen mit einer Todsünde bestehen, sondern solange er da ist, schafft er gute Früchte, wie wir hernach erläutern werden. Wie lässt sich einfacher und klarer über die Umkehr des Gottlosen oder den Vorgang der Wiedergeburt reden? Mögen sie uns doch nur einen einzigen Sentenzenkommentar65 aus dem ganzen Haufen ihrer Schriften bringen, der etwas von der Art der Wiedergeburt sagen würde! Wenn sie über den »Zustand der Liebe« reden, dann erdichten sie, dass die Menschen den Heiligen Geist durch Werke verdienen. Sie lehren nicht, dass er durchs Wort empfangen wird. So lehren es derzeit auch die Täufer! Aber mit Gott kann man nicht in Beziehung treten, Gott kann man nicht ergreifen, es sei denn durch das Wort. Deshalb erfolgt die Rechtfertigung durch das Wort, wie Paulus sagt: »Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zum Heil für alle, die daran glauben.«66 Ebenso: »Der Glaube kommt aus der Predigt.«67 Auch hieraus lässt sich der Beweis entnehmen, dass der Glaube rechtfertigt. Denn wenn die Rechtfertigung durch das Wort geschieht und das Wort nur durch den Glauben ergriffen wird, folgt daraus, dass der Glaube rechtfertigt. Aber es gibt noch andere stärkere Argumente. – Dies haben wir bis hierher dargelegt, um die Art der Wiedergeburt zu zeigen und verständlich zu machen, was für ein Glaube es ist, von dem wir reden. [31 Nur durch den Glauben hat man Christus als Mittler] Jetzt wollen wir zeigen, dass der Glaube rechtfertigt. Zuerst sind die Leser daran zu erinnern: Wie es notwendig ist, daran festzuhalten, dass Christus der Mittler ist, so muss auch der folgende Satz aufrechterhalten werden: »Der Glaube rechtfertigt.« Denn wie könnte Christus der Mittler sein, wenn wir ihn in der Rechtfertigung nicht als Mittler brauchen, wenn wir nicht glaubten, dass wir um seinetwillen 65. Kommentare zu den »Vier Bücher Sentenzen« des Petrus Lombardus († 1160), eine vom 12. bis 15. Jahrhundert häufige Gattung theologischer Schriften. 66. Röm 1,16. 67. Röm 10,17.

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für gerecht gehalten werden? Das aber heißt »zu glauben«: »auf die Verdienste Christi zu vertrauen«, dass um seinetwillen Gott gewiss mit uns versöhnt sein will. Ebenso wie man daran festhalten muss, dass außer dem Gesetz die Verheißung Christi vonnöten ist, so muss man auch dabei beharren, dass der Glaube rechtfertigt. Denn das Gesetz lehrt die umsonst geschenkte Vergebung der Sünden nicht. Ebenso gilt: Das Gesetz kann nicht erfüllt werden, wenn man nicht zuvor den Heiligen Geist empfangen hat. Man muss also daran festhalten, dass die Verheißung Christi notwendig ist. Diese kann aber nur durch den Glauben empfangen werden. Deshalb lehren die, die bestreiten, dass der Glaube rechtfertigt, nur das Gesetz und beseitigen [damit zugleich] das Evangelium und Christus. [32 Glaube: nicht nur ein Anfang, sondern Empfang der ganzen Rechtfertigung] Aber wenn man sagt, dass der Glaube rechtfertigt, denken einige [jetzt] vielleicht an den Anfang, als sei der Glaube der Anfang der Rechtfertigung oder eine Vorbereitung darauf, so als sei der Glaube nicht selbst das, wodurch wir Gott angenehm sind, sondern [erst] die Werke, die [ihm] folgen. Und so faseln sie, der Glaube werde deshalb so gepriesen, weil er der Anfang sei. Denn groß ist die Kraft des Anfangs, so dass man sagt: »Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.«68 Wie wenn einer sagt: »Die Grammatik macht die Doktoren aller Wissenschaften, weil sie auf die anderen Wissenschaften vorbereitet.« Dabei bringt doch in Wirklichkeit jede Wissenschaft ihre eigenen Fachleute hervor. Wir denken nicht so vom Glauben, sondern vertreten dies, dass wir eigentlich und wirklich durch den Glauben selbst um Christi willen für gerecht erklärt werden, d. h. Gott angenehm sind. Und weil »gerechtfertigt werden« bedeutet: aus Ungerechten zu Gerechten gemacht oder wiedergeboren zu werden, so bedeutet es auch: »für gerecht erklärt und gehalten zu werden«. Auf beiderlei Weise nämlich redet die Heilige Schrift. Deshalb wollen wir zunächst zeigen, dass allein der Glaube aus einem Ungerechten einen Gerechten macht, d. h. die Vergebung der Sünden empfängt.

68. Platon, Nomoi VI.

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[33 Rechtfertigung durch den Glauben »allein«] Einige stoßen sich an dem Wörtchen »allein«, obwohl doch Paulus sagt: »Wir sind fest davon überzeugt, dass der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, nicht durch die Werke.«69 Ebenso Eph 2[,8f]: »Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.« Desgleichen Röm 3[,24]: »[Wir sind] ohne Verdienst gerechtfertigt.« Wenn ihnen dieses ausschließende »allein« missfällt, müssen sie also auch bei Paulus die folgenden ausschließenden Wendungen tilgen: »Umsonst«, »nicht aus Werken«, »Geschenk ist es« usw. Denn dies sind ja auch Ausschlussformeln. Wir schließen damit zwar die Meinung vom Verdienst aus. Wir schließen aber nicht das Wort oder die Sakramente aus, wie uns die Gegner vorwerfen. Haben wir doch oben schon gesagt, dass der Glaube durch das Wort empfangen wird, und umso mehr ehren wir den Dienst am Wort. Die Liebe und auch die Werke müssen dem Glauben folgen. Deshalb werden sie nicht so ausgeschlossen, dass sie nicht folgen sollen, sondern ausgeschlossen wird das Vertrauen auf ein Verdienst der Liebe oder der Werke bei der Rechtfertigung. Und das wollen wir deutlich zeigen.

Dass wir Vergebung der Sünden allein durch den Glauben an Christus erlangen [34 Erläuterung zu »Vergebung durch Glauben«] Wir glauben, dass auch die Gegner der Auffassung sind, dass bei der Rechtfertigung an erster Stelle die Vergebung der Sünden vonnöten ist. »Alle nämlich sind wir unter der Macht der Sünde.«70 Deshalb argumentieren wir folgendermaßen: [1] »Vergebung der Sünden zu erlangen« heißt: »gerechtfertigt zu werden«, nach jenem Schriftwort: »Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind.«71 [2] Allein durch den Glauben an Christus, nicht durch die Liebe, nicht um der Liebe oder der Werke willen erlangen wir Vergebung der Sünden, obwohl die Liebe dem Glauben folgt. [3] 69. Röm 3,28. 70. Röm 3,9. 71. Ps 32,1.

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Deshalb werden wir allein durch den Glauben gerechtfertigt, wobei wir die Rechtfertigung so verstehen, dass aus einem Ungerechten ein Gerechter gemacht oder wiedergeboren wird.72 Der Untersatz wird leicht erklärt werden können, wenn wir wissen, wie die Vergebung der Sünden geschieht. Die Gegner handeln eiskalt die Frage ab, ob die Vergebung der Sünden und die Eingießung der Gnade eine einzige Veränderung sind. Unbeteiligte Menschen – sie redeten von etwas, das sie nicht hatten. Bei der Vergebung der Sünden müssen in den Herzen die Schrecken der Sünde und des ewigen Todes überwunden werden, wie Paulus 1 Kor 15[,56f] bezeugt: »Der Stachel des Todes ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus.« Das heißt: Die Sünde erschreckt die Gewissen; dies geschieht durchs Gesetz, das den Zorn Gottes gegen die Sünde anzeigt. Aber wir siegen durch Christus. Wie das? Durch den Glauben, indem wir uns aufrichten durch das Vertrauen auf die um Christi willen verheißene Barmherzigkeit. So also beweisen wir den Untersatz: Der Zorn Gottes kann nicht versöhnt werden, wenn wir unsere Werke vorweisen, weil Christus für uns als Versöhner eingesetzt ist, damit der Vater um seinetwillen mit uns versöhnt werde. Christus aber kann nur durch den Glauben als der Versöhner ergriffen werden. Also erlangen wir allein durch den Glauben die Vergebung der Sünden, indem wir [unsere] Herzen aufrichten im Vertrauen auf die um Christi willen verheißene Barmherzigkeit. So sagt auch Paulus Röm 5[,2]: »Durch ihn haben wir den Zugang« zum Vater; und er fügt hinzu: »im Glauben«. So also werden wir mit dem Vater versöhnt und empfangen die Vergebung der Sünden, wenn wir aufgerichtet werden im Vertrauen durch die um Christi willen verheißene Barmherzigkeit. Die Gegner meinen, Christus sei deshalb der Mittler und Versöhner, weil er den »Zustand der Liebe« erworben habe. Sie wollen deshalb auch nicht, dass er jetzt als Mittler in Anspruch genommen wird, sondern erdichten, nachdem sie Christus ganz und gar begraben haben, dass wir durch eigene Werke Zugang haben und durch sie jenen Zustand verdienen und danach durch die 72. Melanchthon argumentiert hier schulmäßig, indem er aus zwei Prämissen [1: Obersatz; 2: Untersatz] einen Schluss [3] ableitet. Im Folgenden geht es um den Untersatz »Vergebung durch Glauben«.

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Liebe den Frieden des Gewissens haben. Heißt das etwa nicht, Christus ganz und gar zu begraben und die ganze Lehre vom Glauben zu beseitigen? Paulus hingegen lehrt, dass wir den Zugang, den Frieden durch Christus haben. Und um deutlich zu machen, wie dies geschieht, fügt er hinzu, dass wir »durch den Glauben« Zutritt haben. Durch den Glauben also empfangen wir um Christi willen die Vergebung der Sünden. Wir können dem Zorn Gottes nicht unsere Liebe und unsere Werke entgegenhalten. [35 Versöhnung um Christi willen – deshalb: Glauben] Zweitens: Es ist gewiss, dass die Sünden um des Versöhners Christus willen vergeben werden. Röm 3[,25]: »Den Gott zum Versöhner eingesetzt hat.« Paulus aber fügt hinzu: »Durch den Glauben«. Deshalb nützt uns dieser Versöhner dann, wenn wir im Glauben die in ihm verheißene Barmherzigkeit ergreifen und sie dem Zorn und Gerichtsspruch Gottes entgegenhalten. Und in ebendiesem Sinne steht auch Hebr 4[,14.16] geschrieben: »Weil wir einen Hohenpriester haben usw., lasst uns hinzutreten mit Zuversicht.« Er gebietet nämlich, zu Gott zu treten nicht im Vertrauen auf unsere Verdienste, sondern im Vertrauen auf den Hohenpriester Christus; er verlangt also den Glauben. Drittens sagt Petrus Apg 10[,43]: »Von diesem bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.« Wie hätte er hier deutlicher sprechen können? Wir empfangen die Vergebung der Sünden, so sagt er, durch seinen Namen, d. h. um seinetwillen: Also nicht um unserer Verdienste willen, nicht um unserer Zerknirschung, unserer anfänglichen Reue, unserer Liebe, unseres Gottesdienstes und unserer Werke willen. Und er fügt hinzu: »Wenn wir an ihn glauben.« Er verlangt also den Glauben. Denn nur im Glauben können wir den Namen Christi ergreifen. Außerdem verweist er auf die übereinstimmende Meinung aller Propheten. Das aber heißt wirklich, sich auf die Vollmacht der Kirche zu berufen. Über diesen Punkt aber wird weiter unten im Artikel von der Buße erneut gesprochen werden müssen.73

73. Vgl. unten Nr. 98.

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Viertens ist die Vergebung der Sünden eine Sache, die um Christi willen verheißen wird. Deshalb kann sie nur allein im Glauben empfangen werden. Denn die Verheißung kann nur allein im Glauben empfangen werden. [Heißt es doch] Röm 4[,16]: »Deshalb durch den Glauben, damit sie aus Gnaden sei und die Verheißung festbleibe.« So als wollte er sagen: Wenn die Sache von unseren Verdiensten abhinge, so wäre die Verheißung ungewiss und unnütz, weil wir niemals feststellen könnten, wann wir genug verdient hätten. Und erprobte Gewissen können dies leicht nachvollziehen. Deshalb sagt Paulus Gal 3[,22]: »Die Schrift hat alles eingeschlossen unter die Sünde, damit die Verheißung durch den Glauben an Jesus Christus gegeben würde denen, die glauben.« Hier spricht er uns jegliches Verdienst ab. Sagt er doch, dass alle schuldig und unter die Sünde beschlossen sind; darauf fügt er hinzu, dass die Verheißung gegeben werde, nämlich die der Vergebung der Sünden und der Rechtfertigung, und fügt noch hinzu, wie die Verheißung empfangen werden kann, nämlich: »durch den Glauben«. Und dieser Beweis aus der Natur der Verheißung ist die Hauptsache bei Paulus und wird häufig wiederholt.74 Und nichts kann erdacht oder erdichtet werden, wodurch dieser Beweis des Paulus umgestoßen werden könnte. Deswegen sollen sich fromme Leute auch nicht von der Lehre abbringen lassen, dass wir nur durch den Glauben die Vergebung um Christi willen empfangen. In ihr haben sie den sicheren und starken Trost gegen die Schrecken der Sünde, gegen den ewigen Tod und alle Pforten der Hölle.75 [36 Der Glaube selbst ist Gerechtigkeit vor Gott. Belege aus der Schrift] Weil wir aber allein durch den Glauben die Vergebung der Sünden und die Versöhnung um Christi willen empfangen, rechtfertigt allein der Glaube. Denn die Versöhnten werden nicht um ihrer Reinheit willen, sondern aufgrund der Barmherzigkeit um Christi willen für gerecht und zu Söhnen Gottes erklärt, doch nur wenn sie diese Barmherzigkeit durch den Glauben ergreifen. Deswegen bezeugt die Schrift, dass wir durch den Glauben für gerecht erklärt werden.76 Wir wollen daher Belege anführen, die deutlich aussagen, dass der Glaube selbst 74. Röm 4,16; Gal 3,18. 75. Mt 16,18. 76. Röm 3,26.

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die Gerechtigkeit ist, durch die wir vor Gott für gerecht erklärt werden. Und dies nicht, weil der Glaube ein für sich selbst wertvolles Werk ist, sondern weil er die Verheißung empfängt, mit der Gott versprochen hat, dass er um Christi willen denen, die an ihn glauben, gnädig sein will. Oder anders gesagt: Weil [der Glaube] weiß, dass »Christus uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung«.77 [Ausschluss der Werke – nicht nur der kultischen, auch der moralischen] Paulus spricht im Römerbrief vor allem von dieser Sache, und er legt dar, dass wir umsonst gerechtfertigt werden durch den Glauben, wenn wir glauben, dass Gott um Christi willen mit uns versöhnt ist. Er trägt diese These, die den Stand der ganzen Auseinandersetzung erfasst, im dritten Kapitel vor: »Wir halten dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerecht wird, ohne Werke des Gesetzes.«78 Die Gegner beziehen dies auf die levitischen Zeremonien. Aber Paulus redet nicht nur über die Zeremonien, sondern über das ganze Gesetz. Denn weiter unten zitiert er aus den Zehn Geboten: »Du sollst nicht begehren.«79 Und wenn die moralischen Werke die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung verdienten, so brauchte man Christus und die Verheißung nicht, und damit würde all das hinfällig, was Paulus über die Verheißung sagt. Und falsch wäre auch, was er an die Epheser schrieb: »Aus Gnade seid ihr selig geworden« und: »Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken.«80 Ebenso führt Paulus Abraham an und David.81 Diese aber konnten sich auf das göttliche Gebot der Beschneidung berufen. Und deshalb gilt: Wenn irgendwelche Werke rechtfertigen könnten, so hätten damals notwendig diese Werke rechtfertigen müssen, weil sie sich auf einen Befehl Gottes berufen konnten. Aber Augustin sagt zutreffend, dass Paulus vom ganzen Gesetz redet. In diesem Sinne äußert er sich nämlich ausführlich in seiner Schrift »Vom Geist und vom Buchstaben«, wo er gegen Ende schreibt: »Nachdem also dies

77. 78. 79. 80. 81.

1 Kor 1,30. Röm 3,28. Röm 7,7; vgl. Ex 20,17. Eph 2,8f. Röm 4,1.6.

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gründlich erwogen und unter Einsatz all der Fähigkeiten, deren Gott mich gewürdigt hat, behandelt worden ist, fassen wir zusammen, dass der Mensch nicht vermittels der Gebote eines guten Lebens gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus.«82 [Glaubensgerechtigkeit – nicht Zufalls-, sondern Hauptthema] Und damit wir nicht etwa meinen, Paulus sei dieser Gedanke (dass der Glaube rechtfertigt) unbesonnen entschlüpft, untermauert und festigt er ihn Röm 4 in einer langen Erörterung und wiederholt ihn später in allen seinen Briefen. So sagt er Röm 4[,4f]: »Dem aber, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern aus Pflicht. Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.« Hier sagt er deutlich, dass der Glaube selbst zur Gerechtigkeit gezählt wird. Der Glaube ist also das, wovon Gott erklärt, es sei die Gerechtigkeit. Und er fügt hinzu, dass [diese Gerechtigkeit] umsonst zugerechnet wird. Und er verneint, dass sie umsonst zugerechnet werden könne, wenn sie der Werke wegen geschuldet würde. Deshalb schließt er auch das Verdienst der moralischen Werke aus. Denn würde diesen die Gerechtsprechung vor Gott geschuldet, so würde der Glaube nicht ohne Werke zur Gerechtigkeit angerechnet. Und später [heißt es dann]: »Wir sagen doch: Abraham ist sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet worden.«83 Und Kapitel 5[,1] sagt er: »Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott« – d. h. »haben wir ruhige und frohe Gewissen vor Gott«. [Ebenso] Röm 10[,10]: »Mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit.« Hier verkündet er, dass der Glaube die »Gerechtigkeit des Herzens« ist. [Und] Gal 2[,16]: »Wir sind zum Glauben an Jesus Christus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes.« [Dann] Eph 2[,8f]: »Aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.«

82. Augustin, De spiritu et litera XIII, 22 (PL 44, 214f). 83. Röm 4,9.

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[Christus unser Heil – durch den Glauben] Joh 1[,12f]: »Und er gab ihnen Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.« Joh 3[,14f]: »Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.« Ebenso [heißt es]: »Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet.«84 Apg 13[,38f]: »So sei euch nun kundgetan, liebe Brüder, dass euch durch ihn Vergebung der Sünden verkündigt wird; und in all dem, worin ihr durch das Gesetz des Mose nicht gerecht werden konntet, ist der gerecht gemacht, der glaubt.« Wie hätte er deutlicher vom Amt Christi und von der Rechtfertigung reden können? Das Gesetz, so sagt er, rechtfertigt nicht. Deshalb ist [uns] Christus geschenkt worden, damit wir glauben, dass wir um seinetwillen gerechtfertigt werden. Offen spricht er damit dem Gesetz die [Kraft zur] Rechtfertigung ab. Wir werden also um Christi willen für gerecht gehalten, wenn wir glauben, dass Gott um seinetwillen mit uns versöhnt ist. Apg 4[,11f] [heißt es]: »Das ist der Stein, von euch Bauleuten verworfen, der zum Eckstein geworden ist. Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.« Der Name Christi aber wird nur im Glauben ergriffen. Deshalb werden wir durch das Vertrauen auf den Namen Christi [und] nicht durch das Vertrauen auf unsere Werke gerettet. Der Name bezeichnet hier nämlich den Grund, der geltend gemacht wird und um dessentwillen uns das Heil zuteilwird. Und den Namen Christi anzuführen heißt, dem Namen Christi zu vertrauen, gleichsam als der Ursache und dem Lösegeld dafür, dass wir gerettet werden. [So heißt es auch] Apg 15[,9]: »Der durch den Glauben ihre Herzen reinigt.« Deshalb ist der Glaube, von dem die Apostel sprechen, kein unbeteiligtes Zurkenntnisnehmen, sondern eine Sache, die den Heiligen Geist ergreift und uns rechtfertigt.

84. Joh 3,17f.

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Hab 1: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«85 Hier sagt er zuerst, die Menschen seien gerecht durch den Glauben, durch den sie glauben, dass Gott gnädig ist. Und er setzt hinzu, dass ebendieser Glaube lebendig macht, weil er im Herzen Frieden schafft und Freude und das ewige Leben hervorbringt. Jes 53[,11]: »Und seine Erkenntnis wird den Vielen Gerechtigkeit schaffen.« Was aber ist die Erkenntnis Christi anderes, als seine Wohltaten zu erkennen? Die Verheißungen, die er durch das Evangelium in die Welt ausgestreut hat? Und diese Wohltaten zu erkennen, das heißt eigentlich und wahrhaftig, an Christus zu glauben: zu glauben, dass Gott gewiss gewährt, was er um Christi willen verheißen hat. Aber die Heilige Schrift ist voll von solchen Zeugnissen, weil sie hier das Gesetz, dort die Verheißungen über Christus, die Vergebung der Sünden und die umsonst geschenkte Annahme um Christi willen mitteilt. [37 Kirchenväter bezeugen Glaubensgerechtigkeit] Es finden sich aber auch bei den heiligen Vätern verstreut ähnliche Zeugnisse. So schreibt Ambrosius in seinem Brief an einen gewissen Irenäus: »Aber die Welt ist ihm durch das Gesetz unterworfen worden, weil sie alle aufgrund der Vorschrift des Gesetzes belangt werden und niemand durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird. Das heißt: Weil durch das Gesetz die Sünde erkannt, aber die Schuld nicht erlassen wird. So schien das Gesetz geschadet zu haben, weil es alle zu Sündern gemacht hatte. Aber als unser Herr Jesus kam, hat er allen die Sünde geschenkt, der sich niemand hatte entziehen können; und er hat, indem er sein Blut vergoss, unseren Schuldschein zerrissen.86 Das ist es, was [Paulus] meint: ›Die Sünde gewann durch das Gesetz an Macht; noch mächtiger aber wurde die Gnade durch Jesus.‹87 Denn nachdem die ganze Welt unterworfen worden war, nahm er die Sünde der ganzen Welt hinweg, wie Johannes [der Täufer] dies bezeugt, indem er spricht: ›Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt‹.88 Und deshalb soll sich niemand seiner Werke rüh85. 86. 87. 88.

Hab 2,4. Kol 2,14. Röm 5,20. Joh 1,29.

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men, weil keiner aufgrund seiner Taten gerechtfertigt wird. Wer aber gerecht ist, der hat ein Geschenk empfangen, weil er seit der Taufe gerechtfertigt ist. Es ist also der Glaube, der durch das Blut Christi befreit. Daher gilt: ›Selig ist der, dem die Sünde vergeben und die Gnade geschenkt wird‹89.«90 – Dies sind die Worte des Ambrosius, welche unsere Deutung offensichtlich decken. Er spricht den Werken die Rechtfertigung ab und behauptet vom Glauben, dass er uns durch das Blut Christi frei macht. Auf einen Haufen mit all den Sentenzenschreibern91, die man mit so hochtrabenden Beinamen ziert! Denn die einen nennt man »engelgleich«, die anderen »scharfsinnig« oder gar »unüberwindlich«.92 Wenn man sie alle lesen und nochmals lesen würde, trügen sie doch nicht so viel zum Verständnis des Paulus bei wie dieser eine Ausspruch des Ambrosius! Im gleichen Sinne schreibt auch Augustin vieles gegen die Pelagianer. So sagt er in der Schrift »Vom Geist und vom Buchstaben«: »Deshalb wird hier die Gerechtigkeit des Gesetzes angeführt (dass, wer sie tut, in ihr leben wird), damit jeder, der seine Schwäche erkannt hat, nicht durch eigene Kräfte oder den Buchstaben des Gesetzes (denn das ist unmöglich!), sondern durch den Glauben den Rechtfertiger versöhnt und es dann tut und darin lebt. Ein rechtes Werk, in dem der, der es tut, auch lebt, gibt es nur in einem, der schon gerechtfertigt ist.« Hier sagt er deutlich, dass der Rechtfertiger durch den Glauben versöhnt und die Rechtfertigung durch den Glauben erlangt wird. Und kurz darauf heißt es: »Aus dem Gesetz fürchten wir Gott, aus dem Glauben hoffen wir auf ihn. Denen aber, die sich vor der Strafe fürchten, bleibt die Gnade verborgen. Die Seele, die von dieser Furcht gepeinigt wird usw., soll im Glauben bei Gottes Barmherzigkeit Zuflucht suchen, damit er gibt, was er befiehlt.«93 Hier lehrt er, dass die Herzen durchs Gesetz erschreckt werden, aber durch den Glauben Trost empfangen. Und er lehrt, dass wir zunächst durch 89. Ps 32,1. 90. Ambrosius, Epistola LXXIII (PL 16, 1307f). 91. Mittelalterliche Kommentatoren der »Vier Bücher Sentenzen« des Petrus Lombardus. 92. Gemeint sind – nacheinander – Thomas von Aquin († 1274; Beiname: »Doctor angelicus«), Duns Scotus († 1308; Beiname: »Doctor subtilis«) und Alexander von Hales († 1245; Beiname: »Doctor irrefragabilis«). 93. Augustin, De spiritu et litera XXIX, 51 (PL 44, 232f).

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Glauben die Barmherzigkeit ergreifen sollen, ehe wir das Gesetz zu erfüllen versuchen. Wir werden schon bald noch Weiteres zitieren. Es ist wirklich merkwürdig, dass sich die Gegner durch so viele Schriftworte nicht beeindrucken lassen, die deutlich die Rechtfertigung dem Glauben zu-, den Werken aber absprechen. Meinen sie denn, dasselbe werde ohne Grund so oft wiederholt? Oder glauben sie gar, dem Heiligen Geist seien diese Worte unbemerkt herausgerutscht? [38 Rechtfertigende Liebe als »geformter Glaube«?] Aber sie haben sich noch eine weitere Spitzfindigkeit erdacht, mit der sie ihr Spiel treiben. Sie behaupten nämlich, die Rechtfertigung müsse durch den »geformten Glauben« empfangen werden, d. h., sie schreiben sie dem Glauben nur um der Liebe willen zu. Vielmehr überhaupt nicht dem Glauben, sondern nur der Liebe weisen sie die Rechtfertigung zu. Sie faseln nämlich, der Glaube könne zusammen mit einer Todsünde bestehen. Wohin führt dies, wenn nicht dazu, dass sie die Verheißung wieder austilgen und zum Gesetz zurückkehren? Wenn der Glaube die Vergebung der Sünden nur um der Liebe willen empfängt, so wird die Vergebung der Sünden immer ungewiss sein. Lieben wir doch nie so viel, wie wir müssten! Vielmehr lieben wir nur, wenn die Herzen ganz fest davon überzeugt sind, dass uns die Vergebung der Sünden geschenkt worden ist. Indem die Gegner bei der Sündenvergebung und Rechtfertigung eigentlich das Vertrauen auf die Liebe fordern, löschen sie das Evangelium von der geschenkten Vergebung der Sünden ganz wieder aus – obwohl sie doch diese Liebe weder zeigen noch begreifen können, wenn sie nicht glauben, dass die Sündenvergebung umsonst empfangen wird. [Liebe folgt dem rechtfertigenden Glauben] Auch wir sagen, dass die Liebe dem Glauben folgen muss, so, wie auch Paulus es sagt: »In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.«94 Man darf deshalb aber nicht meinen, dass wir durch das Vertrauen auf diese Liebe oder wegen dieser Liebe die Sündenvergebung

94. Gal 5,6.

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und die Versöhnung empfangen. Ebenso empfangen wir die Sündenvergebung auch nicht wegen anderer nachfolgender Werke. Sondern allein durch den Glauben, und zwar den Glauben im eigentlichen Sinne, wird Vergebung der Sünden empfangen, weil die Verheißung nur durch den Glauben empfangen werden kann. Es ist aber der Glaube im eigentlichen Sinne, der der Verheißung zustimmt; von diesem Glauben spricht die Schrift. Und weil er die Vergebung der Sünden empfängt und uns mit Gott versöhnt, so werden wir zuerst durch diesen Glauben um Christi willen für gerecht gehalten, bevor wir lieben und das Gesetz erfüllen – wenngleich auch gilt, dass die Liebe notwendig nachfolgt. Dieser Glaube ist aber weder ein teilnahmsloses Zurkenntnisnehmen, noch kann er zusammen mit einer Todsünde bestehen. Sondern er ist ein Werk des Heiligen Geistes, durch welches wir vom Tod befreit und die tief erschrockenen Herzen aufgerichtet und lebendig gemacht werden. Und weil allein dieser Glaube die Sündenvergebung empfängt, macht er uns bei Gott angenehm und schenkt wieder friedliche und ruhige Gewissen: Mit größerem Recht als seine nachfolgende Wirkung, die Liebe, könnte man deshalb ihn die »angenehm machende Gnade« nennen. [39 Klarheit über Glaubensgerechtigkeit – schlimme Folgen ihrer Leugnung] Bis hierher haben wir durch Schriftzeugnisse und der Schrift entnommene Argumente, die die Sache klarer machen sollten, ausführlich genug gezeigt, dass wir allein durch den Glauben um Christi willen die Vergebung der Sünden erlangen und allein aus Glauben gerechtfertigt, d. h. aus Ungerechten zu Gerechten gemacht und wiedergeboren werden. Man kann aber leicht ermessen, wie notwendig die Erkenntnis dieses Glaubens ist. Denn in ihm allein lässt sich das Amt Christi erfassen; durch ihn allein empfangen wir die Wohltaten Christi; er allein spendet den frommen Gemütern den gewissen und zuverlässigen Trost. Und es ist nötig, dass es in der Kirche eine Lehre gibt, aus der die Frommen die zuverlässige Hoffnung auf das Heil schöpfen. Denn die Gegner raten den Menschen übel, wenn sie sie zweifeln lassen, ob sie die Vergebung der Sünden erlangen. Wie sollen die im Tode standhalten können, die nichts von diesem Glauben gehört haben und meinen, es sei zweifelhaft, ob sie die Vergebung der Sünden erlangen? Ferner muss in der Kirche Christi das Evangelium

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bewahrt werden, d. h. die Verheißung, dass die Sünden umsonst – um Christi willen – vergeben werden. Diese frohe Botschaft löschen diejenigen völlig aus, die nichts von dem Glauben sagen, von dem wir sprechen. Aber die Scholastiker reden mit keinem Wort von diesem Glauben. Unsere Gegner folgen ihnen darin und verwerfen diesen Glauben. Sie sehen nicht, dass sie die ganze Verheißung der umsonst geschenkten Sündenvergebung und Gerechtigkeit Christi auslöschen, indem sie diesen Glauben verwerfen.

Von der Liebe und der Erfüllung des Gesetzes Hier wenden die Gegner ein: »Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!«95; ebenso: »Die das Gesetz tun, werden gerecht sein«96 – und viele andere ähnliche Worte über das Gesetz und die Werke. Doch bevor wir darauf antworten, ist zu sagen, was wir unter der »Liebe« und der »Erfüllung des Gesetzes« verstehen. [40 Das ins Herz geschriebene Gesetz] Beim Propheten steht geschrieben: »Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben.«97 Und Röm 3[,31] sagt Paulus: »Das Gesetz wird durch den Glauben aufgerichtet, nicht aber aufgehoben.« Und Christus sagt: »Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote.«98 Ebenso: »Wenn ich die Liebe nicht hätte, so wäre ich nichts.«99 – Diese und ähnliche Worte bezeugen, dass das Gesetz in uns anfangen und immer größer werden muss. Wir sprechen aber dabei nicht von den Zeremonien, sondern von dem Gesetz, das über Herzensregungen gebietet, also von den Zehn Geboten. Da aber der Glaube den Heiligen Geist bringt und das neue Leben in den Herzen gebiert, bringt er notwendig geistliche Regungen in den Herzen hervor. Und was das für Regungen sind, zeigt der Prophet, wenn er spricht: »Ich will mein Gesetz in ihre Herzen geben.«100 Nachdem wir also durch den Glau-

95. 96. 97. 98. 99. 100.

Mt 19,17. Röm 2,13. Jer 31,33. Mt 19,17. 1 Kor 13,2. Jer 31,33.

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ben gerechtfertigt und wiedergeboren sind, beginnen wir, Gott zu fürchten, zu lieben, Hilfe von ihm zu erbitten und zu erwarten, ihm Dank zu sagen und ihn zu preisen und ihm in den Anfechtungen zu gehorchen. Wir beginnen auch, unsere Nächsten zu lieben, weil die Herzen geistliche und heilige Regungen haben. Dies kann nur geschehen, wenn wir zuvor durch den Glauben gerechtfertigt sind und als Wiedergeborene den Heiligen Geist empfangen. Erstens weil das Gesetz nicht ohne Christus erfüllt werden kann. Ebenso kann es nicht ohne den Heiligen Geist erfüllt werden. Der Heilige Geist aber wird durch den Glauben empfangen, nach jenem Wort des Paulus, Gal 3[,14]: »Damit wir den verheißenen Geist empfingen durch den Glauben.« Und außerdem: Wie kann ein menschliches Herz Gott lieben, wenn es glaubt, dass er schrecklich zornig ist und uns durch zeitliches und ewiges Unglück bedrängt? Das Gesetz aber klagt uns immer an; immer zeigt es uns, dass Gott zürnt. Daher wird Gott nur geliebt, nachdem wir durch den Glauben die Barmherzigkeit ergriffen haben. So erst wird Gott ein liebenswertes Gegenüber. [41 Verkanntes und erkanntes Gesetz] Obwohl daher die weltlichen Werke, d. h. die äußeren Werke des Gesetzes, zumindest teilweise ohne Christus und den Heiligen Geist geschehen können, so wird daraus doch klar, was wir gesagt haben: Die Werke, die im eigentlichen Sinne Werke des göttlichen Gesetzes sind (d. h. Regungen des Herzens gegenüber Gott, die durch die erste Tafel der Zehn Gebote gefordert werden), können nicht ohne den Heiligen Geist geschehen. Aber unsere Gegner sind feine Theologen; sie schauen auf die zweite Tafel und die politischen Werke; um die erste kümmern sie sich nicht, so als beträfe sie die Sache nicht, oder sie fordern überhaupt nur äußere Handlungen. Jenes ewige Gesetz aber, das das Fühlen und Denken aller Kreaturen weit übersteigt – »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen«101 –, bedenken sie überhaupt nicht.

101. Dtn 6,5.

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[42 Erfüllbarkeit des Gesetzes durch Christus und den Heiligen Geist] Aber Christus ist uns dazu gegeben, dass uns um seinetwillen die Sündenvergebung und der Heilige Geist geschenkt werden, der ein neues und ewiges Leben und ewige Gerechtigkeit in uns hervorbringen soll. Zuerst zeigt Christus, wie Joh 16[,14] geschrieben steht: »Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen.« Danach führt er auch andere Güter an: die Liebe, die Anrufung, Danksagung, Keuschheit, Geduld usw. Deshalb kann das Gesetz tatsächlich nur dann erfüllt werden, wenn wir zuvor durch den Glauben den Heiligen Geist empfangen haben. Daher sagt Paulus, dass das Gesetz durch den Glauben aufgerichtet, nicht aufgehoben wird,102 weil das Gesetz erst erfüllt werden kann, wenn der Heilige Geist da ist. Auch lehrt Paulus 2 Kor 3: Die Decke, die das Gesicht des Mose verhüllt hat, kann nur fortgenommen werden durch den Glauben an Christus, durch welchen der Heilige Geist empfangen wird. Denn so sagt er: »Aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen. Wenn sie sich zu Gott bekehren werden, so wird die Decke abgetan. Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.«103 Unter der Decke versteht Paulus hier die menschliche Meinung über das ganze Gesetz, über die Zehn Gebote und die Zeremonien: nämlich, dass die Heuchler glauben, äußerliche und bürgerliche Werke täten dem Gesetz Gottes Genüge, und Opfer und Kulthandlungen machten durch ihren Vollzug vor Gott gerecht. Diese Decke aber wird uns dann abgenommen (d. h., dieser Irrtum wird aus der Welt geschafft), wenn Gott unseren Herzen unsere Unreinheit und das Ausmaß unserer Sünde zeigt. Dann erst sehen wir, dass wir noch weit von der Erfüllung des Gesetzes entfernt sind. Dann erkennen wir, wie das selbstsichere und träge Fleisch Gott nicht fürchtet, auch nicht wirklich glaubt, dass Gott nach uns sieht, sondern [meint], aus Zufall würden die Menschen geboren und sterben. Da merken wir, dass wir nicht glauben, dass Gott verzeiht oder erhört. Wenn wir aber durch das Hören des Evangeliums und die Sündenvergebung im Glauben aufgerichtet werden, empfangen wir den Heiligen Geist, so dass wir dann richtig über Gott denken, ihn fürchten und ihm glauben können usw. Hieraus wird 102. Röm 3,31. 103. 2 Kor 3,15–17.

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deutlich, dass das Gesetz nicht ohne Christus und den Heiligen Geist erfüllt werden kann. [43 Beginnende Erfüllung: innerlich und äußerlich] Wir bekennen daher, dass das Gesetz in uns einen Anfang haben und danach immer größer werden muss. Und wir fassen hier beides zusammen, die geistlichen Regungen und die äußeren guten Werke. Zu Unrecht beschuldigen uns deshalb die Gegner, die Unseren lehrten keine guten Werke, obwohl sie diese doch nicht nur verlangen, sondern auch zeigen, wie sie getan werden können. Die Erfahrung lehrt, dass Heuchler, die aus eigenen Kräften das Gesetz erfüllen wollen, das, was sie versuchen, nicht zustande bringen. Denn die menschliche Natur ist bei Weitem zu schwach, als dass sie dem Teufel aus eigenen Kräften widerstehen könnte, der doch alle gefangen hält, die nicht durch den Glauben befreit sind. Gegen den Teufel bedarf es der Macht Christi, dass wir nämlich, weil wir wissen, dass wir um Christi willen erhört werden und die Verheißung besitzen, darum bitten, dass uns der Heilige Geist leite und verteidige, damit wir nicht getäuscht in die Irre gehen und nicht getrieben werden, etwas gegen den Willen Gottes zu tun. Wie es der Psalm lehrt: »Er hat das Gefängnis gefangen genommen, er hat den Menschen Gaben geschenkt.«104 Denn Christus hat den Teufel besiegt und uns die Verheißung und den Heiligen Geist gegeben, damit wir durch göttliche Unterstützung auch unsererseits siegen. Und 1 Joh 3[,8] heißt es: »Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.« Weiter lehren wir nicht nur, wie das Gesetz erfüllt werden kann, sondern auch, wie Gott es erfüllt wissen will, nämlich nicht dadurch, dass wir dem Gesetz Genüge tun, sondern dadurch, dass wir »in Christus sind«. Dies werden wir etwas später erklären. [44 Liebe zu Gott – untrennbar vom Glauben] Es steht also fest, dass [auch] die Unseren gute Werke fordern. Ja, wir fügen noch dies hinzu: Man kann die Liebe zu Gott, so schwach sie auch sein mag, nicht vom Glauben trennen. Denn durch Christus gelangt man zum Vater, und nach dem Empfangen der Sündenverge-

104. Ps 68,19.

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bung sind wir gewiss, Gott zu haben – d. h., dass Gott sich um uns kümmert. Wir rufen ihn an, danken ihm, fürchten und lieben ihn, wie Johannes es in seinem ersten Brief lehrt: »Wir lieben ihn«, sagt er, »weil er uns zuvor geliebt hat«,105 nämlich: weil er seinen Sohn für uns gegeben und uns die Sünden vergeben hat. So zeigt er, dass der Glaube vorangeht und die Liebe folgt. Ebenso gilt: Der Glaube, von dem wir sprechen, lebt in der Buße, d. h., er wird empfangen in den Schrecken des Gewissens, das den gegen unsre Sünden gerichteten Zorn Gottes fühlt. Er sucht Vergebung der Sünden und Befreiung von der Sünde. Und in derartigen Schrecken und anderen Anfechtungen muss dieser Glaube wachsen und fest werden. Deshalb kann er nicht in denen bestehen, die »nach dem Fleische leben«, die [also] ihren Leidenschaften anhängen und sich ihnen völlig hingeben. Daher sagt Paulus: »So gibt es nun keine Verdammnis mehr für die, die in Christus Jesus sind, die nicht nach dem Fleisch leben, sondern nach dem Geist.«106 Und ebenso: »So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.«107 Deshalb bleibt jener Glaube, der die Vergebung der Sünden mit einem tief erschrockenen und die Sünde fliehenden Herz empfängt, nicht in denen, die ihren Leidenschaften gehorchen. Und er kann auch nicht zusammen mit einer Todsünde bestehen. [45 Rechtfertigung durch Liebe – ein Irrglaube] Aus diesen Wirkungen des Glaubens greifen die Gegner eine einzige heraus, nämlich die Liebe. Und sie lehren, dass sie rechtfertigt. Damit ist völlig klar, dass sie nur das Gesetz lehren. Sie lehren nicht zuvor, dass wir die Vergebung der Sünden durch den Glauben empfangen. Auch lehren sie nicht über den Mittler Christus, dass wir um seinetwillen einen gnädigen Gott haben, sondern um unserer Liebe willen. Und doch sagen sie nicht und können es auch nicht sagen, welcher Art diese Liebe ist. Sie prahlen damit, das Gesetz zu erfüllen, obgleich dieser Ruhm eigentlich Christus gebührt; und das Vertrauen auf die 105. 1 Joh 4,19. 106. Röm 8,1.4. 107. Röm 8,12f.

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eigenen Werke halten sie dem Gerichtsspruch Gottes entgegen. Sie behaupten nämlich, durch ihr Würdigkeitsverdienst108 Gnade und ewiges Leben zu erlangen. Das ist einfach ein gottloses und eitles Vertrauen. Denn in diesem Leben können wir dem Gesetz nicht Genüge tun, weil die fleischliche Natur nicht aufhört, böse Regungen hervorzubringen, obwohl ihnen der Heilige Geist in uns widersteht. [46 Warum rechtfertigt die Liebe nicht?] Doch könnte jemand fragen: Da auch wir bekennen, dass die Liebe ein Werk des Heiligen Geistes ist, und da sie Gerechtigkeit ist, weil sie das Gesetz erfüllt – warum lehren wir dann nicht, dass sie rechtfertigt? Darauf ist Folgendes zu antworten: Zunächst ist dies sicher: Wir empfangen die Vergebung der Sünden weder durch die Liebe noch um unserer Liebe willen, sondern um Christi willen allein durch den Glauben. Allein der Glaube, der auf die Verheißung schaut und weiß, dass man deshalb gewiss sein soll, dass Gott vergibt, weil Christus nicht umsonst gestorben ist usw., überwindet die Schrecken der Sünde und des Todes. Wenn jemand zweifelt, ob ihm die Sünden vergeben werden, schmäht er Christus, da er urteilt, die eigene Sünde sei größer oder wirksamer als der Tod und die Verheißung Christi, obwohl doch Paulus sagt: »Die Gnade übertrifft die Sünde«,109 d. h.: Die Barmherzigkeit ist stärker als die Sünde. Wenn jemand meint, er erlange die Vergebung der Sünden deshalb, weil er liebt, tut er Christus Schmach an und wird im Gericht Gottes erfahren, dass dieses Vertrauen auf die eigenen Werke gottlos und eitel ist. Daher ist es unumgänglich, dass es der Glaube ist, der versöhnt und aus einem Ungerechten zu einem Gerechten macht. Und wie wir Vergebung der Sünden nicht wegen anderer Tugenden des Gesetzes empfangen (etwa aufgrund von Geduld, Keuschheit, Gehorsam gegen die Obrigkeit usw., obwohl doch diese Tugenden folgen müssen), so empfangen wir die Sündenvergebung auch nicht wegen der Liebe zu Gott, obwohl auch sie notwendig folgen muss.

108. Vgl. oben Nr. 20; unten Nr. 66. 109. Röm 5,20.

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[47 Der Einwand Lk 7,47: Rechtfertigende Liebe?] Im Übrigen ist ja die Sprachgewohnheit [der Synekdoche110] bekannt, dass wir bisweilen durch ein und dasselbe Wort Ursache und Wirkung bezeichnen. So sagt Christus Lk 7[,47]: »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt.« Christus legt sich hier nämlich selbst aus, indem er hinzufügt: »Dein Glaube hat dir geholfen.«111 Christus hat also nicht zum Ausdruck bringen wollen, dass die Frau durch jenes Werk der Liebe die Vergebung der Sünden verdient hätte. Deshalb sagt er auch deutlich: »Dein Glaube hat dir geholfen.« Der Glaube aber ist es, der die Barmherzigkeit aufgrund des Wortes Gottes umsonst ergreift. Wenn einer leugnet, dass das der Glaube ist, dann weiß er überhaupt nicht, was der Glaube ist. Und die Geschichte selbst zeigt an dieser Stelle, was er unter Liebe versteht. Die Frau ist gekommen, weil sie von Christus glaubt, dass bei ihm Vergebung der Sünden zu finden ist. Das ist die höchste Verehrung Christi. Nichts Größeres konnte man Christus zuerkennen. Das heißt wirklich, ihn als Messias anzuerkennen: bei ihm Vergebung der Sünden zu suchen. Und weiter: So von Christus zu denken, ihn so zu ehren, ihn so zu umfangen, heißt, wirklich zu glauben. Christus hat dieses Wort von der Liebe aber nicht zu der Frau gesprochen, sondern gegenüber dem Pharisäer, weil er die ganze Handlungsweise des Pharisäers mit der der Frau verglich. Er tadelt den Pharisäer, weil der ihn nicht als den Messias anerkannte, obwohl er ihm so viel höfliche Aufmerksamkeit schenkte wie einem Gast, einem großen und heiligen Mann. Er zeigt auf die unbedeutende Frau und lobt ihre Handlungsweise, ihr Salben, ihre Tränen usw., weil das alles Zeichen des Glaubens und gewissermaßen ein Bekenntnis waren, weil sie doch bei Christus Vergebung der Sünden suchte. In der Tat ein großartiges Beispiel! Nicht ohne Grund bringt es Christus dazu, den Pharisäer – einen weisen und ehrenwerten, aber nicht glaubenden Menschen – zu tadeln. Diese unfromme Haltung wirft er ihm vor und weist ihn durch das Beispiel der Frau zurecht. Er zeigt, dass es für ihn schimpflich ist, wenn er, ein Lehrer des Gesetzes, nicht glaubt, den Messias nicht anerkennt, nicht bei ihm Sündenvergebung und Heil sucht – obwohl doch eine ungebildete Frau an Gott glaubt! Deshalb 110. Redeweise, in der ein Teil für das Ganze steht oder umgekehrt. 111. Lk 7,50.

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lobt er ihre ganze Verehrung so, wie es oft in der Heiligen Schrift geschieht, dass wir durch ein Wort vieles ausdrücken. So werden wir es weiter unten noch bei ähnlichen Stellen zeigen, wie: »Gebt Almosen, dann ist euch alles rein.«112 [Hier] verlangt er nicht nur Almosen, sondern auch die Gerechtigkeit des Glaubens. So sagt er hier: »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt«113 – d. h., weil sie mich wirklich geehrt hat durch den Glauben und Taten und Zeichen des Glaubens. Er meint die ganze Verehrung. Doch lehrt er gleichzeitig, dass die Vergebung der Sünden eigentlich durch den Glauben empfangen wird, obwohl die Liebe, das Bekenntnis und die anderen guten Früchte folgen müssen. Deshalb will er nicht, dass jene Früchte das Lösegeld oder eine Sühne sind, um derentwillen die Vergebung der Sünden gewährt wird, die uns mit Gott versöhnt. Wir sprechen hier über eine große Sache, über die Ehre Christi und woher die frommen Menschen einen sicheren und zuverlässigen Trost erhalten können; [d. h.,] ob man sein Vertrauen auf Christus setzen soll oder auf unsere Werke. Wenn es aber auf unsere Werke zu setzen sein sollte, so wird Christus die Ehre des Vermittlers und Versöhners geraubt. Und dennoch werden wir im Gericht Gottes erfahren, dass dieses Vertrauen eitel ist und die Gewissen daher in Verzweiflung fallen. Wenn also die Vergebung der Sünden und die Versöhnung nicht umsonst geschieht um Christi willen, sondern um unserer Liebe willen, so wird niemand Sündenvergebung erlangen, es sei denn, er würde das ganze Gesetz erfüllen. Das Gesetz nämlich rechtfertigt nicht, solange es uns anklagen kann. Damit ist deutlich: Weil die Rechtfertigung Versöhnung um Christi willen ist, werden wir durch Glauben gerechtfertigt, da es völlig gewiss ist, dass allein durch Glauben die Sündenvergebung empfangen wird. [48 »Rechtfertigung durch Liebe« würde die Versöhnung durch Christus verleugnen] Jetzt also wollen wir auf die oben gestellte Frage antworten, warum die Liebe nicht rechtfertigt. Die Gegner meinen zu Recht, die Liebe sei die Erfüllung des Gesetzes. Und der Gehorsam gegen das Gesetz wäre die 112. Lk 11,41. 113. Lk 7,47.

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Gerechtigkeit, wenn wir das Gesetz erfüllten. Doch haben wir bisher gezeigt, dass die Verheißungen deshalb gegeben sind, weil wir das Gesetz nicht erfüllen können. Aus diesem Grunde bestreitet Paulus, dass wir aus dem Gesetz gerechtfertigt werden. Die Gegner täuschen sich, weil sie in dieser ganzen Auseinandersetzung ausschließlich auf das Gesetz schauen. Denn die menschliche Vernunft kann nicht anders urteilen, als dass Gerechtigkeit nach dem Gesetz zu erstreben sei, weil Gehorsam gegen das Gesetz Gerechtigkeit ist. Aber das Evangelium ruft uns fort vom Gesetz zu den Verheißungen und lehrt, dass wir nicht wegen unseres Gehorsams gegen das Gesetz für gerecht erklärt werden (denn wir tun dem Gesetz nicht Genüge), sondern deshalb, weil uns die Versöhnung um Christi willen geschenkt wird. Und die erlangen wir nur durch den Glauben. Bevor wir also das Gesetz erfüllen, müssen wir durch den Glauben Sündenvergebung und Versöhnung empfangen. Guter Gott! Wie wagen sie es, Christus zu nennen, wie trauen sie sich, die Bücher des Evangeliums anzublicken – sie, die bestreiten, dass wir allein durch den Glauben um Christi willen Sündenvergebung erlangen? [49 Auch im Glauben nur ein Anfang von Gesetzeserfüllung] Zweitens ist auch die Erfüllung des Gesetzes selbst, die der Erneuerung folgt, unzureichend und unrein. Obwohl nämlich die Erneuerung begonnen hat, haften in der Natur auch weiterhin Reste der Sünde, die uns immer anklagen, sofern wir nicht durch den Glauben an Christus die Sündenvergebung ergreifen und wissen, dass wir Zugang zu Gott haben – nicht wegen unserer Gesetzeserfüllung, sondern um Christi willen. Deshalb ist jene Gesetzeserfüllung nicht um ihrer selbst willen [bei Gott] angenommen, sondern um des Glaubens willen. Wenn Paulus deshalb schreibt, das Gesetz werde durch den Glauben aufgerichtet,114 so ist das nicht nur dahingehend zu verstehen, dass die durch Glauben Wiedergeborenen den Heiligen Geist empfangen und mit dem Gesetz Gottes übereinstimmende Regungen haben, sondern es ist ganz besonders auch hinzuzufügen, dass wir spüren müssen, dass wir noch weit von der Vollkommenheit des Gesetzes entfernt sind. Deshalb können wir nicht darauf vertrauen, wegen unserer Gesetzeserfüllung vor Gott als gerecht zu gelten, sondern müssen glauben, für gerecht oder

114. Röm 3,31.

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angenehm erklärt zu werden um Christi willen, nicht wegen des Gesetzes oder unserer Werke, und dass diese angefangene Erfüllung des Gesetzes Gott gefällt, weil wir in Christus sind. Ebenso, dass uns wegen des Glaubens an Christus nicht zugerechnet wird, was an der Erfüllung des Gesetzes fehlt. Dies lehrt Paulus Gal 3[,3], wenn er schreibt: »Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns.« Das heißt, das Gesetz verurteilt alle Menschen; aber Christus hat, weil er ohne Sünde die Sündenstrafe trug und für uns zum Opferlamm gemacht wurde, jenes Recht des Gesetzes aufgehoben, so dass es nicht mehr anklagt und die verurteilt, die an ihn glauben, weil er selbst für sie die Versöhnung ist, um derentwillen sie jetzt für gerecht gehalten werden. […] Im gleichen Sinne schreibt er an die Kolosser: »In Christus seid ihr vollendet«,115 als würde er sagen: Obwohl ihr bisher noch weit von der Vollkommenheit des Gesetzes entfernt seid, verdammen euch die Reste der Sünde dennoch nicht, weil wir um Christi willen eine sichere und gewisse Versöhnung haben, wenn ihr nur glaubt, obwohl die Sünde noch in eurem Fleisch steckt. Denn weit über unserer Reinheit, ja sogar weit über dem Gesetz selbst müssen Christi Tod und Genugtuung stehen, die uns geschenkt sind, damit wir gewiss sind, um jener Genugtuung willen einen gnädigen Gott zu haben, nicht um unserer Gesetzeserfüllung willen. Denn gottlos ist das Vertrauen, das auf unsere Gesetzeserfüllung gegründet wird. Dagegen ist dasjenige Vertrauen notwendig, das sich auf die Genugtuung Christi gründet. [50 Frieden des Gewissens nicht durch Werke, sondern nur durch Glauben] Drittens. Allein das rechtfertigt vor Gott, was uns wieder friedliche Gewissen schenkt. Denn solange das Gewissen vor dem Richtspruch Gottes flieht und Gott zürnt, sind wir nicht gerecht und lebendig gemacht. Ferner schenkt uns allein der Glaube ruhige Gewissen, nach jenem Spruch: »Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden.«116 Ebenso: »Der Gerechte wird aus Glauben leben«,117 d. h., 115. Kol 2,10. 116. Röm 5,1. 117. Röm 1,17; Hab 2,4.

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durch den Glauben überwindet er die Schrecken des Todes, durch den Glauben wird er aufgerichtet und empfängt Freude und Leben. Dies verleiht der Glaube, nicht weil er ein um seiner selbst willen würdiges Werk ist, sondern nur, weil er die angebotene Verheißung ergreift, wobei er nicht auf seine eigene Würdigkeit sieht. Allein der Glaube rechtfertigt also; und gute Werke gefallen um des Glaubens willen. Was können die Gegner gegen diese Lehre ins Feld führen? Was können sie gegen die offenkundige Wahrheit erdenken? Denn der Untersatz118 ist völlig sicher, dass uns unsere Werke kein friedliches Gewissen geben können, wenn Gott uns richtet und anklagt und uns unsere Unreinheit zeigt. Das schärft auch die Schrift oftmals ein, im Psalm: »Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.«119 Hier entzieht er einfach allen – auch den Heiligen und den Dienern Gottes! – den Ruhm der Gerechtigkeit, wenn Gott nicht verzeiht, sondern richtet und ihre Herzen anklagt. Denn wenn er sich andernorts seiner Gerechtigkeit rühmt, spricht er von seiner Sache wider die Verfolger des Wortes Gottes; er spricht nicht von seiner persönlichen Reinheit; und er bittet darum, die Sache und die Ehre Gottes zu verteidigen, wie Ps 7[,9]: »Schaffe mir Recht, Herr, nach meiner Gerechtigkeit« usw. An anderer Stelle: »Schaffe mir Recht, Herr, und führe meine Sache.«120 Wiederum lehrt er Ps 129, niemand könne den Richtspruch Gottes ertragen, wenn der unsere Sünden ansieht. »Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?«121 Und Hi 9[,28]: »Ich fürchtete alle meine Werke.« Ebenso: »Wenn ich mich auch mit Schneewasser wüsche und reinigte meine Hände mit Lauge, so wirst du mich doch eintauchen in die Grube.«122 Und Spr 20[,9]: »Wer kann sagen: Mein Herz ist rein?« Und 1 Joh 1[,8]: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.« Und im Vaterunser erbitten die Heiligen die Vergebung der Sünden. Auch die Heiligen haben also Sünden. Im 4. Buch Mose [steht]: »Auch der Unschuldige wird nicht unschuldig 118. Vgl. oben Nr. 34. Untersatz = die zweite Prämisse (nach dem Obersatz = erste Prämisse; hier: Nur das rechtfertigt, was ein friedliches Gewissen gibt). Aus beiden ergibt sich der Schluss: Allein der Glaube rechtfertigt. 119. Ps 143,2. 120. Ps 43,1. 121. Ps 130,3 [= Ps 129,3 Vg]. 122. Ijob 9,30f.

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sein.«123 Und Sacharja sagt: »Alles Fleisch sei stille vor dem Herrn.«124 Und Jesaja: »Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein.«125 Das heißt: Das Fleisch und die Gerechtigkeit des Fleisches können den Richtspruch Gottes nicht ertragen. Und Jona sagt Kapitel 2[,9]: »Die sich halten an das Nichtige, verlassen ihre Gnade.« Das heißt: Alles Vertrauen ist vergeblich, mit Ausnahme des Vertrauens auf die Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit bewahrt uns; eigene Werke, eigene Unternehmungen bewahren uns nicht. Diese und ähnliche Sätze in der Heiligen Schrift bezeugen, dass unsere Werke unrein sind und der Barmherzigkeit bedürfen. Deshalb geben uns nicht die Werke ruhige Gewissen, sondern die durch den Glauben ergriffene Barmherzigkeit. [51 Für immer angewiesen auf Christus als Mittler und auf Sündenvergebung] Viertens. Christus hört nicht auf, Mittler zu sein, nachdem wir erneuert sind. Es irren die, die behaupten, er habe nur die »erste Gnade« verdient, danach würden wir durch unsere Erfüllung des Gesetzes gefallen und das ewige Leben verdienen. Christus bleibt der Mittler, und wir müssen immer darauf bauen, dass wir um seinetwillen einen versöhnten Gott haben, obwohl wir unwürdig sind. So sagt Paulus: »Durch ihn haben wir den Zugang zu Gott durch Glauben.«126 Denn unsere Gesetzeserfüllung ist, wie wir gesagt haben, unrein, weil unsere Natur schrecklich verdorben ist. Darum sagt der Psalm: »Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben sind.«127 Deshalb brauchen wir die Sündenvergebung auch dann, wenn wir gute Werke haben. Jene Sündenvergebung aber wird immer im Glauben ergriffen. So bleibt Christus der Priester und Mittler. Es gefällt also jene Gesetzeserfüllung nicht um ihrer selbst willen, sondern weil wir im Glauben Christus ergreifen und wissen, dass wir einen gnädigen Gott haben, nicht um des Gesetzes, sondern um Christi willen.

123. 124. 125. 126. 127.

Num 14,18 [?]. Sach 2,17. Jes 40,6f. Röm 5,1f. Ps 32,1.

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[52 Beginnende Erneuerung im bleibenden Widerstreit zur Sünde] Fünftens. Wenn man meinen müsste, dass wir nach der Erneuerung notwendig angenehm würden nicht durch den Glauben um Christi, sondern um unserer Gesetzeserfüllung willen, würde das Gewissen niemals zur Ruhe kommen, sondern in die Verzweiflung getrieben werden. Denn das Gesetz klagt immer an, weil wir dem Gesetz niemals genügen. Das ist es, was auch die ganze Kirche bekennt. Denn Paulus sagt: »Nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will.«128 Ebenso: »Mit dem Gemüt diene ich dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.«129 Denn wer liebt oder fürchtet Gott genug? Wer erträgt geduldig genug die von Gott auferlegten Anfechtungen? Wer bezweifelt nicht oft, ob die menschlichen Dinge durch Gottes Rat gelenkt werden? Wer bezweifelt nicht oftmals, ob er von Gott erhört wird? Wen verdrießt es nicht öfters, dass die Gottlosen mehr Glück haben als die Frommen, dass die Frommen von den Gottlosen unterdrückt werden? Wer zürnt nicht dem Ratschluss Gottes, wenn er uns zu verwerfen scheint? Wer tut seiner Berufung Genüge? Wer liebt seinen Nächsten wie sich selbst? Wer wird nicht von der Begierde erregt? Über diese Sünden sagt der Psalm: »Deshalb werden alle Heiligen zu dir beten.«130 Hier sagt er, dass die Heiligen Sündenvergebung erbitten. Mehr als blind sind die, die nicht sehen wollen, dass die bösen Regungen im Fleisch die Sünden sind, von denen Paulus spricht: »Das Fleisch begehrt wider den Geist und der Geist wider das Fleisch.«131 Das Fleisch misstraut Gott und vertraut auf gegenwärtige Dinge, sucht im Unglück menschliche Hilfen auch gegen Gottes Willen, flieht die Anfechtungen, die es nach Gottes Willen ertragen sollte, zweifelt an Gottes Barmherzigkeit. Mit solchen Regungen liegt der Heilige Geist in den Herzen im Streit, um sie zu unterdrücken und zu töten, und pflanzt neue und geistliche Regungen ein. Auch Augustin sagt: »Alle Gebote Gottes werden erfüllt, wenn das, was nicht geschieht, verziehen wird.«132 Er fordert also Glauben auch bei den guten Werken, dass wir glauben, dass wir Gott um Christi willen gefallen und dass die Werke, welche gefallen,

128. 129. 130. 131. 132.

Röm 7,19. Röm 7,25. Ps 32,6. Gal 5,17. Augustin, Retractationes I, 19, 3 (PL 32, 615).

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dies nicht um ihrer selbst willen tun. Und Hieronymus schreibt gegen die Pelagianer: »Wir sind also dann gerecht, wenn wir uns als Sünder bekennen. Und unsere Gerechtigkeit besteht nicht aus eigenem Verdienst, sondern aus Gottes Barmherzigkeit.«133 Also muss bei jener angefangenen Gesetzeserfüllung der Glaube zugegen sein, der urteilt, dass wir um Christi willen einen versöhnten Gott haben. Denn die Barmherzigkeit kann nur im Glauben ergriffen werden. Daher ist es geradezu eine Lehre der Verzweiflung zu lehren, dass wir nicht durch den Glauben um Christi willen angenommen sind, sondern wegen unserer eigenen Gesetzeserfüllung. [53 Auch bei beginnender Gesetzeserfüllung: Rechtfertigung allein durch Glauben] Aus all dem wird hinreichend deutlich, dass allein der Glaube rechtfertigt, d. h., dass er zuerst Sündenvergebung erlangt und die Versöhnung um Christi willen, und dass allein der Glaube die Wiedergeburt wirkt, denn allein durch den Glauben wird der Heilige Geist empfangen. Sodann, dass jene angefangene Erfüllung des Gesetzes nicht um ihrer selbst willen bei Gott Gefallen findet. Weil aber immer noch anderswo, nämlich in der Verheißung Christi, die Rechtfertigung gesucht werden muss und weil allein der Glaube ein friedliches Gewissen schafft, ist es zwingend, dass allein der Glaube rechtfertigt. Immer nämlich müssen wir erkennen, dass wir nicht um des Gesetzes, sondern um Christi willen angenommen sind. Denn wir werden nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Verheißung gerechtfertigt. Es darf auch die Ehre Christi nicht auf das Gesetz übertragen werden. Und da wir zu Beginn um Christi willen für gerecht erklärt werden, weil wir an ihn glauben, dürfen wir doch nicht meinen, dass wir später – unter Verwerfung dieses Mittlers – aufgrund unserer Gesetzeserfüllung gerecht sind; wiewohl es nötig ist, dass die Wiedergeborenen Gutes tun. Und soweit die Gesetzestaten [wirklich] dem Gesetz gehorchen, sind sie »Gerechtigkeiten«; soweit rechtfertigt dieser Gesetzesgehorsam als Gesetzesgerechtigkeit. Aber diese unvollkommene Gesetzesgerechtigkeit ist nur um des Glaubens willen angenehm und kann die Gewissen nicht zum Frieden bringen. Das vermag nur der Glaube, der sich fest darauf verlässt, dass wir um

133. Hieronymus, Dialogus adversus Pelagianos I, 13 (PL 23, 527).

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des Hohenpriesters Christus willen einen gnädigen Gott haben. In dieser Verheißung müssen die frommen und tief erschrockenen Gewissen Versöhnung und Rechtfertigung suchen, durch diese Verheißung müssen sie sich aufrichten und aufrecht halten, wie diese Worte lehren: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«134 Sie zeigen nämlich, dass der Glaube rechtfertigt, und so rechtfertigt, dass er zugleich lebendig macht, d. h., dass er die Gewissen aufrichtet und tröstet und ewiges Leben und Freude im Geist hervorbringt.

Antwort auf die Argumente der Gegner [54 Unterscheidung von Gesetz und Evangelium führt aus Ungewissheit zur Klarheit] Nachdem […] diese Grundlagen der Sache – nämlich die Unterscheidung zwischen dem Gesetz und den Verheißungen oder dem Evangelium – erkannt sind, wird es leicht sein, die Vorwürfe der Gegner zu entkräften. Denn sie zitieren Worte vom Gesetz und den Werken, übergehen aber die von den Verheißungen. Ein für alle Mal aber kann auf alle Reden vom Gesetz geantwortet werden, dass das Gesetz nicht erfüllt werden kann ohne Christus. Und wenn weltliche Werke ohne Christus geschehen, gefallen sie Gott nicht. Wenn man also Werke predigt, muss man hinzufügen, dass der Glaube verlangt wird, dass sie um des Glaubens willen gepredigt werden, weil sie dessen Früchte und Zeugnisse sind. Wie kann man schlichter über diese unsere Lehre sprechen? Denn zur Erkenntnis der Wohltaten Christi muss man die Verheißungen vom Gesetz unterscheiden. Zweideutige und gefährliche Fälle führen zu vielen verschiedenen Lösungen. Denn wahr ist jenes Wort des alten Dichters: »Das unrechte Wort aber bedarf, krank in sich selbst, weiser Heilmittel.«135 Bei guten und zuverlässigen Sachen aber rückt die eine oder andere Lösung, aus den Quellen geschöpft, alles zurecht, was anstößig erscheint. So ist es auch in unserem Fall. Denn die eben erwähnte Regel erklärt alle zitierten Worte über das Gesetz und die Werke.

134. Röm 1,17; Hab 2,4. 135. Euripides, Phoenissae, 474f.

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[55 »Gute Werke« im Licht dieser Unterscheidung] Wir sagen nämlich, dass die Schrift hier vom Gesetz spricht, dort vom Evangelium oder der umsonst geschenkten Verheißung der Sündenvergebung um Christi willen. Unsere Gegner aber streichen einfach die […] Verheißung. Sie leugnen, dass der Glaube rechtfertigt, wenn sie lehren, dass wir um der Liebe und unserer Werke willen Sündenvergebung und Versöhnung empfangen. Wenn nämlich die Sündenvergebung von unseren Werken abhängt, so wird sie gänzlich ungewiss. Denn wir vollbringen niemals zureichende Werke. Die Verheißung wird also ausgelöscht. Daher rufen wir alle frommen Menschen auf, wieder auf die Verheißungen zu sehen, und lehren die umsonst geschenkte Sündenvergebung und Versöhnung, die durch den Glauben an Christus geschieht. Dann fügen wir auch die Lehre vom Gesetz hinzu, nicht weil wir durch das Gesetz Sündenvergebung verdienten oder um des Gesetzes, nicht um Christi willen für gerecht erklärt würden, sondern weil Gott gute Werke fordert. Denn man muss das Gesetz und die Verheißungen mit Verstand »richtig austeilen«136. Man muss darauf sehen, was die Schrift dem Gesetz und was sie den Verheißungen zuteilt. Denn die guten Werke lobt und gebietet sie so, dass sie die umsonst geschenkte Verheißung nicht aufhebt und auch nicht Christus beseitigt. Denn gute Werke müssen getan werden, weil Gott sie fordert. Deshalb sind sie Wirkungen der Wiedergeburt, wie Paulus Eph 2[,10] lehrt: »Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.« Daher müssen die guten Werke dem Glauben folgen als ein Dank gegen Gott. Ebenso, damit sich der Glaube in ihnen sowohl übt als auch wächst und anderen gezeigt wird, damit durch unser Bekenntnis andere zur Gottesfurcht eingeladen werden. So sagt Paulus, Abraham habe die Beschneidung nicht deshalb empfangen, damit er um dieses Werkes willen für gerecht erklärt würde, sondern um ein an den Körper geschriebenes Zeichen zu haben, durch das er erinnert werden und allmählich einen größeren Glauben empfangen sollte. Desgleichen sollte er dadurch den Glauben vor anderen bekennen und durch sein Zeugnis andere zum Glauben einladen.137 So hat Abel durch den Glauben ein willkommeneres Opfer gebracht. Denn das Opfer gefiel nicht durch den bloßen 136. 2 Tim 2,15. 137. Röm 4,9ff.

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Vollzug, sondern weil Abel im Glauben gewiss war, um der Barmherzigkeit willen einen versöhnten Gott zu haben. Jenes Werk aber tat er, um seinen Glauben zu üben und andere durch das Beispiel und sein Bekenntnis zum Glauben einzuladen.138 [56 Fehlurteile über die »Werke« im Blick auf die Heiligen] […] Weil auf diese Weise die guten Werke dem Glauben folgen müssen, gehen die ganz anders mit den Werken um, die nicht glauben und nicht von Herzen darauf vertrauen, dass ihnen um Christi willen vergeben wird […]. Wenn sie die Werke der Heiligen sehen, urteilen sie nach menschlicher Art, die Heiligen hätten durch jene Werke die Sündenvergebung verdient und wären wegen dieser Werke vor Gott für gerecht erklärt worden. Deshalb ahmen sie sie nach und meinen, sie würden durch ähnliche Werke die Sündenvergebung verdienen, sie versuchen, Gottes Zorn zu besänftigen, und vertrauen darauf, um solcher Werke willen für gerecht erklärt zu werden. Diese gottlosen Meinungen von den Werken verdammen wir. Denn erstens verdunkeln sie die Ehre Christi, wenn Menschen Gott diese Werke gleichsam als Lösegeld und Sühne anbieten. Die Ehre, die allein Christus gebührt, wird unseren Werken beigelegt. Zweitens finden die Gewissen dennoch keinen Frieden in diesen Werken, sondern verzweifeln, obwohl sie Werk auf Werk häufen, zuletzt in wahrem Schrecken, weil sie nämlich wirklich kein Werk finden, das rein genug wäre. Das Gesetz klagt immer an und wirkt Zorn. Drittens kommen solche Menschen niemals zur Gotteserkenntnis; denn die Gewissen, die den Zorn Gottes fliehen, können keinen Frieden finden und auch niemals glauben, dass sie von Gott erhört werden. Aber wenn der Glaube hinzukommt, der glaubt, dass wir umsonst für gerecht erklärt werden, wagt er es, Gott anzurufen, und er glaubt, dass er erhört wird, und erlangt die wahre Erkenntnis Gottes. [57 Geschichte des Irrtums über die Werke: Heiden und Juden] Doch besteht immerfort in der Welt diese gottlose Meinung über die Werke. So hielten die Heiden Opfer, die sie von den Vätern übernommen hatten. Deren Werke ahmten sie nach, hatten aber keinen Glau-

138. Hebr 11,4.

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ben, sondern meinten, jene Werke wären eine Sühne und ein Lösegeld, durch das Gott mit ihnen versöhnt würde. Das Volk [Israel] ahmte jene Opfer im Gesetz nach, da es glaubte, es würde sozusagen durch den bloßen Vollzug jener Werke einen gnädigen Gott haben. Hier sehen wir, wie heftig die Propheten das Volk zurechtweisen. Ps 49: »Nicht deiner Opfer wegen klage ich dich an.«139 Und Jeremia: »Ich habe euch kein Gebot über Brandopfer gegeben.«140 Solche Worte verdammen nicht die Werke, die Gott klar geboten hatte, wie z. B. äußere Verpflichtungen dieser Gemeinwesen, sondern die gottlose Überzeugung, in der sie meinten, durch jene Werke den Zorn Gottes stillen zu können, weshalb sie den Glauben verwarfen. Und weil kein Werk ein ruhiges Gewissen schenkt, so erdenken sie neue Werke abseits der Gebote Gottes. [Nachahmung statt Glauben?] Doch am meisten wirken die Vorbilder der Heiligen auf die Menschen. Sie hoffen, sie würden durch Nachahmung derselben ebenso die Versöhnung erlangen, wie jene sie erlangt haben. Das Volk Israel hatte gesehen, dass die Propheten auf den Höhen opferten. Dieses Werk hat das Volk mit wundersamem Eifer nachzuahmen begonnen, um dadurch den Zorn Gottes zu besänftigen. Aber die Propheten hatten auf den Höhen geopfert, nicht um durch jene Werke Vergebung der Sünden […] zu verdienen, sondern weil sie an jenen Orten lehrten und deshalb dort ein Zeugnis ihres Glaubens ablegten. Das Volk hatte gehört, dass Abraham seinen Sohn geopfert hatte.141 Deshalb schlachteten sie auch selbst ihre Söhne, um durch dieses bitterste und schwerste Opfer den Zorn Gottes zu beschwichtigen. Aber Abraham opferte seinen Sohn nicht in der Meinung, dieses Werk sei ein Preis und eine Sühne, um derentwillen er für gerecht gehalten würde. So ist [auch] in der Kirche das Abendmahl eingesetzt worden, damit durch die Erinnerung an die Verheißungen Christi (die uns durch dieses Zeichen ins Gedächtnis gerufen werden) der Glaube in uns gestärkt würde und wir öffentlich unseren Glauben bekennen und die Wohltaten Christi verkündigen. So wie auch Paulus sagt: »Sooft ihr dies tut, verkündigt ihr den 139. Ps 50,8. 140. Jer 7,22. 141. Gen 22,1–19.

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Tod des Herrn«142 usw. Aber unsere Gegner behaupten, die Messe sei ein Werk, das durch den Vollzug rechtfertigt und diejenigen vom Schuld- und Strafzustand befreit, für die sie gehalten wird. […] Antonius, Bernhard, Dominikus, Franziskus und andere heilige Väter haben eine bestimmte Lebensweise gewählt, entweder wegen des Studiums oder wegen anderer nützlicher Übungen. Dabei waren sie überzeugt, durch den Glauben um Christi willen als gerecht zu gelten und einen gnädigen Gott zu haben – um Christi willen, nicht um jener Übungen willen! Aber die Masse hat dann nicht den Glauben der Väter nachgeahmt, sondern ihre Beispiele ohne den Glauben, um durch sie die Vergebung der Sünden zu verdienen, damit sie um jener Werke willen vor Gott für gerecht erklärt würden. So irrt der menschliche Geist hinsichtlich der Werke, weil er die Glaubensgerechtigkeit nicht begreift. Und diesen Irrtum tadelt das Evangelium, welches lehrt, dass die Menschen nicht wegen des Gesetzes, sondern allein um Christi willen für gerecht erklärt werden. Christus aber wird allein im Glauben ergriffen. Deshalb werden wir allein durch den Glauben um Christi willen für gerecht gehalten.

[Biblische Argumente der Gegner gegen die Rechtfertigung durch Glauben] [58 Zu 1 Kor 13,2.13: Rechtfertigung durch Liebe?] Doch halten uns die Gegner eine Stelle aus den Korintherbriefen vor: […] »Wenn ich allen Glauben hätte usw., die Liebe aber nicht, so wäre ich nichts.«143 Und sie […] triumphieren mächtig. Der ganzen Kirche, so sagen sie, bescheinigt Paulus, dass nicht allein der Glaube rechtfertigt. Aber es ist leicht zu antworten, nachdem wir oben gezeigt haben, wie wir über die Liebe und die Werke denken. Dieses Pauluswort fordert die Liebe. Die fordern auch wir. Wir haben nämlich oben gesagt, dass es in uns eine Erneuerung und eine angefangene Gesetzeserfüllung geben muss […]. Deshalb [gilt]: Wenn jemand die Liebe preisgegeben hat, behält er, auch wenn er einen sehr großen Glauben hat, diesen nicht. Denn er behält den Heiligen Geist nicht. Doch folgt hieraus nicht, dass die Liebe rechtfertigt, d. h., dass wir um der Liebe willen die Sün142. 1 Kor 11,26. 143. 1 Kor 13,2.

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denvergebung empfangen, dass die Liebe die Schrecken des Todes und der Sünde überwindet, dass die Liebe dem Zorn und Richtspruch Gottes entgegengesetzt werden muss, dass die Liebe dem Gesetz Genüge tut und dass wir als Wiedergeborene um der Gesetzeserfüllung willen Gott angenehm sind, nicht umsonst um Christi willen. All dies sagt Paulus nicht, was unsere Gegner gleichwohl hinzufügen. Wenn wir schon durch unsere Liebe Gottes Zorn überwinden, wenn wir durch unsere Liebe vor Gott Sündenvergebung verdienen, wenn wir durch unsere Gesetzeserfüllung angenehm sind, dann sollen die Gegner die Verheißung Christi aufheben, das Evangelium auslöschen, welches lehrt, dass wir Zugang zu Gott haben durch den Versöhner Christus, welches lehrt, dass wir nicht wegen unserer Gesetzeserfüllung, sondern um Christi willen angenommen sind. Die Gegner verderben die meisten Schriftworte, weil sie ihnen ihre eigenen Deutungen unterschieben. Sie entnehmen den Sinn nicht aus den Schriften selbst. Denn – was ist noch anstößig an diesem Wort, wenn wir erst einmal die Deutung heruntergerissen haben, die ihm die Gegner anflicken, [Menschen,] die nicht wissen, was Rechtfertigung ist und wie sie geschieht? – Die Korinther, nachdem sie zuvor gerechtfertigt waren, hatten eine Fülle ausgezeichneter Gaben empfangen. Und am Anfang waren sie mit Eifer bei der Sache – wie das so ist. Dann kam es zu Rivalitäten unter ihnen, wie Paulus berichtet; sie begannen, ihrer guten Lehrer überdrüssig zu werden. Deshalb tadelt sie Paulus und ruft sie zu den Pflichten der Liebe zurück. Er spricht hier nicht über die Sündenvergebung, die Art der Rechtfertigung, sondern redet von den Früchten. Und unter Liebe versteht er die gegenüber dem Nächsten. Es ist aber töricht, sich einzubilden, dass die Liebe, in der wir mit den Menschen umgehen, vor Gott rechtfertigt. Denn bei der Rechtfertigung hat man es mit Gott zu tun; sein Zorn muss besänftigt werden; das Gewissen muss Gott gegenüber Frieden finden. Nichts davon geschieht durch jene Liebe, sondern nur dann, wenn die Barmherzigkeit ergriffen wird. Und das geschieht durch den Glauben. Dies aber ist wahr, dass nach dem Verlust der Liebe auch der Heilige Geist verloren geht, durch dessen Verlust auch der Glaube herausgerissen wird. Deshalb sagt er: »Wenn ich die Liebe nicht hätte, so wäre ich nichts.«144 Er setzt keine bejahende Aussage hinzu, dass die Liebe rechtfertigt.

144. 1 Kor 13,2.

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Doch reden sie davon, dass die Liebe dem Glauben und der Hoffnung vorgezogen werde. Paulus sagt nämlich: »Die Liebe ist die größte unter ihnen.«145 Nun herrscht aber Übereinstimmung darüber, dass die größte und vorzüglichste Tugend rechtfertigt. Indessen redet Paulus an dieser Stelle im Besonderen von der Nächstenliebe. Und er deutet an, sie sei die größte Liebe, weil sie die meisten Früchte trägt. Glaube und Hoffnung aber haben es nur mit Gott zu tun. Doch hat die Liebe nach außen den Menschen gegenüber unendliche Pflichten. Doch wollen wir den Gegnern trotzdem zugestehen, dass die Liebe zu Gott und zum Nächsten die größte Tugend ist, weil dies das höchste Gebot ist: »Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben«146 usw. Aber wie wollen sie hieraus schließen, dass die Liebe rechtfertigt? (Denn sie sagen: Die höchste Tugend rechtfertigt.) Im Gegenteil! So wie […] das größte und erste Gesetz nicht rechtfertigt, so auch nicht die höchste Tugend des Gesetzes, denn es gibt kein Gesetz, das uns mehr anklagt und uns mehr dazu bringt, dass unser Gewissen dem Richtspruch Gottes zürnt, als dieses höchste Gesetz: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen lieben.«147 Denn wer von den Heiligen, abgesehen von Christus, hat sich zu rühmen gewagt, diesem Gesetz Genüge getan zu haben? Die Gesetzestugend rechtfertigt also nicht. Stattdessen rechtfertigt jene Tugend, die die um Christi willen geschenkte Versöhnung empfängt. Diese Tugend ist der Glaube. Er rechtfertigt nicht seiner Würdigkeit wegen, sondern nur weil er die Barmherzigkeit empfängt, durch welche wir um Christi willen für gerecht erklärt werden. Denn wir sind gerecht (d. h. angenommen vor Gott) nicht wegen unserer Vollkommenheit, sondern durch die Barmherzigkeit um Christi willen, wenn wir diese ergreifen und dem Zorn Gottes entgegenhalten. Aber die Gegner schreiben der Liebe die Gerechtigkeit deshalb zu, weil sie das Gesetz lehren und meinen, Gerechtigkeit sei der Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Denn die menschliche Vernunft schaut nur auf das Gesetz und kennt keine andere Gerechtigkeit als den Gesetzesgehorsam. Und die Scholastiker, findige Leute, haben, als sie eine Methode suchten, sich das Gesetz vor Augen gestellt; ebenso stellen sich die Philosophen in der Ethik auch die Sittengebote vor. Aber Paulus wider145. 1 Kor 13,13. 146. Mk 12,30. 147. Dtn 6,5.

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spricht und lehrt, dass Gerechtigkeit etwas anderes ist, nämlich der Gehorsam gegenüber der Verheißung der um Christi willen geschenkten Versöhnung, d. h.: die um Christi willen geschenkte Barmherzigkeit anzunehmen. Denn so sind wir bei Gott angenommen, so bekommen die Gewissen Frieden, wenn wir glauben, dass Gott uns um Christi willen gnädig ist. Deshalb müssen die frommen Gemüter vom Gesetz weg zur Verheißung gerufen werden, wie wir schon oft gesagt haben, und etwas später wollen wir das ausführlicher darlegen, wenn wir die scholastischen Argumente zum Wort »Gerechtigkeit« behandeln werden. [59 Zu Kol 3,14: Liebe als »Band der Vollkommenheit«] Die Gegner haben in ihrer Konfutation148 auch folgenden Spruch aus dem Kolosserbrief gegen uns ins Feld geführt: »Die Liebe ist ein Band der Vollkommenheit.«149 Daraus folgern sie, dass die Liebe rechtfertigt, weil sie vollkommene Menschen macht. Obwohl hier hinsichtlich des Begriffes »Vollkommenheit« auf mancherlei Weise zu antworten wäre, wollen wir doch [lieber] einfach den Satz des Paulus in Erinnerung bringen. Es ist sicher, dass Paulus von der Nächstenliebe spricht. Doch darf man nicht glauben, er habe die Rechtfertigung oder die Vollkommenheit vor Gott damit eher den Werken der zweiten als der ersten Tafel zugerechnet. Wenn die Liebe deshalb eine vollkommene Erfüllung des Gesetzes wäre und dem Gesetz Genüge täte, so brauchte man folglich den Versöhner Christus nicht. Doch lehrt Paulus deshalb, dass wir um Christi willen, nicht um der Gesetzeserfüllung willen angenehm sind, weil die Erfüllung des Gesetzes nicht vollkommen ist. Deshalb [gilt]: Weil er uns die Gerechtigkeit anderswo ganz offenkundig abspricht, darf man nicht meinen, er spreche hier über die persönliche Vollkommenheit einzelner Menschen. Er spricht vielmehr über die gemeinschaftliche Ganzheit der Kirche. Deshalb nämlich sagt er, die Liebe sei das Band oder die Verbindung, um zu zeigen, dass er [hier] von der Verbindung und Verknüpfung mehrerer Glieder der Kirche untereinander redet. Wie nämlich in allen Familien und Staatswesen die Eintracht durch wechselseitige Dienstleistungen gefördert werden muss und der innere Friede nur bewahrt 148. Die während des Reichstages verlesene Entgegnung auf die Augsburgische Konfession. 149. Kol 3,14.

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werden kann, wenn die Menschen gewisse Fehler in ihrem Zusammenleben übersehen und vergeben: So will auch Paulus, dass in der Kirche die Liebe herrscht, die die Eintracht wahrt und, wo immer das nötig ist, rauere Sitten von Brüdern erträgt und gewisse leichtere Fehler übersieht, damit die Kirche nicht in verschiedene Spaltungen zerfällt und aus den Spaltungen Feindschaften, Parteien und Sekten entstehen. Denn die Eintracht wird zwangsläufig zerstört, wenn die Bischöfe dem Volk zu schwere Lasten auferlegen und kein Verständnis für die Schwachheit im Volk aufbringen. Auch kommt es zu Trennungen, wenn das Volk zu scharf über den Lebenswandel der Lehrenden urteilt oder ihrer wegen unerheblicher Schwächen überdrüssig wird; denn dann sucht man bald nach anderen Lehren und Lehrern. Dagegen wird die Vollkommenheit, d. h. die Ganzheit der Kirche bewahrt, wenn die Starken die Schwachen ertragen, wenn das Volk bestimmte Unzulänglichkeiten im Lebenswandel der Gelehrten auf sich beruhen lässt und die Bischöfe eine gewisse Schwachheit des Volkes hingehen lassen. Von diesen Regeln der Billigkeit sind die Bücher aller Weisen voll, damit wir in unsern Lebensgewohnheiten einander vieles nachsehen um des gemeinen Friedens willen. Auch Paulus gibt hier wie auch sonst oft Weisungen darüber. [Gegner preisen die Liebe und verleugnen sie zugleich] Daher folgern die Gegner fälschlich aus dem Begriff »Vollkommenheit«, die Liebe rechtfertige – obwohl Paulus hier doch von der Ganzheit und vom gemeinsamen Frieden spricht. So legt auch Ambrosius diese Stelle aus: »So wie man ein Gebäude vollkommen und vollständig nennt, wenn alle Bauteile passend zusammengefügt sind.«150 Schändlich aber ist es für die Gegner, die Liebe so sehr zu preisen, obwohl sie sie doch nirgends erweisen. Was tun sie jetzt? Sie entzweien die Kirche, schreiben mit Blut [neue] Gesetze und legen sie dem Kaiser, dem allermildesten Herrn, zur Inkraftsetzung vor. Sie ermorden Priester und andere gute Männer schon dann, wenn einer nur beiläufig andeutet, dass er irgendeinen offensichtlichen Missbrauch nicht gänzlich billigt. Das passt nicht zu ihren Lobreden auf 150. Bei Ambrosius oder ihm zugeschriebenen Werken (Ambrosiaster) nicht nachweisbar.

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die Liebe! Würden die Gegner sie befolgen, so wären die Kirchen ruhig und der Staat befriedet. Denn diese Unruhen würden verstummen, wenn die Gegner nicht so hart auf gewissen für die Frömmigkeit unnützen Gebräuchen bestehen würden, deren meiste nicht einmal diejenigen selbst einhalten, die sie auf das heftigste verteidigen. Sich selbst verzeihen sie rasch, anderen aber nicht, wie jener Mann beim Dichter: »›Ich für mein Teil verzeihe mir‹, sagt Maenius.«151 Das aber ist ganz etwas anderes als diese Lobreden auf die Liebe, die sie hier aus Paulus zitieren und doch nicht besser verstehen als die Wände eine Stimme, die sie als Echo zurückwerfen. [60 Zu 1 Petr 4,8: »Liebe deckt auch der Sünden Menge«] Aus dem 1. Brief des Petrus führen sie auch dieses Wort152 an: »Die Liebe deckt auch der Sünden Menge.«153 Es steht fest, dass auch Petrus von der Liebe zum Nächsten spricht. Er fügt dieses Wort einer Weisung hinzu, in der er gebietet, einander zu lieben. Unmöglich aber konnte es einem Apostel in den Sinn kommen, dass unsere Liebe Sünde und Tod überwinde, dass sie die Sühne sei, durch die Gott ohne den Mittler Christus versöhnt würde, dass sie die Gerechtigkeit sei ohne den Mittler Christus. Denn diese Liebe, wenn es sie gäbe, wäre eine Gerechtigkeit des Gesetzes, nicht des Evangeliums, das uns Versöhnung und Gerechtigkeit verheißt, wenn wir glauben, dass um des Versöhners Christus willen der Vater versöhnt ist, dass uns Christi Verdienste geschenkt werden. Darum gebietet uns Petrus kurz zuvor, dass wir zu Christus treten, um auf ihm erbaut zu werden. Und er setzt hinzu: »Wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.«154 Unsere Liebe rettet uns nicht vor dem Zunichtewerden, wenn Gott uns richtet und verurteilt. Aber der Glaube an Christus macht frei in diesen Ängsten, weil wir wissen, dass uns um Christi willen vergeben wird. Übrigens ist dieses Wort von der Liebe den Sprüchen Salomo entnommen, wo der Gegensatz klar zeigt, wie es verstanden werden muss: »Hass erregt Hader; aber die Liebe deckt alle Übertretungen 151. 152. 153. 154.

Horaz, Satiren I, 3, 23. Nicht in der Konfutation, aber in anderen Schriften gegen die Reformatoren. 1 Petr 4,8. 1 Petr 2,6.

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zu.«155 Es lehrt ganz dasselbe wie jenes dem Kolosserbrief entnommene Pauluswort, nämlich, da, wenn es Streitigkeiten gibt, sie durch unser Zubilligen und Zuvorkommen entschärft und beigelegt werden sollen.156 Konflikte, so schreibt er, erwachsen aus Hassgefühlen; wie wir oft sehen, dass aus geringsten Anlässen die schrecklichsten Tragödien entstehen. Es waren nur Kleinigkeiten, über die sich Caesar und Pompeius zerstritten. Hätte nur einer dem anderen ein wenig nachgegeben – es wäre nicht zum Bürgerkrieg gekommen. Aber weil beide ihrem Hass die Zügel schießen ließen, entstand aus einer ganz unbedeutenden Sache der größte Aufruhr. Auch in der Kirche sind viele Sekten nur aus dem Hass der Gelehrten gegeneinander entstanden. Daher spricht er nicht von den eigenen Verfehlungen, sondern von den fremden, wenn er schreibt: »Die Liebe deckt Sünden zu«, nämlich fremde, und zwar zwischen Menschen. Das heißt: Obwohl es Angriffe gibt, sieht doch die Liebe darüber hinweg, verzeiht, gibt nach und treibt nicht alles rechtlich auf die Spitze. Petrus will also nicht sagen, dass die Liebe die Vergebung der Sünden vor Gott verdient, dass sie ein Sühnemittel unter Ausschluss des Mittlers Christus ist, dass wir angenehm wären um der Liebe, nicht um des Mittlers Christus willen. Vielmehr: Sie ist Menschen gegenüber nicht eigenwillig, nicht hart oder unfreundlich, weil sie über bestimmte Irrtümer der Freunde hinwegsieht, weil sie das Verhalten anderer, auch rauerer Menschen, zum Guten deutet, wie auch das Sprichwort lehrt: »Die Sitten des Freundes sollst du kennen, nicht hassen.«157 Auch lehren die Apostel nicht zufällig so oft von jener Liebespflicht, die die Philosophen »Billigkeit« nennen. Denn diese Tugend ist notwendig für den Erhalt der öffentlichen Eintracht. Diese kann nicht dauerhaft bestehen, wenn nicht Pastoren und Kirchen einander vieles nachsehen und verzeihen. [61 Zu Jak 2,24: »… dass der Mensch durch Werke gerecht wird«] Aus dem Jakobusbrief zitieren sie: »So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.«158 Und kein 155. 156. 157. 158.

Spr 10,12. Kol 3,13. Römisches Sprichwort nach Porphyrius († um 304). Jak 2,24.

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anderer Spruch scheint unserer Auffassung mehr zu widersprechen; doch ist die Antwort hier leicht und einsichtig. Wenn die Gegner ihnen nicht ihre eigenen Auffassungen vom Verdienst der Werke anflicken, haben die Worte des Jakobus nichts Sträfliches an sich. Sobald aber Werke erwähnt werden, setzen die Gegner ihre gottlosen Meinungen dazu: dass wir durch gute Werke Sündenvergebung verdienen, dass gute Werke ein Sühnemittel und Preis sind, um dessentwillen Gott mit uns versöhnt wird, dass gute Werke die Schrecken der Sünde und des Todes überwinden, dass sie ihrer Güte wegen vor Gott angenehm sind, nicht der Barmherzigkeit und des Versöhners Christus bedürfen. Von all dem ist Jakobus nichts in den Sinn gekommen. Trotzdem verteidigen die Gegner jetzt alles, indem sie das Jakobuswort vorschützen. Erstens ist also zu erwägen, dass dieses Jakobuswort eher gegen die Gegner als gegen uns spricht. Sie lehren nämlich, der Mensch werde gerechtfertigt durch Liebe und Werke. Vom Glauben, durch den wir den Versöhner Christus ergreifen, sagen sie nichts. Im Gegenteil! Sie verwerfen diesen Glauben sogar. Und sie verwerfen ihn nicht nur mit Worten und Schriften, sondern suchen ihn sogar durch Schwert und Todesstrafe in der Kirche zu vernichten. Wie viel besser lehrt da Jakobus, der den Glauben nicht übergeht, ihn nicht durch die Liebe ersetzt, sondern am Glauben festhält, damit der Versöhner Christus bei der Rechtfertigung nicht ausgeschlossen wird. Wie auch Paulus, wenn er das Ganze des christlichen Lebens beschreibt, Glauben und Liebe zusammenfasst, 1 Tim 1[,5]: »Die Hauptsumme aller Unterweisung aber ist Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungefärbtem Glauben.« Zweitens lehrt die Sache selbst, dass hier von Werken die Rede ist, die dem Glauben folgen und zeigen, dass der Glaube nicht tot ist, sondern lebendig und wirksam im Herzen. Jakobus meint also gar nicht, dass wir durch gute Werke Sündenvergebung und Gnade verdienen. Er spricht nämlich von den Werken der Gerechtfertigten, die schon versöhnt und angenommen sind und Sündenvergebung erlangt haben. Daher irren die Gegner, wenn sie hieraus folgern, Jakobus lehre, dass wir durch gute Werke Sündenvergebung und Gnade verdienen, dass wir durch unsere Werke Zugang zu Gott haben, ohne den Versöhner Christus. Drittens hat Jakobus kurz zuvor von der Wiedergeburt gesagt, sie geschehe durch das Evangelium. So nämlich sagt er: »Er hat uns ge-

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boren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.«159 Wenn er sagt, wir seien durch das Evangelium wiedergeboren, dann lehrt er, dass wir durch den Glauben wiedergeboren und gerechtfertigt sind. Denn die Verheißung von Christus wird nur im Glauben ergriffen, wenn wir sie den Schrecken der Sünde und des Todes entgegenhalten. Jakobus meint also nicht, wir würden durch unsere Werke wiedergeboren. Aus all dem wird deutlich, dass Jakobus uns nicht widerspricht. Er tadelte hier müßige und sichere Menschen, die meinten, sie hätten den Glauben, obwohl sie ihn nicht hatten. Er unterschied zwischen totem und lebendigem Glauben. Ein toter Glaube, sagt er, bringt keine guten Werke hervor; lebendig [aber] nennt er den Glauben, der gute Werke hervorbringt. Nun haben wir schon oft gezeigt, was wir »Glauben« nennen. Wir reden nämlich nicht von bloßer Kenntnisnahme, wie sie auch bei den Teufeln geschieht,160 sondern von dem Glauben, der den Schrecken des Gewissens standhält, der die tief erschrockenen Herzen aufrichtet und tröstet. Ein solcher Glaube aber ist keine einfache Sache, wie die Gegner träumen, auch keine menschliche, sondern eine göttliche Kraft, durch die wir lebendig gemacht werden, durch die wir Teufel und Tod besiegen. So wie Paulus an die Kolosser schreibt, der Glaube sei wirksam durch die Macht Gottes und besiege den Tod: Mit dem [= Christus] »ihr auch auferweckt seid im Vertrauen auf die Wirksamkeit Gottes«.161 Weil dieser Glaube das neue Leben ist, bringt er notwendig neue Regungen und Werke hervor. Deshalb bestreitet Jakobus zu Recht, wir würden durch solchen Glauben gerechtfertigt, der ohne Werke ist. Wenn er aber sagt, wir würden durch Glauben und Werke gerechtfertigt, meint er gewiss nicht, dass wir durch Werke wiedergeboren würden. Auch sagt er nicht, zum Teil sei Christus der Versöhner, zum Teil seien unsere Werke die Versöhnung. Auch schildert er hier nicht den Vorgang der Rechtfertigung, sondern beschreibt, wie die Gerechten sind, nachdem sie gerechtfertigt und wiedergeboren sind. Und »gerechtfertigt werden« meint hier nicht »aus einem Ungerechten zu einem Gerechten gemacht werden«, sondern im gerichtlichen Sprachgebrauch »für gerecht erklärt wer159. Jak 1,18. 160. Jak 2,19. 161. Kol 2,12.

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den«, so wie auch hier: »Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden.«162 Wie also diese Worte nichts Anstößiges haben, so meinen wir auch von den Worten des Jakobus [»Der Mensch wird nicht nur aus Glauben gerechtfertigt, sondern auch aus Werken«163], dass hier gewiss nur solche Menschen für gerecht erklärt werden, die den Glauben und gute Werke haben. Denn (wie wir bereits gesagt haben) gute Werke in den Heiligen sind »Gerechtigkeiten des Gesetzes«, die um des Glaubens willen angenehm sind. Sie sind nicht angenehm, weil sie dem Gesetz Genüge tun. Die Menschen werden demnach gerechtfertigt aus dem Glauben und den Werken – nicht um der Werke, sondern um des Glaubens willen, dem gleichwohl notwendig gute Werke folgen müssen. Jakobus spricht nämlich von denjenigen Werken, die dem Glauben folgen, wie er es bezeugt, wenn er sagt: »Der Glaube hilft seinen Werken.«164 So ist [auch der Satz] »Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden«165 zu verstehen. Er bedeutet: Die glauben und gute Früchte haben, werden zu Gerechten erklärt. Denn das Gesetz wird dann erfüllt, wenn wir glauben, und gefällt um des Glaubens willen, nicht weil die Werke dem Gesetz Genüge tun. So sehen wir in diesen Sätzen nichts Verkehrtes. Aber die Gegner, die ihnen aus dem Eigenen gottlose Meinungen anhängen, verfälschen sie. Denn sie besagen nicht, dass Werke die Sündenvergebung verdienen, dass Menschen der Werke wegen, nicht um Christi willen, angenehm sind oder für gerecht gehalten werden, dass Werke die Herzen ruhig machen und Gottes Zorn überwinden, dass Werke nicht der Barmherzigkeit bedürfen. Von all diesem sagt Jakobus nichts. Die Gegner dichten es aus Worten des Jakobus aber dennoch an […]. [62 Zu Dan 4,24: Frei von Sünden »durch Wohltat an den Armen«?]166 […] Sie führen auch andere Sprüche über die Werke gegen uns ins Feld. Dan 4[,24]: »Kauf dich durch Almosen los von deinen Sünden.« Und Jes 58[,7.9]: »Brich dem Hungrigen dein Brot; danach sollst du beten

162. 163. 164. 165. 166.

Röm 2,13. Jak 2,24. Jak 2,22. Röm 2,13. Bis zum Ende des Artikels ist der ursprüngliche Text (= BSLK 219–233) in erheblich kürzerer Form neu gefasst (CR 27, 516–524).

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und der Herr wird [dich] erhören.« Lk 6[,37]: »Vergebt, so wird euch vergeben.« Mt 5[,7]: »Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.« Auf diese und ähnliche Sätze über die Werke erwidern wir zunächst das, was wir schon oben gesagt haben: Das Gesetz kann ohne den Glauben nicht wirklich erfüllt werden; auch gefällt es nicht, es sei denn um des Glaubens an Christus willen, nach jenem Wort: »Ohne mich könnt ihr nichts tun.«167 Ebenso: »Ohne den Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen.«168 Außerdem: »Durch Christus haben wir den Zugang durch den Glauben.«169 Sooft die Werke gefordert und gebilligt werden, muss man deshalb das Evangelium von Christus hinzufügen. Zweitens: Diese Worte, die ich eben zitiert habe, sind meistens Bußpredigten. Sie bestehen nämlich aus zwei Teilen: Sie enthalten zu Beginn die Predigt des Gesetzes, das Sünden anklagt und Gutes zu tun befiehlt. Dann ist eine Verheißung hinzugefügt. Bei der Bußpredigt ist es aber völlig gewiss, dass die Verkündigung des Gesetzes, das die Gewissen nur erschreckt und verdammt, nicht genügt. Sondern es muss notwendig das Evangelium hinzukommen, dass die Sünden umsonst um Christi willen vergeben werden und dass wir durch den Glauben die Sündenvergebung erlangen. Das [alles] ist so gewiss und klar, dass die Gegner, wenn sie ihm nicht zustimmen und Christus und den Glauben aus der Bußpredigt ausschließen, mit Recht als Lästerer Christi verworfen werden müssen. Deshalb darf die Predigt Daniels nicht nur auf die Almosen hin missdeutet werden, sondern es ist auch der Glaube in ihr aufzusuchen. Die Predigt Daniels ist etwas anderes als die Rede des Aristoteles, der, als er an seinen König schreibt, ihn auch zur Wohltätigkeit ermahnt und ihn heißt, seine Macht zum öffentlichen Nutzen und zum Wohle aller Völker, nicht dem Stolz zuliebe einzusetzen. Denn so schreibt er an Alexander: »Deshalb versuche, die Macht nicht zur Hybris, sondern zur Wohltätigkeit einzusetzen.«170 Diese Rede ist höchst ehrenhaft; es kann nichts Besseres über das öffentliche Amt eines großen Herrschers gesagt werden. Doch belehrt Daniel seinen König nicht nur über dessen Amt 167. 168. 169. 170.

Joh 15,5. Hebr 11,6. Röm 5,2. Zitat nicht nachweisbar.

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und Berufung, sondern [auch] über die Buße, die Frömmigkeit gegenüber Gott, die Vergebung der Sünden und jene großen Dinge, die außerhalb der Philosophie liegen. Deshalb soll man hier nicht nur die Almosen suchen, sondern auch den Glauben. Auch zeigt dieser Text, dass der König bekehrt worden ist, [und zwar] nicht allein dazu, reichlich Almosen zu geben, sondern vielmehr zum Glauben. Es findet sich dort nämlich ein ungewöhnliches Bekenntnis des Königs zum Gott Israels: »Es gibt keinen anderen Gott, der so retten kann.«171 Deshalb gibt es zwei Teile in der Predigt Daniels: Der eine Teil ist die Predigt der Buße, die die Sünden verurteilt und ein neues Leben fordert: »Kauf dich frei von deinen Sünden durch Gerechtigkeit und von deinen Ungerechtigkeiten durch Wohltaten gegen die Armen.«172Denn so sagt es Daniel in seiner eigenen Sprache. Da wird genügend klar, dass er nicht nur ein Gebot über Almosen unterrichtet, sondern über die ganze Gerechtigkeit (d. h. die Gotteserkenntnis und den Glauben). Er sagt nämlich: »Kaufe dich von den Sünden durch die Gerechtigkeit frei.« Gerechtigkeit gegenüber Gott aber ist der Glaube, durch den wir glauben, dass Gott uns verzeiht. Danach gibt Daniel Weisungen für Wohltaten gegenüber den Armen, d. h., dass er nicht überheblich und grausam herrschen, sondern für das Wohl der Untertanen sorgen soll. Der andere Teil der Predigt verheißt Vergebung der Sünden: Siehe, es wird Heilung für deine Verfehlungen geben. Hieronymus hat hier gegen den Zusammenhang eine Wendung des Zweifels eingefügt.173 Und in seinen Kommentaren behauptet er noch weit unkundiger, die Sündenvergebung sei ungewiss. Aber wir denken daran, dass das Evangelium mit Gewissheit Sündenvergebung verheißt. Wer meint, die Sündenvergebung sei ungewiss, muss deshalb als ein solcher gelten, der das Evangelium austilgt. Lassen wir also an dieser Stelle Hieronymus beiseite. Weil aber deutlich eine Verheißung formuliert wird, ist gewiss Glaube gefordert, weil die Verheißung nur durch den Glauben empfangen werden kann. Freilich zeigt er auch da an, dass Vergebung geschehen kann, denn er sagt: »Kaufe dich von den Sünden

171. Dan 3,29. 172. Dan 4,24. 173. Hieronymus († 420) übersetzt in seiner lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, abweichend vom Urtext Dan 4,24: »Vielleicht wird er deine Sünden verzeihen.«

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frei.« Und diese Verheißung der Sündenvergebung ist wirklich das prophetische und evangelische Wort, von dem Daniel gewiss wollte, dass es im Glauben empfangen wird. Denn Daniel wusste, dass die Sündenvergebung wegen des zukünftigen Samens, nämlich Christus, verheißen worden war, und dies nicht nur den Israeliten, sondern auch allen Völkern. Sonst hätte er dem König die Vergebung der Sünden nicht versprechen können. Denn es kommt keinem Menschen zu, besonders in den Schrecken der Sünde, ohne ein deutliches Wort Gottes etwas über Gottes Willen zu behaupten, dass er zu zürnen aufhören will. Wenn daher eine Verheißung ergeht, ist hinreichend deutlich, dass der Glaube gefordert wird, weil die Verheißung nur im Glauben ergriffen werden kann. Wenn dieser Glaube von der Bedingung der Werke abhinge, so wäre die Vergebung ungewiss. Daher ist ein solcher Glaube gefordert, der auf die Barmherzigkeit und das Wort Gottes vertraut, nicht auf unsere Werke. Dass er aber sagt: »Kaufe dich von den Sünden durch Gerechtigkeit und Almosen frei« ist das Gleiche, als wenn er sagen würde: »Kaufe dich von den Sünden durch die Buße frei«, weil die Schuld durch Buße aufgehoben wird. Aber man darf hieraus nicht schließen, dass Gott wegen der nachfolgenden Werke verzeiht, sondern er verzeiht um der Verheißung willen denen, die die Verheißung ergreifen. Wir haben deutlich gezeigt, dass in der Predigt Daniels der Glaube gefordert wird. Deshalb tun die dieser Stelle Unrecht, die aus ihr folgern, dass uns die Vergebung der Sünden um unserer guten Werke willen zuteilwird, nicht durch den Glauben um Christi willen. Es ist philosophisch an der Predigt Daniels, nichts zu fordern außer der Ermahnung, die Herrschaft auf rechte Weise auszuüben. Es ist pharisäisch, hinzuzudichten, dass die Sündenvergebung wegen jenes Werkes zuteilwird. Doch so geschieht es: Die Werke springen den Menschen von Natur aus in die Augen, weil die menschliche Vernunft den Glauben nicht sieht und bedenkt. Daher träumt sie, jene Werke verdienten die Sündenvergebung. Diese Meinung haftet von Natur aus in den Seelen der Menschen und kann nur herausgerissen werden, wenn wir göttlich belehrt werden. Doch müssen wir uns von dieser fleischlichen Auffassung weg zum Evangelium und zur Verheißung der Barmherzigkeit rufen, in der die Sündenvergebung umsonst um Christi willen dargeboten wird. So ist an allen Stellen über die Buße der Glaube zu fordern. Denn es ist die höchste Schmähung Christi, die Vergebung der Sünden ohne Christus zu erstreben.

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Manche deuten Daniel auf den Erlass der Strafe, wenn er sagt: »Kaufe dich von den Sünden durch Almosen frei.«174 So würde Daniel nichts gegen uns ausrichten (obwohl es keinen Zweifel gibt, dass er von der Vergebung der Schuld spricht). Vergeblich nämlich sucht man Straferlass, wenn nicht zuvor das Herz durch den Glauben die Vergebung der Schuld ergriffen hat. Wenn jene Leute zugeben, dass Vergebung der Schuld umsonst durch den Glauben erlangt wird, werden wir danach ohne Weiteres einräumen, dass die Strafen, durch die wir gezüchtigt werden, durch gute Werke und die ganze Buße gemildert werden, nach jenem Wort: »Wenn wir uns selber richteten, so würden wir nicht gerichtet.«175 Und Jer 15[,19]: »Wenn du dich zu mir hältst, so will ich mich zu dir halten.« Und Sach 1[,3]: »Kehrt euch zu mir, so will ich mich zu euch kehren.« Und Ps 49: »Rufe mich an am Tage der Not.«176 [63 Zu Lk 6,37: »Vergebet, so wird euch vergeben«] So ist auch zu urteilen über das Wort: »Vergebet, so wird euch vergeben.«177 Es ist nämlich fast die gleiche Bußpredigt. Der erste Teil fordert gute Werke, der zweite fügt die Verheißung hinzu. Man darf aber nicht folgern, dass unser Vergeben uns durch seinen Vollzug die Vergebung der Sünden verdient. Denn dies sagt Christus nicht. Sondern: Wie Christus anderen Sakramenten die Verheißung der Sündenvergebung anhängt, so verbindet er sie auch mit den guten Werken. Und wie wir beim Abendmahl die Vergebung der Sünden nicht ohne Glauben durch den bloßen Vollzug erlangen, so auch nicht bei diesem Werk. Mehr noch! Unser Vergeben ist kein gutes Werk, wenn es nicht von bereits Versöhnten geschieht. Daher folgt unser Vergeben (das Gott sicherlich gefällt) dem Vergeben Gottes. Christus aber pflegt das Gesetz und das Evangelium auf solche Weise zu verbinden, dass er beides überliefert, die Lehre vom Glauben und die von den guten Werken, um daran zu erinnern, dass es Heuchelei und ein bloßes Vortäuschen von Buße ist, wenn keine guten Früchte folgen. Ferner, damit wir viele äußere Zeichen für das Evangelium und die Sündenvergebung haben, die uns mahnen und trösten sollen, und damit wir den Glauben vielfältig üben können. Daher müs174. 175. 176. 177.

Dan 4,24. 1 Kor 11,31. Ps 50,15. Lk 6,37.

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sen solche Stellen so verstanden werden, damit wir nicht das Evangelium von Christus beseitigen und, nachdem wir zuvor Christus verworfen haben, Gott unsere Werke als Sühne und Preis entgegenhalten. Auch damit die Sündenvergebung nicht ungewiss wird, wenn man lehrt, sie hänge von der Bedingung unserer Werke ab. Man zitiert auch aus dem Buch Tobias: »Almosen erlösen von allen Sünden, auch vom Tode.«178 Wir sagen nicht, dass das eine Übertreibung ist. Doch muss es so verstanden werden, dass es dem Ruhme Christi nicht abträglich ist, dessen eigenste Aufgaben es sind, von Sünde und Tod zu befreien. Aber man muss auf die Regel zurückgreifen, dass das Gesetz ohne Christus nicht nützt. Daher gefallen Gott [nur] die Almosen, die der Versöhnung folgen, nicht die, die ihr vorausgehen. Deshalb »erlösen sie von Sünde und Tod« nicht durch den bloßen Vollzug, sondern, wie wir kurz zuvor von der Buße gesagt haben, dass wir den Glauben und die Früchte zusammenfassen müssen, so ist auch von den Almosen zu urteilen, dass Gott der Glaube zusammen mit den Früchten gefällt. Denn Tobias predigt nicht nur von Almosen, sondern auch vom Glauben: »Preise Gott alle Zeit und bete, dass er dich leite.«179 Das aber ist das Eigentliche jenes Glaubens, von dem wir sprechen: Er weiß, dass Gott um seiner Barmherzigkeit willen gnädig ist, und er bittet, dass er uns bewahre und lenke. Dazu räumen wir ein, dass Almosen viele Wohltaten Gottes verdienen, aber nicht von bestehender Sünde befreien. Denn sie überwinden nicht Gottes Zorn und Richtspruch, und sie geben den Gewissen auch keinen Frieden. Aber sie erlösen von zukünftiger Sünde, d. h., sie verdienen es, dass wir in den Gefahren der Sünden und des Todes bewahrt werden. Dies ist der schlichte Sinn, der mit der übrigen Schrift übereinstimmt. So nämlich muss man das Lob der Werke und des Gesetzes verstehen, damit es der Ehre Christi und des Evangeliums nicht abträglich ist. [64 Zu Lk 11,41: Gebt Almosen, »dann ist euch alles rein«] Man bringt auch das Wort Christi bei Lukas vor: Gebt Almosen, »dann ist euch alles rein«.180 Völlig taub sind die Gegner. So oft schon wurde gesagt, dass das Gesetz nichts nützt ohne Christus, um dessentwillen 178. Tob 4,11. 179. Tob 4,20. 180. Lk 11,41.

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gute Werke gefallen. Sie aber schließen Christus aus und lehren überall, dass man die Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes verdient. Dabei zeigt doch diese Stelle, ganz zitiert, dass auch der Glaube gefordert wird. Denn Christus weist die Pharisäer zurecht, die meinen, vor Gott gereinigt, d. h. durch häufige Waschungen gerechtfertigt zu werden. So sagt auch ein Papst, ich weiß nicht, welcher, vom mit Salz versetzten Wasser, es heilige und reinige das Volk. Und eine Glosse meint, es reinige von den lässlichen Sünden. Solcher Art waren auch die Meinungen der Pharisäer, die Christus tadelt. Und dieser erdichteten Reinigung stellt er eine doppelte Reinheit gegenüber, eine innere und eine äußere. Er fordert, sie sollten innerlich rein werden, und fügt bezüglich der äußeren Reinheit hinzu: »Gebt Almosen von dem, was übrig ist, dann ist euch alles rein.«181 Die Gegner fassen hier das Wort »alles« nicht richtig auf, denn Christus bezieht diesen Schluss auf beide Teile: »Dann wird alles rein sein«, nämlich: Wenn ihr innerlich rein sein werdet und äußerlich Almosen gegeben habt. Das bedeutet nämlich, dass die äußere Reinheit in den von Gott gebotenen Werken bestehen soll, nicht in menschlichen Gebräuchen, wie es damals jene Waschungen waren und es heute die tägliche Besprengung mit Weihwasser, das Mönchsgewand, die Unterscheidung der Speisen und dergleichen Gepränge sind. Aber die Gegner verhunzen den Satz, nachdem sie [zuvor] sophistisch die allumfassende Aussage nur auf einen Teil des Satzes bezogen haben: »Alles wird rein sein, wenn ihr Almosen gegeben habt.« Das ist, als zöge jemand den Schluss: »Andreas ist hier, folglich sind alle Apostel hier.« Im vorliegenden Satz müssen deshalb beide Satzteile miteinander verbunden werden: »Glaubt und gebt Almosen, dann wird alles rein sein.« Die Schrift sagt nämlich andernorts, dass die Herzen durch den Glauben gereinigt werden. Wenn also die Herzen gereinigt sind und dann auch äußerlich Almosen hinzukommen, d. h. Werke der Liebe jeder Art, so werden sie ganz rein sein, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich. Doch muss jene Predigt Christi hier als Ganzes herangezogen werden, in der es viele Abschnitte gibt, von denen einige über den Glauben, andere über die Werke unterrichten. Ein redlicher Leser darf aber nicht die Gebote über die Werke herausgreifen und die Stellen über den Glauben weglassen.

181. Lk 11,41.

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Manche meinen, dieses »Gebt Almosen, dann ist euch alles rein« sei eine ironische Bemerkung. Denn Christus scheint hier eine Überzeugung der Pharisäer ins Lächerliche zu ziehen, die, obgleich ihre Herzen den schlimmsten Begierden verfallen waren, sich zugleich wegen der gegebenen Almosen für die reinen Halbgötter hielten. Diese Deutung ist nicht abwegig und hat auch nichts, was mit anderen Schriftstellen in Widerspruch steht. [65 Zur scholastischen These: Glaube rechtfertigt nicht, da er dem Verstand, Gerechtigkeit aber dem Willen zugeordnet ist] Wir würden auch noch weitere Stellen hinzufügen, wenn wir nicht meinen würden, dass aufgrund derer, die wir zitiert und erklärt haben, ähnliche leicht beurteilt werden können. Aber hinzufügen wollen wir das folgende scholastische Argument: »Gerechtigkeit muss im Willen liegen. Folglich gilt: Da der Glaube im Verstand liegt, rechtfertigt er nicht.«182 Dieses Argument zitieren wir, um die ganze Sache klarer werden zu lassen, wie der Glaube rechtfertigt und was Paulus »Rechtfertigung« nennt. Zuerst aber werden wir einiger eigenwilliger Leute wegen nach den Regeln der Kunst antworten. Aus der Ethik ist bekannt, dass Gerechtigkeit als Gehorsam gegen einen Höheren, welchen dieser anerkennt, bezeichnet wird. Glaube aber ist Gehorsam gegenüber dem Evangelium. Deshalb wird der Glaube mit Recht »Gerechtigkeit« genannt. Denn der Gehorsam gegenüber dem Evangelium wird als Gerechtigkeit zugerechnet bis dahin, dass Gehorsam gegenüber dem Gesetz nur deswegen gefällt, weil wir glauben, dass Gott uns umsonst gnädig ist um Christi willen. Denn wir tun dem Gesetz nicht Genüge. Obwohl aber dieser Glaube im Willen liegt (er ist nämlich ein Wollen und Annehmen der Verheißung), wird doch dieser Gehorsam gegenüber dem Evangelium nicht wegen unserer Reinheit als Gerechtigkeit zugerechnet, sondern weil er die angebotene Barmherzigkeit annimmt und glaubt, dass wir um Christi willen durch Barmherzigkeit für gerecht erklärt werden, nicht wegen unserer Gesetzeserfüllung, nicht wegen unserer Reinheit. Deshalb muss der Geist vom Blick auf das Gesetz weg zum Evangelium und zu Christus gerufen werden. Und es ist festzuhalten, dass wir für gerecht erklärt werden, wenn wir glauben, dass wir

182. Zitat unbekannter Herkunft.

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um Christi willen angenommen sind, nicht wegen der Liebe oder der Gesetzeserfüllung. Der Glaube aber unterscheidet sich von der Hoffnung dadurch, dass der Glaube [schon] gegenwärtig die Sündenvergebung und unsere Versöhnung oder Annahme um Christi willen empfängt. Die Hoffnung aber kreist um zukünftige Güter und eine zukünftige Befreiung. Zweitens. »Rechtfertigung« bedeutet hier: »für gerecht erklärt werden«. Nicht aber hält Gott den Menschen so für gerecht, wie ein Mensch vor Gericht oder in der Philosophie als gerecht gilt wegen der Gerechtigkeit des eigenen Werkes, die zutreffend im Willen angesiedelt wird. Sondern er hält den Menschen für gerecht durch die Barmherzigkeit um Christi willen, wenn jemand ihn im Glauben ergreift. Daher kann der Glaube »Gerechtigkeit« genannt werden, weil er das ist, was, mit Paulus zu reden, zur Gerechtigkeit gerechnet wird, in welchem Teil des Menschen man ihn am Ende auch ansiedeln mag. Denn dies hemmt nicht die göttliche Zurechnung. Wiewohl wir jedenfalls diesen Glauben im Willen ansiedeln. Denn er ist ein Wollen und Annehmen der Verheißung Christi. Und nach Behandlung dieses scholastischen Arguments scheint, weil es die Sache auf die Methode zurückführt, die ganze Frage nun besser durchschaubar zu sein. [66 Gesetzeserfüllung und »Verdienst« statt bleibender Mittlerschaft Christi?] Aus all dem ist auch zu ersehen, was vom »Verdienst aus Würdigkeit« zu halten ist, von dem die Gegner vorgeben, die Menschen seien vor Gott gerecht um der Liebe und Gesetzeserfüllung willen. Hier bleibt die Glaubensgerechtigkeit unerwähnt, und an die Stelle des Mittlers Christus tritt die Behauptung, wir seien um unserer Gesetzeserfüllung willen angenommen. Dies ist unter keinen Umständen zu dulden. Vielmehr, wie wir oben gesagt haben: Obwohl die Liebe notwendig auf die Erneuerung folgt, darf doch die Ehre Christi nicht auf unsere Gesetzeserfüllung übertragen werden. Vielmehr muss man glauben, dass wir auch nach der Erneuerung um Christi willen für gerecht gehalten werden, dass Christus der Mittler und Versöhner bleibt, dass wir um Christi willen Zugang zu Gott haben, dass wir dem Gesetz nicht Genüge tun, sondern der Barmherzigkeit bedürfen, [und] dass wir immer durch die Barmherzigkeit für gerecht erklärt werden.

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Das bekennt auch die ganze Kirche, dass wir gerecht und selig werden aus Barmherzigkeit. Wie wir oben aus Hieronymus zitiert haben: »Unsere Gerechtigkeit beruht nicht auf eigenem Verdienst, sondern auf der Barmherzigkeit Gottes.«183 Diese Barmherzigkeit aber wird durch den Glauben empfangen. [67 Christus bringt nur die »erste Gnade«? Fatale Folgen dieser Meinung] Doch seht nur, was aus der These der Gegner folgt. Wenn man glauben muss, dass Christus nur die »erste Gnade«, wie sie sagen, erworben hat, wir danach aber wegen unserer Gesetzeserfüllung angenehm sind und das ewige Leben verdienen – wann werden die Gewissen Frieden haben? Wann werden sie glauben, dass sie einen gnädigen Gott haben? Denn das Gesetz klagt uns immer an, wie Paulus sagt: »Das Gesetz wirkt Zorn.«184 So wird es geschehen, dass die Gewissen, wenn sie das Urteil des Gesetzes gehört haben, in Verzweiflung fallen. Paulus schreibt: »Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde.«185 Sie aber werden nie etwas aus Glauben tun, wenn sie erst dann meinen, dass Gott ihnen gnädig ist, wenn sie das Gesetz erfüllt haben. Denn sie werden immer zweifeln, ob dem Gesetz Genüge geschehen ist, vielmehr sehen, dass dies nicht geschehen ist. Deshalb werden sie niemals glauben, dass sie einen gnädigen Gott haben, dass sie erhört werden. Also werden sie Gott niemals lieben, niemals ihn wirklich verehren. Solche Herzen – was sind die anderes als die Hölle selbst, da sie voller Verzweiflung und Hass auf Gott sind und doch in diesem Hass Gott anrufen und ihm dienen, so wie Saul ihm gedient hat. Hier appellieren wir an alle frommen und in geistlichen Dingen erfahrenen Menschen. Sie können bezeugen, dass diese Übel aus jener gottlosen Überzeugung unserer Gegner folgen, welche meint, dass wir vor Gott für gerecht erklärt werden um unserer eigenen Gesetzeserfüllung willen und [deshalb] will, dass wir nicht auf die Verheißung der um Christi willen geschenkten Barmherzigkeit vertrauen, sondern auf unsere Gesetzeserfüllung.

183. Hieronymus, Dialogus adversus Pelagianos I, 13 (PL 23, 527). 184. Röm 4,15. 185. Röm 14,23.

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[68 Gerecht um Christi willen auch nach begonnener Erneuerung] Man muss daher notwendig glauben, dass wir gewiss nach der Erneuerung gerecht (d. h. Gott angenehm) sind, dass wir Frieden haben vor Gott durch die Barmherzigkeit um Christi willen und dass jener Anfang des Gesetzes in uns nicht des ewigen Lebens würdig ist, sondern ebenso wie die Sündenvergebung, so auch die Rechtfertigung aus Barmherzigkeit um Christi willen zugerechnet wird, nicht um des Gesetzes willen. So wird auch das ewige Leben zusammen mit der Rechtfertigung nicht wegen des Gesetzes und der Vollkommenheit unserer Werke angeboten, sondern aus Barmherzigkeit um Christi willen. Wie Christus spricht: »Das ist der Wille meines Vaters, der mich gesandt hat, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe.«186Und an anderer Stelle: »Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.«187 Und wir fragen die Gegner, welchen Rat sie den Sterbenden geben wollen, ob sie diese glauben heißen, dass sie für gerecht erklärt werden und dem ewigen Leben entgegensehen wegen eigener Werke oder aber aus Barmherzigkeit um Christi willen. Gewiss sagen weder Paulus noch Laurentius188, sie müssten ihrer eigenen Reinheit wegen für gerecht erklärt werden, oder das ewige Leben sei ihnen um ihrer eigenen Werke bzw. ihrer Erfüllung des Gesetzes willen geschuldet. Sondern sie glauben, dass sie um Christi willen aus Barmherzigkeit für gerecht erklärt werden und das ewige Leben empfangen. Auch können fromme Herzen nur dann gegen Verzweiflung gewappnet sein, wenn sie glauben, dass sie aus Barmherzigkeit um Christi willen gewiss Gerechtigkeit und das ewige Leben haben, nicht um des Gesetzes willen. Diese Lehre tröstet die frommen Herzen, richtet sie auf und rettet sie. Deshalb [gilt]: Wenn die Gegner das »Verdienst aus Würdigkeit« preisen, tilgen sie die Lehre vom Glauben und vom Mittler Christus und treiben die Gewissen in Verzweiflung. [69 Begründen »Verdienste« den Unterschied von Geretteten und Verlorenen?] Doch könnte jemand sagen: »Wenn wir aus Barmherzigkeit gerettet werden müssen – wo liegt dann der Unterschied zwischen denen, die 186. Joh 6,40. 187. Joh 3,36. 188. Römischer Diakon, der im Jahre 258 das Martyrium erlitt.

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das Heil erlangen, und denjenigen, denen es nicht zuteilwird? Sollen etwa die guten und die bösen Menschen in gleicher Weise auf Barmherzigkeit hoffen?« – Diese Überlegung scheint die Scholastiker dazu bewogen zu haben, nach einem »Verdienst aus Würdigkeit« zu fragen. Denn es muss einen Unterschied geben zwischen den zu Rettenden und den zu Verdammenden. Zuerst aber sagen wir dies: Mit der Rechtfertigung wird das ewige Leben angeboten, oder: Die Gerechtfertigten sind »Söhne Gottes und Miterben Christi«,189 nach jenem Wort: »Die er gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.«190 Also wird nur den Gerechtfertigten das Heil zuteil. Wie aber die Rechtfertigung ungewiss wäre, wenn sie von der Bedingung unserer Werke oder des Gesetzes abhinge (und nicht umsonst empfangen würde um Christi willen aus Barmherzigkeit), so wäre auch die Hoffnung, wenn sie sich auf unsere Werke gründete, ungewiss, weil das Gesetz die Gewissen immer anklagt. Auch können die Gewissen nur dann zum Frieden kommen, wenn sie durch den Glauben die Barmherzigkeit ergreifen. Hoffnung auf das ewige Leben kann aber nur in einem befriedeten Gewissen bestehen. Denn ein zweifelndes Gewissen flieht vor Gottes Gericht und verzweifelt. Es muss aber die Hoffnung auf das ewige Leben gewiss sein. Damit sie es ist, muss man glauben, dass das ewige Leben aus Barmherzigkeit um Christi willen geschenkt wird, nicht wegen unserer Gesetzeserfüllung. Vor Gericht und bei den Urteilen der Menschen ist das Recht oder die Schuld gewiss, die Barmherzigkeit aber ungewiss. Hier vor Gott ist es anders. Denn die Barmherzigkeit hat ein klares Gebot Gottes. Denn das Evangelium selbst ist dieses Gebot, das uns glauben heißt, dass Gott um Christi willen verzeihen und retten will, nach jenem Wort: »Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet.«191 [70 Das Unterscheidende: allein der Glaube] Sooft man also von der Barmherzigkeit spricht, muss man wissen, dass der Glaube gefordert wird. Und dieser Glaube macht den Unterschied aus zwischen den zu Rettenden und den zu Verdammenden, zwischen 189. Röm 8,17. 190. Röm 8,30. 191. Joh 3,17f.

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Würdigen und Unwürdigen. Denn das ewige Leben ist den Gerechtfertigten verheißen. Der Glaube aber rechtfertigt, wann und zu welcher Zeit auch immer die Menschen ihn ergreifen. Und das ganze Leben hindurch müssen wir kämpfen, um diesen Glauben zu erlangen und zu festigen. Denn es gibt diesen Glauben, wie wir oben gesagt haben, in der Buße, [doch] nicht in denen, die »nach dem Fleische wandeln«.192 Und er muss unter Gefahren [und] Anfechtungen das ganze Leben hindurch wachsen. Und die diesen Glauben erlangt haben, die sind wiedergeboren, um Gutes zu wirken, um das Gesetz zu erfüllen. Wie wir also eine lebenslange Buße fordern, so fordern wir auch gute Werke, obgleich unsere Werke nicht von solcher Art sind, dass für sie das ewige Leben geschuldet würde. So hat es auch Christus im folgenden Wort gesagt: »Wenn ihr alles getan habt, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte.«193 Und Bernhard sagt zu Recht: »Du musst zuerst glauben, dass du die Vergebung der Sünden nicht haben kannst, es sei denn durch die Nachsicht Gottes. Sodann, dass du überhaupt kein gutes Werk haben kannst, wenn er selbst dir nicht auch dies gäbe. Zuletzt, dass du das ewige Leben durch keinerlei Werke verdienen kannst, wenn nicht auch dies umsonst gegeben würde.« Und kurz darauf [schreibt er]: »Deshalb möge sich niemand verführen; denn wenn er nur gründlich nachdenken will, wird er ohne Zweifel erkennen, dass er auch nicht mit zehntausend Schritten dem entgegenlaufen kann, der [schon] mit zwanzigtausend Schritten zu ihm gekommen ist« usw.194 Wir also rufen, damit die Gewissen festen Trost und Hoffnung behalten, die Menschen zur Verheißung Christi zurück. Und wir lehren, dass man glauben muss, dass Gott um Christi willen, nicht des Gesetzes wegen die Sünden vergibt, rechtfertigt und das ewige Leben schenkt, nach jenem Wort: »Wer den Sohn hat, der hat das Leben.«195 [71 Zur sophistischen Deutung von Lk 17,10: auch der Glaube »unnütz«?] Doch ist es der Mühe wert zu hören, wie die Gegner ihr Spiel treiben mit dem Wort Christi: »Wenn ihr alles getan habt, so sprecht: Wir sind

192. Röm 8,4. 193. Lk 17,10. 194. Bernhard von Clairvaux, Sermones in festo annuntiationis beatae Mariae virginis I, 2 (PL 183, 383). 195. 1 Joh 5,12.

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unnütze Knechte«? 196 – In der Konfutation verhunzen sie [es] so: Zuerst machen sie einen Umkehrschluss. Viel eher, behaupten sie, könne gesagt werden: »Wenn ihr alles geglaubt habt, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte.« Dann fügen sie hinzu, dass Werke für Gott nutzlos, für uns aber nicht nutzlos sind. – Seht nur, welche Freude dieser schülerhafte Umgang mit der Sophistik unseren Gegnern macht! Und obwohl diese Albernheiten es nicht verdienen, widerlegt zu werden, so wollen wir doch kurz auf sie antworten. Der Umkehrschluss ist fehlerhaft, denn die Gegner täuschen sich im Blick auf das Wort »Glauben«. Wenn es eine Kenntnis von Geschichte bezeichnete oder wenn wir behaupteten, der Glaube würde wegen der eigenen Würdigkeit retten, dann würde die Entsprechung gelten, dass wir erst recht unnütze Knechte sind, wenn wir geglaubt haben. Doch wir reden vom Vertrauen auf Gottes Verheißung und Barmherzigkeit. Und dieses Vertrauen bekennt, dass wir unnütze Knechte sind. Ja, gerade dies ist die wahre Stimme des Glaubens, dass unsere Werke unwürdig und wir unnütze Knechte sind. Und aus diesem einen Grunde sprechen wir vom Glauben und suchen die Barmherzigkeit, weil wir erkennen, dass wir unnütze Knechte sind. Denn der Glaube rettet deshalb, weil er die Barmherzigkeit oder die Verheißung der Gnade ergreift, obwohl unsere Werke unwürdig sind. Und in diesem Sinne trifft uns der Umkehrschluss überhaupt nicht: »Wenn ihr alles geglaubt habt, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte.« Man kann dies zu Recht sagen – wenn dabei nur gemeint ist, dass den Werken die Würdigkeit abgesprochen wird. Doch wenn man den Satz dahingehend versteht, dass auch der Glaube nutzlos ist, gilt die Entsprechung nicht: »Wenn ihr alles getan habt, so vertraut nicht auf Werke; so auch: Wenn ihr alles geglaubt habt, vertraut nicht auf die Verheißung Gottes.« Diese beiden Sätze hängen nicht zusammen; sie sind nämlich äußerst ungleich. Denn die Ursachen und die Gegenstände der Verheißung im ersten und im zweiten Satz sind unterschiedlich. Das Vertrauen im ersten ist das auf unsere Werke, das Vertrauen im zweiten das auf die göttliche Verheißung. Christus aber verdammt das Vertrauen auf unsere Werke, nicht das Vertrauen auf seine Verheißung. Er will nicht, dass wir an der Gnade und der

196. Lk 17,10.

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Barmherzigkeit Gottes verzweifeln. Er verurteilt unsere Werke als unwürdige, nicht die Verheißung, die umsonst die Barmherzigkeit anbietet. Und vortrefflich sagt hier Ambrosius: »Man muss die Gnade anerkennen, darf aber die Natur nicht verkennen.«197 Der Verheißung der Gnade ist zu vertrauen, nicht unserer Natur. Aber die Gegner verfahren nach ihrer Weise: Böswillig verdrehen sie für den Glauben überlieferte Sätze gegen die Lehre vom Glauben. Denn diese Spitzfindigkeit hebt das ganze Evangelium auf: »Wenn ihr alles geglaubt habt, so sprecht: Der Glaube ist unnütz.« – Verspricht das Evangelium die Vergebung der Sünden und das Heil denn nicht auch denen, die keinerlei gute Werke haben, wenn sie sich dann doch bekehren und nicht verzweifeln, sondern durch den Glauben an Christus die Sündenvergebung erlangen? Wollen die Gegner denn, dass die verzweifeln, deren Gewissen keine guten Werke finden, die sie dem Richtspruch Gottes entgegenhalten könnten? Wollen sie denen sagen, der Glaube sei unnütz? Elend zugrunde gehen mögen diese Sophisten mit solchen Verdrehungen, die das ganze Evangelium zerstören, die umsonst geschenkte Sündenvergebung aufheben, den frommen Gewissen ihren starken Trost entreißen. Jene Haarspalterei aber ist ganz und gar kindisch, dass sie die »unnützen Knechte« so deuten, dass die Werke für Gott unnütz, für uns aber nützlich sind. Christus dagegen spricht von der Nützlichkeit, die uns Gott zum Schuldner der Gnade gemacht hat. Freilich ist es abwegig, an dieser Stelle über »nützlich« und »nutzlos« zu streiten. Denn »nutzlose Knechte« meint »unzulängliche Knechte«, weil niemand Gott so sehr fürchtet und liebt und ihm so sehr glaubt, wie er müsste; niemand tut dem Gesetz Genüge. Aber lassen wir diese kalten Spitzfindigkeiten der Gegner aus dem Spiel. Wie die Menschen über sie urteilen werden, wenn sie einmal ans Licht kommen, können kluge Männer leicht ermessen. In ganz schlichten und klaren Worten haben sie einen Spalt ausfindig gemacht. Doch sieht ein jeder, dass an dieser Stelle das Vertrauen auf unsere Werke verworfen wird. [72 Ewiges Leben als Lohn für »Verdienste«?] Die Gegner jedoch machen geltend, dass das ewige Leben aus Würdigkeit zum Ausgleich für die guten Werke geschuldet werde, weil das ewige 197. Ambrosius, Expositio evangelii secundum Lucam VIII, 32 (zu 17,8) (PL 15, 1774).

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Leben als »Lohn« bezeichnet wird. – Wir antworten kurz und deutlich: Paulus nennt das ewige Leben ein Geschenk, weil wir, wenn wir um Christi willen für gerecht erklärt werden, zugleich zu Kindern Gottes und Miterben Christi gemacht werden.198 Anderswo aber steht geschrieben: »Euer Lohn ist groß im Himmel.«199 Wenn die Gegner meinen, dies sei widersprüchlich, sollen sie das mit sich selbst abmachen. Aber sie sind höchst ungerechte Richter. Denn sie lassen das Wort »Geschenk« aus und übergehen auch die Quellen dieser ganzen Sache, [nämlich] wie die Menschen gerechtfertigt werden [und] dass Christus immerfort der Mittler ist. Unterdessen greifen sie das Wort »Lohn« heraus und deuten es äußerst scharf nicht nur gegen die Schrift, sondern auch gegen den Sprachgebrauch aus. Daraus schließen sie: »Weil das Wort ›Lohn‹ genannt wird, stellen unsere Werke eine Leistung dar, für die das ewige Leben geschuldet wird.« – Diese Logik ist völlig neu: »Wir hören das Wort ›Lohn‹: Also genügen unsere Werke dem Gesetz, also sind wir Gott unserer Werke wegen angenehm, bedürfen auch nicht der Barmherzigkeit oder des Versöhners Christus oder des Glaubens, der die Barmherzigkeit ergreift.« Und so schütten sie nach Chrysippscher Weise einen großen Haufen auf:200 Gute Werke sind die Leistung, für die das ewige Leben geschuldet wird. Gute Werke tun dem Gesetz Gottes Genüge. Und darüber hinaus können »überschüssige Werke« vollbracht werden. Also nicht nur können die Menschen dem Gesetz Gottes Genüge tun, sondern noch darüber Hinausgehendes tun. Und weil die Mönche Überschüssiges tun, haben sie Verdienste übrig. Und da Freigebigkeit bedeutet, anderen von dem abzugeben, was übrig ist, darf man anderen jene Verdienste zueignen. Und sie fügen noch ein Sakrament dieser Schenkung hinzu: Sie ziehen den Toten Kutten an, um ihnen das Zeugnis zu geben, dass [ihnen] fremde Verdienste zugeeignet wurden. – Durch solche Anhäufungen verdunkeln die Gegner die Wohltat Christi und die Glaubensgerechtigkeit. Wir führen hier keinen sinnleeren Streit um ein Wort. Um eine wichtige Sache streiten wir: woher fromme Herzen die gewisse Hoffnung auf

198. Röm 8,17. 199. Lk 6,23. 200. Chrysipp, Neubegründer der Stoa im 3. Jahrhundert v. Chr. Er war ein glänzender Dialektiker, galt aber gleichzeitig auch als ein besonders schlechter Stilist, weil er oft wahllos Gründe und Zitate aufhäufte.

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das Heil empfangen. Ob gute Werke den Gewissen Frieden geben können. Ob sie glauben sollen, das ewige Leben zu erlangen, wenn sie dem Richtspruch Gottes gute Werke entgegenhalten, oder aber, ob sie glauben müssen, dass sie um Christi willen aus Barmherzigkeit für gerecht erklärt werden und das ewige Leben erlangen. – Um dies geht es im Streit. Wenn das Gewissen ihn nicht entscheidet, kann es keinen starken und gewissen Trost haben. Wir haben aber deutlich genug gezeigt, dass gute Werke dem Gesetz Gottes nicht Genüge tun, dass sie der Barmherzigkeit bedürfen, dass wir durch den Glauben um Christi willen bei Gott angenehm sind, dass gute Werke kein friedliches Gewissen geben. Aus all diesem folgt: Man muss wissen, dass die um Christi willen Gerechtfertigten aus Barmherzigkeit, nicht des Gesetzes wegen, das ewige Leben erlangen. [73 Zutreffender Sinn des Lohngedankens: nicht Heilsgrund, sondern Ausgleich für Tun und Leiden] Was also ist es mit dem »Lohn«? – Zunächst: Würden wir behaupten, das ewige Leben werde »Lohn« genannt, weil es den Gerechtfertigten einer Zusage wegen geschuldet wird, so würden wir damit nichts Unsinniges sagen. Denn diese Gaben sind unter sich geordnet. Wie auch Augustin sagt: »Gott krönt seine Gaben in uns.«201 Doch nennt die Schrift das ewige Leben nicht deshalb einen »Lohn«, weil es um der Werke willen geschuldet wird, sondern weil es einen Ausgleich für Anfechtungen und Werke schafft, auch wenn es [uns] aus einem anderen Grunde zuteilwird. Wie [auch] dem Sohn [einer Familie] das Erbe nicht seiner [erfüllten] Pflichten wegen zukommt; und doch ist es ein Lohn und Ausgleich für die Sohnespflichten. Es genügt also, dass die Bezeichnung »Lohn« dem ewigen Leben deshalb zukommt, weil es einen Ausgleich für die guten Werke und die Anfechtungen darstellt. Das ewige Leben ist also nicht deshalb »Lohn«, weil die Werke genügen, [d. h.,] weil es für sie geschuldet wird. Sondern es gilt in logischer Folge: dass es, obwohl es eines anderen Grundes wegen zuteilwird, doch einen Ausgleich bildet für Werke und Anfechtungen.

201. Augustin, De gratia et libero arbitrio VI, 9, 15 (PL 44, 890).

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Im Übrigen räumen wir ein, dass die Werke wirklich verdienstlich sind, [nur] nicht für die Sündenvergebung oder Rechtfertigung. Sie gefallen nämlich nur bei den Gerechtfertigten um des Glaubens willen. Auch sind sie nicht des ewigen Lebens würdig. Wie nämlich die Rechtfertigung, so geschieht auch die Lebendigmachung durch den Glauben um Christi willen. Aber sie verdienen anderen leiblichen und geistlichen Lohn, der teils in diesem Leben, teils nach diesem Leben gewährt wird. Denn Gott verzögert die meisten Belohnungen, bis er die Heiligen nach diesem Leben verherrlicht, weil er will, dass sie sich in diesem Leben darin üben, den alten Menschen abzutöten. Das Evangelium bringt umsonst die Verheißung der Rechtfertigung und der Lebendigmachung um Christi willen. Im Gesetz aber wird Lohn nicht umsonst, sondern für Werke angeboten und geschuldet. Da also die Werke eine gewisse Gesetzeserfüllung sind, werden sie mit Recht verdienstlich genannt, sagt man zutreffend, ihnen werde Lohn geschuldet. Und dieser Lohn verschafft Stufen von Belohnungen, nach jenem Pauluswort: »Jeder aber wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit.«202Diese unterschiedlichen Stufen [von Belohnung] sind der Lohn für Werke und Anfechtungen. Die Gegner aber pochen darauf, dass das ewige Leben streng genommen als ein Ausgleich für die Werke geschuldet werde, weil Paulus sagt: »Er wird einem jeden nach seinen Werken geben.«203 Joh 5[,29]: »Die Gutes getan haben, [werden hervorgehen] zur Auferstehung des Lebens.« Mt 25[,35]: »Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben.« – Bei diesen Stellen, an denen Werke gelobt werden, muss man auf den oben beschriebenen Grundsatz zurückkommen, dass die Werke nicht ohne Christus gefallen, dass der Mittler Christus nicht ausgeschlossen werden darf. Wenn daher der Text sagt, den Werken werde das ewige Leben geschenkt, meint er, es werde den Gerechtfertigten gegeben, weil gute Werke Gott nur bei den Gerechtfertigten gefallen, d. h. bei denen, die glauben, dass sie Gott um Christi willen angenehm sind. Auch bringen die Gerechtfertigten notwendig gute Werke oder gute Früchte hervor, wie: »Ich habe gehungert, und ihr habt mir zu essen gegeben.« Wenn es hier heißt, das ewige Leben werde diesen Werken geschenkt, bedeutet das, es werde der Gerechtigkeit geschenkt. Er schließt 202. 1 Kor 3,8. 203. Röm 2,6.

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also den Glauben ein, wenn er die Früchte nennt. Ferner nennt die Schrift die Früchte, um zu zeigen, dass nicht Heuchelei gefordert wird, sondern die Gerechtigkeit, die tätig ist, und ein gewisses neues Leben, das gute Früchte hervorbringt. [74 Unaufgebbare Einsicht: Heil aus Gottes Barmherzigkeit durch Glauben] Wir betreiben hier auch keine müßige Haarspalterei. Es sind nämlich höchst wichtige Gründe, um derentwillen wir dies erörtern. Wenn wir nämlich den Gegnern zugestehen, dass Werke das ewige Leben verdienen, knüpfen sie alsbald jenes Widersinnige daran, dass die Werke dem Gesetz Gottes Genüge tun, dass sie der Barmherzigkeit nicht bedürfen, dass wir gerecht, d. h. Gott angenehm sind wegen unserer Werke, nicht um Christi willen, dass die Menschen mehr, als das Gesetz fordert, leisten können. So wird die ganze Lehre von der Glaubensgerechtigkeit vernichtet. Es ist aber notwendig, in der Kirche die reine Lehre von der Glaubensgerechtigkeit zu erhalten. Daher müssen wir die pharisäischen Meinungen der Gegner zurückweisen; sowohl um den Ruhm Christi erstrahlen zu lassen, als auch um den Gewissen starke Tröstungen vor Augen zu stellen. Denn wie soll das Gewissen eine feste Hoffnung auf das Heil empfangen, wenn es im Gericht fühlt, dass die Werke unwürdig sind, es sei denn, es glaubt, dass die Menschen aus Barmherzigkeit für gerecht erklärt und gerettet werden, Christi wegen, nicht wegen der eigenen Gesetzeserfüllung? Oder meinte Laurentius204 auf dem Rost, er tue durch dieses Werk dem Gesetz Gottes Genüge, er sei ohne Sünde, er bedürfe nicht des Mittlers Christus und der Barmherzigkeit Gottes? Der aber weicht nicht vom Propheten ab, der sagt: »Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.«205 Bernhard bekennt, seine Werke seien nicht des ewigen Lebens würdig, wenn er sagt: »Verwerflich habe ich gelebt!«206 Aber er richtet sich auf und schöpft Hoffnung auf das Heil daraus, dass er glaubt, dass um Christi willen aus Barmherzigkeit die Sündenvergebung und das ewige Leben geschenkt werden. Wie der Psalm lehrt: »Wohl dem, dem die

204. Siehe oben Nr. 68, Anm. 188. 205. Ps 143,2. 206. Zitat nicht belegbar.

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Übertretungen vergeben sind.«207 Auch Paulus sagt es. David besingt die Seligkeit des Menschen, dem Gott Gerechtigkeit zurechnet ohne Werke. Paulus sagt, selig sei der, dem die Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus zugerechnet wird, auch wenn er keine guten Werke hat. Durch solche Tröstungen muss man die Gewissen aufrichten und stärken, [nämlich] dass um Christi willen durch den Glauben die Vergebung der Sünden, die Zurechnung der Gerechtigkeit und das ewige Leben zuteilwerden. Wenn an den Stellen über die Werke der Glaube in dieser Weise verstanden wird, sprechen sie nicht gegen unsere Lehre. Und in der Tat ist es notwendig, immer den Glauben hinzuzufügen, damit wir nicht den Mittler Christus ausschließen. Auf den Glauben aber müssen gute Werke folgen, weil ein Glaube ohne gute Werke Heuchelei ist. [75 Vertrauen auf Gottes Gnade: nicht zu verfälschen durch Rückbezug auf eigenes Tun] Sie haben auch in den Schulen bestimmte, mit unserer Lehre übereinstimmende Worte, die besagen, dass die guten Werke Gott um der Gnade willen gefallen. Ebenso, dass man der Gnade Gottes vertrauen soll. Diese Sprüche deuten sie nicht angemessen. Denn die Alten wussten, dass man der Gnade, d. h. der Barmherzigkeit Gottes vertrauen muss, der verheißt, dass wir um Christi willen angenehm sind. Die Neueren aber übertragen das Vertrauen auf unser Werk. Sie lehren, man müsse der Gnade, d. h. der Liebe, vertrauen, mit der wir Gott lieben. Diese Deutung ist falsch. Denn weil sie unrein und unzureichend ist, sollen wir nicht auf unsere Liebe vertrauen, sondern auf die Verheißung der Barmherzigkeit. Man äußert auch, dass gute Werke kraft des Leidens Christi einen Wert haben. Das ist richtig; doch hätte bei diesen Sätzen der Glauben erwähnt werden müssen. Denn nur dann bekommen wir Anteil am Verdienst des Leidens Christi, wenn wir es im Glauben ergreifen und es den Schrecken der Sünde und des Todes entgegenhalten. Paulus sagt nämlich: »Christus ist die Versöhnung durch den Glauben.«208 Ebenso fügt die Kirche in allen Gebeten hinzu: »durch unseren Herrn Jesus Christus«. Auch hier sind die Menschen an den Glauben zu erinnern. Denn die Kirche drückt [damit] aus, dass unsere 207. Ps 32,1. 208. Röm 3,25.

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Werke und unsere Bitten Gott gefallen, wenn wir glauben, dass er uns gnädig ist und uns erhört um des Hohenpriesters Christus willen. [76 Abschluss: Bestehen auf der Wahrheit der Glaubensgerechtigkeit] Das mag jetzt genügen zu diesem Punkte. Wir wissen aber, dass diese Lehre, die wir als mit dem Evangelium übereinstimmend verteidigt haben, den frommen Gewissen ganz starken Trost bringt. Deshalb sollen fromme Herzen sich durch die ungerechten und böswilligen Urteile der Gegner nicht von dieser Auffassung abbringen lassen. Die Schrift sagt voraus, es werde dazu kommen, dass in der Kirche böse Lehrer ihr Unwesen treiben, die die Gerechtigkeit des Glaubens an Christus unterdrücken und lehren, die Sündenvergebung werde durch unsere Kulte und Werke verdient. Und die Geschehnisse in Israel sind ein Bild des künftigen Zustandes in der Kirche. Wir sehen aber, dass die Propheten überall diesen Wahn des Volkes tadeln, das sich einbildete, es verdiene die Vergebung der Sünden durch die Opfer des Gesetzes, und in dieser Annahme Werke und Kulthandlungen aufhäufte. So gibt es auch in der Kirche viele, die eine falsche Auffassung von ihren Werken und Kulthandlungen haben. Doch hat uns die Schrift gemahnt, uns nicht durch die Menge der Gottlosen verwirren zu lassen. Auch kann man leicht zu einem Urteil über die Geistesart der Gegner kommen. Wir sehen nämlich, dass in vielen Artikeln die offenkundige Wahrheit von ihnen verdammt wird. Auch möge niemanden anfechten, dass sie für sich die Bezeichnung »Kirche« beanspruchen. Denn die Kirche Christi ist bei denen, die das Evangelium Christi richtig lehren, und nicht bei jenen, die schlimme Meinungen gegen das Evangelium verteidigen, wie der Herr sagt: »Meine Schafe hören meine Stimme.«209

[Art. VII:] Von der Kirche [77 Kirche ist »Versammlung der Heiligen«, Leib Christi als Gemeinschaft des Glaubens] Den siebten Artikel unseres Bekenntnisses, in dem wir gesagt haben, die Kirche sei die »Versammlung der Heiligen«, haben sie verdammt.

209. Joh 10,27.

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Und sie haben eine weitläufige Darlegung hinzugefügt, dass die Bösen nicht von der Kirche zu trennen seien, weil Johannes die Kirche mit einer Tenne verglichen hat, auf der Weizen und Spreu aufgehäuft liegen.210 Und Christus hat die Kirche mit einem Netz verglichen, in dem gute und schlechte Fische sind usw.211 Und tatsächlich ist wahr, was die Leute sagen: Es gibt kein Heilmittel gegen den Angriff des Verleumders. Nichts kann so umsichtig formuliert werden, dass es nicht missdeutet werden könnte. Wir haben aus ebendiesem Grund den achten Artikel hinzugefügt, damit niemand behaupten kann, wir trennten die Bösen und die Heuchler von der äußeren Gemeinschaft der Kirche oder sprächen den Sakramenten, die durch Heuchler oder böse Menschen verwaltet werden, die Wirkung ab. Deshalb bedarf es hier keiner langen Verteidigung gegen diese Missdeutung. Der achte Artikel entlastet uns hinreichend. Denn wir räumen ein, dass Heuchler und Böse in diesem Leben der Kirche beigemischt und Glieder der Kirche sind im Sinne äußerer Teilhabe an den Merkmalen der Kirche, d. h. am Wort, am [kirchlichen] Amt und den Sakramenten, jedenfalls wenn sie nicht exkommuniziert sind. Auch sind die Sakramente nicht deshalb unwirksam, weil sie durch böse Menschen verwaltet werden, vielmehr können wir auch die Sakramente vollgültig in Anspruch nehmen, die durch böse Menschen verwaltet werden. Denn auch Paulus sagt voraus, dass sich der Antichrist im Tempel Gottes niederlassen, d. h. in der Kirche herrschen und Ämter bekleiden werde.212 Doch ist die Kirche nicht nur eine Gemeinschaft in äußeren Dingen und Riten wie andere Gemeinwesen, sondern vor allem eine Gemeinschaft des Glaubens und des Heiligen Geistes in den Herzen, die jedoch äußere Merkmale hat, so dass sie erkennbar ist, nämlich die reine Lehre des Evangeliums und eine Verwaltung der Sakramente, die mit dem Evangelium Christi übereinstimmt. Und diese Kirche allein wird der »Leib Christi« genannt, den Christus durch seinen Geist erneuert, heiligt und lenkt, wie Paulus Eph 1[,22f] bezeugt, wenn er sagt: »Und ihn selbst hat er eingesetzt zum Haupt über alles in der Kirche, die sein Leib ist, nämlich die Vollkommenheit, d. h. die vollkommene Gemeinschaft mit ihm selbst, der alles in 210. Mt 3,12. 211. Mt 13,47. 212. 2 Thess 2,4.

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allem vollendet.«213 Daher sind die, in denen Christus nicht tätig ist, keine Glieder der Kirche. Und dies bekennen auch die Gegner: die Bösen seien tote Glieder der Kirche. Darum wundern wir uns, warum sie unsere Beschreibung, die von den lebenden Gliedern spricht, zurückgewiesen haben. [78 Zeugnisse der Schrift und der Tradition] Auch haben wir nichts Neues gesagt. Paulus hat die Kirche Eph 5[,26] ganz genauso definiert: »Dass sie gereinigt wird, damit sie heilig ist«.214 Und er fügt äußere Erkennungszeichen hinzu, das Wort und die Sakramente. Denn er sagt so: »Christus hat die Kirche geliebt und sich selbst für sie dahingegeben, um sie zu heiligen. Er hat sie gereinigt durch das Taufbad im Wort, damit er sie vor sich stelle als eine Kirche, die herrlich sei und keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern die heilig und untadelig sei.«215 Diese Lehre haben wir mit fast den gleichen Worten in das Bekenntnis aufgenommen. Und genauso definiert die Kirche auch der Artikel des Glaubensbekenntnisses, der uns zu glauben gebietet, dass es eine heilige katholische [allgemeine] Kirche gibt. Die Gottlosen aber sind nicht die heilige Kirche. Und im Glaubensbekenntnis scheint das, was folgt, [nämlich] die »Gemeinschaft der Heiligen«, hinzugefügt worden zu sein, um klarzustellen, was das Wort »Kirche« bedeutet; nämlich: die »Versammlung der Heiligen«, die miteinander Gemeinschaft haben an demselben Evangelium (d. h. der Lehre) und demselben Heiligen Geist, der ihre Herzen erneuert, heiligt und lenkt. Und dieser Artikel ist notwendigerweise herausgestellt worden. Wir sehen unendliche Gefahren, von denen der Untergang der Kirche droht. Unendlich ist auch die Zahl der Gottlosen in der Kirche selbst, die sie unterdrücken. Damit wir nicht verzweifeln, sondern wissen, dass die Kirche dennoch bleiben wird; ferner: damit wir wissen, dass die Kirche, mag die Zahl der Gottlosen [in ihr] auch groß sein, dennoch fortbesteht und Christus das tut, was er der Kirche verheißen hat, [nämlich] Sünden vergeben, erhören, den Heiligen Geist geben – deshalb stellt uns jener Artikel im Glaubensbekenntnis diese Trös213. Eph 1,22–23. 214. Eph 5,26. 215. Eph 5,25–27.

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tungen vor Augen. Und er erwähnt die »allgemeine Kirche«, damit wir nicht meinen, die Kirche sei ein äußerliches Gemeinwesen bestimmter Völker, sondern vielmehr: die über die ganze Welt verstreuten Menschen, die im Evangelium übereinstimmen [und] denselben Christus haben, denselben Heiligen Geist und dieselben Sakramente, ob sie nun dieselben menschlichen Überlieferungen haben oder nicht. Und in den Dekreten sagt eine Glosse, die »Kirche« im weiteren Sinne umfasse gute und böse Menschen, ebenso, die bösen Menschen seien nur dem Namen nach in der Kirche, nicht in Wirklichkeit, die guten Menschen aber in Wirklichkeit und dem Namen nach. Und in diesem Sinne kann man vieles bei den Vätern lesen. Denn Hieronymus sagt: »Wer also ein Sünder ist, mit irgendwelchem Schmutz befleckt, kann nicht zur Kirche gezählt werden und nicht als Christus untergeben gelten.«216 [79 »Versammlung der Heiligen«: kein äußeres Gemeinwesen, sondern Gottes Volk im Heiligen Geist] Obwohl also Heuchler und Böse den äußeren Gebräuchen nach Mitglieder der wahren Kirche sind, so muss doch, wenn der Begriff »Kirche« definiert werden soll, diejenige Kirche definiert werden, die der lebendige Leib Christi und die dem Namen und der Sache nach »Kirche« ist. Dafür gibt es viele Gründe. Denn man muss wissen, was uns vor allem zu Gliedern, und zwar zu lebendigen Gliedern der Kirche macht. Wenn wir die Kirche nur als äußeres Gemeinwesen guter und schlechter Menschen definieren, so werden die Leute nicht verstehen, dass das Reich Christi eine Gerechtigkeit des Herzens und ein Geschenk des Heiligen Geistes ist, sondern sie werden sie nur für eine äußere Form von Gottesdiensten und Riten halten. Außerdem: Wo läge der Unterschied zwischen dem Volk des Gesetzes und der Kirche, wenn die Kirche ein äußeres Gemeinwesen wäre? Aber Paulus unterscheidet die Kirche in der Weise vom Volk des Gesetzes, dass die Kirche das geistliche Volk ist, d. h. nicht durch weltliche Riten von den Völkern unterschieden, sondern das wahre Volk Gottes, wiedergeboren durch den Heiligen Geist. Im Volk des Gesetzes hatte abgesehen von den Verheißungen über Christus auch die leibliche Nach216. Ps.-Hieronymus, Commentarius in epistolam ad Ephesios V, 24, in: PL 26, 531.

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kommenschaft Zusagen für leibliche Güter, die Königsherrschaft usw. Und deshalb wurden bei ihnen auch die Bösen »Volk Gottes« genannt, weil Gott diese leibliche Nachkommenschaft durch bestimmte äußere Ordnungen und Verheißungen von den anderen Völkern abgesondert hatte; und doch gefielen Gott diese bösen Menschen nicht. Aber das Evangelium bringt nicht [nur] einen Schatten zukünftiger Güter, sondern die ewigen Güter selbst, den Heiligen Geist und die Gerechtigkeit, durch die wir vor Gott gerecht sind. [80 »Versammlung der Heiligen«: das vom Teufelsreich geschiedene, verborgene Reich Christi] Daher sind nach dem Evangelium nur diejenigen das Volk, die diese Verheißung des Geistes annehmen. Ferner ist die Kirche das Reich Christi, geschieden vom Reich des Teufels. Doch ist gewiss, dass die Gottlosen des Teufels und seines Reiches sind, wie Paulus Eph 2[,2] lehrt, wenn er sagt, der Teufel sei wirksam in den Ungläubigen. Und Christus spricht zu den Pharisäern, die gewiss äußere Gemeinschaft mit der Kirche, d. h. den Heiligen im Volk des Gesetzes, hatten (sie waren nämlich Vorsteher, opferten und lehrten): »Ihr habt den Teufel zum Vater.«217 Deshalb ist die Kirche, die wirklich das Reich Christi ist, eigentlich die »Versammlung der Heiligen«. Denn die Gottlosen werden vom Teufel beherrscht und sind dessen Gefangene; sie werden nicht vom Geist Christi geleitet. Aber was bedarf es der Worte in einer so klaren Sache? Wenn die Kirche, die wirklich das Reich Christi ist, vom Reich des Teufels gesondert wird, dann gehören die Gottlosen, weil sie im Reich des Teufels sind, zwangsläufig nicht zur Kirche, obwohl sie doch in diesem Leben, weil das Reich Christi noch nicht offenbar ist, der Kirche beigemischt sind und Ämter in ihr bekleiden. Auch sind die Gottlosen deshalb nicht das Reich Christi, weil die Offenbarung noch nicht geschehen ist. Denn alle Zeit ist das das Reich Christi, was durch seinen Geist lebendig macht, sei es nun offenbar oder durch das Kreuz verborgen. So wie es auch derselbe Christus ist, der jetzt verherrlicht ist, vorher aber zerschlagen war. Und damit stimmen die Gleichnisse Christi überein, der Mt 13[,38] deutlich sagt, der gute Same seien die

217. Joh 8,44.

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Söhne des Reiches, das Unkraut aber die Söhne des Teufels; der Acker, sagt er, sei die Welt, nicht die Kirche. So spricht auch Johannes [der Täufer] von jenem ganzen Volk der Juden und sagt, es werde geschehen, dass die wahre Kirche von jenem Volk gesondert werde.218 Daher spricht diese Stelle mehr gegen unsere Gegner als für sie, weil sie zeigt, dass das wahre und geistliche Volk vom fleischlichen Volk zu sondern ist. Und Christus spricht von der Gestalt der Kirche, wenn er sagt, das Reich der Himmel gleicht einem Netz oder zehn Jungfrauen.219 Und er lehrt, dass die Kirche unter einer Menge böser Menschen verborgen sei, damit dieses Ärgernis nicht die Frommen anficht; ebenso, damit wir wissen, das Wort und die Sakramente seien wirksam, auch wenn sie von Bösen verwaltet werden. Dazu lehrt er auch, dass jene Gottlosen, obwohl sie an den äußeren Kennzeichen teilhaben, doch nicht das wahre Reich Christi und Glieder Christi sind. Sie sind nämlich Glieder des Teufelsreiches. [81 »Versammlung der Heiligen«: kein platonischer Staat, sondern »Säule der Wahrheit« auf dem Grund Christus] Dennoch erträumen wir keinen platonischen Staat,220 wie manche gottlos spotten, sondern sagen, dass diese Kirche besteht, nämlich in Gestalt der wirklich Glaubenden und Gerechten, die über die ganze Welt verstreut sind. Und wir fügen Erkennungszeichen hinzu: die reine Lehre des Evangeliums und die Sakramente. Und diese Kirche ist im eigentlichen Sinne die »Säule der Wahrheit«.221 Sie bewahrt nämlich das reine Evangelium und, wie Paulus es nennt, den »Grund«,222 d. h.: die wahre Erkenntnis Christi und den Glauben. Auch wenn unter diesen viele Schwache sind, die auf diesem Grund mit vergänglichem Stroh bauen, d. h. manche nutzlosen Behauptungen aufstellen, die ihnen dennoch, weil sie den Grund nicht umstürzen, teils verziehen, teils auch gebessert werden. Und die Schriften der heiligen Väter bezeugen, dass auch sie bisweilen mit Stroh auf diesem Grund gebaut haben, was aber ihren Glauben nicht zusam-

218. 219. 220. 221. 222.

Mt 3,12. Mt 13,47; 25,1. Utopischer Idealstaat im Sinne Platons († 347 v. Chr.). 1 Tim 3,15. 1 Kor 3,12f.

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menbrechen ließ. Doch das meiste von dem, was unsere Gegner verteidigen, zerstört den Glauben, so etwa, dass sie den Artikel von der Sündenvergebung verdammen, in dem wir zeigen, dass durch den Glauben die Vergebung empfangen wird. So ist es auch ein offenkundiger und verderblicher Irrtum, dass die Gegner lehren, die Menschen verdienten die Vergebung der Sünden durch Liebe zu Gott [noch] vor der Gnade. Denn das heißt auch, das Fundament, d. h. Christus zu beseitigen. Ebenso – was bedarf es des Glaubens, wenn die Sakramente durch den bloßen Vollzug, ohne gute Regung bei dem, der sie empfängt, rechtfertigen? Doch wie die Kirche die Verheißung besitzt, dass sie alle Zeit den Heiligen Geist haben wird, so hat sie auch Drohungen, dass gottlose Lehrer und Wölfe kommen werden. Doch ist Kirche eigentlich die, die den Heiligen Geist hat. Auch wenn Wölfe und böse Lehrer in der Kirche ihr Unwesen treiben, so sind sie doch nicht eigentlich das Reich Christi. Wie es auch Lyra bezeugt, wenn er sagt: »Die Kirche besteht unter den Menschen nicht kraft einer Vollmacht oder einer kirchlichen oder weltlichen Würdigkeit, denn viele Fürsten und höchste Geistliche, auch andere niederen Ranges haben sich als solche erwiesen, die vom Glauben abgefallen waren. Deshalb besteht die Kirche aus den Menschen, bei denen die wahre Erkenntnis sowie das Bekenntnis des Glaubens und der Wahrheit sind.«223 Was haben wir in unserem Bekenntnis anderes gesagt als das, was Lyra hier sagt? [82 Papstmonarchie – Gegensatz zur wahren Kirche] Aber vielleicht verlangen die Gegner, die Kirche so zu definieren, dass sie eine äußere höchste Herrschaft über die ganze Welt sei, in der der römische Bischof eine unbegrenzte Macht haben muss, über die niemand disputieren oder richten darf: Glaubensartikel aufzustellen, die Schrift nach Belieben aufzuheben, Gottesdienste und Opfer einzuführen, nach Belieben Gesetze zu erlassen, zu dispensieren und zu lösen, von welchen Gesetzen er will, göttlichen, kanonischen und weltlichen; so als empfingen der Kaiser und alle Könige vom Papst die Macht und das Recht, Königreiche zu haben im Auftrag Christi, von dem man denken soll, er habe, nachdem ihm der Vater alles

223. Nikolaus von Lyra († 1349), Postilla super Matthaeum XVI, 10.

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unterworfen hatte, dieses Recht auf den Papst übertragen. Deshalb müsse der Papst Herr des ganzen Erdkreises sein, aller Reiche der Welt, aller privaten und öffentlichen Dinge; er müsse die Fülle der Macht in weltlichen und geistlichen Dingen besitzen, über beide Schwerter verfügen, das geistliche und das weltliche. Aber diese Definition (nicht der Kirche Christi, sondern des Papstreiches!) geht nicht nur auf die Kanonisten, sondern auch auf Dan 11 zurück.224 Würden wir die Kirche in dieser Weise definieren, so würden wir vielleicht wohlwollendere Richter finden. Denn es gibt viele Bücher, die maß- und gottlos von der Macht des römischen Bischofs handeln. Ihretwegen ist [aber noch] nie jemand angeklagt worden. Wir allein werden geprügelt, weil wir die Wohltat Christi predigen, dass wir durch den Glauben an Christus die Sündenvergebung erlangen, nicht durch vom Papst ersonnene Kulte. Im Übrigen definieren Christus, die Propheten und die Apostel die Kirche Christi ganz anders als das Papstreich. Auch darf das, was sich auf die wahre Kirche bezieht, nicht auf die Päpste übertragen werden, dass sie nämlich »Säulen der Wahrheit«225 seien und nicht irren könnten. Denn wer unter ihnen kümmert sich überhaupt um das Evangelium oder meint, es sei lesenswert? Viele spotten auch öffentlich über alle Religion; oder, wenn sie etwas gelten lassen, dann nur das, was mit der menschlichen Vernunft übereinstimmt; das Übrige halten sie für frei erfunden und den Tragödien der Dichter gleich. [83 Gottlose in der Kirche als Spender der Sakramente] Daher meinen wir mit der Schrift, dass die Kirche im eigentlichen Sinne die Versammlung der Heiligen ist, die wirklich dem Evangelium Christi glauben und den Heiligen Geist haben. Und doch bekennen wir, dass viele Heuchler und böse Menschen, die ihnen in diesem Leben beigemischt sind, mit ihnen an den äußeren Zeichen teilhaben. Sie sind Glieder der Kirche in der Teilhabe an den äußeren Zeichen und haben Ämter in der Kirche inne. Auch nimmt es den Sakramenten nicht die Kraft, dass sie durch Unwürdige verwaltet werden. Denn aufgrund der Berufung der Kirche repräsentieren sie die Person Christi, nicht aber ihre eigenen Personen, wie Christus bezeugt: »Wer 224. Dan 11,36. 225. 1 Tim 3,15.

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euch hört, der hört mich.«226 Wenn sie das Wort Christi predigen, wenn sie seine Sakramente darbieten, tun sie dies im Auftrag und anstelle Christi. Das lehrt uns jenes Wort Christi, damit wir nicht durch die Unwürdigkeit der Diener angefochten werden. Doch haben wir hierzu in unserem Bekenntnis deutlich genug gesagt, dass wir die Donatisten227 und Wyclifiten228 verurteilen, welche glaubten, dass die Menschen sündigen, wenn sie die Sakramente in der Kirche von Unwürdigen empfangen. Dies schien für den Augenblick zu genügen zur Verteidigung der von uns gegebenen Beschreibung der Kirche. Auch sehen wir nicht, wie die Kirche – da sie im eigentlichen Sinne »Leib Christi« genannt wird – anders zu beschreiben wäre, als wir sie beschrieben haben. Denn bekanntlich gehören die Gottlosen zum Reich und zum Leib des Teufels, der die Gottlosen treibt und gefangen hält. All das ist klarer als das Licht der Mittagssonne. Dennoch hören unsere Gegner nicht auf, dies zu verdrehen; es wird uns aber nicht schwerfallen, darauf ausführlicher zu antworten. [84 Einheit der Kirche auch bei ungleichen Traditionen] Die Gegner verdammen auch den Teil des siebten Artikels, in dem wir gesagt haben, »zur wahren Einheit der Kirche« genüge es, »übereinzustimmen in Bezug auf die Lehre des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente«; es sei aber »nicht nötig, dass die menschlichen Überlieferungen oder von Menschen eingesetzten Riten und Zeremonien überall gleich sind«.229 Hier unterscheiden sie zwischen universalen und partikularen Riten und billigen unseren Artikel, sofern er auf die partikularen Riten bezogen wird. In Bezug auf die universalen Riten akzeptieren sie ihn nicht. Wir verstehen nicht ganz, was die Gegner wollen. Wir sprechen von der wahren, d. h. der geistlichen Einheit der Kirche, ohne die der Glaube im Herzen oder die Gerechtigkeit des Herzens vor Gott nicht 226. Lk 10,16. 227. Nach ihrem wichtigsten Führer, dem nordafrikanischen Bischof Donatus († 355), benannte Schismatiker, die die kirchlichen Handlungen unwürdiger Amtsträger für ungültig erklärten. 228. Anhänger des als Häretiker geltenden Oxforder Theologieprofessors John Wyclif († 1384). 229. unsere Ausgabe S. 50.

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bestehen kann. Dazu, so sagen wir, bedarf es nicht der Gleichheit menschlicher Riten (seien es nun universale oder partikulare), weil die Glaubensgerechtigkeit nicht an bestimmte Überlieferungen geknüpft ist (so wie die Gerechtigkeit des Gesetzes an die mosaischen Kultvorschriften gebunden war), da jene Gerechtigkeit des Herzens etwas ist, was die Herzen lebendig macht. Zu dieser Lebendigmachung tragen die menschlichen Überlieferungen (seien sie [nun] universal oder partikular) nichts bei. Auch sind sie keine Wirkungen des Heiligen Geistes wie Keuschheit, Geduld, Gottesfurcht, Nächstenliebe und Werke der Liebe. Auch sind es gewichtige Gründe gewesen, warum wir diesen Artikel aufgestellt haben. Denn es steht fest, dass sich viele törichte Meinungen über die Traditionen in die Kirche eingeschlichen haben. Manche glaubten, die menschlichen Überlieferungen seien zur Erlangung der Rechtfertigung notwendige Gottesdienste. Und später stritten sie darüber, welcher [Gottesdienst] geschehen solle, da man Gott mit solcher Vielfalt diente. So als wären diese Gepflogenheiten eine [verbindliche] Gottesverehrung und nicht vielmehr äußere und weltliche Anordnungen, die nichts zur Gerechtigkeit des Herzens oder Verehrung Gottes beitragen und an einem Ort aus Zufall, am anderen aus bestimmten vernünftigen Gründen voneinander abweichen. Ebenso haben einige Kirchen andere wegen derartiger Überlieferungen ausgeschlossen, wie wegen des Ostertermins, wegen der Bilder oder ähnlicher Dinge.230 Daher haben unerfahrene Menschen gemeint, der Glaube oder die Herzensgerechtigkeit vor Gott könnten ohne diese Gepflogenheiten nicht bestehen. Es gibt zu dieser Sache nämlich viele ungereimte Schriften der Summisten231 und anderer. Aber wie Unterschiede in der Länge der Tage und Nächte die Einheit der Kirche nicht in Frage stellen, so meinen wir, wird die wahre Einheit der Kirche auch durch unterschiedliche, von Menschen eingeführte Riten nicht beeinträchtigt. Allerdings gefällt es uns, wenn um des ruhigen Ganges der Dinge willen universale Riten beachtet werden. So halten auch wir in den Kirchen gern die Ordnung der 230. Anspielung auf den altkirchlichen »Passastreit« (2. Jahrhundert) zwischen den Gemeinden in Rom und in Kleinasien sowie den »Bilderstreit« des 8. Jahrhunderts in der Kirche des Oströmischen Reiches. 231. Verfasser von Beichthandbüchern mit einer Fülle von Vorschriften.

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Messe, den Sonntag und andere bekannte Feiertage. Und mit größter Dankbarkeit greifen wir auf die nützlichen und alten Ordnungen zurück, besonders wenn sie als eine Erziehung wirken, die das Volk und die Unerfahrenen gewöhnen und belehren kann. Doch streiten wir jetzt nicht darüber, ob es zuträglich ist, sie um des Friedens oder leiblichen Nutzens willen zu bewahren. Es geht um etwas anderes. Es steht nämlich zur Debatte, ob die Gepflogenheiten menschlicher Überlieferungen zur Gerechtigkeit vor Gott notwendige Gottesdienste sind. Das steht zur Entscheidung in diesem Streit. Und nachdem das entschieden ist, kann später beurteilt werden, ob es zur wahren Einheit der Kirche überall die gleichen menschlichen Überlieferungen geben muss. Wenn nämlich menschliche Überlieferungen keine zur Gerechtigkeit vor Gott notwendigen Kulthandlungen sind, so folgt daraus, dass Menschen auch dann gerecht und Söhne Gottes sein können, wenn sie manche Überlieferungen nicht haben, die anderswo gelten. Wenn z. B. die deutsche Kleiderordnung nicht ein zur Gerechtigkeit vor Gott nötiger Kult ist, so folgt daraus, dass Menschen auch dann gerecht und Söhne Gottes und Kirche Christi sein können, wenn sie sich nicht auf deutsche, sondern auf französische Art kleiden. [85 Paulus warnt vor »notwendigen« Riten] Dies lehrt Paulus deutlich im Kolosserbrief, wenn er sagt: »So lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages, Neumondes oder Sabbats. Das alles ist nur ein Schatten des Zukünftigen; leibhaftig aber ist es in Christus.«232 Ebenso: »Wenn ihr nun mit Christus den Mächtigen der Welt gestorben seid, was lasst ihr euch dann Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt: ›Du sollst das nicht anfassen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren‹? Das alles soll doch verbraucht und verzehrt werden. Es sind Gebote und Lehren von Menschen, die nur in ihrem Aberglauben und ihrer Ohnmacht einen Anschein von Weisheit haben.«233 Denn es steht fest: Wenn die Gerechtigkeit des Herzens etwas Geistliches ist, das die Herzen lebendig macht, und wenn es klar ist, dass menschliche Überlieferungen die Herzen nicht lebendig machen und auch keine Wir232. Kol 2,16f. 233. Kol 2,20–23.

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kungen des Heiligen Geistes sind (wie das von der Nächstenliebe, der Keuschheit usw. gilt), und wenn sie auch keine Werkzeuge sind, durch die Gott die Herzen zum Glauben bewegt (wie das Wort und die von Gott eingesetzten Sakramente), sondern ein Gebrauch von Dingen, die nicht die Herzen betreffen und durch den Gebrauch vergehen, dann darf man nicht urteilen, sie seien zur Gerechtigkeit vor Gott notwendig. Und im gleichen Sinne sagt er Röm 14[,17]: »Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Frieden und Freude im Heiligen Geist.« Aber man braucht nicht viele Belege anzuführen, denn in der Schrift begegnen sie überall; und wir haben in unserem Bekenntnis sehr viele in den späteren Artikeln zusammengetragen.234 Auch soll das in diesem Streit zu Entscheidende weiter unten wiederholt werden, nämlich: ob menschliche Überlieferungen zur Gerechtigkeit vor Gott nötige Kulthandlungen sind? Dort werden wir ausführlicher darüber disputieren. Die Gegner sagen, die Überlieferungen seien deshalb zu bewahren, weil sie als von den Aposteln überliefert gelten. Oh, welch fromme Menschen! Von den Aposteln angefangene Riten wollen sie behalten; nicht aber die Lehre der Apostel. Über jene Riten ist so zu urteilen, wie sie die Apostel selbst in ihren Schriften beurteilen. Denn die Apostel haben uns nicht glauben machen wollen, dass wir durch solche Riten gerechtfertigt werden, [bzw.] dass sie zur Gerechtigkeit vor Gott notwendige Dinge seien. Die Apostel haben den Gewissen keine solche Last aufbürden wollen; sie haben Gerechtigkeit und Sünde nicht auf die Einhaltung von Tagen, Speisen oder ähnlichen Dingen stellen wollen. Vielmehr bezeichnet Paulus solche Auffassungen als »Teufelslehren«235. Daher müssen Wille und Absicht der Apostel aus ihren Schriften erhoben werden. Es genügt nicht, ein Beispiel anzuführen. Sie hielten bestimmte Tage ein, nicht weil dies zur Rechtfertigung notwendig gewesen wäre, sondern damit das Volk wüsste, zu welcher Zeit man sich versammeln solle. Sie bewahrten auch bestimmte andere Riten, eine Ordnung der Lesungen, wenn man sich versammelte. Auch hat das Volk, wie das so geschieht, manches von den väterlichen Sitten bewahrt. Die Apostel haben manches verändert der Geschichte des Evangeliums angepasst, wie das Oster- und das 234. So etwa im Art. 26 des Augsburger Bekenntnisses, unsere Ausgabe S. 80f. 235. 1 Tim 4,1.

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Pfingstfest, um der Nachwelt nicht nur durch das Lehren, sondern auch durch diese Beispiele das Gedächtnis der wichtigsten Dinge zu überliefern. Wenn [aber] dies als notwendig für die Rechtfertigung überliefert worden ist, warum haben die Bischöfe dann später vieles daran verändert? Wenn es göttlichen Rechts war, durfte man es nicht durch menschliche Autorität verändern. [86 Ostertermine: Rücksichtnahme, nicht Zwang] Das Osterfest hielten vor dem Konzil von Nizäa einige zu anderer Zeit. Diese Ungleichheit hat aber nicht den Glauben beschädigt. Später wurde durch eine Berechnung sichergestellt, dass unser Osterfest nicht mit dem jüdischen Passafest zusammenfällt. Doch hatten die Apostel befohlen, das Osterfest gemeinsam mit den aus dem Judentum übergetretenen Brüdern zu halten. Deshalb haben einige Völker diese Sitte auch nach dem Konzil von Nizäa hartnäckig bewahrt, um den jüdischen Festtermin einzuhalten. Aber die Apostel wollten der Kirche durch jenes Dekret keinen Zwang auferlegen. Das bezeugen die Worte des Dekrets. Denn sie wollen, dass sich niemand sorgt, auch wenn die Brüder beim Osterfest den Zeitpunkt nicht richtig errechnen. Die Worte des Dekrets finden sich bei Epiphanius: »Ihr sollt keine Berechnungen anstellen; sondern wenn eure Brüder aus der Beschneidung das Fest feiern, dann feiert mit ihnen; und sollten sie dabei irren, so soll es euch nicht beunruhigen.«236 Das seien, schreibt Epiphanius, Worte der Apostel in einem Dekret über das Osterfest. An ihnen kann ein verständiger Leser leicht erkennen, dass die Apostel das Volk von der törichten Meinung, ein bestimmter Termin sei notwendig, abbringen wollten, wenn sie verbieten, sich zu sorgen, auch bei einem Irrtum in der Berechnung. Ferner bestehen gewisse Leute im Orient (nach dem Urheber der Lehre werden sie »Audianer«237 genannt) wegen dieses Dekretes der Apostel darauf, das Osterfest mit den Juden zu halten. Epiphanius weist sie zurück, lobt das Dekret und sagt, es enthalte nichts, was vom Glauben oder der kirchlichen Regel abweiche. Er tadelt die Audianer, weil sie das Gesagte nicht richtig verstehen, und deutet es in dem Sinne, wie wir es tun, nämlich, dass die Apostel nicht im Sinn hatten zu sagen, zu welcher Zeit Ostern 236. Epiphanius von Salamis († 403), Panarion haereticorum LXX, 10 (PG 42, 356f). 237. Mönchische Sekte des 4. Jahrhunderts.

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gefeiert werden sollte; sondern weil wichtige Brüder von den Juden übergetreten waren, die ihre Sitte beibehielten, wollten sie, dass die Übrigen um der Eintracht willen ihrem Beispiel folgen. Und weise haben die Apostel den Leser gemahnt, weder die evangelische Freiheit zu tilgen noch den Gewissen Zwang aufzuerlegen, indem sie hinzufügen, man solle sich nicht sorgen, auch bei einem Irrtum in der Berechnung. Vieles dieser Art könnte aus der Geschichte zusammengetragen werden, woran deutlich wird, dass die Unterschiede der menschlichen Anordnungen nicht die Einheit des Glaubens verletzen. Aber was bedarf es [weiterer] Erörterung? Die Gegner begreifen überhaupt nicht, was die Glaubensgerechtigkeit, was das Reich Christi ist, wenn sie meinen, es müsse gleiche Vorschriften bei Speisen, Tagen, Gewändern und Ähnlichem, das kein Gebot Gottes hat, geben. Seht doch die frommen Menschen, unsere Gegner! Sie fordern zur Einheit der Kirche gleiche menschliche Vorschriften, obwohl sie selbst die Ordnung Christi zum Empfang des Abendmahls, die gewiss zuvor eine universale Anordnung gewesen ist, verändert haben. Wenn [aber] universale Ordnungen notwendig sind, warum verändern sie dann selbst die Ordnung des Mahles Christi, die nicht menschlich, sondern göttlich ist? Doch wird zu dieser ganzen Streitfrage weiter unten noch einiges zu sagen sein.

[Art. VIII:] Was die Kirche ist [87 Gottlose Lehrer verlassen, aber keine Spaltungen herbeiführen] Der achte Artikel ist vollständig anerkannt worden. Wir bekennen in ihm, dass Heuchler und Böse der Kirche beigemischt und dass die Sakramente auch dann wirksam sind, wenn sie von bösen Dienern verwaltet werden, weil die Diener ihr Amt anstelle Christi ausüben und nicht für ihre eigene Person auftreten, nach jenem Wort: »Wer euch hört, hört mich.«238 Gottlose Lehrer muss man verlassen, weil sie nicht mehr die Person Christi vertreten, sondern Antichristen sind. Und Christus sagt: »Hütet euch vor den Lügenpropheten.«239 238. Lk 10,16. 239. Mt 7,15.

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Und Paulus: »Wenn jemand euch ein anderes Evangelium predigt, der sei verflucht.«240 Im Übrigen hat uns Christus in den Gleichnissen von der Kirche ermahnt, nicht unter dem Eindruck persönlicher Verfehlungen – sei es der Priester, sei es des Volkes – Spaltungen herbeizuführen, wie es frevelhaft die Donatisten getan haben. Wir halten aber die, die deshalb Spaltungen verursacht haben, weil sie nicht dulden wollten, dass Priester Güter oder Eigentum besitzen, für ganz aufrührerisch. Denn Eigentum zu haben ist eine weltliche Ordnung. Die Christen aber dürfen weltliche Ordnungen nutzen, so wie diese Luft, dieses Licht, wie Speise und Trank. Denn wie diese Natur der Dinge und die Bewegungen der Sterne wirklich Gottes Ordnung sind und von ihm erhalten werden, so sind [auch] rechtmäßige Staatswesen wirklich eine Setzung Gottes und werden von ihm gegen den Teufel bewahrt und verteidigt.

[Art. IX:] Von der Taufe [88 Gegen die Täufer ist an der Kindertaufe festzuhalten] Der neunte Artikel ist anerkannt worden. In ihm bekennen wir, dass die Taufe zum Heil notwendig ist, die Kinder getauft werden müssen und die Kindertaufe nicht wirkungslos, sondern heilsnotwendig und wirksam ist. Und weil das Evangelium bei uns rein und sorgsam gelehrt wird, haben wir durch Gottes Hilfe auch diese Frucht daraus empfangen, dass in unseren Kirchen keine Wiedertäufer auftreten, weil das Volk durch Gottes Wort gegen die gottlose und aufrührerische Partei jener Räuber geschützt ist. Und wenn wir schon viele andere Irrtümer der Wiedertäufer verdammen, dann auch die, dass sie behaupten, die Kindertaufe sei nutzlos. Denn es ist ganz sicher, dass die Verheißung des Heils auch den Kindern gilt. Sie erstreckt sich aber nicht auf die, die außerhalb der Kirche Christi leben, wo weder das Wort noch die Sakramente sind, weil Christus durch das Wort und die Sakramente die Wiedergeburt bewirkt. Deshalb ist es notwendig, die Kinder zu taufen, damit ih-

240. Gal 1,8.

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Art. X: Vom Heiligen Abendmahl

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nen die Verheißung des Heils zugeeignet wird nach dem Gebot Christi: »Taufet alle Völker«.241 So wie da allen das Heil angeboten wird, so wird allen die Taufe angeboten, Männern, Frauen, Kindern, Säuglingen. Hieraus folgt klar, dass auch Säuglinge getauft werden sollen, weil das Heil mit der Taufe angeboten wird. Zweitens ist offenkundig, dass Gott die Kindertaufe gutheißt. Daher denken die Wiedertäufer gottlos, die die Kindertaufe verdammen. Dass aber Gott die Kindertaufe billigt, zeigt er dadurch, dass er den so Getauften den Heiligen Geist gibt. Denn wenn diese Taufe wirkungslos wäre, dann würde niemandem der Heilige Geist verliehen, niemand würde gerettet werden, ja, es gäbe keine Kirche. Schon dieses Argument allein kann die guten und frommen Herzen hinreichend wappnen gegen die gottlosen und fanatischen Meinungen der Wiedertäufer.

[Art. X:] Vom Heiligen Abendmahl [89 Leibliche Gegenwart Christi, wie in der Kirche bezeugt] Der zehnte Artikel ist anerkannt worden. In ihm bekennen wir, dass wir glauben, dass im Mahl des Herrn Leib und Blut Christi wirklich und wesenhaft gegenwärtig sind und wirklich mit dem, was man sieht, Brot und Wein, denen dargereicht werden, die das Sakrament empfangen. Diese Auffassung haben unsere Prediger beharrlich verteidigt […]. Und wir wissen genau, dass nicht nur die römische Kirche die leibliche Gegenwart Christi behauptet; auch die griechische Kirche denkt jetzt wie einst dasselbe, wie der Kanon der Messe bei den Griechen bezeugt. Und es gibt die Zeugnisse bestimmter Schriftsteller. Denn Cyrill242 sagt zu Joh 15 […], dass uns Christus im Abendmahl leiblich dargereicht wird. Er sagt nämlich so: »Wir leugnen doch nicht, dass wir durch rechten Glauben und wahre Liebe geistlich mit Christus verbunden werden. Dass es aber für uns keine Art leiblicher Verbindung mit ihm gäbe, das bestreiten wir entschieden. Wir sagen, dass das den Heiligen Schriften ganz fremd ist. Denn wer hat daran gezweifelt, dass Christus auch so der Weinstock sei, wir 241. Mt 28,19. 242. Bischof Cyrill von Alexandrien († 444).

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aber die Reben, die wir uns von dort das Leben holen? Höre Paulus, der sagt, dass ›wir alle ein Leib sind in Christus‹; dass wir, ›obwohl wir viele sind, in ihm dennoch eins sind. Denn wir haben alle Anteil an dem einen Brote‹.243 Oder meint er vielleicht, die Kraft des geheimnisvollen Segens sei uns unbekannt? Wenn er in uns wirkt, wird er dann nicht auch leiblich bewirken, dass durch die Teilhabe am Fleisch Christi Christus in uns wohnt?« – Und bald danach: »Daher muss man beachten, dass Christus nicht nur durch die Einwohnung, die durch die Liebe erkannt wird, in uns ist, sondern auch durch eine natürliche Teilhabe« usw.244 Das haben wir zitiert, nicht um eine Diskussion darüber anzufangen (denn die Kaiserliche Majestät verwirft diesen Artikel nicht), sondern damit für jeden, der dies liest, noch klarer wird, dass wir eine in der ganzen Kirche anerkannte Auffassung verteidigen, [nämlich die,] dass im Abendmahl wirklich und der Substanz nach Leib und Blut Christi gegenwärtig sind und wirklich dargereicht werden mit dem, was man sieht, mit Brot und Wein. Und wir sprechen von der Gegenwart des lebendigen Christus; wir wissen nämlich, dass der Tod fortan nicht über ihn herrschen wird.245

[Art. XI:] Von der Beichte [90 Reformation bringt Gewissheit der Absolution ans Licht] Der elfte Artikel über die Beibehaltung der Absolution in der Kirche wird anerkannt. Aber zur Beichte fügen sie eine Korrektur an, nämlich: Es sei die Bestimmung des Kapitels »Omnis utriusque«246 zu beachten, der zufolge jedes Jahr eine Beichte abgelegt werden muss. Und obwohl die Leute nicht alle Sünden aufzählen könnten, müsse man doch Sorgfalt darauf verwenden, sie [im Gedächtnis] zu sammeln und alle, an die man sich erinnern kann, zu nennen.

243. 244. 245. 246.

Röm 12,5; 1 Kor 10,17. Cyrill, In evangelium Johannis X, 2 (PG 73, 341). Röm 6,9. IV. Laterankonzil 1215, Kapitel 21 (Über die jährliche Beichte und Ohrenkommunion) (DH 812).

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Über diesen ganzen Artikel wollen wir schon bald ausführlicher sprechen, wenn wir unsere gesamte Bußlehre entfalten werden. Denn es steht fest, dass wir die Wohltat der Absolution und die »Gewalt der Schlüssel« so ins Licht gerückt und gepriesen haben, dass viele angefochtene Gewissen aus der Lehre der Unseren Trost geschöpft haben, nachdem sie vernommen hatten, es sei ein Gebot Gottes, ja, mehr noch eigentlicher Inhalt des Evangeliums, dass wir der Absolution glauben und entschlossen urteilen, dass uns die Vergebung der Sünden umsonst geschenkt wird um Christi willen, und glauben, dass wir wirklich durch den Glauben mit Gott versöhnt werden. Diese Lehre hat viele fromme Gemüter aufgerichtet, und sie hat Luther gleich zu Beginn größte Zustimmung bei allen guten Männern gebracht, als sie den Gewissen einen sicheren und zuverlässigen Trost gezeigt hat. Denn zuvor war die ganze Kraft der Absolution durch die Lehren über die Werke unterdrückt worden, weil die Sophisten und Mönche nichts über den Glauben und die umsonst geschenkte Vergebung der Sünden lehrten. [91 Häufiger Sakramentsgebrauch, aber ohne zeitliche Festlegung] Was im Übrigen die Zeiten anbelangt, so empfangen gerade in unseren Kirchen sehr viele Menschen mehrmals im Jahr die Sakramente, [nämlich] die Absolution und das Abendmahl. Und diejenigen, die über die Bedeutung und die Früchte der Sakramente lehren, tun dies so, dass sie das Volk einladen, von den Sakramenten häufig Gebrauch zu machen. Es gibt nämlich darüber viele Bücher der Unseren. Sie sind so geschrieben, dass die Gegner, sofern sie gute Leute sind, sie ohne Zweifel anerkennen und loben müssen. Den Lasterhaften und Sakramentsverächtern wird die Exkommunikation angedroht. Dies geschieht so gemäß dem Evangelium und den alten Kirchengesetzen. Doch wird kein fester Zeitpunkt vorgeschrieben, weil nicht alle zur selben Zeit in gleicher Weise bereit sind. Vielmehr, wenn alle zur gleichen Zeit kommen, dann können die Leute nicht ordentlich verhört und unterrichtet werden. Auch haben die alten Kirchengesetze und die Väter keine bestimmte Zeit festgesetzt. Der Kanon sagt nur Folgendes: »Wenn Leute in die Kirche kommen und man feststellt, dass sie niemals kommunizieren [zum Abendmahl gehen], sollen sie ermahnt werden. Wenn sie [auch dann] nicht kommunizieren, sollen sie zur Buße kommen. Wenn sie kommunizieren, sollen sie [auch

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künftig] nicht immer fernbleiben. Tun sie es [aber] nicht, dann sollen sie fernbleiben.«247 Christus sagt, dass diejenigen, die das Abendmahl unwürdig zu sich nehmen, es sich zum Gericht essen.248 Deshalb sollen die Pastoren nicht diejenigen zwingen, das Sakrament zu empfangen, die nicht bereit sind. [92 Kein Zwang zur Aufzählung aller Sünden] Über die Aufzählung der Sünden in der Beichte249 werden die Leute so belehrt, dass den Gewissen keine Fesseln angelegt werden. Obwohl es nützlich ist, grobe Menschen daran zu gewöhnen, einiges aufzuzählen, damit sie leichter unterwiesen werden können: Jetzt sprechen wir davon, was nach göttlichem Recht notwendig ist. Daher hätten uns die Gegner auch nicht die Konstitution »Omnis utriusque«, die uns nicht unbekannt ist, vorhalten sollen, sondern sie hätten aus göttlichem Recht nachweisen sollen, dass eine Aufzählung der Sünden nötig ist, um Vergebung zu erlangen. Die ganze Kirche in ganz Europa weiß, welche Fesseln jener Teil der Konstitution, der alle Sünden zu beichten befiehlt, den Gewissen angelegt hat. Allerdings enthält der Text an sich nicht so viel Anstößiges, wie ihm später die Summisten,250 die die Begleitumstände der Sünden zusammentragen, hinzugedichtet haben. Was für Labyrinthe findet man dort! Was für eine Folter ist das für die besten Herzen gewesen! Denn zügellose und der Welt verhaftete Menschen ließen sich durch diese Abschreckungen nicht beeindrucken. Was für schlimme Geschichten hat die Frage nach dem zuständigen Priester später zwischen den Pfarrern und den [Mönchs-]Brüdern ausgelöst, die dann, wenn sie um die Beichthoheit stritten, keineswegs »Brüder« waren. Wir meinen also, dass die Aufzählung der Sünden nach göttlichem Recht nicht notwendig ist. Und das findet Zustimmung auch bei Panormitanus251 und den meisten anderen erfahrenen Rechtslehrern. 247. I. Konzil zu Toledo (400), Kanon 13 (zitiert im Dekretum Gratiani, 12. Jahrhundert). 248. 1 Kor 11,29. 249. Das IV. Laterankonzil (1215), Kapitel 21, forderte eine jährliche vollständige Beichte aller Sünden. Im Falle der Unterlassung sollten das Betreten der Kirche und das christliche Begräbnis verwehrt werden (DH 812). 250. Siehe oben Nr. 84, Anm. 231. 251. Nikolaus de Tudeschis, Erzbischof von Palermo (genannt »Panormitanus« [= der

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Wir wollen den Gewissen der Unseren wegen dieser Konstitution »Omnis utriusque« keinen Zwang auferlegen. Wir denken über sie wie über sonstige Menschensatzungen, von denen wir meinen, dass sie keine zur Rechtfertigung notwendigen Kulte sind. Auch schreibt diese Konstitution etwas Unmögliches vor: dass wir alle Sünden bekennen sollen. Es steht aber fest, dass wir uns der meisten weder erinnern noch sie überhaupt erkennen, nach jenem Wort: »Die Vergehen – wer kennt sie?«252 Wenn die Pfarrer tüchtig sind, wissen sie, inwieweit es nützt, rohe Menschen [in der Beichte] zu befragen. Jene Folter der Summisten aber wollen wir nicht aufrechterhalten. Sie wäre freilich weniger unerträglich gewesen, wenn sie ein Wort über den die Gewissen tröstenden und aufrichtenden Glauben dazugesetzt hätten. Jetzt aber findet sich über den Glauben, der der Sündenvergebung folgt, in diesem riesigen Wust von Konstitutionen, Erläuterungen, Summen und Beichtbüchern nicht eine Silbe. Nirgends liest man dort etwas von Christus. Stattdessen liest man [dort] nur Auflistungen von Sünden. Und der größte Teil wird auf Sünden gegen menschliche Traditionen verwandt. Das ist ganz nichtig. Diese Lehre hat viele fromme Gemüter in die Verzweiflung getrieben. Sie konnten keine Ruhe finden, weil sie die Aufzählung nach göttlichem Recht für notwendig hielten und doch die Erfahrung machten, dass sie unmöglich ist. Aber noch andere, nicht weniger schwere Fehler stecken in der Lehre der Gegner über die Buße. Wir werden sie noch nennen.

[Art. XII:] Von der Buße [93 Zentrale Bedeutung der Lehre von der Buße] Im zwölften Artikel billigen sie den ersten Teil. Dort legen wir dar, dass die Gefallenen nach der Taufe Sündenvergebung erlangen können, wann immer und sooft sie sich bekehren. Den zweiten Teil verdammen sie. Da sagen wir, die Buße habe zwei Teile: Reue und Glauben. Sie bestreiten, dass der Glaube der zweite Teil der Buße ist. Was, Palermitaner], † 1445), ein berühmter Kommentator der späteren Teile des kanonischen Rechts. 252. Ps 19,13.

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o Karl, unbesiegbarster Kaiser, sollen wir hier tun? Dies ist das eigentliche Wort des Evangeliums, dass wir durch den Glauben die Vergebung der Sünden erlangen. Dieses Wort des Evangeliums verdammen jene Schreiber der Konfutation. Wir können daher der Konfutation unter keinen Umständen zustimmen. Wir können nicht die heilbringende Stimme des Evangeliums, die voller Trost ist, verdammen. Denn zu leugnen, dass wir durch Glauben die Vergebung der Sünden erlangen – was heißt das anderes, als dem Blut und dem Tod Christi Schmach anzutun? Deshalb bitten wir dich, o Carolus, unbesiegbarster Kaiser, uns in dieser höchsten Sache, die das Hauptstück des Evangeliums, die wahre Erkenntnis Christi, den wahren Gottesdienst enthält, geduldig und sorgsam zu hören und zu erkennen. Denn alle tüchtigen Leute werden befinden, dass wir besonders in dieser Sache Wahres, Frommes, Heilsames und für die ganze Kirche Christi Notwendiges gelehrt haben. [Auch] werden sie aus den Schriften der Unseren erkennen, dass diese dem Evangelium sehr viel Licht hinzugefügt haben und viele schlimme Irrtümer ausgeräumt worden sind, unter denen die Lehre von der Buße zuvor durch die Meinungen der Scholastiker und Kanonisten253 verschüttet lag. [94 Verworrenheit der dreigliedrigen scholastischen Bußlehre: (1) Reue] Bevor wir aber zur Verteidigung unserer Auffassung schreiten, muss dies vorausgeschickt werden: Alle tüchtigen Männer aller Stände (selbst des Theologenstandes) bekennen ohne Zweifel, dass die Lehre von der Buße vor Luthers Schriften überaus verworren war. Die Bücher der Sentenzenkommentatoren254 liegen vor, in denen es endlose Fragen gibt, die kein Theologe je ausreichend erläutern könnte. Auch konnte das Volk weder die Bedeutung der Sache erfassen noch auch erkennen, was eigentlich bei der Buße verlangt wird und wo der Friede des Gewissens zu suchen wäre. Möge doch einer der Gegner vor uns hintreten, der erklären kann, wann die Vergebung der Sünden geschieht. Gütiger Gott, was sind das für Finsternisse! Sie sind im Zweifel, ob Sündenvergebung aufgrund der Anfangsreue oder auf-

253. Lehrer des Kirchenrechts. 254. Verfasser von Kommentaren zu den von Petrus Lombardus († 1160) gesammelten Kirchenvätersentenzen.

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grund der wahren Reue255 erfolgt. Und wenn sie wegen der wahren Reue erfolgt, was bedarf es dann der Absolution, und was bewirkt die Schlüsselgewalt, wenn die Sünde schon vergeben ist? Hier aber mühen sie sich noch viel mehr und machen die Schlüsselgewalt gottlos zunichte. Die einen erdichten, durch die Schlüsselgewalt würde nicht Schuld vergeben, vielmehr würden die ewigen Strafen in zeitliche verwandelt. So wäre die heilbringende Vollmacht nicht ein Dienst des Lebens und des Geistes, sondern nur einer des Zornes und der Strafen. Andere, Vorsichtigere erdichten, durch die Schlüsselgewalt würden die Sünden gegenüber der Kirche vergeben, nicht die gegenüber Gott. Auch das ist ein verderblicher Irrtum. Denn wenn uns die Schlüsselgewalt nicht vor Gott tröstet – was soll uns dann noch ein ruhiges Gewissen schenken? Und Folgendes ist noch viel verworrener. Sie lehren, dass wir durch die wahre Reue die Gnade verdienen. Wenn nun aber jemand fragte, weshalb Saul, Judas und Ähnliche, die doch schrecklich bereut haben, die Gnade nicht erlangen? Hier wäre vom Glauben und vom Evangelium [her] zu antworten: Weil Judas nicht geglaubt hat; er hat sich nicht aufgerichtet durch das Evangelium und die Verheißung Christi. Denn der Glaube macht den Unterschied zwischen der Reue des Judas und der des Petrus. Die Gegner aber antworten vom Gesetz [her], dass Judas Gott nicht geliebt, sondern die Strafen gefürchtet habe. Wann aber wird das erschrockene Gewissen (namentlich in jenen ernsten, wahren und großen Schrecken, die in den Psalmen und bei den Propheten beschrieben werden und die gewiss jene erfahren, die sich wirklich bekehren) entscheiden können, ob es Gott um seiner selbst willen fürchtet oder [aber] vor den ewigen Strafen flieht? Diese großen Bewegungen können [zwar] mit Buchstaben und Worten unterschieden werden; in der Sache selbst lassen sie sich [aber] nicht so trennen, wie diese trefflichen Sophisten sich das erträumen. Wir appellieren hier an das Urteilsvermögen aller guten und verständigen Leute. Sie werden ohne Zweifel einräumen, dass die Debatten bei den Gegnern höchst verworren und verwickelt sind. Und doch geht es hier um das größte, das Hauptstück des Evangeliums: die Vergebung 255. Wahre Reue (contritio) aus Liebe zu Gott, im Unterschied zur Reue wegen der Folgen der Sünde (attritio).

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der Sünden. Die ganze Lehre über diese Fragen, die wir genannt haben, ist bei den Gegnern voller Irrtum und Heuchelei. Und sie verdunkelt die Wohltat Christi, die Schlüsselgewalt und die Glaubensgerechtigkeit. [95 (2) Beichte] Das geschieht beim ersten Akt [des Bußsakramentes; d. h. bei der »Reue«]. Was ist nun aber, wenn man zur Beichte kommt? Wie viel Mühe verwendet man dort auf die endlose Aufzählung von Sünden, die sich freilich zum größten Teil mit Vergehen gegenüber menschlichen Gebräuchen befasst? Und um die frommen Gemüter noch mehr zu quälen, geben sie vor, diese Aufzählung sei göttlichen Rechtes. Und obwohl sie diese Aufzählung unter dem Vorwand göttlichen Rechtes fordern, reden sie [doch] von der Absolution, die wirklich göttlichen Rechtes ist, ganz unbeteiligt. Sie behaupten, das Sakrament verleihe durch den bloßen Vollzug die Gnade ohne eine gute Regung des Empfangenden; vom Glauben, der die Absolution ergreift und das Gewissen tröstet, verlautet kein Wort. Das ist wirklich das, was man gewöhnlich »vor den Mysterien ausweichen«256 nennt. [(3) Genugtuung] Bleibt noch der dritte Akt: die »Genugtuungen«. Hier aber gibt es äußerst verworrene Debatten. Sie behaupten, die ewigen Strafen würden in Fegfeuerstrafen umgewandelt; ein Teil davon werde durch die Schlüsselgewalt erlassen; der andere Teil, so lehren sie, sei durch Genugtuungen abzugelten. Weiter fügen sie hinzu: Genugtuungen müssten »überschüssige Werke« sein, und als solche führen sie völlig törichte Auflagen wie Wallfahrten, Rosenkränze und ähnliche Übungen auf, die Gott nicht geboten hat. Ferner: Wie sie das Fegfeuer durch Genugtuungen abgelten, so wurde auch ein Weg zur Ablösung der Genugtuungen ausgeklügelt, ein höchst gewinnbringender. Sie verkaufen nämlich Ablässe, die sie zu einem Erlass für die Genugtuungen erklären. Und dieser Gewinn [kommt] nicht nur von den Lebenden, sondern noch viel mehr von den Toten. Aber nicht nur 256. Wie die Katechumenen der Alten Kirche vor der ihnen noch nicht zugänglichen Eucharistie. »Mysterien« bedeutet im griechischen Zitat: Sakramente.

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durch Ablässe, sondern auch durch das Messopfer gelten sie die Genugtuungen der Toten ab. Zuletzt ist die Sache mit den Genugtuungen ein Fass ohne Boden. Unter diesen Ärgernissen (wir können nicht alle aufzählen) und Teufelslehren liegt die Lehre von der Gerechtigkeit des Glaubens an Christus und der Wohltat Christi verschüttet. Daher begreifen alle tüchtigen Leute, dass es hilfreich und gottgefällig war, die Bußlehre der Sophisten und Kanonisten zurückzuweisen. Denn diese [folgenden] Sätze sind offensichtlich falsch und weder mit der Heiligen Schrift noch auch mit den Kirchenvätern vereinbar: [96 Irrtümer der römischen Bußlehre] I. Dass wir durch gute Werke, die ohne Gnade getan worden sind, dank göttlicher Verfügung die Gnade verdienen. II. Dass wir durch die Anfangsreue die Gnade verdienen. III. Dass zur Aufhebung der Sünde schon die Verwünschung des Vergehens ausreicht. IV. Dass wir um der wahren Reue, nicht um des Glaubens an Christus willen die Sündenvergebung erlangen. V. Dass sich die Schlüsselgewalt nicht auf die Vergebung der Sünden gegen Gott, sondern gegenüber der Kirche bezieht. VI. Dass durch die Schlüsselgewalt keine Sünden vor Gott vergeben werden, sondern dass diese eingesetzt ist, um ewige Strafen in zeitliche zu verwandeln, den Gewissen bestimmte Genugtuungen aufzuerlegen, neue Kulte einzurichten und die Gewissen auf solche Genugtuungen und Kulte zu verpflichten. VII. Dass die Aufzählung der Vergehen in der Beichte, über die die Gegner Vorschriften erlassen, nach göttlichem Recht notwendig ist. VIII. Dass kirchenrechtlich vorgeschriebene Genugtuungen zur Ablösung von Fegfeuerstrafen notwendig sind oder dass sie als Ausgleich zur Aufhebung der Schuld dienen. So nämlich verstehen es die Unerfahrenen. IX. Dass der Empfang des Bußsakramentes durch den Vollzug ohne gute Regung des Empfangenden, d. h. ohne Glauben an Christus die Gnade mit sich bringt. X. Dass die Seelen dank der Schlüsselgewalt durch Ablässe aus dem Fegfeuer befreit werden.

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Dass in Reservatsfällen257 der Vorbehalt nicht nur auf die kanonische Strafe, sondern auch auf die Schuld dessen, der sich wirklich bekehrt, bezogen werden muss.

[97 Reformatorische Bußlehre: Reue und Glauben] Um die frommen Gewissen aus diesen Labyrinthen der Sophisten herauszuführen, halten wir fest, dass die Buße zwei Teile hat, nämlich die Reue und den Glauben. Wenn hier jemand einen dritten hinzufügen will, nämlich die der Buße würdigen Früchte, d. h. die guten Werke, die der Bekehrung folgen, so werden wir dem nicht widerstreben. Wir wissen aber sehr genau, dass bei den Grammatikern das Wort »Buße« die Bedeutung hat: »das verwerfen, was wir vorher gelten ließen«. Das passt besser zur Reue als zum Glauben. Aber der Lehre wegen verstehen wir hier unter der »Buße« die ganze Reue, die aus zwei Stücken besteht: der Abtötung und der Lebendigmachung. Wir bezeichnen sie mit den gewohnten Begriffen als die »Reue« und den »Glauben«. [Reue: Schrecken des Gewissens durch das Gesetz] Von der Reue schneiden wir all die müßigen und endlosen Erörterungen darüber ab, wann wir aus Liebe zu Gott [und] wann aus Furcht vor Strafe Reue empfinden. Wir behaupten stattdessen, dass die Reue in dem wirklichen Schrecken des Gewissens besteht, welches fühlt, dass Gott der Sünde zürnt, und betrübt ist, gesündigt zu haben. Und diese Reue stellt sich dann ein, wenn die Sünden durch das Wort Gottes verurteilt werden. Denn das ist der Inbegriff der Evangeliumspredigt: die Sünden anzuklagen und stattdessen Vergebung der Sünden anzubieten, Gerechtigkeit um Christi willen, den Heiligen Geist und das ewige Leben, und dass wir als Wiedergeborene gute Werke tun. So fasst Christus den Inhalt des Evangeliums zusammen, wenn er Lk 24[,47] spricht: Zu predigen in meinem Namen »Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern«. Und von diesen Schrecken spricht die Schrift, wie Ps 37: »Denn meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden«258 usw. »Ich bin matt geworden und ganz zer257. Fälle, in denen die Absolution den Bischöfen oder dem Papst vorbehalten war. 258. Ps 38,5.

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schlagen; ich schreie vor Unruhe meines Herzens.«259 Und Ps 6[,3f]: »Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind sehr erschrocken und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange!« Und Jes 38[,10.13]: »Nun muss ich zu des Totenreiches Pforten fahren in der Mitte meines Lebens. Bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe.« In diesen Schrecken spürt das Gewissen den Zorn Gottes gegen die Sünde, der den selbstsicheren Menschen, die »nach dem Fleische wandeln«,260 unbekannt ist. Es sieht die Schändlichkeit der Sünde und empfindet ernstlich Schmerz darüber, gesündigt zu haben. Und unterdessen flieht es vor dem schrecklichen Zorn Gottes, weil die menschliche Natur ihn nicht ertragen kann, wenn sie nicht durch das Wort Gottes getragen wird. So sagt Paulus: »Durchs Gesetz bin ich dem Gesetz gestorben.«261 Denn das Gesetz klagt nur an und erschreckt die Gewissen. Angesichts dieser Schrecken sagen unsere Gegner nichts über den Glauben. Nur so führen sie das Wort an, dass es Sünden anklagt. Wenn nur das mitgeteilt wird, ist es die Lehre des Gesetzes, nicht die des Evangeliums. Durch diese Schmerzen und Schrecken, so behaupten sie, verdienen die Menschen die Gnade, wenn sie Gott trotzdem lieben. Aber wie sollen die Menschen Gott in den wahren Schrecken lieben, wenn sie den furchtbaren und mit Menschenworten nicht beschreibbaren Zorn Gottes spüren? Was lehren die, die in diesen Schrecken nur das Gesetz zeigen, anderes als die Verzweiflung? [98 Glaube: Aufrichtung des Gewissens durch das Evangelium] Wir fügen deshalb das zweite Stück der Buße hinzu, [nämlich das] vom Glauben an Christus, [d. h.] dass den Gewissen in diesen Schrecken das Evangelium von Christus vor Augen gestellt werden muss, indem umsonst durch Christus die Sündenvergebung verheißen wird. Sie müssen also glauben, dass ihnen selbst um Christi willen umsonst die Sünden vergeben werden. Dieser Glaube richtet auf, hält die Reumütigen aufrecht und macht sie lebendig, nach jenem Spruch: »Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir 259. Ps 38,9. 260. Röm 8,4. 261. Gal 2,19.

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Frieden.«262 Dieser Glaube erlangt die Vergebung der Sünden. Dieser Glaube rechtfertigt vor Gott, wie dieselbe Stelle bezeugt: »Gerechtfertigt aus Glauben.« Dieser Glaube zeigt den Unterschied zwischen der Reue des Judas und des Petrus, [der Reue] Sauls und Davids. Deshalb nützt die Reue des Judas bzw. Saul nichts, weil bei ihr nicht der Glaube hinzutritt, der die um Christi willen geschenkte Sündenvergebung ergreift. Deshalb nützt die Reue Davids oder des Petrus, weil bei ihr der Glaube hinzutritt, der die um Christi willen geschenkte Sündenvergebung ergreift. Auch ist die Liebe erst dann da, wenn die Versöhnung durch den Glauben erfolgt ist. Denn das Gesetz wird nicht ohne Christus erfüllt, nach jenem Wort: »Durch Christus haben wir Zugang zu Gott.«263 Und dieser Glaube wächst allmählich und kämpft das ganze Leben hindurch mit der Sünde, um Sünde und Tod zu überwinden. Im Übrigen folgt dem Glauben die Liebe, wie wir oben gesagt haben. Und so kann die kindliche Furcht deutlich bestimmt werden als die mit dem Glauben verbundene Furcht, wo der Glaube tröstet und das furchtsame Herz aufrechterhält. Die knechtische Furcht [herrscht da], wo der Glaube das furchtsame Herz nicht aufrechterhält. [Schlüsselgewalt: Absolution als Stimme vom Himmel] Ferner fördert und verkündet die Schlüsselgewalt das Evangelium durch die Absolution, die die wahre Stimme des Evangeliums ist. So schließen auch wir die Absolution mit ein, wenn wir vom Glauben sprechen, weil »der Glaube aus der Predigt kommt«,264 wie Paulus sagt. Denn nachdem es das Evangelium vernommen und die Absolution gehört hat, wird das Gewissen aufgerichtet und empfängt Trost. Und weil Gott wirklich durch das Wort lebendig macht, erlassen die Schlüssel auch wirklich vor Gott die Sünden, nach dem Wort: »Wer euch hört, hört mich.«265 Deshalb ist den Worten dessen, der die Absolution ausspricht, nicht weniger zu glauben als einer Stimme, die vom Himmel ertönt. Und eigentlich kann die Absolution das »Sakrament der Buße« genannt werden, wie es auch die gebildeteren scho262. 263. 264. 265.

Röm 5,1. Röm 5,2. Röm 10,17. Lk 10,16.

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lastischen Theologen sagen. Unterdessen wird dieser Glaube in Anfechtungen vielfach gestärkt durch Worte des Evangeliums und den Empfang der Sakramente. Denn das sind die Zeichen des Neuen Testamentes, d. h. Zeichen der Vergebung der Sünden. Deshalb bieten sie auch die Sündenvergebung an, wie die Worte des Abendmahles deutlich bezeugen: »Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Das ist der Kelch des Neuen Testamentes«266 usw. So wird der Glaube empfangen und gestärkt durch die Absolution, die Predigt des Evangeliums, den Empfang der Sakramente, damit er nicht unterliegt, wenn er mit den Schrecken der Sünde und des Todes kämpft. Dieses Verständnis der Buße ist klar und durchsichtig, und es mehrt das Ansehen der Schlüsselgewalt und der Sakramente; es rückt auch die Wohltat Christi ins Licht; [es] lehrt uns, Christus als Mittler und Versöhner in Anspruch zu nehmen. [99 Schriftbelege für die zwei Teile der Buße] Aber da uns die Konfutation verdammt, weil wir diese zwei Teile der Buße benannt haben, muss gezeigt werden, dass die Schrift bei der Buße oder der Bekehrung des Gottlosen diese Hauptteile nennt. Denn Christus spricht Mt 11[,28]: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.« Hier gibt es zwei Glieder: Mühe und Last bedeuten die Reue, die Ängste und Schrecken der Sünde und des Todes. »Zu Christus zu kommen« heißt zu glauben, dass die Sünden um Christi willen vergeben werden. Wenn wir glauben, werden die Herzen lebendig gemacht im Heiligen Geist durch das Wort Christi. Es gibt hier also zwei Hauptteile: Reue und Glauben. Und Mk 1[,15] sagt Christus: »Tut Buße und glaubt an das Evangelium.« Da klagt er im ersten Teil die Sünden an, im zweiten tröstet er uns und zeigt die Vergebung der Sünden. Denn »an das Evangelium zu glauben« ist nicht jener allgemeine Glaube, den auch die Teufel haben, sondern es ist im eigentlichen Sinne: zu glauben an die um Christi willen geschenkte Vergebung der Sünden. Diese wird nämlich im Evangelium offenbart. Ihr seht, dass auch hier zwei Teile verbunden werden: die Reue, wenn die Sünden angeklagt werden, und der Glaube, wenn es heißt: »Glaubt an das Evangelium.« Wenn jemand

266. Mt 26,26.28.

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hier sagt, Christus meine auch die Früchte der Buße oder das ganze neue Leben, so widersprechen wir ihm nicht. Denn es genügt uns, dass diese Hauptteile genannt werden: Reue und Glaube. Wenn Paulus die Bekehrung oder Erneuerung beschreibt, nennt er fast überall diese zwei Teile: die Tötung und die Lebendigmachung, wie Kol 2[,11]: »In ihm seid ihr auch beschnitten worden mit einer Beschneidung, die nicht mit Händen geschieht, als ihr nämlich euer fleischliches Wesen ablegtet.« Und danach: »Mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes.«267 Hier gibt es zwei Teile: Der eine ist die völlige Befreiung vom Leib der Sünden; der andere ist die Auferweckung durch den Glauben. Doch dürfen diese Begriffe (Tötung, Lebendigmachung, Befreiung vom Leib der Sünden und Auferweckung) nicht platonisch im Sinne einer [nur] scheinbaren Umwandlung gedeutet werden, sondern der Begriff »Tötung« bezeichnet die echten Schrecken, wie sie den Sterbenden begegnen, die die Natur nicht ertragen könnte, wenn sie nicht durch den Glauben aufgerichtet würde. So bezeichnet hier »Befreiung vom Leib der Sünden« das, was wir gewöhnlich Reue nennen, weil in jenen Schmerzen die natürliche Begierde ausgetrieben wird. Und die Lebendigmachung darf nicht als platonische Einbildung verstanden werden, sondern als der Trost, der den wirklich trägt, der in der Reue dem Leben entflieht. Es gibt hier also zwei Teile: Reue und Glauben. Denn weil das Gewissen nur im Glauben Frieden finden kann, deshalb macht allein der Glaube lebendig, nach dem Wort: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«268 Und dann sagt er den Kolossern, Christus tilge den Schuldschein, der uns durch das Gesetz entgegengehalten wird.269 Auch hier gibt es zwei Bestandteile: den Schuldschein und dessen Tilgung. Der Schuldschein aber ist das Gewissen, das uns verurteilt und verdammt. Ferner ist das Gesetz das Wort, das die Sünden verurteilt und verdammt. Diese Stimme also, die – wie David – spricht: »Ich habe gesündigt gegen den Herrn«,270 ist der Schuldschein. Dieses Wort aber sprechen gottlose und selbstsichere Menschen nicht mit Ernst aus. Denn sie 267. 268. 269. 270.

Kol 2,12. Röm 1,17; Hab 2,4. Kol 2,14. 2 Sam 12,13.

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sehen nicht, lesen nicht das ins Herz geschriebene Urteil des Gesetzes. In den wahren Schmerzen und Schrecken nimmt man diesen Spruch wahr. Der Schuldschein ist also die Reue selbst, die uns verdammt. »Den Schuldschein zu tilgen« bedeutet, sich jenes Verdammungsurteil aus dem Sinn zu schlagen […] und sich den Spruch einzuprägen, durch den wir erfahren, dass wir von jener Verdammnis befreit worden sind. Es ist aber der Glaube jenes neue Urteil, das das frühere Urteil tilgt und dem Herzen Frieden und Leben schenkt. Indessen, wozu muss man viele Zeugnisse anführen, wo sie doch überall in der Heiligen Schrift begegnen? Ps 117: »Der Herr züchtigt mich schwer; aber er gibt mich dem Tode nicht preis.«271 Ps 118: »Ich gräme mich, dass mir die Seele verschmachtet; stärke mich nach deinem Wort.«272 Hier ist im ersten Teil die Reue enthalten. Im zweiten wird klar die Art beschrieben, wie wir in der Reue erquickt werden, nämlich durch das Wort Gottes, das uns die Gnade anbietet. Das trägt die Herzen und macht sie lebendig. Und 1 Sam 2[,6]: »Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf.« Durch das eine wird die Reue bezeichnet, durch das andere der Glaube. Und Jes 28[,21]: »Der Herr wird zürnen, damit er sein Werk vollbringt. Es ist sein fremdes Werk, damit er sein eigenes Werk tun kann.« Er nennt es Gottes »fremdes Werk«, wenn er in Schrecken versetzt, denn Gottes eigentliches Werk ist es, lebendig zu machen und zu trösten. Aber er erschreckt deshalb, sagt Jesaja, damit es Gelegenheit zu Trost und Lebendigmachung gibt, weil sichere und den Zorn Gottes nicht spürende Herzen die Tröstung zurückweisen. Auf solche Weise pflegt die Schrift beides, Schrecken und Trost, zu verbinden, um zu lehren, dies seien die Hauptteile der Buße: die Reue und der tröstende und rechtfertigende Glaube. Und wir sehen nicht, wie das Wesen der Buße klarer und einfacher beschrieben werden könnte. [100 Gottes Werke von Anfang bis heute: Gesetz und Evangelium – Reue und Glaube] Denn dies sind die zwei wesentlichen Werke Gottes an den Menschen: zu erschrecken und zu rechtfertigen und die tief Erschrockenen le271. Ps 118,18 [= Ps 117,18 Vg]. 272. Ps 119,28 [= Ps 118,28 Vg].

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bendig zu machen. Auf diese zwei Werke hin ist die ganze Schrift gegliedert. Der eine Teil ist das Gesetz, das die Sünden zeigt, anklagt und verurteilt. Der andere Teil ist das Evangelium, d. h. die Verheißung der in Christus geschenkten Gnade. Und diese Verheißung wird immer wieder aufgegriffen in der ganzen Schrift: Zuerst wurde sie Adam gegeben, später den Patriarchen, dann wurde sie von den Propheten ins Licht gesetzt, zuletzt wurde sie von Christus unter den Juden gepredigt und dargeboten und von den Aposteln über die ganze Welt verbreitet. Denn durch den Glauben an diese Verheißung sind alle Heiligen gerechtfertigt worden, [sie erlangten dies] nicht um ihrer Anfangsreue oder wahren Reue willen. Und die Beispiele zeigen gleichfalls diese beiden Teile: Adam wird nach dem Sündenfall gescholten und in Schrecken versetzt; das war die Reue. Danach verheißt Gott Gnade, nennt den künftigen Samen [Nachkommen], durch den das Reich des Teufels, Tod und Sünde zerstört werden; da bietet er Vergebung der Sünde an. Das sind die Hauptsachen. Denn obwohl danach eine Strafe hinzugefügt wird, verdient doch diese Strafe nicht die Vergebung der Sünde. Und von dieser Art der Strafen wollen wir etwas später noch sprechen.273 So wird auch David von Nathan getadelt, und er spricht erschrocken: »Ich habe gesündigt gegen den Herrn.«274 Das ist die Reue. Später hört er die Absolution: »So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben.«275 Dieses Wort richtet David auf und hält ihn im Glauben; es rechtfertigt und macht ihn lebendig. Auch hier kommt eine Strafe hinzu, doch verdient diese Strafe nicht die Vergebung der Sünden. Nicht immer werden besondere Strafen hinzugefügt. Doch dies beides muss es immer geben bei der Buße: Reue und Glauben, wie Lk 7[,37]: Die sündige Frau kommt weinend zu Christus. An diesen Tränen erkennt man die Reue. Später hört sie die Absolution: »Dir sind die Sünden vergeben. Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin in Frieden.«276 Das ist der andere Teil der Buße: der Glaube, der sie aufrichtet und tröstet. Aus all dem wird den frommen Lesern deutlich, dass wir bei der Buße die Teile anführen, die die 273. 274. 275. 276.

Siehe unten Nr. 115–117. 2 Sam 12,13. 2 Sam 12,13. Lk 7,48.50.

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wesentlichen sind bei der Bekehrung oder Wiedergeburt und der Vergebung der Sünde. Würdige Früchte und Strafen folgen auf die Wiedergeburt und die Vergebung der Sünde. Und wir haben deshalb diese beiden Teile gesetzt, damit der Glaube besser in den Blick kommt, den wir bei der Buße fordern. Auch kann man besser verstehen, was für ein Glaube das ist, den das Evangelium predigt, wenn er der Reue und der Tötung entgegengesetzt wird. [101 Bernhard von Clairvaux: Glaube als Vertrauen auf Gottes aufrichtende Barmherzigkeit] Und damit die ganze Welt sieht, wie groß die Unkenntnis der echten Frömmigkeit bei unseren Kritikern, die die Konfutation verfasst haben, ist, fügen wir auch die Meinung Bernhards [von Clairvaux] hinzu, der die beiden Teile der Buße, Reue und Glauben, ganz auf die gleiche Weise verbindet, wie wir sie verbinden. Seine Worte in der »Dritten Predigt über die Verkündigung« sind folgende: »Tu mir früh deine Barmherzigkeit kund, weil ich auf dich gehofft habe, Herr. Allein die Hoffnung auf das Erbarmen behauptet in Wahrheit bei dir den Platz, auch nicht das Öl der Barmherzigkeit, wenn du es nicht in das Gefäß des Vertrauens füllst. Aber es ist ein falsches ›Vertrauen‹ (eines, das eigentlich nur für eine Verfluchung taugt), wenn wir nämlich an der Hoffnung sündigen. Doch darf auch jenes nicht ein ›Vertrauen‹ genannt werden, sondern eine gewisse ›Empfindungslosigkeit‹ und eine verderbliche ›Verstellung‹. Denn welches Vertrauen besitzt der, der nicht aufmerksam auf die Gefahr achtet? Oder welches Heilmittel für die Furcht gibt es dort, wo weder die Furcht wahrgenommen wird noch auch der Inhalt der Furcht? Das Vertrauen ist der Trost – doch bedarf der nicht des Trostes, der sich, wenn er Böses getan hat, freut und über die schlimmsten Dinge noch mehr jubelt. Wir bitten deshalb die Brüder, es möge uns gesagt werden, welche Ungerechtigkeiten und Sünden wir haben; wir wünschen, dass uns unsere Verbrechen und Vergehen gezeigt werden. Wir wollen unsere Wege erforschen und unsere Bemühungen und allgemeinen Gefährdungen in wachsamer Aufmerksamkeit bedenken. Ein jeder soll in seiner Furcht sprechen: ›Nun muss ich zu des Totenreiches Pforten fahren‹,277 damit wir uns dann an der alleinigen Barmherzigkeit Gottes erholen.

277. Jes 38,10.

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Dies ist das echte Vertrauen eines Menschen, der von sich selbst ablässt und sich auf seinen Herrn stützt. Dies, sage ich, ist das echte Vertrauen, dem, wie der Prophet bezeugt, die Barmherzigkeit nicht verwehrt wird: ›Der Herr hat Wohlgefallen an denen, die ihn fürchten und auf seine Barmherzigkeit hoffen.‹278 Und sie [d. h. die Barmherzigkeit] ist nicht klein; sie reicht für uns durchaus aus; in uns liegt gewiss die Ursache der Furcht, in ihm selbst aber der Grund des Vertrauens.«279 – Soweit Bernhard, dessen Meinung wir auch deshalb gern vorgetragen haben, damit die Leser sehen, wie wir den Glauben hier vom Vertrauen auf die Barmherzigkeit her verstehen, das die Erschrockenen aufrichtet und tröstet und er deshalb zu Recht als das »Vertrauen« bezeichnet. Und dies kann deutlich erkannt werden, wenn man die Schrecken und den Trost einander gegenüberstellt. Wie Bernhard hier will, dass in den Menschen eine Erkenntnis der Sünden oder die Reue oder die Schrecken zum Vorschein kommen, so will er auch, dass das Vertrauen hinzukommt, das in der Reue wieder aufrichtet. [102 Unverzichtbare Zugehörigkeit des Glaubens zur Buße] Weil aber die Gegner ausdrücklich verdammen, dass wir sagen: Die Menschen erlangen Vergebung der Sünden durch den Glauben, fügen wir einige wenige Beweise hinzu, aus denen zu ersehen ist, dass Sündenvergebung nicht durch den Vollzug [des Sakraments] aufgrund der Reue geschieht, sondern durch den besonderen Glauben, durch den ein jeder glaubt, dass ihm die Sünden um Christi willen vergeben werden. Denn dies ist der Hauptartikel, um den wir mit den Gegnern streiten. Und wir meinen, dass dessen Kenntnis für alle Christen höchst notwendig ist. Weil aber oben [im Artikel] von der Rechtfertigung zu dieser Sache genug gesagt sein dürfte, werden wir uns hier kürzer fassen. Denn die Lehre von der Buße und die von der Rechtfertigung sind sehr eng verwandte Themen. Wenn die Gegner vom Glauben reden und sagen, er gehe der Buße voraus, meinen sie nicht den Glauben, der rechtfertigt, sondern den, der allgemein glaubt, dass es einen Gott gibt, dass für Gottlose Strafen festgesetzt sind usw. Über diesen Glauben hinaus fordern wir, dass 278. Ps 147,11. 279. Bernhard von Clairvaux, Sermones in festo annuntiationis beatae Mariae virginis III, 3 (PL 183, 394).

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jeder glaubt, dass ihm die Sünden um Christi willen vergeben werden. Über diesen besonderen Glauben streiten wir. Und wir stellen ihn der Meinung entgegen, die nicht auf die Verheißung Christi vertrauen lässt, sondern auf den Vollzug von Reue, Beichte und Genugtuungen usw. Dieser Glaube folgt so auf die Schrecken, dass er sie überwindet und ein befriedetes Gewissen schenkt. Diesem Glauben schreiben wir zu, dass er rechtfertigt und die Wiedergeburt bringt, indem er aus den Schrecken befreit und im Herzen Frieden, Freude und ein neues Leben schafft. Wir halten daran fest, dass dieser Glaube wirklich notwendig ist zur Vergebung der Sünden. Deshalb stellen wir ihn zu den Teilen der Buße bzw. der Bekehrung. Nichts anderes meint die Kirche Christi, auch wenn unsere Gegner widersprechen. [103 Selbstwidersprüche der Gegenposition] Zuerst aber fragen wir die Gegner, ob der Empfang der Absolution ein Teil der Buße ist oder nicht? Wenn sie diese von der Beichte trennen, sie sind nämlich penibel im Unterscheiden, dann sehen wir nicht, was eine Beichte ohne Absolution nützen soll. Trennen sie aber den Empfang der Absolution nicht von der Beichte, so müssen sie doch urteilen, dass der Glaube ein Bestandteil der Buße ist, denn die Absolution wird nur im Glauben empfangen. Dass die Absolution aber nur im Glauben empfangen wird, kann durch Paulus bewiesen werden, der Röm 4[,16] lehrt, dass die Verheißung nur durch den Glauben ergriffen werden kann. Die Absolution aber ist die Verheißung der Sündenvergebung. Deshalb verlangt sie notwendig den Glauben. Und wir begreifen nicht, wie man sagen kann, jemand empfange die Absolution, der ihr nicht zustimmt. Und der Absolution nicht zuzustimmen – was ist das anderes, als Gott der Lüge zu beschuldigen? Wenn das Herz zweifelt, beurteilt es als ungewiss und eitel, was Gott verheißt. Deshalb steht 1 Joh 5[,10] geschrieben: »Wer Gott nicht glaubt, der macht ihn zum Lügner, denn er glaubt nicht dem Zeugnis, das Gott gegeben hat von seinem Sohn.« Zweitens meinen wir, dass die Gegner bekennen, die Sündenvergebung sei ein Teil oder der Zweck oder, nach ihrer Weise zu reden, das »Ziel« der Buße. Also wird das, wodurch die Sündenvergebung empfangen wird, mit Recht den Teilen der Buße zugerechnet. Es ist aber völlig sicher, auch wenn alle Pforten der Hölle widersprechen, dass Sündenvergebung nur durch den Glauben empfangen werden

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kann, der glaubt, dass die Sünden um Christi willen vergeben werden, nach dem Wort Röm 3[,25]: »Welchen Gott zu einem Versöhner eingesetzt hat durch den Glauben an sein Blut.« Ebenso Röm 5[,2]: »Durch welchen wir im Glauben den Zugang haben zu dieser Gnade« usw. Denn das erschrockene Gewissen kann nicht dem Zorn Gottes unsere Werke oder unsere Liebe entgegenhalten, sondern findet erst dann Frieden, wenn es den Mittler Christus ergreift und den um seinetwillen geschenkten Verheißungen glaubt. Denn die begreifen nicht, was Sündenvergebung ist oder wie sie uns zuteilwird, die sich einbilden, die Herzen könnten ohne Glauben an Christus zum Frieden kommen. Petrus zitiert aus Jesaja: »Wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.«280 Deshalb müssen die Heuchler zuschanden werden, die darauf vertrauen, Sündenvergebung um ihrer eigenen Werke, nicht um Christi willen zu empfangen. Und Petrus sagt in Apg 10[,43]: »Von diesem bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.« Er hätte sich nicht deutlicher ausdrücken können, als indem er sagt: »durch seinen Namen« und hinzufügt: »alle, die an ihn glauben«. Nur so also empfangen wir Sündenvergebung: durch Christi Namen, d. h. um Christi, nicht um unserer wie auch immer gearteten Verdienste und Werke willen. Und dies geschieht dann, wenn wir glauben, dass uns um Christi willen die Sünden vergeben werden. [104 Konsens der Kirche spricht für, nicht gegen den Glauben als Teil der Buße] Unsere Gegner schreien, sie seien die Kirche, sie folgten der einhelligen Meinung der Kirche. Doch führt auch Petrus hier in unserer Sache den Konsens der Kirche an: »Von diesem«, sagt er, »bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen«281 usw. In der Tat muss die übereinstimmende Meinung der Propheten als Konsens der ganzen Kirche gelten. Weder dem Papst noch der Kirche räumen wir die Vollmacht ein, gegen diesen Konsens der Propheten zu entscheiden. Aber die Bulle Papst Leos X.282 verdammt offen diesen Artikel über 280. 1 Petr 2,6; Jes 28,16; 49,23. 281. Apg 10,43. 282. Bannandrohungsbulle gegen Luther 1520.

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die Sündenvergebung; auch die Gegner verdammen ihn in ihrer Konfutation. Daraus wird klar, wie die Kirche derer zu beurteilen ist, die nicht nur in Dekreten diesen Satz verwerfen (dass wir Sündenvergebung durch den Glauben erlangen, nicht um unserer eigenen Werke, sondern um Christi willen), sondern sogar wollen, dass er durch Gewalt und Schwert ausgelöscht wird, und die Anweisung geben, tüchtige Leute, die so denken, durch jedwede Grausamkeit zu vernichten. Doch haben sie sehr namhafte Gewährsleute: Duns Scotus283, Gabriel Biel284 und ähnliche, [dazu noch] Worte der Kirchenväter, die in den Kirchengesetzen verkürzt zitiert werden. Gewiss, wenn es um die Zahl der Belegstellen ginge, dann würden sie gewinnen. Denn es gibt einen riesigen Schwarm geschwätziger Sentenzenkommentatoren285, die wie Verschwörer jene Hirngespinste vom Verdienst der Anfangsreue und der Werke und anderes, was wir oben genannt haben, verteidigen. Doch damit sich niemand durch die Menge beeindrucken lasse: Den Zeugnissen der Späteren kommt keine große Autorität zu. Denn sie haben keine eigenen Schriften verfasst, sondern diese Meinungen nur beim Abschreiben aus Früheren aus den einen Büchern in andere übertragen. Sie haben kein Urteil abgegeben, sondern haben wie zweitklassige Senatoren die nicht erkannten Irrtümer ihrer Vorgänger stillschweigend gutgeheißen. Wir zögern daher nicht, dieses Petrus-Wort, das den Konsens der Propheten zum Ausdruck bringt, diesen zahlreichen Legionen von Sentenzenkommentatoren entgegenzustellen. Und zu dieser Predigt des Petrus tritt das Zeugnis des Heiligen Geistes hinzu. So nämlich sagt der Text: »Während Petrus noch diese Worte redete, fiel der Heilige Geist auf alle, die dem Wort zuhörten.«286 Die frommen Gewissen sollen daher wissen: Es ist ein Gebot Gottes, dass sie glauben, ihnen werde umsonst vergeben um Christi, nicht um unserer Werke willen. Und durch dieses Gebot richten sie sich auf gegen die Verzweiflung und die Schrecken der Sünde und des Todes. Sie sollen auch wissen, dass es diese Lehre seit dem Beginn der 283. 284. 285. 286.

Franziskanertheologe in Oxford, Paris und Köln († 1308). Theologe in Tübingen († 1495). Siehe oben Nr. 94, Anm. 254. Apg 10,44.

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Welt in der Kirche bei den Heiligen gegeben hat. Denn Petrus bezieht sich klar auf den Konsens der Propheten, und die Schriften der Apostel bezeugen, dass sie dasselbe meinen. Auch fehlt es nicht an Zeugnissen der Kirchenväter. Denn Bernhard sagt dasselbe mit keineswegs dunklen Worten: »Vor allem anderen musst du glauben, dass du Vergebung der Sünden nur durch Gottes Nachsicht haben kannst; doch füge hinzu, dass du auch glaubst, dass dir durch ihn selbst die Sünden geschenkt werden. Dies ist das Zeugnis, das der Heilige Geist in deinem Herzen darbietet, indem er spricht: ›Erlassen sind dir deine Sünden.‹ So nämlich urteilt der Apostel, dass der Mensch umsonst durch den Glauben gerechtfertigt wird.«287 Diese Worte Bernhards stellen unsere Sache wunderbar ins Licht, weil er nicht nur fordert, generell zu glauben, dass die Sünden durch die Barmherzigkeit vergeben werden, sondern er verlangt, den besonderen Glauben hinzuzufügen, durch den wir glauben, dass uns selbst die Sünden vergeben werden. Und er lehrt, wie wir der Vergebung der Sünden gewiss werden, nämlich: wenn die Herzen durch den Glauben aufgerichtet und durch den Heiligen Geist ruhig werden. Was verlangen die Gegner noch mehr? Wagen sie etwa auch jetzt noch zu bestreiten, dass wir durch den Glauben die Sündenvergebung erlangen oder dass der Glaube ein Teil der Buße ist? [105 Bußakte als »Verdienst« machen das Gesetz statt des Evangeliums zum Heilsgrund] Drittens behaupten die Gegner, dass die Sünde deshalb vergeben wird, weil der anfangsweise oder völlig Bereuende einen Akt der Liebe zu Gott hervorruft; wegen dieses Aktes verdient er es, Vergebung der Sünden zu empfangen. Das ist nichts anderes, als das Gesetz zu lehren, nachdem man das Evangelium zerstört und die Verheißung von Christus getilgt hat. Denn sie fordern nur das Gesetz und unsere Werke, weil das Gesetz die Liebe verlangt. Außerdem lehren sie, darauf zu vertrauen, dass wir die Sündenvergebung um der Reue und der Liebe willen erlangen. Was ist das anderes, als das Vertrauen auf unsere Werke zu gründen, nicht auf das Wort und die Verheißung Gottes über Christus? Denn wenn das Gesetz ausreicht, um Sünden287. Bernhard von Clairvaux, Sermones in festo annuntiationis beatae Mariae virginis I, 1 (PL 183, 383).

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vergebung zu erlangen, wozu ist dann das Evangelium nötig, wozu Christus, wenn wir wegen unseres Werkes Sündenvergebung erlangen? Wir dagegen rufen die Gewissen vom Gesetz fort zum Evangelium und vom Vertrauen auf eigene Werke zum Vertrauen auf die Verheißung und auf Christus, weil das Evangelium uns Christus darbietet und Sündenvergebung umsonst um Christi willen verspricht. Durch diese Verheißung gebietet es uns, darauf zu vertrauen, dass wir um Christi willen mit dem Vater versöhnt werden, nicht wegen unserer Reue oder Liebe. Denn es gibt keinen anderen Mittler oder Versöhner als Christus. Und wir können das Gesetz erst erfüllen, wenn wir zuvor durch Christus versöhnt sind. Und auch wenn wir etwas täten, ist doch zu urteilen, dass wir nicht wegen jener Werke, sondern um des Mittlers und Versöhners Christus willen die Sündenvergebung erlangen. Es ist fürwahr eine Schmach für Christus und eine Leugnung des Evangeliums zu meinen, dass wir Sündenvergebung aufgrund des Gesetzes erlangen oder anders als durch den Glauben an Christus. Wir haben auch diese Sache [bereits] oben im Artikel von der Rechtfertigung behandelt, als wir erläuterten, warum wir bekennen, dass die Menschen durch den Glauben gerechtfertigt werden, nicht durch die Liebe.288 Daher ist die Lehre der Gegner, die lehren, dass die Menschen wegen ihrer Reue und Liebe die Sündenvergebung erlangen und auf diese Reue und Liebe vertrauen sollen, nur eine Lehre des Gesetzes, und zwar des unverstandenen Gesetzes. So schauten die Juden auf das verhüllte Antlitz des Mose.289 Denn mögen wir auch meinen, dass die Liebe da ist, mögen wir uns auch einbilden, dass die Werke da sind, so können doch weder die Liebe noch die Werke die Versöhnung für die Sünde sein. Und sie können nicht einmal dem Zorn und dem Richtspruch Gottes entgegengehalten werden, nach jenem Wort: »Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.«290 Es darf auch nicht die Ehre Christi auf unsere Werke übertragen werden. Aus diesen Gründen besteht Paulus darauf, dass wir nicht aus dem Gesetz gerechtfertigt werden; und er hält dem Gesetz die Verheißung 288. Siehe oben Nr. 45–48. 289. 2 Kor 3,13; Ex 34,33–35. 290. Ps 143,2.

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der Sündenvergebung entgegen, die um Christi willen geschenkt wird, und lehrt, dass wir umsonst um Christi willen durch den Glauben die Sündenvergebung empfangen. Zu dieser Verheißung ruft uns Paulus zurück, fort vom Gesetz. Auf diese Verheißung heißt er uns schauen, die einfach ungültig wäre, wenn wir eher durch das Gesetz gerechtfertigt würden als durch die Verheißung oder wegen unserer Gerechtigkeit die Sündenvergebung erlangten. Es steht aber fest, dass uns deshalb die Verheißung gegeben und deshalb Christus dargeboten ist, weil wir das Gesetz nicht erfüllen können. Daher müssen wir durch die Verheißung versöhnt werden, bevor wir das Gesetz erfüllen können. Die Verheißung aber wird nur durch den Glauben ergriffen. Es ist also notwendig, dass die Reuigen durch den Glauben die Verheißung der um Christi willen geschenkten Sündenvergebung ergreifen und glauben, dass sie umsonst um Christi willen einen versöhnten Vater haben. Das ist die Meinung des Paulus Röm 4[,16], wo er schreibt: »Deshalb aus dem Glauben, damit die Verheißung der Gnade entsprechend gewiss ist.« Und Gal 3[,22]: »Die Schrift hat alles eingeschlossen unter die Sünde, damit die Verheißung durch den Glauben an Jesus Christus gegeben würde.« Das heißt: Alle Menschen sind unter der Sünde und können nur dadurch gerettet werden, dass sie durch den Glauben die Verheißung der Sündenvergebung ergreifen. Bevor wir das Gesetz erfüllen können, müssen wir also zunächst durch den Glauben die Sündenvergebung empfangen. Jedoch gilt, wie oben gesagt wurde, dass die Liebe auf den Glauben folgt, weil die Wiedergeborenen den Heiligen Geist empfangen; daher beginnen sie, das Gesetz zu erfüllen. Wir würden noch weitere Zeugnisse anführen, wenn sie nicht jedem frommen Leser in den Schriften begegnen würden. Auch wollen wir nicht zu weitschweifig werden, damit diese Sache leichter durchschaut werden kann. Es gibt aber auch keinen Zweifel, dass das, was wir verteidigen, die Meinung des Paulus ist: dass wir durch den Glauben die Vergebung der Sünden um Christi willen empfangen, dass wir durch den Glauben den Mittler Christus (nicht unsere Werke) dem Zorne Gottes entgegenhalten sollen. Fromme Herzen sollen sich nicht verwirren lassen, auch wenn die Gegner die Lehren des Paulus verfälschen. Nichts kann so deutlich gesagt werden, dass es nicht durch Spitzfindigkeiten verdreht werden könnte. Wir wissen, dass das, was wir gesagt haben, die wahre und echte Lehre des Paulus ist.

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Wir wissen, dass diese unsere Auffassung frommen Gewissen den starken Trost spendet, ohne den niemand in Gottes Gericht bestehen kann. Deshalb werden jene pharisäischen Meinungen der Gegner zurückgewiesen, dass wir die Sündenvergebung nicht durch Glauben empfangen, sondern dass sie durch unsere Liebe und durch Werke verdient werden muss, dass wir unsere Liebe und unsere Werke dem Zorn Gottes entgegenhalten sollen. Dies ist die Lehre des Gesetzes, nicht des Evangeliums. Sie gibt vor, dass der Mensch eher durch das Gesetz gerechtfertigt wird, als er durch Christus mit Gott versöhnt ist, obwohl Christus spricht: »Ohne mich könnt ihr nichts tun«;291 ebenso: »Ich bin der wahre Weinstock, ihr seid die Reben.«292 Doch ersinnen die Gegner, dass wir nicht Reben Christi, sondern des Mose sind. Denn sie wollen zuvor durch das Gesetz gerechtfertigt werden [und] Gott unsere Liebe und Werke anbieten, ehe sie durch Christus mit Gott versöhnt werden, [d. h.] ehe sie Christi Reben sind. Paulus dagegen besteht darauf, dass das Gesetz nicht ohne Christus erfüllt werden kann. Deshalb muss zuvor die Verheißung empfangen werden, dass wir durch den Glauben um Christi willen mit Gott versöhnt werden, ehe wir das Gesetz erfüllen. Wir denken, dass dies allen frommen Gewissen genügend deutlich ist. Und daher werden sie verstehen, warum wir oben bekannt haben, dass die Menschen durch den Glauben gerechtfertigt werden, nicht durch die Liebe. Denn wir sollen dem Zorn Gottes nicht unsere Liebe oder Werke entgegenhalten oder auf unsere Liebe oder Werke vertrauen, sondern auf den Mittler Christus. Und wir müssen die Verheißung der Sündenvergebung eher ergreifen, als wir das Gesetz erfüllen. [106 Kernpunkt des Streites: Gewissheit der Gewissen statt Zweifel und Verzweiflung] Schließlich: Wann wird das Gewissen ruhig sein, wenn wir die Vergebung der Sünden deshalb erlangen, weil wir lieben oder das Gesetz erfüllen? Immer nämlich wird uns das Gesetz anklagen, weil wir niemals dem Gesetz Gottes Genüge tun. Wie Paulus sagt: »Das Gesetz

291. Joh 15,5. 292. Joh 15,5.

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richtet nur Zorn an.«293 Chrysostomus fragt im Blick auf die Buße: »Woher sollen wir gewiss werden, dass uns die Sünden vergeben sind?«294 Die gleiche Frage stellen auch die Gegner in den Sentenzen. Das kann nicht weiter ausgeführt werden. Die Gewissen können nicht zur Ruhe kommen, wenn sie nicht wissen, dass es Gottes Gebot und das Evangelium selbst sei, gewiss zu glauben, dass die Sünden um Christi willen umsonst vergeben werden, und nicht daran zu zweifeln, dass ihnen vergeben wird. Wer zweifelt, der beschuldigt die göttliche Verheißung der Lüge, wie Johannes sagt.295 Wir lehren, dass diese Glaubensgewissheit im Evangelium gefordert wird. Die Gegner lassen die Gewissen ungewiss und zweifelnd zurück. Nichts aber tun die Gewissen aus Glauben, wenn sie unablässig zweifeln, ob sie Vergebung haben. Wie können sie in diesem Zweifel Gott anrufen? Wie können sie glauben, dass sie erhört werden? So ist das ganze Leben ohne Gott und ohne wahren Gottesdienst. Das ist es, was Paulus sagt: »Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde.«296 Und weil sie fortwährend mit diesen Zweifeln umgehen, erfahren sie niemals, was Glaube ist. So kommt es, dass sie zuletzt in Verzweiflung stürzen. Solcher Art ist die Lehre der Gegner, eine Lehre des Gesetzes, eine Abschaffung des Evangeliums, eine Lehre der Verzweiflung. Nun überlassen wir gern allen tüchtigen Leuten das Urteil über diesen Bußartikel (er enthält nämlich nichts Dunkles), damit sie verkünden, wer die Gewissen frömmer und heilsamer belehrt hat – wir oder die Gegner. Dieser Streit in der Kirche macht uns fürwahr keine Freude. Hätten wir nicht wichtige und zwingende Gründe, den Gegnern zu widersprechen, so würden wir liebend gern schweigen. Da sie nun aber selbst die offenkundige Wahrheit verdammen, steht es uns nicht frei, uns aus dieser Sache zurückzuziehen, die nicht die unsere, sondern die Sache Christi und der Kirche ist.

293. Röm 4,15. 294. Johannes Chrysostomus († 407), Ad Theodorum lapsum I, 5–8 (PG 47, 282– 287). 295. 1 Joh 5,10. 296. Röm 14,23.

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[107 Nur Unverstand behauptet, für die Kirchenväter gehöre der Glaube nicht zur Buße] Wir haben gesagt, aus welchen Gründen wir die Reue und den Glauben als die zwei Teile der Buße aufgeführt haben. Und wir haben dies umso lieber getan, weil viele Aussprüche über die Buße im Umlauf sind, die verstümmelt aus den Kirchenvätern zitiert werden und die die Gegner zur Verdunkelung des Glaubens verdreht haben. Sprüche dieser Art sind z. B.: »Die Buße besteht darin, vergangene Übeltaten zu betrauern und die zu betrauernden nicht wieder zu begehen.«297 Ebenso: »Die Buße ist eine Art Bestrafung des Bereuenden, der sich selbst straft, weil es ihm leid tut, [die Übeltat] begangen zu haben.«298 In diesen Sätzen wird der Glaube nicht erwähnt. Und nicht einmal in den Schulen wird, wenn sie sie auslegen, etwas vom Glauben hinzugefügt. Deshalb haben wir ihn zu den Teilen der Buße gezählt, damit die Lehre vom Glauben besser verstanden werden kann. Denn die Sache selbst zeigt, dass jene Worte, die Reue und gute Werke fordern, ohne den rechtfertigenden Glauben zu erwähnen, gefährlich sind. Und verdientermaßen kann man bei denen Klugheit vermissen, die jene Flickwerke von Sentenzen und Dekreten zusammengetragen haben. Denn weil die Väter anderswo vom anderen Teil der Buße sprechen, nicht nur über einen Teil, sondern über beide, d. h. über die Reue und den Glauben, wäre es sinnvoll gewesen, die Sätze zusammenzustellen und zu verbinden. Denn Tertullian spricht treffend über den Glauben und preist beim Propheten den Schwur: »So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.«299 Denn weil Gott schwört, dass er den Tod des Sünders nicht will, zeigt er, dass der Glaube gefordert wird: dass wir dem Schwörenden glauben und fest darauf vertrauen sollen, dass er uns verzeiht. Groß muss bei uns das Ansehen der göttlichen Verheißungen um ihrer selbst willen sein. Doch ist diese Ver-

297. Zitat im Decretum Gratiani II. c. 33 q. 3. De poenitentia d. 3. c. 1 (Friedberg, 1211) nach Ambrosius, Sermo XXV, 1 (PL 17, 677). 298. Zitat im Decretum Gratiani II. c. 33 q. 3. De poenitentia d. 3 c. 4 (Friedberg, 1211) nach Pseudo-Augustin, De vera et falsa poenitentia XIX, 35 (PL 40, 1129). 299. Ez 33,11.

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heißung auch durch einen Schwur bekräftigt. Wenn daher jemand nicht glaubt, ihm werde vergeben, dann leugnet er, dass Gott einen rechten Schwur geleistet hat: eine Gotteslästerung, wie sie schlimmer nicht zu denken ist. So nämlich sagt Tertullian: »Er lädt uns ein durch einen Lohn zum Heil; er schwört sogar. Indem er sagt: ›Ich lebe‹, will er, dass man ihm glaubt. O Glückliche, um derentwillen Gott einen Schwur leistet. O wir Elendesten, wenn wir dem schwörenden Herrn nicht glauben.«300 Und dazu muss man hier wissen, dass dieser Glaube glauben muss, dass uns Gott umsonst um Christi willen verzeiht, seiner Verheißung wegen, nicht wegen unserer Werke, der Reue, der Beichte, der Genugtuung oder der Liebe. Denn wenn der Glaube sich auf diese Werke gründet, wird er sofort ungewiss, weil das angstvolle Gewissen sieht, dass diese Werke unwürdig sind. Deshalb sagt Ambrosius sehr deutlich von der Buße: »Also kommt es uns zu, zu glauben, dass sowohl Buße getan als auch Gnade gewährt werden muss, damit wir Verzeihung gleichsam aus Glauben erhoffen, so wie der Glaube sie aus einer Handschrift erlangt.«301 Ebenso: »Es ist der Glaube, der unsere Sünden bedeckt.«302 Es gibt also bei den Vätern nicht nur Sprüche über die Reue und die Werke, sondern auch über den Glauben. Aber weil die Gegner weder das Wesen der Buße noch die Rede der Väter verstehen, greifen sie nur Worte über einen Teil der Buße heraus, nämlich über die Werke. Was anderswo vom Glauben gesagt wird, übergehen sie, weil sie es nicht verstehen.

Über die Beichte und die Genugtuung [108 Beichte vor Gott (= Reue) und vor den Menschen. Altkirchliche Bußpraxis] Tüchtige Männer können leicht beurteilen, wie sehr es darauf ankommt, dass im Blick auf die oben genannten Teile [der Buße], nämlich Reue und Glauben, die richtige Lehre bewahrt wird. Deshalb haben wir uns immer mehr darum bemüht, dies ans Licht zu bringen. Über die Beichte und die Genugtuungen haben wir nicht besonders 300. Tertullian († nach 220), De poenitentia IV (PL 1, 1234). 301. Ambrosius, De poenitentia adversus Novatianos II, 9 (PL 16, 538). 302. Ambrosius, Apologia prophetae David XIII, 63 (PL 14, 918).

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gestritten. Denn auch wir behalten die Beichte bei, vor allem wegen der Absolution, die das Wort Gottes ist, das den einzelnen Menschen kraft göttlicher Autorität die Schlüsselgewalt kundtut. Daher wäre es gottlos, die Einzelbeichte aus der Kirche zu entfernen. Wenn irgendwelche Leute die Einzelbeichte verwerfen, so verstehen sie weder, was die Vergebung der Sünden, noch auch, was die Schlüsselgewalt ist. Im Übrigen haben wir oben über die Aufzählung der Verfehlungen in der Beichte gesagt,303 dass wir urteilen, sie sei nach göttlichem Recht nicht notwendig. Denn was einige einwenden: ein Richter müsse den Fall kennen, bevor er sein Urteil fällt, trägt nichts zu dieser Sache bei, weil die Absolution die Ausführung einer fremden Wohltat ist; sie ist kein Urteilsspruch. Denn Christus hat das Gebot gegeben, Sünden zu vergeben; dieses Gebot führen die Diener aus. Sie haben kein Gebot, verborgene [Sünden] aufzuspüren. Das lässt sich daraus erkennen, dass sie zahllose Sünden vergeben, an die auch wir selbst, denen sie vergeben werden, uns nicht erinnern. Auch wäre, wenn die Vergebung von der Erkenntnis abhinge, die ganze Sache ungewiss. Im Übrigen gehört die Frage, welche Gerichtsgewalt die Kirche bei öffentlich bekannten Vergehen hat, nicht zur gegenwärtigen Debatte. Denn diese werden, weil sie bekannt sind, auch namentlich angeklagt und danach namentlich vergeben, wenn der Täter von der Kirche wieder aufgenommen werden will. Und es ist lächerlich, hier den Spruch Salomos anzuführen: »Achte sorgfältig auf das Aussehen deiner Schafe.«304 Denn Salomo sagt nichts über die Beichte, sondern überliefert eine Haushaltsregel für die Familienväter, das eigene Gut zu gebrauchen und sich von fremdem fernzuhalten, und veranlasst ihn, sich sorgfältig um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, dies aber so, dass das vom Wunsch nach Mehrung des Vermögens besessene Herz nicht die Gottesfurcht, den Glauben und das Achten auf Gottes Wort fahren lässt. Aber unsere Gegner formen durch eine wundersame Verwandlung Schriftworte zu beliebigen Bedeutungen um. Hier heißt »erkennen« für sie: Beichte hören, »Aussehen« meint nicht die äußere Erscheinung, sondern Geheimnisse des Gewissens; »Schafe« bezeichnen Menschen. Fürwahr, eine schöne Deutung ist das und derer würdig, die die Sprachstudien 303. Siehe oben Nr. 92. 304. Spr 27,23.

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verachten. Wollte aber [wirklich] jemand gleichnishaft die Weisung vom Familienoberhaupt auf den Gemeindehirten übertragen, so müsste gewiss »Aussehen« auf äußeres Verhalten hin gedeutet werden. Diese Analogie würde [dann] besser passen. Doch lassen wir das. Manchmal wird in den Psalmen von der Beichte gesprochen, etwa: »Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde.«305 Ein solches Bekenntnis der Sünde, das vor Gott geschieht, ist selbst die Reue. Denn wenn Gott gebeichtet wird, muss es im Herzen geschehen, nicht nur mit der Stimme, wie es Schauspieler auf der Bühne tun. Die Reue ist also eine solche Beichte, in der wir, wenn wir den Zorn Gottes spüren, bekennen, dass Gott mit Recht zürnt und nicht durch unsere Werke versöhnt werden kann; und dennoch suchen wir Barmherzigkeit um der Verheißung Gottes willen. Von solcher Art ist dieses Bekenntnis: »An dir allein habe ich gesündigt, auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.«306 Das heißt: Ich bekenne, dass ich ein Sünder bin und den ewigen Zorn verdient habe; auch kann ich meine Gerechtigkeiten und Verdienste nicht deinem Zorn entgegenhalten. Deshalb tue ich kund, dass du gerecht bist, wenn du uns verdammst und bestrafst. Ich bekenne, dass du Recht behältst, sooft die Heuchler über dich urteilen, du seist ungerecht, der du sie bestrafst oder mit gutem Recht verdammst. Fürwahr, unsere Verdienste können nicht deinem Richtspruch entgegengehalten werden. Sondern so werden wir gerechtfertigt werden: wenn du rechtfertigst, wenn du uns durch deine Barmherzigkeit für gerecht erklärst. – Vielleicht wird jemand auch Jakobus zitieren: »Bekennt einander eure Sünden.«307 Aber hier wird nicht von der Pflichtbeichte gegenüber den Priestern gesprochen, sondern allgemein von der Versöhnung der Brüder untereinander. Er will nämlich, dass die Beichte eine wechselseitige ist. Nun aber werden unsere Gegner viele höchst anerkannte Lehrer verdammen, wenn sie behaupten, die Aufzählung der Verfehlungen in der Beichte sei nach göttlichem Recht notwendig. Denn obwohl wir die Beichte bejahen und eine gewisse Prüfung für nützlich halten, 305. Ps 32,5. 306. Ps 51,6. 307. Jak 5,16.

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damit die Leute besser unterrichtet werden können, muss die Sache doch so maßvoll gehandhabt werden, dass den Gewissen keine Fesseln angelegt werden. Die Gewissen werden niemals ruhig sein, wenn sie annehmen müssen, sie könnten Sündenvergebung nur dann erlangen, wenn sie jene genaue Aufzählung geleistet hätten. Es ist mit Sicherheit völlig falsch, was die Gegner in der Konfutation behauptet haben: dass die vollständige Beichte zum Heil notwendig sei. Sie ist nämlich unmöglich. Und welche Stricke werfen sie hier dem Gewissen über, wenn sie die vollständige Beichte fordern! Denn wann soll das Gewissen feststellen, dass die Beichte vollständig ist? Bei den kirchlichen Schriftstellern wird die Beichte erwähnt. Aber sie sprechen nicht von dieser Aufzählung verborgener Verfehlungen, sondern vom Brauch der öffentlichen Buße. Denn weil die Gefallenen308 oder Ehrlosen nur aufgrund bestimmter Genugtuungen wieder aufgenommen wurden, deshalb legten sie vor den Priestern eine Beichte ab, damit ihnen, der Art ihrer Vergehen entsprechend, Genugtuungen auferlegt würden. Das alles hatte nichts mit der Aufzählung zu tun, von der wir hier sprechen. Jene Beichte geschah nicht deshalb, weil ohne sie die Sündenvergebung vor Gott nicht hätte erfolgen können, sondern deshalb, weil keine Genugtuungen auferlegt werden konnten, wenn nicht zuvor die Art des Vergehens bekannt war. Denn für andere Verfehlungen gab es andere Bestimmungen. [109 Altkirchlicher Sinn und illegitimer Gebrauch des Begriffs »Genugtuung«] Und von jenem Brauch der öffentlichen Buße her ist uns auch der Begriff »Genugtuung« erhalten geblieben. Denn die heiligen Väter wollten Gefallene oder Ehrlose nicht wieder aufnehmen, ohne zuvor ihre Buße erkannt und beurteilt zu haben, soweit dies möglich war. Und hierfür scheint es viele Gründe gegeben zu haben. Denn die Buße erstreckte sich zum Beispiel darauf, die Gefallenen zu prüfen, wie dies auch eine Glosse in den Dekreten erwähnt. Auch war es unschicklich, ehrlose Leute sofort [wieder] zum Abendmahl zuzulassen. Diese Gebräuche sind schon lange veraltet. Und man muss sie auch nicht wieder neu beleben, weil sie zur Vergebung der Sünden vor Gott nicht 308. In der Alten Kirche Bezeichnung für solche, die eine Todsünde (z. B. Verleugnung des Glaubens) begangen hatten.

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notwendig sind. Die Väter meinten auch nicht, dass die Menschen durch derartige Gebräuche oder Werke die Sündenvergebung verdienen. Dennoch pflegen solche Vorgänge unerfahrene Menschen leicht zu täuschen, so dass sie glauben, sie verdienten durch diese Werke die Sündenvergebung vor Gott. Doch wenn einer so denkt, urteilt er auf jüdische oder heidnische Weise. Denn auch die Heiden hatten bestimmte Formen der Sühne für Verfehlungen, durch die sie sich mit Gott zu versöhnen meinten. Heute aber ist von diesem alten Brauch noch das Wort »Genugtuung« geblieben und das Relikt, in der Beichte gewisse Genugtuungen aufzuerlegen, die sie als »ungeschuldete Werke« definieren. Wir bezeichnen sie als kirchenrechtlich vorgeschriebene Genugtuungen. Über sie denken wir so wie über die Aufzählung, dass die kirchenrechtlich vorgeschriebenen Genugtuungen nicht nach göttlichem Recht zur Sündenvergebung notwendig sind. So wie auch jene alten Veranstaltungen von Genugtuungen bei der öffentlichen Buße nicht nach göttlichem Recht zur Sündenvergebung notwendig waren. Es muss nämlich der Glaubenssatz bestehen bleiben, dass wir durch den Glauben Sündenvergebung erlangen um Christi willen, nicht wegen unserer vorausgehenden oder nachfolgenden Werke. Und wir haben deshalb besonders über die Genugtuungen gesprochen, damit man sie nicht zur Verdunkelung der Glaubensgerechtigkeit betreibt und die Leute nicht meinen, dass sie um dieser Werke willen die Sündenvergebung erlangen. Und viele Sprüche, die in den Schulen verbreitet werden, stützen diesen Irrtum. Von dieser Art ist das, was sie bei der Definition der Genugtuung anführen, »dass die Genugtuung zur Besänftigung des göttlichen Zornes geleistet werde«309. Aber dennoch gestehen die Gegner, dass Genugtuungen nicht zur Vergebung der Schuld beitragen. Doch geben sie vor, dass sie zur Ablösung der Strafen, sei es des Fegfeuers, sei es anderer, nützen. So nämlich lehren sie: Gott erlasse bei der Vergebung der Sünde die Schuld; dennoch werde, weil es der göttlichen Gerechtigkeit zukommt, die Sünde zu strafen, die ewige in eine zeitliche Strafe umgewandelt. Weiter fügen sie hinzu, ein Teil jener zeitlichen Strafe werde durch die Schlüsselgewalt vergeben, das Übrige aber durch die Genugtuun309. Gabriel Biel († 1495), Collectorium sive epitome in magistri sententiarum IV, dist. 16, q. 2, art. 1.

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gen abgelöst. Doch ist nicht zu erkennen, welcher Teil der Strafen durch die Schlüsselgewalt erlassen wird, außer dass sie sagen, es werde ein Teil der Fegfeuerstrafen erlassen. Hieraus würde sich ergeben, dass Genugtuungen nur die Strafen sind, die das Fegfeuer ablösen. Und sie behaupten, diese Genugtuungen würden auch dann gelten, wenn sie von solchen, die in eine Todsünde gefallen sind, erbracht werden. Als ob der göttliche Zorn von denen besänftigt werden könnte, die sich im Zustand der Todsünde befinden! Das alles ist frei erfunden, es ist erst neuerdings ausgeheckt worden ohne die Autorität der Schrift und der alten kirchlichen Schriftsteller. Und nicht einmal der Lombarde310 spricht in dieser Weise über die Genugtuungen. Die Scholastiker haben gesehen, dass es in der Kirche Genugtuungen gibt. Sie haben aber nicht bemerkt, dass diese Veranstaltungen teils des Beispiels wegen, teils zur Prüfung derer, die wieder von der Kirche aufgenommen zu werden baten, eingeführt worden sind. Insgesamt gilt: Sie haben nicht gesehen, dass es sich um eine äußere Ordnung und eine ganz politische [weltliche] Sache handelt. Deshalb haben sie sich abergläubisch eingebildet, Genugtuungen dienten nicht zur Kirchenzucht, sondern zur Versöhnung Gottes. Und wie sie auch sonst oftmals Geistliches und Politisches unangemessen vermischt haben, so ist dasselbe auch bei den Genugtuungen geschehen. Doch bezeugt an einigen Stellen die Glosse311 des kanonischen Rechts, dass diese Auflagen um der Kirchenzucht willen eingeführt wurden. [110 Haarsträubender Schriftbeweis der Konfutation zugunsten von Genugtuungen] Seht aber, wie sie in der Konfutation, die sie der Kaiserlichen Majestät aufzudrängen gewagt haben, diese ihre Erfindungen beweisen. Sie führen viele Worte aus der Schrift an, um den Unkundigen vorzumachen, diese Sache, die selbst zur Zeit des Lombarden noch unbekannt war, habe eine Autorität der Schrift für sich. Sie führen diese Worte

310. Petrus Lombardus († 1160), theologische Autorität aufgrund seiner Sammlung von Kirchenvätersentenzen. 311. Glossa ordinaria, ein Kommentarwerk des 13. Jahrhunderts zum Decretum Gratiani.

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an: »Bringt rechtschaffene Frucht der Buße!«312; ferner: »Gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit!«.313 Ferner, Christus predigt die Buße: »Tut Buße!«.314 Ferner, Christus heißt die Apostel, Buße zu predigen315; auch Petrus predigt die Buße.316 Danach zitieren sie bestimmte Worte der Väter und des Kirchenrechts und ziehen daraus mit folgenden Worten den Schluss: »Die Genugtuungen in der Kirche dürfen nicht gegen den Wortlaut des Evangeliums und die Dekrete der Konzilien und Väter abgeschafft werden. Vielmehr müssen diejenigen, die die Absolution empfangen haben, die ihnen vom Priester auferlegte Buße leisten, indem sie dem Wort des Paulus folgen: ›Er hat sich selbst für uns gegeben, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken‹317.«318 Gott verderbe diese gottlosen Sophisten, die das Wort Gottes so frevelhaft auf ihre eitlen Träume hin verdrehen! Welchen guten Mann empört nicht solche Niederträchtigkeit! Christus spricht: »Tut Buße!«; die Apostel predigen Buße: Also werden die ewigen Strafen durch unsere Genugtuungen abgegolten; also haben die Schlüssel den Auftrag, einen Teil der Fegfeuerstrafen zu erlassen; also kaufen Genugtuungen von den Fegfeuerstrafen los. – Wer hat diese Esel solche Logik gelehrt? Doch ist das weder Logik noch Sophistik, sondern Betrügerei! Das Wort »Tut Buße!« führen sie deshalb an, damit Unkundige, wenn sie ein solches gegen uns zitiertes Wort hören, den Eindruck gewinnen, wir schafften die ganze Buße ab. Durch solche Kunstgriffe versuchen sie, [uns] die Herzen zu entfremden und Hass zu wecken, damit Unkundige gegen uns ein Geschrei erheben, man solle so verruchte Ketzer, die die Buße verwerfen, aus der Gemeinschaft ausstoßen.

312. 313. 314. 315. 316. 317. 318.

Mt 3,8. Röm 6,19. Mk 1,15. Lk 24,47. Apg 2,38. Tit 2,14. Confutatio XII (Corpus Catholicorum 33, 109,19–111,3).

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[111 Dringender Appell an Campeggio, die Klärung entscheidender Fragen nicht weiterhin zu unterdrücken] Aber wir hoffen, dass diese Verdrehungen bei trefflichen Männern nichts ausrichten werden. Auch wird Gott solche Schamlosigkeit und Bosheit nicht lange dulden. Und der römische Bischof hat für sein Ansehen nur schlecht gesorgt, dass er solche Leute als Verteidiger heranzieht [und] eine so hochbedeutsame Angelegenheit dem Urteil dieser Sophisten überlässt. Denn da wir im Bekenntnis beinahe die gesamte christliche Lehre zusammengefasst haben, hätte man solche Richter über so große, zahlreiche und unterschiedliche Fragen heranziehen müssen, deren Lehre und Glauben von tüchtigen Männern anerkannt würde […]. Und du, Campeggio,319 hättest deiner Weisheit gemäß dafür sorgen sollen, dass diese Leute in so wichtigen Fragen nichts schreiben, was entweder jetzt oder bei Späteren als etwas offenbar wird, das dem Ansehen des Römischen Stuhles schadet. Wenn der Römische Stuhl es für richtig hält, dass ihn alle Völker als Lehrer des Glaubens anerkennen, muss er Sorge dafür tragen, dass gelehrte und untadelige Männer über die Glaubensfragen befinden. Denn zu welchem Urteil wird die Welt gelangen, wenn die Schrift der Gegner irgendwann einmal ans Licht gebracht wird?320 Was wird die Nachwelt über diese verleumderischen Urteile denken? – Du siehst, Campeggio, dies sind die letzten Zeiten, von denen Christus vorhergesagt hat, sie würden sehr viel Gefahr für die Religion bringen. Da hättet ihr, die ihr gleichsam auf höherer Warte sitzt und die Religionssachen lenken müsst, zu diesen Zeiten sowohl besondere Klugheit als auch Sorgfalt walten lassen müssen. Es gibt viele Anzeichen, die, wenn ihr nicht achtgebt, einen Umsturz der römischen Machtstellung androhen. Und du irrst, wenn du glaubst, die Kirchen allein durch Gewalt und Waffen halten zu können. Die Menschen fordern Unterrichtung über die Religion. Wie viele Menschen, meinst du, gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, Spanien, Frankreich, Italien und schließlich in der Stadt Rom selbst, die, weil sie sehen, dass

319. Lorenzo Campeggio (1474–1539), päpstlicher Legat auf dem Augsburger Reichstag. 320. Trotz des Spottes der Evangelischen und des Drängens engagierter Altgläubiger wurde die Konfutation auch in der Folgezeit geheim gehalten. Sie wurde erst 1559 gedruckt.

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über die größten Dinge Streit entstanden ist, irgendwo zu zweifeln beginnen und schweigend unwillig sind, weil ihr euch sträubt, diese ganz wichtigen Dinge angemessen zu prüfen und zu beurteilen; weil ihr nicht den zweifelnden Gewissen Klarheit bringt und [stattdessen] nur fordert, dass wir durch Waffen unterdrückt und vernichtet werden. Es gibt aber viele treffliche Männer, für die dieser Zweifel bitterer ist als der Tod, die lieber den Tod und alle Arten von Strafen ertrügen als diesen Zweifel. Auch machst du dir nicht genügend klar, welch große Sache die Religion ist, wenn du es leichtnimmst, dass sich gute Leute ängstigen, wenn sie an irgendeinem Lehrsatz zu zweifeln beginnen. Und dieser Zweifel muss zu größter Bitterkeit des Hasses führen gegen diejenigen, die, obwohl sie den Gewissen helfen sollten, sich dem widersetzen, dass die Sache geklärt werden kann. Wir reden hier nicht von Gottes Gericht, vor dem ihr euch fürchten müsstet. Denn das meinen die Päpste leichtnehmen zu können, da sie selbst über die Schlüssel verfügen, sich also [selbst], wenn sie wollen, den Himmel öffnen können. Von den Urteilen der Menschen sprechen wir hier und vom schweigenden Willen aller Völker, die jetzt in der Tat verlangen, dass diese Dinge so geprüft und zurechtgebracht werden, dass die guten Herzen geheilt und vom Zweifel befreit werden. Denn was geschehen wird, wenn jener Hass gegen euch irgendwann einmal zum Ausbruch kommen wird, kannst du in deiner Weisheit leicht ermessen. Durch diese Wohltat aber, die alle vernünftigen Menschen für die höchste und größte halten, könntet ihr alle Völker für euch gewinnen: wenn ihr die zweifelnden Gewissen heilen würdet. Das haben wir nicht deshalb gesagt, weil wir selbst an unserem Bekenntnis zweifeln würden. Wir wissen nämlich, dass es wahr, gottesfürchtig und für fromme Gewissen nutzbringend ist. Aber es ist glaubhaft, dass es weit und breit viele Leute gibt, die in wichtigen Fragen schwanken und doch keine geeigneten Lehrer hören, die ihren Gewissen helfen könnten. [112 Absurde Konsequenzen der Umdeutung biblischer Bußworte auf Genugtuungen] Doch wollen wir wieder zum Thema zurückkehren. Die von den Gegnern zitierten Schriftstellen sagen gar nichts über die kirchenrechtlich vorgeschriebenen Genugtuungen und die Meinungen der

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Scholastiker, da diese bekanntlich erst in jüngster Zeit aufgekommen sind.321 Daher ist es reiner Betrug, weil sie die Schrift auf ihre eigenen Meinungen hin verdrehen. Wir sagen: Der Buße, d. h. der Bekehrung oder Erneuerung, müssen das ganze Leben hindurch gute Früchte, gute Werke folgen. Und es kann sich nicht um wahre Bekehrung oder wahre Reue handeln, wenn nicht Tötungen des Fleisches und gute Früchte folgen. Wahre Schrecken, wahre Schmerzen der Seele lassen es nicht zu, dass sich der Leib den Begierden hingibt, und wahrer Glaube ist weder undankbar Gott gegenüber, noch verachtet er Gottes Gebote. Schließlich: Es liegt keine innerliche Buße vor, wenn sie nicht auch nach außen Züchtigungen des Fleisches hervorbringt. Und dies, so sagen wir, ist die Meinung Johannes [des Täufers], wenn er ruft: »Bringt rechtschaffene Frucht der Buße.«322 Ebenso des Paulus, wenn er sagt: »Gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit«323, wie er auch andernorts sagt: »Bringt eure Leiber dar als ein lebendiges, heiliges Opfer«324 usw. Und wenn Christus spricht: »Tut Buße!«325, redet er mit Sicherheit von der ganzen Buße, der völligen Neuheit des Lebens und den Früchten. Er spricht nicht von jenen heuchlerischen Genugtuungen, von denen die Scholastiker behaupten, dass sie auch dann zur Abgeltung der Fegfeuerstrafe oder anderer Strafen taugen, wenn sie von solchen erbracht werden, die sich im Stande der Todsünde befinden. Noch viele Argumente lassen sich beibringen, dass diese Schriftworte sich keineswegs auf die scholastischen Genugtuungen beziehen. [1] Die Gegner behaupten, Genugtuungen seien ungeschuldete Werke, die Schrift aber fordert mit diesen Worten »geschuldete Werke«. Denn dieses Christuswort, »Tut Buße!«, ist ein Wort des Gebotes. [2] Ferner: Die Gegner schreiben, ein Beichtender sündige nicht, wenn er sich weigere, Genugtuungen auf sich zu nehmen, sondern werde diese Strafen im Fegfeuer abbüßen müssen. Doch sind diese Worte unstrittig Gebote, die sich auf dieses Leben beziehen: »Tut Buße!«, »Bringt

321. 322. 323. 324. 325.

Vgl. oben Nr. 109. Mt 3,8. Röm 6,19. Röm 12,1. Mt 4,17.

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Früchte, die des ewigen Lebens würdig sind!«, »Bringt eure Glieder dar, um der Gerechtigkeit zu dienen!«. Deshalb können sie nicht auf Genugtuungen hin verdreht werden, die man verweigern darf. Denn es ist nicht erlaubt, Gebote Gottes zu verweigern. [3] Drittens: Die Ablässe erlassen jene Genugtuungen, wie das Kapitel »Über Buße und Vergebung« [der Dekretalen] lehrt. Aber Ablässe entbinden uns nicht von jenen Geboten (»Tut Buße«, »Bringt Früchte, die der Rechtfertigung würdig sind«). Daher ist offenkundig, dass jene Schriftworte auf die kirchenrechtlichen Genugtuungen hin übel verdreht werden. Seht, was noch weiter folgt: Wenn die Fegfeuerstrafen »Genug-Tuungen« oder »GenugLeiden« sind oder wenn Genugtuungen die Abgeltung der Fegfeuerstrafen sind – gebieten diese [Schrift-]Worte dann etwa auch, dass die Seelen im Fegfeuer gezüchtigt werden? Da dies notwendig aus den Meinungen der Gegner folgt, werden diese Worte auf ganz neue Art zu deuten sein: »Bringt Früchte, die der Buße würdig sind«, »Tut Buße« heißt dann: »Ertragt die Fegfeuerstrafen nach diesem Leben!« – Aber es verdrießt einen, diese Albernheiten der Gegner mit noch mehr Worten zurückzuweisen. Denn es steht fest, dass die Schrift von geschuldeten Werken spricht, von der völligen Neuheit des Lebens, nicht von diesen Auflagen ungeschuldeter Werke, von denen die Gegner reden. Und dennoch verteidigen sie mit diesen Erfindungen die [Mönchs-]Orden, den Verkauf von Messen und endlose Auflagen, weil sie nämlich Werke sein sollen, die, wenn auch nicht für die Schuld, so doch für die Strafe Genugtuung leisten. [113 Haltlose Behauptungen über das Auferlegen oder Umwandeln von Strafen durch die Schlüsselgewalt] Obwohl also die zitierten Schriftworte nicht besagen, dass ewige Strafen durch ungeschuldete Werke auszugleichen sind, behaupten die Gegner blindlings, dass jene Strafen durch kirchenrechtliche Genugtuungen abgegolten würden. Ferner: Da es völlig gewiss ist, dass die Vergebung der Sünden geschenkweise erfolgt (umsonst um Christi willen geschenkt wird), so folgt daraus, dass keine Genugtuungen gefordert werden. Auch enthält das Evangelium das Gebot, die Sünden umsonst zu vergeben, nicht Strafen und neue Gesetze aufzuerlegen oder einen Teil der Strafen aufzuerlegen, nachdem ein Teil erlassen wurde […]. Wo liest man das denn in der Schrift? Christus spricht von der Ver-

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gebung der Sünde, wenn er sagt: »Alles, was du lösen wirst«326 usw. Durch diese Vergebung ist der ewige Tod aufgehoben und das ewige Leben geschenkt worden. Auch spricht er hier nicht von aufzuerlegenden Strafen: »Was du binden wirst«, sondern vom Behalten der Sünden derer, die sich nicht bekehren. Das Wort des Lombarden vom teilweisen Erlass der Strafen bezieht sich auf kirchliche Strafbestimmungen. Einen Teil davon erließen die Pfarrer. Obgleich wir also glauben, dass die Buße um der Ehre und des Gebotes Gottes willen gute Früchte hervorbringen muss, und wir ebenso glauben, dass die guten Früchte (»wahres Fasten«, »wahre Gebete«, »wahre Almosen« usw.) Gottes Gebote haben, so finden wir doch nirgends in der Heiligen Schrift, dass ewige Strafen nur wegen der Fegfeuerstrafe oder kirchenrechtlicher Genugtuungen erlassen werden, d. h. wegen irgendwelcher nicht geschuldeter Werke, oder dass die Schlüsselgewalt den Auftrag hätte, Strafen umzuwandeln oder einen Teil davon zu erlassen. Dies hätten die Gegner beweisen müssen. [114 Gegen Schuld, ewigen Tod oder Fegfeuerstrafen richten Genugtuungswerke nichts aus] Außerdem ist der Tod Christi nicht nur eine Genugtuung für die Schuld, sondern auch eine für den ewigen Tod, nach jenem Wort: »Ich werde dein Tod sein, Tod.«327 Was für eine Ungeheuerlichkeit also ist es zu sagen, die Genugtuung Christi gelte die Schuld ab, unsere Strafen [aber] den ewigen Tod. [Dies würde bedeuten,] dass schon jenes Wort »Ich werde dein Tod sein« nicht von Christus, sondern von unseren Werken zu verstehen wäre, und dann nicht einmal den von Gott gebotenen Werken, sondern irgendwelchen von Menschen ersonnenen kalten Verpflichtungen. Und die sollen den Tod tilgen, auch wenn sie im Zustand der Todsünde geschehen! Es ist nicht zu sagen, mit welchem Schmerz wir diese Torheiten der Gegner zitieren. Wer sie bedenkt, muss in Zorn geraten über diese Dämonenlehren, die der Teufel in der Kirche verbreitet hat, um die Erkenntnis des Gesetzes und des Evangeliums, der Buße, der Lebendigmachung und der Wohltaten Christi zu unterdrücken. Denn vom Gesetz behaupten sie: Gott, der sich in unsere Niedrigkeit herabbegeben hat, habe dem 326. Mt 16,19. 327. Hos 13,14.

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Menschen ein Maß dessen gesetzt, wozu er notwendig verpflichtet ist (gemeint ist die Einhaltung der Gebote), um vom Übrigen (d. h. von den überzähligen guten Werken) für Verschuldetes Genüge leisten zu können. Hier stellen sie sich vor, die Menschen könnten das Gesetz so erfüllen, dass wir sogar mehr, als es fordert, tun könnten. Aber die Schrift ruft überall mit lauter Stimme, dass wir weit entfernt sind von jener Vollkommenheit, die das Gesetz verlangt. Sie aber behaupten, das Gesetz Gottes gebe sich mit der äußerlichen und weltlichen Gerechtigkeit zufrieden, und sehen nicht, dass es die wahre Liebe zu Gott aus ganzem Herzen usw. verlangt und die ganze Begehrlichkeit in der Natur verdammt. Deshalb tut niemand so viel, wie das Gesetz verlangt. Also ist es lächerlich, dass sie behaupten, wir könnten mehr tun. Obwohl wir nämlich äußere Werke tun können, die nicht durch Gottes Gesetz geboten sind, ist doch jenes Vertrauen, dem Gesetz Gottes geschehe Genüge, eitel und gottlos. Auch wahre Gebete, wahre Almosen, wahres Fasten sind von Gott geboten, und wenn sie es sind, können sie nicht ohne Sünde unterlassen werden. Soweit aber jene Werke nicht durch Gottes Gesetz geboten sind, sondern eine bestimmte Form aufgrund menschlicher Vorschrift haben, sind es Werke menschlicher Überlieferungen, über die Christus sagt: »Vergeblich dienen sie mir mit Menschengeboten«,328 wie bestimmte Fasten, die nicht zur Bändigung des Fleisches eingeführt wurden, sondern um durch dieses Werk Gott Ehre zu erweisen, wie Scotus329 sagt, und den ewigen Tod abzugelten. Ebenso sollen eine bestimmte Zahl von Gebeten, eine bestimmte Art von Almosen, wenn sie so geschehen, dass diese Form durch den bloßen Vollzug ein Gottesdienst ist, Gott Ehre erweisen und den ewigen Tod abgelten. Sie schreiben diesen nämlich durch den bloßen Vollzug die Genugtuung zu, denn sie lehren, dass sie auch bei denen wirksam sind, die sich im Zustand der Todsünde befinden. Noch weiter von diesen Geboten Gottes weichen die Pilgerfahrten ab, die es in großer Vielfalt gibt: Der eine macht den Weg gepanzert, der andere auf bloßen Füßen. Solche Dinge bezeichnet Christus als unnütze Gottesdienste, weshalb sie nicht dazu taugen, Gottes Zorn zu versöhnen, wie die Gegner behaup328. Mt 15,9. 329. Duns Scotus († 1308), In sententiis IV, dist. 15, q. 1, art. 5.

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ten. Und doch schmückt man diese Werke mit großartigen Titeln: Man nennt sie »überzählige Werke«, legt ihnen den Ruhm bei, ein Lösegeld für den ewigen Tod zu sein. So zieht man sie den Werken der Gebote Gottes vor. Auf diese Weise wird Gottes Gesetz zweifach verdunkelt: einmal, weil man meint, dem Gesetz Gottes sei durch äußere und weltliche Werke Genüge getan, zum anderen, weil menschliche Traditionen hinzugefügt werden, deren Werke denen des göttlichen Gesetzes vorgezogen werden. Schließlich werden die Buße und die Gnade verdunkelt. Denn der ewige Tod wird durch jenen Ausgleich der Werke nicht abgegolten, denn er ist müßig und bekommt den Tod in der Gegenwart nicht einmal zu kosten. Etwas anderes muss man dem Tod entgegenhalten, wenn er uns anficht. Denn so, wie Gottes Zorn durch den Glauben an Christus überwunden wird, so wird auch der Tod durch den Glauben an Christus besiegt. Wie Paulus sagt: »Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!«;330 er sagt nicht: »Der uns den Sieg schenkt, wenn wir dem Tod unsere Genugtuungen entgegenhalten.« Die Gegner stellen müßige Spekulationen über die Vergebung der Schuld an, sie sehen aber nicht, wie das Herz bei der Vergebung der Schuld vom Zorn Gottes und vom ewigen Tod befreit wird. Wenn also der Tod Christi die Genugtuung für den ewigen Tod ist, und wenn die Gegner selbst bekennen, jene Genugtuungswerke seien nicht geschuldete Werke, sondern Werke menschlicher Überlieferungen, von denen Christus sagt, dass sie nutzlose Kulte sind: [Dann] können wir mit Sicherheit behaupten, dass kirchenrechtliche Genugtuungen nach göttlichem Recht weder zur Vergebung der Schuld noch zu der der ewigen Strafe oder der Fegfeuerstrafen notwendig sind. [115 Die wahre Bestrafung für Sünde ist die Reue] Doch werfen die Gegner ein, dass die Vergeltung oder Strafe notwendig zur Buße gehöre, weil Augustin sagt: »Die Buße ist eine strafende Rache« usw.331 So wie die Gegner auch sonst, sooft Werke geboten werden, diese als Genugtuungen und Versöhnungsleistungen deuten, so verdrehen sie sie auch hier, weil eine Strafe erwähnt wird, zur Genug330. 1 Kor 15,57. 331. Pseudo-Augustin, De vera et falsa poenitentia XIX, 35 (PL 40, 1129).

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tuung. Augustin hat [jedoch] nicht gemeint, der Schmerz bei der Buße sei eine Bezahlung, für die die Vergebung der Sünden geschuldet werde. Denn er wusste, dass die Sünden um Christi willen umsonst vergeben werden. Er wusste, dass Christi Tod das Opfer für unsere Sünden ist. Alles, was von Vergeltung, von Strafen gesagt wird, muss daher immer so aufgefasst werden, dass es nicht die geschenkweise Vergebung der Sünden verdrängt, nicht das Verdienst Christi verdunkelt und die Menschen vom Vertrauen auf Christus fort und zum Vertrauen auf die Werke führt. Im Übrigen räumen wir ein, dass es eine Vergeltung bei der Buße gibt, [doch] nicht als Bezahlung, sondern Vergeltung liegt wesensgemäß in der Buße, weil die Wiedergeburt selbst durch eine fortwährende Tötung unseres alten Wesens vonstattengeht. Es sind die Schrecken, es sind auch andere Regungen, die der Sünde zürnen; aber ihnen wird nicht die Vergebung geschuldet. Im Gegenteil: Wenn der Glaube nicht hinzukäme, würden diese Schmerzen den ewigen Tod bringen. Recht hübsch ist von Duns Scotus gesagt worden: »Die Buße ist eine Bewahrerin der Strafe«332 – sofern die Strafe [dabei] nur nicht als eine Bezahlung aufgefasst wird, für die die Vergebung geschuldet wird. Auch Augustin spricht nicht von den Strafen, die die Schlüssel erlassen, weshalb dieses Wort zu Unrecht auf Genugtuungen bezogen wird. Er spricht von den echten Strafen, d. h. den Schrecken und wahren Schmerzen der Seele, die es in der Buße gibt. Doch schließen wir auch die äußere Qual des Fleisches nicht aus; sie folgt nämlich noch obendrein den wahren Schmerzen der Seele. Doch irren die Gegner gründlich, wenn sie die kirchenrechtlichen Genugtuungen für eine schlimmere Strafe halten als die wahren Schrecken im Herzen. Es ist sehr töricht, den Begriff »Strafe« für diese kalten Genugtuungen zu verwenden und ihn nicht auf jene furchtbaren Schrecken des Gewissens zu beziehen, von denen David sagt: »Es umfingen mich Todesschmerzen.«333 Wer wollte nicht lieber gepanzert und gerüstet die Kirche des Jakobus,334 den Petersdom335 usw. aufsuchen, als jene unaussprechli332. Duns Scotus, In sententiis IV, dist. 4, q. 1, art. 3, 2: Lateinisches Wortspiel »poenitentia« = »poenae tenentia«. 333. Ps 18,5. 334. St. Jakob von Compostella, der Sage nach Ort des Martyriums des Zebedaiden Jakobus, im Mittelalter das beliebteste Wallfahrtsziel Europas. 335. St. Peter in Rom, nach alter Überlieferung der Begräbnisort des Apostels Petrus.

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che Gewalt des Schmerzes zu ertragen, die man auch in alltäglichen Situationen empfindet, wenn es sich um die wahre Buße handelt? [116 Erlösung durch Christus allein. Art und Ziel erfahrbaren göttlichen »Strafens« der Sünde] Doch sagen sie: »Es entspricht der Gerechtigkeit Gottes, die Sünde zu bestrafen.« Erstens: Dadurch, dass sie behaupten, es gehöre sich, die Sünde zu bestrafen, zeigen sie hinlänglich, dass sie die Wohltat Christi verachten. Denn Gott hat ein Lösegeld für unsere Sünden festgesetzt: nicht unsere Strafen, nicht unsere Genugtuungen, sondern den Tod seines Sohnes. Welche Torheit ist es doch, unsere Genugtuungen der Genugtuung Christi vorzuziehen! Ferner: Wie sehr Gott auch strafen mag – man muss doch glauben, dass die Sündenvergebung nicht jener Strafe geschuldet wird, sowohl damit der Wohltat Christi kein Unrecht geschieht, als auch weil das Gewissen keinen Frieden finden kann, wenn die Vergebung nicht umsonst geschieht. Schließlich, wie sehr Gott auch strafen mag, so haben jene Strafen doch nichts mit den Schlüsseln zu tun. Diese haben weder das Gebot, jene Strafen (die Werke Gottes sind) aufzuerlegen, noch auch, sie zu vergeben. Im Übrigen räumen wir ein, dass Gott Sünden bestraft. Erstens in der Reue, wenn er in jenen Schrecken seinen Zorn offenbart, wie David zeigt, wenn er betet: »Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn«;336 und Jeremia: »Züchtige mich, Herr, doch mit Maßen und nicht in deinem Grimm, auf dass du mich nicht ganz zunichtemachst.«337 Hier spricht er in der Tat von den schärfsten Strafen. Auch die Gegner gestehen, dass die Reue so groß sein kann, dass keine Genugtuung [mehr] gefordert wird. Wahrhaftiger also ist die Reue eine Strafe, als es kirchlich verordnete Genugtuungen sind. Zweitens sind die Heiligen dem Tod und anderen alle betreffenden Anfechtungen ausgesetzt, wie Petrus schreibt: »Die Zeit ist da, dass das Gericht anfängt an dem Hause Gottes.«338 Wenn aber zuerst bei uns – wie wird [dann erst] das Ende derer sein, die nicht glauben? Und obwohl diese Anfechtungen meistens Strafen für die Sünden sind, so haben sie doch bei den Frommen einen anderen Zweck. Sie werden nämlich zur 336. Ps 6,2. 337. Jer 10,24. 338. 1 Petr 4,17.

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Tötung der gegenwärtigen Sünde auferlegt, weil sie in den Heiligen die Begierde auslöschen und töten. Denn der Tod verbleibt deshalb bei den Heiligen, um diese unreine Natur auszutilgen. Daher sagt Paulus: »Der Leib ist tot um der Sünde willen«339, d. h., er wird getötet wegen der gegenwärtigen Sünde, die bis jetzt noch im Fleische geblieben ist. Das Kreuz ist also keine Strafe, sondern eine Übung und eine Vorbereitung auf die Erneuerung. Denn wenn die gegenwärtige Sünde getötet wird und wir unter Anfechtungen lernen, die Hilfe Gottes zu suchen, dann erfahren wir auch die Gegenwart Gottes, erkennen mehr und mehr den Unglauben unserer Herzen und richten uns durch den Glauben auf. So wächst die Neuheit des Geistes, wie Paulus sagt: »Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.«340 Ebenso sagt Jesaja: »Die Bedrängnis, in der sie schreien, ist deine Züchtigung für sie.«341 Außerdem ist der Tod dann wirklich eine Strafe, wenn das erschrockene Herz den Zorn Gottes spürt, nach jenem Wort: »Der Stachel des Todes aber ist die Sünde.«342 Doch nachdem in den Heiligen durch den Glauben die Schrecken der Sünde überwunden sind, ist der Tod ohne jenes Gefühl des Zornes Gottes eigentlich keine Strafe [mehr]. Im Übrigen können die Schlüssel diese Strafen weder auferlegen noch erlassen. Daher haben Genugtuungen nichts mit diesen Strafen zu tun. Denn die Schlüssel erlassen weder den Tod noch einen Teil der gewöhnlichen Anfechtungen. Wenn sie aber schon diese Strafen durch Genugtuungen ausgleichen wollen, weshalb lassen sie dann noch im Fegfeuer Genugtuung leisten? [117 Biblische Beispiele: Anfechtungen müssen nicht »Strafen« sein] Sie halten uns [das Beispiel] von Adam vor, von David, der wegen des Ehebruchs bestraft wurde. Aus diesen Beispielen leiten sie die allgemeine Regel ab, dass den einzelnen Sünden besondere zeitliche Strafen entsprechen, die durch die Schlüsselgewalt aufzuerlegen sind. Oben wurde gesagt: Die Heiligen ertragen die Strafen, die Werke Gottes sind; sie ertragen Reue oder Schrecken, ertragen auch andere gewöhnliche Anfechtungen. So ertragen einige des Beispiels wegen besondere 339. 340. 341. 342.

Röm 8,10. 2 Kor 4,16. Jes 26,16. 1 Kor 15,56.

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von Gott auferlegte Strafen. Und diese Strafen haben nichts mit den Schlüsseln zu tun, denn die Schlüssel können sie weder auferlegen noch erlassen, sondern Gott ist es, der sie ohne das Schlüsselamt auferlegt und erlässt. Daraus folgt aber nicht die allgemeine Regel: »David wurde eine besondere Strafe auferlegt; folglich gibt es außer den gewöhnlichen Anfechtungen eine andere Strafe des Fegfeuers, bei der den einzelnen Sünden einzelne Stufen [der Strafe] entsprechen.« Wo lehrt die Schrift dies, dass wir nur durch jenen Ausgleich bestimmter Strafen (abgesehen von den allgemeinen Anfechtungen) vom ewigen Tod erlöst werden können? Im Gegenteil aber lehrt sie sehr oft, dass die Vergebung der Sünden umsonst um Christi willen geschieht, dass Christus der Bezwinger der Sünde und des Todes ist! Deshalb darf man hier kein Verdienst der Genugtuung anflicken. Und obwohl Anfechtungen bleiben, deutet die Schrift sie doch so, dass sie Tötungen der gegenwärtigen Sünde sind, nicht Ausgleichsleistungen für den ewigen Tod oder Lösegelder für den ewigen Tod. Hiob wird entschuldigt: Nicht wegen vergangener Übeltaten sei er angefochten worden.343 Daher sind Anfechtungen nicht immer Strafen oder Zeichen des Zornes. Vielmehr müssen ängstliche Gewissen darüber belehrt werden, dass es andere, wichtigere Gründe für Anfechtungen gibt, damit sie nicht meinen, sie würden von Gott verworfen, wenn sie in den Anfechtungen nur Strafe und Gottes Zorn erblicken. Andere, wichtigere Gründe sind [hier] zu bedenken: dass Gott ein fremdes Werk tut, um sein [eigentliches] Werk tun zu können usw., wie in einer langen Predigt Jesaja Kapitel 28 lehrt.344 Und als die Jünger Joh 9 hinsichtlich des Blinden fragen, wer gesündigt habe, antwortet Christus, der Grund der Blindheit sei nicht Sünde, sondern »dass die Werke Gottes an ihm offenbart würden«.345 Und bei Jeremia heißt es: »Denen nicht das Urteil galt, die müssen [den Kelch] trinken.«346 Wie auch die Propheten getötet wurden, Johannes der Täufer und andere Heilige. Deshalb sind Anfechtungen nicht immer Strafen für bestimmte vergangene Taten, sondern sie sind Werke Got343. 344. 345. 346.

Ijob 2,3.10. Jes 28,21. Joh 9,2f. Jer 49,12.

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tes, bestimmt zu unserem Nutzen und damit Gottes Kraft in unserer Schwachheit deutlicher sichtbar wird. So sagt Paulus: »Gottes Kraft wird in meiner Schwachheit vollendet.«347 Deshalb sollen unsere Leiber nach Gottes Willen Opfer sein, damit unser Gehorsam gezeigt werde, nicht damit der ewige Tod abgegolten wird, für den Gott ein anderes Lösegeld hat, nämlich den Tod seines Sohnes. Und in diesem Sinne deutet auch Gregor348 die Strafe Davids, wenn er sagt: »Wenn Gott [ihm] um jener Sünde willen gedroht hätte, ihn so durch seinen Sohn zu demütigen, warum hat er dann das, was ihm angedroht war, nach der Vergebung der Sünde geschehen lassen? Es ist zu antworten: Jene Vergebung der Sünde ist erfolgt, damit der Mensch nicht gehindert werde, das ewige Leben zu empfangen. Jene im Beispiel angedrohte Bestrafung ist aber deshalb erfolgt, damit auch in jener Erniedrigung die Frömmigkeit des Menschen geübt und erprobt werde. So hat Gott auch den Tod des Leibes dem Menschen um der Sünde willen auferlegt und nach der Vergebung der Sünden um der Übung der Gerechtigkeit willen nicht genommen, damit nämlich die Gerechtigkeit derer, die geheiligt werden, geübt und erprobt werde.« Im Übrigen wird aber auch gewöhnliches Unglück nicht durch die Werke der kirchlich verordneten Genugtuungen (d. h. jene Werke menschlicher Traditionen) aufgehoben, von denen sie selbst doch behaupten, sie seien durch den bloßen Vollzug wirksam, so dass sie sogar, wenn sie im Zustand der Todsünde geschähen, die Strafen abgelten sollen. Und wenn dazu das Pauluswort vorgebracht wird: »Wenn wir uns selber richteten, würden wir nicht vom Herrn gerichtet«,349 so muss das Wort »richten« auf die ganze Buße und die geschuldeten Früchte, nicht auf die »ungeschuldeten« Werke bezogen werden. Unsere Gegner geben den Strafen eine verächtliche Bedeutung, wenn sie meinen, »richten« sei dasselbe wie »gepanzert zum heiligen Jakobus wallfahren« oder ähnliche Werke. »Richten« bezeichnet die ganze Buße; es heißt: »die Sünden verdammen«. Diese Verdammung ge-

347. 2 Kor 12,5.9. 348. Augustin, De peccatorum meritis et remissione II, 34, 56 (PL 44, 183f). Aufgrund einer Verwechslung schrieb Melanchthon das folgende Zitat Papst Gregor I. zu. 349. 1 Kor 11,31.

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schieht wirklich in der Reue und der Veränderung des Lebens. Die ganze Buße, [d. h.] die Reue, der Glaube und die guten Früchte erwirken es, dass die Strafen und dass öffentliches und privates Unglück gemildert werden, wie Jesaja im ersten Kapitel lehrt: »Lasst ab vom Bösen! Lernet Gutes tun« usw. »Wenn eure Sünden auch blutrot wären, sollen sie doch schneeweiß werden. Wenn ihr wollt und mir gehorcht, so sollt ihr des Landes Güter genießen.«350 Dieses sehr wichtige und heilsame Wort von der ganzen Buße und von den geschuldeten oder von Gott gebotenen Werken darf man nicht auf Genugtuungen und Werke menschlicher Traditionen übertragen. Auch ist es nützlich zu lehren, dass die allgemeinen Übel gemildert werden durch unsere Buße und durch wahre Früchte der Buße, durch gute Werke, die aus Glauben getan sind ([und] nicht im Zustand der Todsünde, wie sie vorgeben). Und hierauf bezieht sich auch das Beispiel der Leute von Ninive, die durch ihre Buße (wir sprechen von der ganzen) mit Gott versöhnt wurden und es erreichten, dass ihre Stadt nicht zerstört wurde.351 [118 Kirchenväter beschränken »Genugtuungen« auf die öffentliche Buße] Dass aber die Kirchenväter die Genugtuung erwähnen, dass Konzilien Bestimmungen darüber erließen, das war, wie wir oben352 sagten, eine als Beispiel angeordnete Maßnahme der Kirchenzucht. Sie meinten nicht, dass diese Ordnung zur Vergebung der Schuld oder der Strafe notwendig sei. Denn wenn manche dabei das Fegfeuer erwähnt haben, so deuten sie es nicht als Ausgleich für die ewige Strafe, nicht als Genugtuung, sondern als Reinigung der unvollkommenen Seelen. So sagt Augustin, dass verzeihliche Sünden ausgebrannt würden,353 d. h., dass Misstrauen Gott gegenüber und andere ähnliche Regungen getötet würden. Manchmal übertragen die Verfasser das Wort »Genugtuung« vom Ritus oder der Veranstaltung selbst auf die zu bezeichnende wahre Tötung. So sagt Augustin: »Wahre Genugtuung heißt, die Ursachen der Sünden zu beseitigen, d. h. das Fleisch zu töten, 350. 351. 352. 353.

Jes 1,16–19. Jona 3,10. Vgl. Nr. 109. Augustin, De civitate Dei XXI, 26, 4 (PL 41, 745).

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ebenso, es zu zähmen, nicht um die ewigen Strafen abzugelten, sondern damit das Fleisch nicht zum Sündigen verleitet.«354 So sagt Gregor355 über die Rückgabe [fremder Güter], dass es sich um eine falsche Buße handelt, wenn denen nicht Genüge geschieht, deren geraubte Güter wir behalten. Denn der, der weiterhin stiehlt, bereut nicht wirklich, gestohlen oder geraubt zu haben. Denn er ist so lange ein Dieb oder Räuber, wie er unrechtmäßiger Besitzer einer fremden Sache ist. Jene weltliche Genugtuung ist notwendig, weil geschrieben steht: »Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr.«356 Ebenso sagt Chrysostomus: »Im Herzen die Reue, im Munde die Beichte, im Werke die ganze Demut.«357 Das spricht nicht gegen uns. Die guten Werke müssen der Buße folgen; sie muss Buße sein, keine Heuchelei, sondern eine Wandlung des ganzen Lebens zum Besseren. Ebenso schreiben die Väter, es sei genug, wenn einmal im Leben jene öffentliche oder feierliche Buße, für die die kirchenrechtlichen Vorschriften über Genugtuungen formuliert wurden, geschieht. Daraus ist zu ersehen, dass sie meinten, jene Vorschriften seien nicht zur Vergebung der Sünden nötig. Denn sonst, abgesehen von dieser feierlichen Buße, wollen sie, dass man oftmals Buße tut, wobei die Vorschriften über Genugtuungen nicht gefordert wurden. [119 Angebliche Forderungen des Evangeliums und die wahren Gebote Gottes] Die Verfasser der Konfutation schreiben, es sei nicht zu dulden, dass die Genugtuungen gegen den Wortlaut des Evangeliums abgeschafft würden.358 Wir haben daher bisher gezeigt, dass jene kanonischen Genugtuungen (d. h. jene ungeschuldeten Werke, die um der Abgeltung der Strafe willen zu tun sind) kein Gebot des Evangeliums haben. Das zeigt die Sache selbst. Wenn Genugtuungswerke ungeschuldete Werke sind, weshalb berufen sie sich [dann] ausdrücklich auf das 354. Gennadius von Massilia († um 492) [Augustin zugeschrieben], De ecclesiasticis dogmatibus XXIV (PL 42, 1218). 355. Papst Gregor I. der Große (590–604), zitiert im Decretum Gratiani II, c. XXXIII, q. 3., d. 5, c. 6, in: Friedberg, 1241. 356. Eph 4,28. 357. Pseudo-Chrysostomus. Zitiert nach dem Decretum Gratiani II, c. XXXIII, q. 3., d. 3, c. 8, in: Friedberg, 1212. 358. Vgl. Confutatio XII (Corpus Catholicorum 33, 107,10–109,1).

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Evangelium? Denn wenn das Evangelium befehlen würde, die Strafen durch solche Werke abzugelten, dann wären sie bereits geschuldete Werke. Aber sie reden so, um bei Unerfahrenen einen falschen Anschein zu erwecken; und sie führen Belege an, die von geschuldeten Werken sprechen, während sie selbst bei ihren Genugtuungen ungeschuldete Werke verlangen. Ja, sie selbst gestehen in den Schulen, dass Genugtuungen ohne Sünde verweigert werden können. Zu Unrecht schreiben sie hier also, wir würden durch den Wortlaut des Evangeliums genötigt, jene kanonischen Genugtuungen auf uns zu nehmen. Im Übrigen haben wir schon oft bezeugt, dass die Buße gute Früchte bringen muss. Und welches die guten Früchte sind, lehren die Gebote, nämlich Anrufung [Gottes], Danksagung, Bekenntnis des Evangeliums, Lehren des Evangeliums, Eltern und Obrigkeiten gehorchen, im Beruf dienen, nicht töten, nicht Hass behalten, sondern versöhnungsbereit sein, den Bedürftigen geben, [und zwar] so viel, wie wir nach den Umständen können, keine Hurerei treiben, keinen Ehebruch begehen, sondern das Fleisch zügeln, bezähmen und züchtigen (nicht zum Ausgleich der ewigen Strafe, sondern damit es nicht dem Teufel nachgibt, nicht den Heiligen Geist beleidigt), ferner: die Wahrheit sagen. Diese Früchte haben Gebote Gottes, und sie müssen um der Ehre und des Gebotes Gottes willen erbracht werden; sie erhalten auch Belohnungen. Dass aber die ewigen Strafen nicht erlassen würden außer aufgrund des Ausgleichs nach bestimmten Überlieferungen oder wegen des Fegfeuers, lehrt die Schrift nicht. [120 Begrenzte kirchenrechtliche Bedeutung von »Ablass« und »vorbehaltenen Fällen«] Die »Ablässe« waren ursprünglich der Erlass jener öffentlichen Auflagen, damit die Leute nicht zu sehr beschwert würden. Wenn aber kraft menschlicher Autorität Genugtuungen und Strafen erlassen werden können, dann ist also jener Ausgleich nach göttlichem Recht nicht erforderlich; denn das göttliche Recht wird nicht durch menschliche Autorität aufgehoben. Ferner gilt: Wenn der Brauch an sich veraltet ist (oder zumindest von den Bischöfen nicht mehr beachtet wird), dann bedarf es jener Nachlassungen nicht mehr. Und doch ist der Begriff »Ablässe« erhalten geblieben. Und wie die »Genugtuungen« nicht [mehr] von der öffentlichen Ordnung her verstanden wur-

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den, sondern als Ausgleich für die Strafe, so wurden die »Ablässe« dahingehend missverstanden, dass sie die Seelen aus dem Fegfeuer erlösen würden. Doch hat der Schlüssel nur auf Erden die Macht, zu binden oder zu lösen, nach jenem Wort: »Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.«359 Jedoch hat der Schlüssel, wie wir oben gesagt haben, nicht die Macht, Strafen aufzuerlegen oder Kulte einzuführen, sondern nur den Auftrag, denen die Sünden zu vergeben, die sich bekehren, und diejenigen anzuklagen und auszuschließen, die sich nicht bekehren wollen. Wie nämlich »lösen« bedeutet, die Sünden zu vergeben, so bedeutet »binden«, die Sünden nicht zu vergeben. Denn Christus spricht von dem geistlichen Reich. Und es ist das Gebot Gottes, dass die Diener des Evangeliums diejenigen lossprechen sollen, die sich bekehren, nach jenem Wort: »Die Vollmacht ist uns zum Erbauen gegeben.«360 Darum ist der Vorbehalt von Fällen361 eine weltliche Sache. Denn es ist ein Vorbehalt der kirchenrechtlichen Strafe, nicht ein Vorbehalt der Schuld gegen Gott bei denen, die sich wirklich bekehren. Deshalb urteilen die Gegner korrekt, wenn sie sagen, dass bei Lebensgefahr jener Vorbehalt von Fällen die Absolution nicht verhindern darf. [Schluss: Erst die evangelische Lehre bringt Klarheit über die Buße] Wir haben den Inbegriff unserer Bußlehre dargelegt, von der wir mit Sicherheit wissen, dass sie gottgefällig und für fromme Herzen heilsam ist. Und tüchtige Männer werden, wenn sie unsere Lehre mit den höchst verworrenen Erörterungen der Gegner verglichen haben, erkennen, dass die Gegner die Lehre vom rechtfertigenden und fromme Herzen tröstenden Glauben übergangen haben. Sie werden auch sehen, dass die Gegner vieles erfinden (vom »Verdienst der Anfangsreue«, von jener endlosen Aufzählung der Verfehlungen, von Genugtuungen), »Dinge, die weder Himmel noch Erde betreffen«,362 die auch die Gegner selbst nicht hinreichend erklären können.

359. 360. 361. 362.

Mt 16,19. 2 Kor 10,8. Dem Papst vorbehaltene Fälle für die Erteilung von Absolution. Griechische Redewendung.

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[Art. XIII:] Von der Anzahl und vom Gebrauch der Sakramente [121 Die Zahl der Sakramente. Eigentliche Sakramente: Taufe, Abendmahl, Buße] Im dreizehnten Artikel heißen es die Gegner gut, dass wir sagen, die Sakramente seien nicht nur zwischenmenschliche Erkennungszeichen, wie manche behaupten, sondern vielmehr Zeichen und Zeugnisse des Willens Gottes uns gegenüber, durch welche Gott die Herzen zum Glauben bewegt. Doch wollen sie hier, dass auch wir sieben Sakramente zählen. Wir meinen, darauf dringen zu müssen, dass die in den Schriften eingesetzten Bräuche und Zeremonien (wie viele es auch sein mögen) nicht gering geschätzt werden. Wir meinen aber, dass nicht viel daran liegt, wenn andere der Lehre wegen anders zählen, sofern sie die in der Schrift überlieferten Dinge richtig bewahren. Auch haben die Alten nicht in der gleichen Weise gezählt.363 Wenn wir die Sakramente als Riten bezeichnen, die auf ein Gebot Gottes zurückgehen und denen eine Verheißung der Gnade beigefügt ist, ist es leicht zu entscheiden, welche [Riten] eigentlich Sakramente sind. Denn von Menschen eingeführte Riten werden auf diese Weise nicht im eigentlichen Sinne als Sakramente gelten können. Es liegt nämlich nicht in menschlicher Macht, Gnade zu verheißen. Deshalb sind Zeichen, die ohne ein Gebot Gottes eingeführt worden sind, keine gewissen Gnadenzeichen, auch wenn sie vielleicht grobe Menschen belehren oder an etwas erinnern. Im wahren Sinne »Sakramente« sind daher [nur] die Taufe, das Abendmahl und die Lossprechung, die das Sakrament der Buße ist. Denn diese Riten haben ein Gebot Gottes und haben eine Verheißung der Gnade, die das Besondere des Neuen Testaments ist. Denn die Herzen müssen gewiss urteilen: Wenn wir getauft werden, wenn wir den Leib Christi genießen, wenn wir losgesprochen werden, [dann] verzeiht uns Gott wirklich um Christi willen. Und Gott bewegt die Herzen zugleich durch das Wort und die Handlung, dass sie glauben und den Glauben empfangen, wie Paulus schreibt: »Der Glaube 363. Noch im frühen Mittelalter gab es unterschiedliche Auffassungen von der Art und Zahl der Sakramente. Erst im Anschluss an Petrus Lombardus († 1160) setzte sich die Siebenzahl der Sakramente durch. Verbindlich festgelegt wurde sie 1439 durch das Konzil von Florenz.

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kommt aus der Predigt.«364 Wie aber das Wort in die Ohren dringt, um die Herzen zu berühren, so fällt die Handlung in die Augen, um die Herzen zu bewegen. Die Wirkung des Wortes und der Handlung ist die Gleiche, wie es von Augustin treffend gesagt worden ist: »Das Sakrament ist ein sichtbares Wort, weil die Handlung mit den Augen wahrgenommen wird und gleichsam ein Bild des Wortes ist, welches das Gleiche zum Ausdruck bringt wie das Wort. Daher haben beide die gleiche Wirkung.«365 [122 Zur sonstigen Verwendung des Sakramentsbegriffs] Die Firmung und die letzte Ölung sind von den Vätern übernommene Riten, die auch die Kirche nicht als heilsnotwendig fordert, weil sie kein Gebot Gottes haben. Deshalb ist es sinnvoll, diese Riten von den oben aufgeführten zu unterscheiden, die ein ausdrückliches Gebot Gottes und eine klare Verheißung der Gnade haben. Das Priesteramt verstehen die Gegner nicht vom Dienst des Wortes und der an andere auszuteilenden Sakramente her, sondern sie verstehen es vom Opfer her, so als müsse es im Neuen Testament ein Priestertum gleich dem levitischen geben, das für das Volk opfert und für andere die Sündenvergebung verdient. Wir lehren, dass das Opfer des am Kreuz sterbenden Christus für die Sünden der ganzen Welt Genüge getan hat, und dass es außer diesem keiner weiteren Opfer bedarf, so als wäre jenes nicht ausreichend gewesen für unsere Sünden. Deshalb werden die Menschen nicht wegen irgendwelcher sonstiger Opfer gerechtfertigt, sondern um jenes einen Opfers Christi willen, wenn sie glauben, dass sie durch jenes Opfer erlöst sind. Daher werden die Priester nicht zu irgendwelchen Opfern berufen, die sie wie im Gesetz für das Volk vollziehen sollen, um durch sie dem Volk Sündenvergebung zu verdienen, sondern sie werden berufen, um das Evangelium zu lehren und dem Volk die Sakramente auszuteilen. Auch haben wir kein anderes Priestertum ähnlich dem levitischen, wie es der Hebräerbrief deutlich genug lehrt.366 Wenn aber die Priesterweihe vom Dienst des Wortes her verstanden würde, dann würden wir sie ohne große Umstände ein Sakrament 364. Röm 10,17. 365. Augustin, Tractatus in Evangelium Johannis LXXX, 3 (PL 35, 1840). 366. Hebr 7,1–28.

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nennen. Denn der Dienst am Wort hat ein Gebot Gottes und großartige Verheißungen, Röm 1[,16]: »Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zum Heil für einen jeden, der glaubt.« Ebenso Jes 55[,11]: »Das Wort, das aus meinem Munde ausgeht, wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird tun, was ich gewollt habe« usw. Wenn die Priesterweihe in dieser Weise verstanden wird, weigern wir uns auch nicht, die Handauflegung als ein Sakrament zu bezeichnen. Denn die Kirche hat das Gebot Gottes, Diener einzusetzen, für das wir sehr dankbar sein müssen, weil wir wissen, dass Gott jenen Dienst gutheißt und in ihm gegenwärtig ist. Und es ist gut, den Dienst am Wort soviel wie möglich und auf jede Art mit Lob zu schmücken gegenüber den Schwärmern, die träumen, der Heilige Geist werde nicht durch das Wort gegeben, sondern wegen ihrer eigenen Vorbereitungen, wenn sie müßig, schweigend, an dunklen Orten sitzen und auf eine Erleuchtung warten, wie es einst die Enthusiasten367 lehrten und es jetzt die Wiedertäufer tun. Die Ehe wurde nicht erst im Neuen Testament eingesetzt, sondern gleich zu Beginn nach Erschaffung des Menschengeschlechts. Sie hat aber ein Gebot Gottes und hat Verheißungen, die sich freilich nicht eigentlich auf das Neue Testament, sondern mehr auf das leibliche Leben beziehen. Wenn sie daher jemand ein Sakrament nennen will, muss er sie doch von jenen früher genannten unterscheiden, die im eigentlichen Sinne Zeichen des Neuen Testamentes und Zeugnisse der Gnade und der Sündenvergebung sind. Wenn aber die Ehe deshalb die Bezeichnung »Sakrament« tragen soll, weil sie ein Gebot Gottes hat, dann könnten auch andere Stände oder Berufe, die ein Gebot Gottes haben, wie die Obrigkeit, »Sakramente« genannt werden. Schließlich: Wenn all die Dinge, die ein Gebot Gottes haben und denen Verheißungen beigegeben sind, zu den Sakramenten gezählt werden sollen, warum fügen wir dann nicht auch das Gebet hinzu, das mit größerem Recht ein »Sakrament« genannt werden kann? Es hat nämlich Gottes Gebot und sehr viele Verheißungen und lädt, zu den Sakramenten gestellt, gleichsam an herausragender Stelle die 367. Gemeint sind die Hesychiasten oder »Nabelseelen« der mittelalterlichen griechischen Kirche. Sie glaubten, durch mystische Versenkung das Taborlicht schauen zu können.

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Menschen zum Glauben ein. Hier könnten auch die Almosen dazugezählt werden, ebenso Anfechtungen, die selbst auch Zeichen sind, denen Gott Verheißungen beigegeben hat. Aber lassen wir das. Denn kein verständiger Mann wird groß über die Zahl und das Wort streiten, wenn man sich nur an jene Dinge hält, die Gottes Gebot und Verheißungen haben. [123 Rechter Sakramentsgebrauch: der Glaube] Viel notwendiger aber ist es zu wissen, wie man das Sakrament gebrauchen soll. Hier verurteilen wir den ganzen Schwarm scholastischer Lehrer, die lehren, dass die Sakramente dem, der ihnen keinen Widerstand entgegensetzt, durch den bloßen Vollzug, ohne gute Regung des Empfangenden, die Gnade bringen. Das ist einfach eine jüdische Meinung: zu meinen, wir würden durch die Zeremonie gerechtfertigt, ohne gute Regung des Herzens, d. h. ohne Glauben. Und doch wird diese gottlose und verderbliche Meinung mit großem Nachdruck im ganzen päpstlichen Reich gelehrt. Paulus widerspricht dem und bestreitet, dass Abraham durch die Beschneidung gerechtfertigt worden sei;368 vielmehr sei die Beschneidung ein Zeichen, das zur Einübung des Glaubens eingesetzt wurde. So lehren wir, dass beim Gebrauch der Sakramente der Glaube hinzukommen muss, der jenen Verheißungen glaubt und die verheißenen Dinge empfängt, die dort im Sakrament angeboten werden. Und der Grund dafür ist einfach und völlig gewiss. Die Verheißung ist nutzlos, wenn sie nicht im Glauben empfangen wird. Die Sakramente aber sind Zeichen von Verheißungen. Bei ihrem Gebrauch muss deshalb der Glaube hinzukommen, damit einer, der das Abendmahl empfängt, es so empfängt: Weil dies das Sakrament »des Neuen Testamentes« ist, wie Christus deutlich sagt369, deshalb urteilt er, dass ihm die im Neuen Testament verheißenen Güter angeboten werden, nämlich die geschenkte Vergebung der Sünden. Und dieses Gut soll er durch den Glauben ergreifen, das furchtsame Gewissen aufrichten und glauben, dass diese Zeugnisse nicht trügerisch sind, sondern so zuverlässig, als wenn Gott durch ein neues Wunder vom Himmel her verhieße, dass er verzeihen will. Was aber würden jene Wunder und Verheißungen einem Men368. Röm 4,9–12. 369. Lk 22,20.

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schen nützen, der nicht glaubt? Und wir sprechen hier von dem besonderen Glauben, der der gegenwärtigen Verheißung vertraut, der nicht nur allgemein glaubt, dass es einen Gott gibt, sondern glaubt, dass [hier] die Vergebung der Sünden angeboten wird. Dieser Sakramentsgebrauch tröstet die frommen und furchtsamen Gewissen. Wie viel Missbräuche aber jene schwärmerische Meinung vom bloßen Vollzug ohne gute Regung des Empfangenden in der Kirche hervorgerufen hat, kann niemand in Worte fassen. Hierher rührt jene grenzenlose Entweihung der Messen; doch sprechen wir hiervon weiter unten. Auch kann kein Buchstabe aus den alten Schriftstellern vorgebracht werden, der den Scholastikern in dieser Sache Schutz bieten könnte. Vielmehr sagt Augustin im Gegensatz dazu, dass der Glaube an das Sakrament [und] nicht das Sakrament rechtfertige.370 Und bekannt ist das Pauluswort: »Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht.«371

[Art. XIV:] Von der kirchlichen Ordnung [124 Hochschätzung der kirchlichen Ordnung – und deren Zerstörung durch das Handeln der Bischöfe] Den vierzehnten Artikel, in dem wir sagen, dass in der Kirche niemandem, der nicht ordnungsgemäß berufen ist, die Verwaltung der Sakramente und des Wortes gestattet werden dürfe, akzeptieren sie, sofern wir die kirchenrechtlich vorgeschriebene [Priester-]Weihe vollziehen. Hierzu haben wir auf diesem Reichstag schon wiederholt bezeugt, dass es unser aufrichtigster Wunsch ist, die kirchliche Ordnung und die kirchlichen [Weihe-]Grade zu erhalten, auch wenn sie [nur] auf menschlicher Vollmacht beruhen.372 Wir wissen nämlich, dass die kirchliche Ordnung, so wie die alten Kirchengesetze sie beschreiben, von den Vätern in guter und hilfreicher Absicht eingeführt wurde. Aber die Bischöfe zwingen unsere Priester entweder dazu, die von uns bezeugte Lehre zu verwerfen und zu verdammen, oder aber 370. Augustin, Tractatus in Evangelium Johannis LXXX, 3 (PL 35, 1840). 371. Röm 10,10. 372. Gemeint ist die traditionelle Ämterfolge Bischof – Priester – Diakon – Subdiakon etc.

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sie töten die armen und unschuldigen [Priester] mit neuer und unerhörter Grausamkeit. Diese Gründe verhindern es, dass unsere Priester diese Bischöfe anerkennen. So ist das Wüten der Bischöfe schuld daran, dass sich mancherorts jene kirchenrechtliche Ordnung auflöst, die wir sehr gern erhalten wollten. Sie mögen selbst zusehen, wie sie Gott darüber Rechenschaft geben werden, dass sie die Kirche zerstreuen. Unsere Gewissen haben in dieser Sache nichts zu befürchten, weil wir, da wir ja wissen, dass unser Bekenntnis wahr, gottesfürchtig und katholisch [= allgemein gültig] ist, das Wüten der Leute, die diese Lehre verfolgen, nicht billigen müssen. Und wir glauben, dass die Kirche bei denen ist, die das Wort Gottes recht lehren und die Sakramente recht verwalten, nicht aber bei jenen, die nicht nur versuchen, Gottes Wort durch Edikte zu vernichten, sondern auch diejenigen, die das Rechte und Wahre lehren, abschlachten, denen gegenüber die Kirchengesetze selbst, auch wenn sie etwas gegen sie tun, doch milder sind. Nun aber wollen wir es hier nochmals bezeugt haben, dass wir die kirchliche und kanonische Ordnung gern bewahren würden, wenn nur die Bischöfe aufhörten, gegen unsere Kirchen zu wüten. Dieser unser Wunsch wird uns sowohl vor Gott als auch bei allen Völkern für alle Zukunft entschuldigen, so dass es nicht uns angelastet werden kann, dass die Autorität der Bischöfe ins Wanken gerät – wenn die Menschen lesen und hören werden, dass wir, obwohl wir das ungerechte Wüten der Bischöfe durch Bitten abzuwenden versuchten, nichts Gerechtes haben erreichen können.

[Art. XV:] Von den menschlichen Überlieferungen in der Kirche [125 Rechtfertigung durch menschliche Satzungen wird durch das Zeugnis der Schrift ausgeschlossen] Im fünfzehnten Artikel heißen sie den ersten Teil gut, in dem wir sagen, dass kirchliche Riten, die ohne Sünde befolgt werden können und zum Frieden und zu guter Ordnung in der Kirche beitragen, befolgt werden sollen. Den zweiten Teil [des Artikels] verdammen sie völlig. In ihm sagen wir, dass menschliche Traditionen, die zur Versöhnung Gottes, zum Verdienen von Gnade oder zur Genugtuung für Sünden eingeführt wurden, dem Evangelium widersprechen. Ob-

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wohl wir im Bekenntnis selbst, [nämlich im Artikel] »Von der Unterscheidung der Speisen«, ausführlich genug über Traditionen gesprochen haben, muss hier doch einiges kurz wiederholt werden. Auch wenn wir annehmen, dass die Gegner die menschlichen Traditionen aus anderen Gründen verteidigen würden, so haben wir doch nicht geglaubt, dass sie diesen Artikel verdammen würden: dass wir nicht durch Beachtung menschlicher Satzungen Sündenvergebung oder Gnade verdienen. Nachdem also dieser Artikel verdammt worden ist, haben wir eine leichte und klare Sache. Jetzt gebärden sich die Gegner offen wie Juden; öffentlich überschütten sie das Evangelium mit Dämonenlehren. Die Schrift nämlich bezeichnet Überlieferungen dann als »Dämonenlehren«,373 wenn man lehrt, es handele sich um Kulte, die zum Erwerb der Sündenvergebung und der Gnade dienen. Dann nämlich verdunkeln sie das Evangelium, die Wohltat Christi und die Glaubensgerechtigkeit. Das Evangelium lehrt, dass wir durch den Glauben um Christi willen umsonst die Sündenvergebung empfangen und mit Gott versöhnt werden. Die Gegner dagegen stellen einen anderen Mittler auf, nämlich diese Überlieferungen. Ihretwegen wollen sie die Sündenvergebung erlangen; durch sie wollen sie den Zorn Gottes besänftigen. Aber Christus sagt klar: »Sie ehren mich vergeblich durch Menschengebote.«374 Oben haben wir ausführlich dargelegt, dass die Menschen durch den Glauben gerechtfertigt werden, wenn sie glauben, einen versöhnten Gott zu haben nicht wegen unserer Werke, sondern umsonst um Christi willen. Dies ist gewiss die Lehre des Evangeliums, weil Paulus Eph 2[,8f] deutlich sagt: »Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht von Menschen.« Jetzt [aber] sagen diese Leute, die Menschen würden die Sündenvergebung durch diese menschlichen Satzungen verdienen. Was ist dies anderes, als an Christi Stelle einen anderen Rechtfertiger, einen anderen Mittler aufzustellen? Paulus sagt zu den Galatern: »Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerechtfertigt werden wollt.«375 Das heißt: Wenn ihr meint, ihr würdet durch Beachtung des Gesetzes verdienen, dass ihr vor Gott für gerecht gehalten werdet, 373. 1 Tim 4,1. 374. Mt 15,9. 375. Gal 5,4.

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wird Christus euch nichts nützen; denn wozu brauchen diejenigen Christus, die meinen, sie seien gerecht aufgrund ihrer Beachtung des Gesetzes? Gott hat uns Christus vor Augen gestellt, weil er uns um dieses Mittlers [und] nicht um unserer Gerechtigkeiten willen gnädig sein will. Aber sie meinen, Gott sei versöhnt und gnädig um der Überlieferungen und nicht um Christi willen. Sie rauben Christus also die Ehre des Mittlers. Was diesen Punkt betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen unseren Überlieferungen und den mosaischen Zeremonien. Wie Paulus die mosaischen Zeremonien verdammt, so verdammt er auch [solche] Überlieferungen, weil man sie für Werke hielt, die die Gerechtigkeit vor Gott verdienen. So wurde das Amt Christi und die Glaubensgerechtigkeit verfinstert. Unter Beiseitestellung des Gesetzes und der Überlieferungen tritt er deshalb dafür ein, dass die Sündenvergebung nicht wegen derartiger Werke, sondern um Christi willen umsonst verheißen wurde, damit wir sie nur durch den Glauben empfangen. Denn die Verheißung wird nicht ergriffen außer durch den Glauben. Da wir also durch den Glauben die Sündenvergebung empfangen, da wir durch den Glauben um Christi willen einen gnädigen Gott haben, ist es ein Irrtum und eine Gottlosigkeit, zu behaupten, dass wir durch diese Auflagen die Sündenvergebung verdienen. Würde hier jemand sagen, wir verdienten nicht die Sündenvergebung, sondern als bereits Gerechtfertigte verdienten wir durch diese Überlieferungen die Gnade, so widerspricht Paulus hier abermals: Christus würde »ein Diener der Sünde«376 sein, wenn man nach der Rechtfertigung meinen müsste, wir würden hernach nicht um Christi willen als gerecht gelten, sondern müssten es erst durch andere Auflagen verdienen, für gerecht erklärt zu werden. Ferner: »Dem Testament eines Menschen darf nichts hinzugefügt werden.«377 Folglich darf auch dem Testament Gottes, der verspricht, dass er uns um Christi willen gnädig sein will, nicht hinzugefügt werden, dass wir es zuerst durch diese Auflagen verdienen müssen, für angenehm und gerecht erklärt zu werden. Indessen, was bedarf es einer langen Erörterung? Keine Satzung ist von den heiligen Vätern in der Absicht eingeführt worden, die 376. Gal 2,17. 377. Gal 3,15.

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Sündenvergebung oder die Gerechtigkeit zu verdienen, sondern sie wurden einer guten Ordnung und des Friedens wegen in der Kirche eingeführt. Und würde jemand bestimmte Werke zum Verdienen der Sündenvergebung oder Gerechtigkeit einführen wollen – wie soll er wissen, dass jene Werke Gott gefallen, da er hierfür kein Zeugnis des Wortes Gottes hat? Wie kann er den Menschen Gewissheit über den Willen Gottes vermitteln ohne ein Gebot und Wort Gottes? Verbietet Gott denn nicht überall bei den Propheten, ohne sein Gebot besondere Formen des Gottesdienstes einzuführen? Ez 20[,18f] steht geschrieben: »Ihr sollt nicht nach den Geboten eurer Väter leben und ihre Gesetze nicht halten und mit ihren Götzen euch nicht unrein machen. Ich bin der Herr, euer Gott. Nach meinen Geboten sollt ihr leben, und meine Gesetze sollt ihr halten und danach tun.« Wenn es den Menschen erlaubt ist, Kulte einzuführen, und sie durch diese Kulte Gnade verdienen, dann müssen bereits die Gottesdienste aller Heiden anerkannt werden, die von Jerobeam und anderen außerhalb des Gesetzes eingeführten Gottesdienste gutgeheißen werden. Denn was macht den Unterschied: War es uns erlaubt, Kulte einzuführen, die zum Verdienen von Gnade und Gerechtigkeit dienen, warum war dasselbe dann nicht auch den Heiden und den Israeliten erlaubt? Die Gottesdienste der Heiden und Israeliten wurden deshalb verworfen, weil sie meinten, sie würden durch sie Sündenvergebung und Gerechtigkeit verdienen, und die Glaubensgerechtigkeit nicht kannten. Schließlich: Woher werden wir gewiss, dass von Menschen ohne ein Gebot Gottes eingeführte Kulte rechtfertigen, wo doch über den Willen Gottes nichts behauptet werden kann ohne ein Wort Gottes? Was ist, wenn Gott diese Kulte nicht anerkennt? Wie also können die Gegner behaupten, dass sie rechtfertigen, obwohl das ohne ein Wort oder Zeugnis Gottes nicht behauptet werden kann? Und Paulus sagt: »Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde.«378 Wenn aber diese Kulte kein Zeugnis des Wortes Gottes haben, muss das Gewissen notwendig zweifeln, ob sie Gott gefallen.

378. Röm 14,23.

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[126 Rechtfertigung durch menschliche Satzungen ist ein Merkmal des Antichrist-Reiches] Doch was bedarf es in einer offenkundigen Sache weiterer Worte? Wenn unsere Gegner diese menschlichen Kulte verteidigen (als verdienstlich für Rechtfertigung, Gnade und Sündenvergebung), errichten sie einfach das Reich des Antichrists. Denn das Antichrist-Reich ist ein neuer Gotteskult, der von Menschen erdacht ist [und] Christus verwirft. So hat auch das Reich Mohammeds einen Kult. Es hat Werke, durch die es vor Gott gerecht werden will, und nimmt nicht wahr, dass die Menschen durch den Glauben umsonst um Christi willen gerechtfertigt werden. So wird auch das Papsttum ein Teil des Antichrist-Reiches sein, wenn es menschliche Kulte deshalb verteidigt, weil sie [angeblich] rechtfertigen. Denn Christus wird die Ehre geraubt, wenn sie lehren, dass wir nicht um Christi willen umsonst durch den Glauben gerechtfertigt werden, sondern durch solche Kulte – und vor allem, wenn sie behaupten, solche Kulte seien nicht nur nützlich, sondern zur Rechtfertigung sogar notwendig, wie sie es oben im achten Artikel behaupten,379 wo sie uns verdammen, weil wir gesagt haben, es sei nicht notwendig zur wahren Einheit der Kirche, dass überall die gleichen von Menschen eingeführten Kulte bestehen. Daniel zeigt im elften Kapitel, dass neue menschliche Kulte die Gestalt und Verfassung des Antichrist-Reiches sein werden. Denn er spricht so: »Den Gott der Festungen verehrt er an seinem Orte, und einen Gott, den seine Väter nicht gekannt haben, ehrt er durch Gold und Silber und Edelsteine.«380 Hier beschreibt er neue Kulte, denn er sagt, dass ein Gott verehrt wird, den die Väter nicht gekannt haben. Denn obwohl die heiligen Väter selbst auch Riten und Überlieferungen hatten, meinten sie doch nicht, diese Dinge seien nützlich oder notwendig zur Rechtfertigung. Sie verdunkelten nicht den Ruhm und das Amt Christi, sondern lehrten, dass wir durch den Glauben um Christi willen gerechtfertigt werden, nicht wegen jener menschlichen Kulte. Im Übrigen befolgten sie die menschlichen Kulte [nur] wegen des leiblichen Nutzens, damit das Volk wüsste, zu welcher Zeit es zusammenkommen sollte, damit alles in den Kirchen des guten Beispiels wegen ordentlich und feierlich vonstattenginge, überdies, 379. Vgl. Confutatio VII (Corpus Catholicorum 33, 97,10–15). 380. Dan 11,38.

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damit das Volk auch eine gewisse Erziehung erhielte. Denn die Unterscheidung der Zeiten und die Vielfalt der Riten dient zur Belehrung des Volkes. Das waren die Gründe, die die Väter zur Beachtung der Riten veranlassten, wie Epiphanius in der Disputation gegen die Enkratiten381 deutlich zeigt, deren Lebensform der unserer Mönche ähnlich war. Sie waren nämlich Gemeinschaften, die sich bestimmte Traditionen auferlegten; sie enthielten sich des Weines sogar beim Abendmahl; sie aßen kein Fleisch, nicht einmal Fisch, womit sie sogar die Dominikaner bei Weitem übertrafen. Besonders aber schreckten sie vor der Ehe zurück, wenn auch nicht vor dem Verkehr mit Frauen. Denn dies wirft ihnen Epiphanius vor; sie hatten nämlich Scharen junger Frauen, die dieselbe Lebensform befolgten, so wie zu dieser Zeit die Mönche fast überall benachbarte Frauenklöster haben. Und sie gaben vor, dass diese Übungen ein Gottesdienst seien und die Gerechtigkeit, um derentwillen sie Gott angenehm wären [und] durch die sie Gottes Zorn besänftigten. Diese Auffassung verwirft Epiphanius, und er zeigt, dass die Traditionen andere Zwecke haben. Er sagt, zu billigen seien die Traditionen, die »zur Enthaltsamkeit oder der Gemeinschaft wegen« eingeführt worden sind, d. h. entweder zur Züchtigung des Fleisches, zur Zucht für rohe Leute oder der staatlichen Ordnung wegen. Und auch wir meinen, dass die Traditionen aus folgenden Gründen zu Recht beachtet werden können: Damit ein nüchternes Volk den heiligen Handlungen beiwohnt, so wie Josaphat und der König von Ninive Fasten anordneten.382 Ebenso, damit die Ordnung und Verfassung der Kirche die Unerfahrenen darüber belehrt, was zu welcher Zeit zu tun ist. Hierher stammen das Weihnachtsfest, Ostern, Pfingsten und ähnliche Feste. Dies ist es, was Epiphanius sagt: die Traditionen seien um der Gemeinschaft willen eingeführt worden, nämlich der Ordnung wegen und damit jene Ordnung die Menschen an die Geschichte und an die Wohltaten Christi erinnert. Denn die in den Sitten und Bräuchen gleichsam gemalten Zeichen der Dinge belehren das Volk viel wirksamer als Geschriebenes. Es war nützlich, dass diese Zwecke dem Volk gezeigt und verdeutlicht wurden. Diesen Zwecken aber haben die Gegner in einer Art pharisäischer Überzeugung einen anderen hinzugefügt, dass näm381. Eine altkirchliche, u. a. durch Epiphanius von Salamis († 403) bekämpfte Sekte. 382. 2 Chr 20,3; Jona 3,7f.

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lich solche Übungen die Sündenvergebung verdienten, dass sie zur Rechtfertigung notwendige Kulte seien, dass ihretwegen die Menschen vor Gott für gerecht gehalten würden. Dies heißt klar: Gott mit Gold, Silber und Edelsteinen zu ehren, zu meinen, Gott werde versöhnt durch Mannigfaltigkeit der Gewandung, der Schmuckstücke und ähnlicher Dinge, deren es zahllose in den menschlichen Überlieferungen gibt, oder derartige Dinge (die Unterscheidungen von Zeiten, Speisen, Gefäßen und Kleidern) seien Gottesdienste. [127 Vernunft hält die Satzungen für notwendig, doch sie verdunkeln Gottes Gebote und martern fromme Gewissen] Paulus schreibt an die Kolosser, dass die Überlieferungen einen Anschein von Weisheit besitzen.383 Und den haben sie in der Tat. Denn jene Wohlgeordnetheit ist der Kirche sehr angemessen und deshalb auch notwendig. Doch bildet sich die menschliche Vernunft, weil sie die Glaubensgerechtigkeit nicht versteht, von Natur aus ein, dass solche Werke die Menschen rechtfertigen, dass sie Gott versöhnen usw. So dachte [auch] das Volk bei den Israeliten; und in dieser Meinung vermehrten sie solche Zeremonien, so wie sie bei uns in den Klöstern zugenommen haben. So urteilt die menschliche Vernunft auch über die Übungen des Leibes, [d. h.] über das Fasten, zu dessen Zweck, das Fleisch zu zähmen, die Vernunft noch hinzu erdichtet, das Fasten sei eine Gottesverehrung, die rechtfertigt. Wie Thomas schreibt: »Das Fasten dient zur Tilgung und Verhinderung von Schuld.«384 Dies sind die Worte des Thomas. So täuscht die Menschen der Schein von Weisheit und Gerechtigkeit in diesen Werken. Und dazu kommen Beispiele von Heiligen: Wenn die Menschen sie nachzuahmen versuchen, ahmen sie zumeist nur ihre äußeren Übungen nach, nicht aber ihren Glauben. Nachdem dieser Schein von Weisheit und Gerechtigkeit die Menschen getäuscht hat, folgen unzählige Misslichkeiten nach: Das Evangelium von der Gerechtigkeit des Christusglaubens wird verdunkelt, und ein eitles Vertrauen auf solche Werke stellt sich ein. Dann werden Gottes Gebote verdunkelt; diese Werke maßen sich den Titel eines vollkommenen und geistlichen Lebens an und werden den Werken 383. Kol 2,23. 384. Thomas von Aquin, Summa theologica IIa/IIae, q. 147, art. 3.

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der Gebote Gottes, wie z. B. den Werken der je eigenen Berufung, dem Dienst im Staat und in der Haushaltung, dem ehelichen Leben, der Erziehung von Kindern bei Weitem vorgezogen. Diese werden im Unterschied zu jenen Zeremonien für weltlich gehalten, so dass sie von vielen nur mit einem Gewissenszweifel ausgeübt werden. Denn es ist bekannt, dass viele nach Verlassen des Staatsdienstes, des Ehestandes, jene Satzungen als vermeintlich besser und heiliger auf sich genommen haben. Damit noch nicht genug. Wo der Wahn, solche Kulte seien zur Rechtfertigung nötig, die Herzen ergriffen hat, da werden die Gewissen elend gequält, weil sie nicht alle Vorschriften genau einhalten können. Denn wer überhaupt hat sie alle aufzählen können? Es gibt zahllose Bücher, ja ganze Bibliotheken, die keine Silbe über Christus, über den Glauben an Christus, über die guten Werke der je eigenen Berufung enthalten, sondern nur Überlieferungen und deren Auslegungen zusammentragen, durch die sie teils verschärft, teils aber auch ermäßigt werden. Wie plagt sich nicht Gerson385, der treffliche Mann, wenn er Rangstufen und Reichweiten der Gebote sucht. Und doch findet er keine bestimmte Stufe, auf der er der gütigen Nachsicht Raum geben kann; er beklagt dabei schwer die Gefahren für fromme Gewissen, die diese strenge Auslegung der Überlieferungen mit sich bringt. [128 Das klare Schriftzeugnis gegen die menschlichen Satzungen] Wir also schützen uns durch Gottes Wort gegen jenen Schein von Weisheit und Gerechtigkeit in den menschlichen Riten, der die Menschen täuscht. Und erstens sollen wir wissen, dass sie weder Sündenvergebung noch Rechtfertigung vor Gott verdienen und nicht zur Rechtfertigung notwendig sind. Einige Belege haben wir oben zitiert.386 Und die Schriften des Paulus sind voll davon. Kol 2[,16f] sagt er deutlich: »Niemand richte euch wegen Speise und Trank oder wegen eines Feiertages, Neumondes oder Sabbats. Das alles ist nur ein Schatten des Zukünftigen; leibhaftig aber ist es in Christus.« Und er bezieht hier zugleich das mosaische Gesetz und die menschlichen Satzungen ein, damit die Gegner mit diesen Zeugnissen nicht ihr Spiel 385. Johannes Gerson († 1429), De vita spirituali animae II, 3, 16. 386. Siehe oben Nr. 125.

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treiben, wie sie es zu tun pflegen: dass Paulus [hier] nur vom Gesetz des Mose spreche. Er bezeugt hier aber deutlich, dass er von den menschlichen Satzungen spricht. Dennoch bemerken die Gegner selbst nicht, was sie reden: Wenn das Evangelium bestreitet, dass die mosaischen Zeremonien (die doch von Gott eingesetzt waren) rechtfertigen – um wie viel weniger rechtfertigen dann die menschlichen Überlieferungen! Auch haben die Bischöfe nicht die Macht, Kulte einzuführen, so als rechtfertigten sie oder wären zur Rechtfertigung notwendig. Vielmehr sagen die Apostel Apg 15[,10]: »Was versucht ihr Gott, indem ihr ein Joch auferlegt« usw.; hier klagt Petrus diese Absicht, der Kirche eine Last aufzuerlegen, als eine schwere Sünde an. Und Gal 5[,1] verbietet Paulus, sich aufs Neue der Knechtschaft zu unterwerfen. Die Apostel wollen also, dass in der Kirche diese Freiheit bleibt, dass nicht irgendwelche Kulte des Gesetzes oder der Überlieferungen für notwendig erachtet werden (wie unter dem Gesetz Zeremonien eine Zeit lang notwendig gewesen waren), damit nicht die Glaubensgerechtigkeit verfinstert wird, wenn die Menschen meinen, jene Kulte verdienten die Rechtfertigung oder seien zur Rechtfertigung notwendig. Viele suchen Milderungen in den Überlieferungen, um den Gewissen zu helfen, ohne doch sichere Abstufungen zu finden, durch die sie die Gewissen aus diesen Fesseln befreien könnten. Aber wie Alexander den Gordischen Knoten, als er ihn nicht entwirren konnte, mit einem Schwertstreich durchtrennt hat, so befreien die Apostel die Gewissen [hier] mit einem Schlage von den Satzungen, besonders wenn diese so dargestellt werden, als verdienten sie die Rechtfertigung. Die Apostel nötigen uns, dieser Doktrin durch Lehre und Beispiel zu widerstehen. Sie zwingen uns zu lehren, dass die Überlieferungen nicht rechtfertigen, dass sie nicht zur Rechtfertigung notwendig sind, dass niemand Satzungen einführen oder übernehmen darf in der Meinung, sie verdienten die Rechtfertigung. Wenn sie dann aber jemand dennoch halten will, so beachte er sie ohne Aberglauben wie weltliche Sitten, wie sich ja auch Kriegsleute ohne abergläubische Besorgnis anders kleiden als Gelehrte. Die Apostel verletzen Überlieferungen und werden von Christus entschuldigt. Es war nämlich den Pharisäern an einem Beispiel zu zeigen, dass jene Kulte nutzlos waren. Und wenn die Unseren gewisse unangemessene Überlieferungen aufgeben, so sind sie jetzt hinreichend entschuldigt, da diese so eingefordert

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werden, als verdienten sie die Rechtfertigung. Denn eine solche Meinung von den Satzungen ist gottlos. [129 Evangelische Gemeinden halten sich an die kirchlichen Ordnungen in ihrem legitimen Sinn] Im Übrigen wollen wir die alten Überlieferungen, die in der Kirche aus Gründen der Zweckmäßigkeit und des Friedens eingeführt wurden, gern bewahren. Und wir legen sie im besten Sinne aus, d. h. unter Ausschluss der Meinung, dass sie rechtfertigen. Aber unsere Feinde beschuldigen uns zu Unrecht, wir würden gute Vorschriften [und] die Ordnung der Kirche abschaffen. In Wahrheit können wir nämlich bekunden, dass der öffentliche Zustand der Kirche bei uns ehrenhafter ist als bei den Gegnern. Und wer es [nur] recht erwägen will: Wir befolgen die kirchlichen Gesetze aufrichtiger als die Gegner. Bei den Gegnern halten die Opferpriester ihre Messen nur unwillig, für Lohn bestellt und zumeist nur um des Lohnes willen. Sie singen Psalmen, nicht, um zu lernen oder zu beten, sondern der kultischen Handlung wegen, als wäre jenes Werk ein Gottesdienst, oder einfach um des Lohnes willen. Bei uns empfangen viele Menschen an den Sonntagen das Abendmahl, doch sind sie zuvor unterwiesen, verhört und losgesprochen worden. Die Schüler singen Psalmen, um zu lernen; auch das Volk singt, um zu lernen oder um zu beten. Bei den Gegnern gibt es überhaupt keine Kinderlehre, über die die kirchlichen Gesetze doch Vorschriften enthalten. Bei uns werden die Pastoren und Kirchendiener verpflichtet, die Kinder öffentlich zu unterrichten und sie abzufragen; und diese Maßnahme bringt die besten Früchte. Bei den Gegnern werden in vielen Gegenden das ganze Jahr über keine Predigten gehalten, mit Ausnahme der Fastenzeit. Dabei ist es doch der wichtigste Gottesdienst, das Evangelium zu verkündigen. Und wenn die Gegner predigen, dann reden sie von den menschlichen Überlieferungen, von der Heiligenverehrung und ähnlichen Albernheiten, die das Volk mit Recht verabscheut; daher verlässt es die Kirchen gleich zu Beginn des Gottesdienstes wieder, sobald der Text des Evangeliums verlesen worden ist. Einige wenige, die Besseren, beginnen nun, von den guten Werken zu sprechen. Von der Glaubensgerechtigkeit [aber], vom Glauben an Christus, von der Tröstung der Gewissen sagen sie nichts, vielmehr verunglimpfen sie diesen sehr heilsamen Teil des Evangeliums durch Schmähreden. Dagegen be-

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handeln in unseren Kirchen alle Predigten die folgenden Themen: Buße, Gottesfurcht, Glauben an Christus, Glaubensgerechtigkeit, Tröstung der Gewissen durch den Glauben, Übungen des Glaubens, Gebet (wie es geschehen soll und dass man gewiss glauben soll, es sei wirksam und werde erhört), das Kreuz, Würde der Obrigkeiten und aller bürgerlichen Ordnungen, Unterschied zwischen dem Reich Christi oder geistlichen Reich und den weltlichen Dingen, Ehe, Erziehung und Unterweisung der Kinder, Keuschheit, alle Pflichten der Liebe. Aus dieser Beschaffenheit der Gemeinden kann ersehen werden, dass wir die kirchliche Ordnung, gottgefällige Zeremonien und gute kirchliche Sitten sorgfältig beibehalten. Von der Tötung des Fleisches aber und der Zucht des Leibes lehren wir so, wie es das Bekenntnis387 berichtet: dass die wahre und ungeheuchelte Tötung durch Kreuz und Anfechtungen geschieht, durch die Gott uns erprobt. In ihnen muss man dem Willen Gottes gehorchen, wie Paulus sagt: »Bringt eure Leiber als ein Opfer dar«388 usw. Und das sind die geistlichen Übungen der Furcht und des Glaubens. Neben dieser Tötung, die durch das Kreuz geschieht, muss es aber auch noch eine zweite, gewissermaßen freiwillige Form der Übung geben, von der Christus sagt: »Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen.«389 Und Paulus [schreibt]: »Ich zähme meinen Leib und bringe ihn zur Dienstbarkeit«390 usw. Und diese Übungen muss man auf sich nehmen, nicht, weil es sich um rechtfertigende Kulte handelt, sondern damit sie das Fleisch zähmen, damit nicht Sattheit uns erdrückt und uns sicher und träge macht, wodurch es geschieht, dass die Menschen den Regungen des Fleisches nachgeben und gehorchen. Diese Sorgfalt muss von Dauer sein, weil ihr ein beständiges Gebot Gottes gilt. Jene vorgeschriebene Form bestimmter Speisen und Zeiten trägt nichts zur Zähmung des Fleisches bei. Denn sie ist genussreicher und aufwendiger als sonstige Mahlzeiten; und nicht einmal die Gegner beachten die in den kirchlichen Bestimmungen überlieferte Form.

387. 388. 389. 390.

Augsburger Bekenntnis, Art. 26, unsere Ausgabe S. 77–82. Röm 12,1. Lk 21,34. 1 Kor 9,27.

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[130 Behutsamkeit bei der Änderung menschlicher Satzungen] Viele und schwierige Streitfragen enthält dieses Lehrstück von den Überlieferungen. Und wir haben wirklich erfahren: Die Satzungen sind in Wahrheit Fesseln der Gewissen. Wenn man sie als notwendig einklagt, quälen sie die Gewissen derer, die irgendeine Vorschrift übergehen, ganz außerordentlich. Andererseits bringt aber auch ihre Abschaffung Probleme und Fragen. Aber unsere Sache liegt einfach und klar: Die Gegner verdammen uns, weil wir lehren, dass menschliche Satzungen nicht die Sündenvergebung verdienen. Ebenso fordern sie »Universalsatzungen«, wie sie es nennen, so als wären diese zur Rechtfertigung nötig. Hier haben wir Paulus zum ständigen Anwalt, der stets darauf besteht, dass diese Auflagen weder rechtfertigen noch über die Glaubensgerechtigkeit hinaus erforderlich sind. Dennoch lehren wir, der Gebrauch der Freiheit in diesen Dingen müsse so maßvoll geschehen, dass Unerfahrene nicht verletzt werden und sie die wahre Lehre des Evangeliums nicht wegen eines Missbrauchs der Freiheit noch mehr ablehnen. Wir lehren, an den gewohnten Riten solle ohne triftigen Grund nichts verändert werden, vielmehr solle man zur Stärkung der Eintracht die alten Gebräuche beibehalten, die ohne Sünde oder große Unzuträglichkeit bewahrt werden können. Und auf diesem Reichstag selbst haben wir zur Genüge bewiesen, dass wir um der Liebe willen die Mitteldinge, selbst wenn sie Beschwerliches an sich haben, ohne große Umstände gemeinsam mit den anderen einhalten wollen. Denn wir urteilen, dass die öffentliche Eintracht, die ohne Verletzung der Gewissen zu wahren ist, allen anderen Annehmlichkeiten vorgezogen werden muss. Über diese ganze Sache aber werden wir auch später noch reden, wenn wir von den Gelübden und der kirchlichen Amtsgewalt sprechen werden.

[Art. XVI:] Von der politischen Ordnung [131 Unterscheidung zwischen dem Reich Christi und den weltlichen Dingen] Den sechzehnten Artikel akzeptieren die Gegner ohne jede Einschränkung. In ihm haben wir bekannt, dass es einem Christen erlaubt ist, obrigkeitliche Aufgaben zu übernehmen, Urteile zu fällen aufgrund von kaiserlichen oder anderen gültigen Gesetzen, dem

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Recht entsprechend Strafen zu verhängen, dem Recht entsprechend Kriege zu führen, Kriegsdienst zu leisten, dem Recht entsprechend Geschäfte zu tätigen, Eigentum zu besitzen, auf Verlangen der Regierungen Eide zu leisten, eine Ehe zu schließen. Schließlich, dass rechtmäßige weltliche Ordnungen gute Schöpfungen Gottes und göttliche Ordnungen sind, von denen ein Christ mit Sicherheit Gebrauch machen kann. Diese ganze Frage der Unterscheidung zwischen dem Reich Christi und dem weltlichen Reich ist in den Schriften der Unseren nutzbringend beleuchtet worden: dass das Reich Christi ein geistliches Reich ist, d. h. ein solches, das im Herzen die Erkenntnis Gottes, Gottesfurcht und Glauben, ewige Gerechtigkeit und ewiges Leben beginnen lässt, dabei aber zulässt, dass wir nach außen die rechtmäßigen staatlichen Ordnungen jedweder Völker, bei denen wir leben, gebrauchen, so wie es uns auch die Heilkunst, die Baukunst, Speisen, Getränke oder Luft in Anspruch nehmen lässt. Das Evangelium bringt auch keine neuen Gesetze für das bürgerliche Leben, sondern gebietet, den gültigen Gesetzen zu gehorchen, mögen sie nun von heidnischen oder anderen [Gesetzgebern] stammen, und weist uns an, in diesem Gehorsam Liebe zu üben. Denn Karlstadt391 war von Sinnen, als er uns die Strafgesetze des Mose auferlegen wollte. Von diesen Dingen haben die Unsrigen deshalb so viel geschrieben, weil die Mönche viele verderbliche Meinungen in der Kirche verbreitet haben. Sie haben die Gütergemeinschaft als evangelische politische Ordnung bezeichnet; sie haben behauptet, es seien [evangelische] Räte,392 kein Eigentum zu haben [und] sich nicht zu rächen. Diese Behauptungen verdunkeln das Evangelium und das geistliche Reich sehr; und sie sind gefährlich für die Staaten. Denn das Evangelium löst den Staat oder die Wirtschaft nicht auf, sondern billigt sie vielmehr und gebietet, ihnen nicht nur der Strafe, sondern auch des Gewissens wegen als einer göttlichen Ordnung zu gehorchen.

391. Andreas Bodenstein von Karlstadt, ursprünglich Mitreformator in Wittenberg; nach Konflikten über Fragen der Reformation an anderen Orten wirkend, zuletzt in Basel († 1541). 392. Die »evangelischen Räte« (nach Worten Jesu über Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam) bildeten die Grundlage der mönchischen Lebensform.

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Julian Apostata,393 Celsus394 und die meisten anderen haben den Christen den Vorwurf gemacht, dass das Evangelium die Staaten zerstören würde, weil es die Vergeltung verbiete und bestimmte andere für das bürgerliche Zusammenleben wenig geeignete Dinge überliefere. Und diese Anfragen haben Origenes, Gregor von Nazianz und anderen erstaunlich viel Kopfzerbrechen bereitet, obwohl sie doch leicht zu klären gewesen wären, wenn wir uns bewusstmachen, dass das Evangelium keine Gesetze über das bürgerliche Leben einführt, sondern die Vergebung der Sünden und der Anfang des ewigen Lebens in den Herzen der Gläubigen ist; dass es im Übrigen nicht nur die äußeren politischen Ordnungen billigt, sondern dass wir uns ihnen ebenso unterwerfen, wie wir zwangsläufig den Gesetzen der Zeiten, dem Wechsel von Winter und Sommer als göttlichen Anordnungen unterworfen sind. [132 Das Evangelium bestätigt politische und ökonomische Ordnungen in ihren Grenzen] Das Evangelium verbietet die private Rache; und Christus schärft dies deshalb so oft ein, damit die Apostel nicht meinten, sie müssten denen die Herrschaft entreißen, die sie gerade innehatten (wie die Juden dies vom Reich des Messias erträumten), sondern wüssten, dass sie von einem geistlichen Reich predigen, [und] nicht die bürgerliche Ordnung verändern sollten. Deshalb wird die Privatrache nicht durch einen Rat, sondern durch ein Gebot untersagt, Mt 5[,39] und Röm 12[,19]. Die öffentliche Bestrafung, die kraft des Amtes der Obrigkeit geübt wird, wird nicht in Abrede gestellt, sondern geboten und ist ein Werk Gottes, nach Paulus Röm 13[,1–4]. Die Arten öffentlicher Vergeltung sind nun Gerichtsurteile, Strafen, Kriege und Kriegsdienst. Es ist bekannt, wie schlecht viele Verfasser über diese Dinge geurteilt haben, weil sie sich in dem Irrtum befanden, das Evangelium sei eine bestimmte äußerliche, neue und mönchische Staatsordnung, und nicht sahen, dass das Evangelium den Herzen

393. Der römische Kaiser Julian (der »Abtrünnige«; 361–363), der nach der Förderung der Kirche durch Kaiser Konstantin und seine Söhne nochmals zu einer altrömisch-heidnischen Politik zurückzulenken versuchte. 394. Verfasser einer Schrift gegen das Christentum: »Ein wahres Wort«; Ende des 2. Jahrhunderts.

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die ewige Gerechtigkeit bringt, nach außen aber die bürgerliche Lebensform gelten lässt. Völlig abwegig ist es auch zu behaupten, die christliche Vollkommenheit bestehe darin, kein Privateigentum zu besitzen. Denn die christliche Vollkommenheit besteht nicht in der Verachtung bürgerlicher Ordnungen, sondern in Regungen des Herzens, einer tiefen Gottesfurcht, einem großen Glauben, so wie auch Abraham, David und Daniel mit großer Habe und Macht nicht weniger vollkommen waren als irgendwelche Einsiedler. Die Mönche aber haben die Augen der Menschen mit jener äußerlichen Heuchelei überschüttet, damit man nicht sehen könne, worin die wahre Vollkommenheit besteht. Mit was für Lobreden haben sie die Gütergemeinschaft als »evangelisch« vorgeführt! Doch haben diese Lobreden viel Gefährliches an sich, vor allem, wenn sie weit von der Schrift abweichen. Denn die Schrift fordert nicht, dass die Dinge Gemeinbesitz sein sollen, vielmehr, wenn das Gesetz des Dekalogs sagt: »Du sollst nicht stehlen«395, dann unterscheidet es Besitzrechte und will, dass jeder das Seine besitzt. Ganz von Sinnen war Wyclif396, als er bestritt, dass Priester Eigentum besitzen dürften. Es gibt endlose Erörterungen über Verträge, bei denen den frommen Gewissen nie Genüge geschehen kann, wenn sie nicht den Grundsatz kennen, dass ein Christ bürgerliche Ordnungen und Gesetze in Anspruch nehmen darf. Dieser Grundsatz schützt die Gewissen, weil er lehrt, dass Verträge insoweit vor Gott erlaubt sind, wie die Obrigkeiten oder Gesetze sie billigen. Dieses ganze Lehrstück von den politischen Dingen ist von den Unseren so klargelegt worden, dass die meisten rechtschaffenen Leute, die im Staat und in Unternehmungen tätig sind, bekannt haben, ihnen sei sehr geholfen worden. Zuvor, durch mönchische Meinungen beunruhigt, zweifelten sie nämlich daran, ob das Evangelium jene bürgerlichen Ämter und Geschäfte gestatte. Das haben wir deshalb erwähnt, damit auch Fernstehende begreifen, dass diese Form der Lehre, der wir folgen, die Autorität der Obrigkeiten und das Ansehen aller bürgerlichen Ordnungen nicht ins Wanken bringt, sondern sie vielmehr stärkt. Deren Würde war zuvor sonderbar verdunkelt worden 395. Ex 20,15; Dtn 5,19. 396. John Wyclif († 1384), englischer Theologe, Verfechter einer radikalen Kirchenreform.

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Art. XVIII: Vom freien Willen

durch jene törichten mönchischen Auffassungen, welche die lächerliche und eitle Heuchelei der Armut und Demut der Politik und der Wirtschaft bei Weitem vorzogen, obwohl Politik und Wirtschaft ein Gebot Gottes haben, jene platonische Gemeinschaft aber kein Gebot Gottes hat.

[Art. XVII:] Von der Wiederkunft Christi zum Gericht [133 Gericht zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis] Den siebzehnten Artikel akzeptieren die Gegner ohne Einschränkung. In ihm bekennen wir, dass Christus am Ende der Welt erscheinen und alle Toten auferwecken und den Frommen das ewige Leben und ewige Freuden schenken, die Gottlosen aber dazu verdammen werde, mit dem Teufel ohne Ende gemartert zu werden.

[Art. XVIII:] Vom freien Willen [134 Fähigkeit und Grenzen des menschlichen Willens] Den achtzehnten Artikel »Vom freien Willen« lassen die Gegner gelten; doch setzen sie einige Zeugnisse hinzu, die nicht zu dieser Sache passen. Sie fügen auch die Erklärung hinzu, man dürfe dem freien Willen nicht (wie die Pelagianer397) zu viel zuschreiben, ihm auch nicht (wie die Manichäer398) jede Freiheit absprechen. Das ist völlig klar. Aber wo liegt der Unterschied zwischen den Pelagianern und unseren Gegnern, wenn beide behaupten, die Menschen könnten ohne den Heiligen Geist Gott lieben und seine Gebote hinsichtlich der Substanz der Handlungen erfüllen, [und] Gnade und Rechtfertigung verdienen durch Werke, die die Vernunft aus sich selbst ohne den Heiligen Geist hervorbringt? Wie viele Unsinnigkeiten ergeben sich aus diesen pelagianischen Anschauungen, die in den Schulen mit großer Autorität gelehrt werden! Augustin widerlegt sie im Anschluss 397. Anhänger des Mönches Pelagius († nach 418), Gegner der Gnadenlehre Augustins. 398. Anhänger des persischen Religionsstifters Mani († 276), der eine schroff dualistische Lehre (Welt des Lichts – Welt der Finsternis) vertrat.

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an Paulus mit großem Nachdruck. Wir haben seine Lehre oben im Artikel »Von der Rechtfertigung« zitiert.399 Doch rauben wir dem menschlichen Willen auch nicht die Freiheit. Der menschliche Wille hat eine Freiheit beim Auswählen von Werken und Dingen, die die Vernunft aus sich heraus begreift. Er kann in gewisser Weise die bürgerliche Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit der Werke zuwege bringen; er kann von Gott reden, Gott einen bestimmten Gottesdienst durch ein äußeres Werk darbringen, den Obrigkeiten und den Eltern gehorchen; er kann bei der Auswahl eines äußeren Werkes die Hand vom Mord, vom Ehebruch und vom Raub abhalten. Da in der Natur des Menschen der Verstand und das Urteilsvermögen über Dinge, die der Wahrnehmung unterliegen, erhalten geblieben sind, sind [ihm] auch das Vermögen zur Auswahl dieser Dinge und die Freiheit und Fähigkeit, die bürgerliche Gerechtigkeit zu bewirken, verblieben. Denn dies nennt die Heilige Schrift die »Gerechtigkeit des Fleisches«, die die fleischliche Natur (d. h. die Vernunft) durch sich selbst ohne den Heiligen Geist zuwege bringt. Doch ist die Macht der Begierde so groß, dass die Menschen den schlechten Regungen öfter gehorchen als dem richtigen Urteil. Auch hört der Teufel, der, wie Paulus sagt, in den Gottlosen wirksam ist,400 nicht auf, diese schwache Natur zu verschiedenen Vergehen zu reizen. Dies sind die Gründe, weshalb auch die bürgerliche Gerechtigkeit unter den Menschen selten ist, sehen wir doch, dass nicht einmal Philosophen sie erreicht haben, die sie doch allem Anschein nach angestrebt haben. Es ist aber falsch zu behaupten, dass ein Mensch, der die Werke der Gebote ohne die Gnade tut, nicht sündigt. Und sie fügen noch weiter hinzu, dass derartigen Werken notwendig die Sündenvergebung und die Rechtfertigung geschuldet werden. Denn die menschlichen Herzen ohne den Heiligen Geist sind ohne Gottesfurcht, ohne Vertrauen gegenüber Gott; sie glauben nicht, dass sie erhört werden, dass ihnen verziehen wird, dass Gott ihnen hilft und sie bewahrt. Also sind sie gottlos. Auch kann ein schlechter Baum keine guten Früchte bringen.401 Und »ohne Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen«.402 399. 400. 401. 402.

Siehe oben Nr. 22. Eph 2,2. Mt 7,18. Hebr 11,6.

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Art. XVIII: Vom freien Willen

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Auch wenn wir also dem freien Willen die Freiheit und Fähigkeit, äußere Werke des Gesetzes zu tun, zugestehen, so schreiben wir ihm doch nicht jene geistlichen Werke zu, nämlich wirklich Gott zu fürchten, wirklich Gott zu glauben, wirklich darauf zu vertrauen und zu wissen, dass Gott auf uns sieht, uns erhört, uns verzeiht usw. Dies sind die wahren Werke der ersten Tafel [der Zehn Gebote], die das menschliche Herz nicht ohne den Heiligen Geist vollbringen kann, wie Paulus schreibt: »Der natürliche Mensch (d. h. der Mensch, der sich nur seiner natürlichen Kräfte bedient) vernimmt nicht das, was Gottes ist.«403 Und dies kann beurteilt werden, wenn die Menschen erwägen, wie die Herzen über den Willen Gottes denken, ob sie nämlich wirklich glauben, dass sie von Gott angesehen und erhört werden. Diesen Glauben zu bewahren ist auch für die Heiligen schwierig; weit entfernt davon, dass es ihn in den Gottlosen gäbe. Er wird aber empfangen, wie wir oben gesagt haben, wenn die tief erschrockenen Gewissen das Evangelium hören und Trost empfangen. Es ist also jene Unterscheidung von Nutzen, bei der die bürgerliche Gerechtigkeit dem freien Willen zugeschrieben wird und die geistliche Gerechtigkeit der Leitung des Heiligen Geistes in den Wiedergeborenen. So nämlich bleibt die Zucht erhalten: Denn alle Menschen müssen in gleicher Weise wissen, sowohl, dass Gott jene bürgerliche Gerechtigkeit fordert, als auch, dass wir sie in gewisser Weise zuwege bringen können. Und doch wird der Unterschied zwischen der menschlichen und der geistlichen Weisheit gezeigt, zwischen der philosophischen und der Lehre des Heiligen Geistes, und man kann verstehen, wozu der Heilige Geist nötig ist. Doch ist diese Unterscheidung nicht von uns erfunden worden, sondern die Schrift lehrt sie sehr deutlich. Auch Augustin behandelt sie; und in neuerer Zeit ist sie vorzüglich durch Wilhelm von Paris404 dargestellt worden. Doch wurde sie von denen frevelhaft verschüttet, die sich einbildeten, die Menschen könnten dem Gesetz Gottes ohne den Heiligen Geist gehorsam sein, der Heilige Geist aber werde geschenkt, damit der Gesichtspunkt des Verdienstes hinzukomme.

403. 1 Kor 2,14. 404. Der Dominikaner Wilhelm Peraldus († vor 1270).

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[Art. XIX:] Vom Ursprung der Sünde [135 Nicht aus Gottes universaler Schöpferkraft, sondern aus der Abkehr des Willens von ihm kommt die Sünde] Den neunzehnten Artikel lassen die Gegner gelten. In ihm bekennen wir, dass, obwohl einzig und allein Gott die ganze Welt erschaffen hat und alles, was besteht, erhält, dennoch der Wille im Teufel und in den Menschen, der sich von Gott abkehrt, die Ursache der Sünde ist; nach Christi Wort über den Teufel: »Wenn er lügt, spricht er aus dem Eigenen.«405

[Art. XX:] Von den guten Werken [136 Ungeheuerliche Verdammung der Glaubensgerechtigkeit namens einer Rechtfertigung durch Werke] Im zwanzigsten Artikel schreiben sie deutlich, dass sie zurückweisen und verwerfen, was wir sagen: [nämlich] dass die Menschen die Vergebung der Sünden nicht durch gute Werke verdienen. Sie sprechen deutlich aus, dass sie diesen Artikel zurückweisen und verwerfen. Was soll man in einer so offenkundigen Angelegenheit sagen? – Hier zeigen die Baumeister der Konfutation offen, von welchem Geist sie getrieben werden. Denn was ist gewisser in der Kirche, als dass die Sündenvergebung umsonst um Christi willen geschieht, dass Christus die Versöhnung für die Sünden ist, nicht unsere Werke, wie Petrus sagt: »Von diesem bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.«406 Dieser Kirche der Propheten stimmen wir eher zu als jenen verruchten Schreibern der Konfutation, die Christus so schamlos lästern. Denn obwohl es auch Schriftsteller gab, die meinten, nach der Sündenvergebung würden die Menschen vor Gott nicht durch den Glauben, sondern durch eigene Werke gerecht sein, so haben sie doch nicht gemeint, dass die Sündenvergebung selbst wegen unserer Werke, nicht umsonst um Christi willen geschehe.

405. Joh 8,44. 406. Apg 10,43.

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Art. XX: Von den guten Werken

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Daher ist es eine unerträgliche Lästerung, die Ehre Christi unseren Werken beizulegen. Ohne Scham wagen es diese Theologen, eine solche Meinung in der Kirche zu verbreiten. Doch bezweifeln wir nicht, dass der allerhöchste Kaiser und die Mehrzahl der Fürsten diese Stelle keinesfalls in der Konfutation belassen hätten, wenn sie darauf aufmerksam gemacht worden wären. Wir könnten hierzu zahllose Zeugnisse aus der Schrift, aus den Vätern zitieren. Doch haben wir auch oben bereits reichlich genug darüber gesprochen. Auch braucht der keine weiteren Zeugnisse, der weiß, weshalb Christus uns geschenkt wurde, der weiß, dass Christus die Versöhnung für unsere Sünden ist. Jesaja sagt: »Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.«407 Die Gegner behaupten dagegen, Gott lege unsere Sünden nicht auf Christus, sondern auf unsere Werke. Und man darf hier nicht [laut] sagen, was für Werke sie lehren. Wir sehen, dass ein furchtbares Dekret gegen uns verfasst wurde; es würde uns aber mehr erschrecken, wenn wir für zweifelhafte oder leichtfertige Meinungen kämpften. Jetzt [aber], wo unsere Gewissen begreifen, dass das, was von den Gegnern verdammt wird, die offenkundige Wahrheit ist, deren Verteidigung für die Kirche notwendig ist und die Ehre Christi vermehrt, verachten wir leichthin die Schrecken der Welt und werden das, was zu erleiden ist, um der Ehre Christi willen und der Kirche zum Nutzen mit großem Mut ertragen. Wer sollte sich nicht freuen, zu sterben mit dem Bekenntnis dieser Artikel, dass wir die Sündenvergebung durch den Glauben umsonst um Christi willen erlangen, dass wir die Sündenvergebung nicht durch unsere Werke verdienen? Keinen hinreichend starken Trost werden die Gewissen der Frommen haben gegen die Schrecken der Sünde und des Todes und gegen den Teufel, der sie zur Verzweiflung treibt, wenn sie nicht wissen, dass sie darauf vertrauen sollen, umsonst um Christi willen die Vergebung der Sünden zu erhalten. Dieser Glaube richtet die Herzen auf und macht sie lebendig in jenem erbitterten Kampf gegen die Verzweiflung. Es ist also eine wichtige Sache, um derentwillen wir keine Gefahr scheuen. So »weiche [also auch du] nicht den Übeln, sondern tritt ihnen umso beherzter entgegen«,408 der du unserem Bekenntnis zu407. Jes 53,6. 408. Vergil, Aeneis VI, 95.

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stimmst, obwohl die Gegner dir durch Schrecken, Martern, Todesurteile den großen Trost rauben wollen, der der ganzen Kirche in diesem unseren Artikel vor Augen gestellt ist. Auch wird es dem, der nach Zeugnissen der Schrift sucht, die ihm sein Herz ermutigen, nicht an solchen fehlen. Denn Paulus ruft »mit aller Kraft«, wie man sagt, Röm 3 und 4, dass die Sünden umsonst vergeben werden um Christi willen.409 Deshalb sagt er: »Aus Glauben werden wir gerecht, und umsonst, damit die Verheißung festbleibe.«410 Das bedeutet: Wenn die Verheißung von unseren Werken abhinge, wäre sie nicht zuverlässig. Wenn die Sündenvergebung um unserer Werke willen gegeben würde – wann wüssten wir, dass wir sie erlangt hätten; wann fände das erschrockene Gewissen ein Werk, von dem es glauben könnte, dass es genüge, um Gottes Zorn zu versöhnen? Doch haben wir schon oben über die ganze Sache gesprochen.411 Von dort mag der Leser [daher auch] die Zeugnisse nehmen. Denn die Niederträchtigkeit der Streitsache hat uns hier nicht zur Erörterung, sondern zur Klage genötigt: weil sie an dieser Stelle ausdrücklich erklärt haben, sie missbilligen diesen unseren Artikel, dass wir die Sündenvergebung nicht wegen unserer Werke erlangen, sondern durch den Glauben und umsonst um Christi willen. [137 Nichtssagende Belege der Gegner für ihr Urteil] Die Gegner fügen ihrem Verdammungsurteil auch noch Belegstellen bei. Und es ist der Mühe wert, das eine oder andere zu zitieren. Aus 2 Petr 1[,10] führen sie an: »Strebt danach, eure Berufung festzumachen« usw. Du siehst, lieber Leser, dass unsere Gegner keine Zeit mit dem Studium der Dialektik verschwendet haben, sondern die Kunstfertigkeit besitzen, aus den Schriften gerade das abzuleiten, was ihnen beliebt: »›Macht eure Berufung fest durch gute Werke.‹ Also verdienen Werke die Sündenvergebung.« Das wird fürwahr eine schlüssige Beweisführung sein, wenn einer im Blick auf einen zum Tode Verurteilten, dem die Strafe erlassen wurde, folgendermaßen argumentiert: »Die Obrigkeit befiehlt dir, dich zukünftig einer neuerlichen Untat zu enthalten. Also hast du den Straferlass dadurch verdient, dass du 409. Röm 3,24f. 410. Röm 4,16. 411. Siehe oben Nr. 24f.

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Art. XXI: Von der Anrufung der Heiligen

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dich jetzt einer weiteren enthältst.« So zu argumentieren heißt, aus einer nicht vorhandenen Ursache eine Ursache zu machen. Denn Petrus spricht von den Werken, die der Sündenvergebung folgen, und lehrt, weshalb sie getan werden sollen, nämlich, damit die Berufung fest ist, d. h., damit sie nicht aus ihrer Berufung fallen, wenn sie neuerlich sündigen. »Tut gute Werke, damit ihr in der Berufung beharrt« und nicht die Gaben der Berufung verliert, die euch zuvor zuteil geworden sind. Nicht wegen der nachfolgenden Werke, sondern schon durch den Glauben werden sie bewahrt. Und der Glaube bleibt nicht in denen, die den Heiligen Geist verlieren, die die Buße verwerfen, wie wir oben gesagt haben: »Der Glaube lebt in der Buße.«412 Sie fügen auch noch andere Schriftworte hinzu, die nicht besser passen. Zuletzt sagen sie, diese Meinung sei schon vor tausend Jahren zur Zeit Augustins verdammt worden. Das ist auch völlig falsch. Immer nämlich hat die Kirche Christi geglaubt, dass die Vergebung der Sünden umsonst geschieht. Im Gegenteil: Die Pelagianer sind verdammt worden, weil sie behaupteten, die Gnade werde wegen unserer Werke gegeben. Im Übrigen haben wir oben hinreichend deutlich gemacht, dass wir meinen, gute Werke müssten notwendig dem Glauben folgen. »Denn wir heben nicht das Gesetz auf«, sagt Paulus, »sondern bestätigen es.«413 Denn wenn wir durch den Glauben den Heiligen Geist empfangen haben, folgt notwendig die Erfüllung des Gesetzes, durch die dann allmählich die Liebe wächst, die Geduld, die Keuschheit und andere Früchte des Heiligen Geistes.

[Art. XXI:] Von der Anrufung der Heiligen [138 Die Alte Kirche kennt keine Anrufung der Heiligen] Artikel XXI verdammen sie rundweg, weil wir die Anrufung der Heiligen nicht fordern. Und an keiner anderen Stelle ist ihr Gerede weitschweifiger. Und doch richten sie damit nichts anderes aus, als dass man die Heiligen ehren solle; ebenso, dass Heilige, die am Leben sind, für andere beten: Als ob deshalb die Anrufung toter Heiliger notwendig wäre! Sie zitieren Cyprian, weil er den noch lebenden Cornelius 412. Siehe oben Nr. 44. 413. Röm 3,31.

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gebeten hat, er möge bei seinem Heimgang für die Brüder beten.414 Durch dieses Beispiel belegen sie die Anrufung der Toten. Sie führen auch Hieronymus’ Schrift gegen Vigilantius an: »In diesem Streit«, sagen sie, »hat Hieronymus vor eintausendeinhundert Jahren Vigilantius415 besiegt.« So triumphieren die Gegner, als sei der Sieg schon errungen. Und dabei übersehen diese Esel, dass es in Hieronymus’ Schrift gegen Vigilantius keine einzige Silbe über die Anrufung gibt. Er spricht von der Verehrung der Heiligen, nicht von ihrer Anrufung. Auch die übrigen alten Schriftsteller vor Gregor416 haben die Anrufung nicht erwähnt. Diese Anrufung mit den Meinungen, die die Gegner jetzt hinsichtlich der Zueignung der Verdienste vertreten, hat mit Sicherheit keine Belege bei den alten Schriftstellern. [139 Verehrung der Heiligen im evangelischen Sinne] Unser Bekenntnis billigt die Verehrung der Heiligen. Denn hier ist eine dreifache Verehrung anzuerkennen. Die erste ist die Danksagung. Wir müssen nämlich Gott dafür danken, dass er uns Beispiele seiner Barmherzigkeit sehen lässt [und] gezeigt hat, dass er die Menschen erlösen will, dass er der Kirche Lehrer und andere Gaben geschenkt hat. Und weil diese Gaben so groß sind, sollen sie gepriesen werden; und die Heiligen selbst sind zu loben, die diese Gaben treu gebraucht haben, so wie Christus die treuen Haushalter lobt. Die zweite Form der Verehrung ist die Stärkung unseres Glaubens: Wenn wir sehen, dass dem Petrus seine Verleugnung verziehen wird, werden auch wir aufgerichtet, so dass wir zuversichtlicher glauben, dass wirklich die Gnade mächtiger ist als die Sünde. Die dritte Form der Verehrung ist die Nachahmung, zuerst des Glaubens, dann der übrigen Tugenden, die jeder seiner Berufung gemäß nachahmen soll. Diese wahren Verehrungen fordern die Gegner nicht. Sie streiten nur über die Anrufung, die doch, auch wenn sie nichts Gefährliches hätte, nicht notwendig ist.

414. Cyprian, Epistula LX, 5 (PL 3, 836). 415. Hieronymus, Contra Vigilantium (PL 23, 339–352). Der aquitanische Presbyter Vigilantius wandte sich Anfang des 5. Jahrhunderts entschieden gegen den Kult der Märtyrer und ihrer Reliquien. 416. Papst Gregor I. der Große (590–604).

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[Fürbitte von Engeln und Heiligen] Darüber hinaus räumen wir auch dies ein, dass die Engel für uns beten. Es gibt nämlich einen Beleg Sach 1[,12], wo der Engel bittet: »Herr Zebaoth, wie lange noch willst du dich nicht erbarmen über Jerusalem?« Auch wenn wir bezüglich der Heiligen einräumen, dass, so wie die Lebenden allgemein für die ganze Kirche beten, auch die im Himmel allgemein für die Kirche beten, so gibt es doch in den Schriften keinen Beleg für betende Tote, mit Ausnahme jenes Traumes aus dem zweiten Makkabäerbuch.417 [140 Anrufung von Heiligen bleibt unbegründbar und ungewiss] Ferner: Wie sehr auch die Heiligen für die Kirche beten mögen, so folgt daraus doch nicht, dass man sie anrufen muss. Unser Bekenntnis hebt allerdings nur hervor, dass die Schrift nicht lehrt, Heilige anzurufen oder von ihnen Hilfe zu erbitten. Wenn aber aus den Schriften weder ein Gebot noch eine Verheißung oder ein Beispiel für die Anrufung der Heiligen beigebracht werden kann, so folgt daraus, dass das Gewissen keine Gewissheit über jene Anrufung haben kann. Und da das Gebet aus Glauben geschehen muss: Wie wissen wir, dass Gott jene Anrufung gutheißt? Woher wissen wir ohne Schriftzeugnis, dass die Heiligen die Bitten der Einzelnen hören? Manche schreiben den Heiligen ganz offen Göttlichkeit zu, nämlich dass sie die stillen Gedanken der Herzen in uns vernehmen. Sie streiten über die »morgendliche« und die »abendliche« Erkenntnis, vielleicht, weil sie zweifeln, ob sie sie morgens oder abends hören. Das mischen sie zusammen, nicht um die Heiligen zu ehren, sondern um einträgliche Kulte zu verteidigen. Nichts kann vorgebracht werden von den Gegnern gegen dieses Argument: Wenn die Anrufung keinen Beleg aus Gottes Wort hat, kann nicht behauptet werden, dass die Heiligen unsere Anrufung vernehmen oder, wie sehr sie sie auch vernehmen mögen, dass Gott sie gutheißt. Deshalb durften uns die Gegner nicht zu einer ungewissen Sache zwingen, weil ein Gebet ohne Glauben kein Gebet ist. Denn wenn sie [hier auch] das Beispiel der Kirche heranziehen – so steht doch fest, dass dies eine neue Sitte in der Kirche ist. Denn obwohl die alten Gebete die Heiligen erwähnen, so

417. 2 Makk 15,14.

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III. Die Apologie der Augsburger Konfession

rufen sie die Heiligen doch nicht an. Doch ist auch jene neue Anrufung in der Kirche etwas anderes als die Anrufung der Einzelnen. [141 Unverantwortbares Überbieten: Heilige nicht nur als »Fürbitter«, sondern auch als »Versöhner«] Darüber hinaus fordern die Gegner beim Heiligenkult nicht nur die Anrufung, sondern eignen Verdienste der Heiligen auch anderen Menschen zu; sie machen aus den Heiligen nicht nur Fürbitter, sondern auch Versöhner. Das ist auf keine Weise zu dulden. Denn hier wird Christi eigene Ehre ganz auf die Heiligen übertragen. Sie machen sie nämlich zu Mittlern und Versöhnern; und obwohl sie zwischen »Mittlern der Fürsprache« und »Mittlern der Erlösung« unterscheiden, machen sie doch offen aus den Heiligen »Mittler der Erlösung«. Und auch jenes behaupten sie ohne einen Beleg aus der Schrift (nämlich dass sie »Mittler der Fürsprache« seien), was, sehr gelinde gesagt, gleichwohl das Amt Christi verfinstert und das Christus geschuldete Vertrauen auf Barmherzigkeit auf die Heiligen überträgt. Denn die Menschen stellen sich vor, dass Christus härter urteilt und die Heiligen versöhnlicher; sie vertrauen der Barmherzigkeit der Heiligen mehr als der Barmherzigkeit Christi; sie fliehen Christus und suchen die Heiligen. So machen sie aus ihnen in der Tat »Mittler der Erlösung«. Deshalb werden wir zeigen, dass sie aus den Heiligen tatsächlich nicht nur Fürbitter, sondern Versöhner machen, d. h. »Mittler der Erlösung«. Wir reden hier noch gar nicht von den Missbräuchen im Volk. Wir sprechen bislang nur von den Meinungen der Gelehrten. Das Übrige können auch unerfahrene Leute beurteilen. Bei einem Versöhner kommen zwei Dinge zusammen: Zuerst muss es ein Wort Gottes geben, aus dem wir mit Gewissheit entnehmen können, dass Gott sich erbarmen und die ihn Anrufenden durch diesen Versöhner erhören will. Eine solche Verheißung gibt es über Christus: »Was ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, wird er euch geben.«418 Über die Heiligen gibt es keine solche Verheißung. Daher können die Gewissen nicht sicher urteilen, dass wir durch die Anrufung der Heiligen erhört werden. Daher geschieht jene Anrufung nicht aus dem Glauben. Sodann haben wir auch ein Gebot, dass

418. Joh 16,23.

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wir Christus anrufen sollen nach jenem Wort: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig seid«419 usw., was gewiss auch zu uns gesagt ist. Und Jesaja sagt im 11. [Kapitel]: »An jenem Tage wird die Wurzel Jesse einen Sproß treiben zum Zeichen für die Völker, und die Heiden werden ihn anbeten.«420 Und Ps 43: »Vor deinem Angesicht werden alle Reichen des Volkes beten.«421 Und Ps 71: »Und alle Könige der Erde werden ihn anbeten.«422 Und kurz darauf: »Sie werden beständig vor ihm beten.«423 Und Joh 5[,23] spricht Christus: »Damit sie alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren.« Und Paulus sagt 2 Thess 2[,16f] betend: »Er aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, ermutige eure Herzen und stärke euch« usw. Hinsichtlich der Anrufung der Heiligen aber: Welches Gebot, welches Beispiel können die Gegner da aus den Schriften beibringen? Das Zweite an einem Versöhner ist, dass seine Verdienste dargebracht sind als solche, die für andere Genugtuung leisten sollen, die anderen durch göttliche Zurechnung geschenkt werden sollen, damit sie um ihretwillen wie durch eigene Verdienste für gerecht erklärt würden. Wie wenn ein Freund für den Freund Schulden begleicht, der Schuldner durch eine fremde Leistung, so als wäre sie eine eigene, ausgelöst wird. So werden uns die Verdienste Christi geschenkt, damit wir für gerecht erklärt werden durch das Vertrauen auf die Verdienste Christi, wenn wir an ihn glauben, so als hätten wir eigene Verdienste. Und aus beidem, nämlich aus der Verheißung und der Zueignung der Verdienste, erwächst das Vertrauen auf die Barmherzigkeit. Solches Vertrauen auf die göttliche Verheißung [und] ebenso auf die Verdienste Christi muss zum Gebet mitgebracht werden. Denn wir sollen wirklich glauben, sowohl dass wir um Christi willen erhört werden, als auch dass wir durch seine Verdienste einen versöhnten Vater haben. Hier lassen die Gegner erstens die Heiligen anrufen, obwohl sie dafür weder eine Verheißung Gottes noch ein Gebot oder ein Beispiel

419. 420. 421. 422. 423.

Mt 11,28. Jes 11,10. Ps 45,13. Ps 72,11. Ps 72,15.

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aus der Schrift haben. Und doch bewirken sie hierdurch, dass man größeres Vertrauen auf das Erbarmen der Heiligen setzt als auf die Barmherzigkeit Christi, obwohl Christus geboten hat, zu ihm zu kommen, nicht zu den Heiligen. Zweitens wenden sie die Verdienste der Heiligen anderen Menschen zu wie die Verdienste Christi; sie veranlassen, auf die Verdienste der Heiligen zu vertrauen, so als würden wir wegen der Verdienste der Heiligen für gerecht erklärt, wie wir wegen der Verdienste Christi für gerecht erklärt werden. Wir erfinden hier nichts. In den Ablässen, behaupten sie, wenden sie die Verdienste der Heiligen zu. Und Gabriel [Biel] verkündet als Interpret des Messkanons freimütig: »Wir sollen nach der von Gott gegebenen Ordnung zur Hilfe der Heiligen Zuflucht nehmen, um durch ihre Verdienste und Gebete selig zu werden.«424 Dies sind die Worte Gabriels. Und doch kann man in den Büchern und Predigten der Gegner vielfach [noch] unsinnigere Dinge lesen. Was sonst, wenn nicht dies, heißt: »Versöhner zu machen«? Sie werden Christus gänzlich gleich gemacht, wenn wir darauf vertrauen sollen, durch ihre Verdienste selig zu werden. Wo aber wurde jene Ordnung von Gott gegeben, von der er sagt, wir sollen zur Hilfe der Heiligen Zuflucht nehmen? Soll er uns doch ein Beispiel oder ein Gebot aus der Schrift bringen! Vielleicht nehmen sie diese Ordnung von den Fürstenhöfen, wo man Freunde als Fürsprecher braucht. Aber wenn der König einen bestimmten Fürsprecher eingesetzt hat, dann wird er nicht wollen, dass ihm die Fälle durch andere vorgetragen werden. Wenn also Christus zum Fürsprecher und Priester bestimmt worden ist, warum suchen wir andere? [142 Verehrung Marias] Weit und breit benutzt man diese Absolutionsformel: »Das Leiden unseres Herrn Jesus Christus, die Verdienste der allerseligsten Jungfrau Maria und aller Heiligen mögen dir zur Vergebung der Sünden gereichen.« Hier wird eine Absolution verkündet, nach der wir nicht allein durch die Verdienste Christi, sondern durch die Verdienste anderer Heiliger versöhnt und für gerecht erklärt werden. Einige von uns haben einen sterbenden Doktor der Theologie gesehen, zu dessen

424. Gabriel Biel († 1495), Expositio canonis missae XXX.

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Tröstung ein theologisch versierter Mönch herbeigeholt wurde. Der schärfte dem Sterbenden nur dieses Gebet ein: »Mutter der Gnade, behüte uns vor dem Feind, nimm uns in der Todesstunde auf.« Wenn wir auch einräumen, dass die selige Maria für die Kirche betet – nimmt sie etwa selbst die Seelen im Tode in Empfang? Besiegt sie den Tod? Macht sie lebendig? Was tut Christus, wenn dies [alles] die selige Maria tut? Sie, die doch, obwohl sie die der höchsten Ehren Würdigste ist, nicht Christus gleichgestellt werden will, sondern lieber will, dass wir ihr Vorbild anschauen und in uns aufnehmen. Tatsächlich aber ist es so, dass nach gewöhnlicher Überzeugung die selige Jungfrau ganz an die Stelle Christi getreten ist. Sie war es, die die Menschen anriefen; ihrer Barmherzigkeit vertrauten sie; durch sie wollten sie Christus gnädig stimmen, als wäre er nicht der Versöhner, sondern nur ein zu fürchtender Richter und Rächer. Wir aber glauben, dass wir nur durch das Vertrauen auf die Verdienste Christi gerechtfertigt werden, nicht durch das Vertrauen auf die Verdienste der seligen Jungfrau oder anderer Heiliger. Von den anderen Heiligen heißt es: »Jeder wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit.«425 Das heißt: Sie können sich selbst untereinander – die einen den anderen – ihre Verdienste nicht zueignen, wie die Mönche die Verdienste ihrer Orden verkaufen. Und Hilarius sagt über die törichten Jungfrauen: »Und weil die törichten nicht entgegenlaufen können nach dem Verlöschen ihrer Lampen, bitten sie diejenigen, die klug waren, ihnen Öl zu leihen. Sie antworteten ihnen, dass sie es ihnen nicht geben könnten, weil es vielleicht nicht für alle genug wäre. Es ist klar, dass niemandem mit fremden Werken oder Verdiensten zu helfen ist, weil man für jede Lampe ihr eigenes Öl kaufen muss.«426 Wenn also die Gegner lehren, das Vertrauen auf die Anrufung der Heiligen zu setzen (obwohl sie dafür weder ein Wort Gottes noch ein Beispiel der Schrift haben), und wenn sie Verdienste der Heiligen anderen zueignen (nicht anders als die Verdienste Christi) und Christi eigene Ehre auf die Heiligen übertragen – so können wir weder ihre Meinungen über den Heiligenkult noch ihren Brauch der Anrufung übernehmen. Wir wissen nämlich, dass das Vertrauen auf die Für425. 1 Kor 3,8. 426. Hilarius († 367), Commentarius in evangelium secundum Matthaeum [zu Mt 25,8f] (PL 9, 1060).

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sprache Christi zu setzen ist, weil sie allein Gottes Verheißung hat. Wir wissen, dass allein die Verdienste Christi uns Versöhnung bringen. Um der Verdienste Christi willen werden wir für gerecht erklärt, wenn wir an ihn glauben, wie der Text sagt: »Wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.«427 Und wir werden nicht durch das Vertrauen auf Verdienste der seligen Jungfrau oder anderer Heiliger gerechtfertigt. [143 Heidnische Vorstellungen von den »Aufgaben« der Heiligen] Auch dieser Irrtum hält sich bei den Gelehrten, dass einzelnen Heiligen bestimmte Aufgaben anvertraut seien, dass Anna428 Wohlstand schenkt, Sebastian429 vor der Pest bewahrt, Valentin430 die Epilepsie heilt, Georg431 die Ritter schützt. Diese Überzeugungen haben klar ihren Ursprung in heidnischen Vorbildern. So meinte man nämlich bei den Römern, dass Juno reich mache, Febris vor Fieber schütze, Castor und Pollux die Reiter schützen usw. Und gesetzt den Fall, die Heiligenanrufung würde sehr maßvoll gelehrt – wozu muss man sie, da das Beispiel höchst gefährlich ist, verteidigen, obwohl sie kein Gebot oder Zeugnis aus dem Worte Gottes hat? Mehr noch: Sie hat auch nicht das Zeugnis der alten Schriftsteller. Denn erstens, wie ich oben gesagt habe: Wenn neben Christus andere Mittler gesucht werden, dann wird das Vertrauen auf andere gesetzt, dann wird die ganze Erkenntnis Christi verschüttet. Das zeigt die Sache selbst. Zu Beginn scheint die Erwähnung der Heiligen, wie sie sich in alten Gebeten findet, in erträglicher Absicht übernommen worden zu sein. Später folgte die Anrufung; ungeheuerliche und mehr als heidnische Missbräuche folgten dann auf die Anrufung. Von der Anrufung kam man zu den Bildern; auch diese wurden verehrt, und man meinte, ihnen wohne eine bestimmte Kraft inne, so wie Zauberer behaupten, den zu bestimmter Zeit gemeißelten Bildern der Sternzeichen wohne eine Kraft inne. In einem bestimmten Kloster haben wir ein Bild der seli427. Röm 9,33; 1 Petr 2,6. 428. Die Mutter der Maria. Sie galt u. a. als Patronin der Armen. 429. Nach der Legende ein Offizier der Prätorianergarde, Märtyrer unter Kaiser Diokletian, Patron gegen die Pest. 430. Missionar in Rhätien (5. Jahrhundert), Schutzpatron von Passau, Helfer gegen Epilepsie und Gicht. 431. Kappadokischer Krieger, Märtyrer unter Kaiser Diokletian, Patron der Ritter.

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gen Jungfrau gesehen, das sich wie von selbst passend bewegte, so dass es schien, als wende es sich von den Bittenden ab oder nicke ihnen zu. [Heiligenlegenden als Tummelplatz des Aberglaubens] Und doch überbieten die lügenhaften Heiligengeschichten, die mit großem Anspruch öffentlich verbreitet werden, die Missgestalt aller Statuen und Bilder noch bei Weitem. Barbara erbittet sich unter Qualen als Lohn, dass, wer sie anruft, nicht ohne Abendmahl sterben soll. Ein anderer hat auf einem Fuß stehend Tag für Tag den ganzen Psalter vorgetragen. Den Christophorus hat ein kluger Mann gemalt, um allegorisch zu zeigen, dass eine große Geisteskraft in denen sei, die Christus tragen (d. h. das Evangelium lehren oder bekennen), weil sie notwendig sehr große Gefahren auf sich nehmen. Daraufhin lehrten törichte Mönche das Volk, Christophorus anzurufen, als hätte [tatsächlich] irgendwann einmal ein solcher Polyphem432 gelebt. Und wenn die Heiligen auch sehr große Taten vollbrachten, die entweder dem Gemeinwesen nützten oder Vorbilder für den Einzelnen enthielten, deren Andenken viel zur Stärkung des Glaubens wie auch zur Nachahmung in Taten beitragen könnte, so hat sie doch niemand in wahren Begebenheiten ausfindig gemacht. Doch ist es wirklich nützlich zu hören, wie heilige Männer Staaten verwaltet haben, welche Verhältnisse, welche Gefahren sie auf sich nahmen, wie heilige Männer in großen Gefahren Königen zur Hilfe kamen, wie sie das Evangelium lehrten, welche Kämpfe sie mit Ketzern bestanden haben. Nützlich sind auch Beispiele des Erbarmens, wie wenn wir sehen, dass Petrus die Verleugnung verziehen wurde; wenn wir sehen, dass dem Cyprian verziehen wurde, dass er ein Zauberer gewesen war;433 wenn wir sehen, dass Augustin, durch eine Krankheit auf die Probe gestellt, standhaft die Kraft des Glaubens bezeugt, weil Gott wirklich die Gebete der Glaubenden erhört. Beispiele dieser Art, die den Glauben, die [Gottes-]Furcht oder die Verwaltung des Staates zum Inhalt haben, hätten nutzbringend vorgetragen werden können. Stattdessen haben gewisse Gaukler, die weder Kenntnis vom Glauben noch von 432. Einäugiger Riese der griechischen Sage. 433. Cyprian, Bischof von Antiochien († 304), war der Legende nach ein bekehrter heidnischer Zauberer.

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der Staatsführung besaßen, durch Nachahmung von Dichtungen Fabeln ersonnen, in denen sich nur abergläubische Beispiele für bestimmte Gebete, für bestimmte Fastenübungen finden, und man fügte noch manches hinzu, was Gewinn versprach. Wunder dieser Art wurden auch über den Rosenkranz und ähnliche Zeremonien ersonnen. Doch ist es nicht nötig, hier weitere Beispiele zu nennen. Es gibt nämlich »Legenden«, wie sie es nennen, und »Spiegel« von Beispielen und »Rosenkränze«, bei denen das meiste den »Wahren Erzählungen« Lukians434 nicht unähnlich ist. Diesen ungeheuerlichen und gottlosen Fabeln zollen Bischöfe, Theologen und Mönche Beifall, weil sie zu ihrem Unterhalt beitragen. Uns aber, die wir (damit Christi Ehre und Amt besser erkannt werden könne) die Anrufung der Heiligen nicht fordern und die Missbräuche der Heiligenverehrung genau benennen, dulden sie nicht. Obwohl sich allerorten alle trefflichen Männer zur Abstellung dieser Missbräuche entweder die Autorität der Bischöfe oder die Sorgfalt der Prediger wünschen, übersehen unsere Gegner in der Konfutation dennoch auch ganz offenkundige Fehler, so als wollten sie uns nach Annahme der Konfutation dazu zwingen, auch die bekanntesten Missbräuche gutzuheißen.

[Schluss des ersten Teils der Apologie] [144 Unlauteres Vorgehen der Gegner] So hinterlistig ist die Konfutation nicht nur an dieser Stelle, sondern fast überall abgefasst. Es gibt keine Stelle, an der sie von ihren Lehrsätzen offenkundige Missbräuche unterscheiden. Und doch gibt es bei ihnen auch Vernünftigere, die zugeben, dass in der Lehre der Scholastiker und Kirchenrechtler viele falsche Auffassungen stecken, dass außerdem bei so großer Unwissenheit und Nachlässigkeit der Pfarrer viele Missbräuche in die Kirche eingedrungen sind. Denn Luther war nicht der Erste, der über die öffentlichen Missbräuche klagte. Denn viele gelehrte und vortreffliche Männer haben lange vor diesen Zeiten die Missbräuche der Messe beklagt, das Vertrauen auf

434. Lukian von Samosata, griechischer Satiriker des 2. Jahrhunderts n. Chr.

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Schluss des ersten Teils

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die mönchischen Gebräuche, die gewinnträchtigen Heiligenkulte, die Verwirrung in der Lehre von der Buße, die in der Kirche ganz besonders deutlich und geordnet vor Augen stehen müsste. Wir haben selbst gehört, dass vorzügliche Theologen eine Mäßigung der scholastischen Lehre ersehnten, die viel mehr philosophische Zänkereien als Frömmigkeit enthält. Und doch stehen darin die älteren [Theologen] der Schrift fast noch näher als die neueren. So ist deren Theologie mehr und mehr verkommen. Und viele treffliche Männer, die gleich zu Beginn Luther zu schätzen begannen, hatten dafür keinen anderen Grund, als dass sie sahen, dass Luther die Herzen der Menschen aus jenen Labyrinthen verworrenster und endloser Streitfragen, die es bei den scholastischen Theologen und Kirchenrechtlern gibt, herausführt und zur Frömmigkeit dienende Dinge lehrt. Daher haben die Gegner nicht lauter gehandelt, als sie, weil sie unsere Zustimmung zur Konfutation wollten, die Missbräuche verschwiegen. Und wenn sie einen Rat für die Kirche gewünscht hätten, besonders an diesem Ort, bei dieser Gelegenheit, so hätten sie den hochedlen Kaiser dazu auffordern müssen, einen Beschluss zur Abstellung der Missbräuche zu fassen. Denn wir haben deutlich bemerkt, dass der Kaiser sehr bestrebt ist, die Kirche in einen guten Zustand zu versetzen und zu heilen. Aber die Gegner tun nichts, um den höchst ehrenhaften und heiligen Willen des Kaisers zu unterstützen, sondern [tun alles], um uns auf jede Weise zu unterdrücken. Viele Zeichen deuten darauf hin, dass sie um den Zustand der Kirche wenig besorgt sind. Sie verwenden keine Mühe darauf, dem Volk eine bestimmte Zusammenfassung der kirchlichen Lehren an die Hand zu geben. Offenkundige Missbräuche verteidigen sie mit neuartiger und ungewöhnlicher Grausamkeit. Sie dulden keine geeigneten Lehrer in der Kirche. Wohin dies führt, können treffliche Männer leicht beurteilen. Auf diese Weise aber leisten sie weder ihrer Herrschaft noch der Kirche einen guten Dienst. Denn sobald sie die guten Lehrer ermordet und die gesunde Lehre unterdrückt haben, werden fanatische Geister auftreten. Die werden die Gegner nicht zurückdrängen können. Sie werden sowohl die Kirche durch gottlose Lehren in Verwirrung bringen als auch die ganze kirchliche Ordnung umstürzen, die wir von Herzen zu erhalten wünschen.

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[Appell an den Kaiser] Deshalb bitten wir dich, hochedler Kaiser Karl, du mögest um der Ehre Christi willen, die du, woran wir nicht zweifeln, zu verherrlichen und zu mehren wünschst, nicht den Gewaltplänen unserer Gegner zustimmen, sondern andere, ehrenhafte Wege suchen, um die Eintracht so herzustellen, dass fromme Gewissen nicht beschwert werden, dass weder Grausamkeit gegen unschuldige Menschen, wie wir sie bisher geschehen sahen, verübt wird noch die gesunde Lehre in der Kirche unterdrückt wird. Diesen Dienst schuldest du Gott am meisten: die gesunde Lehre zu erhalten, sie an die Nachfahren weiterzugeben und die zu beschützen, die das Rechte lehren. Das nämlich fordert Gott, wenn er die Könige mit seinem Namen schmückt und »Götter« nennt, indem er spricht: »Ich habe gesagt: ›Ihr seid Götter‹«435, damit sie dafür sorgen, dass die göttlichen Dinge – d. h. das Evangelium Christi – auf Erden erhalten und verbreitet werden, und damit sie als Stellvertreter Gottes das Leben und das Heil Unschuldiger beschirmen.

[Art. XXII:] Von beiderlei Gestalt des Abendmahls [145 Der ganzen Kirche ist das ganze Abendmahl gegeben] Es kann nicht bezweifelt werden, dass es fromm ist und mit der Einsetzung Christi und den Worten des Paulus in Einklang steht, im Mahl des Herrn beide Teile zu empfangen. Denn Christus hat beide Teile eingesetzt und hat sie nicht nur für einen Teil der Kirche, sondern für die ganze Kirche eingesetzt. Denn nicht die Priester allein, sondern die ganze Kirche empfängt kraft der Vollmacht Christi, nicht aus menschlicher Vollmacht, das Sakrament; und wir meinen, dass dies auch die Gegner bekennen. Wenn Christus es nun [aber] für die ganze Kirche eingesetzt hat, warum wird dann die zweite Gestalt einem Teil der Kirche entzogen? Warum wird der Empfang der anderen Gestalt verboten? Warum wird die Ordnung Christi verändert, zumal, da er selbst sie sein »Testament« nennt? Wenn man schon das Testament eines Menschen nicht aufheben darf, um wie viel weniger wird es

435. Ps 82,6.

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Art. XXII: Von beiderlei Gestalt des Abendmahls

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dann erst erlaubt sein, Christi Testament aufzuheben! Auch Paulus sagt, er habe vom Herrn empfangen, was er überliefert hat. Er hatte aber den Gebrauch beider Gestalten überliefert, wie der Text 1 Kor 11 deutlich zeigt: »Dies tut!«, sagt er zuerst vom Leib, und später wiederholt er dieselben Worte beim Kelch. Und dann: »Der Mensch prüfe sich selbst, und so esse er von dem Brot und trinke aus dem Kelch.«436 Dies sind die Worte des Austeilenden. Und er schickt ja doch voraus, dass die, die das Mahl des Herrn empfangen, es zugleich empfangen sollen. Daher steht fest, dass das Sakrament für die ganze Kirche eingesetzt wurde. Und diese Sitte besteht bis heute in den griechischen Kirchen und bestand einst auch in den lateinischen Kirchen, wie Cyprian437 und Hieronymus bezeugen. So nämlich sagt Hieronymus zu Zephanja: »Die Priester, die der Eucharistie dienen und das Blut des Herrn ihren Gemeinden austeilen« usw.438 Dasselbe bezeugt die Synode von Toledo.439 Und es wäre nicht schwer, einen großen Haufen von Belegen zusammenzutragen. Hier wollen wir nichts weiter aufhäufen; wir überlassen es einfach dem verständigen Leser zu prüfen, was von der göttlichen Anordnung zu halten ist. [Die Begründungen für den Kelchentzug sind inakzeptabel] Die Gegner tun in der Konfutation nichts dazu, die Kirche, der der zweite Teil des Sakraments entzogen wurde, zu entschuldigen. Das hätte guten und frommen Männern wohl angestanden. Man hätte ein starkes Argument suchen müssen, um die Kirche zu entschuldigen und die Gewissen zu belehren, denen nur ein Teil des Sakraments zuteilwerden kann. Jetzt vertreten sie selbst die Ansicht, dass der zweite Teil mit Recht verboten werde, und untersagen es, den Empfang beider Teile zu gestatten. Zuerst geben sie vor, am Anfang der Kirche sei es irgendwo Sitte gewesen, nur einen Teil zu reichen. Und doch können sie kein altes Beispiel dafür beibringen. Sie führen aber Stellen an, an denen das Brot erwähnt wird, wie bei Lukas, wo geschrieben steht, dass die Jünger Christus beim Brotbrechen erkannt

436. 437. 438. 439.

1 Kor 11,28. Bischof von Karthago († 258). Hieronymus, Commentarius in Zephaniam III (PL 25, 1375). IV. Konzil von Toledo (633), Kanon 7.

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haben.440 Sie zitieren auch andere Stellen vom Brotbrechen.441 Zwar stellen auch wir nicht in Abrede, dass einige [Stellen] vom Sakrament verstanden werden müssen. Dennoch folgt daraus nicht, dass nur ein Teil gegeben wurde, weil nach allgemeinem Sprachgebrauch durch die Erwähnung eines Teils auch das Übrige bezeichnet wird. Sie führen auch die »Laienkommunion« an, die [aber] nicht nur der Empfang einer Gestalt war, sondern beider Gestalten. Und wenn man die Priester manchmal die Laienkommunion empfangen lässt, so wird dadurch gezeigt, dass sie aus dem Dienst der Konsekration entfernt wurden.442 Die Gegner wissen das auch. Sie missbrauchen aber die Unwissenheit der Unerfahrenen, die sich, wenn sie »Laienkommunion« hören, sofort die Sitte unserer Zeit vorstellen, nach der den Laien nur ein Teil des Sakraments gegeben wird. [146 Die wahren Motive des Kelchentzugs: Unterwerfung der Laien unter die Herrschaft des Priesterstandes] Aber seht nur die Unverschämtheit! Gabriel [Biel]443 führt neben anderen Gründen dafür, weshalb nicht beide Teile gegeben werden sollen, auch diesen an, dass ein Unterschied zwischen Laien und Priestern habe gemacht werden müssen. Und es ist leicht zu glauben, dass dies der Hauptgrund ist, warum das Verbot eines Teils verteidigt werden soll: damit die Würde des Priesteramtes aufgrund seiner Kultpflicht höher zu schätzen sei. Das ist ein menschlicher Gedanke, um es nicht noch deutlicher zu sagen. Wohin das führt, ist leicht zu erkennen. In der Konfutation führen sie auch von den Söhnen Elis an, dass sie nach dem Verlust des höchsten Priesteramtes [nur] einen priesterlichen Anteil fordern wollten.444 Hier, so sagen sie, sei der Gebrauch einer Gestalt angezeigt worden. Und sie fügen hinzu: »Ebenso müssen also auch unsere Laien mit einem priesterlichen Teil, mit einer Gestalt zufrieden sein.« Deutlich treiben die Gegner ihr Spiel, wenn sie die Geschichte von den Nachkommen Elis auf das Sakrament übertragen. Dort wird die Strafe Elis beschrieben. Werden sie

440. 441. 442. 443. 444.

Lk 24,35. Apg 2,42.46; Apg 20,7. Synode zu Orleans (538), Kanon 19. Gabriel Biel († 1495), Expositio canonis missae LXXXIV. 1 Sam 2,36.

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etwa auch behaupten, den Laien werde einer Strafe wegen der andere Teil verwehrt? Das Sakrament wurde eingesetzt, um erschreckte Herzen zu trösten und aufzurichten, wenn sie glauben, dass das für das Leben der Welt gegebene Fleisch Christi die Speise ist, wenn sie glauben, dass sie als mit Christus Verbundene lebendig gemacht werden. Aber die Gegner behaupten, den Laien werde einer Strafe wegen die zweite Gestalt vorenthalten. Sie müssen, sagen sie, [damit] zufrieden sein. Das reicht als Befehl. Aber warum müssen sie das? Man darf nicht nach dem Grund fragen, sondern was immer die Theologen sagen, soll Gesetz sein. Das ist der Ecksche Bodensatz.445 Wir kennen nämlich diese Thrasonischen Reden.446 Wenn wir sie aufgreifen wollten, würde es uns nicht an Worten fehlen. Denn ihr seht, was für eine Schamlosigkeit das ist. Er befiehlt wie irgendein Tyrann in den Tragödien: »Ob sie nun wollen oder nicht; sie müssen zufrieden sein!« Werden denn etwa die Gründe, die er nennt, vor Gottes Gericht diejenigen entschuldigen, die eine Gestalt des Sakramentes verbieten? Die gegen gute Menschen wüten, die das ganze Sakrament empfangen? Wenn sie es deshalb verbieten, damit es einen Unterschied des Standes gebe, so muss dieser Grund selbst uns dazu veranlassen, den Gegnern nicht beizupflichten, auch wenn wir sonst den Brauch mit ihnen hätten wahren wollen. Es gibt andere Unterschiede zwischen dem Priesterstand und dem Kirchenvolk; aber es ist klar, was sie im Sinne haben – warum sie diesen Unterschied so hartnäckig verteidigen. Um aber nicht den Anschein zu erwecken, als wollten wir die wahre Würde des Priesterstandes herabsetzen, werden wir nicht weiter über diesen schlauen Plan reden. Sie führen auch die Gefahr des Verschüttens und Ähnliches mehr an, das nicht solches Gewicht hat, [um deshalb] die Verfügung Christi zu verändern. Und nehmen wir einmal an, es wäre ganz freigestellt, einen oder beide Teile zu empfangen – wie könnte da ein Verbot verteidigt werden? Indessen – die Kirche nimmt sich nicht die Freiheit, aus den Anordnungen Christi beliebige Dinge zu machen. Wir entschuldigen zwar die Kirche, die dieses Unrecht erlitten hat, dass ihr nicht beide Teile zukommen konnten, aber die Urheber, die daran 445. Johann Eck († 1543), Theologieprofessor in Ingolstadt, Hauptgegner Luthers, federführend bei der Abfassung der Konfutation. 446. Thraso, großmäuliger Soldat in den »Eunuchen« des Terenz.

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festhalten, dass der Empfang des ganzen Sakramentes zu Recht verboten wird, und die ihn nicht nur verbieten, sondern auch die, die das ganze Sakrament empfangen, exkommunizieren und mit Gewalt verfolgen, die entschuldigen wir nicht. Mögen sie selbst sehen, wie sie Gott Rechenschaft über ihre Absichten geben werden. Man darf auch nicht meinen, dass die Kirche sogleich alles beschließt und anerkennt, was die Päpste festsetzen, zumal die Schrift im Blick auf Bischöfe und Pastoren in dem Sinne warnt, wie Hesekiel sagt: »Das Gesetz wird dem Priester verloren gehen.«447

[Art. XXIII:] Von der Priesterehe [147 Das Ansinnen an den Kaiser, gegen verheiratete Priester vorzugehen, dient den Gegnern zum Machterhalt unter dem Schein von Frömmigkeit] Obwohl der Zölibat mit so großer Schande beschmutzt ist, wagen es die Gegner nicht nur, den Zölibat als ein päpstliches Gesetz unter dem gottlosen und falschen Vorwand des göttlichen Namens zu verteidigen, sondern auch, den Kaiser und die Fürsten zu ermahnen, nicht »zur Schande und zur Schmach des Römischen Reiches« die Priesterehen zu dulden. So nämlich drücken sie sich aus. Hat man je in der Geschichte von einer größeren Unverschämtheit gelesen, als es die der Gegner ist? Denn wir werden die Argumente, die sie verwenden, später überprüfen. Jetzt möge der verständige Leser bedenken, mit welcher Stirn diese Nullen behaupten, die [Priester-]Ehen brächten dem Reich Schande und Schmach, so als würde die Kirche durch jene öffentliche Schmach schändlicher und ungeheuerlicher Begierden, die bei diesen heiligen Vätern lodern, welche [eine Tugend wie] »Curius vortäuschen und Bacchanalien leben«,448 herrlich geschmückt. Aber das meiste, was sie mit höchster Genehmigung treiben, verbietet die Scham zu nennen. Und diese ihre Begierden, so fordern sie, soll deine keusche Rechte, Kaiser Karl (den schon alte Weissagungen »den König mit dem züchtigen Antlitz« 447. Ez 7,26. 448. Nach Juvenal, Satiren, galt Curius Dentatus als Inbegriff der Sittenstrenge und Genügsamkeit.

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nennen, denn durch dich wird der Spruch wahr: »Züchtig von Angesicht wird er überall herrschen«449), beschützen. Sie fordern, dass du gegen das göttliche Recht, gegen das Recht der Völker, gegen die Beschlüsse der Konzilien die Ehen auseinanderreißt; dass du nur wegen der Ehe grausame Strafen gegen unschuldige Menschen verhängst; dass du Priester niedermetzelst, die selbst die Barbaren in frommer Scheu verschonen, dass du landflüchtige Frauen und Waisenkinder in die Verbannung schickst. Solche Gesetze legen sie dir vor, hochedler und züchtigster Kaiser, welche keine noch so schreckliche und wilde Horde [auch nur] anhören könnte. Doch weil zu dieser deiner Sittenstrenge weder Schändlichkeit noch blinde Wut passen, hoffen wir, dass du auch in dieser Sache milde mit uns verfahren wirst, zumal du erkannt haben dürftest, dass wir höchst gewichtige Gründe für unsere Meinung haben, die aus dem Worte Gottes stammen. Dem setzen die Gegner nur ganz alberne und eitle Auffassungen entgegen. Und dennoch verteidigen sie den Zölibat nicht mit Ernst. Denn sie wissen genau, wie wenige Keuschheit aufbringen. Sondern sie bemänteln ihre Herrschaft, für die sie den Zölibat für nützlich halten, mit dem Schein von Frömmigkeit, so dass wir begreifen, dass Petrus zu Recht gewarnt hat, es werde geschehen, dass Lügenpropheten die Menschen mit erdichteten Worten täuschen.450 Denn nichts in dieser ganzen Sache sagen, schreiben oder betreiben die Gegner wahrhaftig, schlicht und lauter. Sondern tatsächlich kämpfen sie um die Herrschaft, die sie zu Unrecht für gefährdet halten und die sie unter dem gottlosen Vorwand der Frömmigkeit zu festigen versuchen. [148 Gründe für die Ablehnung des Zölibatsgesetzes] Wir können das Gesetz über den Zölibat, das die Gegner verteidigen, deshalb nicht gutheißen, weil es dem göttlichen und dem natürlichen Recht widerstreitet und sogar von den Bestimmungen der Konzilien abweicht.451 Und es steht fest, dass es abergläubisch und gefährlich ist. Denn es hat zahllose Ärgernisse, Sünden und den Verfall der öffentlichen Sitten zur Folge. Unsere übrigen Streitfragen erfordern 449. Sibyllinische Orakel VIII, 169f. 450. 2 Petr 2,1. 451. Das Konzil von Nizäa 325 lehnte den Zwangszölibat ab.

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ein gewisses Gespräch unter Gelehrten; in dieser ist die Sache beiderseits so klar, dass es keiner Erörterung bedarf. Sie verlangt nur einen redlichen und gottesfürchtigen Mann als Richter. Und obwohl von uns die offenkundige Wahrheit verteidigt wird, haben die Gegner falsche Anklagen zusammengezimmert, um unsere Argumente zu schmähen. [(1) Zuordnung von Mann und Frau durch Schöpfung und Gottes Gebot] Erstens. Das 1. Buch Mose lehrt, dass die Menschen erschaffen wurden, damit sie fruchtbar sind und das eine Geschlecht in rechter Ordnung nach dem anderen verlangt.452 Wir sprechen nämlich nicht von der Begierde, die Sünde ist, sondern von jenem Verlangen, das in der unversehrten Natur hätte entstehen sollen und das sie die »natürliche Neigung« nennen. Und diese »Neigung« ist wirklich die göttliche Zuordnung des einen Geschlechtes zum anderen. Da aber diese Zuordnung Gottes ohne ein besonderes Wirken Gottes nicht aufgehoben werden kann, so folgt, dass das Recht, eine Ehe einzugehen, nicht durch Satzungen oder Gelübde aufgehoben werden kann. Darüber reden die Gegner spitzfindig. Sie sagen, zu Anfang sei es ein Gebot gewesen, damit die Erde sich fülle; jetzt aber, nachdem die Erde voll ist, sei die Ehe nicht mehr geboten. Seht, wie klug sie urteilen! Die Natur des Menschen wird durch jenes Wort Gottes [so] gebildet, dass sie nicht nur zu Beginn der Schöpfung fruchtbar sein soll, sondern so lange, wie diese Natur der Körper existiert. So wie durch dieses Wort die Erde fruchtbar wird: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut.«453 Aufgrund dieser Anordnung hat die Erde nicht nur zu Anfang begonnen, Gräser zu treiben, sondern die Äcker werden Jahr für Jahr bekleidet, solange diese Natur besteht. Wie also die Natur der Erde nicht durch menschliche Gesetze verändert werden kann, so kann auch die Natur des Menschen ohne eine besondere Einwirkung Gottes weder durch Gelübde noch durch ein menschliches Gesetz verändert werden.

452. Gen 1,28. 453. Gen 1,11.

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[149 (2) Naturrechtscharakter der Ehe: legitimes natürliches Verlangen der Geschlechter] Zweitens. Und weil diese göttliche Schöpfung oder Ordnung im Menschen ein natürliches Recht ist, deshalb haben die Rechtsgelehrten weise und treffend gesagt, die Verbindung von Mann und Frau sei ein Naturrecht. Da aber das Naturrecht unveränderbar ist, muss das Recht, eine Ehe einzugehen, immer bestehen bleiben. Denn wenn die Natur nicht verändert wird, muss auch jene Ordnung bleiben, die Gott der Natur eingestiftet hat, und sie kann nicht durch menschliche Gesetze aufgehoben werden. Es ist daher lächerlich, dass die Gegner schwätzen, die Ehe sei zu Beginn ein Gebot gewesen, jetzt aber sei sie es nicht [mehr]. Das ist so, als würden sie sagen: Einst hatten die Menschen bei der Geburt ein Geschlecht, jetzt [aber] haben sie es nicht mehr. Einst hatten die Menschen bei der Geburt das Naturrecht in sich, jetzt nicht mehr. – Kein Handwerker könnte etwas Fabrizierteres454 ersinnen als diese Albernheiten, die erdacht wurden, um mit dem Naturrecht ein Spiel zu treiben. Daher bleibe es in dieser Sache auch bei dem, was die Heilige Schrift lehrt und auch ein Rechtsgelehrter weise gesagt hat: dass die Verbindung von Mann und Frau auf dem Naturrecht beruht. Ferner gilt: Das natürliche Recht ist wirklich ein göttliches Recht, weil es eine Ordnung ist, die der Natur von Gott eingestiftet wurde. Weil aber dieses Recht ohne besondere Einwirkung Gottes nicht verändert werden kann, muss das Recht, eine Ehe einzugehen, bestehen bleiben, denn jenes natürliche Verlangen des einen Geschlechtes nach dem anderen ist eine Ordnung Gottes in der Natur und deshalb ein Recht. Wozu sonst wären beide Geschlechter erschaffen worden? Auch reden wir nicht, wie oben gesagt, von der Begierde, welche Sünde ist, sondern von jenem Verlangen, das sie die »natürliche Neigung« nennen, das die [sündige] Begierde nicht aus der Natur getilgt, sondern so entflammt hat, dass es jetzt eher eines Heilmittels bedarf, und dass die Ehe nicht nur der Fortpflanzung wegen, sondern auch als Heilmittel notwendig ist. Das sind klare und so starke Argumente, dass man sie auf keine Weise zu Fall bringen kann. 454. Wortspiel mit dem Namen eines Mitverfassers der Konfutation, Johann Faber (auch: Fabri; faber = Handwerker); als Generalvikar in Konstanz und (ab 1530) Bischof von Wien entschiedener Bekämpfer der Reformation in der Schweiz und in Österreich.

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[150 (3) Ehe als Heilmittel gegen Unzucht; Seltenheit der Gabe der Enthaltsamkeit] Drittens. Paulus sagt: »Um Unzucht zu vermeiden, soll jeder seine eigene Frau haben.«455 Dies ist bereits ein ausdrückliches Gebot, das alle betrifft, die nicht zum Zölibat geeignet sind. Die Gegner wollen, dass man ihnen ein Gebot zeigt, das den Priestern zu heiraten gebietet – so als wären die Priester keine Menschen. Wir, die wir allgemein über die Natur der Menschen sprechen, urteilen, dass das tatsächlich auch die Priester betrifft. Oder gebietet Paulus hier etwa nicht, dass die, die nicht die Gabe der Keuschheit besitzen, heiraten sollen? Denn er legt sich kurz darauf selbst aus, indem er schreibt: »Es ist besser zu heiraten, als in Flammen zu stehen.«456 Und Christus hat deutlich gesagt: »Dies Wort fassen nicht alle, sondern nur die, denen es gegeben ist.«457 Weil nun aber nach dem Sündenfall dies beides in eins fällt, das natürliche Verlangen und die Begierde, die das natürliche Verlangen in Brand setzt, so dass die Ehe noch nötiger wird als in der unversehrten Natur, deshalb spricht Paulus von der Ehe als von einem Heilmittel und befiehlt, jener Brände wegen zu heiraten. Und dieses Wort: »Es ist besser zu heiraten, als in Flammen zu stehen«458 können keine menschliche Autorität, kein Gesetz, keine Gelübde aufheben, weil sie nicht die Natur oder die Begierde aufheben. Deshalb haben alle, die brennen, das Recht zu heiraten. Und dieses Gebot des Paulus: »Der Unzucht wegen soll jeder seine eigene Frau haben«,459 verpflichtet alle, die sich nicht wirklich enthalten [können]. Das Urteil darüber ist Sache des Gewissens jedes Einzelnen. Denn wenn sie hier verlangen, von Gott Enthaltsamkeit zu erflehen, wenn sie fordern, den Leib durch Arbeiten und Hungern zu kasteien – warum singen sie sich diese großartigen Gebote dann nicht auch selbst vor? Doch wie wir oben gesagt haben, spielen die Gegner nur, nichts tun sie ernsthaft. Wenn die Enthaltsamkeit allen möglich wäre, bedürfte es keiner besonderen Gabe. Aber Christus zeigt, dass sie einer besonderen Gabe bedarf, weshalb sie nicht allen zuteilwird.

455. 456. 457. 458. 459.

1 Kor 7,2. 1 Kor 7,9. Mt 19,11. 1 Kor 7,9. 1 Kor 7,2.

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Von den Übrigen will Gott, dass sie nach dem allgemeinen Naturgesetz leben, das er verordnet hat. Denn Gott will nicht, dass seine Ordnungen [und] seine Geschöpfe verachtet werden. Er will, dass jene in der Weise keusch leben, dass sie sich des von Gott angebotenen Heilmittels bedienen, so wie er will, dass wir unser Leben nähren, wenn wir Speise und Trank zu uns nehmen. Und Gerson460 bezeugt, dass es viele treffliche Männer gab, die versuchten, ihren Leib zu zähmen, und dabei doch nicht viel erreicht haben. Deshalb sagt Ambrosius mit Recht: »Allein die Jungfräulichkeit ist etwas, das empfohlen, aber nicht befohlen werden kann; sie ist mehr Sache eines Gelübdes als eines Gebotes.«461 Wenn jemand hier einwenden würde, Christus lobe die, die sich um des Himmelreiches willen selbst kastrieren, so möge er auch dies bedenken, dass er solche lobt, die die Gabe der Enthaltsamkeit haben. Deshalb nämlich hat er hinzugesetzt: »Wer es fassen kann, der fasse es!«462 Denn Christus gefällt die unreine Enthaltsamkeit nicht. Auch wir loben die echte Enthaltsamkeit. Aber jetzt sprechen wir vom Gesetz und von denen, die die Gabe der Enthaltsamkeit nicht besitzen. Die Sache muss frei bleiben; es dürfen den Schwachen durch dieses Gesetz keine Fallstricke übergeworfen werden. [(4) Päpstliches Zölibatsgesetz widerspricht Konzilsbeschlüssen] Viertens. Das päpstliche Gesetz weicht von den Bestimmungen der Konzilien ab. Denn die alten Bestimmungen verbieten nicht die Ehe, lösen auch bereits geschlossene Ehen nicht auf, auch wenn sie diejenigen, die sie während der Zeit des Priesterdienstes geschlossen haben, von dessen Ausübung ausschließen. Diese Entlassung war zu jenen Zeiten eher eine Wohltat. Aber die neuen Bestimmungen, die nicht auf Synoden beschlossen wurden, sondern durch den persönlichen Ratschluss von Päpsten zustande kamen,463 verbieten, Ehen zu schließen, und lösen bereits bestehende auf. Das aber geschieht ganz offen gegen das Gebot Christi: »Was Gott zusammengefügt hat, das

460. 461. 462. 463.

Gerson († 1429), De coelibatu III. Ambrosius, Exhortatio virginitatis III, 17 (PL 16, 356). Mt 19,12. Gemeint sind wahrscheinlich päpstliche Verordnungen aus den Jahren 1054 (Leo IX.) und 1059 (Nikolaus II.), die von der römischen Fastensynode 1074 (Gregor VII.) wieder aufgenommen wurden.

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soll der Mensch nicht scheiden!«464 Die Gegner schreien in der Konfutation laut, der Zölibat sei von den Konzilien vorgeschrieben worden. Wir fechten die Konzilsbeschlüsse nicht an, denn diese gestatten unter bestimmter Bedingung die Ehe; aber wir fechten die Gesetze an, die nach den alten Synoden die römischen Bischöfe gegen die Autorität der Synoden erlassen haben. So sehr verachten die Päpste die Autorität der Synoden, die sie anderen doch als unverletzlich erscheinen lassen wollen. Dieses Gesetz vom immerwährenden Zölibat ist also ein ganz eigenes Merkmal dieser neuen päpstlichen Herrschaft. Und das nicht von ungefähr. Denn Daniel hat dieses Merkmal (nämlich Verachtung der Frauen) dem Reich des Antichrist zugeordnet.465 [151 (5) Widerlegung abergläubischer Reinheitsvorstellungen] Fünftens. Obwohl die Gegner das Gesetz nicht des Aberglaubens wegen verteidigen (da sie sehen, dass es für gewöhnlich nicht eingehalten wird), bringen sie doch, indem sie Frömmigkeit vortäuschen, abergläubische Meinungen in Umlauf. Sie behaupten, den Zölibat deshalb zu fordern, weil er die Reinheit sei – als ob die Ehe Unreinheit und Sünde wäre, oder als ob der Zölibat Sündenvergebung und Versöhnung verdiente, die Ehe aber nicht die Sündenvergebung usw. verdiente. Und sie führen in diesem Zusammenhang die Zeremonien des mosaischen Gesetzes an: Da unter dem Gesetz die Priester während der Zeit ihres Dienstes von ihren Frauen getrennt waren, müsse der Priester im Neuen Testament, weil er immer beten muss, sich auch immer enthalten. Diese unpassende Entsprechung wird wie ein Beweis aufgeführt, der die Priester zu einem ständigen Zölibat zwinge, obwohl doch in der Entsprechung selbst die Ehe gestattet und nur während der Zeit des Dienstes der Verkehr untersagt wird. Auch ist es eine Sache zu beten, eine andere, [Priester-]Dienste zu tun. Die Heiligen beteten auch dann, wenn sie keinen öffentlichen Dienst ausübten; auch hinderte sie der Verkehr mit ihren Frauen nicht daran zu beten.

464. Mt 19,6. 465. Dan 11,37.

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[Biblische Würdigung der Ehe] Aber wir werden der Reihe nach auf diese Hirngespinste antworten. Zuerst müssen die Gegner bekennen, dass die Ehe bei den Glaubenden rein ist, weil sie durch das Wort Gottes geheiligt ist, d. h., sie ist eine durch das Wort Gottes erlaubte und bestätigte Sache, wie die Schrift reichlich bezeugt. Christus nämlich nennt die Ehe eine göttliche Verbindung, wenn er sagt: »Was Gott zusammengefügt hat«.466 Und Paulus sagt über die Ehe, die Speisen und ähnliche Dinge: »Sie werden durch das Wort Gottes und das Gebet geheiligt«467 – d. h. durch das Wort, durch das das Gewissen gewiss wird, dass Gott die Ehe gutheißt, und durch das Gebet, d. h. durch den Glauben, der [die Ehe] mit der Danksagung als ein Geschenk Gottes gebraucht. Ebenso 1 Kor 7[,14]: »Der ungläubige Mann ist geheiligt durch die Frau« usw., das heißt: Ehelicher Verkehr ist erlaubt und ist heilig um des Glaubens an Christus willen, so wie es [ja auch] erlaubt ist, Speise zu sich zu nehmen usw. Ebenso 1 Tim 2[,15]: »Die Frau findet Rettung durch die Geburt der Kinder« usw. Wenn die Gegner ein solches Wort über den Zölibat vorbringen könnten, würden sie tatsächlich wundersame Triumphe feiern. Paulus sagt, die Frau finde Rettung durch die Geburt der Kinder. Was konnte man Ehrenvolleres gegen die Heuchelei des Zölibates sagen, als dass die Frau durch die ehelichen Werke selbst Rettung findet, durch ehelichen Verkehr, durch Gebären und die übrigen häuslichen Pflichten? Was aber meint Paulus [hier]? – Der Leser möge beachten, dass der Glaube hinzugefügt wird, die häuslichen Pflichten nicht ohne den Glauben gelobt werden: »Wenn sie im Glauben bleiben«.468 Er spricht nämlich vom ganzen Stand der Mütter. Er fordert also vor allem den Glauben, durch den die Frau Sündenvergebung und Rechtfertigung empfängt. Dann fügt er ein bestimmtes Werk ihrer Berufung hinzu, so wie bei den einzelnen Menschen das gute Werk einer bestimmten Berufung auf den Glauben folgen muss. Dieses Werk gefällt Gott um des Glaubens willen. So gefallen die Pflichten der Frau Gott um des Glaubens willen, und Rettung findet die gläubige Frau, die in solchen Pflichten ihrer Berufung getreulich nachkommt. 466. Mt 19,6. 467. 1 Tim 4,5. 468. 1 Tim 2,15.

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Diese Zeugnisse lehren, dass die Ehe etwas Erlaubtes ist. Wenn also »Reinheit« dasjenige meint, was vor Gott erlaubt und bejaht ist, dann sind die Ehen rein, weil sie durch Gottes Wort gutgeheißen worden sind. Und Paulus schreibt von den erlaubten Dingen: »Den Reinen ist alles rein«469, d. h. denen, die an Christus glauben und durch den Glauben gerecht sind. Wie daher Jungfräulichkeit bei Gottlosen unrein ist, so ist die Ehe bei den Frommen um des Wortes Gottes und des Glaubens willen rein. [152 Jungfräulichkeit und Ehe] Weiter. Wenn »Reinheit« im eigentlichen Sinne der Begierde entgegengesetzt wird, so bedeutet sie die Reinheit des Herzens, d. h. die »getötete Begierde«. Denn das Gesetz verbietet nicht die Ehe, sondern die Begierde, den Ehebruch, die Hurerei. Daher bedeutet Zölibat nicht Reinheit. Denn es kann bei einem Ehegatten wie z. B. bei Abraham oder Jakob eine größere Reinheit des Herzens sein als bei sehr vielen auch wirklich enthaltsam Lebenden. Zuletzt: Wenn sie den Zölibat deshalb als Reinheit verstehen, weil er die Rechtfertigung eher verdiene als die Ehe, so widersprechen wir ganz entschieden. Denn wir werden weder der Jungfräulichkeit noch der Ehe wegen, sondern umsonst um Christi willen gerechtfertigt, wenn wir glauben, dass wir seinetwegen einen gnädigen Gott haben. Hier werden sie vielleicht lautstark einwenden, dass nach der Art Jovinians470 die Ehe der Jungfräulichkeit gleichgestellt werde. Aber um dieses Geschreis willen werden wir nicht die Wahrheit von der Glaubensgerechtigkeit verwerfen, die wir oben dargelegt haben. Auch stellen wir die Jungfräulichkeit der Ehe keineswegs gleich. Denn wie eine Gabe die andere übertrifft (die Prophetie übertrifft die Beredsamkeit, die Kriegskunst übertrifft die des Ackerbaus, die Beredsamkeit übertrifft die Baukunst), so ist die Gabe der Jungfräulichkeit vortrefflicher als die Ehe. Und dennoch gilt: Wie der Redner seiner Beredsamkeit wegen vor Gott nicht gerechter ist als der Architekt seiner Baukunst wegen, so verdient auch die Jungfrau durch ihre Keuschheit die Rechtfertigung nicht eher als die Ehefrau durch ihre 469. Tit 1,15. 470. Altkirchlicher Asket († vor 406), dem als Irrlehre vorgeworfen wurde, dass er die Verdienste des mönchischen Lebens bestritt.

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ehelichen Pflichten. Sondern ein jeder soll nach seiner Gabe treulich dienen und urteilen, dass er um Christi willen durch den Glauben die Sündenvergebung erlangt und durch den Glauben vor Gott für gerecht erklärt wird. Weder Christus noch Paulus loben die Enthaltsamkeit deshalb, weil sie rechtfertigt, sondern, weil sie ungehinderter ist und weniger durch häusliche Beschäftigungen vom Beten, Lehren, Dienen abgehalten wird. Deshalb sagt Paulus: »Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn.«471 Die Enthaltsamkeit wird also wegen der Besinnung und des Studiums gelobt. So lobt Christus nicht einfach diejenigen, die sich selbst kastrieren, sondern fügt hinzu: »um des Himmelreichs willen«472, d. h., dass man Zeit hat, das Evangelium zu lernen oder zu lehren. Denn er sagt nicht, die Keuschheit verdiene die Sündenvergebung oder das Heil. Auf die Beispiele der levitischen Priester antworten wir: Sie beweisen nicht, dass den Priestern ein immerwährender Zölibat auferlegt werden muss. Ferner sind die levitischen Unreinheiten nicht auf uns zu übertragen. [Ehelicher] Verkehr wider das Gesetz war damals eine Unreinheit. Jetzt aber ist er keine Unreinheit, weil Paulus sagt: »Den Reinen ist alles rein.«473 Denn das Evangelium befreit uns von jenen levitischen Unreinheiten. Wenn aber jemand das Zölibatsgesetz in der Absicht verteidigt, durch jene levitischen Auflagen die Gewissen zu beschweren, so muss ihm ebenso widerstanden werden, wie die Apostel Apg 15 denen widerstanden, die die Beschneidung forderten und den Christen das Gesetz des Mose auferlegen wollten.474 [Verantwortlicher Gebrauch statt Herabsetzung der Ehe] Inzwischen werden die guten Menschen beim ehelichen Umgang aber doch das rechte Maß zu halten wissen, besonders, wenn sie mit öffentlichen Ämtern betraut sind, die den guten Männern oftmals so viel zu schaffen machen, dass sie sich alle familiären Gedanken aus dem Sinn schlagen müssen. Die guten Menschen wissen auch, dass

471. 472. 473. 474.

1 Kor 7,32. Mt 19,12. Tit 1,15. Apg 15,10f.

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Paulus Weisung gibt, »das Gefäß in Heiligkeit zu besitzen«.475 Sie wissen ebenso, dass sie sich manchmal enthalten müssen, um Muße für das Gebet zu haben; aber Paulus will nicht, dass dies für immer geschieht.476 Solche Enthaltsamkeit fällt nun den Guten und Beschäftigten leicht. Aber jener große Schwarm müßiger Priester, die in den Stiftsgemeinschaften leben, kann, wie die Erfahrung zeigt, bei diesen Üppigkeiten nicht einmal die levitische Enthaltsamkeit einhalten. Und wohlbekannt sind die Verse: »Dem Müßiggang pflegt jener Knabe zu folgen, er hasst die Tätigen« usw.477 Viele Ketzer, die das Gesetz des Mose falsch verstanden hatten, dachten verächtlich von der Ehe. Von dieser Art waren die Enkratiten478, von denen wir oben gesprochen haben. Und es ist bekannt, dass die Mönche überall abergläubische Reden über den Zölibat ausgestreut haben, die viele fromme Gewissen in Bezug auf den rechtmäßigen Gebrauch der Ehe verwirrt haben; es fiele uns nicht schwer, an Beispiele zu erinnern. Denn wenn sie die Ehe der Fortpflanzung wegen auch nicht gänzlich verdammten, so tadelten sie sie doch als eine Lebensweise, die Gott kaum jemals gefiele oder gewiss nur um der Fortpflanzung willen gefiele. Den Zölibat aber hoben sie als eine gleichsam engelhafte Lebensweise empor. Sie behaupteten, er sei ein Gott höchst angenehmes Opfer, verdiene die Sündenvergebung, verdiene Heiligenscheine, bringe hundertfältige Frucht und dergleichen ohne Ende. Diese »Engelverehrungen« missbilligt Paulus im Kolosserbrief sehr.479 Sie unterdrücken nämlich die Erkenntnis Christi, weil die Menschen meinen, sie würden derartiger Kulte wegen, nicht um Christi willen für gerecht gehalten. Ferner unterdrücken sie die Erkenntnis der Gebote Gottes, weil abseits der Gebote Gottes neue Kulte erdacht und den Geboten Gottes vorgezogen werden. Deshalb muss man in der Kirche diesen abergläubischen Meinungen vom Zölibat ganz entschieden widerstehen, sowohl, damit die frommen Gewissen wissen, dass die Ehe Gott gefällt, als auch, damit sie erkennen, welche Gottesdienste Gott gutheißt. 475. 476. 477. 478.

1 Thess 4,4. 1 Kor 7,5. Ovid, Remedia amoris 149. Altkirchliche Asketen, die den Fleisch- und Weingenuss sowie den leiblichen Vollzug der Ehe verwarfen. – Die ursprüngliche Fassung des Textes enthielt entsprechende Erläuterungen. 479. Kol 2,18.

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Aber unsere Gegner fordern den Zölibat nicht aus Aberglauben; sie wissen nämlich, dass die Keuschheit für gewöhnlich nicht bewahrt werden kann. Sie wenden vielmehr die abergläubischen Auffassungen vor, um Unerfahrene zu täuschen. Daher sind sie verabscheuungswürdiger als die Enkratiten, die einem Schein von Frömmigkeit zum Opfer gefallen zu sein scheinen. Jene Sardanapaliten480 aber missbrauchen den Vorwand der Frömmigkeit mit Bedacht. [153 (6) Zölibatsgesetz verursacht schlimme Ärgernisse und grausame Sanktionen] Sechstens. Obwohl wir so viele Gründe haben, das Gesetz über den immerwährenden Zölibat zu verwerfen, kommen doch außerdem auch noch die Gefährdungen der Seelen und die öffentlichen Ärgernisse hinzu, die, selbst wenn das Gesetz nicht ungerecht wäre, rechtschaffene Männer gleichwohl davon abschrecken müssten, eine solche Last gutzuheißen, die unzählige Seelen zugrundegerichtet hat. Lange Zeit haben alle rechtschaffenen Männer über diese Last geklagt, sei es ihretwegen oder anderer wegen, die sie in Gefahr sahen; aber diese Klagen hat kein Bischof gehört. Und es ist kein Geheimnis, wie sehr dieses Gesetz den öffentlichen Sitten schadet, welche Laster, welche schändlichen Begierden es geweckt hat. Es gibt römische Satiren. In ihnen erkennt und liest Rom auch jetzt noch seine Unsitten. So rächt Gott die Verachtung seiner Gabe und Ordnung an denen, die die Ehe verbieten. Wenn es aber bei anderen Gesetzen zu geschehen pflegt, dass man sie ändert, wenn ein klarer Vorteil dies ratsam erscheinen lässt – warum geschieht das [dann nicht auch] bei diesem Gesetz, bei dem so viele gewichtige Gründe zusammenkommen, zumal in diesen letzten Zeiten, weshalb es geändert werden müsste? Die Natur vergreist und wird allmählich hinfälliger, und die Laster nehmen zu, weshalb umso mehr die von Gott überlieferten Heilmittel zu verwenden wären. Wir sehen, dass Gott das Laster anprangert vor der Sintflut, dass er es anprangert, bevor die fünf Städte in Flammen aufgehen.481 Ähnliche Laster sind dem Untergang vieler anderer Städte 480. Sardanapal, der Sage nach letzter König der Assyrer, Inbegriff der Üppigkeit und Dekadenz. 481. Gen 19,24–29; Weish 10,6.

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vorausgegangen, wie dem von Sybaris oder Rom. Und darin ist [uns] ein Bild der Zeiten vor Augen gestellt worden, die dem Ende der Dinge vorausgehen werden. Deshalb wäre es besonders zu dieser Zeit nötig gewesen, die Ehe durch strengste Gesetze und Vorbilder zu festigen und die Menschen zur Ehe zu ermutigen. Dies ist eine Aufgabe der Obrigkeit, die die öffentliche Zucht bewahren muss. Unterdessen sollen die Lehrer des Evangeliums beides tun: Sie sollen die, die nicht enthaltsam leben können, zur Ehe auffordern und die anderen dazu mahnen, die Gabe der Enthaltsamkeit nicht zu verachten. Die Päpste dispensieren täglich; täglich ändern sie andere, sehr gute Gesetze; bei diesem einen Gesetz über den Zölibat [aber] sind sie eisern und unerbittlich, obwohl es doch feststeht, dass es nur menschlichen Rechts ist. Und gerade dieses Gesetz verschärfen sie jetzt auf vielfache Weise. Der kirchliche Rechtssatz gebietet, Priester aus dem Dienst zu entfernen. Diese ungeeigneten Ausleger [aber] entheben sie nicht nur des Amtes, sondern hängen sie [sogar] an den Bäumen auf.482 Viele rechtschaffene Männer töten sie grausam nur um der Ehe willen. Doch beweisen diese Morde selbst, dass dieses Gesetz eine Teufelslehre ist. Denn weil der Teufel ein Mörder ist, verteidigt er sein Gesetz durch diese Morde. Wir wissen, dass eine Glaubensspaltung etwas Anstößiges an sich hat, weil wir uns von denen losgerissen zu haben scheinen, die man für die rechtmäßigen Bischöfe hält. Doch unsere Gewissen sind vollkommen ruhig, nachdem wir wissen, dass wir, die wir mit größtem Bemühen die Eintracht herzustellen wünschen, die Gegner nur dann versöhnen können, wenn wir die offenkundige Wahrheit verwerfen und uns anschließend mit ihnen dahingehend verschwören, dass wir dieses ungerechte Gesetz verteidigen wollen, geschlossene Ehen auflösen, Priester, wenn sie nicht gehorchen wollen, töten und arme Frauen und Waisenkinder in die Verbannung schicken wollen. Doch weil feststeht, dass diese Bedingungen Gott missfallen, schmerzt es uns nicht, keine Kumpanei in all diesen Schlächtereien mit den Gegnern zu haben.

482. Wortspiel mit Bedeutungen des Wortes »suspendere« (aufhängen, absetzen).

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[Zusammenfassung] Wir haben die Gründe dargelegt, weshalb wir nicht guten Gewissens den Gegnern zustimmen können, die das päpstliche Gesetz über den immerwährenden Zölibat verteidigen. Denn es widerstreitet dem göttlichen und dem natürlichen Recht, weicht auch selbst von den Kirchengesetzen ab, ist abergläubisch und voller Gefahren, [und] schließlich: Die ganze Sache dient nur als Vorwand. Denn nicht der Frömmigkeit, sondern der Herrschaft wegen wird das Gesetz erlassen, und dies wird gottlos nur mit Frömmigkeit bemäntelt. Auch kann von vernünftigen Menschen nichts gegen diese äußerst starken Argumente vorgebracht werden. Das Evangelium gestattet denen die Ehe, die sie brauchen. Doch zwingt es die nicht zur Ehe, die enthaltsam leben wollen – sofern sie sich nur wirklich enthalten! Wir meinen, dass man diese Freiheit auch den Priestern einräumen muss, und wollen weder jemanden gewaltsam zum Zölibat zwingen noch bereits geschlossene Ehen auflösen. [154 Widerlegung gegnerischer Argumente für den Zölibat] Wir haben, als wir unsere Argumente vortrugen, auch beiläufig darauf hingewiesen, was für Redensarten die Gegner zum einen oder anderen machen, und haben jene Verleumdungen widerlegt. Nun werden wir in Kürze daran erinnern, mit wie gewichtigen Gründen sie das Gesetz verteidigen. Zuerst sagen sie, es sei von Gott offenbart worden. Ihr seht die außerordentliche Schamlosigkeit dieser Windbeutel. Sie wagen es zu behaupten, das Gesetz über den immerwährenden Zölibat sei von Gott offenbart, obwohl es den klaren Zeugnissen der Schrift widerspricht, die gebieten, ein jeder solle der Hurerei wegen seine eigene Frau haben;483 ebenso verbieten sie, geschlossene Ehen aufzulösen. Paulus gibt zu bedenken, welchen Urheber ein solches Gesetz haben wird, wenn er es eine Dämonenlehre nennt.484 Und die Früchte verraten den Urheber: so viele abscheuliche Gelüste, so viele Morde, die jetzt unter dem Vorwand jenes Gesetzes verübt werden. Das zweite Argument der Gegner lautet: »Die Priester sollen rein sein« – nach jenem Spruch: »Reinigt euch, die ihr des Herrn Geräte 483. 1 Kor 7,2. 484. 1 Tim 4,1.

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tragt.«485 Und sie führen in diesem Sinne viele Worte an. Dieses Argument, das sie als besonders glänzend vorbringen, haben wir oben entkräftet. Wir haben nämlich gesagt, Jungfräulichkeit ohne Glauben sei keine Reinheit vor Gott, und die Ehe sei um des Glaubens willen rein, nach jenem Wort: »Den Reinen ist alles rein.«486 Wir haben auch gesagt, die äußerlichen Reinheiten und Zeremonien des Gesetzes seien nicht hierauf zu übertragen, weil das Evangelium die Reinheit des Herzens fordert, nicht aber die Zeremonien des Gesetzes. Und es kann geschehen, dass das Herz eines Ehemannes wie z. B. Abrahams oder Jakobs, die viele Frauen hatten, reiner ist und weniger vor Begierden brennt als [die Herzen] vieler Jungfrauen, auch wenn sie sich wirklich enthalten. Dass aber Jesaja sagt: »Reinigt euch, die ihr des Herrn Geräte tragt«487, muss von der Reinheit des Herzens, von der ganzen Buße verstanden werden. Im Übrigen werden die Heiligen beim äußeren Verhalten wissen, wieweit es zuträglich ist, den ehelichen Verkehr zu mäßigen und, wie Paulus sagt, »das Gefäß in Reinheit zu besitzen«.488 Schließlich: Da die Ehe rein ist, wird denen, die im Zölibat nicht enthaltsam leben, mit Recht gesagt, dass sie heiraten sollen, um rein zu sein. So gebietet dasselbe Gesetz (»Reinigt euch, die ihr des Herrn Geräte tragt«), dass die unreinen Zölibatäre reine Eheleute werden sollen. Das dritte Argument ist ungeheuerlich: die Priesterehe sei die Ketzerei Jovinians. Treffliche Worte! Das ist ein neues Verbrechen: dass die Ehe eine Ketzerei sein soll! Zur Zeit Jovinians kannte die Welt das Gesetz über den immerwährenden Zölibat noch nicht. Es ist daher eine schamlose Lüge, zu behaupten, die Priesterehe sei die Ketzerei Jovinians oder diese Ehe sei [schon] damals von der Kirche verdammt worden. An Stellen dieser Art wird erkennbar, was die Gegner bei der Abfassung der Konfutation im Sinn hatten. Sie haben gemeint, die Unerfahrenen seien sehr leicht in Erregung zu versetzen, wenn sie häufig den Schmähruf: »Ketzerei!« hören, wenn sie meinen, unsere Sache sei [schon] durch viele frühere Entscheidungen der Kirche vernichtet und verdammt worden. Deshalb führen sie oftmals zu Unrecht 485. 486. 487. 488.

Jes 52,11. Tit 1,15. Jes 52,11. 1 Thess 4,4.

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das Urteil der Kirche an. Weil sie das genau wissen, wollten sie uns keine Abschrift ihrer Apologie [= Konfutation] aushändigen, damit dieses leere Gerede und diese Verleumdungen nicht nachgewiesen werden könnten. Was aber die Auffassung Jovinians anbelangt, so haben wir oben beim Vergleich von Jungfräulichkeit und Ehe gesagt, was wir [darüber] denken. Denn wir stellen die Ehe und die Jungfräulichkeit nicht auf eine Stufe – auch wenn weder die Jungfräulichkeit noch die Ehe die Rechtfertigung verdienen. [155 Ihre Stellung zum Zölibatsgesetz haben die Fürsten vor Gott zu verantworten] Mit derart nichtigen Argumenten verteidigen sie das gottlose und für die guten Sitten verderbliche Gesetz. Mit solchen Begründungen wappnen sie die Herzen der Fürsten gegen das Gericht Gottes, in dem Gott Rechenschaft darüber fordern wird, warum sie die Ehen auseinandergerissen, warum sie die Priester gemartert, warum sie sie ermordet haben. Denn zweifelt nicht: Wie das Blut des toten Abel schrie, so wird auch das Blut der vielen guten Männer schreien, gegen die man zu Unrecht gewütet hat. Und Gott wird diese Raserei ahnden. Da werdet ihr erfahren, wie nichtig diese Gründe der Gegner sind, und ihr werdet im Gericht Gottes erkennen, dass keine falschen Anschuldigungen gegen das Wort Gottes Bestand haben, wie Jesaja spricht: »Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Herrlichkeit ist wie des Grases Blume.«489 Unsere Fürsten werden sich, was immer auch geschehen mag, im Bewusstsein richtiger Entscheidungen trösten können. Denn selbst wenn die Priester bei ihren Eheschlüssen etwas Übles getan hätten: Jenes Auseinanderreißen der Ehen, jene Ächtungen, jenes Wüten widerstreiten klar dem Willen und dem Worte Gottes. Neuerung oder Spaltung erfreuen unsere Fürsten nicht. Aber man musste mehr auf das Wort Gottes achten, zumal in einer eindeutigen Sache, als auf alle anderen Dinge.

489. Jes 40,6.

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[Art. XXIV:] Von der Messe [156 Wahrung von Traditionen und legitimer Gebrauch der Messe bei den Evangelischen] Zu Beginn muss wieder vorausgeschickt werden, dass wir die Messe nicht abschaffen, sondern sie ehrfürchtig beibehalten und verteidigen. Denn bei uns werden an jedem Sonntag und den übrigen Feiertagen Messen gehalten, bei denen an die, die es empfangen wollen, das Sakrament ausgeteilt wird, nachdem sie verhört und losgesprochen worden sind. Es werden auch die gewohnten öffentlichen Zeremonien gehalten: die Ordnung der Lesungen, der Gebete, der Kleider und andere ähnliche Dinge. Die Gegner halten eine lange Rede über den Gebrauch der lateinischen Sprache in der Messe, in der sie lieblich faseln, wie es doch einem unkundigen Hörer von Nutzen sei, im Glauben der Kirche eine Messe zu hören, auch wenn er sie nicht versteht. Sie geben nämlich vor, das Werk des Zuhörens selbst sei ein Gottesdienst, der auch ohne Verstehen nütze. Wir wollen das hier nicht gehässig zerpflücken, sondern überlassen es dem Urteil der Leser. Wir erinnern deshalb daran, um dies beiläufig zu erwähnen, dass auch bei uns lateinische Lesungen und Gebete gehalten werden. Weil aber die Zeremonien deshalb gehalten werden sollen, damit die Menschen die Schrift kennenlernen und damit sie, durch das Wort belehrt, Glauben [und] [Gottes-]Furcht empfangen und so dann auch beten (denn das ist der Sinn der Zeremonien), behalten wir die lateinische Sprache um derer willen bei, die Lateinisch lernen und verstehen, und fügen deutsche Lieder hinzu, damit auch das Volk etwas hat, was es lernen und wodurch es den Glauben und die [Gottes-]Furcht erwecken kann. Diesen Brauch hat es immer in den Kirchen gegeben. Denn auch wenn einige häufiger, andere seltener deutsche Lieder einfügten, so sang das Volk doch fast überall etwas in der eigenen Sprache. Doch das steht nirgends geschrieben oder verzeichnet, dass es für die Menschen ein nützliches Werk ist, unverstandenen Lesungen zuzuhören, oder dass die Zeremonien nicht deshalb nützen, weil sie belehren oder ermahnen, sondern durch den bloßen Vollzug, weil sie so geschehen, dass man sie anschauen kann. Schlimm können sie wirken, diese pharisäischen Meinungen.

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Dass aber bei uns nur die öffentliche und gemeinschaftliche Messe gehalten wird, geschieht keineswegs gegen die allgemeine Kirche. Denn in den griechischen Gemeinden finden bis heute keine Privatmessen statt, sondern man hält [nur] eine öffentliche Messe, und dies nur an den Sonntagen und den Festen. In den Klöstern wird täglich Messe gehalten, aber nur öffentlich. Dies sind die Spuren alter Gebräuche. Denn nirgends vor Gregor490 erwähnen die alten Schriftsteller Privatmessen. Wie die Anfänge waren, übergehen wir jetzt. Das aber steht fest: Nachdem die Bettelmönche zu herrschen begannen, nahm ihre Zahl aufgrund völlig falscher Überzeugungen und um des Profites willen derart zu, dass alle trefflichen Männer schon lange verlangten, hier eine Grenze zu setzen. Wenngleich der heilige Franziskus491 dem mit Recht zuvorkommen wollte, indem er bestimmt hat, dass sich die einzelnen Gemeinschaften täglich mit einer einzigen gemeinsamen Messe begnügen sollten. Dies wurde später geändert, sei es aus Aberglauben, sei es um des Profits willen. So verändern sie selbst, wo es passt, die Einrichtungen der Älteren; danach führen sie gegen uns die Autorität der Älteren ins Feld. Epiphanius schreibt, in Asien sei die Kommunion dreimal in der Woche gefeiert worden und es habe keine täglichen Messen gegeben. Und zumindest er meint, diese Sitte sei von den Aposteln überliefert worden. Denn er sagt so: »Die Kommunionen aber wurden von den Aposteln angeordnet: Mittwoch, Freitag und Sonntag.«492 [157 Gerechtigkeit durch den Glauben – das entscheidende Argument gegen die Lehre von der Wirksamkeit der »Opfer«-Messe] Auch wenn die Gegner an dieser Stelle vieles zusammentragen, um zu beweisen, dass die Messe ein Opfer ist, so wird doch das von ihnen vorgebrachte ungeheure Wortgetöse durch diese eine Antwort zum Verstummen gebracht: Diese noch so große Aufhäufung von Autoritäten, Argumenten und Zeugnissen kann nicht beweisen, dass die Messe durch den bloßen Vollzug die Gnade bringt oder aber, anderen Menschen zugeeignet, diesen die Vergebung von lässlichen 490. Papst Gregor I. der Große (590–604). 491. Franz von Assisi († 1226), Brief an das Generalkapitel, Kapitel 3. 492. Epiphanius von Salamis († 403), Panarium sive arcula adversus octoginta haereses III, 22 (PG 42, 825).

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und Todsünden, Schuld und Strafe verdient. Diese eine Antwort stößt alles um, was die Gegner nicht nur in dieser Konfutation, sondern in allen Schriften, die sie über die Messe herausgegeben haben, einwenden. Und dies ist der Hauptpunkt des Streites, auf den wir die Leser so hinweisen müssen, wie Aeschines493 die Richter anhielt, dass sie, wie die Faustkämpfer miteinander um den festen Stand kämpfen, auch ihrerseits mit dem Gegner um den Hauptpunkt des Streites kämpfen und nicht zulassen sollten, dass er von der Sache abschweift. Auf ebendiese Weise müssen unsere Gegner hier gezwungen werden, über die vor Augen liegende Sache zu sprechen. Und wenn der Hauptpunkt des Streites erkannt ist, wird die Entscheidung über die beiderseitigen Argumente sehr leicht fallen. Wir haben nämlich in unserem Bekenntnis gezeigt, dass wir meinen, dass das Abendmahl weder durch den bloßen Vollzug die Gnade vermittelt noch auch anderen, Lebenden oder Toten, wenn es ihnen zugeeignet wird, Vergebung der Sünden, der Schuld oder der Strafe verdient. Der klare und sichere Beweis für diesen Hauptpunkt ist dies: Es ist unmöglich, Sündenvergebung zu erlangen um unseres Werkes willen durch dessen Vollzug. Vielmehr müssen die Schrecken der Sünde und des Todes durch den Glauben überwunden werden, wenn wir die Herzen durch die Erkenntnis Christi aufrichten und glauben, dass uns um Christi willen verziehen wird und die Verdienste und die Gerechtigkeit Christi geschenkt werden, Röm 5[,1]: »Gerecht geworden aus Glauben, haben wir Frieden.« Das ist so gewiss, so sicher, dass es gegen alle Pforten der Hölle bestehen kann. Wenn nur das Nötige zu sagen war, so ist der Streit schon entschieden. Denn kein vernünftiger Mensch kann diesen pharisäischen und heidnischen Wahn vom bloßen Vollzug gutheißen. Und doch: Diese Überzeugung bleibt hängen im Volk; sie hat die Zahl der Messen ins Unendliche vermehrt. Denn man kauft Messen, um Gottes Zorn zu versöhnen, und durch dieses Werk will man Vergebung der Schuld und der Strafe erlangen, will man erreichen, was immer im ganzen Leben nötig ist, ja will sogar die Toten erlösen. Diese pharisäische Meinung haben in der Kirche Mönche und Sophisten gelehrt.

493. Griechischer Redner († 314 v. Chr.).

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Obwohl aber die Sache schon entschieden ist, wollen wir doch, weil die Gegner zur Verteidigung ihrer Irrtümer viele Schriftworte töricht verdrehen, noch weniges zu diesem Punkt hinzufügen. In der Konfutation haben sie viel vom »Opfer« geredet, während wir in unserem Bekenntnis mit Bedacht diesen Begriff seiner Zweideutigkeit wegen vermieden haben. Wir haben die Sache erläutert [und gesagt,] was die, deren Missbräuche wir missbilligen, jetzt unter einem »Opfer« verstehen. Damit wir jetzt die schlimm verdrehten Schriftstellen erklären können, ist es nötig, zu Beginn darzulegen, was ein Opfer ist. Denn das ganze Jahrzehnt hindurch494 haben die Gegner fast unzählige Bände über das Opfer herausgegeben, und doch hat keiner von ihnen bislang eine Definition des Begriffes »Opfer« vorgelegt. Sie greifen das Wort »Opfer« nur entweder aus den Heiligen Schriften oder aus den Vätern auf. Dann dichten sie ihre Träume hinzu, so als bedeute »Opfer« wirklich das, was ihnen gerade gefällt.

Was ist ein Opfer, und welche Arten von Opfern gibt es? [158 Die nötige Unterscheidung von Sakrament und Opfer] Sokrates sagt in Platos Dialog »Phaidros«495, er sei aufs höchste bedacht auf Unterscheidungen, weil ohne sie beim Sprechen weder etwas erläutert noch auch verstanden werden könne; und wenn er auf jemanden träfe, der sich aufs Unterteilen verstehe, so sagt er, gehe er ihm nach und folge seinen Spuren wie denen eines Gottes. Und er weist den Teilenden an, genau an den Gelenken die Glieder zu trennen, um nicht nach Art eines schlechten Koches ein beschädigtes Glied zu zerbrechen. Diese Anweisungen aber verachten die Gegner hochtrabend und sind wirklich nach jenem Wort Platos »schlechte Köche«, die die Glieder des Opfers zerbrechen. Auf welche Weise – das wird ersichtlich werden, wenn wir die Arten des Opfers behandeln. Die Theologen pflegen mit Recht das Sakrament und das Opfer zu unterscheiden. Mag ihre Gattung also entweder die Zeremonie oder das heilige Werk sein: Das Sakrament ist eine Zeremonie oder ein Werk, in dem Gott uns das darreicht, was die mit der Zeremonie 494. Seit der reformatorischen Absage an die Lehre vom »Messopfer«. 495. Platon, Phaidros 50.

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verbundene Verheißung anbietet. So ist die Taufe ein Werk, das nicht wir Gott darbringen, sondern in dem Gott uns tauft, nämlich der Diener anstelle Gottes. Und hier bietet Gott an und bringt Vergebung der Sünden usw., nach der Verheißung: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden.«496 Demgegenüber ist das Opfer eine Zeremonie oder ein Werk, das wir Gott darbringen, um ihm Ehre zu erweisen. [Zwei Arten des Opfers: Sühnopfer und Dankopfer] Es gibt aber zwei Arten des Opfers; weitere gibt es nicht. Die eine ist das Sühnopfer, das ist ein Werk, das für Schuld und Strafe Genüge tut, d. h. ein Werk, das Gott versöhnt oder den Zorn Gottes stillt oder das anderen Vergebung der Sünden verdient. Die zweite Art ist das Dankopfer, das nicht Sündenvergebung oder Versöhnung verdient, sondern von den Versöhnten vollzogen wird, damit wir für die empfangene Sündenvergebung und andere empfangene Wohltaten danksagen oder Dank abstatten. Sich diese zwei Arten des Opfers im Blickfeld und vor Augen zu halten ist sowohl in dieser Streitfrage als auch bei vielen anderen Erläuterungen dringend nötig, und man muss sich mit besonderer Sorgfalt davor hüten, sie zu vermischen. Würde die Eigenart dieses Buches es gestatten, so würden wir die Gründe für diese Unterteilung anführen. Denn sie hat hinreichend viele Belege im Hebräerbrief und anderswo. Und alle levitischen Opfer können auf diese [beiden] Gattungen wie auf ihre Wohnsitze bezogen werden. Denn einige wurden im Gesetz ihres Zeichen- und Gleichnischarakters wegen »Sühnopfer« genannt, nicht weil sie vor Gott Sündenvergebung verdienten, sondern weil sie nach der Gesetzesgerechtigkeit Sündenvergebung verdienten, damit die, für die sie geschahen, nicht aus jener Gemeinschaft ausgeschlossen würden. Daher wurden sie »Sühnopfer« für die Sünde genannt, für das Vergehen [gab es] »Brandopfer«. Dankopfer aber waren folgende: die Darbringung, das Trankopfer, die Wiedergutmachungen, die Erstlingsopfer, die Zehnten.497

496. Mk 16,16. 497. Lev 1–7.

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[159 Zum Begriff Sühnopfer: Er verweist auf das Opfer Jesu Christi] Aber in Wirklichkeit hat es nur ein einziges Sühnopfer in der Welt gegeben, nämlich den Tod Christi, wie der Hebräerbrief lehrt, indem er sagt: »Es ist unmöglich, durch das Blut von Stieren und Böcken Sünden wegzunehmen.«498 Und kurz darauf [heißt es] vom Willen Christi: »In diesem Willen sind wir geheiligt ein für alle Mal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.«499 Und Jesaja legt das Gesetz aus, damit wir wissen, dass der Tod Christi wirklich die Genugtuung oder Sühne für unsere Sünden ist [und] nicht die Zeremonien des Gesetzes, weshalb er sagt: »Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er eine langlebige Nachkommenschaft sehen«500 usw. Denn das [hebräische] Wort »ascham«, das er hier gebraucht hat, bezeichnet das Opfer für ein Vergehen. Dieses betreffend, hat er im Gesetz angezeigt, dass ein bestimmtes Opfer kommen werde, das für unsere Sünden Genüge leisten und Gott versöhnen werde. So sollten die Menschen wissen, dass Gott nicht um unserer Gerechtigkeiten, sondern um fremder Verdienste (nämlich Christi) willen mit uns versöhnt werden will. Paulus übersetzt das gleiche Wort »ascham« mit »Sünde«, Röm 8[,3]: »Durch die Sünde hat er die Sünde verdammt«, das heißt: Die Sünde ist durch die Sünde bestraft worden, d. h. durch das Opfer für die Sünde. Die Bedeutung des Wortes kann leicht an den Gebräuchen der Heiden abgelesen werden, die, wie wir sehen, aus den missverstandenen Darlegungen ihrer Vorfahren übernommen worden sind. Die Lateiner bezeichneten ein Opfer als »Sühnopfer«, das bei schlimmen Unglücksfällen (wenn Gott sichtlich zu zürnen schien) zur Beschwichtigung des Zornes Gottes dargebracht wurde, und sie sühnten einst mit Menschenopfern, vielleicht weil sie gehört hatten, ein bestimmtes Menschenopfer werde Gott mit dem ganzen Menschengeschlecht versöhnen. Die Griechen haben das manchmal »Reinigungsopfer«, manchmal »Auswurf«501 genannt. Jesaja und Paulus erkennen also, dass Christus zum Opfer, d. h. zum »Sühnopfer«, gemacht worden ist, damit Gott durch seine, nicht durch unsere Verdienste versöhnt würde. Es bleibe in der Streitsache also 498. 499. 500. 501.

Hebr 10,4. Hebr 10,10. Jes 53,10. 1 Kor 4,13.

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dabei: Allein der Tod Christi ist wirklich das versöhnende Opfer. Denn jene levitischen »Sühnopfer« werden so nur genannt, um auf das zukünftige Sühnopfer hinzuweisen. Deshalb gab es in einem gleichnishaften Sinne Genugtuungen, die die Gerechtigkeit des Gesetzes erkauften, damit die, die Verfehlungen begangen hatten, nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen würden. Sie mussten aber aufhören nach der Offenbarung des Evangeliums. Und weil sie bei der Evangeliumsoffenbarung aufhören mussten, waren sie nicht wirklich Versöhnungen, weil das Evangelium zu dem Zweck verheißen ist, die Versöhnung zu bringen. [160 Die Glaubenden, Versöhnten bringen Dankopfer] Die Übrigen sind nun die Dank abstattenden Opfer, die Lobopfer genannt werden: Predigt des Evangeliums, Glaube, Anrufung, Danksagung, Bekenntnis, Anfechtungen der Heiligen, überhaupt alle guten Werke der Heiligen. Diese Opfer sind keine Genugtuungen für die, die sie bringen, noch können sie anderen zugeeignet werden, indem sie ihnen durch den bloßen Vollzug die Sündenvergebung oder Versöhnung verdienen. Denn sie werden von denen gebracht, die versöhnt sind. Und solche Opfer sind die des Neuen Testamentes, wie Petrus 1 Petr 2[,5] lehrt: »… ein heiliges Priestertum, damit ihr darbringt geistliche Opfer.« Die geistlichen Opfer aber werden nicht nur den Tieropfern entgegengestellt, sondern auch menschlichen Werken, die durch den bloßen Vollzug dargebracht werden. Denn »geistlich« bezeichnet das Wirken des Heiligen Geistes in uns. Ebenso lehrt Paulus Röm 12[,1]: »Gebt eure Leiber hin als ein lebendiges, heiliges Opfer, einen vernünftigen Gottesdienst.« »Vernünftiger Gottesdienst« aber bezeichnet einen Gottesdienst, in dem Gott erkannt [und] im Geist ergriffen wird, wie es in Regungen der Furcht und des Vertrauens gegenüber Gott geschieht. Also wird er nicht nur dem levitischen Kult entgegengestellt, in dem Rinder geschlachtet wurden, sondern auch einem Kult, bei dem man sich einbildet, ein Werk durch den bloßen Vollzug darzubringen. Ebendies lehrt der Hebräerbrief Kapitel 13[,15]: »So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen«, und er fügt die Deutung hinzu: »Das ist: die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.« Er gibt Weisung, Lobpreisungen darzubringen, d. h. Anrufung, Danksagung, Bekenntnis und Ähnliches. Das wirkt nicht durch den bloßen Vollzug, sondern auf-

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grund des Glaubens. Hieran erinnert die Wendung: »Durch ihn lasst uns darbringen«, d. h. im Glauben an Christus. [Geistliches Opfer des Neuen Testaments: Evangelium, Glaube, Anrufung, Danksagung] Insgesamt [gilt]: Der Gottesdienst des Neuen Testamentes ist geistlich, d. h., er ist die Glaubensgerechtigkeit im Herzen und die Frucht des Glaubens. Daher hebt er die levitischen Kulte auf. Und Christus spricht Johannes 4[,23f]: »Die wahren Anbeter werden den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten. Denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Dieses Wort verdammt klar solche Meinungen über die Opfer, die vorgeben, sie seien durch den bloßen Vollzug wirksam, und lehrt, dass man im Geist, d. h. mit Bewegungen des Herzens und im Glauben anbeten muss. Deshalb verdammen auch die Propheten im Alten Testament den Wahn des Volkes vom vollzogenen Werk und lehren die Gerechtigkeit und die Opfer des Geistes. Jer 7[,22f]: »Ich aber habe euren Vätern an dem Tage, als ich sie aus Ägyptenland führte, nichts gesagt noch geboten von Brandopfern und Schlachtopfern; sondern dies habe ich ihnen geboten: ›Hört auf mein Wort, so will ich euer Gott sein‹« usw. – Wie mögen nach unserer Meinung die Juden diese Predigt wohl aufgenommen haben, die Mose offen zu widersprechen scheint? Denn es stand fest, dass Gott den Vätern Vorschriften über Brand- und Schlachtopfer gegeben hatte. Aber Jeremia verdammt die Meinung von den Opfern, die Gott nicht gelehrt hatte: nämlich dass ihn jene Kulte durch den bloßen Vollzug versöhnen würden. Er fügt aber, den Glauben betreffend, hinzu, dass Gott dies geboten habe: »Hört auf mich«, d. h. »glaubt mir«, dass ich euer Gott bin, dass ich mich dadurch zu erkennen geben will, dass ich mich erbarme und helfe, und nicht eurer Schlachtopfer bedarf; vertraut darauf, dass ich Gott sein will, der Rechtfertiger, der Erlöser, nicht um der Werke, sondern um des Wortes und meiner Verheißung willen; wirklich und von Herzen von mir erbittet und erwartet die Hilfe! Die Vorstellung vom »vollzogenen Werk« verdammt auch Ps 49. Er verwirft Schlachtopfer und fordert die Anrufung: »Meinst du, dass ich Fleisch von Stieren essen wolle?« usw. »Rufe mich an in der Not,

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so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.«502 Er bezeugt, dies sei der wahre Gottesdienst; die wahre Verehrung sei es, wenn wir ihn selbst von Herzen anrufen. Ebenso Ps 39: »Opfer und Darbringung hast du nicht gewollt, aber die Ohren hast du mir aufgetan.«503 Das heißt: Du hast mir das Wort vorgelegt, das ich hören sollte, und du verlangst, dass ich deinem Wort und deinen Verheißungen glaube, du wollest dich wirklich erbarmen, Hilfe bringen usw. Ebenso Ps 50: »Schlachtopfer willst du nicht, und Brandopfer gefallen dir nicht. Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.«504 Ebenso Ps 4[,6]: »Opfert, was recht ist, und hoffet auf den Herrn.« Er gebietet zu hoffen und sagt, dies sei das rechte Opfer, womit er anzeigt, dass die übrigen Opfer keine wahren und rechten Opfer sind. Und Ps 115: »Ich will dir opfern ein Opfer des Lobes und des Herrn Namen anrufen.«505 Die Anrufung nennen sie ein »Lobopfer«. Aber die Schrift ist voll von solchen Zeugnissen, die lehren, dass Opfer durch den bloßen Vollzug Gott nicht versöhnen. Deshalb lehrt sie, im Neuen Testament (nach Abschaffung der levitischen Kulte) werde es geschehen, dass neue und reine Opfer dargebracht werden, nämlich Glaube, Anrufung, Danksagung, Bekenntnis und Predigt des Evangeliums, Anfechtungen um des Evangeliums willen und Ähnliches. Und von diesen Opfern sagt Maleachi: »Vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang ist mein Name herrlich unter den Heiden, und an allen Orten wird Räucherwerk meinem Namen dargebracht und ein reines Opfer.«506 Diese Stelle beziehen die Gegner zu Unrecht auf die Messe, und sie führen die Autorität der Väter an. Doch fällt die Erwiderung leicht: Mag auch noch so viel von der Messe gesprochen werden, so folgt daraus doch nicht, dass sie durch den bloßen Vollzug rechtfertigt oder dass sie, anderen zugeeignet, Sündenvergebung verdient usw. Der Prophet sagt nichts von dem, was die Mönche und

502. 503. 504. 505. 506.

Ps 50,13.15 [= Ps 49,13.15 Vg]. Ps 40,7 [Ps 39,7 Vg]. Ps 51,18f [= Ps 50,18f Vg]. Ps 116,17 [= Ps 115,17 Vg]. Mal 1,11.

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Sophisten schamlos erdichten. Im Übrigen bieten die Worte des Propheten selbst ihre Deutung. Denn erstens stellen sie heraus, dass der Name des Herrn groß sein wird. Dies geschieht durch die Predigt des Evangeliums. Durch sie nämlich wird der Name Christi bekannt gemacht und die in Christus verheißene Barmherzigkeit des Vaters erkannt. Die Predigt des Evangeliums schafft den Glauben in denjenigen, die das Evangelium annehmen.507 Sie rufen Gott an, sie sagen Gott Dank, sie erdulden Anfechtungen beim Bekenntnis, sie tun gute Werke um der Ehre Christi willen. So wird der Name des Herrn groß unter den Völkern. Die Worte »Räucherwerk« und »reines Opfer« bezeichnen also nicht eine Zeremonie, die durch den bloßen Vollzug wirksam ist, sondern all jene Opfer, durch die der Name des Herrn groß wird, nämlich: Glaube, Anrufung, Predigt des Evangeliums, Bekenntnis usw. Und wir ertragen es gern, wenn einer hierunter auch eine Zeremonie begreifen will, nur möge er dann weder an die bloße Zeremonie denken noch lehren, die Zeremonie sei durch den bloßen Vollzug von Nutzen. Denn wie wir zu den »Lobopfern«, d. h. zu den Lobpreisungen Gottes, auch die Predigt des Wortes zählen, so kann der Empfang des Abendmahls selbst ein Lob oder eine Danksagung sein, aber [diese Zeremonie] rechtfertigt nicht durch den bloßen Vollzug, noch lässt sie sich anderen zueignen, um ihnen die Sündenvergebung zu verdienen. Aber wir wollen etwas später darlegen, wie auch eine Zeremonie ein Opfer sein kann. Aber weil Maleachi von allen Gottesdiensten des Neuen Testamentes [und] nicht nur vom Abendmahl spricht, ebenso, weil er nicht die pharisäische Meinung vom bloßen Vollzug verteidigt, deshalb richtet er nichts gegen uns aus, sondern unterstützt uns vielmehr. Er fordert nämlich Gottesdienste des Herzens, durch die der Name des Herrn wirklich groß wird. Aus Maleachi wird auch eine weitere Stelle angeführt: »Und er wird die Söhne Levi reinigen und läutern wie Gold und Silber. Dann werden sie dem Herrn Opfer bringen in Gerechtigkeit.«508 Diese Stelle fordert klar Opfer der Gerechten, weshalb sie nicht die Meinung vom bloßen Vollzug verteidigt. Es gibt aber Opfer der Söhne Levi, d. h. Opfer derer, die im Neuen Testament lehren, die Predigt des Evangeliums und die guten Früchte der Predigt, wie Paulus Röm 15[,16] sagt: 507. Röm 10,17. 508. Mal 3,3.

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»Ich bringe das Evangelium Gottes priesterlich dar, damit die Heiden ein Opfer werden, das Gott wohlgefällig ist, geheiligt durch den Heiligen Geist«, d. h. damit die Völker durch den Glauben wohlgefällige Opfer werden usw. Denn jene Schlachtung im Gesetz zeigte sowohl den Tod Christi als auch die Verkündigung des Evangeliums an, durch die dieses alte Wesen des Fleisches getötet werden muss und ein neues und ewiges Leben in uns beginnt. Aber die Gegner beziehen den Begriff »Opfer« überall zu Unrecht allein auf die Zeremonie. Predigt des Evangeliums, Glaube, Anrufung und Ähnliches übergehen sie, obwohl die Zeremonie derentwegen eingeführt wurde und das Neue Testament Opfer des Herzens (nicht aber nach levitischer Art für die Sünden zu vollziehende Zeremonien) haben soll. [161 Das »tägliche Opfer«: nicht die Zeremonie der Messe, sondern der ganze Gottesdienst der Gläubigen] Auch führen sie das »tägliche Opfer« an, dass so, wie es im Gesetz ein tägliches Opfer gab,509 die Messe ein tägliches Opfer des Neuen Testaments sein müsse. Man käme gut mit den Gegnern aus – wenn wir uns durch Allegorien überwinden lassen. Aber es steht fest, dass Allegorien keine zuverlässigen Beweise liefern. Gleichwohl dulden wir es gern, dass die Messe als ein tägliches Opfer aufgefasst wird – nur dass man dann die ganze Messe meint, d. h. die Zeremonie mit der Predigt des Evangeliums, dem Glauben, der Anrufung und der Danksagung. Denn dies alles ist eng miteinander verbunden im immerwährenden Opfer des Neuen Testaments, weil die Zeremonie um dessentwillen eingesetzt wurde und nicht davon getrennt werden darf. Deshalb sagt Paulus: »Sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn.«510 Doch folgt aus jenem levitischen Vorbild keineswegs, dass die Zeremonie ein Werk ist, das durch den bloßen Vollzug rechtfertigt oder anderen zuzueignen ist, um ihnen die Sündenvergebung usw. zu verdienen. Auch bildet das Vorbild nicht nur die Zeremonie treffend ab, sondern auch die Verkündigung des Evangeliums. Num 28 werden die drei Bestandteile jenes täglichen Opfers genannt: Verbrennung des 509. Nach Num 28,3–8. 510. 1 Kor 11,26.

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Lammes, Trankopfer und die Darbringung des Weizenmehles. Das Gesetz enthielt Bilder oder Schatten der zukünftigen Dinge. Deshalb werden in diesem Schauspiel Christus und der ganze Gottesdienst des Neuen Testaments dargestellt. Die Verbrennung des Lammes bezeichnet den Tod Christi. Das Trankopfer zeigt an, dass die Gläubigen überall auf der Welt durch die Verkündigung des Evangeliums mit dem Blut jenes Lammes besprengt, d. h. geheiligt werden, wie Petrus sagt: »Zur Heiligung durch den Geist, zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi.«511 Die Darbringung des Weizenmehles zeigt den Glauben, die Anrufung und die Danksagung in den Herzen an. Wie also im Alten Testament der Schatten erkennbar wird, so muss im Neuen die angezeigte Sache gesucht werden,512 nicht ein anderes Vorbild [nur] in der Weise einer Opferhandlung. Obwohl daher die Zeremonie eine Erinnerung an den Tod Christi ist, so ist doch nicht sie allein das tägliche Opfer, sondern das Gedenken selbst ist das tägliche Opfer, d. h. die Verkündigung und der Glaube, der wirklich glaubt, dass Gott durch den Tod Christi versöhnt ist. Gefordert ist das Trankopfer, d. h. die Wirkung der Predigt, damit wir, durch das Evangelium mit dem Blut Christi besprengt, geheiligt, [d. h.] getötet und lebendig gemacht werden. Gefordert werden auch Darbringungen, d. h. Danksagungen, Bekenntnisse und Anfechtungen. Wenn so die pharisäische Meinung vom »vollzogenen Werk« verworfen ist, verstehen wir, dass der geistliche Gottesdienst und das immerwährende Opfer des Herzens gemeint sind, weil im Neuen Testament die Gesamtheit der Güter, d. h. der Heilige Geist, die Tötung und die Lebendigmachung, zu suchen sind. Daraus wird hinreichend klar, dass das Vorbild vom täglichen Opfer nichts gegen uns ausrichtet, sondern vielmehr für uns [spricht], weil wir alle im täglichen Opfer bezeichneten Teile fordern. Die Gegner geben zu Unrecht vor, es werde nur die Zeremonie angezeigt, nicht auch die Predigt des Evangeliums, die Tötung und die Lebendigmachung des Herzens usw. Jetzt also können alle guten Männer leicht das Urteil fällen, dass die Anschuldigung, wir schafften das tägliche Opfer ab, völlig falsch 511. 1 Petr 1,2. 512. Kol 2,17.

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ist. Die Sache selbst zeigt, wer jene Anhänger des Antiochus513 sind, die die Herrschaft in der Kirche innehaben, unter dem Vorwand der Frömmigkeit die Weltherrschaft an sich reißen und unter Missachtung aller Sorge um die Religion und Lehre des Evangeliums herrschen, wie die Könige der Welt Kriege führen [und] neue Kulte in der Kirche eingeführt haben. Denn die Gegner behalten in der Messe allein die Zeremonie bei und verwenden sie öffentlich zur frevelhaften Bereicherung. Dann erdichten sie, dieses für andere verwendete Werk verdiene ihnen die Gnade und alle Güter. In den Predigten lehren sie nicht das Evangelium, trösten nicht die Gewissen, zeigen nicht, dass die Sünden umsonst um Christi willen vergeben werden, sondern richten Heiligenkulte auf, menschliche Genugtuungen, menschliche Überlieferungen, durch die, so behaupten sie, die Menschen vor Gott gerechtfertigt werden. Und obwohl etliches davon offenkundig gottlos ist, wird es dennoch mit Gewalt verteidigt. Wenn Prediger für besonders gelehrt gehalten werden wollen, bringen sie philosophische Fragen vor, die weder das Volk noch sie selbst, die sie vortragen, begreifen. Diejenigen schließlich, die etwas erträglicher sind, lehren das Gesetz; von der Glaubensgerechtigkeit sagen sie nichts. [162 Der wahre Schmuck der Kirche: nicht äußerliche Pracht, sondern Predigt, Sakramentsgebrauch und Gebet] Die Gegner führen in der Konfutation wundersame Trauerspiele auf über die Verödung der Kirchen, dass nämlich die Altäre schmucklos dastehen ohne Kerzen, ohne [Heiligen-]Bilder. Diese Narrheiten halten sie für den Schmuck der Kirche. Eine ganz andere Verödung zeigt Daniel an, nämlich die Unkenntnis des Evangeliums. Denn das mit der Vielzahl und Verschiedenartigkeit von Überlieferungen und Meinungen überschüttete Volk hat den Inhalt der christlichen Lehre in keiner Weise erfassen können. Denn wer aus dem Volk hat jemals die Lehre von der Buße verstanden, die die Gegner vorgetragen haben? Und die ist der wichtigste Punkt der christlichen Lehre. Die Gewissen wurden mit der Aufzählung der Vergehen und den Genugtuungen gequält. Den Glauben, durch den wir umsonst die 513. Antiochus IV. Epiphanes (176–163 v. Chr.) plünderte den Tempel in Jerusalem und führte dort anstelle des jüdischen Gottesdienstes den Zeuskult ein.

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Vergebung der Sünden erlangen, erwähnten die Gegner überhaupt nicht. Zu den Übungen des Glaubens, der gegen die Verzweiflung kämpft, zu der um Christi willen umsonst geschenkten Sündenvergebung blieben alle Bücher, alle Predigten der Gegner stumm. Dazu kamen die schauerliche Entweihung der Messen und zahlreiche andere gottlose Kulte in den Kirchen. Dies ist die Verödung, die Daniel beschreibt. Dagegen dienen bei uns die Priester dank Gottes Wohltat im Dienst des Wortes; sie lehren das Evangelium von den Wohltaten Christi; sie zeigen, dass die Sündenvergebung umsonst geschieht um Christi willen. Diese Lehre spendet den Gewissen einen starken Trost. Hinzugefügt wird auch die Lehre von den guten Werken, die Gott gebietet. Man spricht von der Würdigkeit und vom Gebrauch der Sakramente. Wenn aber das tägliche Opfer im Gebrauch des Sakramentes bestünde, so würden wir es doch besser halten als die Gegner, weil bei ihnen die Priester [nur] gegen Bezahlung das Sakrament verwalten. Bei uns gibt es einen häufigeren und andächtigeren Gebrauch. Denn das Volk nimmt es, nachdem es zuvor unterrichtet und verhört worden ist. Die Menschen werden nämlich über den rechten Gebrauch des Sakramentes belehrt, dass es als ein Siegel und Zeugnis für die umsonst geschehende Sündenvergebung eingesetzt wurde. Deshalb soll es furchtsame Gewissen dazu anhalten, sich wirklich darauf zu verlassen und zu glauben, dass ihnen umsonst die Sünden vergeben werden. Da wir also sowohl die Predigt des Evangeliums als auch den rechtmäßigen Gebrauch der Sakramente beibehalten, bleibt bei uns das tägliche Opfer erhalten. Auch ist, wenn hier vom Erscheinungsbild zu reden ist, der Kirchenbesuch bei uns reger als bei den Gegnern. Denn die Zuhörerschaft wird durch nützliche und klare Predigten gefesselt. Aber die Lehre der Gegner haben weder das Volk noch die Gelehrten jemals verstanden. Die fromme, nützliche und klare Lehre, der ehrfürchtige Gebrauch der Sakramente, das inbrünstige Gebet und Ähnliches sind auch der wahre Schmuck der Kirchen. Kerzen, goldene Gefäße und ähnlicher Schmuck sind zwar angemessen, sie sind aber nicht der eigentliche Schmuck der Kirche. Wenn die Gegner den Gottesdienst auf solche Dinge gründen [und] nicht auf die Evangeliumspredigt, den Glauben, die Kämpfe des Glaubens, dann sind sie zu denen zu

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zählen, die Daniel beschreibt als die, die ihren Gott mit Gold und Silber verehren.514 [163 Das klare Zeugnis des Hebräerbriefes: Christus ist das einzige Sühnopfer für alle Sünden aller Menschen, abgebildet durch das levitische Priestertum im Alten Testament, zugeeignet durch den Dienst des Geistes im Neuen Testament] Sie zitieren auch aus dem Hebräerbrief: »Jeder Hohepriester, der von den Menschen genommen wird, der wird eingesetzt für die Menschen zum Dienst vor Gott, damit er Gaben und Opfer darbringe für die Sünden.«515 Hieraus schließen sie: Da es im Neuen Testament Hohepriester und Priester gibt, folgt daraus, dass es auch ein Opfer für die Sünden gibt. – Diese Stelle bewegt vor allem die Ungebildeten, zumal wenn sich ihren Augen jener Prunk des Priestertums und der Opfer des Alten Testaments aufdrängt. Diese Ähnlichkeit täuscht Unerfahrene, so dass sie meinen, es müsse auch bei uns in der gleichen Weise ein Zeremonialopfer geben, das für die Sünden anderer anzuwenden sei, wie im Alten Testament. Und nichts anderes ist jener Kult der Messen und das übrige Regiment des Papstes als die schlechte Nachahmung der missverstandenen levitischen Verfassung. Und obwohl unsere Lehre ihre Hauptbelege im Hebräerbrief hat, verdrehen die Gegner dennoch verstümmelte Stellen aus jenem Brief gegen uns, wie an jener Stelle, wo es heißt, ein Hohepriester werde eingesetzt, um Opfer für die Sünden zu bringen.516 Die Schrift selbst bezieht dies sofort auf den Hohepriester Christus. Die vorausgehenden Worte sprechen vom levitischen Priestertum und zeigen, dass das levitische Hohepriesteramt ein Bild des Hohepriesteramtes Christi gewesen ist [Hebr 5,5f.10]. Denn die levitischen Opfer für die Sünden verdienten nicht die Sündenvergebung vor Gott; sie waren nur ein Bild des Opfers Christi, das, wie wir oben gesagt haben, das alleinige Sühnopfer werden sollte. Deshalb befasst sich der Brief zum größten Teil damit, dass das alte Hohepriestertum und die alten Opfer nicht dazu eingesetzt wurden, um vor Gott die Sündenvergebung oder die Versöhnung zu verdienen, sondern nur, um das künftige Opfer des 514. Dan 11,38. 515. Hebr 5,1. 516. Hebr 5,1.

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einen Christus anzuzeigen. Denn die Heiligen im Alten Testament mussten gerechtfertigt werden durch den Glauben, [und zwar] aufgrund der Verheißung der um Christi willen zu schenkenden Sündenvergebung, so wie auch die Heiligen im Neuen Testament gerechtfertigt werden. Alle Heiligen vom Beginn der Welt an mussten glauben, dass das Opfer und die Genugtuung für die Sünde Christus sein werde, der verheißen worden war, wie Jesaja Kapitel 53[,10] lehrt: »Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat« usw. Da also im Alten Testament die Opfer keine Versöhnung verdienten – es sei denn im Sinne einer gewissen Entsprechung: Sie verdienten nämlich eine weltliche [politische] Versöhnung –, sondern das kommende Opfer anzeigten, so folgt daraus, dass das Opfer Christi das Einzige war, das für die Sünden anderer zugeeignet wurde. Also bleibt im Neuen Testament kein Opfer übrig, das für die Sünden anderer zu verwenden ist, außer dem einen Opfer Christi am Kreuz. In jeder Hinsicht irren die, die vorgeben, die levitischen Opfer hätten vor Gott Sündenvergebung verdient, und diesem Beispiel entsprechend auch im Neuen Testament abgesehen vom Tode Christi Opfer fordern, die anderen zuzuwenden wären. Diese Vorstellung hat das Verdienst des Leidens Christi und die Glaubensgerechtigkeit einfach verschüttet. Sie verdirbt auch die Lehre des Alten und des Neuen Testamentes und macht uns an Christi statt andere Mittler und Versöhner zu Hohepriestern und Opferern, die in den Kirchen täglich ihre Dienstleistung verkaufen. Wenn daher jemand so argumentiert: es müsse auch im Neuen Testament einen Hohepriester geben, der für die Sünden opfert, so ist das nur für Christus zuzugestehen. Und der ganze Hebräerbrief bestätigt diese Lösung. Auch hieße dies ja geradezu, neben Christus andere Mittler aufzustellen, wenn wir (unter Hintanstellung des Todes Christi) eine andere Genugtuung fordern würden, die für die Sünden anderer zu verwenden wäre und Gott versöhnen sollte. Sodann: Weil das Priestertum des Neuen Testaments ein Dienst des Geistes ist, wie Paulus 2 Kor 3[,6] lehrt, deshalb hat es auch einzig das Opfer Christi als Genugtuung und Zuwendung für die Sünden anderer. Im Übrigen kennt es keine den levitischen ähnliche Opfer, die durch ihren bloßen Vollzug anderen zugeeignet werden könnten. Es bringt anderen aber das Evangelium und die Sakramente, damit sie durch diese den Glauben und den Heiligen Geist empfangen und getötet und lebendig

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gemacht werden. Denn der Dienst des Geistes widerstreitet der Zueignung eines Werkes durch dessen Vollzug. Es ist nämlich der Dienst des Geistes, durch den der Heilige Geist in den Herzen wirksam ist. Daher ist es diesem Dienst eigen, anderen so zu nützen: wenn er in ihnen wirksam ist, wenn er sie erneuert und lebendig macht. Das geschieht nicht durch die Zueignung eines fremden Werkes an andere durch den bloßen Vollzug. [164 Zusammenfassung: erwiesener Irrtum von der Messe als durch den Vollzug wirkendem »Opfer«] Wir haben den Grund dafür gezeigt, warum die Messe nicht durch den bloßen Vollzug rechtfertigt und nicht anderen, wenn sie ihnen zugeeignet worden ist, Sündenvergebung verdient: weil beides der Glaubensgerechtigkeit widerspricht. Denn es ist unmöglich, dass Sündenvergebung geschieht, dass die Schrecken der Sünde und des Todes überwunden werden durch irgendein Werk oder eine Sache, es sei denn durch den Glauben an Christus, nach jenem Wort: »Gerecht geworden durch den Glauben, haben wir Frieden.«517 Dazu haben wir gezeigt, dass die Schriftstellen, die man gegen uns zitiert, keineswegs die gottlose Meinung der Gegner vom bloßen Vollzug untermauern. Das können alle guten Männer bei allen Völkern beurteilen. Deshalb ist der Irrtum des Thomas zurückzuweisen, der geschrieben hat: »Der Leib des Herrn, einmal am Kreuz geopfert für die Urschuld, wird Tag für Tag am Altar für die täglichen Vergehen geopfert, damit die Kirche darin eine Gabe hat, um Gott mit sich zu versöhnen.«518 Auch die übrigen gewöhnlichen Irrtümer sind zurückzuweisen: dass die Messe dem, der sie hält, durch den bloßen Vollzug die Gnade bringt. Ebenso, dass sie anderen, wenn sie ihnen zugeeignet wird (sogar Ungerechten, wenn sie nur keinen Widerstand entgegensetzen), die Vergebung der Sünden, der Schuld und der Strafe verdient. Dies alles ist falsch und gottlos, erst neuerdings von ungebildeten Mönchen ersonnen, und es begräbt den Ruhm des Leidens Christi und die Glaubensgerechtigkeit. Und aus diesen Irrtümern sind unzählige weitere erwachsen: wie viel die Messen bewirken, wenn sie vielen zugleich zugewandt werden, 517. Röm 5,1. 518. Thomas von Aquin, Opuscula LVIII. De venerabili sacramento altaris I.

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wie viel einzelne für einzelne Menschen bewirken. Die Sophisten haben genau festgelegte Stufen von Verdiensten, so wie die Silberschmiede Gewichtsgrade für Gold oder Silber haben. Sodann verkaufen sie die Messe wie ein Zahlungsmittel zur Erlangung dessen, was jeder fordert – den Kaufleuten, um ein gutes Geschäft zu machen, den Jägern, um Jagdglück zu haben. Und anderes Unzählige mehr. Schließlich übertragen sie sie auch auf die Toten; sie befreien die Seelen durch die Zueignung des Sakraments aus den Fegfeuerstrafen, obwohl eine Messe ohne Glauben auch den Lebenden nicht nützt. Aus der Schrift können die Gegner keine einzige Silbe zur Verteidigung dieser Fabeln beibringen, die sie doch in der Kirche mit großem Anspruch lehren; sie haben weder Zeugnisse der Alten Kirche noch solche der Kirchenväter.

Was die Kirchenväter über das Opfer gedacht haben [165 Kirchenväter verstehen die Messe als Opfer] Und nachdem wir die Stellen der Schrift, die man gegen uns zitiert, erklärt haben, ist jetzt noch hinsichtlich der Väter zu antworten. Wir wissen sehr wohl, dass die Messe von den Kirchenvätern als ein »Opfer« bezeichnet wird; aber sie wollen [damit] nicht [sagen], dass die Messe durch den bloßen Vollzug Gnade bringt und, anderen zugeeignet, diesen die Vergebung der Sünden, der Schuld und der Strafe verdient. Wo liest man diese ungeheuerlichen Worte bei den Vätern? Vielmehr: Die Väter bezeugen deutlich, dass sie von einer Danksagung sprechen. Deshalb nennen sie sie »Eucharistie«. Wir haben aber oben gesagt, dass das Dankopfer nicht die Versöhnung verdient, sondern von bereits Versöhnten geleistet wird, so wie auch die Anfechtungen nicht die Versöhnung verdienen, sondern dann Dankopfer sind, wenn Versöhnte sie erdulden. Und diese allgemeine Entgegnung auf die Worte der Väter schützt uns genügend gegen die Widersacher. Denn es ist gewiss, dass es jene Einbildungen über ein Verdienst aufgrund des vollzogenen Werkes nirgends bei den Vätern gibt. Damit aber die ganze Sache klarer wird, wollen wir auch über den Gebrauch des Sakraments das sagen, was gewiss mit den Vätern und der Schrift übereinstimmt.

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Vom Gebrauch des Sakramentes und vom Opfer [166 Das Abendmahl – ein Gnadenzeichen Gottes] Einige vorwitzige Menschen reimen sich zusammen, das Abendmahl sei aus zwei Gründen eingesetzt worden. Erstens, um ein Kennzeichen und Merkmal des Bekenntnisses zu sein, so wie eine bestimmte Form der Kutte das Merkmal eines bestimmten Ordens ist. Sodann denken sie, ein solches Zeichen (nämlich das Gastmahl) sei Christus besonders geeignet erschienen, um die wechselseitige Verbundenheit und Freundschaft unter den Christen anschaulich zu machen, weil Gastmähler Bündnis- und Freundschaftszeichen sind. Aber diese Meinung ist weltlich und zeigt nicht den besonderen Gebrauch der von Gott überlieferten Dinge. Sie spricht nur von der Liebe, die man üben soll, wie ungeistliche und weltliche Menschen dies auch immer verstehen mögen. Vom Glauben sagt sie nichts. Was der ist, begreifen nur wenige. Die Sakramente sind Zeichen des Willens Gottes uns gegenüber, nicht nur Zeichen der Menschen untereinander. Und zu Recht definiert man, dass die Sakramente im Neuen Testament Zeichen der Gnade sind. Und dass im Sakrament zwei Teile sind, das Zeichen und das Wort. Das Wort im Neuen Testament ist die dem Zeichen hinzugefügte Verheißung der Gnade. Die Verheißung des Neuen Testamentes ist die Verheißung der Sündenvergebung, wie der Text hier sagt: »Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.«519 Das Wort also bietet die Vergebung der Sünden an. Und die Zeremonie ist gleichsam ein Bild des Wortes oder, wie Paulus es sagt, ein Siegel, das die Verheißung zeigt.520 Wie also die Verheißung nutzlos ist, wenn sie nicht durch den Glauben ergriffen wird, so ist auch die Zeremonie nutzlos, wenn nicht der Glaube hinzukommt, der wirklich glaubt, dass hier die Sündenvergebung angeboten wird. Und dieser Glaube richtet die zerknirschten Herzen auf. Und wie das Wort überliefert worden ist, um diesen Glauben zu wecken, so ist das Sakrament eingesetzt worden, damit das Bild, das in die Augen fällt, die Herzen zum Glauben bewegt. 519. Lk 22,19; Mt 26,27f. 520. Röm 4,11.

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Denn durch sie, nämlich durch das Wort und das Sakrament, wirkt der Heilige Geist. Und ein solcher Gebrauch des Sakramentes, wenn der Glaube die erschrockenen Herzen lebendig macht, ist der Gottesdienst des Neuen Testamentes, weil das Neue Testament geistliche Regungen zur Folge hat, die Tötung und die Lebendigmachung. Und zu diesem Zweck hat Christus es eingesetzt, wenn er befiehlt, es zu seinem Gedächtnis auszuteilen.521 Denn Christi zu gedenken ist kein müßiges oder des Beispiels wegen aufgeführtes Schauspiel, so wie in Trauerspielen das Andenken des Herkules oder Odysseus gefeiert wird, sondern es bedeutet, der Wohltaten Christi zu gedenken und sie im Glauben zu empfangen, damit wir durch sie lebendig gemacht werden. Deshalb sagt der Psalm: »Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige Herr. Er gibt Speise denen, die ihn fürchten.«522 Das bedeutet nämlich, dass der Wille und die Barmherzigkeit Gottes in jener Zeremonie erkannt werden sollen. Jener Glaube aber, der die Barmherzigkeit erkennt, macht lebendig. Und dies ist der hauptsächliche Gebrauch des Sakramentes, an dem deutlich wird, welche Menschen des Sakramentes würdig sind, nämlich die erschrockenen Gewissen, und wie sie es gebrauchen sollen. [167 Das Abendmahl – ein Dankopfer des Glaubens] Es kommt auch das Opfer hinzu. Denn die eine Sache hat mehrere Zwecke. Wenn das durch den Glauben aufgerichtete Gewissen erkannt hat, aus welchen Schrecken es befreit wird, dann dankt es wirklich mit Ernst für die Wohltat und das Leiden Christi und gebraucht die Zeremonie selbst zum Lobe Gottes, um durch diesen Gehorsam Dankbarkeit zu beweisen, und es bezeugt, dass es die Gaben Gottes hoch einschätzt. So wird die Zeremonie zu einem Lobopfer. Und auch die Väter sprechen von einer doppelten Wirkung, von der Tröstung der Gewissen und vom Dank oder Lob. Die erste dieser Wirkungen bezieht sich auf den Gehalt des Sakramentes, die zweite auf das Opfer. Von der Tröstung sagt Ambrosius: »›Tretet hinzu zu ihm, und ihr werdet losgesprochen, denn er ist die Vergebung der Sünden.‹ Wer das ist, fragt ihr? Hört ihn selbst, wenn er spricht: ›Ich 521. Lk 22,19. 522. Ps 111,4f.

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bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird niemals dürsten.‹523«524 Hier bezeugt er, dass im Sakrament die Vergebung der Sünden angeboten wird; er bezeugt auch, dass sie durch den Glauben empfangen werden muss. Unzählige Zeugnisse in diesem Sinne liest man bei den Vätern. Die Gegner verdrehen sie alle auf das vollzogene Werk und die Zueignung für andere hin, während die Väter klar den Glauben fordern und von der besonderen Tröstung eines jeden sprechen, nicht von der Zuwendung. Außerdem liest man auch Worte über die Danksagung in der Art, wie es Cyprian sehr schön von denen gesagt hat, die das Abendmahl andächtig empfangen: »Die Frömmigkeit«, sagt er, »die sich auf Gegebenes und Vergebenes aufteilt, dankt dem Spender so überreicher Wohltat.«525 Das heißt, die Frömmigkeit schaut auf das Gegebene und das Vergebene. Das bedeutet: Sie vergleicht miteinander die Größe der Wohltaten Gottes und die Größe unserer Übel, des Todes und der Sünde, und sagt Dank usw. Und daraus entstand der Begriff »Eucharistie« in der Kirche. Aber nicht die Zeremonie selbst ist der Dank, der durch den bloßen Vollzug anderen zugeeignet werden soll, um ihnen die Sündenvergebung zu verdienen usw. [und] die Seelen der Verstorbenen zu befreien. Diese Dinge widerstreiten der Glaubensgerechtigkeit, so als würde eine Zeremonie ohne Glauben dem, der sie vollzieht, oder anderen Nutzen bringen.

Über Benennungen der Messe [168 Ursprünglicher Sinn der Bezeichnungen »Liturgie«, »Messe«, »Opfer«] Die Gegner machen uns gegenüber auch die Grammatik geltend. Sie nehmen Argumente aus den Bezeichnungen der Messe, die keiner langen Erörterung bedürfen. Auch wenn sie ein »Opfer« genannt wird, so folgt daraus nicht, dass die Messe ein Werk ist, das durch den

523. Joh 6,35. 524. Ambrosius († 397), Expositio in psalmum CXVIII. Sermo XVIII, 28 (PL 15, 1462). 525. Arnold von Bonneval († nach 1156; unter dem Namen Cyprians überliefert), De cardinalibus operibus Christi VI (PL 189, 1647).

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bloßen Vollzug die Gnade bringt oder, für andere verwendet, diesen Sündenvergebung usw. verdient. Das Wort »Liturgie«, sagen sie, bezeichnet ein Opfer; auch die Griechen nennen die Messe »Liturgie«. Warum übergehen sie hier die alte Bezeichnung »Synaxis«526, die zeigt, dass die Messe einst ein Kommunizieren vieler gewesen ist? Aber sprechen wir von »Liturgie«! Dieses Wort bezeichnet nicht eigentlich ein Opfer, sondern vielmehr einen öffentlichen Dienst. Und das passt gut zu unserer Auffassung, dass nämlich der eine konsekrierende Diener dem übrigen Volk den Leib und das Blut des Herrn reicht, so wie der eine lehrende Diener dem Volk das Evangelium bringt, wie Paulus sagt: »Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter der Geheimnisse Gottes«527, d. h. des Evangeliums und der Sakramente. Und 2 Kor 5[,20]: »So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen« usw. So passt das Wort »Liturgie« gut zu »Dienst«. Es ist nämlich ein altes Wort, das für öffentliche, weltliche Dienste verwandt wurde, und bei den Griechen bezeichnet es öffentliche Lasten wie die Steuer, die zum Bau einer Flotte erhoben wurde, oder Ähnliches, wie Demosthenes’ Rede »An Leptines« bezeugt, die sich ausschließlich mit der Erörterung öffentlicher Aufgaben und Privilegien befasst: »Er will sagen, dass manche unwürdige Menschen nach Erlangung von Abgabenfreiheit öffentliche Leistungen verweigern.«528 So hat man auch zu römischen Zeiten gesprochen, wie das Reskript des [Kaisers] Pertinax über das Recht der Steuerfreiheit, Lex Semper, zeigt: »Obwohl die Zahl der Kinder die Eltern nicht von allen öffentlichen Leistungen [Liturgien] befreit.«529 Und der Kommentar zu Demosthenes530 schreibt, die »Liturgie« sei eine Art von Abgaben, erhoben für den Aufwand bei [öffentlichen] Spielen, den Bau von Schiffen, den Unterhalt des Gymnasiums und ähnliche öffentliche Aufgaben. Und Paulus verwendet den Begriff als Bezeichnung für 526. Synaxis (griech.): Vereinigung, Versammlung. 527. 1 Kor 4,1. 528. Demosthenes, Ad Leptinem I, 457. Im griechischen Zitat steht für »öffentliche Leistung« das Wort »leiturgia«. 529. Erlass des Kaisers Pertinax († 193), als »Lex Semper« zitiert, durch den kinderreiche Eltern von Abgaben befreit werden. 530. Ulpian, römischer Jurist († 170), Commentarius in Demosthenem ad Leptinem 494, 36.

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eine Kollekte 2 Kor 9[,12]: »Der Dienst dieser Spende [Leiturgia] hilft nicht allein dem Mangel der Heiligen ab, sondern wirkt auch überschwänglich darin, dass viele Gott danken« usw. Und Phil 2[,25] nennt er Epaphroditus einen »Liturgen«, einen Helfer in seiner Not, worunter gewiss kein Opferpriester verstanden werden kann. Aber man braucht hier keine weiteren Zeugnisse, weil denen, die griechische Schriftsteller lesen, überall Belege begegnen, in denen der Begriff »Leiturgia« für öffentliche, weltliche Abgaben oder Dienste verwandt wird. Und wegen des Doppellautes leiten die Grammatiker ihn nicht von dem Wort »Lite« ab, das Bitten bezeichnet, sondern von den öffentlichen Gütern, die »Leita« heißen, so dass »leiturgeo« heißt: »Ich besorge, verwalte öffentliche Güter.« Es ist lächerlich, dass sie behaupten, in den Heiligen Schriften werde der Altar erwähnt; deshalb müsse die Messe ein Opfer sein, obwohl das Gleichnis des Altars von Paulus [nur] um der Analogie willen angeführt wird. Und sie geben vor, das Wort »Messe« leite sich vom [hebräischen] Wort für »Altar«, mizbeach, ab. Wozu war es nötig, die Ableitung von so weit her zu holen, es sei denn, um ihre Kenntnis der hebräischen Sprache zu demonstrieren? Wozu ist dies nötig, fernab einen Wortursprung zu suchen, obwohl das Wort »missa« doch Dtn 16 begegnet, wo es Sammlungen oder Opfer des Volkes bezeichnet, nicht die Darbringung des Priesters? Denn die einzelnen Menschen, die zur Passafeier kamen, mussten gleichsam als Bekenntniszeichen irgendeine Gabe bringen. Diesen Brauch haben zu Anfang auch die Christen beibehalten. Wenn sie zusammenkamen, brachten sie Brot, Wein und anderes mit, wie die Apostolischen Regeln531 bezeugen. Davon wurde auch der Teil genommen, der konsekriert wurde; der Rest wurde unter die Armen verteilt. Mit diesem Brauch behielten sie auch die Bezeichnung der Sammlungen bei: »Messe«. Und wegen dieser Sammlungen scheint auch anderswo die Messe als »Agape« bezeichnet worden zu sein, falls nicht jemand meint, sie sei eher wegen des gemeinsamen Mahles so genannt worden. Aber lassen wir diese Spielereien beiseite. Denn es ist lächerlich, dass die Gegner in einer so wichtigen Angelegenheit derart leichtfer531. Die »Canones Apostolorum« in den Apostolischen Konstitutionen (entstanden um 380), der größten kirchenrechtlich-liturgischen Sammlung der Alten Kirche.

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tige Vermutungen beibringen. Denn selbst wenn man die Messe eine Darbringung nennt – was trägt dieses Wort dann bei zu jenen Vorstellungen vom vollzogenen Werk und der Zueignung, die, wie sie vorgeben, anderen die Sündenvergebung verdient? Auch kann man sie deshalb eine Darbringung nennen, weil dort Gebete, Danksagungen und jener ganze Gottesdienst dargebracht werden, so wie sie ja auch »Eucharistie« genannt wird. Aber weder die Zeremonien noch die Gebete helfen durch den bloßen Vollzug ohne Glauben. Wenngleich wir hier nicht über die Gebete, sondern im Besonderen über das Abendmahl streiten. Auch der griechische Kanon [der Messe] sagt vieles über die Darbringung, aber er zeigt deutlich, dass er nicht eigentlich vom Leib und Blut des Herrn spricht, sondern vom ganzen Gottesdienst, von den Bitten und Danksagungen. Denn er lautet so: »Und mach, dass wir würdig werden, dir die Gebete und Bitten und die unblutigen Opfer für das ganze Volk darzubringen.«532 Er bietet, recht verstanden, keinen Anstoß. Denn er bittet, dass wir würdig gemacht werden, Bitten, Gebete und unblutige Opfer für das Volk darzubringen. So auch kurz danach: »Wir bringen dir«, sagt er, »diesen vernünftigen und unblutigen Gottesdienst dar.« Denn töricht legen dieses Wort die aus, die hier lieber »vernünftige Hostie« übersetzen wollen und es auf den Leib Christi selbst beziehen, obwohl der Kanon [doch] vom ganzen Gottesdienst spricht und »vernünftiger Gottesdienst« von Paulus gegen das vollzogene Werk gesagt ist,533 nämlich vom Gottesdienst des Herzens, der Gottesfurcht, dem Glauben, der Anrufung, der Danksagung usw.

[Von der Messe für Tote] [169 Zueignung an Tote widerstreitet dem Evangelium, ist auch nicht aus der griechischen Messliturgie zu begründen] Dass unsere Gegner aber die Zueignung der Zeremonie für die Befreiung der Seelen von Toten verteidigen, woraus sie unermesslichen Gewinn schlagen, hat keine Belege und kein Gebot aus der Schrift. 532. Ein Gebet aus der ostkirchlichen Chrysostomusliturgie (Beginn der Gläubigenmesse). 533. Röm 12,1.

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Es ist aber keine geringe Sünde, solche Gottesdienste ohne ein Gebot Gottes, ohne ein Beispiel der Schrift in der Kirche einzuführen und das zur Erinnerung und Verkündigung unter den Lebenden eingesetzte Abendmahl auf die Toten zu übertragen. Das bedeutet, den Namen Gottes zu missbrauchen gegen das zweite Gebot. Erstens nämlich ist es eine Schmähung des Evangeliums zu meinen, dass die Zeremonie durch den bloßen Vollzug ohne Glauben ein Opfer sei, das Gott versöhnt und für die Sünden Genugtuung leistet. Es ist eine ungeheuerliche Rede, dem Werk des Priesters ebenso viel zuzuschreiben wie dem Tode Christi. Sodann können Sünde und Tod nur durch den Glauben an Christus überwunden werden, wie Paulus lehrt: »Gerecht geworden durch den Glauben, haben wir Frieden.«534 Daher kann die Strafe des Fegfeuers nicht durch die Zueignung eines fremden Werkes überwunden werden. Wir wollen jetzt beiseitelassen, was für Belegstellen die Gegner für das Fegfeuer haben, welcher Art die Fegfeuerstrafen ihrer Ansicht nach sind, was für Gründe die Lehre von den Genugtuungen hat, die wir oben als völlig nichtig erwiesen haben. Nur das wollen wir entgegenhalten: Es ist gewiss, dass das Abendmahl des Herrn der Vergebung der Schuld wegen eingesetzt worden ist. Denn es bietet die Sündenvergebung an, wo man wirklich Schuld erkennen muss. Und doch leistet es keine Genugtuung für die Schuld, sonst wäre die Messe dem Tode Christi gleich. Auch kann Vergebung der Schuld nicht anders empfangen werden als durch den Glauben. Daher ist die Messe keine Genugtuung, sondern eine Verheißung und ein Sakrament, das den Glauben fordert. Und tatsächlich müssen alle Frommen sehr großen Schmerz empfinden, wenn sie bedenken, dass die Messe zum großen Teil auf Tote und auf Genugtuungen für Strafen verlagert wurde. Das bedeutet, das tägliche Opfer aus der Kirche zu entfernen. Das bedeutet die Herrschaft des Antiochus535, der die heilsamsten Verheißungen von der Vergebung der Schuld, vom Glauben auf die ganz und gar nichtigen Meinungen über die Genugtuungen übertragen hat. Das bedeutet, das Evangelium zu besudeln, den Gebrauch der Sakramente zu verderben. Das sind die, von denen Paulus gesagt hat: »Sie sind schuldig 534. Röm 5,1. 535. Siehe oben Nr. 161, Anm. 513.

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am Leib und Blut des Herrn.«536 Sie haben die Lehre vom Glauben unterdrückt und die Vergebung der Schuld und den Leib und das Blut des Herrn unter dem Vorwand von Genugtuungen zu einem gotteslästerlichen Geschäft gemacht. Und man wird sie dereinst für diesen Frevel strafen. Deshalb müssen wir und alle frommen Gewissen uns davor hüten, die Missbräuche der Gegner zu billigen. Doch kehren wir zur Sache zurück. Da die Messe durch den bloßen Vollzug, ohne Glauben, keine Genugtuung ist (weder für die Strafe noch für die Schuld), so folgt daraus, dass die Zueignung an die Toten unnütz ist. Und hier bedarf es keiner längeren Erörterung. Denn es steht fest, dass jene Zueignungen an die Toten keine Belege aus der Schrift haben. Es ist aber keine sichere Sache, in der Kirche Gottesdienste ohne Autorität der Schrift einzuführen. Und wenn es einmal nötig sein wird, werden wir ausführlicher über die ganze Frage sprechen. Denn was sollen wir jetzt mit den Gegnern ringen, die weder verstehen, was ein Opfer noch was ein Sakrament ist, weder was Sündenvergebung noch was der Glaube ist? Auch der griechische Kanon wendet die Darbringung nicht als eine Genugtuung den Toten zu. Denn er wendet sie in gleicher Weise allen seligen Patriarchen, Propheten und Aposteln zu. Es ist also klar, dass die Griechen im Sinne einer Danksagung opfern, nicht [die Messe] als Genugtuung für Strafen zueignen. Doch sprechen auch sie nicht nur von der Darbringung des Leibes und Blutes des Herrn, sondern [auch] von den übrigen Teilen der Messe, nämlich den Gebeten und den Danksagungen. Denn nach der Konsekration bitten sie, es möge den Empfangenden nützen; sie sprechen nicht von anderen. Dann fügen sie hinzu: »Auch bringen wir dir diesen vernünftigen Gottesdienst dar für die im Glauben entschlafenen Vorväter, Väter, Patriarchen, Propheten, Apostel« usw.537 Aber der Ausdruck »vernünftiger Gottesdienst« bezeichnet nicht das Opfer selbst, sondern die Gebete und alles, was dort geschieht. Wenn aber die Gegner zur Darbringung für Tote die Väter ins Feld führen, so wissen wir, dass die Alten vom Gebet für die Toten sprechen, das auch wir nicht verbieten; aber die Zueignung des Abendmahls an Tote durch den bloßen Vollzug verwerfen wir. Auch hinsichtlich des »vollzogenen Werkes« leisten die 536. 1 Kor 11,27. 537. Die sogenannte »Intercessio« der Chrysostomusliturgie.

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Alten den Gegnern keinen Beistand. Und wenn sie Belege, vor allem aus Gregor538 oder noch Jüngeren, haben, so setzen wir dem ganz klare und sichere Schriftstellen entgegen. Auch herrscht bei den Vätern eine große Verschiedenheit. Sie waren Menschen und konnten irren und sich täuschen. Doch wenn sie jetzt wieder lebendig würden und sähen, dass ihre Worte jene gleißenden Lügen verbrämen, die die Gegner über das »vollzogene Werk« verbreiten, so würden sie sich selbst ganz anders auslegen. [170 Kulthandlungen als Versöhnungsmittel: Schon die Propheten bekämpften diesen Irrtum, der erst mit dem Papstreich untergehen wird] Fälschlich führen die Gegner gegen uns auch die Verdammung des Aërius an, der, wie sie sagen, deshalb verdammt worden sei, weil er bestritten habe, dass in der Messe eine Darbringung für die Lebenden und die Toten geschehe.539 Sie bedienen sich oft dieses Kunstgriffes: Sie führen alte Häresien ins Feld, und mit diesen bringen sie zu Unrecht unsere Sache in Verbindung, um uns durch jenen Vergleich zu belasten. Epiphanius540 bezeugt, dass Aërius geglaubt habe, dass Gebete für die Toten nutzlos sind. Das tadelt er. Auch wir unterstützen Aërius nicht; aber wir streiten mit euch, die ihr eine offenkundig mit den Propheten, Aposteln und heiligen Vätern in Widerspruch stehende Häresie ruchlos verteidigt, nämlich, dass die Messe durch den bloßen Vollzug rechtfertige, dass sie Vergebung der Schuld und der Strafe verdiene, selbst den Ungerechten, denen sie zugeeignet wird, wenn sie keinen Widerstand entgegensetzen. Wir verwerfen diese verderblichen Irrtümer, die die Ehre des Leidens Christi verletzen und die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit gänzlich verschütten. Ähnlich war die Überzeugung der Gottlosen im Gesetz, dass sie die Sündenvergebung durch die Opfer aufgrund des bloßen Vollzugs verdienen [und] nicht umsonst durch den Glauben empfangen würden. Daher vermehrten sie jene Kulte und Opfer, führten den Baalskult in

538. Papst Gregor I. der Große (590–604). 539. Aërios († nach 375), ein Asket, Presbyter in Sebaste, bildete aufgrund von Konflikten über Liturgie- und Ordnungsfragen eine Sondergemeinde. Er wandte sich gegen abergläubische Vorstellungen über die Fürbitte für die Toten. 540. Epiphanius von Salamis († 403).

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Israel ein, opferten in Juda sogar in den Hainen. Daher kämpften die Propheten, nachdem sie jene Überzeugung verdammt hatten, nicht nur mit den Baalsverehrern, sondern auch mit anderen Priestern, die die von Gott angeordneten Opfer in jener gottlosen Meinung darbrachten. Doch haftet diese Überzeugung in der Welt und wird es immer tun, dass Gottesdienste und Opfer Versöhnungshandlungen sind. Fleischliche Menschen ertragen es nicht, dass allein dem Opfer Christi diese Ehre zuerkannt wird, dass es die Versöhnung sei, weil sie die Glaubensgerechtigkeit nicht begreifen, sondern die gleiche Ehre auch den anderen Kulten und Gottesdiensten zuschreiben. Wie also in Juda bei den gottlosen Priestern die falsche Überzeugung von den Opfern haftete, wie in Juda Baalskulte überdauerten (und doch gab es dort die Kirche Gottes, die die gottlosen Kulte verwarf): So haftet auch im Papstreich der Baalskult, d. h. der Missbrauch der Messe, die sie zueignen, um durch sie Ungerechten Vergebung der Schuld und der Strafe zu verdienen. Und es scheint, als würde dieser Baalskult mit dem Papstreich fortdauern, bis Christus zum Gericht kommen und die Herrlichkeit seiner Ankunft das Reich des Antichrists vernichten wird. Bis dahin müssen alle, die wirklich dem Evangelium glauben, jene gottlosen Kulte verwerfen, die gegen Gottes Gebot erdacht wurden, um die Ehre Christi und die Glaubensgerechtigkeit zu verdunkeln. [Die Größe des Streites für den rechten Gebrauch der Messe] Dies haben wir in Kürze über die Messe gesagt, damit alle trefflichen Männer in allen Völkern erkennen können, dass wir die Würde der Messe mit größtem Eifer bewahren, ihren rechten Gebrauch zeigen und sehr gewichtige Gründe haben, weshalb wir von den Gegnern abweichen. Und wir wollen, dass alle guten Männer davor gewarnt sind, die Gegner zu unterstützen, die die Entweihung der Messe verteidigen, damit sie sich nicht durch die Beteiligung an einer fremden Sünde belasten. Groß ist der Streit; groß ist die Sache, nicht kleiner als jenes Unternehmen des Propheten Elia, der den Baalskult verwarf.541 Wir haben diese so wichtige Sache sehr zurückhaltend vorgetragen und antworten jetzt ohne Schmähreden. Sollten uns die

541. 1 Kön 18f.

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Gegner aber dazu nötigen, alle Arten von Missbräuchen der Messe zusammenzustellen, dann wird die Sache nicht so sanft zu behandeln sein.

[Art. XXVII:] Von den Klostergelübden [171 Die Prophetie des Franziskaners Johannes Hilten: Niedergang des Mönchtums] Vor 30 Jahren war bei uns in der thüringischen Stadt Eisenach ein Franziskaner, Johannes Hilten,542 der von seinem Orden in den Kerker geworfen wurde, weil er bestimmte allgemein bekannte Missbräuche getadelt hatte. Wir haben nämlich seine Schriften gesehen, aus denen hinreichend zu ersehen ist, welcher Art seine Lehre war. Und die ihn gekannt haben, bezeugen, dass er ein gütiger alter Mann war, ernsthaft, ohne Eigensinn. Er hat vieles vorausgesagt, was zum Teil schon eingetroffen ist, zum Teil noch bevorzustehen scheint. Wir wollen es jetzt nicht aufzählen, damit es niemand so auslegt, als würde es aus Hass auf jemanden oder jemand zu Gefallen erzählt. Schließlich aber, als er wegen des Alters oder wegen des Schmutzes des Kerkers krank geworden war, bat er den Wächter zu sich, um ihm sein Befinden zu zeigen. Als aber der Wächter, brennend vor pharisäischem Hass, den Menschen wegen seiner Lehrweise, die die [Kloster-]Küche zu beeinträchtigen schien, scharf zu tadeln begann, da sagte dieser seufzend, ohne seine Krankheit zu erwähnen, er erdulde diese Schmähungen ruhigen Herzens um Christi willen, da er fürwahr nichts geschrieben oder gelehrt habe, was den Mönchsstand erschüttern könne; er habe nur einige bekannte Missstände getadelt. »Aber ein anderer«, sagte er, »wird im Jahre des Herrn 1516 kommen, der wird euch vernichten, und ihm werdet ihr nicht widerstehen können.« Diesen seinen Ausspruch über den Verfall der Mönchsherrschaft und diese Jahreszahl haben später auch seine Freunde gefunden, niedergeschrieben von ihm selbst in seinen Kommentaren 542. Johannes Hilten († etwa 1500) wurde seit 1477 wegen seiner apokalyptischen Prophezeiungen in den Klöstern zu Weimar und Eisenach in schwerer Haft gehalten und starb, ohne Widerruf geleistet zu haben. Luther hatte bereits in jungen Jahren von seinem Schicksal erfahren.

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unter den Anmerkungen, die er zu bestimmten Stellen des Danielbuches hinterlassen hatte.543 Obwohl aber erst die Zukunft lehren wird, was man von diesem Wort zu halten hat, gibt es doch andere Zeichen, die den Sturz der Mönchsherrschaft androhen und nicht weniger gewiss sind als Orakel. Denn es ist bekannt, wie groß in den Klöstern die Heuchelei des Ehrgeizes und der Habsucht ist, welche Unwissenheit und welches Wüten gerade ganz ungebildeter [Mönche] es gibt, wie viel leeres Geschwätz in den Predigten, beim Ersinnen von immer neuen Jagden nach Geld. Und es gibt noch andere Laster, die man hier besser nicht erwähnt. Obwohl sie einst Schulen der christlichen Lehre waren, sind sie jetzt entartet, wie vom goldenen zum eisernen Zustand oder wie der platonische Würfel zu Disharmonien entartet, von denen Plato sagt, dass sie das Ende bringen.544 Manche sehr reiche Klöster ernähren nur einen müßigen Haufen, der dort unter dem falschen Vorwand der Frömmigkeit die öffentlichen Almosen der Kirche verprasst. Christus aber lehrt vom tauben Salz, dass es weggeschüttet und zertreten zu werden pflegt.545 Daher sagen sich die Mönche durch diese Sitten selbst ihr Geschick voraus. Und jetzt kommt ein anderes Zeichen hinzu: dass sie weit und breit die Tötung guter Männer veranlassen. Diese Morde wird Gott ohne Zweifel in Kürze rächen. Aber wir klagen nicht alle an; wir meinen nämlich, dass hier und dort noch manche trefflichen Leute in den Klöstern leben, die über die menschlichen Kulte […] maßvoll denken und das Wüten nicht billigen, das die Heuchler bei ihnen veranstalten. [172 Gravierende Fragen zu den Gelübden – zu behandeln anhand von Luthers Buch »Über die Mönchsgelübde«] Aber wir sprechen von der Art der Lehre, die die Verfertiger der Konfutation jetzt verteidigen, nicht darüber, ob man Gelübde halten soll. Wir meinen nämlich, dass rechtmäßige Gelübde gehalten werden müssen. Aber verdienen jene Kulte die Sündenvergebung und Rechtfertigung? Sind sie Genugtuungen für die Sünden? Sind sie der Taufe 543. Melanchthon hatte Hiltens Danielkommentar gelesen und exzerpiert. 544. Wohl nach einer Platon zugeschriebenen Schrift des Pythagoreers Timaios von Lokroi. 545. Mt 5,13.

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gleichzustellen? Sind sie die Erfüllung von Geboten und Räten? Sind sie die evangelische Vollkommenheit? Bringen sie »überschüssige Verdienste«? Retten jene Verdienste andere, denen sie zugeeignet wurden? Sind Gelübde erlaubt, die mit diesen Erwartungen geleistet wurden? Sind Gelübde erlaubt, die unter dem Vorwand der Frömmigkeit nur des Bauches oder der Muße wegen geleistet wurden? Sind es wirklich Gelübde, die von Unwilligen erpresst worden sind oder aber von solchen, die aufgrund ihres Alters noch nicht über ihre Lebensform entscheiden konnten, die ihre Eltern oder Freunde ins Kloster gezwungen haben, damit sie auf öffentliche Kosten, ohne Verlust für das private Vermögen, ernährt würden? Sind Gelübde rechtmäßig, die ganz offenkundig zu einem bösen Ende führen, entweder, weil sie aus Schwachheit nicht erfüllt werden [können], oder aber, weil diejenigen, die in jenen Gemeinschaften leben, genötigt werden, die Missbräuche der Messen, gottlose Heiligenkulte und Pläne zur Verfolgung trefflicher Männer gutzuheißen und zu unterstützen? – Über diese Fragen streiten wir. Und obwohl wir in unserem Bekenntnis sehr vieles über solche Gelübde, die auch päpstliche Bestimmungen missbilligen, gesagt haben, verlangen die Gegner dennoch, dass wir alles, was wir vorgebracht haben, verwerfen. Diese Worte nämlich haben sie gebraucht.546 Aber es ist der Mühe wert zu hören, wie sie unsere Gründe bespötteln und was sie zur Verteidigung ihrer Sache vorbringen. Deshalb gehen wir in Kürze einige unserer Argumente durch und entkräften dabei beiläufig die Redensarten der Gegner. Da aber diese ganze Sache von Luther in dem Buch mit dem Titel »Von den Klostergelübden«547 sorgfältig und eingehend behandelt worden ist, wollen wir hier jenes Buch als Wiederholung bringen. [173 Sündenvergebung allein durch Christus, nicht aufgrund der Gelübde. Strenges Leben nach dem Evangelium ist vorgetäuscht] Erstens ist es völlig gewiss, dass kein Gelübde erlaubt ist, bei dem der, der es leistet, glaubt, er verdiene die Sündenvergebung vor Gott oder leiste Gott gegenüber Genugtuung für die Sünden. Denn diese Meinung ist eine offenkundige Schmähung des Evangeliums, welches 546. Vgl. Confutatio XXVII (Corpus Catholicorum 33, 189,14f). 547. Luther, De votis monasticis iudicium (1521); WA 8, (564) 573–669.

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lehrt, dass uns umsonst Sündenvergebung um Christi willen geschenkt wird, wie oben reichlich dargelegt wurde. Mit Recht also haben wir das Pauluswort an die Galater zitiert: »Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.«548 Diejenigen, die die Sündenvergebung nicht durch Glauben an Christus, sondern durch mönchische Werke zu erlangen suchen, tun der Ehre Christi Abbruch und kreuzigen Christus aufs Neue. Hört aber, hört, wie die Verfertiger der Konfutation sich hier herauswinden. Sie legen das Pauluswort nur im Blick auf das Gesetz des Mose aus und fügen hinzu, dass die Mönche alles um Christi willen halten und versuchen, genauer nach dem Evangelium zu leben, um das ewige Leben zu verdienen. Und sie fügen einen schlimmen Nachsatz hinzu mit den Worten: »Deshalb sind die Dinge gottlos, die hier gegen das Mönchtum angeführt werden.« – O Christe, wie lange willst du diese Schmähungen ertragen, mit denen unsere Feinde deinem Evangelium zusetzen! Wir haben in unserem Bekenntnis gesagt, dass die Sündenvergebung umsonst um Christi willen durch den Glauben empfangen wird. Wenn das nicht die ureigenste Stimme des Evangeliums ist, wenn das nicht der Spruch des ewigen Vaters ist, den du, der du im Schoße des Vaters bist, der Welt offenbart hast, so werden wir mit Recht geprügelt. Aber dein Tod ist Zeuge, deine Auferstehung ist Zeuge, der Heilige Geist ist Zeuge, deine ganze Kirche ist Zeuge, dass wirklich dies die Lehre des Evangeliums ist, dass wir die Sündenvergebung nicht um der Verdienste willen, sondern um deinetwillen durch den Glauben erlangen. Wenn Paulus bestreitet, dass die Menschen durch das Gesetz des Mose Sündenvergebung verdienen, so entzieht er dieses Lob erst recht den menschlichen Satzungen und bezeugt das offen im Brief an die Kolosser.549 Wenn das Gesetz des Mose, das von Gott offenbart worden war, nicht die Sündenvergebung verdiente, um wie viel weniger verdienen dann erst jene albernen Auflagen, die von der weltlichen Lebensform abschrecken, die Sündenvergebung? Die Gegner erdichten, Paulus schaffe das Gesetz des Mose ab und Christus folge [ihm] so, dass er die Sündenvergebung nicht umsonst 548. Gal 5,4. 549. Kol 2,16.

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schenke, sondern um der Werke anderer Gesetze willen, wenn man jetzt welche erdenkt. Mit dieser gottlosen und schwärmerischen Vorstellung verschütten sie die Wohltat Christi. Sodann geben sie vor, dass unter denen, die jenes Gesetz Christi beachten, die Mönche es genauer einhalten als die anderen – [nämlich] wegen ihrer Heuchelei von Armut, Gehorsam und Keuschheit, obwohl dies alles doch voller Täuschung ist. Die Armut rühmen sie im größten Überfluss an allem. Den Gehorsam rühmen sie, obwohl keine Menschengruppe mehr Freiheit hat als die Mönche. Vom Zölibat ist besser gar nicht zu reden: Wie rein er bei den meisten ist, die enthaltsam leben wollen, zeigt Gerson an.550 Aber – wie viele bemühen sich [schon wirklich], enthaltsam zu leben? Durch solche Vortäuschung leben die Mönche »genauer nach dem Evangelium«. Christus folgt nicht so auf Mose, dass er um unserer Werke willen Sünden vergibt, sondern, dass er seine Verdienste, seine Versöhnung für uns dem Zorne Gottes entgegenhält, damit uns umsonst verziehen wird. Wer aber abgesehen von der Versöhnung Christi eigene Verdienste dem Zorn Gottes entgegenhält und aufgrund eigener Verdienste Sündenvergebung zu erlangen versucht, mag er nun Werke des mosaischen Gesetzes oder des Dekalogs, der Regel Benedikts,551 der Regel Augustins552 oder anderer Regeln vorbringen, der tilgt die Verheißung Christi, verwirft Christus und fällt aus der Gnade heraus. Das ist die Meinung des Paulus. Sieh aber, allergütigster Herrscher und Kaiser Karl, seht ihr Fürsten, seht alle Stände, wie groß die Schamlosigkeit der Gegner ist! Obwohl wir das Pauluswort zu dieser Meinung zitiert haben, schreiben sie dazu: »Es sind gottlose Dinge, die hier gegen das Mönchtum vorgebracht werden.«553 Was aber ist gewisser, als dass die Menschen Sündenvergebung durch den Glauben um Christi willen erlangen? – Und dieses Wort wagen diese Windbeutel »gottlos« zu nennen! Wir zweifeln nicht im Geringsten, dass ihr, wenn ihr über diesen Punkt belehrt 550. Gerson († 1429), Super coelibatu III. 551. Die Regel des Benedikt von Nursia (1. Hälfte des 6. Jahrhunderts). Sie war die Grundlage des abendländischen Mönchtums. 552. Die aus einem Schreiben des Augustin an die Nonnen von Hippo abgeleitete Grundregel für das Gemeinschaftsleben der Weltgeistlichen (die sogenannte »vita canonica«). 553. Vgl. Confutatio XXVII (Corpus Catholicorum 33, 195,13).

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worden wäret, dafür gesorgt hättet, dass eine so schlimme Gotteslästerung aus der Konfutation gestrichen wird. Weil aber oben ausführlich gezeigt wurde, dass es gottlos ist zu meinen, wir würden um unserer Werke willen Sündenvergebung erlangen, werden wir uns an dieser Stelle kürzer fassen. Denn der verständige Leser wird hieraus leicht ableiten können, dass wir Sündenvergebung nicht durch mönchische Werke verdienen. Daher ist auch unter gar keinen Umständen jene Gotteslästerung zu dulden, die man bei Thomas liest, das Mönchsgelübde sei der Taufe gleichwertig.554 Es ist Wahnsinn, eine menschliche Tradition, die weder ein Gebot Gottes noch eine Verheißung hat, einer Stiftung Christi gleichzustellen, die Gottes Gebot und Verheißung hat und den Bund der Gnade und des ewigen Lebens enthält. [174 Der wahre Charakter mönchischen Lebens: eine ethisch neutrale, nicht »verdienstliche« Lebensform] Zweitens: Gehorsam, Armut und Zölibat sind, sofern sie nicht unrein sind, [ethisch] neutrale Übungen.555 Deshalb können sich die Heiligen ihrer ohne Gottlosigkeit bedienen, so wie es Bernhard, Franziskus und andere heilige Männer getan haben. Und diese haben sie wegen des leiblichen Nutzens in Anspruch genommen, um freier zu sein zum Lehren und zu anderen frommen Aufgaben, nicht weil die Werke an sich Gottesdienste wären, die rechtfertigen oder das ewige Leben verdienen. Ferner sind sie von jener Art, von der Paulus sagt: »Die leibliche Übung ist bisweilen nützlich.«556 Und es ist glaubhaft, dass es auch jetzt noch irgendwo in den Klöstern gute Männer gibt, die dem Dienst am Wort nachgehen, die jene Satzungen ohne gottlose Meinungen befolgen. Aber zu meinen, jene Regeln seien Gottesdienste, um derentwillen wir vor Gott für gerecht erklärt werden und durch die wir das ewige Leben verdienen – das widerstreitet dem Evangelium von der Glaubensgerechtigkeit, welches lehrt, dass uns um Christi willen Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt werden. Es widerspricht auch dem Christuswort: »Sie dienen mir vergeblich

554. Thomas von Aquin, Summa theologica IIa/IIae, q. 189, art. 3. 555. Im Text steht das griechische Wort adiaphora (= »Mitteldinge«). 556. 1 Tim 4,8.

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mit Menschensatzungen.«557 Es widerstreitet auch diesem Wort: »Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde.«558 Wie aber können sie dann behaupten, es seien Gottesdienste, die Gott vor sich selbst als Gerechtigkeit gelten lässt, obwohl sie kein Zeugnis des Wortes Gottes haben? Aber seht doch die Schamlosigkeit der Gegner! Sie lehren nicht nur, dass jene Übungen Gottesdienste sind, die rechtfertigen, sondern fügen [auch noch] hinzu, sie seien vollkommenere Gottesdienste, d. h. solche, die die Sündenvergebung und die Rechtfertigung eher verdienten als andere Lebensformen. Und hier kommen viele falsche und verderbliche Meinungen zusammen. Sie geben vor, die Gebote und die Räte559 einzuhalten. Dann verkaufen freigebige Menschen, weil sie sich einbilden, überzählige Verdienste zu haben, diese an andere Menschen. Das alles ist voller pharisäischer Eitelkeit. Denn es ist äußerste Gottlosigkeit, zu meinen, den Zehn Geboten in solchem Maße Genüge zu tun, dass [sogar noch] Verdienste übrig sind, obwohl diese Gebote alle Heiligen anklagen: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen!«560 Ebenso: »Du sollst nicht begehren!«561 Der Prophet sagt: »Jeder Mensch ist ein Lügner«562, d. h. jemand, der nicht recht von Gott denkt, Gott nicht genug fürchtet, nicht genug glaubt. Daher rühmen sich die Mönche zu Unrecht, durch die Einhaltung der mönchischen Lebensform genüge man den Geboten und tue mehr, als die Gebote verlangen. Ferner ist es auch falsch, dass die mönchischen Übungen Werke der Ratschläge des Evangeliums sein sollen. Denn das Evangelium rät nicht das Unterscheiden von Gewändern, von Speisen, den Verzicht auf Eigentum. Das sind menschliche Überlieferungen, von denen zu allen gesagt ist: »Speise macht uns Gott nicht angenehm.«563 Daher sind das weder rechtfertigende Kulte noch auch die Vollkom557. Mt 15,9. 558. Röm 14,23. 559. Auf »evangelische Räte«, d. h. Jesusworte wie Mt 19,12.21, beziehen sich die Mönchsgelübde Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. 560. Dtn 6,5. 561. Röm 7,7. 562. Ps 116,11. 563. 1 Kor 8,8.

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menheit. Im Gegenteil: Wenn man sie mit diesen Titeln herausgeputzt vorlegt, sind es reine Teufelslehren.564 Ehelosigkeit wird empfohlen – aber [nur] denen, die die Gabe haben, wie oben gesagt wurde.565 Es ist aber ein höchst verderblicher Irrtum, zu meinen, dass die evangelische Vollkommenheit in menschlichen Überlieferungen besteht. Denn dann könnten sich auch die Mönche der Mohammedaner rühmen, die evangelische Vollkommenheit zu haben. Auch besteht sie nicht in der Beachtung von anderem, was man »Mitteldinge« nennt. Sondern weil das Reich Gottes Gerechtigkeit und Leben in den Herzen ist,566 deshalb besteht die Vollkommenheit im Wachsen der Furcht Gottes, des Vertrauens auf die in Christus verheißene Barmherzigkeit und der Sorge, der Berufung gehorsam zu sein, so wie auch Paulus die Vollkommenheit beschreibt: »Wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist.«567 Er schreibt nicht: »Wir empfangen nach und nach andere Kutten oder andere Schuhe oder andere Gürtel.« Es ist erbärmlich, dass man in der Kirche solche pharisäischen, ja mehr noch mohammedanischen Worte liest und hört, nämlich, dass die Vollkommenheit des Evangeliums, des Reiches Christi, d. h. das ewige Leben auf diese törichten Vorschriften über Kleider oder ähnliche Nichtigkeiten gegründet wird. [175 Haltlose Behauptungen der Konfutatoren über Verdienstlichkeit des Mönchtums als Lehre der Schrift – Bernhard von Clairvaux bezeugt das Gegenteil] Doch hört jetzt unsere hohen Richter,568 welch unwürdigen Spruch sie in der Konfutation gefällt haben. Sie sagen so: »In der Heiligen Schrift kommt zum Ausdruck, dass das durch die schuldige Beachtung bewahrte mönchische Leben, das durch Gottes Gnade alle Mönche ohne Unterschied einhalten können, das ewige Leben verdient, und zwar ein um vieles gesteigertes. Christus hat es denen verheißen,

564. 565. 566. 567. 568.

1 Tim 4,1. Siehe oben Nr. 152. Röm 14,17. 2 Kor 3,18. Im Text: »unsere Areopagiten« (= Mitglieder des obersten athenischen Gerichtshofes).

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die Haus oder Brüder verlassen würden«569 usw. Das sind die Worte der Gegner, in denen zunächst ganz schamlos behauptet wird, in der Heiligen Schrift sei ausdrücklich gesagt, dass das mönchische Leben das ewige Leben verdiene. Wo sagt die Heilige Schrift dies denn vom Mönchtum? So gehen die Gegner mit der Streitfrage um; so zitieren nichtsnutzige Menschen die Schrift. Obwohl jeder genau weiß, dass das Mönchtum erst neuerdings erfunden wurde, machen sie doch die Autorität der Schrift geltend und behaupten tatsächlich, ihr Dekret stehe in der Schrift geschrieben. Außerdem fügen sie Christus Schmach zu, wenn sie behaupten, dass die Menschen durch das Mönchtum das ewige Leben verdienen. Gott hat nicht einmal seinem Gesetz diese Ehre zuerkannt, dass es das ewige Leben verdiene, wie er deutlich bei Hesekiel, Kapitel 20[,25] sagt: »Ich gab ihnen Gebote, die nicht gut waren, und Gesetze, durch die sie kein Leben haben konnten.« Erstens ist gewiss, dass das mönchische Leben nicht die Sündenvergebung verdient, sondern wir sie umsonst durch den Glauben empfangen, wie oben gesagt wurde. Zweitens: Um Christi willen, durch die Barmherzigkeit wird das ewige Leben denen geschenkt, die durch den Glauben Vergebung empfangen und nicht die eigenen Verdienste dem Richtspruch Gottes entgegenhalten, wie dies auch Bernhard sehr nachdrücklich sagt: »Zuallererst ist es nötig zu glauben, dass du keine Sündenvergebung haben kannst außer durch Gottes Nachsicht. Ferner, dass du überhaupt kein gutes Werk haben kannst, wenn nicht er selbst [dir] auch dies geben würde. Schließlich, dass du das ewige Leben durch keine Werke verdienen kannst, es sei denn, es wird [dir] auch das umsonst geschenkt.«570 Das Weitere, was auf diesen Ausspruch folgt, haben wir oben angeführt. Am Ende aber fügt Bernhard hinzu: »Niemand betrüge sich selbst; denn wenn er nur gründlich nachdenken wollte, so wird er ohne Zweifel erkennen, dass er nicht mit zehntausend [Schritten] dem begegnen kann, der mit zwanzigtausend auf ihn zukommt.«571 Da wir aber auch durch die Werke des göttlichen Gesetzes nicht die Sünden-

569. Mt 19,29. Vgl. Confutatio XXVII (Corpus Catholicorum 33, 193,10–14). 570. Bernhard von Clairvaux, Sermones in festo annuntiationis beatae Mariae virginis I, 2 (PL 183, 383). 571. Bernhard von Clairvaux, Sermones in festo annuntiationis beatae Mariae virginis I, 2 (PL 183, 383).

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vergebung oder das ewige Leben verdienen, sondern es nötig ist, die in Christus verheißene Barmherzigkeit zu suchen: Um wie viel weniger darf [dann erst] den mönchischen Übungen, da sie doch bloße menschliche Satzungen sind, diese Ehre zugeschrieben werden, dass sie Vergebung der Sünden oder das ewige Leben verdienen. So verschütten diejenigen einfach das Evangelium von der umsonst geschenkten Sündenvergebung und der zu ergreifenden, in Christus verheißenen Barmherzigkeit, die lehren, dass das mönchische Leben die Sündenvergebung oder das ewige Leben verdiene, und die das Christus geschuldete Vertrauen auf jene törichten Übungen übertragen. An Christi Stelle verehren sie ihre Kutten, ihren Schmutz. Obwohl sie aber auch selbst der Barmherzigkeit bedürfen, handeln sie [in der Weise] gottlos, dass sie überschüssige Verdienste erdichten und diese [dann] anderen verkaufen. Wir sprechen hier kürzer von diesen Dingen, weil aufgrund dessen, was wir oben über die Rechtfertigung, die Buße und die menschlichen Überlieferungen gesagt haben, hinreichend feststeht, dass die mönchischen Gelübde kein Preis sind, für den Sündenvergebung und ewiges Leben gegeben werden. Und da Christus die Überlieferungen »unnütze Gottesdienste«572 nennt, sind sie auf keine Weise die evangelische Vollkommenheit. [176 Zur Rede vom Mönchtum als »Stand der Vollkommenheit« bzw. »des Strebens nach Vollkommenheit«] Die Gegner aber wollen listig den Anschein erwecken, als schränkten sie die im Volk verbreitete Auffassung von der Vollkommenheit ein. Sie stellen in Abrede, dass das mönchische Leben die Vollkommenheit sei, sagen aber, es sei ein Stand zur Erreichung der Vollkommenheit. Das ist hübsch gesagt, und wir erinnern uns, dass sich diese Korrektur [auch schon] bei Gerson findet.573 Denn es ist offenkundig, dass kluge Männer, die an jenen maßlosen Lobsprüchen auf das mönchische Leben Anstoß nahmen, ihm, da sie es nicht wagten, ihm das Lob der Vollkommenheit zu nehmen, diese Berichtigung hinzufügten, dass es ein Stand zur Erreichung der Vollkommenheit sei. Wenn wir dem folgen, wird der Mönchsstand um nichts vollkommener sein als 572. Mt 15,9. 573. Gerson, De consiliis evangelicis et statu perfectionis.

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das Leben eines Bauern oder Handwerkers. Denn diese sind auch Stände zur Erreichung der Vollkommenheit. Denn alle Menschen in jeglichem Beruf sollen nach der Vollkommenheit streben, d. h. wachsen in der Furcht Gottes, im Glauben, in der Liebe zum Nächsten und ähnlichen geistlichen Tugenden. Es finden sich in den Geschichten der Einsiedler (des Antonius und anderer) Beispiele, die die Lebensweisen einander gleichstellen. Es steht geschrieben, dass Antonius,574 als er bat, Gott möge ihm zeigen, welche Fortschritte er in dieser Lebensweise gemacht habe, im Traum ein Schuster in der Stadt Alexandria gezeigt wurde, mit dem man ihn vergleichen könne. Am nächsten Tag kam Antonius in die Stadt und ging zu dem Schuster, um ihn nach seinen Übungen und Gaben zu fragen. Im Gespräch mit ihm hörte er aber nur, dass dieser frühmorgens mit wenigen Worten für die ganze Stadt bete und dann seine Arbeit tue. Hier hat Antonius begriffen, dass der Lebensweise, die er auf sich genommen hatte, nicht die Rechtfertigung zugeschrieben werden dürfe. Aber die Gegner denken, auch wenn sie jetzt ihre Lobsprüche auf die Vollkommenheit einschränken, tatsächlich doch anders. Sie verkaufen nämlich Verdienste und eignen sie anderen unter dem Vorwand zu, dass sie die Gebote und Räte erfüllen, weshalb sie wirklich glauben, überschüssige Verdienste zu haben. Was aber, wenn nicht dies, heißt, sich die Vollkommenheit anzumaßen? Ferner hat man in der Konfutation selbst behauptet, die Mönche strebten danach, genauer nach dem Evangelium zu leben. Sie schreibt also menschlichen Satzungen Vollkommenheit zu, wenn die Mönche deshalb genauer nach dem Evangelium leben, weil sie kein Eigentum haben, ehelos leben, der Regel gehorchen in bezug auf Kleidung, Speisen und ähnliche Torheiten. [177 Jesu Worte über das »Verlassen« von Besitz, Frau und Kindern meinen ein Erleiden um des Evangeliums willen, nicht das Erwählen des Mönchsstandes] Ebenso behauptet die Konfutation, die Mönche verdienten ein gesteigertes ewiges Leben, und sie führt dazu das Schriftwort an: »Wer sein

574. Altkirchlicher Asket († um 356).

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Haus usw. verlässt«575; hier nämlich beansprucht sie die Vollkommenheit auch für die Mönchsaktivitäten. Aber dieses Schriftwort sagt nichts über das mönchische Leben. Denn Christus will nicht sagen, dass das Verlassen der Eltern, der Ehefrau, der Brüder ein Werk sei, das man deshalb tun solle, weil es Sündenvergebung und ewiges Leben verdient. Vielmehr ist solches Fortlaufen verflucht! Denn es geschieht unter Schmähung Christi, wenn jemand die Eltern oder seine Ehefrau deshalb verlässt, um durch eben dieses Werk die Sündenvergebung und das ewige Leben zu verdienen. Es gibt aber zwei Arten des Verlassens. Das eine geschieht ohne Berufung, ohne Gottes Gebot. Das billigt Christus nicht. Denn von uns erwählte Werke sind nutzlose Gottesdienste. Noch deutlicher aber wird hier, dass Christus diese Flucht nicht billigt, weil er vom Verlassen von Frau und Kindern spricht.576 Wir wissen aber, dass das Gebot Gottes verbietet, Frau und Kinder zu verlassen. Ein anderes Verlassen ist dasjenige, das aufgrund eines Gebotes Gottes geschieht, nämlich, wenn uns eine Macht oder Tyrannei zwingt, zu weichen oder das Evangelium zu verleugnen. Hier haben wir das Gebot, dass wir lieber Unrecht ertragen sollen, es eher erleiden sollen, dass uns nicht nur das Vermögen, die Ehefrau und die Kinder, sondern auch das Leben geraubt wird. Dieses Verlassen heißt Christus gut, und deshalb fügt er hinzu: »um des Evangeliums willen«, um zu zeigen, dass er nicht von denen spricht, die der Ehefrau und den Kindern Unrecht zufügen, sondern von denen, die um des Bekenntnisses des Evangeliums willen Unrecht leiden. Auch unseren Leib müssen wir um des Evangeliums willen verlassen. Hier wäre es lächerlich zu meinen, es sei ein Gottesdienst, sich selbst zu töten und den Leib zu verlassen ohne Gottes Gebot. Genauso ist es lächerlich zu meinen, es sei ein Gottesdienst, Besitz, Freunde, Ehefrau, Kinder zu verlassen ohne Gottes Gebot. Es steht also fest, dass das Christuswort zu Unrecht auf das mönchische Leben bezogen wird. Außer, dass vielleicht dies passt, dass sie in diesem Leben ein Hundertfaches erhalten. Denn die meisten werden Mönche nicht des Evangeliums, sondern der Küche und der Muße wegen, und sie finden anstelle eines dürftigen väterlichen Erbes 575. Mt 19,29. 576. Lk 18,29f.

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überaus reiche Schätze. Wie aber die ganze Möncherei voller Täuschung ist, so zitieren sie [auch] die Schriftzeugnisse unter einem falschen Vorwand, so dass sie zweifach sündigen: Das heißt, sie täuschen die Menschen, und sie täuschen sie unter dem Vorwand des göttlichen Namens. Es wird auch eine andere Stelle über die Vollkommenheit zitiert: »Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen; und komm und folge mir nach.«577 Dieses Wort hat vielen zu schaffen gemacht, die sich einbildeten, es sei die Vollkommenheit, seinen Besitz und seine Verfügungsgewalt über die Dinge preiszugeben. Lassen wir die Philosophen den Aristipp preisen, der eine große Menge Goldes ins Meer warf!578 Solche Beispiele haben nichts mit christlicher Vollkommenheit zu tun. Die Verteilung der Dinge, die Verfügungsgewalt darüber und der Besitz sind weltliche Ordnungen, die durch Gottes Wort bestätigt wurden in dem Gebot: »Du sollst nicht stehlen!«579 Das Aufgeben des Vermögens hat kein Gebot oder einen Rat in der Schrift. Denn die evangelische Armut besteht nicht im Aufgeben der Dinge, sondern darin, nicht habgierig zu sein, nicht auf Reichtümer zu vertrauen, so wie auch David arm war inmitten eines sehr wohlhabenden Reiches. Darum: Weil das Aufgeben der Güter eine rein menschliche Satzung ist, ist es ein nutzloser Gottesdienst. Und maßlos sind jene Lobreden in den Extravaganten,580 die behaupten, der Verzicht auf jegliches Eigentum um Gottes willen sei verdienstlich, heilig und ein Weg zur Vollkommenheit. Es ist höchst gefährlich, etwas, das dem weltlichen Brauch widerstreitet, mit so maßlosem Lob zu rühmen. Aber Christus spricht hier [doch] von Vollkommenheit?581 Nein, sie tun dem Text Unrecht, weil sie [ihn] verkürzt zitieren. Die Vollkommenheit liegt in dem, was Christus hinzufügt: »Folge mir nach!« Das Beispiel des Gehorsams ist bei einer Berufung genannt worden. Und weil Berufungen unterschiedlich sind, so ist diese Berufung auch nicht die 577. Mt 19,21. 578. Aristipp war der Gründer der Schule der Hedoniker (4./5. Jahrhundert v. Chr.). Er warf sein Gold allerdings nur deshalb ins Meer, weil er es nicht Seeräubern in die Hände fallen lassen wollte. 579. Ex 20,15. 580. Spätmittelalterliche Sammlung päpstlicher Dekretalen. 581. Mt 19,21.

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Sache aller, sondern bezieht sich im Besonderen auf jene Person, mit der Christus dort spricht, so wie die Berufung Davids zur Herrschaft [und] Abrahams zur Schlachtung des Sohnes nicht von uns nachgeahmt werden sollen. Berufungen sind personenbezogen, wie auch die Aufgaben selbst mit den Zeiten und Personen wechseln; aber das Beispiel des Gehorsams ist allgemeingültig. Für jenen jungen Mann wäre es die Vollkommenheit gewesen, wenn er dieser Berufung geglaubt und gehorcht hätte. So besteht für uns die Vollkommenheit darin, dass jeder in wahrem Glauben seiner Berufung gehorcht. [178 Das Keuschheitsgelübde ist ohne die Gabe der Enthaltsamkeit ungültig] Drittens. In den Mönchsgelübden wird Keuschheit versprochen. Wir haben aber oben [im Artikel] von der Priesterehe gesagt, dass das Recht der Natur in den Menschen nicht durch Gelübde oder Gesetze aufgehoben werden kann.582 Und weil nicht alle die Gabe der Enthaltsamkeit haben, »enthalten« sich viele ihrer Schwäche wegen unheilvoll. Doch können weder Gelübde noch irgendwelche Gesetze das Gebot des Heiligen Geistes aufheben: »Um Unzucht zu vermeiden, soll jeder seine eigene Frau haben.«583 Daher ist dieses Gelübde nicht zulässig für die, die die Gabe der Enthaltsamkeit nicht haben, sondern sich ihrer Schwäche wegen beflecken. Über diese ganze Frage ist oben genug gesagt worden. Im Hinblick darauf ist es fürwahr erstaunlich, dass die Gegner, obwohl sie die Gefahren und Ärgernisse vor Augen haben, dennoch ihre Satzungen gegen das offenbare Gebot Gottes verteidigen. Auch rührt sie nicht das Wort Christi, der die Pharisäer tadelt, die Satzungen gegen das Gebot Gottes aufgestellt hatten.584 [179 Gottlose Kulte in den Klöstern sowie nicht-freiwillige Gelübde entbinden die Mönche von ihrer Lebensform] Viertens. Gottlose Kulte entbinden diejenigen, die in den Klöstern leben [von dieser Lebensform]. Solche Kulte sind: die Entweihung der den Toten zugewendeten Messe zu einem Geschäft, die Heiligenkulte, in denen die doppelte Sünde liegt, dass die Heiligen an die Stelle 582. Siehe oben Nr. 149. 583. 1 Kor 7,2. 584. Mt 15,6.

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Christi gesetzt werden und dass sie gottlos verehrt werden, so wie die Dominikaner das Rosenkranzgebet der seligen Jungfrau erfunden haben,585 das eine bloße Plapperei ist, die ebenso töricht wie gottlos ist und ein völlig unbegründetes Vertrauen nährt. Ferner werden eben diese Gottlosigkeiten nur zur Bereicherung verwandt. Ebenso: Das Evangelium von der um Christi willen geschenkten Sündenvergebung, von der Glaubensgerechtigkeit, der wahren Buße, von den Werken, die Gottes Gebot für sich haben, hören sie weder, noch lehren sie es. Sondern sie befassen sich entweder mit philosophischen Debatten oder mit Bestimmungen über Zeremonien, die Christus in Vergessenheit bringen. Wir reden hier nicht von jenem ganzen Kult der Zeremonien, von den Lesungen, vom Gesang und ähnlichen Dingen, die zu ertragen wären, wenn man sie für Übungen hielte, wie die Lesungen in den Schulen, deren Zweck es ist, die Zuhörer zu belehren und im Verlauf des Lehrens einige zur Furcht [Gottes] oder zum Glauben zu bewegen. Aber sie geben jetzt vor, diese Zeremonien seien Gottesdienste, die ihnen selbst und anderen die Sündenvergebung verdienen. Deshalb nämlich vermehren sie diese Zeremonien. Wenn sie es aber auf sich nehmen würden, die Zuhörer zu belehren und zu ermahnen, so würden kurze und treffende Lesungen nützlicher sein als jene endlosen Schwätzereien. So ist das ganze mönchische Leben voll von Heuchelei und falschen Vorstellungen. Zu dem allem kommt noch diese Gefahr, dass diejenigen, die in jenen Gemeinschaften leben, gezwungen werden, den Verfolgern der Wahrheit beizupflichten. Es gibt also viele gewichtige und bedeutende Gründe, die treffliche Männer von dieser Lebensform entbinden. Schließlich entbinden die Kirchenrechtsbestimmungen selbst viele, die ihre Gelübde entweder durch die Kunstgriffe der Mönche verleitet, [d. h.] ohne [eigenes] Urteil, oder aber auf das Drängen von Freunden abgelegt haben. Solche Gelübde erklären nicht einmal die Kirchenrechtsbestimmungen zu Gelübden. Aus all dem wird ersichtlich, dass es sehr viele Gründe gibt, die lehren, dass die Mönchsgelübde, wie sie bislang geleistet wurden, keine Gelübde sind. Deshalb kann 585. Das im Spätmittelalter aufgekommene Rosenkranzgebet. Die Dominikaner förderten es besonders. Ihre Legende führte es später auf eine Marienvision des Dominikus zurück (so seit Mitte des 15. Jahrhunderts).

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man diese Lebensform, die voll von Heuchelei und falschen Lehren ist, getrost aufgeben. [180 Die biblischen Lebensformen der Nasiräer (Num 6), Rechabiten (Jer 35) und Witwen (1 Tim 5) entsprechen nicht den Klostergelübden] Hier halten sie uns aus dem Gesetz die Nasiräer entgegen.586 Aber diese nahmen ihre Gelübde nicht mit den Meinungen auf sich, die wir oben an den Mönchsgelübden getadelt haben. Der Ritus der Nasiräer war eine Übung oder Bezeugung des Glaubens vor den Menschen.587 Er verdiente nicht die Sündenvergebung vor Gott, rechtfertigte nicht vor Gott. Ferner: Wie jetzt die Beschneidung oder die Schlachtung von Opfern kein Gottesdienst wäre, so darf jetzt auch der Nasiräerritus nicht als ein Gottesdienst dargestellt werden, sondern er muss einfach als ein »Mittelding« beurteilt werden. Deshalb wird das Mönchtum, das ohne Gottes Wort als ein Gottesdienst, der Sündenvergebung und Rechtfertigung verdienen soll, erdacht wurde, zu Unrecht mit dem Ritus der Nasiräer verglichen, der Gottes Wort hatte, aber nicht dazu bestimmt war, die Sündenvergebung zu verdienen, sondern wie andere Zeremonien des Gesetzes eine äußerliche Übung sein sollte. Das Gleiche kann man auch von den übrigen im Gesetz überlieferten Gelübden sagen. Auch die Rechabiten588 werden ins Feld geführt, die weder Besitztümer hatten noch Wein tranken, wie Jeremia in Kapitel 35 schreibt.589 Das Beispiel der Rechabiten passt freilich schön zu unseren Mönchen, deren Klöster die Paläste der Könige überbieten, die höchst üppig leben. Auch waren die Rechabiten trotz jenes Mangels an allen Dingen gleichwohl Eheleute. Unsere Mönche geloben die Keuschheit, während sie Überfluss an allem Ergötzen haben. Im Übrigen ist es geboten, Beispiele gemäß der Regel, d. h. nach gewissen und deutlichen Schriftzeugnissen, und nicht gegen die Re586. Num 6. 587. Die altisraelitischen Nasiräer hatten sich Jahwe zu einem besonderen Dienst geweiht. Sie enthielten sich (für eine bestimmte Zeit) aller berauschenden Getränke und schoren sich nicht das Haupthaar. Der bekannteste Vertreter dieser Gruppierung war Simson. 588. Ein Nachbarvolk der Israeliten. Sie hielten streng an ihrer altertümlich-nomadischen Lebensweise fest. 589. Jer 35,6f.

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gel oder die Schrift auszulegen. Es ist aber ganz gewiss, dass unsere Übungen nicht die Sündenvergebung oder die Rechtfertigung verdienen. Wenn daher die Rechabiten gelobt werden, so setzt das voraus, dass sie ihren Brauch nicht deshalb hielten, weil sie meinten, durch ihn die Sündenvergebung zu verdienen oder dass ihr Werk selbst ein rechtfertigender Gottesdienst sei oder dass sie seinetwegen das ewige Leben erlangen würden, nicht durch Gottes Barmherzigkeit um des verheißenen Samens willen. Sondern weil sie das Gebot der Eltern hielten, wird ihr Gehorsam gelobt, von dem das Gebot Gottes sagt: »Ehre Vater und Mutter!«590 Ferner hatte die Sitte einen besonderen Zweck: Weil sie Fremdlinge waren und keine Israeliten, ist klar, dass ihr Vater wollte, dass sie sich durch bestimmte Kennzeichen von ihren Volksgenossen unterscheiden sollten, damit sie nicht in die Gottlosigkeit ihrer Volksgenossen zurückfielen. Er wünschte, sie durch diese Kennzeichen an die Lehre vom Glauben und von der Unsterblichkeit zu erinnern. Eine solche Absicht ist legitim. Aber die Möncherei ist zu ganz anderen Zwecken überliefert worden. Sie geben vor, die mönchischen Werke seien Gottesdienste; sie geben vor, sie würden die Sündenvergebung und die Rechtfertigung verdienen. Das Beispiel der Rechabiten passt deshalb auch überhaupt nicht zum Mönchtum, um hier anderes Missliche, das dem gegenwärtigen Mönchtum anhaftet, zu übergehen. Sie führen hier auch aus dem 1. Timotheusbrief das 5. Kapitel über die Witwen an, die der Gemeinde dienten [und deshalb] auf allgemeine Kosten ernährt wurden. Er sagt dort: »Sie wollen heiraten und ziehen sich die Verurteilung zu, weil sie das erste Treueversprechen ungültig gemacht haben.«591 Zuerst wollen wir hier annehmen, dass der Apostel von Gelübden spricht. Dennoch spricht diese Stelle nicht für die Mönchsgelübde, die wegen gottloser Kulte und in der Meinung geleistet werden, sie verdienten die Sündenvergebung und die Rechtfertigung. Denn Paulus verdammt mit lauter Stimme alle Kulte, alle Gesetze, alle Werke, wenn man sie deshalb hält, um die Sündenvergebung zu verdienen oder damit wir um ihretwillen das ewige Leben erlangen [und] nicht um Christi willen durch Barmherzigkeit. Des590. Ex 20,12. 591. 1 Tim 5,11f.

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halb steht fest, dass die Witwengelübde, wenn es sie wirklich gegeben hat, den Mönchsgelübden ganz unähnlich gewesen sind. Im Übrigen: Wenn die Gegner nicht aufhören, diese Stelle auf die Gelübde hin zu verdrehen, so wird man auch die Stelle dahin verdrehen müssen, die verbietet, eine Witwe unter 60 Jahren zu wählen.592 So werden vor diesem Alter geleistete Gelübde ungültig sein. Aber die Kirche kannte diese Gelübde noch nicht. Deshalb verurteilt Paulus die Witwen, nicht weil sie heiraten (denn er hält die jüngeren an zu heiraten), sondern weil sie, die auf allgemeine Kosten ernährt worden waren, übermütig wurden und deshalb den Glauben aufgaben. Er nennt dies den »ersten Glauben«, nämlich nicht den an die Mönchsgelübde, sondern den an das Christentum. Und in diesem Sinne versteht er den »Glauben« in diesem Kapitel: »Wenn jemand die Seinen, besonders die Hausgenossen, nicht versorgt, hat er den Glauben verleugnet.«593 Er spricht nämlich anders vom Glauben als die Sophisten. Er spricht nicht denen Glauben zu, die eine Todsünde haben. Deshalb sagt er, dass die den Glauben wegwerfen, die nicht für die Nächsten sorgen. Und in demselben Sinne sagt er, dass die leichtfertigen jungen Frauen den Glauben wegwerfen. [Zusammenfassung] Wir sind einige unserer Gründe durchgegangen und haben dabei beiläufig das entkräftet, was die Gegner [uns] vorwerfen. Und [doch] haben wir dies nicht nur der Gegner wegen zusammengetragen, sondern viel mehr der frommen Herzen wegen, damit sie die Gründe vor Augen haben, weshalb sie die Heuchelei und die erfundenen mönchischen Gottesdienste verwerfen müssen. Sie alle hebt fürwahr dieses eine Wort Christi auf, wenn er spricht: »Vergeblich dienen sie mir mit Menschengeboten.«594 Daher sind die Gelübde selbst und die Vorschriften über Speisen, Lesungen, Gesänge, Kleidung, Schuhe und Gürtel unnütze Kulte vor Gott. Und gewiss sollen alle frommen Herzen wissen, dass es schlicht pharisäisch und verdammenswert ist zu meinen, dass jene Übungen die Sündenvergebung verdienen, dass wir ihretwegen für gerecht erklärt werden, ihretwegen (und nicht durch 592. 1 Tim 5,9. 593. 1 Tim 5,8. 594. Mt 15,9.

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die Barmherzigkeit um Christi willen) das ewige Leben erlangen. Und es muss sein, dass heilige Männer, die in diesen Lebensformen gelebt haben, das Vertrauen auf solche Übungen fahren lassen und lernen, dass sie die Sündenvergebung um Christi willen umsonst erhalten, dass sie das ewige Leben um Christi willen durch Barmherzigkeit erlangen werden, nicht wegen jener Kulte, dass Gott nur die durch sein Wort eingesetzten Gottesdienste gutheißt, die im Glauben wirksam sind.

[Art. XXVIII:] Von der kirchlichen Amtsgewalt [181 Die Konfutation macht die Privilegien des geistlichen Standes statt der unerträglichen Lasten der Gläubigen zum Streitpunkt] Die Gegner machen hier ein großes Geschrei um die Privilegien und Freiheiten des geistlichen Standes und fügen als Schluss hinzu: »Ungültig ist alles, was im vorliegenden Artikel gegen die Vorrechte der Kirchen und der Priester angeführt wird.« Das ist reine Verleumdung. Wir haben nämlich andere Dinge in diesem Artikel erörtert. Im Übrigen haben wir oftmals bezeugt, dass wir weltliche Ordnungen, Schenkungen der Fürsten und Vorrechte nicht tadeln. Aber wenn die Gegner doch auch einmal die Klagen der Gemeinden und der frommen Herzen hören würden! Ihre eigenen Rechte und Güter verteidigen die Gegner tapfer. Unterdessen vernachlässigen sie den Zustand der Kirchen. Sie sorgen nicht dafür, dass die Gemeinden recht belehrt und die Sakramente ordentlich verwaltet werden. Zum Priesteramt lassen sie jeden zu ohne Unterschied. Danach legen sie [ihnen] unerträgliche Lasten auf, als hätten sie ihr Vergnügen am Untergang anderer; sie verlangen, ihre Satzungen weit genauer zu beachten als das Evangelium. Jetzt, in schwersten und schwierigsten Auseinandersetzungen, in denen das Volk sehnsüchtig wünscht, belehrt zu werden, um etwas Gewisses zu haben, dem es folgen kann, helfen sie nicht den Herzen, die der Zweifel sehr heftig quält; sie rufen nur zu den Waffen. Außerdem legen sie bei offenkundigen Dingen mit Blut geschriebene Dekrete vor, die den Menschen schreckliche Strafen androhen, wenn sie nicht offen gegen die Gebote Gottes handeln. Hier solltet ihr auch einmal die Tränen der Elenden sehen und die erbärmlichen Klagen vieler guter Menschen hören, die Gott ohne

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Zweifel beachtet und erhört, dem ihr dereinst Rechenschaft über eure Amtsführung werdet geben müssen. [182 Die wirkliche Frage bleibt unbeantwortet: ob Bischöfe das Heil an ihre Satzungen binden dürfen] Obwohl wir aber im Bekenntnis zu diesem Artikel verschiedene Schriftworte zusammengestellt haben, erwidern die Gegner darauf nichts außer: die Bischöfe hätten die Gewalt der Leitung und der zwingenden Zurechtweisung, um ihre Untertanen zum Ziel der ewigen Seligkeit zu lenken; und zur Leitungsgewalt gehöre auch die Vollmacht, zu beurteilen, zu bestimmen, zu unterscheiden und festzusetzen, was dem genannten Ziel diene oder zu ihm hinführe. Dies sind die Worte der Konfutation.595 Mit ihnen belehren uns die Gegner darüber, dass die Bischöfe die Vollmacht hätten, Gesetze zu geben, die zur Erlangung des ewigen Lebens nützlich sind. Um diesen Grundsatz geht der Streit. Es kommt aber darauf an, in der Kirche die Lehre zu bewahren, dass wir umsonst um Christi willen durch den Glauben die Sündenvergebung empfangen. Es kommt auch darauf an, die Lehre zu bewahren, dass menschliche Satzungen nutzlose Kulte sind, weshalb weder die Sünde noch auch die Gerechtigkeit auf Speise, Trank, Kleidung oder ähnliche Dinge gegründet werden dürfen. Christus wollte, dass ihr Gebrauch frei bleibt, wenn er sagt: »Was zum Mund hineingeht, das macht den Menschen nicht unrein.«596 Und Paulus: »Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken.«597 Daher haben die Bischöfe keinerlei Recht, über das Evangelium hinaus Satzungen einzuführen, damit diese die Sündenvergebung verdienen und Gottesdienste sind, die Gott als Gerechtigkeit gelten lässt und die die Gewissen dadurch beschweren, dass es Sünde sei, sie nicht zu beachten. Alle diese Dinge lehrt schon die eine Stelle in der Apostelgeschichte, wo die Apostel sagen: »Durch den Glauben werden die Herzen gereinigt.«598 Und dann verbieten sie, ein Joch aufzulegen, und zeigen, welche Gefahr darin liegt. Sie machen die Sünde derer 595. 596. 597. 598.

Vgl. Confutatio XXVIII (Corpus Catholicorum 33, 199,8–15). Mt 15,11. Röm 14,17. Apg 15,9.

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groß, die der Kirche Lasten auferlegen. »Was versucht ihr Gott?«, fragen sie.599 [Aber] durch diesen Blitzschlag lassen sich unsere Gegner nicht erschrecken. Sie verteidigen mit Gewalt die Traditionen und gottlosen Meinungen. Denn sie haben oben auch den Artikel XV verdammt, in dem wir dargelegt haben, dass die Traditionen nicht die Sündenvergebung verdienen; und hier sagen sie, dass die Traditionen zum ewigen Leben führen. Verdienen sie denn etwa die Vergebung der Sünden? Sind sie denn Kulte, die Gott als Gerechtigkeit gelten lässt? Machen sie die Herzen lebendig? Paulus bestreitet deshalb im Brief an die Kolosser, dass die Traditionen zur ewigen Gerechtigkeit und zum ewigen Leben dienen, weil Speise, Trank, Kleidung und Ähnliches Dinge sind, die durch den Gebrauch vergehen.600 Aber das ewige Leben wird im Herzen durch ewige Dinge, d. h. durch das Wort Gottes und den Heiligen Geist bewirkt. Mögen also die Gegner erklären, auf welche Weise die Traditionen zum ewigen Leben führen. Weil aber das Evangelium klar bezeugt, dass der Kirche nicht Satzungen auferlegt werden dürfen, um Sündenvergebung zu verdienen, um Gottesdienste zu sein, die Gott als Gerechtigkeit gelten lassen soll, die die Gewissen beschweren sollen, indem es als Sünde gilt, sie zu übergehen – deshalb werden die Gegner niemals zeigen können, dass die Bischöfe die Vollmacht haben, solche Kulte einzuführen. [183 Die geistliche und die richterliche Vollmacht des Bischofs sind an das Evangelium gebunden; Ordnungen sollen dem Frieden dienen, ohne heilsnotwendig zu sein] Im Übrigen haben wir im Bekenntnis gesagt, welche Vollmacht das Evangelium den Bischöfen zuerkennt. Die, die jetzt Bischöfe sind, erfüllen nicht die Bischofspflichten nach dem Evangelium. Nach der kirchenrechtlichen Ordnung, die wir nicht tadeln, mögen sie aber gleichwohl Bischöfe sein. Doch wir sprechen von einem dem Evangelium entsprechenden Bischof. Und uns gefällt die alte Teilung der Vollmacht in die geistliche und die richterliche Gewalt. Der Bischof hat also die geistliche Gewalt, das heißt: den Dienst am Wort und an den Sakramenten; er hat auch richterliche Gewalt, das heißt: [das 599. Apg 15,10. 600. Kol 2,20.

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Recht,] solche, die öffentlicher Vergehen schuldig sind, zu exkommunizieren und sie wieder loszusprechen, wenn sie umkehren und die Absolution erbitten. Sie haben aber keine tyrannische Gewalt, das heißt: [eine Gewalt] ohne ein bestimmtes Gesetz, auch keine königliche [Gewalt], das heißt oberhalb des Gesetzes, sondern sie haben einen bestimmten Auftrag, ein bestimmtes Wort Gottes, das sie lehren [und] nach dem sie ihre Gerichtshoheit ausüben sollen. Auch wenn sie eine Gerichtshoheit innehaben, so folgt daraus doch nicht, dass sie neue Kulte einführen können. Denn Gottesdienste haben nichts mit der Gerichtshoheit zu tun. Und sie haben ein Wort, sie haben ein Gebot, inwieweit sie ihre Gerichtshoheit ausüben sollen, nämlich, wenn sich jemand gegen jenes Wort vergangen hat, das sie von Christus empfangen haben. Gleichwohl haben wir bereits im Bekenntnis hinzugefügt, inwieweit es ihnen gestattet ist, Satzungen einzuführen, nämlich nicht als notwendige Kulte, sondern damit in der Kirche um des Friedens willen Ordnung herrscht.601 Auch dürfen diese Satzungen den Gewissen keine Fesseln anlegen, so als würden sie notwendige Kulte vorschreiben, wie Paulus lehrt, wenn er sagt: »Stehet in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat; lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!«602 Es muss also ein freier Gebrauch solcher Ordnungen belassen werden (sofern man nur Ärgernisse vermeidet), damit man sie nicht für notwendige Gottesdienste hält; so wie auch die Apostel selbst vieles angeordnet haben, das mit der Zeit verändert wurde. Sie haben es auch nicht so überliefert, dass es nicht verändert werden dürfte. Denn sie begaben sich nicht in Widerspruch zu ihren Schriften, in denen sie sehr darauf bedacht sind, dass nicht die Meinung, menschliche Riten seien notwendige Gottesdienste, die Kirche bedränge. Dies ist eine einfache Regel für das Verständnis von Satzungen, nämlich: Wir sollen wissen, dass sie keine notwendigen Gottesdienste sind, und sie dennoch, um Ärgernisse zu vermeiden, an ihrem Orte ohne Aberglauben einhalten. Und so haben viele gelehrte und wichtige Männer in der Kirche gedacht.

601. Vgl. Augsburger Bekenntnis, Art. 28, unsere Ausgabe S. 94f. 602. Gal 5,1.

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[184 Die Vollmacht der Lehrenden (nach Lk 10,16; Hebr 13,17; Mt 23,3) dient allein dem Hören auf das Wort Christi] Wir sehen auch nicht, was dagegen einzuwenden wäre. Denn es ist gewiss, dass jenes Wort: »Wer euch hört, der hört mich«603 nicht von den Satzungen spricht, sondern sich vielmehr gegen das Einführen von Satzungen richtet. Denn es handelt sich hier nicht um ein »freies« Mandat, wie sie es nennen, sondern um die Sicherung von Gültigem, einen besonderen Auftrag betreffend, d. h. ein den Aposteln gegebenes Zeugnis, dass wir ihnen aufgrund eines fremden, nicht eines eigenen Wortes glauben sollen. Denn Christus will uns gewiss machen, wie es auch nötig war, damit wir wissen, dass das durch Menschen überlieferte Wort wirksam ist und man kein anderes Wort vom Himmel begehren soll. Das Wort »Wer euch hört, der hört mich« darf nicht auf Satzungen bezogen werden. Denn Christus fordert, sie sollen so lehren, dass man ihn selbst hört. Denn er sagt: »der hört mich«. Er will also, dass man seine Stimme, sein Wort höre, nicht menschliche Satzungen. So verdrehen diese Esel das Wort, das er vor allem für uns gesagt hat und [das] eine ganz starke Tröstung und Lehre enthält, auf ganz nichtige Dinge, auf Unterscheidungen von Speisen, auf Kleidung und Ähnliches. Sie zitieren auch dies: »Gehorcht euren Lehrern!«604 Dieses Wort fordert Gehorsam gegenüber dem Evangelium. Denn es hat keine Herrschaft für die Bischöfe außerhalb des Evangeliums begründet. Die Bischöfe dürfen auch keine Satzungen gegen das Evangelium schaffen oder ihre Satzungen gegen das Evangelium auslegen. Und wenn sie das tun, dann wird der Gehorsam verboten, nach jenem Wort: »Wenn jemand ein anderes Evangelium predigt, der sei verflucht!«605 Das Gleiche erwidern wir auf die folgende Stelle: »Alles nun, was sie euch sagen, das tut!«606 Denn es steht fest, dass nicht gemeinhin geboten wird, dass wir alles auf uns nehmen sollen, weil die Schrift andernorts gebietet, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.607 Wenn sie also gottlose Dinge lehren, darf man nicht auf sie hören. Das aber ist gottlos, dass menschliche Satzungen Gottesdienste sein

603. 604. 605. 606. 607.

Lk 10,16. Hebr 13,17. Gal 1,8. Mt 23,3. Apg 5,29.

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sollen, dass sie notwendige Gottesdienste sein sollen, dass sie die Sündenvergebung und das ewige Leben verdienen sollen. [185 Der Vorwurf, die evangelische Lehre verursache Ärgernisse und Aufruhr, ist unbegründet und fällt in vielfacher Weise auf die Gegner selbst zurück] Sie werfen uns sowohl öffentliche Ärgernisse als auch Aufstände vor, die unter dem Vorwand unserer Lehre entstanden sind. Hierauf erwidern wir kurz: Erstens steht fest, dass unsere Fürsten dank Gottes Güte ein gehorsames Volk in ihren Gebieten haben. Und diese Lehrweise selbst, der wir folgen, steigert die Achtung ihnen gegenüber, weil sie die Autorität der Obrigkeiten mit sehr ehrenvollen Lobreden ziert. Dies trägt auch sehr viel zur Bewahrung des Friedens bei. Ferner: Würde man alle Ärgernisse zusammennehmen, so enthalten doch diese zwei Grundsätze allein – nämlich, dass wir umsonst die Sündenvergebung empfangen um Christi willen durch den Glauben und für gerecht erklärt werden um Christi willen durch den Glauben, nicht wegen unserer Gesetzeserfüllung, und zweitens, dass die Obrigkeiten, die Gesetze und das ganze Staatswesen göttliche Ordnungen sind, die der Christ unsträflich in Anspruch nehmen kann – so viel Gutes, dass sie alles Nachteilige überdecken. Denn die angstvollen Gewissen können keinen starken Trost dem Zorne Gottes gegenüber haben, wenn sie nicht den ersten Grundsatz kennen. Der zweite Grundsatz festigt sehr den Frieden in den Staaten. Ferner weiß jeder, durch welch verderbliche Meinungen vor diesen Zeiten beide Lehren unterdrückt worden sind. Auch die Schriften der Gegner bezeugen das, die nirgends den Glauben erwähnen, wenn sie von der Sündenvergebung sprechen. Nirgends lehren sie von der Würde der weltlichen Dinge. Nirgends lehren sie, wie das Evangelium die ewige Gerechtigkeit bringt [und] dabei im leiblichen Leben will, dass wir von den staatlichen Gesetzen und Sitten Gebrauch machen. Als dies bekannt gemacht wurde, hat es Luther zu Anfang Sympathien eingetragen, nicht nur bei uns, sondern auch bei vielen, die uns jetzt auf grausamste Weise bekämpfen. »Die alte Gunst schläft nämlich ein, vergesslich sind die Sterblichen«, sagt Pindar.608 Wenn es schon Aufruhr gegeben hat, so kann

608. Pindar, Isthmia VII, 23f.

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die Schuld [dafür] mit Recht den Gegnern zugewiesen werden, die zuerst durch die ungerechte Verdammung Luthers eine Spaltung hervorriefen und die Kirchen entzweiten. Und jetzt verüben sie außerordentliche Grausamkeiten gegen gute und fromme Dinge lehrende Männer. Sie erbittern den Geist der Menschen auch auf andere Weisen, die man hier besser nicht erzählt. Wir sind aber nicht so hartgesotten, so ohne Empfindung, dass uns die öffentlichen Angriffe nicht beunruhigten. Aber wir denken daran, dass Christus gesagt hat: »Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!«609 Denn der Teufel betreibt dies, bald um das Evangelium zu unterdrücken, bald um es auf vielfache Weise zu entstellen. Dort stachelt er Tyrannen gegen die Bekenner des Evangeliums auf, dort entfesselt er Kriege, Aufstände, dort Irrlehren, um diese Lehrweise verhasst zu machen, weil sie den Anlass zu solchen Unruhen zu geben scheint. Und wirklich ist es für besonnene Männer leichter, ihre eigenen Gefährdungen außer Acht zu lassen als jene Ärgernisse öffentlicher Unruhen. Aber auch gegen diese Dinge muss der christliche Sinn gewappnet sein, damit er nicht ihretwegen das Wort Gottes verwirft. Obwohl uns aber der Vergleich keine Freude macht, dürfen dennoch, weil die Gegner uns durch diese Beschuldigung belasten, ihre eigenen Fehler nicht verschwiegen werden. Wie viel Böses liegt bei den Gegnern in der frevelhaften Entweihung der Messen! Wie viel Schändlichkeit haftet ihrem Zölibat an! Der Heiligenkult ist bei ihnen voll offenkundigen Götzendienstes. Nichts als Ärgernis liegt in dem ehrsüchtigen Streben der Päpste, die schon mehr als vierhundert Jahre mit unseren Kaisern Kriege führen, meistens in Italien, manchmal aber auch in Deutschland selbst, wo Sohn und Vater, Verwandte und Bürger gegeneinander gekämpft haben. Wenn man die Gründe solcher Kriege aus den Geschehnissen erforscht, findet man nichts, was der Päpste würdig wäre, um es maßvoll auszudrücken. – Wie viel Schlimmes liegt darin, dass sie bei der Weihe von Priestern nicht die geeigneten auswählen! Was ist es mit dem Verkauf von Priesterämtern? Ferner: Gibt es keine Verfehlungen bei bedenklichen Freistellungen? Aber diese Fehler könnten irgendwie verziehen werden, wenn sie trotzdem die reine Lehre in den Kirchen bewahrt hätten. Wie diese aber durch gottlose Meinungen und Überlieferungen verdorben wurde, belegen die Schriften der Kir-

609. Mt 11,6.

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Art. XXVIII: Von der kirchlichen Amtsgewalt

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chenrechtslehrer, bezeugen die Bücher der Theologen voll unheiliger Debatten, die teils für die Frömmigkeit nutzlos sind, teils auch dem Evangelium widerstreiten. Sodann treiben sie bei der Auslegung der Schrift ihr Spiel und mischen unter, was immer ihnen beliebt. Diese Verwirrung der Lehre ist das Hauptärgernis und höchst verderblich. Darüber klagt besonders Johannes in der Offenbarung, wenn er die Herrschaft der Päpste beschreibt. Was ist, wenn man zu den abergläubischen Kulten der Mönche kommt, deren kein Ende ist? Wie viel verderbliche Ärgernisse gibt es dort! Wie war es mit der Zueignung von Verdiensten, wenn man dem Leichnam eine Kutte überstreifte, usw.? Ferner: Ist es etwa kein Ärgernis, dass sie gegenwärtig versuchten, die offenkundige Wahrheit des Evangeliums zu unterdrücken? Dass sie auf grausame Weise treffliche Männer töten, die fromme Dinge lehren? Dass sie, nachdem die Dinge erkannt sind, verbieten, den zweifelnden Gewissen zu helfen? Dass sie Könige zu grausamer Räuberei ermuntern? – [Und] natürlich sollen das keine zu verurteilenden Ärgernisse, sondern echte päpstliche Glanzleistungen sein! Doch liegt uns hier nicht daran, das Gewicht dieser Dinge noch zusätzlich zu steigern, damit nicht jemand meint, wir hätten Vergnügen an dieser Vergegenwärtigung, zu der uns die Verfasser der Konfutation wider unseren Willen genötigt haben. Denn diese Sache darf nicht aufgrund menschlicher Gebräuche oder durch den Zufall, sondern sie muss nach dem Worte Gottes entschieden werden. Das sollten doch alle beherzigen, die über diese Streitfragen Urteile fällen! Wiederum aber ist hier zu sagen, was wir schon oft gesagt haben: Uns verlangt sehr nach öffentlicher Eintracht und nach Frieden, den wenigstens die Christen vor allem untereinander bewahren sollten. Ferner weichen wir in unserer Meinung nur ungern vom sehr rechtschaffenen Kaiser ab, den wir nicht allein wegen der Würde des Reiches, sondern auch wegen der wahrhaft heldenhaften Tugenden, mit denen er, wie wir erkannt haben, begabt ist, verehren. Aber die Gegner dulden es nicht, dass eine Einigung zustande kommt, außer unter der Bedingung, dass wir denen zustimmen, die die Wahrheit des Evangeliums verdammen, die offenkundig ist und deren die Kirche bedarf. Das können wir nicht tun. Denn »man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen«.610 Deshalb werden die

610. Apg 5,29.

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III. Die Apologie der Augsburger Konfession

Gegner, die die Kirchen mit einer neuen und ungewöhnlichen Wut zerstören, Gott Rechenschaft für die Spaltung ablegen müssen. Und es steht außer Zweifel, dass dieses Wüten eine gewisse Veränderung der Staatswesen bringen wird. Dies antworten wir für heute auf die Konfutation. Wir überlassen allen frommen Menschen das Urteil darüber, welche der beiden Seiten recht hat. Und wir erbieten uns, unsere Meinung über einzelne Punkte, wenn man dies irgendwo wünschen sollte, ausführlicher darzulegen.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

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Einleitung Während Papst Clemens VII. (1478, 1523–1534) sich dem Abhalten eines Konzils entzogen hatte, lud sein Nachfolger Paul III. (1468, 1534–1549) am 2. Juni 1536 zu einem Konzil auf den 23. Mai 1537 nach Mantua ein. Allerdings hatte er nicht das freie Konzil vor Augen, das von den Evangelischen gefordert wurde, um die spätmittelalterliche Kirche samt Papsttum einer kritischen Diskussion zu unterwerfen, sondern es sollte die Häresien verurteilen, die Kirche reformieren und die Fürsten zur Abwehr der Türken bewegen. In Vorbereitung auf eine eventuelle Teilnahme der Evangelischen an diesem Konzil ließ sich Kurfürst Johann Friedrich (1503, 1532– 1547, 1554) von den Wittenberger Theologen Artikel zusammenstellen, die zu verhandeln wären. Am 11. Dezember 1536 forderte er sie auf, Luther solle angeben, in welchen Artikeln man nachlassen könne und auf welchen man beharren müsse. Luther kam dieser Aufforderung rasch nach und entwarf einen Text. Aber am 18. Dezember setzten so heftige Herzschmerzen ein, dass er, beginnend mit dem Abschnitt »Das Evangelium«, zunächst Caspar Cruciger (1504–1548) und danach noch einem bisher Unbekannten diktierte, wobei diese Artikel kürzer ausfielen. Es gehört zur Eigentümlichkeit dieser Artikel, dass sie einerseits als Grundlage für Verhandlungen auf einem Konzil in Auftrag gegeben und konzipiert worden sind, andererseits aber auch Luthers Absicht, seinen Glauben gewissermaßen testamentarisch festzuhalten, eingeflossen ist. Vom 28. Dezember 1536 bis zum 3. Januar 1537 wurde Luthers Entwurf in Wittenberg beraten und korrigiert. Danach fertigte Georg Spalatin (1484–1545) eine Reinschrift an, die Martin Luther, Justus Jonas (1493–1555), Johannes Bugenhagen (1485–1558), Caspar Cruciger, Nikolaus von Amsdorf (1483–1565), Georg Spalatin, Philipp Melanchthon und Johann Agricola (1492/1494–1566) unterschrieben, ehe sie dem Kurfürsten übergeben wurde. Im Februar 1537 versammelten sich in Schmalkalden die Vertreter des Schmalkaldischen Bundes und von ihnen hinzugezogene Theologen, darunter Luther und Melanchthon. Sie einigten sich darauf, außer der »Augsburgischen Konfession« kein weiteres Bekenntnis

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

anzunehmen, dieses aber um einen Artikel über die Gewalt des Papsttums zu erweitern. Die von den Wittenbergern entworfenen Artikel wurden von den anwesenden Theologen beraten, ohne dass der erkrankte Luther daran teilnehmen konnte. Sie bekräftigten ihre Zustimmung durch ihre Unterschrift, so dass Luther zu der Überzeugung kam, der Schmalkaldische Bund habe sie akzeptiert. Das von Paul III. angestrebte Konzil wurde zunächst vertagt, woraus eine Diskussion über ein rechtes Konzil erwuchs. Luther förderte diese Diskussion im Sommer 1538 dadurch, dass er seine Artikel mit einem Vorwort versah, überarbeitete, erweiterte und als »Artickel / so da hetten sollen auffs Concilion zu Mantua / oder wo es würde sein / vberantwortet werden / von vnsers teils wegen« ausgehen ließ. Kurfürst Johann Friedrich förderte diese von ihm in Auftrag gegebenen Artikel weiterhin. So sorgte er 1553 für einen Nachdruck, der erstmals die Unterschriften mit veröffentlichte und durch den Titel »Artikel der Euangelischen Lere, … Gestellt auff dem Tage zu Schmalkalden« dazu beitrug, dass sich die Bezeichnung »Schmalkaldische Artikel« einbürgerte. Er ließ in seiner Herrschaft die Geistlichen bei der Ordination auf sie verpflichten. Von 1563 bis 1576 fanden sie Aufnahme in Kirchenordnungen und in »Corpora doctrinae« (Sammlungen von Lehrschriften), 1580 schließlich in das Konkordienbuch. Der folgenden Übertragung liegt der von Luther 1538 veröffentlichte Text zugrunde. Eine textkritische Ausgabe mit dem Text von Luthers Handschrift im Paralleldruck, einer Einleitung zum Aufbau, zur Entstehung und Verbreitung der »Schmalkaldischen Artikel« im 16. Jahrhundert sowie ausführlichen Literaturhinweisen und Erläuterungen findet sich in Martin Luther, Studienausgabe. Bd. 5, Berlin 1992, (327) 344–447.

Literatur: Joachim Bauer: Die Schmalkaldischen Artikel. Theologische Brisanz und politische Integration, in: Verein für Schmalkaldische Geschichte und Landeskunde Schmalkalden (Hg.), Der Schmalkaldische Bund und die Stadt Schmalkalden. Seminar am 13./14. Oktober 1995 in Schmalkalden, Schmalkalden 1996, 65–88. Klaus Breuer, Artikel »Schmalkaldische Artikel«, in: TRE 30 (1999), 214–221 (Lit.). Werner Führer, Die Schmalkaldischen Artikel, Tübingen 2009 (Kommentare zu Schriften Luthers 2).

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Inhaltsübersicht zu den Schmalkaldischen Artikeln Thema

Seite

Vorrede

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A

Der erste Teil: unstrittige Artikel, betr. die göttliche Majestät

395

B

Der zweite Teil: unvereinbare Lehrgegensätze, betr. Amt und Werk Christi, unsere Erlösung

396

Hauptartikel: Erlösung allein durch Glauben an Tod und Auferstehung Jesu Christi, unseres Herrn

396

II

Die Messe, höchste Abgötterei des Papsttums

397

III

Stifter und Klöster

404

IV

Der Papst

404

C

Der dritte Teil: worüber verhandelt werden kann

409

I

Die Sünde

409

II

Das Gesetz

410

III

Die Buße

411

Exkurs

Die falsche Buße der Papisten

413

IV

Das Evangelium

420

V

Die Taufe

420

Exkurs

Die Kindertaufe

421

VI

Das Altarsakrament

421

VII

Die Schlüssel

422

VIII

Die Beichte

422

IX

Der Bann

425

X

Die Weihe und Berufung

425

XI

Die Priesterehe

426

I

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

XII

Die Kirche

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XIII

Rechtfertigung und gute Werke

427

XIV

Die Klostergelübde

427

XV

Die Menschensatzungen

428

Schluss

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Die Schmalkaldischen Artikel Vorrede D. Martin Luthers Papst Paul III. hat ein Konzil ausgeschrieben, das im vergangenen Jahr zu Pfingsten in Mantua gehalten werden sollte und das er danach von Mantua verlegt hat, so dass man noch nicht weiß, wohin er es legen will oder kann. Wir unsererseits wollten dafür Vorsorge treffen, dass wir – entweder auch zum Konzil gerufen oder ungerufen – verdammt werden. Darum wurde mir befohlen,1 Artikel unserer Lehre aufzustellen und zusammenzubringen für den Fall, dass es zu Verhandlungen kommt, worin und wieweit wir den Papisten nachgeben wollen und können und auf welche Artikel wir für immer zu beharren und zu bleiben gedenken. Dementsprechend habe ich diese Artikel zusammengebracht und den Unseren übergeben. Diese sind auch von den Unseren angenommen und einmütig bejaht und beschlossen worden, dass man sie öffentlich übergeben und als Bekenntnis unseres Glaubens vorbringen soll, wenn der Papst einmal mit den Seinen so kühn werden sollte, ohne Lügen und Betrügen, mit Ernst und Wahrhaftigkeit ein rechtes freies Konzil abzuhalten, wie er es wohl schuldig wäre. Aber der römische Hof fürchtet sich so jämmerlich vor einem freien Konzil und flieht das Licht so schmachvoll, dass er auch denen, die zu seiner Partei gehören, die Hoffnung genommen hat, dass er je ein freies Konzil dulden oder gar selbst abhalten wird. Darüber ärgern sie sich billigerweise sehr und empfinden nicht geringes Leid. Denn sie merken daran, dass der Papst lieber die ganze Christenheit verloren und alle Seelen verdammt sehen will, als sich oder die Seinen ein wenig reformieren und seiner Tyrannei ein Maß setzen zu lassen. Dennoch habe ich diese Artikel durch einen öffentlichen Druck an den Tag bringen wollen, falls ich eher sterben sollte, als das Konzil gehalten wird. Ich sehe sicher voraus und erwarte, dass es stattfinden wird, weil die das Licht fliehenden und den Tag scheuenden verwor1. Kurfürst Johann Friedrich hatte am 11. Dezember 1536 Luther und die übrigen Wittenberger Theologen aufgefordert, Fragen der Lehre unter den obigen Gesichtspunkten zu behandeln.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

fenen Menschen nur mit erbärmlichen Anstrengungen erreichen können, das Konzil aufzuschieben und zu verhindern. So können diejenigen, die nach mir leben und bleiben werden, mein Zeugnis und Bekenntnis zur Bestätigung des Bekenntnisses vorbringen, das ich bereits habe ausgehen lassen,2 bei dem ich auch bisher noch mit Gottes Gnade geblieben bin und bleiben will. Denn was soll ich sagen? Warum soll ich klagen? Ich bin noch am Leben, schreibe, predige und halte Vorlesungen täglich. Dennoch gibt es solche Geist und Seele vergiftenden Leute nicht nur unter den Widersachern, sondern es gibt auch falsche Brüder, die zu uns gehören wollen. Sie unterstehen sich, meine Schriften und Lehre direkt gegen mich anzuführen.3 Sie lassen mich zuhören und zusehen, obgleich sie sicher wissen, dass ich anders lehre. Sie wollen ihre vergiftende Lehre mit meiner Arbeit bemänteln und die armen Leute unter meinem Namen verführen. Was wird da erst nach meinem Tod werden? Ja, sollte ich nicht vernünftigerweise alles beantworten, solange ich noch lebe? Ja, andererseits, wie kann ich allein alle Mäuler des Teufels stopfen, besonders denen, die – weil sie alle vergiftet sind – nicht hören noch merken wollen, was wir schreiben, sondern sich nur mit allem Fleiß anstrengen, wie sie unsere Worte in allen Buchstaben aufs schändlichste verkehren und verderben können? Solchen lasse ich den Teufel antworten oder zuletzt den Zorn Gottes, wie sie es verdienen. Ich denke oft an den guten Gerson,4 der Zweifel hatte, ob man etwas Gutes für die Öffentlichkeit schreiben sollte: »Tut man es nicht, werden viele Seelen vernachlässigt, die man erretten könnte. Tut man es aber, so ist der Teufel mit unzähligen giftigen, bösen Mäulern da, die alles vergiften und verkehren, so dass die Frucht schließlich verhindert wird.«5 Doch was sie daran gewinnen, sieht man deutlich. Denn ob-

2. Luther meint den Schlussteil seiner Schrift »Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis« von 1528; WA 26, 499,1–509,28. 3. Seit 1537 gab es in Wittenberg eine anonyme Polemik gegen Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium unter Berufung auf die angeblich ursprüngliche, richtige, gesetzesfreie Evangeliumspredigt Luthers. Dahinter stand Luthers Schüler Johann Agricola (1492/1494–1566), der nach seinem Wirken als Schulrektor in Eisleben von 1525 bis 1537 nach Wittenberg zurückgekehrt war. 4. Johannes Gerson (1363–1429), seit 1395 Professor und Kanzler der Sorbonne in Paris, einflussreicher Theologe auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418). 5. Vgl. Johannes Gerson, De laude scriptorum XI.

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Vorrede

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wohl sie so schändlich wider uns gelogen und die Leute mit Lügen bei sich haben halten wollen, hat Gott sein Werk immerfort getrieben, ihre Zahl immer kleiner und unsere größer gemacht und sie mit ihren Lügen zuschanden werden lassen und tut es noch immerfort. Ich muss eine Geschichte erzählen: Hier zu Wittenberg ist ein Doktor, ein Gesandter Frankreichs,6 gewesen, der öffentlich vor uns sagte, sein König7 sei gewiss und übergewiss, dass es bei uns keine Kirche, keine Obrigkeit und keinen Ehestand gibt, sondern alles durcheinander geht wie das Vieh und jedermann tut, was er will. Nun stelle dir vor, wie uns diejenigen am Jüngsten Tag vor dem Richterstuhl Christi ansehen werden, die diese groben Lügen durch ihre Schriften diesem König und anderen Ländern als reine Wahrheit eingeredet haben? Christus, unser aller Herr und Richter, weiß ja sicher, dass sie lügen und gelogen haben. Sie werden umgekehrt sein Urteil hören müssen, das weiß ich fürwahr. Gott bekehre, die zu bekehren sind, zur Buße, für die anderen wird es ewiglich Ach und Weh heißen. Und damit ich wieder zur Sache komme: Ich möchte fürwahr sehr gern ein rechtes Konzil sehen, damit vielen Sachen und Leuten geholfen würde. Das soll nicht heißen, dass wir es brauchen. Denn unsere Kirchen sind nun durch Gottes Gnade mit dem reinen Wort und rechten Gebrauch der Sakramente, mit dem rechten Wissen über alle Stände und rechten Werken so erleuchtet und versehen, dass wir unserthalben nach keinem Konzil fragen und in solchen Dingen von einem Konzil nichts Besseres zu erhoffen oder zu erwarten wissen. Aber wir sehen in den Bistümern überall viele Pfarrämter frei und verlassen, dass einem das Herz brechen möchte. Und dennoch fragen weder die Bischöfe noch die Domherren danach, wie die armen Leute leben oder sterben, für die doch Christus gestorben ist. Sollen diese denselben nicht mit sich reden hören als den rechten Hirten mit seinen Schafen?8 Daher grauet mir und ist mir bange, er könnte einmal ein Engelkonzil über Deutschland gehen lassen, das uns alle wie So-

6. Gervasius Waim aus Memmingen, ein Schüler von Johann Eck, war von 1531 bis 1534 als französischer Gesandter bei deutschen evangelischen Fürsten tätig und kam in dieser Funktion am 14. Juli 1531 nach Torgau. 7. Franz I., König von Frankreich (1494, 1515–1547). 8. Joh 10,12.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

dom und Gomorra9 ganz und gar verdirbt, weil wir seiner mit dem Konzil so gottlos spotten. Außer solchen dringlichen Kirchensachen wären auch im weltlichen Stand unzählige, große Stücke zu verbessern: Da ist die Uneinigkeit der Fürsten und Stände. Wucher und Habgier sind wie eine Sintflut eingerissen und reines Recht geworden. Willkür, Unzucht, Übermut in Bezug auf Kleidung, Fressen und Spielen, Prunken mit allerlei Untugenden und Bosheit, Ungehorsam der Untertanen, Gesinde und Arbeiter, Übervorteilung durch alle Handwerker, auch durch die Bauern – und wer kann es alles aufzählen? – haben so überhandgenommen, dass man es mit zehn Konzilien und zwanzig Reichstagen nicht wieder zurechtbringen wird. Wenn man diese Hauptstücke des geistlichen und des weltlichen Standes, die wider Gott sind, auf einem Konzil behandelte, würde man wohl alle Hände voll zu tun kriegen. Darüber würde man sicher der Kinderei und des Narrenwerks von langen Gewändern,10 großen Platten,11 breiten Gürteln,12 Bischofsund Kardinalshüten oder -stäben und dergleichen Possen vergessen. Wenn wir vorher im geistlichen und weltlichen Stand Gottes Gebot und Befehl ausgeführt hätten, wollten wir genug Zeit finden, die Speisen, Kleidung, Platten und Kasel13 zu reformieren. Wenn wir aber solche Kamele verschlingen und dafür Mücken sieben,14 die Balken stehen lassen und die Splitter richten wollen,15 können wir wohl auch mit dem Konzil zufrieden sein. Darum habe ich wenige Artikel aufgestellt. Denn wir haben ohnehin von Gott so viele Befehle in der Kirche, in der Obrigkeit und im Haus auszuführen, dass wir sie nimmermehr ausrichten können. Was soll es denn oder wozu hilft es, dass man darüber viele Dekrete und Gesetze auf einem Konzil macht, besonders wenn man die von Gott gebotenen Hauptstücke nicht achtet noch hält? Gerade als müsste er 9. Gen 19,1–29. 10. Die Alba, ein weißes, bis zu den Knöcheln reichendes liturgisches Untergewand. 11. Tonsur. 12. Ein reich verzierter Gürtel, um die Alba zu gürten. 13. Das glockenförmige liturgische Obergewand des Priesters, das oft kunstvoll gearbeitet war. 14. Mt 23,24. 15. Mt 7,3–5.

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Erster Teil

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unser Gaukelspiel dafür ehren, dass wir seine ernsten Gebote mit Füßen treten. Aber unsere Sünden drücken uns und lassen Gott nicht über uns gnädig sein. Denn wir tun keine Buße und wollen außerdem noch alle Gräuel verteidigen. Ach, lieber Herr Jesus Christus, halte du selber Konzil und erlöse die Deinen durch deine herrliche Wiederkunft. Es ist mit dem Papst und den Seinen verloren. Sie wollen dich nicht, so hilf du uns Armen und Elenden, die wir zu dir seufzen und dich mit Ernst suchen, nach der Gnade, die du uns durch deinen Heiligen Geist gegeben hast, der mit dir und dem Vater lebt und regiert, ewig gelobt. Amen.

Der erste Teil der Artikel betrifft den hohen Artikel der göttlichen Majestät 1. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind in einem göttlichen Wesen und einer göttlichen Natur drei unterschiedliche Personen, ein einiger Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, usw. 2. Der Vater ist von niemandem, der Sohn vom Vater geboren, der Heilige Geist geht vom Vater und vom Sohn aus. 3. Nicht der Vater, auch nicht der Heilige Geist, sondern der Sohn ist Mensch geworden. 4. Der Sohn ist so Mensch geworden, dass er durch den Heiligen Geist ohne Zutun eines Mannes empfangen und von der reinen, Heiligen Jungfrau Maria geboren wurde, danach gelitten hat, gestorben, begraben, zur Hölle16 gefahren, von den Toten auferstanden, zum Himmel aufgefahren ist und zur Rechten Gottes sitzt, um in Zukunft die Lebenden und die Toten zu richten usw., wie das Glaubensbekenntnis der Apostel und ebenso des heiligen Athanasius17 und der allgemeine Kinderkatechismus18 lehren. 16. Aufenthaltsort der Toten, nicht ewiger Strafort. 17. Athanasius (um 295–373) war Bischof von Alexandria und ein Wortführer im Streit um trinitarische Fragen, unsere Ausgabe Seite 28–30. 18. Die Auslegung des »Apostolischen Glaubensbekenntnisses« im Kleinen Katechismus, unsere Ausgabe Seite 469–472.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

Um diese Artikel gibt es keinen Zank und Streit, weil wir beide Parteien diese bekennen.19 Darum ist es nicht notwendig, von diesen jetzt weiter zu handeln.

Der zweite Teil der Artikel betrifft das Amt und das Werk Jesu Christi bzw. unsere Erlösung Hier ist der erste und oberste Artikel: Jesus Christus, unser Gott und Herr, ist »um unserer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt«, Röm 4[,25]. Er allein ist »das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt«, Joh 1[,29]. Gott »warf unser aller Sünden auf ihn«, Jes 53[,6], ebenso: »Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist …«, Röm 3[,23–25]. Weil dies nun geglaubt werden muss und durch kein Werk, Gesetz noch Verdienst sonst erlangt oder ergriffen werden kann, ist es klar und gewiss, dass allein ein solcher Glaube uns gerecht macht, wie Röm 3[,28] der heilige Paulus spricht: »Wir halten dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke durch den Glauben«, ebenso: »Damit er allein gerecht sei und den gerecht mache, der da ist aus dem Glauben an Jesus.«20 Von diesem Artikel kann man nicht weichen noch etwas nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will; denn es »ist kein anderer Name den Menschen gegeben, durch den wir selig werden können«, spricht der heilige Petrus Apg 4[,12]. »Und durch seine Wunden sind wir geheilt.«21

19. Luther hatte zunächst »glauben und bekennen« geschrieben, strich aber »glauben« wieder, weil er bezweifelte, dass diese Artikel in der römischen Kirche recht geglaubt werden. 20. Röm 3,26. 21. Jes 53,5.

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Zweiter Teil: 2. Art. (Messe)

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Und auf diesem Artikel beruht alles, was wir wider den Papst, den Teufel und die Welt lehren und leben. Darum müssen wir dessen ganz gewiss sein und nicht daran zweifeln. Sonst ist alles verloren, und der Papst und der Teufel und alles behalten wider uns den Sieg und Recht.22

Der zweite Artikel Die Messe muss im Papsttum der größte und schrecklichste Gräuel sein,23 denn sie streitet direkt und kräftig wider diesen Hauptartikel

22. Das 2. Vatikan. Konzil bekennt: »Einzig Christus ist der Mittler und Weg zum Heil« (Konst. De eccl. 14). Die Kirchen scheinen also hinsichtlich des Hauptartikels heute übereinzustimmen. Zu den Übereinstimmungen in der Rechtfertigungslehre, die die lutherischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche heute sehen, und zu den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, die die Darstellung der Rechtfertigungslehre in der »Gemeinsamen Erklärung« und der »Gemeinsamen Offiziellen Feststellung« nicht treffen, siehe oben S. 48, Anm. 24 zu CA IV. 23. Die bilaterale Arbeitsgruppe der (röm.-kath.) Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hat sich mit der Frage befasst, wieweit die Lehre von der Eucharistie als Opfer die Kirchen heute noch trennen müsse. In dem von ihr erarbeiteten Dokument »Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament« (1984) kommt sie zu der gemeinsamen Aussage, »dass weder das Herrenmahl noch eine andere kirchliche Handlung als Wiederholung des Kreuzesopfers Christi gedeutet werden darf« und dass »das Opfer Christi im Herrenmahl gegenwärtig« ist (Nr. 36, S. 40f). Zu der noch strittigen Frage, »wie sich die Gegenwart des Selbstopfers Christi zum Tun der Kirche verhält« (Nr. 36, S. 41), erklären die röm.-kath. Teilnehmer im genannten Dokument: »Theologisch versteht sich die Kirche nicht als selbständiges Subjekt der Darbringung neben Jesus Christus, sondern als Leib Jesu Christi, in dem und durch den Jesus Christus als Haupt seines Leibes das eigentliche Subjekt ist. Jesus Christus und seine ein für allemal geschehene Lebenshingabe am Kreuz ermöglicht und fordert als Antwort unsere Hingabe im Heiligen Geist durch ihn an den Vater. Sie hat die Gestalt des Dankes (Eucharistie) und des Lobes (hostia laudis) für Gottes Heilstat in Jesus Christus, und sie hat dabei Gott nichts anderes darzubieten als eben das Opfer Jesu Christi« (Nr. 37, S. 42). Im Blick auf diese Interpretation der röm.-kath. Lehre kommen die evangelischlutherischen Teilnehmer zu folgendem Ergebnis: »Eine Lehre von der Eucharistie als Opfer im Sinne und in den Grenzen dieser Aussagen katholischer Theologie kann von der Kirche der Wittenberger Reformation nicht als Verfälschung des Evangeliums gewertet werden. Sie stellt Fragen und weckt Gegenfragen, aber sie markiert nicht unüberwindliche Grenzen« (Nr. 38, S. 44). Die Kirchenleitung

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

und ist über und vor allen päpstlichen Abgöttereien die höchste und schönste gewesen. Denn man meinte, dass dieses Opfer bzw. Werk der Messe – selbst von einem bösen Schurken gehalten – den Menschen von den Sündenstrafen im Leben und im Fegefeuer befreie, was doch allein das Lamm Gottes tun soll und muss, wie oben gesagt ist. Von diesem Artikel ist auch nicht zu weichen oder etwas nachzulassen; denn der erste Artikel duldet es nicht. Und wo etwa vernünftige Papisten wären, könnte man folgendermaßen und auf freundliche Weise mit ihnen reden: Warum sie dennoch so fest an der Messe hielten? 1. Sie ist doch eine reine Menschenerfindung, die von Gott nicht geboten ist. Und alle Menschenerfindungen dürfen wir fallenlassen, wie Christus Mt 15[,9] spricht: »Sie dienen mir vergeblich mit Menschengeboten.« 2. Sie ist eine nicht notwendige Sache, die man ohne Sünde und Gefahr gut lassen kann. 3. Man kann das Sakrament viel besser und seligerweise – ja allein seligerweise – entsprechend der Einsetzung Christi kriegen. Was soll es dann, dass man um einer erfundenen, nicht notwendigen Sache willen, obgleich man es ohne sie richtig und seliger haben kann, die Welt in Jammer und Not zwingen will? Man lasse den Leuten öffentlich predigen, dass die Messe als Menschenspielerei unterbleiben kann, ohne zu sündigen, und dass niemand verdammt wird, der sie nicht achtet, sondern dass er gut ohne Messe sicher auf bessere Weise selig werden kann. Was gilt die Wette, dass die Messe alsdann von allein fallen wird, nicht nur bei dem tollen Pöbel, sondern auch bei allen frommen, christlichen, vernünftigen und gottesfürchtigen Herzen? Um wie viel mehr, wenn sie hörten, dass es ein gefährliches, ohne Gottes Wort und Willen erdichtetes und erfundenes Ding ist.

der VELKD hat sich diese Aussage grundsätzlich zu eigen gemacht und festgestellt, dass der Vorwurf der Reformatoren, die Messe sei ein »Gräuel«, die so interpretierte röm.-kath. Lehre und die an ihr orientierte Praxis nicht trifft.

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Zweiter Teil: 2. Art. (Messe)

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4. Weil in aller Welt solche unzähligen, unaussprechlichen Missbräuche mit dem Kaufen und Verkaufen von Messen entstanden sind, sollte man sie vernünftigerweise auch fahren lassen, allein um diesem Missbrauch zu wehren, selbst wenn sie an und für sich etwas Nützliches und Gutes hätte. Wie viel mehr soll man sie fahren lassen, um solche Missbräuche ewig zu verhüten, weil sie doch ganz unnötig, nutzlos und gefährlich ist und man alles schneller, nützlicher und gewisser ohne die Messe haben kann. 5. Wie der Messkanon und alle Messbücher besagen, ist und kann die Messe nichts anderes sein als ein Werk der Menschen – auch böser Schurken –, mit dem einer sich selbst und andere mit sich gegen Gott versöhnen, Vergebung der Sünden und Gnade erwerben und verdienen will. Denn so wird sie gehalten, wenn sie aufs allerbeste gehalten wird. Was sollte sie sonst? Darum soll und muss man sie verdammen und verwerfen. Denn das ist direkt gegen den Hauptartikel, der da besagt, dass nicht ein böser oder guter Messknecht mit seinem Werk, sondern das Lamm Gottes und der Sohn Gottes unsere Sünde trägt.24 Und wenn einer zu seiner Rechtfertigung vorgeben wollte, er wolle sich selbst zur Erbauung mit dem Abendmahl versehen bzw. kommunizieren, ist das nicht ernst gemeint. Denn wenn er mit Ernst kommunizieren will, hat er das gewiss und aufs Beste in dem Sakrament, das gemäß der Einsetzung Christi gereicht wird. Aber sich selbst kommunizieren ist ein Menschenwahn, ungewiss und nicht notwendig, außerdem verboten. Und er weiß auch nicht, was er tut, weil er ohne Gottes Wort falschem Menschenwahn und -erfindung folgt. Daher ist es auch nicht recht – selbst wenn alles Übrige in Ordnung ist –, dass einer das gemeinsame Sakrament der Kirche nach seiner persönlichen Meinung und damit ohne Gottes Wort außerhalb der Kirchengemeinschaft nach seinem Gutdünken gebrauchen will. Dieser Artikel von der Messe wird der springende Punkt auf einem Konzil sein. Denn wenn es möglich wäre, dass sie uns alle anderen Artikel einräumten, könnten sie doch diesen Artikel nicht einräumen.

24. Joh 1,29.

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So hat Campeggio25 zu Augsburg gesagt, er wolle sich eher in Stücke zerreißen lassen, ehe er die Messe wolle fahren lassen. So werde auch ich mich mit Gottes Hilfe eher auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen, ehe ich einen Messknecht mit seinem Werk – er sei gut oder böse – meinem Herrn und Heiland Jesus Christus gleich oder höher sein lasse. Also sind und bleiben wir ewiglich geschieden und gegeneinander. Sie spüren es gut: Wenn die Messe fällt, liegt das Papsttum danieder. Ehe sie das geschehen lassen, töten sie uns alle, wenn sie es vermögen. Darüber hinaus hat dieser Drachenschwanz,26 die Messe, viel Ungeziefer und Geschmeiß von mancherlei Abgötterei hervorgebracht: 1. Das Fegefeuer: Da hat man mit Seelenmessen, Vigilien,27 dem Siebenten, dem Dreißigsten und dem Jahresgedächtnis,28 zuletzt mit der gemeinen Woche29 und dem Allerseelentag30 und dem Seelenbad31 wegen des Fegefeuers gehandelt, so dass die Messe fast nur für die Toten gefeiert worden ist, obgleich Christus dieses Sakrament doch nur für die Lebenden gestiftet hat. Darum ist das Fegefeuer mit allem seinem Zeremoniell, Gottesdienst und Geschäft für ein reines Teufelsgespenst zu halten. Denn es ist auch wider den Hauptartikel, dass allein Christus und nicht Menschenwerk den Seelen helfen soll, abgesehen davon, dass uns im Übrigen auch nichts in Bezug auf die Toten befohlen oder geboten ist. Deshalb kann man es wohl unterlassen, wenn es schon kein Irrtum und keine Abgötterei wäre. Die Papisten führen hier Augustin und einige Kirchenväter als Beweis an, die über das Fegefeuer geschrieben haben sollen.32 Sie 25. Lorenzo Campeggio (1474–1539) war auf dem Augsburger Reichstag 1530 päpstlicher Legat. 26. Von Luther wiederholt verwendeter Ausdruck, der sich an Offb 12,3f anlehnt. 27. Hier meint Luther wohl am Vortag einer Seelenmesse gefeierte Vigilien. 28. Messen für Verstorbene am 7. und 30. Tag nach dem Sterbetag und an dessen Jahrestag. 29. Die Woche nach dem Michaelisfest (29. September), in der zahlreiche Messen für Verstorbene gelesen wurden. 30. 2. November. 31. Für Arme und Spitalbewohner gestiftete Bäder, um Tilgung von Sündenstrafen zu erlangen. 32. Augustin, Enchiridion ad Laurentium seu de fide, spe et caritate 69 (PL 40, 265 = CChr.SL 46, 87,74–78).

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meinen, wir sehen nicht, wozu und warum sie diese Aussagen anführen. Der heilige Augustin schreibt nicht, dass es ein Fegefeuer gibt, er hat auch keine Schriftstelle, die ihn dazu zwingt. Er lässt es vielmehr unentschieden, ob es eins gibt. Er sagt nur, seine Mutter habe begehrt, dass man ihrer bei dem Altar bzw. Sakrament gedenken soll.33 Nun, das ist ja alles nichts anderes als eine menschliche Vorstellung einzelner Personen gewesen, die keinen Glaubensartikel stiften, was allein Gott zusteht. Aber unsere Papisten legen solche Menschenworte dahin aus, dass man ihrem schändlichen, lästerlichen, verfluchten Jahrmarkt von Seelenmessen, für das Fegefeuer zu opfern usw. glauben soll. Das werden sie noch lange nicht aus Augustin beweisen. Wenn sie nun den fegefeuerischen Messejahrmarkt, wovon der heilige Augustin nie geträumt hat, abgeschafft haben, dann wollen wir mit ihnen reden, ob des heiligen Augustin Wort ohne Schriftstelle geduldet werden und der Toten bei dem Sakrament gedacht werden kann. Es geht nicht an, dass man aus der heiligen Väter Werk oder Worten Glaubensartikel macht. Sonst müsste auch ein Glaubensartikel werden, was sie für Speisen, Kleidung, Häuser usw. gehabt haben, wie man mit den Reliquien getan hat. Es heißt, Gottes Wort soll die Glaubensartikel aufstellen und sonst niemand, auch kein Engel.34 2. ist daraus gefolgt, dass die bösen Geister viele Schandtaten angerichtet haben, indem sie als Menschenseelen erschienen sind, Messen, Vigilien, Wallfahrten und andere Leistungen mit unsagbaren Lügen und Arglist gefordert haben. Das haben wir alle für Glaubensartikel halten und danach leben müssen. Und der Papst hat dies bestätigt, wie auch die Messe und alle anderen Gräuel. Hier gibt es auch kein Weichen oder Nachgeben. 3. Die Wallfahrten: Da hat man auch Messen, Vergebung der Sünden und Gottes Gnade gesucht; denn die Messe hat alles regiert. Nun ist das ja gewiss, dass solche Wallfahrten ohne Gottes Wort, uns nicht geboten, auch nicht vonnöten sind, weil wir es viel besser haben und 33. Augustin, Confessiones IX, 11; 13 (PL 32, 775f; 778–780 = CSEL 33, 219,16–25; 223,13–226,4 = CChr.SL 27, 149,28–37; 152,1–154,58). 34. Gal 1,8.

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sie ohne jede Sünde und Gefahr unterlassen können. Warum vernachlässigt man denn daheim den eigenen Pfarrer, Gottes Wort, Frau und Kind usw., die notwendig und geboten sind, und läuft den unnötigen, ungewissen, schädlichen Teufelsirrlichtern nach, nur weil der Teufel den Papst geritten hat, dies zu preisen und zu bestätigen, damit die Leute ja häufiger von Christus weg auf ihre eigenen Werke verfielen und abgöttisch wurden, was das Ärgste daran ist? Abgesehen davon, dass es ein unnötiges, nicht gebotenes, nicht geratenes und ungewisses, dazu schädliches Ding ist. Darum gibt es auch hier kein Weichen oder Nachgeben usw. Man lasse predigen, dass es nicht notwendig und dazu gefährlich ist; danach wird man sehen, ob Wallfahrten erhalten bleiben. 4. Die Bruderschaften, durch die sich die Klöster, Stifte und Altaristen – durch feste Verträge und Kauf bestätigt – alle Messen, guten Werke usw. für Lebende und Tote einander verschrieben und mitgeteilt haben. Das ist nicht nur reiner Menschenwahn ohne Gottes Wort, ganz und gar nicht notwendig und nicht geboten, sondern auch wider den ersten Artikel der Erlösung und deshalb keineswegs zu dulden. 5. Die Reliquien, in denen so viele offenkundige Lügen und Narrenwerk von Hunds- und Pferdeknochen erfunden wurden, dass auch um dieser Schandtaten willen, über die der Teufel gelacht hat, sie längst sollten verdammt worden sein, selbst wenn etwas Gutes daran wäre. Außerdem sind sie auch ohne Gottes Wort, weder geboten noch geraten, ganz und gar nicht notwendig und nutzlose Dinge. Aber das Ärgste ist, dass sie auch Ablässe und Vergebung der Sünden haben bewirken müssen als ein gutes Werk und als Gottesdienst, wie die Messe usw. 6. Hier gehört der liebe Ablass her, der den Lebenden und den Toten – und zwar für Geld – gegeben worden ist. In ihm hat der abscheuliche Judas oder Papst die Verdienste Christi samt den überschüssigen Verdiensten aller Heiligen und der ganzen Kirche verkauft usw. Das alles ist nicht zu dulden. Es ist auch nicht nur ohne Gottes Wort, ohne Notwendigkeit und ungeboten, sondern auch dem ersten Artikel zuwider. Denn das Verdienst Christi wird nicht durch unsere Werke oder Pfennige, sondern durch den Glauben aus Gnade ohne jedes

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Geld und Verdienst erlangt und nicht durch die Gewalt des Papstes, sondern durch die Predigt bzw. Gottes Wort dargeboten.

Das Anrufen der Heiligen Das Anrufen der Heiligen ist auch einer der antichristlichen Missbräuche. Es streitet wider den ersten Hauptartikel und tilgt das richtige Wissen über Christus. Es ist auch weder geboten noch geraten, hat auch kein Vorbild in der Heiligen Schrift. Und wir haben es alles tausendmal besser an Christus, wenn jenes gleich ein köstliches Gut wäre, was es doch nicht ist. Und wenn auch die Engel im Himmel für uns bitten – wie es Christus selbst auch tut – und daher auch die Heiligen auf Erden oder vielleicht auch im Himmel, folgt daraus nicht, dass wir die Engel und Heiligen anrufen, anbeten, für sie fasten, sie verehren, ihnen Messe halten, opfern, Kirchen, Altäre oder Gottesdienste stiften und noch auf andere Weise dienen und sie für Nothelfer35 halten und allerlei Hilfe ihnen zuschreiben und jedem eine besondere zuerkennen sollten, wie es die Papisten lehren und tun. Denn das ist Abgötterei, und diese Ehre kommt Gott allein zu. Denn du kannst als Christ und Heiliger auf Erden für mich nicht nur in einer einzigen, sondern in allen Nöten bitten. Aber deshalb muss ich dich nicht anbeten, anrufen, verehren oder zu deiner Ehre fasten, opfern und Messe halten und auf dich meinen Glauben für die Seligkeit setzen. Ich kann dich auf andere Weise durchaus ehren und lieben sowie für dich in Christus danken. Wenn nun diese abgöttische Verehrung der Engel und der toten Heiligen beseitigt wird, wird die andere Verehrung ohne Schaden sein, ja bald vergessen werden. Denn wenn Nutzen und Hilfe, leibliche und geistliche, nicht mehr zu erhoffen sind, werden sie die Heiligen im Grab und im Himmel gewiss unbehelligt lassen. Denn umsonst oder aus Liebe wird ihrer niemand viel gedenken noch sie achten oder verehren.

35. Wohl im 14. Jahrhundert wurden zunächst in den Diözesen Bamberg und Regensburg folgende Heilige zu den 14 Nothelfern zusammengestellt: Achatius, Aegidius, Barbara, Blasius von Sebaste, Christophorus, Cyriacus von Rom, Dionysius von Paris, Erasmus, Eustachius, Georg, Katharina von Alexandria, Margaretha von Antiochia, Pantaleon, Vitus.

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Kurzum: Was die Messe ist, was daraus hervorgegangen ist, was daran hängt, das können wir nicht dulden, und das müssen wir verdammen, damit wir das heilige Sakrament, das wir entsprechend der Einsetzung Christi durch den Glauben gebrauchen und empfangen, rein und gewiss behalten können.

Der dritte Artikel Die Stifte und Klöster, die vorzeiten in der guten Absicht gestiftet wurden, gelehrte Leute und sittsame Frauen zu erziehen, sollen wieder zu diesem Gebrauch bestimmt werden, damit man Pfarrer, Prediger und andere Kirchendiener, auch sonst für das weltliche Regiment in den Städten und Ländern notwendige Personen sowie gut erzogenen Jungfrauen als Hausmütter und Hauswirtschafterinnen usw. haben kann. Wenn sie nicht dazu dienen wollen, ist es besser, dass man sie ungenutzt liegen lässt oder einreißt, als dass sie aufgrund ihres gotteslästerlichen, von Menschen erfundenen Gottesdienstes für etwas Besseres als der allgemeine Christenstand und die von Gott gestifteten Ämter und Stände gehalten werden. Denn das ist auch alles wider den ersten Hauptartikel von der Erlösung Christi. Hinzu kommt noch, dass sie auch – wie alle anderen Menschenerfindungen – nicht geboten, nicht notwendig und ohne Nutzen sind, außerdem bereiten sie gefährliche und vergebliche Mühe, wie die Propheten solche Gottesdienste »Aven«, das ist »Mühe«, nennen.36

Der vierte Artikel Der Papst ist nicht kraft göttlichen Rechts oder aufgrund des Wortes Gottes das Haupt der ganzen Christenheit, denn das kommt nur einem zu, der Jesus Christus heißt. Er ist vielmehr nur Bischof bzw. Pfarrer der Kirchen zu Rom und derjenigen, die sich bereitwillig oder aufgrund menschlicher Ordnung – das heißt der weltlichen Obrigkeit – ihm zugesellt haben, nicht, um unter ihm als einem Herrn, sondern neben ihm als Bruder und Freund Christen zu sein. Das 36. Hab 1,3: »Warum lässt du mich sehen Mühe und Arbeit?«; Sach 10,2: »Denn die Götzen reden eitel Mühe«; WA.DB 11/II, 303, 351.

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beweisen auch die alten Konzilien und die Zeit des heiligen Cyprianus.37 Jetzt aber wagt es kein Bischof, den Papst wie zu dieser Zeit »Bruder« zu nennen, sondern er muss ihn seinen »allergnädigsten Herrn« nennen, als ob er auch ein König oder Kaiser wäre. Das wollen, sollen und können wir nicht auf unser Gewissen nehmen. Wer es aber tun will, der tue es ohne uns. Hieraus folgt, dass alles dasjenige, was der Papst aus dieser falschen, gottlosen, frevelhaften, angemaßten Gewalt getan und vorgenommen hat, nichts als teuflische Taten und Geschäfte gewesen sind und noch sind, um die ganze heilige, christliche Kirche – so viel an ihm liegt – zu verderben und den ersten Hauptartikel von der Erlösung in Jesus Christus zu zerstören. Davon ist ausgenommen, was seine weltliche Herrschaft betrifft, in der Gott auch wohl durch einen Tyrannen und Schurken einem Volk viel Gutes widerfahren lässt. Denn alle seine Bullen und Bücher sind vorhanden, in denen er wie ein Löwe brüllt – wie es der Engel Offb 1238 darstellt –, dass kein Christ selig werden könne, er sei denn ihm gehorsam und untertan in allen Dingen, was er will, was er sagt, was er tut. Was alles nichts anderes ist, als so viel gesagt: »Selbst wenn du an Christus glaubst und alles an ihm hast, was zur Seligkeit notwendig ist, so ist das doch nichts und alles umsonst, wenn du mich nicht für deinen Gott hältst, mir untertan und gehorsam bist.« Dabei ist offensichtlich, dass die heilige Kirche mindestens über fünfhundert Jahre ohne Papst gewesen ist39 und bis auf den heutigen Tag die griechische und vieler anderer Sprachen Kirchen noch nie unter dem Papst gewesen und noch nicht sind. Daher ist es, wie oft gesagt, eine Menschenerfindung, die nicht geboten, ohne Notwendigkeit und umsonst ist. Denn die heilige, christliche Kirche kann ohne solch ein Haupt gut bestehen und wäre sicher besser bestehen geblieben, wenn solch ein Haupt nicht durch den Teufel aufgerichtet worden wäre. Das Papsttum bringt auch keinen Nutzen in der Kirche,

37. Cyprian (200/210–258) wurde 248/249 Bischof von Karthago und 258 Märtyrer während der Christenverfolgung unter Kaiser Valerianus (um 200, 253–260, 262?). 38. Offb 10,3. 39. Für Luther war Gregor I. (um 540, 590–604) der letzte Bischof von Rom, dem seit Sabinianus (604–606) die Päpste zu folgen begannen.

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denn es übt kein christliches Amt aus. Daher muss die Kirche ohne den Papst bleiben und bestehen. Ich setze den Fall, dass der Papst darauf verzichten wollte, kraft göttlichen Rechts oder aufgrund eines Gebotes des Wortes Gottes der Oberste zu sein, aber damit die Einigkeit der Christenheit wider die Sekten und Ketzerei desto besser erhalten würde, müsste man ein Haupt haben, an das sich die anderen alle hielten. Ein solches Haupt würde nun durch Menschen erwählt, und es stünde in menschlicher Entscheidung und Gewalt, dieses Haupt zu ändern und abzusetzen. Ganz so verfuhr das Konzil zu Konstanz mit den Päpsten, setzte deren drei ab und wählte den vierten.40 Ich setze nun den Fall – sage ich –, dass der Papst und der Stuhl zu Rom auf jenes verzichten und dieses annehmen wollte, was doch unmöglich ist, denn er müsste sein ganzes Regiment und seinen Stand mit allen seinen Rechten und Büchern ins Gegenteil verkehren und zerstören lassen. Kurzum, er kann es nicht tun. Dennoch wäre damit der Christenheit in keiner Weise geholfen, und es würden viel mehr Sekten entstehen als zuvor. Denn weil man einem solchen Haupt nicht auf Befehl Gottes untertan sein müsste, sondern aus menschlichem gutem Willen, würde es sehr leicht und bald verachtet werden und zuletzt niemand behalten. Es müsste auch nicht immer zu Rom oder an einem anderen bestimmten Ort sein, sondern wo und in welcher Kirche Gott einen solchen Menschen gegeben hätte, der dafür geeignet wäre. O, das würde ein unabsehbar chaotischer Zustand werden. Darum kann die Kirche niemals besser regiert und erhalten werden, als dass wir alle unter dem einen Haupt Christus leben und die Bischöfe, die in Bezug auf ihr Amt alle gleich sind – obgleich sie in Bezug auf die Gaben ungleich sind41 –, einträchtig in Lehre, Glauben, Sakrament, Gebeten und Werken der Liebe usw. entschlossen zusammenhalten. So schreibt der heilige Hieronymus, dass die Priester zu Alexandrien alle und zusammen die Kirche regierten,42 wie es die

40. Abgesetzt wurden Johannes XXIII. (um 1370, 1410–1415, 1419), Gregor XII. (um 1325, 1406–1415, 1417) und Benedikt XIII. (um 1342, 1394–1417, 1423), neu gewählt Martin V. (1368, 1417–1431). 41. 1 Kor 12,4.8–10; Röm 12,6–8. 42. Hieronymus, Commentarius in Epistolam ad Titum 1, 5f (PL 26 [1884], 595– 600).

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Apostel und danach alle Bischöfe in der ganzen Christenheit auch getan haben, bis der Papst seinen Kopf über alle erhob. Dieses Stück zeigt kräftig, dass der Papst der rechte Endchrist bzw. Antichrist ist, der sich über und wider Christus gesetzt und erhöht hat.43 Weil er die Christen ohne seine Gewalt nicht selig sein lassen will, die doch nichts ist, von Gott weder angeordnet noch geboten. Das heißt eigentlich, »sich über Gott und wider Gott setzen«, wie der heilige Paulus sagt.44 Das tut aber weder der Türke noch der Tatar,45 wie sehr sie auch Feinde der Christen sind, sondern sie lassen an Christus glauben, wer es will, und fordern von den Christen nur leibliche Abgaben und Gehorsam. Aber der Papst will nicht glauben lassen, sondern er spricht, man solle ihm gehorsam sein, dann werde man selig.46 Das wollen wir nicht tun, wenn wir auch deswegen in Gottes Namen sterben müssten. Das kommt alles davon, dass er sollte kraft göttlichen Rechts der Oberste 43. Zu Papst und Antichrist ist Folgendes zu beachten: Die Bilaterale Arbeitsgruppe der (röm.-kath.) Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hat sich zwar mit der Frage des Papstamtes nicht ausdrücklich befasst, aber sie stellt in ihrem Dokument »Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament« (1984) »mit Dankbarkeit fest, dass auch über diese Frage heute zwischen uns gesprochen wird und gemeinsam neue Einsichten möglich scheinen, auch wenn bis jetzt kein Konsens gefunden wurde« (Nr. 74, S. 83). In diesem Zusammenhang kommen die evangelisch-lutherischen Teilnehmer der Arbeitsgruppe zu dem Ergebnis, »dass auch Päpste das Evangelium verkünden, Inhaber des Amtes, von dem die Reformatoren dies nicht mehr erwartet hatten. Auch Aussagen der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, die von solcher Überzeugung (gemeint ist der Vorwurf der Reformatoren, der Papst sei der Antichrist) geprägt sind, dürfen heute auf das Papsttum in der Fülle seiner geschichtlichen Erscheinungen oder einzelne Inhaber dieses Amtes nicht angewandt werden, sie sollten auch das Verhältnis unserer Kirchen zueinander nicht präjudizieren« (Nr. 74, S. 84). Die Kirchenleitung der VELKD hat sich diese Aussage grundsätzlich zu eigen gemacht und zugleich darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Papstamt einer der wichtigsten Punkte künftiger Gespräche mit der römisch-katholischen Kirche ist. 44. 2 Thess 2,4. 45. Tataren, die für Luther als Mohammedaner östlich und nördlich der Türken lebten. 46. Bonifatius VIII. (um 1235, 1294–1303) in seiner Bulle »Unam sanctam« vom 18. November 1302; am 19. Dezember 1516 von Leo X. (1475, 1513–1521) mit der Bulle »Pastor aeternus« erneuert.

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über die christliche Kirche genannt werden. Darum hat er sich auch Christus gleichstellen und über Christus setzen müssen, sich das Haupt, hernach den Herrn der Kirche, zuletzt auch der ganzen Welt und geradezu einen irdischen Gott rühmen lassen, bis er sich auch den Engeln im Himmelreich zu gebieten unterstand. Und wenn man die Lehre des Papstes von der Heiligen Schrift unterscheidet oder sie dagegenstellt und -hält, ergibt sich, dass die Lehre des Papstes dort, wo sie am allerbesten ist, aus dem kaiserlichen, heidnischen Recht47 genommen ist und weltliche Rechtsstreite und Gerichte lehrt, wie seine Dekretalen48 bezeugen. Danach lehrt sie Zeremonien von Kirchen, Kleidung, Speisen, Personen und Kindereien, Phantasie- und Narrenwerk ohne Maßen, aber in alledem gar nichts von Christus, Glauben und Gottes Geboten. Zuletzt ist es weiter nichts als reines Teufelswerk, wo er seine Lügen über die Messe, das Fegefeuer, das Mönchtum, eigene Werke und eigenen Gottesdienst – der das rechte Papsttum ist – über und wider Gott lehrt und alle Christen verdammt, tötet und plagt, die einen solchen Gräuel nicht über alles erheben und ehren. Darum, sowenig wir den Teufel selbst als einen Herrn oder Gott anbeten können, so wenig können wir auch seinen Apostel, den Papst oder Endchrist, in seinem Regiment als Haupt oder Herrn dulden. Denn Lügen und Mord, um den Leib und die Seele ewiglich zu verderben, ist eigentlich sein päpstliches Regiment, wie ich das in vielen Büchern bewiesen habe. An diesen vier Artikeln werden sie auf dem Konzil genug zu verdammen haben. Denn sie können und wollen uns nicht das geringste Stückchen von einem Artikel zugestehen. Des dürfen wir gewiss sein und uns auf die Hoffnung verlassen, dass Christus, unser Herr, seinen Widersacher angegriffen hat und sich durchsetzen wird, mit seinem Geist und seiner Wiederkunft.49 Amen. Denn auf einem Konzil werden wir nicht vor dem Kaiser oder der weltlichen Obrigkeit – wie zu Augsburg – stehen, der eine ganz gnä-

47. Das Recht des alten Römischen Reiches. 48. Decretales litterae bzw. epistolae decretales, durch die Päpste in Einzelfällen gefällte Entscheidungen publizierten oder für die gesamte Kirche Verfügungen trafen. 49. 2 Thess 2,8.

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dige Einladung aussandte und die Dinge in Güte anhören ließ, sondern wir werden da vor dem Papst und dem Teufel selbst stehen, der nicht zu hören, sondern kurzerhand zu verdammen, zu morden und zur Abgötterei zu zwingen beabsichtigt. Darum dürfen wir hier nicht seine Füße küssen50 oder sagen: »Ihr seid mein gnädiger Herr«, sondern wie in Sacharja der Engel zum Teufel sprach: »Straf dich Gott, Satan.«51

Der dritte Teil der Artikel Folgende Stücke oder Artikel können wir mit Gelehrten, Vernünftigen oder unter uns selbst verhandeln, denn der Papst und sein Reich achten derselben nicht viel, denn das Gewissen ist bei ihnen nichts, sondern Geld, Ehre und Gewalt sind alles.

Die Sünde Hier müssen wir bekennen, wie der heilige Paulus Röm 5[,12] sagt, dass die Sünde von dem einen Menschen Adam hergekommen ist, durch dessen Ungehorsam alle Menschen Sünder geworden sowie dem Tod und dem Teufel unterworfen sind. Dies heißt die Erbsünde oder Hauptsünde. Die Folgen dieser Sünde sind die bösen Werke, die in den Zehn Geboten verboten sind, wie der Unglaube, falscher Glaube, Abgötterei, ohne Gottesfurcht sein, Vermessenheit, Verzweiflung, Blindheit, kurzum: Gott nicht kennen oder nicht achten, danach lügen, bei Gottes Namen schwören, nicht beten, Gott nicht anrufen, Gottes Wort nicht achten, den Eltern ungehorsam sein, morden, unkeusch leben, stehlen, betrügen usw. Diese Erbsünde ist eine so ganz tiefe, böse Verderbnis der Natur, dass keine Vernunft sie erkennt, sondern aus der Heiligen Schrift als Offenbarung geglaubt werden muss; Ps 51[,7] und Röm 5[,12–21]; 2. Mose 33[,20]; 1. Mose 3[,6–19]. Darum ist das nichts als Irrtum und 50. Der Fußkuss während der Audienz des Papstes ist seit Pius XI. (1857, 1922–1939) nicht mehr üblich. 51. Sach 3,2.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

Verblendung wider diesen Artikel, was die Scholastiker gelehrt haben: 1. Nach dem Sündenfall Adams sind die natürlichen Kräfte des Menschen ganz und unverdorben geblieben. Der Mensch hat von Natur eine rechte Vernunft und einen guten Willen, wie dies die Philosophen lehren. 2. Der Mensch hat einen freien Willen, Gutes zu tun und Böses zu lassen, und umgekehrt Gutes zu lassen und Böses zu tun. 3. Der Mensch kann aus natürlichen Kräften alle Gebote Gottes tun und halten. 4. Er kann aus natürlichen Kräften Gott über alles und seinen Nächsten wie sich selbst lieben. 5. Wenn der Mensch tut, soviel an ihm liegt, gibt ihm Gott gewiss seine Gnade. 6. Wenn er zum Sakrament gehen will, ist nicht der gute Vorsatz notwendig, Gutes zu tun, sondern es ist genug, dass er nicht den bösen Vorsatz hat, Sünde zu tun; so sehr gut ist die Natur und das Sakrament wirkungsvoll. 7. Es ist nicht in der Heiligen Schrift begründet, dass zu einem guten Werk der Heilige Geist mit seiner Gnade notwendig ist. Solche und dergleichen viele Artikel sind aus Unverstand und Unwissen über die Sünde und über Christus, unseren Heiland, entstanden. Sie sind ganz heidnische Lehren, die wir nicht dulden können. Denn wenn diese Lehre richtig sein sollte, wäre Christus vergeblich gestorben, weil kein Schaden und keine Sünde im Menschen ist, für die er sterben musste; oder er wäre nur für den Leib und nicht auch für die Seele gestorben, weil die Seele gesund und allein der Leib des Todes ist.

Das Gesetz Hier glauben wir, dass das Gesetz von Gott zuerst gegeben worden ist, um durch Androhung und Schrecken der Strafe und durch Ver-

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heißung und Angebot der Gnade und Wohltat der Sünde zu steuern. Aber das alles ist aufgrund der Bosheit, die die Sünde im Menschen bewirkt hat, übel geraten. Denn die einen sind davon ärger geworden, insofern sie dem Gesetz feind sind, weil es verbietet, was sie gerne tun, und gebietet, was sie ungern tun. Deshalb tun sie, wenn sie es ungestraft können, nun mehr wider das Gesetz als zuvor. Das sind dann die rohen, bösen Leute, die Böses tun, sooft sie Gelegenheit dazu haben. Die anderen werden blind und vermessen. Sie bilden sich ein, dass sie das Gesetz halten und aus ihren Kräften halten können, wie eben oben von den Scholastikern gesagt worden ist. Daraus entstehen die Heuchler und die falschen Heiligen. Aber die vornehmste Aufgabe bzw. Auswirkung des Gesetzes ist, dass es die Erbsünde mit allen ihren Folgen offenbart und dem Menschen zeigt, wie sehr tief seine Natur gefallen und abgrundtief verdorben ist, so dass das Gesetz ihm sagen muss, dass er keinen Gott hat noch achtet bzw. fremde Götter anbetet, was er vorher und ohne das Gesetz nicht geglaubt hätte. Dadurch wird er aufgeschreckt, gedemütigt, verzagt, verzweifelt und will gerne, dass ihm geholfen wird. Und er weiß nicht, wo hinaus, fängt an, Gott feind zu werden und zu murren usw. Das bedeutet dann Röm 3:52 »Das Gesetz richtet Zorn an«, und Röm 5[,20]: »Die Sünde wird mächtiger durch das Gesetz.«

Die Buße Diese Aufgabe des Gesetzes behält das Neue Testament bei und lehrt es auch, wie es Paulus Röm 1[,18] tut und spricht: »Gottes Zorn wird vom Himmel über alle Menschen offenbart«, ebenso Röm 3[,19f]: »Alle Welt ist vor Gott schuldig und kein Mensch ist vor ihm gerecht«, und Christus Joh 16[,8]: »Der Heilige Geist wird die Welt um ihrer Sünde willen anklagen.« Das ist nun der Blitzstrahl Gottes, mit dem er die offenkundigen Sünder und die falschen Heiligen zusammen vernichtet. Er lässt keinen Recht haben und treibt sie zusammen in Erschrecken und Ver-

52. Röm 4,15.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

zagen. Das ist der Hammer, wie Jeremias sagt: »Mein Wort ist ein Hammer, der die Felsen zerschmettert.«53 Das ist nicht eine activa contritio, das heißt eine gemachte Reue, sondern eine passiva contritio, das heißt das rechte Herzeleid, Erdulden und Fühlen des Todes. Und das heißt dann, die rechte Buße anfangen. Und es muss der Mensch hier so ein Urteil hören: »Es ist mit euch allen nichts, ob ihr offenkundige Sünder oder Heilige seid. Ihr müsst alle anders werden und anders handeln, als ihr jetzt seid und handelt, ihr mögt wer und wie groß, weise, mächtig und heilig sein, wie ihr wollt. Hier ist keiner gerecht.«54 Aber zu dieser Aufgabe des Gesetzes fügt das Neue Testament sogleich durch das Evangelium die tröstliche Verheißung der Gnade hinzu, der man glauben soll. So spricht Christus Mk 1[,15]: »Tut Buße und glaubt an das Evangelium«, das heißt: »Werdet und macht es anders, und glaubt meiner Verheißung.« Und vor ihm wird Johannes ein Prediger der Buße genannt, doch zur Vergebung der Sünden.55 Das heißt, er sollte sie alle anklagen und zu Sündern machen, damit sie wussten, wer sie vor Gott sind, und sich als verlorene Menschen erkannten und so für den Herrn bereitet wurden, die Gnade zu empfangen sowie die Vergebung der Sünden von ihm zu erwarten und anzunehmen. So sagt auch Christus – Lk am Schluss56 – selbst: »Man muss in meinem Namen in aller Welt Buße und Vergebung der Sünden predigen.« Wo das Gesetz aber ohne das Hinzufügen des Evangeliums allein dieser Aufgabe nachkommt, da sind der Tod und die Hölle. Und der Mensch muss wie Saul und Judas verzweifeln,57 wie der heilige Paulus sagt: »Das Gesetz tötet durch die Sünde.«58 Andererseits gibt das Evangelium nicht nur auf eine Art Trost und Vergebung, sondern durch das Wort, das Sakrament und dergleichen, wie wir hören werden, damit die Erlösung bei Gott ja reichlich – wie Ps 130[,7] sagt – wider das große Gefängnis der Sünden sei.

53. 54. 55. 56. 57. 58.

Jer 23,29. Röm 3,10. Mk 1,4. Lk 24,47. 1 Sam 28,20; 31,4; Mt 27,3–5. Röm 7,10.

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Jetzt aber müssen wir die falsche Buße der Sophisten59 gegen die rechte Buße halten, damit sie beide desto besser verstanden werden.

Die falsche Buße der Papisten Es ist unmöglich gewesen, dass sie recht von der Buße lehren konnten, weil sie die rechte Sünde nicht erkannten. Denn sie denken über die Erbsünde – wie oben gesagt – nicht richtig, sondern sagen, die natürlichen Kräfte des Menschen seien ganz und unverdorben geblieben, die Vernunft könne richtig belehren und der Wille könne danach richtig handeln, so dass Gott gewiss seine Gnade gibt, wenn ein Mensch tut, so viel entsprechend seinem freien Willen an ihm liegt. Hieraus musste folgen, dass sie allein für die Tatsünden Buße taten, wie böse Gedanken, in die sie eingewilligt hatten – denn böse Regungen, Begierde und Anreizen zum Bösen galten nicht als Sünden –, böse Worte, böse Werke, die der freie Wille gut hätte unterlassen können. Und für diese Buße setzten sie drei Teile fest: Reue, Beichte und Genugtuung, mit dieser Vertröstung und Zusage: Wenn der Mensch richtig bereut, beichtet und genugtut, hat er damit die Vergebung verdient und die Sünde vor Gott bezahlt. So unterwiesen sie die Leute, sich in ihrer Buße auf die eigenen Werke zu verlassen. Von daher kam das Wort auf der Kanzel, wenn man die allgemeine Beichte dem Volk vorsprach: »Erhalte mir, Herr Gott, mein Leben, bis ich für meine Sünden Buße getan und mein Leben gebessert habe.« Hier wurden kein Christus und nichts vom Glauben erwähnt, sondern man hoffte, mit eigenen Werken die Sünde vor Gott zu überwinden und zu tilgen. In dieser Absicht wurden wir auch Priester und Mönche, dass wir selbst der Sünde entgegenwirken wollten. Mit der Reue verhielt es sich folgendermaßen: Weil niemand sich auf alle seine Sünden besinnen konnte – besonders auf die, die er in einem ganzen Jahr begangen hatte –, fanden sie folgenden Ausweg: Wenn die unbewussten Sünden danach bewusst wurden, musste man sie auch bereuen und beichten usw. Währenddessen waren sie der Gnade Gottes befohlen.

59. Abfällige Bezeichnung für scholastische Theologen.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

Weil niemand wusste, wie groß die Reue sein musste, damit sie ja vor Gott ausreichend war, gaben sie außerdem den folgenden Trost: Wer keine contritio, das heißt Reue, haben könnte, der sollte attritio haben, die ich eine halbe oder den Anfang der Reue nennen möchte. Denn sie haben selbst keins von beiden verstanden und wissen auch jetzt noch nicht, was sie bedeuten, sowenig wie ich. Diese attritio wurde dann als contritio angerechnet, wenn man zur Beichte ging. Und wenn es geschah, dass z. B. einer sprach, er könne nicht bereuen noch über seine Sünde Leid empfinden, wie es bei Hurenliebe oder Rachgier usw. geschehen konnte, fragten sie, ob er denn nicht wünsche oder gerne wollte, dass er Reue empfinden möchte. Sprach er dann: »Ja« – denn wer wollte hier »Nein« sagen außer der Teufel selbst –, nahmen sie es als Reue an und vergaben ihm auf solch ein gutes Werk hin seine Sünden. Dafür führten sie den heiligen Bernhard60 als Beispiel an usw. Hier sieht man, wie die blinde Vernunft in Gottes Sachen umhertappt und in den eigenen Werken nach ihrem eigenen Gutdünken Trost sucht und weder an Christus noch an den Glauben denken kann. Wenn man es nun bei Licht besieht, ist diese Reue ein selbst gemachter und erfundener Gedanke – aus eigenen Kräften ohne Glauben und ohne rechtes Wissen von Christus –, in dem zuweilen der arme Sünder, wenn er an die Begierde oder Rache dachte, lieber gelacht als geweint hätte. Davon sind diejenigen auszunehmen, die entweder durch das Gesetz richtig getroffen oder von dem Teufel nutzlos mit einem traurigen Geist geplagt wurden. Im Übrigen ist diese Reue gewiss reine Heuchelei gewesen und hat das Begehren der Sünde nicht getötet. Denn sie mussten bereuen, hätten aber lieber mehr gesündigt, wenn es frei gewesen wäre. Mit der Beichte stand es folgendermaßen: Jeder musste alle seine Sünden aufzählen, was ein unmögliches Ding ist. Das war eine große Marter. Die er aber vergessen hatte, wurden ihm unter der Bedingung vergeben, dass er sie noch beichten musste, wenn sie ihm noch einfielen. Dadurch konnte er niemals wissen, wann er rein genug gebeichtet hatte oder wann das Beichten einmal ein Ende haben sollte. Trotzdem wurde er auf seine Werke verwiesen. Und es wurde ihm 60. Bernhard von Clairvaux, Tractatus de gratia et libero arbitrio IV, 10 (PL 182, 1007).

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gesagt, je reiner er beichte und je mehr er sich schäme und sich selbst vor dem Priester erniedrige, umso eher und besser leiste er für die Sünden Genugtuung, denn eine solche Demut erwerbe bei Gott gewiss Gnade. Hier war auch kein Glaube an Christus. Und von der Kraft des Freispruchs wurde ihm nichts gesagt, sondern sein Trost war auf das Sündenaufzählen und das Schämen gegründet. Es ist aber nicht zu erzählen, welche Marter, Schurkerei und Abgötterei solches Beichten angerichtet hat. Die Genugtuung ist erst recht der allerweitläufigste Teil, denn kein Mensch konnte wissen, wie viel er für eine einzige Sünde tun sollte, geschweige denn für alle. Hier fanden sie nun einen Ausweg, indem sie wenig Genugtuung auferlegten, die man leicht einhalten konnte, wie fünf Vaterunser beten, einen Tag fasten usw. Mit der übrigen Buße wies man sie in das Fegefeuer. Hier war nun auch weiter nichts als Jammer und Not. Einige meinten, sie würden nimmer aus dem Fegefeuer kommen, weil nach den alten kirchenrechtlichen Bestimmungen zu einer Todsünde sieben Jahre Buße gehörten. Dennoch gründete sich die Zuversicht auch auf unser Werk der Genugtuung. Und wenn die Genugtuung hätte vollkommen sein können, wäre die Zuversicht ganz darauf gegründet worden, und es wären weder der Glaube noch Christus von Nutzen gewesen. Aber es war unmöglich. Wenn nun einer hundert Jahre auf diese Weise Buße getan hätte, hätte er doch nicht gewusst, wann er genug gebüßt hat. Das bedeutete, immerdar Buße tun und nimmermehr zur Buße kommen. Hier kam nun der Heilige Stuhl zu Rom der armen Kirche zur Hilfe und erfand den Ablass. Dadurch vergab er und hob die Genugtuung auf, erst einzelne sieben Jahre, hundert Jahre usw. Und er verteilte ihn unter die Kardinäle und Bischöfe, dass der eine hundert Jahre, der andere hundert Tage Ablass gewähren konnte. Aber die ganze Genugtuung aufzuheben, behielt er sich allein vor. Als dies nun begann, Geld einzubringen, und der Handel mit Bullen gut gedieh, erdachte er das Jubeljahr61 und verlegte es nach Rom, das bedeutete Vergebung aller Strafen und Schuld. Da liefen die Leute 61. Das Jubeljahr, auch »Heiliges Jahr«, wurde von Bonifatius VIII. für das Jahr 1300 eingeführt und sollte nur alle hundert Jahre begangen werden (DH 868).

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hinzu, denn es wäre jedermann gern die schwere, unerträgliche Last losgeworden. Das hieß, die Schätze der Erde zu finden und zu heben. Sogleich eilte der Papst auf diesem Weg weiter und machte viele Jubeljahre nacheinander.62 Aber je mehr Geld er verschlang, umso weiter wurde ihm der Schlund. Darum schickte er es danach durch Legaten hinaus in die Länder, bis alle Kirchen und Häuser voll von Jubeljahren wurden. Zuletzt drängte er sich auch ins Fegefeuer unter die Toten, zuerst mit Messen, Vigilien und Messstiftungen für Verstorbene, danach mit dem Ablass und dem Jubeljahr. Schließlich wurden die Seelen so billig, dass er eine um einen Schwertgroschen63 freigab. Noch half auch das alles nicht, denn der Papst, obgleich er die Leute lehrte, sich auf diesen Ablass zu verlassen und ihm zu vertrauen, macht er dies andererseits doch selbst auch ungewiss. Denn er setzt in seine Bulle: »Wer des Ablasses oder des Jubeljahres teilhaftig werden will, der soll bereut und gebeichtet haben und Geld geben.«64 Nun haben wir oben gehört, dass diese Reue und Beichte bei ihnen ungewiss und Heuchelei ist. Desgleichen wusste auch niemand, welche Seele im Fegefeuer war. Und insofern einige darinnen waren, wusste niemand, welche richtig bereut und gebeichtet hatten. So nahm er das liebe Geld und flößte ihnen einerseits durch seine Macht und den Ablass Zuversicht ein und verwies sie andererseits doch auf ihre ungewissen Werke. Es gab nun einige, die sich nicht solcher Tatsünden mit Gedanken, Worten und Werken schuldig fühlten – wie ich und meinesgleichen in Klöstern und Stiften Mönche und Priester sein wollten, die wir mit Fasten, Wachen, Beten, Messehalten, harter Kleidung und Lagerstätte usw. uns wider böse Gedanken wehrten und mit Ernst und Gewalt heilig sein wollten – und doch das erbliche, angeborene Böse etwa im Schlaf taten, was seine Art ist (wie auch der heilige Augustin und Hieronymus mit anderen bekennen65). Dennoch hielt ein jeder vom 62. 1300, 1350, 1390, 1423, 1450, 1475, 1500, 1525 – zuletzt 2000. 63. Der seit 1456/1457 in Sachsen geschlagene Schwertgroschen – benannt nach den Kurschwertern auf dem Avers – hatte einen relativ geringen Silbergehalt und wurde ab 1482 als halber Schwertgroschen geprägt, der ab 1491 im Verhältnis zum Rheinischen Gulden 6 Pfennigen entsprach. 64. So z. B. in einem Ablassplakat von 1517. 65. Augustin, Confessiones X, 30 (PL 32, 796f = CSEL 33, 257,8–258,11 = CChr.SL

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anderen, dass einige so heilig wären, wie wir lehrten, die ohne Sünde voller guter Werke wären, so dass wir daraufhin unsere guten Werke als uns überschüssige für andere dem Himmel mitteilten und verkauften. Das ist gewisslich wahr, und es sind dafür Siegel, Briefe und Beispiele vorhanden. Diese bedurften der Buße nicht, denn was wollten sie bereuen, da sie doch in böse Gedanken nicht einwilligten? Was wollten sie beichten, da sie doch die bösen Taten vermieden? Wofür wollten sie Genugtuung leisten, da sie doch der Tat nicht schuldig waren, so dass sie sogar anderen armen Sündern ihre überschüssige Gerechtigkeit verkaufen konnten? Solche Heiligen waren auch die Pharisäer und Schriftgelehrten zur Zeit Christi. Hier kommt der feurige Engel des heiligen Johannes,66 der Prediger der richtigen Buße, und schlägt mit einem Donner alle beide zusammen und spricht: »Tut Buße!«67 So denken jene: »Wir haben doch Buße getan«, diese denken: »Wir bedürfen keiner Buße.« Johannes aber spricht: »Tut alle beide Buße, denn ihr seid falsche Büßer und diese sind falsche Heilige. Ihr bedürft alle beide der Vergebung der Sünden, weil ihr alle beide noch nicht wisst, was die richtige Sünde ist, geschweige, dass ihr für sie Buße tun oder sie meiden wollt. Keiner von euch ist gut. Ihr seid voller Unglauben, Unverstand und Unwissenheit über Gott und seinen Willen. Denn da ist er gegenwärtig, von dessen Fülle wir alle Gnade um Gnade nehmen müssen.68 Kein Mensch kann ohne ihn vor Gott gerecht sein. Darum, wenn ihr Buße tun wollt, so tut richtig Buße. Eure Buße tut es nicht. Und ihr Heuchler, die ihr keiner Buße bedürft, ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet?«69 So predigt auch der heilige Paulus Röm 3[,10–12] und spricht: »Es ist keiner verständig, keiner gerecht, keiner achtet Gott, keiner tut Gutes, auch nicht einer, sie sind alle sündhaft und abtrünnig.« Und

66. 67. 68. 69.

27, 176,7–177,32); Hieronymus, Epistolae XXII, 7 (PL 22, 398 = CSEL 54, 152,15– 153,12). Offb 10,1. Mt 3,2. Joh 1,16. Mt 3,7; Lk 3,7.

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Apg 17[,30]: »Nun aber gebietet Gott allen Menschen, an allen Enden Buße zu tun.« »Allen Menschen«, spricht er, niemand ausgenommen, der ein Mensch ist. Diese Buße lehrt uns, die Sünde zu erkennen, nämlich dass wir zu nichts nütze sind, an uns gar nichts Gutes ist und dass wir schlechterdings neue und andere Menschen werden müssen. Diese Buße ist nicht zerstückelt und kümmerlich wie jene, die für die Tatsünden Buße tut. Und sie ist auch nicht ungewiss wie jene, denn sie disputiert nicht darüber, was Sünde und was nicht Sünde ist, sondern wirft alle zusammen und spricht: »Es ist alles nichts als Sünde mit uns. Was sollen wir lange suchen, aufteilen und unterscheiden?« Darum ist hier auch die Reue nicht ungewiss. Denn es bleibt nichts, mit dem wir etwas Gutes erfinden könnten, um die Sünde zu bezahlen, sondern es bleibt nur ein reines, gewisses Verzagen an allem, was wir sind, denken, reden oder tun usw. Desgleichen kann auch die Beichte nicht falsch, ungewiss oder zerstückelt sein. Denn wer bekennt, dass bei ihm alles nur Sünde ist, der erfasst alle Sünden, lässt keine aus und vergisst auch keine. So kann auch die Genugtuung nicht ungewiss sein, denn sie besteht nicht in unserem ungewissen, sündlichen Werk, sondern im Leiden und Blut des unschuldigen »Lammes Gottes, das der Welt Sünde trägt«.70 Von dieser Buße predigen Johannes und danach Christus im Evangelium – und auch wir. Mit dieser Buße stoßen wir den Papst und alles, was auf unsere guten Werke gegründet ist, zu Boden. Denn es ist alles auf einen hinfälligen, nichtigen Grund errichtet, der gute Werke oder Gesetz heißt, obgleich kein gutes Werk da ist, sondern nichts als böse Werke, und obgleich niemand das Gesetz tut – wie Christus Joh 7[,19] sagt –, sondern es alle übertreten. Darum ist dieses Gebäude nichts als trügerische Lügen und Heuchelei, wo es am allerheiligsten und allerschönsten ist. Und diese Buße währt bei den Christen bis in den Tod. Denn sie streitet mit der übrig gebliebenen Sünde im Fleisch durch das ganze Leben hindurch, wie der heilige Paulus Röm 7[,23] bezeugt, dass er mit dem Gesetz seiner Glieder kämpfe usw., und das nicht durch ei-

70. Joh 1,29.

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gene Kräfte, sondern durch die Gabe des Heiligen Geistes,71 die auf die Vergebung der Sünden folgt. Diese Gabe reinigt und fegt täglich die übrigen Sünden aus und arbeitet, den Menschen gerecht, rein und heilig zu machen. Hiervon wissen der Papst, die Theologen, die Juristen noch ein anderer Mensch nichts, sondern es ist eine Lehre vom Himmel, die durch das Evangelium offenbart ist und bei den gottlosen Heiligen eine Ketzerei heißen muss. Andererseits für den Fall, dass einige Sektengeister kommen würden – wie vielleicht einige bereits vorhanden sind und zur Zeit des Aufruhrs mir selbst vor Augen kamen72 –, die da meinen, dass alle diejenigen, die einmal den Geist oder die Vergebung der Sünden empfangen haben oder gläubig geworden sind, wenn dieselben danach sündigten, blieben sie trotzdem im Glauben und es schadeten ihnen solche Sünden nichts. Sie schreien folgendermaßen: »Tue, was du willst. Wenn du glaubst, ist das alles nichts, der Glaube vertilgt alle Sünden« usw. Und sie fügen hinzu, wenn jemand nach dem Glauben und dem Geist sündigt, habe er den Geist und den Glauben nie richtig gehabt. Von solchen unsinnigen Menschen habe ich viele vor mir gehabt, und ich befürchte, dass noch in einigen von ihnen ein solcher Teufel steckt. Darum ist es notwendig, Folgendes zu wissen und zu lehren: Wenn die heiligen Leute – abgesehen davon, dass sie die Erbsünde noch haben und fühlen, für die sie täglich Buße tun und gegen die sie streiten – irgendwie in eine öffentliche Sünde fallen – wie David in Ehebruch, Mord und Gotteslästerung73 –, dass dann der Glaube und der Geist weg gewesen sind. Denn der Heilige Geist lässt die Sünde nicht herrschen und überhandnehmen, dass sie vollbracht wird, sondern steuert dagegen und wehrt, so dass sie nicht tun kann, was sie will. Tut sie aber, was sie will, so sind der Heilige Geist und der Glaube nicht dabei; denn es heißt, wie der heilige Johannes sagt: »Wer aus Gott geboren ist, der sündigt nicht und kann nicht sündigen.« 74 Und

71. Röm 8,2. 72. Als Luther während des deutschen Bauernkrieges 1525 durch eine Predigtreise Frieden stiften wollte. 73. 2 Sam 11,1–27. 74. 1 Joh 3,9; 5,18.

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es ist doch auch die Wahrheit, wie derselbige heilige Johannes schreibt: »Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, lügen wir, und Gottes Wahrheit ist nicht in uns.«75

Das Evangelium Wir wollen nun wieder zum Evangelium kommen, das nicht nur auf eine Weise Rat und Hilfe wider die Sünde gibt, denn Gott ist überschwänglich reich in seiner Gnade: 1. durch das mündliche Wort, in dem die Vergebung der Sünden in alle Welt gepredigt wird, was die eigentliche Aufgabe des Evangeliums ist, 2. durch die Taufe, 3. durch das heilige Altarsakrament, 4. durch die Schlüsselgewalt und auch durch das gegenseitige Gespräch und die brüderliche Tröstung, Mt 18[,20]: »Wo zwei versammelt sind …«

Die Taufe Die Taufe ist nichts anderes als Gottes Wort im Wasser, die durch seine Einsetzung befohlen ist, oder – wie Paulus sagt – »das Wasserbad im Wort«.76 So sagt auch Augustin: »Wenn das Wort zum Element kommt, entsteht das Sakrament.«77 Und darum halten wir es nicht mit Thomas von Aquino und den Predigermönchen,78 die das Wort – die Einsetzung Gottes – vergessen und sagen, Gott habe eine geistliche Kraft in das Wasser gelegt, welche die Sünde durch das Wasser abwasche. Wir halten es auch nicht mit Duns Scotus79 und den Franziskanern, die lehren, dass die Taufe durch

75. 1 Joh 1,8. 76. Eph 5,26. 77. Augustin, Tractatus in Evangelium Iohannis LXXX, 3 (PL 35, 1840 = CChr.SL 36, 529). 78. Dominikaner, die auf die Lehre des Thomas von Aquino (1224/1225–1274) verpflichtet waren. 79. Johannes Duns Scotus (um 1265/1266–1308), herausragender Scholastiker der Franziskaner.

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Dritter Teil: VI. Altarsakrament

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Beistand des göttlichen Willens die Sünde abwasche, so dass diese Abwaschung allein durch den Willen Gottes geschieht, gar nicht durch das Wort oder Wasser.

Die Kindertaufe Von der Kindertaufe glauben wir, dass man die Kinder taufen soll. Denn sie gehören auch zu der verheißenen Erlösung, die durch Christus geschehen ist.80 Und die Kirche soll sie ihnen gewähren.

Das Altarsakrament Vom Altarsakrament glauben wir, dass Brot und Wein im Abendmahl der wahrhaftige Leib und das wahrhaftige Blut Christi sind und nicht nur den guten Christen gereicht und nur von ihnen empfangen werden, sondern auch von den bösen Christen. Man soll es nicht nur unter einer Gestalt geben. Wir bedürfen der hohen Wissenschaft nicht, die uns lehrt, dass unter einer Gestalt so viel ist wie unter beider, wie uns die Sophisten und das Konzil zu Konstanz81 lehren. Denn auch wenn es wahr wäre, dass es unter einer so viel ist als unter beider, so ist doch die eine Gestalt nicht die ganze Ordnung und Einsetzung, die Christus gestiftet und befohlen hat. Und besonders verdammen und verfluchen wir in Gottes Namen diejenigen, die nicht nur beide Gestalten unterlassen, sondern sie auch ganz selbstherrlich verbieten, verdammen, als Ketzerei lästern und sich damit gegen und über Christus, unser Herrn und Gott, stellen usw. In Bezug auf die Transsubstantiation halten wir von der spitzfindigen Sophisterei gar nichts, mit der sie lehren, dass Brot und Wein ihr natürliches Wesen verlassen oder verlieren und es bleibe nur die Form und die Farbe des Brotes und nicht richtiges Brot. Denn es stimmt mit der Heiligen Schrift aufs Beste überein, dass das Brot da ist und bleibt, wie es der heilige Paulus selbst sagt: »Das Brot, das wir brechen«,82 und ebenso: »So esse er von dem Brot.«83 80. 81. 82. 83.

Mt 19,14. Konzilsdekret vom 15. Juni 1415 (vgl. DH 1198–1200). 1 Kor 10,16. 1 Kor 11,28.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

Die Schlüssel Die Schlüssel sind ein Amt und eine Gewalt, die der Kirche von Christus gegeben worden ist, die Sünden zu behalten oder zu erlassen;84 nicht nur die groben und wohlbekannten Sünden, sondern auch die subtilen und verborgenen, die Gott allein erkennt. So steht geschrieben: »Wer merkt, wie viel er fehlet?« 85 Und Paulus klagt Röm 7[,23] selbst, dass er mit dem Fleisch dem »Gesetz der Sünde« diene. Denn es steht nicht in unserer Macht, sondern bei Gott allein, zu beurteilen, welche, wie groß und wie viel der Sünden sind, wie geschrieben steht: »Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor dir ist kein lebender Mensch gerecht.« 86 Und Paulus sagt auch 1. Kor 4[,4]: »Ich bin mir wohl nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt.«

Die Beichte Weil die Freisprechung oder die Kraft der Schlüssel auch eine Hilfe und ein Trost wider die Sünden und das böse Gewissen sind, die im Evangelium durch Christus gestiftet sind, soll man die Beichte bzw. die Freisprechung beileibe nicht in der Kirche abhandenkommen lassen, besonders um der schwachen Gewissen willen, auch um des jungen, rohen Volkes willen, damit es angehört und in der christlichen Lehre unterrichtet werde. Das Aufzählen der Sünde aber soll jedem freistehen, was er aufzählen oder nicht aufzählen will. Denn solange wir im Fleisch sind, werden wir nicht lügen, wenn wir sagen: »Ich bin ein armer Mensch voller Sünden«,87 Röm 7[,23]: »Ich fühle ein anderes Gesetz in meinen Gliedern« usw. Denn weil die Freisprechung des Einzelnen von dem Amt der Schlüssel herkommt, soll man sie nicht verachten, sondern hoch- und wert halten wie alle anderen Ämter der christlichen Kirche.

84. 85. 86. 87.

Mt 16,19; 18,18; Joh 20,23. Ps 19,13. Ps 143,2. Lk 5,8.

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Dritter Teil: VIII. Beichte

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Und in diesen Stücken, die das mündliche, äußere Wort betreffen, ist fest darauf zu bestehen, dass Gott niemandem seinen Geist oder Gnade gibt außer durch oder mit dem vorangehenden äußeren Wort. Damit schützen wir uns vor den Enthusiasten, das heißt den Geistern, die sich rühmen, ohne und vor dem Wort den Geist zu haben, und danach die Heilige Schrift oder das mündliche Wort nach ihrem Belieben richten, deuten und dehnen. So hat es der Müntzer88 getan und tun noch viele heutigen Tages, die zwischen dem Geist und dem Buchstaben scharfe Richter sein wollen und nicht wissen, was sie sagen oder behaupten. Denn das Papsttum ist auch weiter nichts als Enthusiasmus, in dem der Papst prahlt: »Alle Rechte sind im Schrein meines Herzens.«89 Und was er mit seiner Kirche urteilt und befiehlt, das soll Geist und Recht sein, auch wenn es wider die Heilige Schrift oder das mündliche Wort ist oder darüber hinausgeht. Das ist alles der alte Teufel oder die alte Schlange, die Adam und Eva auch zu Enthusiasten machte, vom äußeren Wort Gottes auf die Geisterei und eigene Ansicht führte. Und er tat es doch auch durch andere äußere Worte, ebenso wie auch unsere Enthusiasten das äußere Wort verdammen und doch selbst nicht schweigen, sondern die Welt vollplappern und -schreiben, gerade als ob der Geist nicht durch die Heilige Schrift oder die mündlichen Worte der Apostel kommen könnte, aber durch ihre Schriften und Worte kommen müsste. Warum unterlassen sie nicht auch ihre Predigt und ihre Schriften, bis der Geist selber in die Leute ohne und vor ihren Schriften kommt, wie sie rühmen, dass er in sie ohne Predigt der Heiligen Schrift gekommen sei? Davon ist jetzt hier nicht weiter zu disputieren, wir haben es anderwärts genug behandelt.90 Denn auch diejenigen, die vor der Taufe glauben oder in der Taufe gläubig werden, haben es durch das äußere, vorausgehende Wort, so wie die Alten, wenn sie zur Vernunft gekommen sind, zuvor gehört

88. Thomas Müntzer (um 1489–1525), von den Reformatoren irrtümlich als Urheber und Führer im Bauernkrieg angesehen. 89. Nach einer Äußerung von Bonifatius VIII. birgt der Papst alle Rechte im Schrein seiner Brust. 90. So z. B. in: »Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament«, 1525.

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haben müssen, dass »Wer da glaubt und getauft wird, der ist selig«,91 auch wenn sie, zunächst ungläubig, erst nach zehn Jahren den Geist und die Taufe kriegen. Cornelius, Apg 10, hatte lange zuvor bei den Juden von dem zukünftigen Messias gehört, wodurch er vor Gott gerecht und sein Gebet und Almosengeben in diesem Glauben angenehm waren, wie Lukas ihn »gerecht und gottesfürchtig«92 nennt. Ohne dieses vorausgehende Wort oder Hören konnte er weder glauben noch gerecht sein. Aber der heilige Petrus musste ihm offenbaren, dass der Messias – an den er bis dahin als zukünftigen geglaubt hatte – nun gekommen sei, damit sein Glaube vom zukünftigen Messias ihn nicht bei den verstockten, ungläubigen Juden gefangen hielt, sondern er wusste, dass er nun durch den gegenwärtigen Messias selig werden konnte und denselben nicht mit den Juden verleugnen noch verfolgen dürfte usw.93 Kurzum: Der Enthusiasmus steckt in Adam und seinen Kindern vom Anfang bis zum Ende der Welt, von dem alten Drachen ihnen mitgegeben und als Gift eingeimpft. Er ist aller Ketzerei – auch des Papsttums und Mohammeds – Ursprung, Kraft und Macht. Darum sollen und müssen wir darauf beharren, dass Gott nicht anders mit uns Menschen handeln will als durch sein äußeres Wort und Sakrament. Alles aber, was ohne dieses Wort und Sakrament vom Geist gerühmt wird, das ist der Teufel. Denn Gott wollte auch Mose erst durch den feurigen Busch und das mündliche Wort erscheinen.94 Und kein Prophet, weder Elia noch Elisa, hat außerhalb oder ohne die Zehn Gebote den Geist erhalten. Und Johannes der Täufer wurde weder ohne das vorausgehende Wort Gabriels empfangen,95 noch hüpfte er ohne Stimme der Maria in seiner Mutter Leib.96 Und der heilige Petrus spricht: »Die Propheten haben nicht aus menschlichem Willen, sondern aus dem Heiligen Geist geweissagt,

91. 92. 93. 94. 95. 96.

Mk 16,16; vgl. WA 26, 154,1–166,8. Apg 10,2. Vgl. Apg 10,34–43. Ex 3,2; 4,1–17. Lk 1,13–20. Lk 1,41.

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Dritter Teil: IX. Bann

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jedoch als die heiligen Menschen Gottes.«97 Aber ohne äußerliche Worte waren sie nicht heilig, viel weniger hätte sie als noch unheilig der Heilige Geist zu reden getrieben. Denn sie waren heilig, spricht er, als der Heilige Geist durch sie redete.

Der Bann Den großen Bann, wie ihn der Papst nennt, halten wir für eine rein weltliche Strafe und er geht uns Kirchendiener nichts an. Aber der kleine, das heißt der rechte christliche Bann ist, dass man offenkundige, hartnäckige Sünder nicht zum Sakrament oder anderer Gemeinschaft der Kirche kommen lassen soll, bis sie sich bessern und die Sünde meiden. Und die Prediger sollen in diese geistliche Strafe bzw. diesen Bann die weltliche Strafe nicht mengen.

Die Weihe und Berufung Wenn die Bischöfe in richtiger Weise Bischöfe sein und sich der Kirche und des Evangeliums annehmen wollten, so könnte man um der Liebe und der Einigkeit willen, jedoch nicht aus Notwendigkeit, einräumen, dass sie uns und unsere Prediger ordinierten und konfirmierten, doch unter Beseitigung allen Schwindels und Scheinwerkes unchristlichen Treibens und Zeremoniells. Da sie nun aber keine rechten Bischöfe sind oder auch nicht sein wollen, sondern weltliche Herren und Fürsten, die weder predigen noch lehren noch taufen noch kommunizieren noch irgendein Werk oder Amt der Kirche treiben wollen, dazu diejenigen, die dieses Amt ausüben, verfolgen und verdammen, darf dennoch die Kirche um ihretwillen nicht ohne Diener bleiben. Darum wollen und sollen wir – wie die alten Vorbilder der Kirche und der Väter uns lehren – selbst tüchtige Personen zu diesem Amt ordinieren. Das haben sie uns nicht zu verbieten oder zu wehren, auch nach ihrem eigenen Recht nicht. Denn ihre Rechte besagen, dass auch diejenigen, die von den Ketzern ordiniert sind, als ordiniert gelten und es bleiben sollen. So wie der heilige Hieronymus von der Kirche

97. Vgl. 2 Petr 1,21.

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

zu Alexandria schreibt, dass sie zuerst ohne Bischöfe durch die Priester und Prediger insgesamt regiert worden ist.98

Die Priesterehe Dass sie die Ehe verboten und den göttlichen Stand der Priester mit ewiger Keuschheit beschwert haben, dazu haben sie weder Befugnis noch Recht gehabt. Sie haben vielmehr wie die antichristlichen, tyrannischen, heillosen Buben gehandelt und dadurch zu allerlei schrecklichen, grauenerregenden, unzähligen Sünden der Unkeuschheit Ursache gegeben, in denen sie noch stecken. Sowenig nun uns oder ihnen Macht gegeben ist, aus einem Mann eine Frau oder aus einer Frau einen Mann zu machen oder den Unterschied der Geschlechter aufzuheben, so wenig haben sie auch Macht gehabt, diese Schöpfung Gottes zu scheiden oder zu verbieten, so dass sie nicht ehrlich und ehelich beieinander wohnen durften. Darum wollen wir in ihren widerwärtigen Zölibat nicht einwilligen, es auch nicht dulden, sondern die Ehe frei haben, wie sie Gott geordnet und gestiftet hat. Wir wollen sein Werk nicht zerreißen noch hindern, denn der heilige Paulus sagt, das sei »eine teuflische Lehre«.99

Die Kirche Wir gestehen ihnen nicht zu, dass sie die Kirche sind, und sie sind es auch nicht. Wir wollen auch nicht hören, was sie unter dem Namen der Kirche gebieten oder verbieten. Denn es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist, nämlich die heiligen Gläubigen und »die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören«.100 Denn so beten die Kinder: »Ich glaube eine heilige, christliche Kirche.« Diese Heiligkeit besteht nicht in Chorhemden, Tonsuren, langen Gewändern und ihren anderen Zeremonien, die von ihnen über die Heilige Schrift hinaus erdichtet worden sind, sondern im Wort Gottes und im rechten Glauben.

98. Vgl. Anm. 35. 99. 1 Tim 4,1.3. 100. Joh 10,3.

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Dritter Teil: XIII. Rechtfertigung

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Wie man vor Gott gerecht wird und die guten Werke Was ich davon bisher und beständig gelehrt habe, weiß ich gar nicht zu verändern, nämlich, dass wir »durch den Glauben« – wie der heilige Petrus sagt101 – ein anderes, neues, reines Herz kriegen und Gott um Christi, unseres Mittlers, willen uns für ganz gerecht und heilig halten will und hält. Obwohl die Sünde im Fleisch noch nicht ganz weg oder tot ist, will er sie doch nicht anrechnen noch wissen. Und auf diesen Glauben, diese Erneuerung und Vergebung der Sünden folgen dann gute Werke. Und was an diesen auch noch sündig ist oder mangelt, soll eben um desselben Christus willen nicht für Sünde oder Mangel angerechnet werden, sondern der Mensch soll ganz – nach Person und seinen Werken – gerecht und heilig heißen und sein, aus lauter Gnade und Barmherzigkeit in Christus, die über uns ausgeschüttet und ausgebreitet sind. Darum können wir das Verdienst unserer Werke nicht viel rühmen, wenn sie ohne Gnade und Barmherzigkeit angesehen werden, sondern – wie geschrieben steht –: »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn.«102 Das heißt, weil er einen gnädigen Gott hat, ist alles gut. Wir sagen auch weiter, dass der Glaube falsch und nicht richtig ist, wenn keine guten Werke folgen.

Die Klostergelübde Weil die Klostergelübde direkt gegen den ersten Hauptartikel streiten, sollen sie schlechthin abgetan sein, denn sie sind es, von denen Christus Mt 24[,5] sagt: »Ich bin Christus, …«103 Denn wer da ein Klosterleben gelobt, der glaubt, dass er ein besseres Leben als der gewöhnliche Christ führt. Und er will durch sein Werk nicht nur sich selber, sondern auch anderen zum Himmel helfen, das heißt, Christus verleugnen. Und sie rühmen aus ihrem heiligen Thomas, dass das Klostergelübde der Taufe gleich sei. Das ist eine Gotteslästerung.

101. Apg 15,9. 102. 1 Kor 1,31; 2 Kor 10,17. 103. Dem stichwortartigen Zitat geht voran: »Es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: …«

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IV. Die Schmalkaldischen Artikel

Die Menschensatzungen Dass die Papisten sagen, Menschensatzungen dienen zur Vergebung der Sünden oder verdienen die Seligkeit, das ist unchristlich und verdammt, wie Christus spricht: »Vergeblich dienen sie mir, weil sie diese Lehren lehren, die nichts als Menschengebote sind«,104 ebenso Tit 1[,14]: »die sich von der Wahrheit abwenden«. Ebenso, dass sie sagen, es sei Todsünde, solche Satzungen zu brechen, ist auch nicht recht. Das sind die Artikel, auf denen ich bestehen muss und bestehen will bis in meinen Tod, so Gott will. Ich weiß darin nichts zu ändern oder nachzugeben. Will aber jemand etwas nachgeben, tue er es auf sein Gewissen. Zuletzt ist noch der Gaukelsack des Papstes übrig von närrischen und kindischen Artikeln wie Kirchweihe, Glockentaufe, Altarsteine taufen und Gevatter dazu bitten, die Patengeschenke geben, usw. Dieses Taufen ist ein Spott und ein Hohn auf die Heilige Taufe, so dass man es nicht dulden darf. Danach das Weihen von Lichtern, Palmen, Osterfladen, Wurzeln, Hafer usw., was doch nicht geweiht genannt noch sein kann, sondern nichts als Spott und Betrug ist. Und des Gaukelwerkes unzählig viel, die wir ihrem Gott und ihnen selbst befehlen anzubeten, bis sie es müde werden. Wir wollen damit unbelästigt sein.

104. Mt 15,9.

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Einleitung Melanchthons »Abhandlung über die Amtsgewalt und die Vorrangstellung des Papstes« (»De potestate et primatu papae tractatus«) stellt eine Ergänzung zum Augsburger Bekenntnis dar, das zwar einen Artikel über die Amtsgewalt der Bischöfe enthält (CA XXVIII, unsere Ausgabe S. 88–96), zur Stellung und Autorität des Papstes jedoch schweigt. Luther hatte das bereits 1530 kritisiert, in der Situation des Augsburger Reichstages war der Verzicht auf explizit papstkritische Äußerungen jedoch durchaus verständlich: Man wollte den Kaiser von der Rechtgläubigkeit des evangelischen Bekenntnisses überzeugen. Die politischen Rücksichten, die im Verhältnis zwischen Kaiser und Papst eine Rolle spielten, sollten dabei nicht im Wege stehen. Diplomatisch gesehen war es daher am klügsten, das Thema auszuklammern. Doch theologisch konnte das auf Dauer nicht befriedigen. Spätestens als Papst Paul III. (1468, 1534–1549) 1536 eine Einladung zu einem Konzil nach Mantua ergehen ließ, mussten die evangelischen Stände offenlegen, welche Rolle sie dem Papst einräumten. Luther äußerte sich in den Schmalkaldischen Artikeln unmissverständlich: Selbst wenn sich der Papst als nur von Menschen erwählter oberster Repräsentant der Christenheit verstünde, brächte er der Kirche mehr Schaden als Nutzen. Einzig Christus sei das Haupt der Kirche. Man werde sich mit den Gegnern in diesem Punkt nicht verständigen können (unsere Ausgabe S. 404– 409). Melanchthon widersprach, indem er seine Unterschrift unter die Artikel mit der Bemerkung versah, dass dem Papst »nach menschlichem Recht« durchaus eine Oberherrschaft zugesprochen werden könne. Es war nun aber kein anderer als Melanchthon, dem im Februar 1537 beim Bundestag in Schmalkalden die Aufgabe übertragen wurde, eine Ergänzung zum Augsburger Bekenntnis über die Stellung des Papstes zu verfassen. Man hatte sich versammelt, um über die Frage der Konzilsbeschickung zu verhandeln. Neben den politischen Vertretern der evangelischen Stände waren auch die angesehensten Theologen vertreten. Diesen gab man den Auftrag, sich angesichts des bevorstehenden Konzils zunächst über das Augsburger Bekenntnis zu besprechen und des Weiteren eine Ergänzung hinsichtlich des

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Papstamtes zu verfassen. Letztgenannte Aufgabe wurde von den Theologen schließlich an Melanchthon delegiert. Die Abhandlung, die er daraufhin verfasste, ließ von seiner zurückhaltenderen Position nichts mehr spüren. Die Frage, ob man theoretisch ein Papsttum »nach menschlichem Recht« anerkennen könnte, berührte er mit keinem Wort. Stattdessen nahm er das vorfindliche Papsttum in den Blick, das sich für seine Vollmachten auf göttliches Recht berief, und charakterisierte es – nicht weniger deutlich als Luther – als »Reich des Antichrist«. Zweifellos trug er damit der papstfeindlichen Stimmung Rechnung, die unter den Evangelischen in Schmalkalden herrschte. Fast entschuldigend schrieb er am 23. Februar: »Ich habe dies etwas schärfer geschrieben, als es sonst meine Gewohnheit ist.« Der »Tractatus« wurde von den anderen Theologen ohne große Diskussion angenommen. Am 24. Februar unterzeichneten sie ein offizielles Bekenntnis zur Augsburger Konfession, zu ihrer Apologie und zu dem von Melanchthon verfassten Traktat über die Stellung des Papstes. Damit war der Traktat für die versammelten Theologen in den Rang einer Bekenntnisurkunde aufgerückt. Im Schlussdokument des Konvents vom 6. März 1537 wird er von den politischen Vertretern offiziell als Ergänzung des Augsburger Bekenntnisses anerkannt. Noch in Schmalkalden verfasste Veit Dietrich eine deutsche Übersetzung. Ihre Überschrift »Von der Gewalt und Obrigkeit des Bapsts, durch die Gelehrten zusammengezogen. Schmalkalden 1537« wurde seit 1553 für die gedruckten Ausgaben als Titel verwendet, Melanchthon hingegen nicht mehr erwähnt. Man vergaß daher seine Verfasserschaft und verstand die Abhandlung lange Zeit als Anhang zu den Schmalkaldischen Artikeln. Von ihrem Ursprung her gehört sie aber zum Augsburger Bekenntnis und hatte von Anfang an Bekenntnisrang, während ein solcher den Schmalkaldischen Artikeln erst im Lauf der Zeit zuwuchs. Ungeachtet des Titels behandelt Melanchthons Schrift nicht nur die Stellung des Papstes, sondern in einem zweiten, kürzeren Teil auch die Amtsgewalt der Bischöfe, besonders ihre Rechtsprechungsbefugnis und ihre Rolle bei der Ordination. Dabei wird ausdrücklich auf das Augsburger Bekenntnis und die Apologie Bezug genommen.

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Einleitung

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Der Übersetzung liegt der lateinische Originaltext zugrunde, der in den »Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche« (BSLK) von Hans Volz ediert wurde.

Literatur: Hans Volz, Luthers Schmalkaldische Artikel und Melanchthons Tractatus de potestate papae. Ihre Geschichte von der Entstehung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Gotha 1931. Ernst Bizer, Zum geschichtlichen Verständnis von Luthers Schmalkaldischen Artikeln, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1955/1956), 61–92.

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Abhandlung über die Amtsgewalt und die Vorrangstellung des Papstes Der römische Bischof maßt sich an, nach göttlichem Recht über allen Bischöfen und Pfarrern zu stehen. Zweitens fügt er auch noch hinzu, dass er nach göttlichem Recht beide Schwerter1 besitze, d. h. dass ihm das Recht zukomme, königliche Herrschaft zuzuteilen und von einem auf den anderen zu übertragen. Drittens sagt er, dass man diese beiden Sätze glauben müsse, um gerettet zu werden. Und aus diesen Gründen nennt sich der römische Bischof Stellvertreter Christi auf Erden. Wir sind der Ansicht und bekennen, dass diese drei Sätze falsch, gottlos, tyrannisch und schädlich für die Kirche sind. [Widerlegung des ersten Satzes: Zur Vorrangstellung des römischen Bischofs] Damit aber diese unsere Feststellung verstanden werden kann, wollen wir zunächst festhalten, was unsere Gegner darunter verstehen, wenn sie sagen, dass der Papst nach göttlichem Recht über allen Bischöfen stehe. Sie verstehen nämlich darunter, dass der Papst der Bischof aller sei und, wie sie es nennen, der Bischof der ganzen Christenheit auf Erden (episcopus oecumenicus). Das bedeutet, dass alle Bischöfe und Pfarrer auf der ganzen Erde ihre Ordination und ihre Bestätigung von ihm erbitten müssen, dem allein das Recht zukomme, alle Bischöfe zu wählen, zu ordinieren, zu bestätigen und abzusetzen. Zudem maßt er sich das Recht an, Gesetze zu erlassen, und zwar solche, die den Gottesdienst betreffen, solche, durch die die Sakramente verändert werden, und solche, die sich auf die Lehre beziehen. Er will auch, dass seine Sätze, seine Erlasse und seine Gesetze für Glaubenssätze und für Gebote Gottes gehalten werden, an die das Gewissen gebunden ist, denn er schreibt sich diese Amtsgewalt nach göttlichem Recht zu, ja er will sogar, dass man seine Sätze den Geboten Gottes vorzieht.

1. Die sog. Zweischwertertheorie, der zufolge der Papst sowohl über das geistliche als auch über das weltliche Schwert – im Sinne von: Amtsgewalt – verfügt, wird insbesondere in der Bulle »Unam sanctam« von Bonifatius VIII. aus dem Jahr 1302 vertreten (Corpus Iuris Canonici, Extravagantes Communes 1. 8. 1 [ed. Emil Friedberg, Leipzig 1879–1881, im Folgenden kurz: Friedberg 2, 1245f]; DH 873).

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Und noch schlimmer ist, dass er hinzufügt, man müsse dies alles glauben, um gerettet zu werden [Argumente aus dem Neuen Testament] I. Wir wollen also zuerst aus dem Evangelium nachweisen, dass der römische Bischof nach göttlichem Recht nicht über anderen Bischöfen oder Pfarrern steht. In Lk 22[,24–27] verbietet Christus ausdrücklich, dass einer unter den Aposteln über die anderen herrsche. Denn nachdem Christus seinen Leidensweg angekündigt hatte, drehte sich die Frage genau darum: Sie diskutierten, wer dann zukünftig an der Spitze stehen und gewissermaßen der Stellvertreter des abwesenden Christus sein werde. Christus weist darauf diesen Irrtum der Apostel zurück und belehrt sie, dass es unter ihnen keine Herrschaft oder Vorrangstellung geben werde, sondern dass die Apostel als Gleichberechtigte zum gemeinsamen Dienst am Evangelium ausgesandt werden sollten. Deshalb sagt er: »Die Könige der Heiden herrschen über ihre Völker. Ihr aber nicht so! Sondern wer unter euch größer sein will, der sei euer Diener.«2 Die Gegenüberstellung zeigt hier an, dass Herrschaft zurückgewiesen werden soll. Dasselbe lehrt das Gleichnis,3 wenn Christus in demselben Gespräch über Herrschaft ein Kind in die Mitte stellt, um zu zeigen, dass es keinen Vorrang unter den Dienern am Evangelium geben wird, so wie auch ein Kind sich keinen Vorrang herausnimmt oder erstrebt. II. In Joh 20[,21] sendet Christus die Apostel in gleicher Weise ohne Rangunterschied aus, indem er sagt: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich auch euch.« Er sagt, auf dieselbe Weise sende er jeden Einzelnen aus, wie er selbst gesandt worden sei; er schreibt daher niemandem einen Vorzug oder eine Herrschaft über die Übrigen zu. III. In Gal 2[,2] bekräftigt Paulus klar und deutlich, dass er weder von Petrus in sein Amt eingesetzt noch von ihm bestätigt worden sei, und er erkennt Petrus nicht als jemanden an, von dem eine Bestätigung eingeholt werden müsse. Und ausdrücklich kämpft er gerade darum, dass seine Berufung nicht von der Autorität des Petrus abhänge. Er 2. Lk 22,25f; Mt 20,26. 3. Mt 18,1–4.

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hätte aber Petrus als Höherstehenden anerkennen müssen, wenn Petrus nach göttlichem Recht höhergestellt gewesen wäre. Deshalb sagt Paulus, dass er sofort das Evangelium gelehrt habe, ohne sich vorher mit Petrus beraten zu haben. Ebenso sagt er: »Es liegt mir nichts daran, was jene [früher] waren, die etwas zu gelten scheinen; denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht.« Und: »Diejenigen, die etwas zu gelten schienen, legten mir keine Gebote auf.«4 Wenn Paulus also klar und deutlich erklärt, dass er nicht einmal die Bestätigung des Petrus habe suchen wollen, auch als er zu ihm gekommen sei, lehrt er damit, dass die Vollmacht des Verkündigungsdienstes vom Wort Gottes abhängt, dass Petrus nicht höher stand als die übrigen Apostel und dass die Beauftragung und Bestätigung für diesen Dienst nicht einzig bei Petrus eingeholt werden muss. IV. In 1 Kor 3[,5–8] stellt Paulus alle Diener am Evangelium gleich und lehrt, dass die Gemeinde über ihren Dienern steht. Es wird daher Petrus keine Vorrangstellung oder Herrschaft über die Gemeinde oder die übrigen Diener am Evangelium eingeräumt. Paulus schreibt nämlich: »Alles ist euer, es sei Paulus oder Kephas oder Apollos«,5 das bedeutet: Weder die übrigen Diener noch Petrus sollen sich die Herrschaft oder die Vorrangstellung über die Gemeinde anmaßen. Sie sollen die Gemeinde nicht mit Vorschriften belasten, und es soll keines Menschen Vollmacht mehr gelten als das Wort [Gottes], auch soll die Vollmacht des Kephas nicht der Vollmacht der anderen Apostel entgegengestellt werden, wie man zu jener Zeit argumentierte: Kephas hält dies ein, welcher der höhergestellte Apostel ist, also sind auch Paulus und die Übrigen verpflichtet, es einzuhalten. Paulus entzieht Petrus dieses Ansehen, und er bestreitet, dass seine Vollmacht der der anderen und der Gemeinde vorzuziehen sei. 1 Petr 5[,3]: »Nicht als Herren über die Gemeinde.«

4. Gal 2,6. 5. 1 Kor 3,22.

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Argumente aus der Kirchengeschichte V. Das Konzil von Nicäa hat beschlossen, dass der Bischof von Alexandrien Sorge trage für die Kirchen im Osten und der Bischof von Rom Sorge trage für die Kirchen, die sich in der Nähe Roms befanden, d. h. für die, die im Westen, in den römischen Provinzen lagen.6 Hierdurch erfuhr die Autorität des römischen Bischofs erstmals durch menschliches Recht, d. h. durch die Anordnung eines Konzils, einen Zuwachs. Wenn der römische Bischof nach göttlichem Recht bereits eine Vorrangstellung besessen hätte, dann wäre es dem Konzil nicht erlaubt gewesen, ihm etwas von seinem Recht zu entziehen und auf den Bischof von Alexandrien zu übertragen. Vielmehr hätten alle Bischöfe des Ostens ihre Ordination und ihre Bestätigung immer vom römischen Bischof erbitten müssen. VI. Ebenso hat das Konzil von Nizäa beschlossen, dass die Bischöfe von ihren eigenen Gemeinden in Gegenwart eines oder mehrerer Bischöfe aus der Nachbarschaft gewählt werden sollten.7 Das wurde auch im Westen und in den lateinischsprachigen Gemeinden eingehalten, wie es Aussagen von Cyprian und Augustin8 belegen. Cyprian sagt nämlich im 4. Brief an Cornelius:9 »Deshalb ist nach göttlicher Tradition und nach apostolischem Brauch sorgfältig zu bewahren und zu beachten, was auch bei uns und in beinahe allen Provinzen eingehalten wird, dass nämlich zur ordnungsgemäßen Feier der Ordination eines Bischofs alle benachbarten Bischöfe derselben Provinz in der Gemeinde zusammenkommen sollen, für die ein Vorsteher ordiniert wird, und der Bischof in Gegenwart der Gemeinde gewählt werden soll, die den Lebenswandel jedes Einzelnen am besten beurteilen

6. Konzil von Nicäa (325), can. 6 (PL 56, 827; COD 1, 8f); die gebrauchte Formulierung (ecclesiae suburbanae) entstammt allerdings der lateinischen Übersetzung in der Kirchengeschichte Rufins von Aquileia: Eusebii historia ecclesiastica translata et continuata X, 6 (PL 21, 473; GCS 9/2 = N.F. 6/2, 967,1: ecclesiae suburbicariae). 7. Konzil von Nicäa, can. 4 (PL 56, 826; COD 1, 7); Rufin: Eusebii historia ecclesiastica translata et continuata X, 6 (PL 21, 473; GCS 9/2 = N.F. 6/2, 966,13–16). 8. Augustin, De baptismo II, 2,3 (PL 43, 128; CSEL 51, 177); ders., Epistula 213 (PL 33, 966–968; CSEL 57, 372–379). 9. Cyprian von Karthago, Epistula 67 (CChr.SL 3C, 454,99–455,110).

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kann. So ist es – wie wir sehen – auch bei euch bei der Ordination des Sabinus, eines unserer Kollegen, geschehen: Ihm wurden gemäß der Wahl aller Brüder und laut dem Urteil der Bischöfe, die sich hier versammelt hatten, das Bischofsamt übertragen und die Hände aufgelegt.« Diese Sitte nennt Cyprian eine göttliche Tradition und einen apostolischen Brauch und unterstreicht, dass sie beinahe in allen Provinzen eingehalten wurde. Wenn also im größten Teil der Welt, in griechisch- wie in lateinischsprachigen Gemeinden, weder die Ordination noch die Bestätigung von dem römischen Bischof erbeten wurde, ist ganz offensichtlich, dass die Gemeinden dem Bischof von Rom damals weder eine Vorrangstellung noch eine Herrschaft zumaßen. VII. Eine solche Vorrangstellung ist auch ganz und gar unmöglich. Es ist nämlich völlig unmöglich, dass ein einziger Bischof die Aufsicht über alle Gemeinden auf der ganzen Welt innehat oder dass Gemeinden, die sehr weit entfernt liegen, die Ordination von nur einem Bischof erbitten. Es steht nämlich fest, dass das Reich Christi über die ganze Erde ausgebreitet ist, und auch heute noch gibt es viele Gemeinden im Osten, die weder die Ordination noch die Bestätigung vom römischen Bischof erbitten. Weil eine solche Vorrangstellung ganz und gar unmöglich ist, sie niemals üblich war und sie die meisten Gemeinden auf der Welt überhaupt nicht anerkannten, ist ganz offensichtlich, dass sie niemals [von Gott] eingesetzt wurde. VIII. Viele Konzilien der alten Zeit sind einberufen und durchgeführt worden, auf denen der römische Bischof nicht den Vorsitz innehatte, wie beispielsweise das Konzil von Nicäa und die meisten anderen. Dies belegt ebenfalls, dass die Kirche damals die Vorrangstellung oder die Oberherrschaft des römischen Bischofs nicht anerkannte. IX. Hieronymus sagt:10 »Wenn es um Autorität geht, gilt der Erdkreis mehr als die Stadt [Rom]. Wo immer es einen Bischof gegeben hat, sei es in Rom, in Gubbio, in Konstantinopel, in Reggio oder Alexandrien – immer besitzt er denselben Rang und dasselbe Priesteramt. 10. Hieronymus, Epistula 146 (PL 22, 1194; CSEL 56, 310,17); Corpus Iuris Canonici, Decretum Gratiani p. I d. 93 c. 24 (Friedberg 1, 328).

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Nur die Wirkungsmöglichkeiten des Reichtums und die Ohnmacht der Armut machen den einen höher und den anderen niedriger.« X. In seinem Schreiben an den Patriarchen von Alexandrien verbietet [Papst] Gregor, Bischof der ganzen Christenheit genannt zu werden.11 Und in den Regesten12 sagt er, auf dem Konzil von Chalcedon sei dem römischen Bischof die Vorrangstellung angetragen worden, er habe sie aber dennoch nicht angenommen. XI. Schließlich, wie kann der Papst nach göttlichem Recht über der ganzen Kirche stehen, obwohl ihn doch die Kirche wählt und sich allmählich die Sitte durchgesetzt hat, dass die römischen Bischöfe von den Kaisern bestätigt wurden? Weiter, nachdem lange Zeit zwischen dem Bischof von Rom und dem Bischof von Konstantinopel Streit um die Vorrangstellung geherrscht hatte, beschloss am Ende Kaiser Phokas, dass dem römischen Bischof die Vorrangstellung zukommen solle. Wenn aber die Alte Kirche die Vorrangstellung des römischen Bischofs bereits zuvor anerkannt hätte, hätte es nie zu diesem Streit kommen können und wäre kein kaiserliches Dekret nötig gewesen. [Argumente der Gegner] Aber die Gegner führen bestimmte Bibelstellen ins Feld, nämlich: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen.«13 Und: »Ich will dir die Schlüssel geben.«14 Und: »Weide meine Schafe!«15 und gewisse andere. Da aber die ganze Auseinandersetzung um diese Stellen andernorts in den Büchern der Unsrigen ausführlich und genau behandelt worden ist und hier nicht alles wiederholt werden kann, verweisen wir nur auf jene Schriften und machen sie uns von Neuem zu eigen. Dennoch wollen wir zu der Auslegung dieser Verse eine kurze Antwort geben. 11. Gregor d. Gr., Registrum epistularum liber VIII, 29 (PL 77, 933; CChr.SL 140A, 552,49–553,2); Corpus Iuris Canonici, Decretum Gratiani p. I d. 99 c. 5 (Friedberg 1, 351). 12. Gregor d. Gr., Registrum epistularum liber V, 41 (PL 77, 771; CChr.SL 140, 321,26–36). 13. Mt 16,18. 14. Mt 16,19. 15. Joh 21,17.

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An allen diesen Stellen repräsentiert Petrus die Gesamtheit der Apostel, wie der Text selbst zeigt. Denn Christus fragt nicht die eine Person Petrus, sondern er sagt: »Wer sagt denn ihr, dass ich sei?«16 Und was hier in der Einzahl gesagt wird: »Ich will dir die Schlüssel geben«, »Alles, was du binden wirst«17, das wird an anderer Stelle in der Mehrzahl gesagt: »Alles, was ihr binden werdet« usw.18 Und im Johannesevangelium: »Welchen ihr die Sünden erlasst« usw.19 Diese Worte bezeugen, dass allen Aposteln in gleicher Weise die Schlüssel anvertraut und sie alle auf gleiche Weise ausgesandt werden. Außerdem muss man notwendigerweise zugeben, dass die Schlüssel nicht zu der Person eines bestimmten Menschen gehören, sondern zur Kirche, wofür es viele sehr klare und starke Argumente gibt. Denn wenn Christus von den Schlüsseln redet, fügt er in Matthäus 18[,19f] hinzu: »Wo zwei oder drei eins werden auf Erden« usw. Er teilt die Schlüssel also der Kirche grundsätzlich und unmittelbar zu, und aus diesem Grund hat die Kirche auch grundsätzlich das Recht, Diener am Evangelium zu berufen. Folglich müssen jene Stellen zwingend so gemeint sein, dass Petrus die Gesamtheit der Apostel repräsentiert. Sie schreiben Petrus daher keinerlei Auszeichnung oder Vorrangstellung oder Herrschaft zu. Wenn es aber heißt: »Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen«, dann meint dies gewiss, dass die Kirche nicht auf die Autorität eines Menschen gebaut ist, sondern auf den Dienst an jenem Bekenntnis, welches Petrus abgelegt hatte und mit dem er ausdrückt, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes, ist. Deshalb spricht Christus ihn als Diener an: »Auf diesen Felsen«, das meint: auf diesen Dienst. Ferner ist der Dienst des Neuen Bundes nicht an Orte und Personen gebunden wie der Dienst der Leviten,20 sondern er ist auf der ganzen Welt verbreitet. Es gibt ihn dort, wo Gott seine Gaben gibt, das heißt Apostel, Propheten, Hirten und Lehrer gibt.21 Jener Dienst ist nicht wegen der Autorität irgendeiner Person von Bedeutung, sondern we-

16. 17. 18. 19. 20. 21.

Mt 16,15. Mt 16,19. Mt 18,18. Joh 20,23. Vgl. z. B. Num 1,49–53; 3,7–9; 18,2–6. Eph 4,8.11.

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gen der Verkündigung, die Christus aufgetragen hat. Und genau so haben sehr viele der Kirchenväter jenen Satz »Auf diesen Felsen ...« ausgelegt und ihn nicht auf eine Person oder auf die Vorrangstellung des Petrus bezogen, beispielsweise Origenes,22 Ambrosius,23 Cyprian,24 Hilarius,25 Beda.26 So sagt Chrysostomus:27 »›Auf diesen Felsen‹, sagt er und nicht: ›Auf Petrus‹. Denn nicht auf einen Menschen, sondern auf den Glauben des Petrus hat er seine Kirche erbaut. Was aber war der Glaube? ›Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.‹« Hilarius schreibt: »Der Vater hat es Petrus offenbart, so dass er sprach: ›Du bist der Sohn des lebendigen Gottes.‹ Auf diesem Felsen des Bekenntnisses steht also der Bau der Kirche. Dieser Glaube ist das Fundament der Kirche.« Und daraus, dass gesagt wird: »Weide meine Schafe«28, sowie: »Hast du mich lieber, als mich diese haben?«29, folgt noch lange nicht, dass Petrus eine besondere Vorrangstellung übertragen worden wäre. Er befiehlt ihm nämlich zu weiden, d. h. das Wort zu predigen oder die Kirche durch das Wort [Gottes] zu leiten, welches Petrus gemeinsam mit den übrigen Aposteln zukommt. [Widerlegung des zweiten Satzes: Zur Zweischwertertheorie] Der zweite Satz ist noch leichter zu durchschauen als der erste, denn Christus hat den Aposteln nur eine geistliche Amtsgewalt gegeben, nämlich den Auftrag, das Evangelium zu predigen, die Vergebung der Sünden zu verkündigen, die Sakramente zu verwalten und die Gottlosen ohne körperliche Gewalt zu exkommunizieren. Und er hat ihnen nicht die Amtsgewalt gegeben, das Schwert zu führen, oder das Recht, 22. Origenes, Commentarii in Matthaeum XII, 11 (PG 13, 1000–1005; GCS 40, 86,15–89,34). 23. In einem unter dem Namen des Ambrosius von Mailand überlieferten Kommentar zu den Paulusbriefen, dem sog. Ambrosiaster, Commentarius in epistulam ad Ephesios II, 20 (PL 17, 380; CSEL 81/3, 85,23–86,9). 24. Cyprian von Karthago, De ecclesiae catholicae unitate 4 (PL 4, 498–501; CChr. SL 3, 251,71–252,116). 25. Hilarius von Poitiers, De trinitate VI, 36f (PL 10, 186f; CChr.SL 62, 240,26– 241,2). 26. Beda Venerabilis, In Matthaei evangelium expositio III, 16 (PL 92, 78f). 27. Johannes Chrysostomus, In pentecosten sermo I (PG 52, 806f). 28. Joh 21,17. 29. Joh 21,15.

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weltliche Herrschaft zu errichten, zu beanspruchen oder zuzuteilen. Christus sagt nämlich: »Gehet hin und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.«30 Und: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.«31 Es steht aber fest, dass Christus nicht gesandt wurde, um das Schwert zu führen oder weltliche Herrschaft auszuüben, wie er selbst sagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«32 Und Paulus sagt: »Nicht dass wir Herren wären über euren Glauben.«33 und: »Die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich«34 usw. Dass also Christus in seinem Leiden mit Dornen gekrönt und zum Spott im königlichen Purpurgewand vorgeführt wird, hat die Bedeutung, dass das geistliche Reich einst verachtet, d. h. das Evangelium unterdrückt und ein anderes, weltliches Reich unter dem Vorwand kirchlicher Vollmacht errichtet werden würde. Deshalb sind die Bulle Bonifatius’ VIII.35 und das Kapitel »Omnes«, Distinktion 22 im Decretum Gratiani36 und ähnliche Sätze kirchlichen Rechts, die behaupten, der Papst sei nach göttlichem Recht ein Herrscher über die Königreiche der Welt, falsch und gottlos. Durch diese Meinung sind schreckliche Finsternisse über die Kirche gebracht und schließlich auch große Erschütterungen in Europa verursacht worden. Den Dienst am Evangelium hat man nämlich vernachlässigt. Die Erkenntnis des Glaubens und des geistlichen Reichs wurde ausgelöscht, man glaubte, die christliche Gerechtigkeit sei jene äußere politische Verfassung, die der Papst aufgerichtet hatte. Sodann begannen die Päpste, Herrschaftsgebiete an sich zu reißen, sie übertrugen Königreiche, sie quälten die Könige so gut wie aller Nationen Europas mit ungerechtfertigten Exkommunikationen und Kriegen, am meisten aber die deutschen Kaiser, das eine Mal, um italienische

30. 31. 32. 33. 34. 35.

Mt 28,19f. Joh 20,21. Joh 18,36. 1 Kor 1,24. 1 Kor 10,4. Bulle »Unam sanctam« von Bonifatius VIII. aus dem Jahr 1302 (Corpus Iuris Canonici, Extravagantes Communes 1. 8. 1 [Friedberg 2, 1245f]; DH 870–875). 36. Corpus Iuris Canonici, Decretum Gratiani p. I d. 22 c. 1 (Friedberg 1, 73). – Das Dekret Gratians ist eine in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts von dem Kamaldulensermönch Johannes Gratian in Bologna veranstaltete Sammlung von Kirchenrechtsquellen; sie wurde Teil der offiziellen Kirchenrechtssammlung »Corpus Iuris Canonici«.

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Städte in Besitz zu nehmen, das andere Mal, um die deutschen Bischöfe unter ihre Knechtschaft zu bringen und den Kaisern das Besetzungsrecht zu entreißen. Ja, es steht sogar auch in den Clementinen,37 »dass der Papst der legitime Nachfolger sei, wenn der Kaiserthron gerade vakant ist«. So hat der Papst nicht nur entgegen dem Gebot Christi Herrschaft an sich gerissen, sondern er hat sich auch wie ein Tyrann allen Königen vorangestellt. Und an dieser Sache ist nicht nur die Tatsache an sich zu rügen, sondern mehr als das ist ganz und gar abscheulich, dass er die Autorität Christi vorschützt, dass er die Schlüsselgewalt auf weltliche Herrschaft überträgt und dass er das Heil an solche gottlose und ruchlose Meinungen bindet, wenn er sagt, dass es heilsnotwendig sei zu glauben, dass dem Papst diese Herrschaft nach göttlichem Recht zukomme. Weil diese so schwerwiegenden Irrtümer den Glauben und das Reich Christi verdunkeln, darf man auf keine Weise über sie hinwegsehen. Das Ergebnis zeigt nämlich, dass sie der Kirche großes Unheil gebracht haben. [Widerlegung des dritten Satzes: Zur Gehorsamsforderung des Papstes] An dritter Stelle ist Folgendes hinzuzufügen: Selbst wenn der römische Bischof nach göttlichem Recht die Vorrangstellung und die Oberherrschaft besäße, würde dennoch niemand denjenigen Päpsten Gehorsam schulden, die frevelhafte Gottesdienste, Götzendienst und eine Lehre, die dem Evangelium widerstreitet, verteidigen. Vielmehr sind solche Päpste und ein solches Reich so zu betrachten, als wären sie verflucht. So lehrt Paulus klar und deutlich: »Wenn ein Engel vom Himmel ein Evangelium predigen würde, das anders ist, als ich es euch gepredigt habe, der sei verflucht.«38 Und in der Apostelgeschichte steht: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.«39 Dasselbe lehrt auch das kirchliche Recht ganz klar: Einem häretischen Papst darf man nicht gehorchen.40 Der levitische Hohepriester war nach göttlichem Recht der höchste Priester, und dennoch musste man gottlosen Hohepries-

37. Eine von Papst Clemens V. veranstaltete Rechtssammlung, Teil des »Corpus Iuris Canonici«: Constitutiones Clementis V. 2. 11. 2 (Friedberg 2, 1153). 38. Gal 1,8. 39. Apg 5,29. 40. Corpus Iuris Canonici, Decretum Gratiani p. I d. 40 c. 6 (Friedberg 1, 146).

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tern nicht gehorchen, wie man daran sieht, dass Jeremia und andere Propheten den Hohepriestern widersprachen. Die Apostel widersprachen Kaiphas und mussten ihm nicht gehorchen.41 Es steht aber fest, dass die römischen Bischöfe samt ihren Anhängern gottlose Lehre und gottlose Gottesdienste verteidigen. Und die Kennzeichen des Antichrist42 treffen auf das Reich des Papstes und seine Anhänger durchaus zu. Denn wenn Paulus in dem Brief an die Thessalonicher den Antichrist beschreibt, nennt er ihn einen »Widersacher Christi, der sich über alles erhebt, was Gott genannt oder als Gott verehrt wird, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt, als wäre er Gott«.43 Er spricht also von jemandem, der in der Kirche regiert, nicht von heidnischen Königen, und diesen nennt Paulus »Widersacher Christi«, weil er sich eine Lehre ausdenken werde, die dem Evangelium widerspricht, und der wird sich die göttliche Autorität anmaßen. Zuerst steht aber fest, dass der Papst in der Kirche regiert und sich unter dem Vorwand von kirchlicher Autorität und Dienst diese Herrschaft geschaffen hat. Er schützt nämlich die Worte vor: »Ich will dir die Schlüssel geben.«44 Des Weiteren widerspricht die Lehre des Papstes auf vielfache Weise dem Evangelium, und der Papst maßt sich die göttliche Autorität gleich dreifach an: erstens, weil er sich das Recht nimmt, die Lehre Christi und die von Gott eingerichteten Gottesdienste zu verändern, und will, dass seine Lehre und seine Gottesdienste so eingehalten werden, als wären sie göttlich. Zweitens, weil er sich nicht nur die Vollmacht nimmt, in diesem Leben zu lösen und zu binden, sondern sich auch ein Recht über die Seelen nach diesem Leben anmaßt. Drittens, weil der Papst weder von der Kirche noch von irgendjemandem sonst beurteilt werden will und seine Autorität über das Urteil der Konzilien und der ganzen Kirche stellt. Aber weder von der Kirche noch von irgendjemandem sonst beurteilt werden zu wollen, das heißt, sich selbst zu Gott zu machen. Schließlich verteidigt er diese so grässlichen Irrtümer und diese Gottlosigkeit mit höchster Grausamkeit und bringt Andersdenkende um.

41. Apg 4,1–22. 42. Zum Papst als Antichrist siehe oben S. 407, Anm. 43 zu den Schmalkaldischen Artikeln. 43. 2 Thess 2,4. 44. Mt 16,19.

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Weil sich dies so verhält, müssen sich alle Christen davor hüten, Teilhaber der gottlosen Lehre, der Gotteslästerungen und der ungerechten Grausamkeit des Papstes zu werden. Deshalb müssen sie den Papst mit seinem Anhang als Reich des Antichrist verlassen und verfluchen, wie Christus befohlen hat: »Seht euch vor vor den falschen Propheten!«45 Und Paulus befahl, man müsse gottlose Lehrer meiden46 und sie seien zu verfluchen als Verdammte. Und im zweiten Korintherbrief, Kapitel 6,[14] sagt er: »Zieht nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen. Denn was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis?« Von dem einhelligen Urteil so vieler Völker abzuweichen und als Schismatiker bezeichnet zu werden ist schwer. Aber die göttliche Autorität befiehlt allen, nicht Genossen und Beschützer der Gottlosigkeit und der ungerechten Grausamkeit zu sein. Daher sind unsere Gewissen ausreichend entschuldigt. Die Irrtümer der Herrschaft des Papstes sind nämlich offensichtlich. Und die Schrift schreit mit lauter Stimme, dass jene Irrtümer die Lehre der Dämonen und des Antichrist sind. Offenkundig ist der Götzendienst bei der Entheiligung der Messen, die neben anderen Fehlern auch noch schamlos für schändlichsten Gewinn missbraucht werden. Die Lehre von der Buße ist vom Papst und seinen Anhängern völlig entstellt worden. Sie lehren nämlich, dass die Sünden wegen der Würdigkeit unserer Werke vergeben werden. Sodann befehlen sie, daran zu zweifeln, ob die Vergebung tatsächlich erlangt worden sei. Mit keinem Wort lehren sie, dass die Sünden umsonst um Christi willen vergeben werden und dass wir durch diesen Glauben Vergebung der Sünden erlangen. So verdunkeln sie die Ehre Christi und rauben den Gewissen ihren festen Trost und zerstören die wahren Gottesdienste, nämlich die Übung des Glaubens, der mit der Verzweiflung ringt. Sie haben die Lehre von der Sünde verdunkelt und haben die Vorschrift erfunden, alle Sünden aufzuzählen, die viele Irrtümer und Verzweiflung hervorbringt. Sie haben Genugtuungsleistungen hinzugedichtet, durch welche sie die Wohltat Christi ebenfalls verdunkeln. Daraus sind die Ablässe entstanden, die eine reine Lüge darstellen, erfunden um des Gewinnes willen. Wie viele Missbräuche und 45. Mt 7,15. 46. Tit 3,10.

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welch schrecklicher Götzendienst sind schließlich aus der Anrufung der Heiligen entstanden? Wie viele Schandtaten rühren von der Vorschrift des Zölibates her? Wie sehr hat die Lehre von den Mönchsgelübden das Evangelium verfinstert? Diesbezüglich haben sie vorgegeben, dass die Gelübde vor Gott gerecht machten und die Vergebung der Sünden verdienten. So haben sie die Wohltat Christi in menschliche Vorschriften verwandelt und die Lehre vom Glauben völlig ausgelöscht. Sie gaben vor, dass völlig unsinnige Traditionen Gottesdienste und Vollkommenheit seien, und sie stellten sie über die Werke der Berufungen, die Gott fordert und angeordnet hat. Und diese Irrtümer sind nicht leicht zu nehmen, denn sie verletzen die Ehre Christi und bringen den Seelen Verderben. Man darf nicht über sie hinwegsehen. Zu diesen Irrtümern kommen ferner zwei ungeheure Sünden. Erstens, dass der Papst jene Irrtümer mit ungerechter Grausamkeit und Hinrichtungen verteidigt. Zweitens, dass er der Kirche das Recht zum Urteilen raubt und nicht zulässt, dass kirchliche Streitfragen rechtmäßig beurteilt werden, ja sogar behauptet, dass er über dem Konzil stehe und Entscheidungen der Konzilien aufheben könne, was die Sätze kirchlichen Rechts bisweilen unverschämter Weise sagen. Beispiele belegen aber, dass die Päpste dies noch weit unverschämter betrieben haben. Im Decretum Gratiani steht im neunten Kapitel in der dritten Quaestio der Satz: »Niemand darf den höchsten Stuhl richten; der Richter wird nämlich weder vom Kaiser noch vom gesamten Klerus noch von Königen noch vom Volk gerichtet.«47 So übt der Papst eine doppelte Tyrannei aus: Er verteidigt seine Irrtümer mit aller Gewalt und Hinrichtungen und verbietet eine gerichtliche Untersuchung. Das Letztere schadet noch mehr als jede Hinrichtung. Denn wenn der Kirche erst einmal das rechte Urteilsvermögen weggenommen wurde, können gottlose Lehrsätze und gottlose Gottesdienste nicht mehr aufgehoben werden und richten viele Jahrhunderte lang unzählige Seelen zugrunde. Es sollen also gottesfürchtige Menschen diese großen Irrtümer der päpstlichen Herrschaft und Tyrannei erwägen und zuerst bedenken, dass die Irrtümer abgeschafft werden müssen und die wahre Lehre um

47. Corpus Iuris Canonici, Decretum Gratiani p. II C. 9 q. 3 c. 13 (Friedberg 1, 610).

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der Ehre Gottes und des Heils der Seelen willen angenommen werden muss. Zweitens sollen sie auch bedenken, welch Verbrechen es darstellt, die ungerechte Grausamkeit zu unterstützen, wenn die Frommen umgebracht werden, deren Blut Gott zweifellos rächen wird. Vor allem aber müssen die durch ihre Stellung hervorgehobenen Glieder der Kirche, Könige und Fürsten, der Kirche helfen und dafür sorgen, dass die Irrtümer beseitigt und die Gewissen geheilt werden. So ermahnt Gott ausdrücklich die Könige: »So seid nun verständig, ihr Könige, und lasst euch belehren, ihr Richter auf Erden!«48 Es muss nämlich die erste Sorge der Könige sein, die Ehre Gottes zu fördern. Deshalb wäre es sehr schändlich, wenn sie ihre Autorität und ihre Macht darauf richteten, den Götzendienst und die übrigen unzähligen Schandtaten zu bestärken und die Heiligen zu ermorden. Und selbst wenn der Papst Konzilien einberufen würde, wie kann die Kirche geheilt werden, wenn der Papst eine Entscheidung gegen seinen Willen nicht dulden will, wenn er niemandem zugestehen möchte, seine Meinung zu sagen – außer seinem Anhang, den er durch schreckliche Eidesschwüre und Verwünschungen dazu verpflichtet hat, seine Tyrannei und seine Gottlosigkeit zu verteidigen, ohne dass das Wort Gottes ausgenommen wäre? Da aber Urteile der Konzilien Urteile der Kirche und nicht Urteile der Päpste sind, ist es vor allem die Aufgabe der Könige, die Willkür der Päpste zu zügeln und darauf hinzuwirken, dass die Kirche nicht der Fähigkeit beraubt wird, aus dem Wort Gottes heraus zu urteilen und Entscheidungen zu treffen. Und wie auch die übrigen Christen alle anderen Irrtümer des Papstes tadeln müssen, so müssen auch sie den Papst zurechtweisen, wenn er die wahre Erkenntnis und das wahre Urteil der Kirche flieht und verhindert. Daraus folgt: Selbst wenn dem römischen Bischof nach göttlichem Recht eine Vorrangstellung zukäme, schuldet man ihm dennoch keinen Gehorsam, da er die gottlosen Gottesdienste und die Lehre, die dem Evangelium widerspricht, verteidigt. Vielmehr muss man ihm wie dem Antichrist Widerstand leisten. Die Irrtümer des Papstes sind offenkundig und schwerwiegend. Offenkundig ist auch die Grausamkeit, die er an den frommen Christen

48. Ps 2,10.

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verübt. Und es steht fest, dass es Gottes Gebot ist, uns vom Götzendienst, von gottloser Lehre und ungerechter Grausamkeit fernzuhalten. Daher haben alle Frommen starke, zwingende und offenkundige Gründe dafür, dem Papst nicht zu gehorchen. Und diese notwendigen Gründe trösten die Frommen über alle lautstarken Beschimpfungen hinweg, die man ihnen mit Verweis auf Ärgernisse, Schisma und Uneinigkeit entgegenzuwerfen pflegt. Diejenigen aber, die mit dem Papst einer Meinung sind und seine Lehre und seine Gottesdienste verteidigen, beschmutzen sich mit Götzendienst und gotteslästerlichen Meinungen, werden schuldig am Blut der Frommen, die der Papst verfolgt, verletzen Gottes Ehre und verhindern das Heil der Kirche, weil sie Irrtümer und andere Schandtaten für alle Zukunft bekräftigen.

Über die Amtsgewalt und die Rechtsprechungsbefugnis der Bischöfe Im Augsburger Bekenntnis und seiner Apologie haben wir bereits dargelegt, was über die kirchliche Amtsgewalt sinnvollerweise im Allgemeinen gesagt werden musste.49 Das Evangelium erteilt nämlich denjenigen, die den Gemeinden vorstehen, den Auftrag, das Evangelium zu predigen, die Sünden zu vergeben und die Sakramente zu verwalten. Außerdem schreibt es ihnen die Rechtsprechungsbefugnis zu, das ist die Aufgabe, diejenigen zu exkommunizieren, deren Vergehen bekannt sind, und denjenigen wiederum die Absolution zu erteilen, die zur Einsicht gekommen sind. Und nach Aussage aller, auch unserer Widersacher, gehört diese Vollmacht nach göttlichem Recht allen, welche den Gemeinden vorstehen, gemeinsam, heißen sie nun Pfarrer oder Presbyter oder Bischöfe. Deshalb lehrt Hieronymus ganz deutlich, dass in den apostolischen Briefen alle, die den Gemeinden vorstehen, sowohl Bischöfe als auch Presbyter [im Sinne von Pfarrer oder Priester]50

49. Confessio Augustana XXVIII, 1–56 (unsere Ausgabe S. 88–95) und Apologie der Confessio Augustana XXVIII (unsere Ausgabe S. 376–384). 50. »Presbyter« meint hier nicht Älteste im heutigen Sinne, sondern Gemeindeleiter. Daraus entstand der Begriff »Priester«. Die Reformatoren sprechen in diesem Zusammenhang von Pfarrherrn, d. h. Pfarrern.

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sind, und er zitiert aus dem Titusbrief: »Deshalb ließ ich dich in Kreta, um in den Städten Presbyter einzusetzen.«51 Und dann fügt er die Stelle hinzu: »Ein Bischof muss der Mann einer einzigen Frau sein.«52 So nennen sich auch Petrus und Johannes Presbyter.53 Und schließlich fügt Hieronymus hinzu: »Dass man aber später einen gewählt hat, der den Übrigen vorangestellt werden sollte, hat man zur Vermeidung von Spaltungen getan, damit nicht jeder die Gemeinde an sich bindet und so die Gemeinde Christi zerteilt. Denn auch in Alexandrien wählten die Presbyter immer einen aus ihre Reihen, angefangen vom Evangelisten Markus bis hin zu den Bischöfen Esra und Dionysius, und den siedelten sie an höherer Stelle an und nannten ihn Bischof. Das ist genau so, wie wenn sich ein Heer einen Feldherrn erwählt oder die Diakonen einen aus ihren Reihen, der als fleißig bekannt ist, auswählen und Archidiakon nennen. Denn was – abgesehen vom Ordinieren – macht ein Bischof, was nicht auch ein Presbyter tut?« Hieronymus lehrt demnach, dass es die unterschiedlichen Grade eines Bischofs, eines Presbyters oder Pfarrers durch menschliche Autorität gibt. Und dies zeigt auch die Sache selbst, denn ihre Amtsgewalt ist ja dieselbe, wie ich bereits oben gesagt habe. [Über die Ordination] Doch später machte eine einzige Sache den Unterschied zwischen Bischöfen und Pfarrern aus: die Ordination. Denn man hat angeordnet, dass ein einziger Bischof in mehreren Gemeinden die Diener am Wort ordiniere. Weil es aber nach göttlichem Recht keine unterschiedlichen Grade im Blick auf Bischof und Pfarrer gibt, ist offenkundig, dass eine Ordination, die von einem Pfarrer in seiner Gemeinde durchgeführt wird, nach göttlichem Recht gültig ist. Deshalb behalten die Gemeinden dann, wenn die rechtmäßigen Bischöfe zu Feinden des Evangeliums werden oder keine Ordination gewähren wollen, ihr Recht. Denn überall, wo Gemeinde ist, besteht auch das Recht, das Evangelium zu predigen. Deshalb muss die Gemeinde notwendigerweise das Recht behalten, Diener am Wort zu berufen, zu wählen und zu ordinieren. 51. Tit 1,5. 52. Vgl. Tit 1,6. 53. 1 Petr 5,1; 2 Joh 1; 3 Joh 1.

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Und dieses Recht ist ein Geschenk, das der Kirche als Eigentum gegeben wurde und das ihr durch keine menschliche Autorität weggenommen werden kann, wie es auch Paulus im Brief an die Epheser bezeugt, indem er sagt: »Er ist aufgefahren zur Höhe und hat den Menschen Gaben gegeben.«54 Und dann zählt er unter den der Kirche eigenen Gaben die Pfarrer und Lehrer auf und fügt hinzu, dass sie zum Dienst an der Auferbauung des Leibes Christi gegeben werden. Wo also wahre Kirche ist, dort muss es auch das Recht geben, Diener am Wort zu wählen und zu ordinieren, wie auch im Notfall ein Laie die Absolution erteilen und dem anderen zum Diener und Pfarrer werden kann. Augustin55 erzählt eine solche Geschichte von zwei Christen in einem Boot, von denen der eine den Taufbewerber taufte und dieser Getaufte daraufhin dem anderen die Absolution erteilte. Darauf beziehen sich die Aussagen Christi, die bezeugen, dass die Schlüsselgewalt der Kirche insgesamt und nicht nur bestimmten Personen gegeben ist: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen«56 etc. Zuletzt bestätigt dies auch die Aussage des Petrus: »Ihr seid die königliche Priesterschaft.«57 Dieser Satz bezieht sich auf die wahre Kirche, die, weil sie alleine das Priestertum hat, gewiss auch das Recht hat, Diener am Wort zu wählen und zu ordinieren. Und dies wird auch durch die ganz verbreitete Gewohnheit der Kirche bestätigt. Denn einst wählte die Gemeinde die Pfarrer und Bischöfe. Anschließend kam der Bischof, entweder dieser Gemeinde oder ein benachbarter, hinzu und bestätigte den Gewählten durch Handauflegung. Nichts anderes als eine solche Bestätigung war die Ordination. Später kamen neue Zeremonien hinzu; viele davon beschreibt Dionysius Areopagita.58 Aber dieser Autor, wer auch immer er sei, ist nicht alt und sein

54. Eph 4,8. 55. Corpus Iuris Canonici, Decretum Gratiani p. III De consecratione d. 4 c. 36 (Friedberg 1, 1374) als Brief Augustins an Fortunatus. 56. Mt 18,20. 57. 1 Petr 2,9. 58. Es handelt sich um die unter dem Namen des Dionysius Areopagita veröffentlichte und wohl Ende des 5. Jahrhunderts in Syrien entstandene Schrift »De ecclesiastica hierarchia«, die in ihrem 5. Buch Konsekrationsriten beschreibt (PG 3, 500–516; ed. Günter Heil, PTS 36, 104–114).

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Name erfunden, wie auch die Schriften von Clemens59 diesem nur untergeschoben worden sind. Schließlich haben jüngere Autoren dort den Satz hinzugefügt: »Ich gebe dir die Vollmacht, für Lebende und Tote zu opfern.«60 Aber das steht nicht einmal bei Dionysius. Aus all dem Genannten ergibt sich, dass sich die Gemeinde das Recht vorbehalten darf, Diener am Wort zu wählen und zu ordinieren. Darum sind die Gemeinden dann, wenn die Bischöfe entweder zu Häretikern werden oder die Ordination nicht gewähren wollen, aus göttlichem Recht gezwungen, Pfarrer und Diener am Wort durch ihre hierfür herangezogenen Pfarrer zu ordinieren. Ursache für Spaltung und Uneinigkeit sind also die Gottlosigkeit und die Tyrannei der Bischöfe. Denn Paulus schreibt vor, dass Bischöfe, die gottlose Lehre und gottlose Gottesdienste lehren und verteidigen, für Verfluchte gehalten werden sollen. Wir haben über die Ordination gesprochen, die allein, wie Hieronymus sagt, die Bischöfe von den anderen Presbytern unterschied. Darum ist eine Erörterung der übrigen Aufgaben eines Bischofs nicht nötig. Es ist nicht nötig, von der Firmung zu reden, ebenso wenig von der Glockenweihe – nahezu die einzigen Rechte, welche sich die Bischöfe vorbehalten haben. Aber es muss etwas über die Rechtsprechungsbefugnis gesagt werden. [Über die Rechtsprechung (Iurisdiktion)] Es steht fest, dass jene allgemeine Rechtsprechungsbefugnis, mit der Personen exkommuniziert werden, die eines offensichtlichen Verbrechens angeklagt sind, allen Pfarrern zusteht. Die Bischöfe haben sie auf tyrannische Weise auf sich allein übertragen und für finanziellen Gewinn missbraucht. Es steht nämlich fest, dass die sogenannten Offiziale61 eine völlig inakzeptable Willkür angewandt haben und die Menschen entweder aus Habgier oder aus irgendwelchen anderen Begierden heraus gequält und ohne jeden geordneten Prozess exkom-

59. Clemens von Rom. 60. Die Formel stammt aus einer Agende für die Priesterweihe aus dem 10. Jahrhundert. 61. Der Offizial, ein juristisch gebildeter Beamter, vertrat seit dem 12./13. Jahrhundert den Bischof in kirchlichen Gerichtsverfahren und übernahm seit dem 14. Jahrhundert die Leitung der kirchlichen Gerichtsbehörde, des sog. Offizialates.

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muniziert haben. Was ist aber das für eine Tyrannei, dass in den Städten Offiziale die Macht haben, nach ihrem Gutdünken ohne geordneten Prozess Menschen zu exkommunizieren? Und zu welchen Dingen haben sie diese Amtsgewalt missbraucht! Nämlich nicht dazu, wirkliche Vergehen zu bestrafen, sondern in Fällen von Fasten- und Feiertagsvergehen und ähnlichen Nichtigkeiten. Nur Ehebruch bestraften sie bisweilen. Und in dieser Angelegenheit quälten sie oft unschuldige und ehrenvolle Menschen. Da nun aber gerade dieses Vergehen sehr schwer ist, darf hier gewiss niemand ohne ordentlichen Prozess verurteilt werden. Weil die Bischöfe diese Rechtsprechungsbefugnis also auf tyrannische Weise auf sich übertragen und sie schändlich missbraucht haben, ist es nicht nötig, den Bischöfen aufgrund dieser Rechtsprechungsbefugnis zu gehorchen. Aber da dies gerechte Gründe sind, warum wir nicht gehorchen, ist es richtig, auch diese Befugnis den frommen Pfarrern zurückzugeben und dafür zu sorgen, dass sie rechtmäßig zur Besserung der Sitten und zur Ehre Gottes ausgeübt wird. Es bleibt noch die Frage der Rechtsprechung in den Fällen, die nach dem kirchlichen Recht vor das sogenannte Kirchengericht gehören, insbesondere in Ehesachen. Diese haben die Bischöfe ebenfalls nach menschlichem Recht, und zwar nicht nach sehr altem; so geht aus dem Codex und den Novellen Justinians62 hervor, dass die Ehegerichtsbarkeit damals bei den weltlichen Behörden lag. Und nach göttlichem Recht müssen die weltlichen Behörden diese Gerichtsbarkeit ausüben, wenn die Bischöfe ihre Pflicht vernachlässigen. So gesteht es auch das kirchliche Recht zu. Deshalb muss man den Bischöfen auch um dieser Rechtsprechungsbefugnis willen nicht gehorchen. Und zumal da sie gewisse widerrechtliche Gesetze über Ehesachen aufgestellt haben und in ihren Gerichten befolgen, ist es auch deswegen nötig, andere Gerichte zu schaffen. Denn die Vorschriften über die geistliche Verwandtschaft63 sind unrecht. Unrecht 62. Vgl. Codex Iustinianus 5, 1–27; Digesten 23, 1–2; Novellen 22 (Corpus iuris civilis, ed. Paul Krüger, Bd. 62, 192–219; Bd. 71, 294–299; Bd. 3, 146–187). – Der Codex Iustinianus aus dem Jahre 534 ist eine Gesetzessammlung Kaiser Iustinians I., sie wird durch die sog. Novellen ergänzt. Beide sind Teil des Corpus iuris civilis. 63. Die Vorschriften besagen, dass Ehen zwischen durch Patenschaft verbundenen Personen (»Gevattern«) und in gewissem Grade auch Ehen zwischen Mitgliedern

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ist auch die Vorschrift, die dem unschuldigen Ehepartner nach vollzogener Scheidung die Ehe verbietet. Unrecht ist ferner das Gesetz, das generell alle heimlichen und arglistigen Verlöbnisse entgegen dem Recht der Eltern anerkennt. Unrecht ist des Weiteren das Gesetz zum Zölibat der Priester. Es gibt noch mehr Gewissensfesseln in ihren Gesetzen; es trägt aber nichts aus, hier alle aufzuzählen. Es genügt, vorzutragen, dass es im Blick auf die Eheangelegenheiten viele widerrechtliche Gesetze des Papstes gibt, weswegen die weltliche Obrigkeit andere Gerichte einrichten muss. Weil also die Bischöfe, die dem Papst ergeben sind, die gottlose Lehre und die gottlosen Gottesdienste verteidigen und fromme Prediger nicht ordinieren, vielmehr die Grausamkeit des Papstes unterstützen und außerdem den Pfarrern ihre Rechtsprechungsbefugnis wegnehmen und sie selbst nur auf tyrannische Weise ausüben und schließlich weil sie in den Eheangelegenheiten viele unrechte Gesetze befolgen, gibt es hinreichend viele und notwendige Gründe, warum die Gemeinden sie nicht als Bischöfe anerkennen. Sie selbst [die Bischöfe] sollen aber daran denken, dass ihnen ihre finanziellen Mittel als Spenden zur Verwaltung und zum Nutzen der Gemeinden gegeben worden sind, wie die Regel64 besagt: »Die Zuwendung wird wegen der Zuständigkeit gegeben.« Darum können sie jene Gaben auch nicht mit gutem Gewissen besitzen. Und sie betrügen unterdessen die Kirche, die jenes Vermögen braucht, um die Diener am Wort zu ernähren, die Bildung zu fördern, bestimmten Armen zu helfen und um Gerichte einzurichten, insbesondere Ehegerichte. Denn es gibt so viele verschiedene und so zahlreiche Ehestreitigkeiten, dass man für sie ein eigenes Gericht braucht, und um dieses einzurichten, benötigt die Kirche Geldmittel. Petrus hat vorhergesagt, dass es einmal gottlose Bischöfe geben würde, die die Spenden der Gemeinden für ihren Luxus missbrauchen und ihren Dienst vernachlässigen.65 Jene, die die Kirche betrügen, sollen also wissen, dass sie Gott auch für dies Verbrechen büßen werden.

ihrer Familien nicht zugelassen sind, vgl. Corpus Iuris Canonici, Decretales Gregorii IX. 9. 4. 11 (Friedberg 2, 693–696). 64. Vgl. Corpus Iuris Canonici, Liber Sextus 1. 3. 15 (Friedberg 2, 943). 65. Vgl. 2 Petr 2,1–3.13–15.

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Vorbemerkungen Der Text des Kleinen Katechismus wird in der Fassung wiedergegeben, wie sie die Evangelische Kirche der Union und die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands im Jahre 1986 beschlossen haben und wie sie auch ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen wurde (angepasst an die neue Rechtschreibung). Die genannte Fassung verzichtet allerdings auf Luthers Vorreden und etliche Beigaben zum Katechismus. Deshalb wurde im Folgenden der offizielle Text in der Schriftart Myriad Pro gesetzt, die darüberhinausgehenden Texte aus Luthers Kleinem Katechismus sind – wie der übrige Text des vorliegenden Bandes – in Antiqua gesetzt.1 Zur Entstehung vergleiche die Einleitung zum Großen Katechismus.

Weiterführende Literatur (auch zum Grossen Katechismus): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 30. Band, Erste Abteilung, Weimar 1910 (WA 30/I). Otto Albrecht: Luthers Katechismen, Leipzig 1915 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 121/122). Johann Michael Reu: D. M. Luthers Kleiner Katechismus. Die Geschichte seiner Entstehung[,] seiner Verbreitung und seines Gebrauchs. Eine Festgabe zu seinem vierhundertjährigen Jubiläum, München 1929. Johannes Meyer: Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh 1929. BSLK 499–541 (Der kleine Katechismus), 543–733 (Der große Katechismus). Hans-Jürgen Fraas: Katechismustradition. Luthers kleiner Katechismus in Kirche und Schule, Göttingen 1971 (Arbeiten zur Pastoraltheologie 7). Hans-Jürgen Fraas: Artikel »Katechismus I. Protestantische Kirchen/1. Historisch (bis 1945)«, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Band 17 (1988), S. 710– 722. Albrecht Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Herausgegeben von Gottfried Seebaß, 5 Bände (Band 5 mit Beiträgen von Frieder Schulz und Rudolf Keller) Göttingen 1990–1994.

1. Die Übertragung der in Antiqua gesetzten Texte aus dem Frühneuhochdeutschen erfolgte durch den Bearbeiter des Großen Katechismus, die Textgrundlage dafür ist BSLK 499–541.

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VI. Der Kleine Katechismus

Gunter Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bde. Berlin/New York 1996–1997 (bes. I, 233–254). Dietrich Korsch: Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung des Lebens mit Gott, Tübingen 2000 (UTB 2155). Hans-Jürgen Fraas: Artikel »Katechismus IV. Evangelische Katechismen«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig neu bearbeitete Auflage (RGG4), Band 4 (2001), Spalten 864–866.

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Inhaltsübersicht zu Luthers Kleinem und Großem Katechimus Kleiner Großer Katechismus Katechismus Vorreden

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1. Hauptstück: Die Zehn Gebote

466

515

Das erste Gebot (nicht andere Götter haben)

466

515

Das zweite Gebot (den Namen Gottes nicht missbrauchen)

466

523

Das dritte Gebot (den Feiertag heiligen)

466

529

Das vierte Gebot (Vater und Mutter ehren)

467

533

Das fünfte Gebot (nicht töten)

467

547

Das sechste Gebot (nicht ehebrechen)

467

551

Das siebte Gebot (nicht stehlen)

467

555

Das achte Gebot (nicht falsch aussagen)

468

561

Das neunte Gebot (nicht begehren deines Nächsten Haus)

469

Das zehnte Gebot (nicht begehren deines Nächsten Weib …)

469

Abschluss

469

572

2. Hauptstück: Der Glaube

469

577

Der erste Artikel: Von der Schöpfung

469

578

Der zweite Artikel: Von der Erlösung

470

581

Der dritte Artikel: Von der Heiligung

471

583

3. Hauptstück: Das Vaterunser

472

590

Die Anrede (Vater unser)

472

Die erste Bitte (geheiligt werde dein Name)

472

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568

595

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VI. Der Kleine Katechismus

Die zweite Bitte (dein Reich komme)

473

597

Die dritte Bitte (dein Wille geschehe)

473

599

Die vierte Bitte (unser täglich Brot gib uns heute)

474

602

Die fünfte Bitte (vergib uns unsere Schuld)

474

604

Die sechste Bitte (führe uns nicht in Versuchung)

475

607

Die siebte Bitte (erlöse uns von dem Übel)

475

609

Abschluss (Amen)

476

4. Hauptstück: Die Heilige Taufe

476

611

5. Hauptstück: Das Heilige Abendmahl

478

625

Vom Amt der Schlüssel und von der Beichte

480

638

Morgen- und Abendsegen

483

Tischgebete

485

Die Haustafel

486

Das Traubüchlein

490

Das Taufbüchlein

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Der Kleine Katechismus Doktor Martin Luthers2 [Vorrede Luthers] Martin Luther an alle treuen, rechtschaffenen Pfarrherren und Prediger: Gnade, Barmherzigkeit und Frieden in Jesus Christus, unserm Herrn! Diesen Katechismus bzw. die christliche Lehre in eine solch kleine, schlichte, einfache Form zu bringen, hat mich die beklagenswerte, elende Not gezwungen, von der ich neulich erfahren habe, als ich eine Weile als Visitator3 tätig war. Hilf, lieber Gott, wie oft musste ich schmerzlich feststellen, dass die gewöhnlichen Leute so überaus wenig von der christlichen Lehre wissen, insbesondere auf den Dörfern (und leider sind viele Pfarrer sehr ungeschickt und ungeeignet zum Unterrichten), und doch sollen sie alle Christen heißen, getauft sein und die Sakramente empfangen, können aber weder das Vaterunser noch das Glaubensbekenntnis oder die Zehn Gebote auswendig, leben vielmehr dahin wie das liebe Vieh und wie unvernünftige Säue, aber wo jetzt das Evangelium gekommen ist, haben sie sehr genau gelernt, alle damit verbundenen Freiheiten meisterlich zu missbrauchen. O ihr Bischöfe, wie wollt ihr euch vor Christus dafür verantworten, dass ihr das Volk so schändlich sich selbst überlassen habt und euren Amtspflichten auch nicht einen Augenblick ordentlich nachgekommen seid? Dass euch dafür nicht die Strafe treffe! Ihr verbietet die eine Gestalt des Abendmahls und dringt auf euer Menschengesetz, 2. Die erste von Luther selbst veranlasste hochdeutsche Buchausgabe erschien 1529 unter dem Titel »Der kleine Catechismus für die gemeine [= gewöhnlichen, nicht wissenschaftlich gebildeten] Pfarherr vnd Prediger«, spätere Buchausgaben trugen zusätzlich den Titel »Enchiridion« [= Handbüchlein]. 3. Von der Kirchenleitung (in diesem Fall vom Landesherrn, Kurfürst Johann dem Beständigen von Sachsen) Beauftragter, der die Verhältnisse in einer oder mehreren Kirchengemeinden überprüfen soll. Luther war am 25. Juli 1528 zum Visitator von Kursachsen und Meißen bestellt worden, vom 22. Oktober bis Mitte November und vom 28. Dezember 1528 bis 9. Januar 1529 war er in dieser Funktion tätig, ehe er am 12. März von der weiteren Teilnahme an der Visitation entbunden wurde.

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VI. Der Kleine Katechismus

ihr fragt aber unterdessen nichts danach, ob sie das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote oder etwas aus Gottes Wort kennen. Ach und Weh über euren Hals ewiglich! Darum bitte ich um Gottes willen euch alle, meine lieben Herrn und Brüder, die ihr Pfarrherren oder Prediger seid, verseht euer Amt mit ganzem Herzen, erbarmt euch über die Leute, die euch anbefohlen sind, und helft uns, den Katechismus in die Leute, insbesondere in die Kinder und Jugendlichen hineinzubringen; und wer von euch es nicht besser kann, der halte sich an die Fassung dieser Tafeln4 und spreche sie dem Volk Wort für Wort vor, und zwar folgendermaßen: Erstens und vor allen Dingen hüte sich der Prediger und vermeide den Gebrauch voneinander abweichender, unterschiedlicher Textfassungen und Formulierungen der Zehn Gebote, des Vaterunsers, des Glaubensbekenntnisses, der Einsetzungsworte etc.; stattdessen lege er sich auf eine Fassung fest; bei der bleibe er und benutze sie immer wieder, Jahr für Jahr unverändert. Denn die jungen und ungebildeten Leute muss man mit einem beständigen Wortlaut und feststehenden Formulierungen lehren, sonst werden sie sehr leicht verwirrt, wenn man heute so und nächstes Jahr anders lehrt, und sei es auch vemeintlich besser, aber alle Mühe und Anstrengung wird dabei zunichte gemacht. Das haben auch die lieben Väter klar erkannt, die das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote alle auf eine einzige Weise gebraucht haben. Darum sollen auch wir bei dem jungen und ungebildeten Volk die Abschnitte in der Weise lehren, dass wir keine einzige Silbe verändern oder im einen Jahr anders vorlesen oder vorsprechen als im andern. Darum suche dir aus, welche Fassung du willst, und bleibe immer dabei. Wenn du aber bei den Gelehrten und Verständigen predigst, magst du dort deine Gelehrsamkeit unter Beweis stellen und diese Gegenstände so vielgestaltig und in allen Farben schillernd darbieten und so meisterlich von allen Seiten beleuchten, wie du immer kannst. Aber bei Kindern und Jugendlichen bleib bei einer bestimmten, unveränderlichen Fassung und Weise und lehre sie zuallererst den Wortlaut der folgenden Stücke, nämlich die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser etc. von Wort zu Wort, damit sie sie genau so aufsagen können und auswendig lernen. 4. Die einzelnen Hauptstücke mit Erklärungen erschienen zunächst als Plakatdrucke, dann zusammengefasst und um weitere Stücke ergänzt in Buchform.

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Vorrede

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Denjenigen aber, die es nicht lernen wollen, sage man, dass sie auf diese Weise Christus verleugnen und keine Christen sind; sie sollen auch nicht zum Abendmahl zugelassen werden, kein Kind aus der Taufe heben, auch kein Stück der christlichen Freiheit in Anspruch nehmen, sondern kurzum dem Papst und seinen Beamten, überdies dem Teufel selbst überlassen werden. Überdies sollen ihnen die Eltern und Hausherren Essen und Trinken versagen und sie wissen lassen, dass der Landesherr solche ungehobelten Leute aus dem Land jagen sollte. Denn wenn man auch niemanden zum Glauben zwingen kann oder soll, so soll man doch die Menge dazu bringen, dass sie wissen, was Recht und Unrecht ist bei denjenigen, bei denen sie wohnen, ihren Unterhalt verdienen und leben wollen. Denn wer in einer Stadt wohnen will, der soll das Stadtrecht kennen und einhalten, von dem er profitieren will, gleichgültig, ob er glaubt oder innerlich ein Spötter oder Schurke ist. Zweitens, wenn sie den Wortlaut der Hauptstücke gut auswendig können, so lehre sie anschließend auch die Bedeutung, damit sie wissen, was damit jeweils ausgedrückt ist, und lege dabei wiederum die Fassung dieser Tafeln zugrunde oder sonst eine bestimmte, kurze Fassung, die du bevorzugst, und bleibe dabei und ändere daran keine Silbe, gerade wie vom Wortlaut der Hauptstücke schon gesagt wurde, und nimm dir Zeit dazu; denn es ist nicht nötig, alle Stücke auf einmal zu behandeln, sondern eins nach dem andern. Erst wenn sie das erste Gebot gut begriffen haben, nimm dir das zweite vor, und so fort. Sonst werden sie durch die Fülle des Lehrstoffs überfordert, so dass sie keines richtig behalten. Drittens, wenn du ihnen schließlich diesen kurzen Katechismus beigebracht hast, dann nimm dir den großen Katechismus5 vor und vermittle ihnen auch tiefere und weiterreichende Einsichten. Jedes Gebot, jede Bitte, jedes Stück male deutlich aus mit den verschiedenen damit verbundenen Handlungen, Nutzen, Vorteil, Gefahr und Schaden, wie du das alles reichlich findest in vielen Büchlein, die darüber geschrieben wurden. Und besonders intensiv geh auf das Gebot und Stück ein, das bei deinen Leuten am meisten Not leidet. 5. Eine ausführlichere Erklärung der Hauptstücke, es muss nicht Luthers eigener, später erst so genannter Großer Katechismus sein.

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VI. Der Kleine Katechismus

So musst du etwa das siebente Gebot vom Stehlen bei Handwerkern und Händlern, ja auch bei Bauern und Gesinde nachdrücklich behandeln, denn bei solchen Leuten kommen Veruntreuung und Diebereien oft vor. Entsprechend musst du das vierte Gebot bei den Kindern und den einfachen Leuten behandeln, damit sie still, treu, gehorsam, friedsam sind, und du musst immer viele Beispiele aus der Schrift anführen, wie Gott solche Leute gestraft bzw. gesegnet hat. Insbesondere wirke auch ein auf die Obrigkeit und die Eltern, damit sie gut regieren und Kinder zum Schulbesuch erziehen. Zeige ihnen, dass sie dazu verpflichtet sind, und welch eine verfluchte Sünde sie begehen, wenn sie es nicht tun; denn sie stürzen und verwüsten damit das Reich Gottes und das Reich der Welt gleichermaßen und gebärden sich als die ärgsten Feinde Gottes wie der Menschen. Und hebe deutlich hervor, was für einen furchtbaren Schaden sie anrichten, wenn sie nicht dabei helfen, Kinder zu Pfarrherrn, Predigern, Verwaltungsbeamten etc. heranzubilden, und dass Gott sie schrecklich deswegen bestrafen wird. Denn es ist hier not zu predigen; die Eltern und die Obrigkeit sündigen jetzt in diesem Bereich unsäglich; der Teufel verfolgt damit eine grausame Absicht. Zum Schluss: Weil nun die Tyrannei des Papstes beseitigt ist, so wollen sie nicht mehr am Abendmahl teilnehmen und schätzen es gering. Hier ist es aber notwendig, die Leute anzutreiben, allerdings mit folgender Einschränkung: Wir sollen niemanden zum Glauben oder zur Abendmahlsteilnahme zwingen, auch weder ein Gesetz noch einen Zeitpunkt oder Ort bestimmen, aber in der Weise predigen, dass sie sich aus eigenem Antrieb ohne unser Gesetz herbeidrängen und uns Pfarrer gewissermaßen zwingen, das Abendmahl zu reichen. Das erreicht man, indem man ihnen sagt: Wenn jemand am Abendmahl nicht wenigstens etwa vier Mal im Jahr teilnehmen will, ist zu befürchten, dass er das Sakrament geringschätzt und kein Christ ist, ebenso wie derjenige kein Christ ist, der das Evangelium nicht glaubt oder anhört; denn Christus sagte nicht: »Solches lasst bleiben« oder: »Solches missachtet«, sondern: »Solches tut, sooft ihr trinkt« etc. Er will es wirklich getan und nicht beständig unterlassen und missachtet haben; »Solches TUT«, spricht er. Wenn aber jemand nicht viel vom Abendmahl hält, ist das ein Zeichen dafür, dass er keine Sünde, kein Fleisch, keinen Teufel, keine Welt, keinen Tod, keine Gefahr, keine Hölle hat – das heißt: Er glaubt

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Vorrede

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nichts davon, auch wenn er bis über beide Ohren darinsteckt, und ist deshalb gleich doppelt des Teufels. Umgekehrt hat er kein Bedürfnis nach Gnade, Leben, Paradies, Himmelreich, Christus, Gott oder irgendeinem Gut. Denn wenn er glaubte, dass er so viel Böses hätte und so viel Gutes brauchte, so würde er das Abendmahl nicht so vernachlässigen, worin derartigem Übel abgeholfen und so viel Gutes gegeben wird. Man bräuchte ihn auch mit keinem Gesetz zum Abendmahlsbesuch zu zwingen, sondern er käme von selbst gelaufen und gerannt, er zwänge sich selbst und nötigte dich, dass du ihm das Sakrament reichen müsstest. Darum brauchst du hier kein Gesetz aufzurichten wie der Papst, stelle nur deutlich vor Augen Nutzen und Schaden, Nachteil und Vorteil, Gefahr und Bewahrung in diesem Sakrament, so werden sie wohl von selbst kommen, ohne dass du sie zwingst; kommen sie aber nicht, dann kümmere dich nicht weiter um sie und sage ihnen, dass diejenigen des Teufels sind, die ihre eigene große Not und Gottes gnädige Hilfe weder beachten noch spüren. Wenn du dies aber nicht einschärfst oder machst ein Gesetz und Gift daraus, so ist es deine Schuld, dass sie das Sakrament verachten. Wie sollten sie nicht faul sein, wenn du schläfst und schweigst? Darum achte darauf, Pfarrherr und Prediger: Unser Amt ist jetzt etwas völlig anderes geworden, als es unter der Herrschaft des Papsttums war; es ist jetzt ernst und heilsam geworden. Darum ist nun viel Mühe und Anstrengung damit verbunden, Gefahr und Anfechtung, dazu wenig Lohn und Dank in der Welt; Christus selbst will aber unser Lohn sein, wenn wir treu arbeiten. Das helfe uns der Vater aller Gnaden, dem sei Lob und Dank in Ewigkeit durch Christus, unsern Herrn. Amen.

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Das Erste Hauptstück:

Die Zehn Gebote6 Das erste Gebot

Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was ist das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Das zweite Gebot

Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir bei seinem Namen nicht fluchen, schwören, zaubern, lügen oder trügen, sondern ihn in allen Nöten anrufen, beten, loben und danken. Das dritte Gebot

Du sollst den Feiertag heiligen. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen. 6. Vgl. Ex 20,1–17; Dtn 5,6–21.

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Zehn Gebote

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Das vierte Gebot

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben. Das fünfte Gebot

Du sollst nicht töten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten. Das sechste Gebot

Du sollst nicht ehebrechen. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir keusch und zuchtvoll leben in Worten und Werken und in der Ehe einander lieben und ehren. Das siebente Gebot

Du sollst nicht stehlen.

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VI. Der Kleine Katechismus

Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsers Nächsten Geld oder Gut nicht nehmen noch mit falscher Ware oder Handel an uns bringen, sondern ihm sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten. Das achte Gebot

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren. Das neunte Gebot

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht mit List nach seinem Erbe oder Hause trachten und mit einem Schein des Rechts an uns bringen, sondern ihm dasselbe zu behalten förderlich und dienlich sein. Das zehnte Gebot

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.

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Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht seine Frau, Gehilfen oder Vieh ausspannen, abwerben oder abspenstig machen, sondern dieselben anhalten, dass sie bleiben und tun, was sie schuldig sind.

Was sagt nun Gott von diesen Geboten allen? Er sagt so [Ex 20,5f; Dtn 5,9f ]:

Ich der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der an denen, die mich hassen, die Sünde der Väter heimsucht bis zu den Kindern im dritten und vierten Glied; aber denen, die mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl bis in tausend Glied. Was ist das? Gott droht zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht gegen seine Gebote handeln. Er verheißt aber Gnade und alles Gute allen, die diese Gebote halten; darum sollen wir ihn auch lieben und vertrauen und gerne tun nach seinen Geboten.

Das Zweite Hauptstück:

Der Glaube Der erste Artikel: Von der Schöpfung

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.

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Was ist das? Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Frau und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was nottut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr. Der zweite Artikel: Von der Erlösung

Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes,7 am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Was ist das? Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, 7. Bei Luther lautete der Abschnitt: niedergefahren zur Hölle.

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und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; damit ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Das ist gewisslich wahr. Der dritte Artikel: Von der Heiligung

Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten8 und das ewige Leben. Amen. Was ist das? Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält 8. Bei Luther lautete der Abschnitt: Auferstehung des Fleisches.

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im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewisslich wahr.

Das Dritte Hauptstück:

Das Vater Unser9 Die Anrede

Vater unser im Himmel. Was ist das? Gott will uns damit locken, dass wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, damit wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater. Die erste Bitte

Geheiligt werde dein Name. Was ist das? Gottes Name ist zwar an sich selbst heilig; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns heilig werde.

9. Vgl. Mt 6,9–13; Lk 11,2–4.

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Vaterunser

Wie geschieht das? Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird und wir auch heilig, als die Kinder Gottes, danach leben. Dazu hilf uns, lieber Vater im Himmel! Wer aber anders lehrt und lebt, als das Wort Gottes lehrt, der entheiligt unter uns den Namen Gottes. Davor behüte uns, himmlischer Vater! Die zweite Bitte

Dein Reich komme. Was ist das? Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst; aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme. Wie geschieht das? Wenn der himmlische Vater uns seinen Heiligen Geist gibt, dass wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade glauben und danach leben, hier zeitlich und dort ewiglich. Die dritte Bitte

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Was ist das? Gottes guter, gnädiger Wille geschieht auch ohne unser Gebet; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns geschehe. Wie geschieht das? Wenn Gott allen bösen Rat und Willen bricht und hindert, die uns den Namen Gottes nicht heiligen

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und sein Reich nicht kommen lassen wollen, wie der Teufel, die Welt und unsres Fleisches Wille; sondern stärkt und behält uns fest in seinem Wort und Glauben bis an unser Ende. Das ist sein gnädiger, guter Wille. Die vierte Bitte

Unser tägliches Brot gib uns heute. Was ist das? Gott gibt das tägliche Brot auch ohne unsere Bitte allen bösen Menschen; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er’s uns erkennen lasse und wir mit Danksagung empfangen unser tägliches Brot. Was heißt denn tägliches Brot? Alles, was nottut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen. Die fünfte Bitte

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Was ist das? Wir bitten in diesem Gebet, dass der Vater im Himmel nicht ansehen wolle unsere Sünden und um ihretwillen solche Bitten nicht versagen; denn wir sind dessen nicht wert, was wir bitten,

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haben’s auch nicht verdient; sondern er wolle es uns alles aus Gnaden geben, obwohl wir täglich viel sündigen und nichts als Strafe verdienen. So wollen wir wiederum auch herzlich vergeben und gerne wohltun denen, die sich an uns versündigen. Die sechste Bitte

Und führe uns nicht in Versuchung. Was ist das? Gott versucht zwar niemand; aber wir bitten in diesem Gebet, dass uns Gott behüte und erhalte, damit uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge und verführe in Missglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster; und wenn wir damit angefochten würden, dass wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten. Die siebente Bitte

Sondern erlöse uns von dem Bösen. Was ist das? Wir bitten in diesem Gebet, dass uns der Vater im Himmel vom Bösen und allem Übel an Leib und Seele, Gut und Ehre erlöse und zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende beschere und mit Gnaden von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.

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Der Beschluss

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.10 Amen. Was heißt Amen? Dass ich soll gewiss sein, solche Bitten sind dem Vater im Himmel angenehm und werden erhört. Denn er selbst hat uns geboten, so zu beten, und verheißen, dass er uns erhören will. Amen, Amen, das heißt: Ja, ja, so soll es geschehen.

Das Vierte Hauptstück:

Das Sakrament der heiligen Taufe Zum Ersten: Was ist die Taufe? Die Taufe ist nicht allein schlicht Wasser, sondern sie ist das Wasser in Gottes Gebot gefasst und mit Gottes Wort verbunden. Welches ist denn dies Wort Gottes? Unser Herr Christus spricht bei Matthäus im letzten Kapitel [Mt 28,19]:

Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

10. Luther hat diese Schlussformel entsprechend dem Text Lk 11,2–4 nicht berücksichtigt.

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Taufe

Zum Zweiten: Was gibt oder nützt die Taufe? Sie wirkt Vergebung der Sünden, erlöst vom Tode und Teufel und gibt die ewige Seligkeit allen, die es glauben, wie die Worte und Verheißung Gottes lauten. Welches sind denn solche Worte und Verheißung Gottes? Unser Herr Christus spricht bei Markus im letzten Kapitel [Mk 16,16]:

Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. Zum Dritten: Wie kann Wasser solch große Dinge tun? Wasser tut’s freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der solchem Worte Gottes im Wasser traut. Denn ohne Gottes Wort ist das Wasser schlicht Wasser und keine Taufe; aber mit dem Worte Gottes ist’s eine Taufe, das ist ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im Heiligen Geist; wie Paulus sagt zu Titus im dritten Kapitel [V. 5-8]:

Gott macht uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung. Das ist gewisslich wahr.

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Zum Vierten: Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe. Wo steht das geschrieben? Der Apostel Paulus spricht zu den Römern im sechsten Kapitel [V. 4]:

Wir sind mit Christus begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.11

Das Fünfte Hauptstück:

Das Sakrament des Altars oder das Heilige Abendmahl Zum Ersten: Was ist das Sakrament des Altars? Es ist der wahre Leib und Blut unsers Herrn Jesus Christus, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christus selbst eingesetzt.

11. Seit 1531 folgt an dieser Stelle der Abschnitt »Wie man die Einfältigen soll lehren beichten«, der Text wurde großenteils in den Abschnitt »Vom Amt der Schlüssel und von der Beichte« (siehe unten) übernommen.

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Abendmahl

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Wo steht das geschrieben? So schreiben die heiligen Evangelisten Matthäus [26,26-28], Markus [14,22-24], Lukas [22,19f ] und der Apostel Paulus [1 Kor 11,23-25]:

Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; solches tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl12, dankte und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus: Dieser Kelch ist das neue Testament13 in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden; solches tut, sooft ihr’s trinket, zu meinem Gedächtnis. Zum Zweiten: Was nützt denn solch Essen und Trinken? Das zeigen uns diese Worte: »Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden«; nämlich, dass uns im Sakrament Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit durch solche Worte gegeben wird; denn wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit.

12. Die revidierte Lutherbibel von 1984 übersetzt an dieser Stelle: »nach dem Mahl« (1 Korinther 11,25). 13. Die revidierte Lutherbibel von 1984 übersetzt an dieser Stelle: »Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut« (1 Korinther 11,25).

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VI. Der Kleine Katechismus

Zum Dritten: Wie kann leiblich Essen und Trinken solch große Dinge tun? Essen und Trinken tut’s freilich nicht, sondern die Worte, die da stehen: »Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden.« Diese Worte sind neben dem leiblichen Essen und Trinken das Hauptstück im Sakrament. Und wer diesen Worten glaubt, der hat, was sie sagen und wie sie lauten, nämlich: Vergebung der Sünden. Zum Vierten: Wer empfängt denn dieses Sakrament würdig? Fasten und leiblich sich bereiten ist zwar eine feine äußerliche Zucht; aber der ist recht würdig und wohl geschickt, wer den Glauben hat an diese Worte: »Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden.« Wer aber diesen Worten nicht glaubt oder zweifelt, der ist unwürdig und ungeschickt; denn das Wort »für euch« fordert nichts als gläubige Herzen.

Vom Amt der Schlüssel und von der Beichte14 Was ist das Amt der Schlüssel? Es ist die besondere Gewalt, die Christus seiner Kirche auf Erden gegeben hat, den bußfertigen Sündern die Sünden zu vergeben, den unbußfertigen aber die Sünden zu behalten, solange sie nicht Buße tun. 14. Das Stück von Beichte und Vergebung findet sich ursprünglich nicht im Kleinen Katechismus, geht aber zum Teil auf Martin Luther zurück.

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Beichte

Wo steht das geschrieben? Unser Herr Jesus Christus spricht bei Matthäus im sechzehnten Kapitel [V. 19] zu Petrus:

Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein. Desgleichen spricht er zu seinen Jüngern bei Johannes im zwanzigsten Kapitel [V. 22f ]:

Nehmet hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. Was ist die Beichte? Die Beichte begreift zwei Stücke in sich: eins, dass man die Sünde bekenne, das andere, dass man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger15 empfange als von Gott selbst und ja nicht daran zweifle, sondern fest glaube, die Sünden seien dadurch vergeben vor Gott im Himmel. Welche Sünden soll man denn beichten? Vor Gott soll man sich aller Sünden schuldig bekennen, auch die wir nicht erkennen, wie wir im Vaterunser tun. Aber vor dem Beichtiger sollen wir allein die Sünden bekennen, die wir wissen und fühlen im Herzen.

15. Person, die die Beichte hört.

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VI. Der Kleine Katechismus

Welche sind die? Da siehe deinen Stand an nach den Zehn Geboten, ob du Vater, Mutter, Sohn, Tochter bist, in welchem Beruf und Dienst du stehst: ob du ungehorsam, untreu, unfleißig, zornig, zuchtlos, streitsüchtig gewesen bist, ob du jemand Leid getan hast mit Worten oder Werken, ob du gestohlen, etwas versäumt oder Schaden getan hast. Wie bekennst du deine Sünden vor dem Beichtiger? So kannst du zum Beichtiger sprechen: »Ich bitte, meine Beichte zu hören und mir die Vergebung zuzusprechen um Gottes willen.« Hierauf bekenne dich vor Gott aller Sünden schuldig und sprich vor dem Beichtiger aus, was als besondere Sünde und Schuld auf dir liegt. Deine Beichte kannst du mit den Worten schließen: »Das alles ist mir leid. Ich bitte um Gnade. Ich will mich bessern.« Wie geschieht die Lossprechung (Absolution)? Der Beichtiger spricht: »Gott sei dir gnädig und stärke deinen Glauben. Amen. Glaubst du auch, dass meine Vergebung Gottes Vergebung ist?« Antwort: »Ja, das glaube ich.« Darauf spricht er: »Wie du glaubst, so geschehe dir. Und ich, auf Befehl unseres Herrn Jesus Christus, vergebe dir deine Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Gehe hin in Frieden!« Welche aber im Gewissen sehr beschwert oder betrübt und angefochten sind, die wird ein Beichtvater wohl mit mehr Worten der Heiligen Schrift zu trösten wissen und zum Glauben reizen. Dies soll nur eine Weise der Beichte sein.

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Gebete

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Die gemeinsame Beichte Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, ich armer, elender, sündiger Mensche bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken, womit ich dich erzürnt und deine Strafe zeitlich und ewig verdient habe. Sie sind mir aber alle herzlich leid und reuen mich sehr, und ich bitte dich um deiner grundlosen Barmherzigkeit und um des unschuldigen bitteren Leidens und Sterbens deines lieben Sohnes Jesus Christus willen, du wolltest mir armen sündhaften Menschen gnädig und barmherzig sein, mir alle meine Sünden vergeben und zu meiner Besserung deines Geistes Kraft verleihen. Amen.

[Gebete für den täglichen Gebrauch]16 Der Morgensegen

Wenn du morgens aufstehst, sollst du dich bekreuzigen und sagen:

Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen. Darauf kniend oder stehend den Glauben und das Vaterunser; wenn du willst, kannst du das folgende kurze Gebet dazu sprechen:

16. Bei Luther unter den Überschriften »Wie ein Hausvater sein Gesinde soll lehren, morgens und abends sich segenen« und »Wie ein Hausvater sein Gesinde soll lernen, das Benedicite und Gratias sprechen«.

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VI. Der Kleine Katechismus

Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.17 Amen. Und alsdenn mit Freuden an deine Arbeit gegangen und vielleicht ein Lied gesungen, wie zum Beispiel die Zehn Gebote18 oder was deine Andacht dir in den Sinn bringt. Der Abendsegen

Wenn du abends zu Bett gehst, sollst du dich bekreuzigen und sagen:

Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen. Darauf kniend oder stehend den Glauben und das Vaterunser; wenn du willst, kannst du das folgende kurze Gebet dazu sprechen:

Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast, und bitte dich, 17. keinen Anspruch auf mich erheben kann, keinen Einfluss auf mich nehmen kann. 18. Martin Luther, Dies sind die heil’gen Zehn Gebot … (EG 231).

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Gebete

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du wollest mir vergeben alle meine Sünden, wo ich unrecht getan habe, und mich diese Nacht gnädiglich behüten. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen. Und alsdenn flugs und fröhlich geschlafen. Gebet vor Tisch

Die Kinder und Dienstboten sollen mit gefalteten Händen und züchtig an den Tisch treten und sprechen:

Aller Augen warten auf dich, Herr, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen. [Ps 145,15f ] Erklärung: Wohlgefallen heißt, dass alle Tiere so viel zu essen bekommen, dass sie fröhlich und guter Dinge darüber sind; denn Sorge und Hunger verhindern solches Wohlgefallen. Danach das Vaterunser und dies folgende Gebet:

Herr Gott, himmlischer Vater, segne uns und diese deine Gaben, die wir von deiner milden Güte zu uns nehmen, durch Jesus Christus, unsern Herrn. Amen.

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VI. Der Kleine Katechismus

Gebet nach Tisch

Dementsprechend sollen sie auch nach dem Essen ebenso züchtig und mit gefalteten Händen sprechen:

Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. [Ps 106,1; 136,1] Er gibt allen Lebewesen Speise, [Ps 136,25] er gibt dem Vieh Futter und den jungen Raben, die zu ihm rufen. Er freut sich nicht an der Stärke des Rosses und hat kein Gefallen an jemandes Beinen; der Herr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten und die auf seine Güte warten. [Ps 147,9–11] Danach das Vaterunser und dies folgende Gebet:

Wir danken dir, Herr Gott Vater, durch Jesus Christus, unsern Herrn, für alle deine Wohltat, der du lebst und regierst in Ewigkeit. Amen.

Die Haustafel19 einiger Sprüche für allerlei heilige Orden und Stände, um sie durch jeweils für sie bestimmte Schriftstellen an ihren Auftrag und ihre Aufgabe zu erinnern

Den Bischöfen, Pfarrern und Predigern »Ein Bischof soll untadelig sein, Mann einer einzigen Frau, nüchtern, maßvoll, würdig, gastfrei, geschickt im Lehren, kein Säufer, nicht gewalttätig, sondern gütig, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig, einer, 19. Die Sammlung von Sprüchen ist nachweisbar als Beigabe Luthers zur Buchform seines Kleinen Katechismus, möglicherweise gab es auch einen frühen Plakatdruck. Bibeltexte hier nach der revidierten Lutherbibel von 1984.

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Haustafel

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der seinem eigenen Haus gut vorsteht und gehorsame Kinder hat in aller Ehrbarkeit. Er soll kein Neugetaufter sein« usw. In der ersten Epistel an Timotheus im vierten Kapitel [1 Tim 3,2–4.6]. Wozu die Christen ihren Lehrern und Seelsorgern gegenüber verpflichtet sind »Esset und trinkt, was man euch gibt; denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert«, Lk10[,7]. »So hat auch der Herr befohlen, dass, die das Evangelium verkündigen, sich vom Evangelium nähren sollen«, 1 Kor 9[,14]. »Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten. Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten.« Gal 6[,6f]. »Die Ältesten, die der Gemeinde gut vorstehen, die halte man zweifacher Ehre wert, besonders, die sich mühen im Wort und in der Lehre. Denn die Schrift sagt: ›Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.‹ Ebenso: ›Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert‹«, 1 Tim 5[,17f; vgl. Dtn 25,4 und Lk 10,7]. »Wir bitten euch aber, liebe Brüder, erkennt an, die an euch arbeiten und euch vorstehen in dem Herrn und euch ermahnen; habt sie um so lieber um ihres Werkes willen. Haltet Frieden untereinander.« 1 Thess 5[,12f]. »Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen – und dafür müssen sie Rechenschaft geben – , damit sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn das wäre nicht gut für euch.« Hebr 13[,17]. Von weltlicher Obrigkeit »Jedermann sei untertan der Obrigkeit; … wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu … Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.« An die Römer im 13. Kapitel [Röm 13,1f.4].

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Wozu die Untertanen der Obrigkeit gegenüber verpflichtet sind Mt 22[,21]: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Röm 13[,1.5–7]: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit« usw. »Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.« 1 Tim 2[,1f]: »So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.« Tit 3[,1]: »Erinnere sie daran, dass sie der Gewalt der Obrigkeit untertan und gehorsam seien, zu allem guten Werk bereit« usw. 1 Petr 2[,13f]: »Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als denen, die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun.« Den Ehemännern »Ihr Männer, wohnt vernünftig mit ihnen (den Frauen) zusammen und gebt dem weiblichen Geschlecht als dem schwächeren seine Ehre. Denn auch die Frauen sind Miterben der Gnade des Lebens, und euer gemeinsames Gebet soll nicht behindert werden.« [So heißt es] in der 1. Epistel des Petrus im 3. Kapitel [V. 7]. »Und seid nicht bitter gegen sie (die Frauen).« An die Kolosser im dritten Kapitel [V. 19]. Den Ehefrauen »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.« [Eph 5,22 (1 Petr 3,1)] [Vgl. aber auch Eph 5,21 und Gal 3,28.] »Wie Sara Abraham gehorsam war und ihn Herr nannte, deren Töchter seid ihr geworden, wenn ihr recht tut und euch durch nichts beirren lasst« [1 Petr 3,6].

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Haustafel

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Den Eltern »Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, damit sie nicht scheu werden, sondern erzieht sie in der Zucht und Ermahnung des Herrn.« An die Epheser im 6. Kapitel [Eph 6,4; Kol 3,21]. Den Kindern »Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist recht. Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat: auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden.« An die Epheser im 6. Kapitel [Verse 1–3, Zitat aus Dtn 5,16]. Den Knechten, Mägden, Tagelöhnern und Arbeitern »Ihr Knechte, seid gehorsam euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern, in Einfalt eures Herzens, als dem Herrn Christus; nicht mit Dienst allein vor Augen, um den Menschen zu gefallen, sondern als Knechte Christi, die den Willen Gottes tun von Herzen. Tut euren Dienst mit gutem Willen als dem Herrn und nicht den Menschen; denn ihr wisst: Was ein jeder Gutes tut, das wird er vom Herrn empfangen, er sei Knecht oder Freier« [Eph 6,5–8]. Den Hausherren und Hausfrauen »Ihr Herren, tut ihnen (den Knechten) gegenüber das Gleiche und lasst das Drohen; denn ihr wisst, dass euer und ihr Herr im Himmel ist, und bei ihm gilt kein Ansehen der Person« [Eph 6,9]. Der Jugend allgemein »Ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter. Alle aber miteinander haltet fest an der Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit.« In der ersten Epistel des Petrus im 5. Kapitel [Verse 5f].

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Den Witwen »Das ist aber eine rechte Witwe, die allein steht, die ihre Hoffnung auf Gott setzt und beharrlich fleht und betet Tag und Nacht. Eine aber, die ausschweifend lebt, ist lebendig tot.« In der ersten Epistel an Timotheus, 5. Kapitel [Verse 5f]. Der Gemeinde »… Was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst [Lev 19,18]: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« An die Römer im 13. Kapitel [Vers 9]. »… dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen.« In der ersten Epistel an Timotheus im 2. Kapitel [Vers 1]. Ein jeder lern sein Lektion, so wird es wohl im Hause stohn.20

Traubüchlein für die einfachen Pfarrer21 »So manches Land, so manche Sitte«, sagt das bekannte Sprichwort. Weil nun die Hochzeit und der Ehestand eine weltliche Angelegenheit ist, kommt es uns Geistlichen oder Dienern der Kirche nicht zu, darin etwas anzuordnen oder zu bestimmen, sondern wir lassen jeder Stadt und jeder Region hierin ihr gewohntes Brauchtum, wie es gehandhabt wird. Manche führen die Braut zweimal zur Kirche, morgens und abends, manche nur einmal, manche kündigen die Hochzeit öffentlich an und verlesen von der Kanzel das Aufgebot zwei oder drei Wochen vorher; dies und Ähnliches nach Gutdünken zu regeln überlasse ich den Landesherren und Stadträten, es geht mich nichts an. 20. stehen. 21. Der Text wurde von Luther im Jahr 1529 in Anlehnung an die damals in Wittenberg übliche Trauordnung verfasst und separat veröffentlicht; bald wurde er auch als Anhang den Drucken des Kleinen Katechismus beigegeben.

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Traubüchlein

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Wenn man aber von uns begehrt, das Paar vor oder in der Kirche einzusegnen, für sie zu beten oder sie zu trauen, sind wir verpflichtet, es zu tun. Darum habe ich diese Worte und Form denjenigen zur Verfügung stellen wollen, die es nicht besser wissen. Vielleicht haben ja einige Lust, es hierin mit uns übereinstimmend zu halten. Die andern, die es besser können, das heißt, die durchaus nichts können, aber überzeugt sind, alles zu können, haben diesen meinen Dienst nicht nötig, allenfalls um daran herumzubessern und zu kritisieren, und sie sollen sich nur ja fleißig davor hüten, mit jemandem in etwas übereinzustimmen; man könnte sonst denken, sie müssten von andern etwas lernen; und das wäre freilich eine große Schande. Wenn man schon bisher bei der Einsegnung der Mönche und der Nonnen ein so besonders großes Gepränge getrieben hat, obwohl ja ihr Stand eine ungöttliche, rein menschliche Erfindung ist, die keine Grundlage in der Schrift hat, wie viel mehr sollen wir diesen gottwohlgefälligen Stand ehren und in noch viel herrlicherer Weise einsegnen, dafür beten und ihn schmücken. Denn auch wenn es ein weltlicher Stand ist, so hat er doch Gottes Wort für sich und ist nicht von Menschen erfunden oder eingeführt wie der Stand der Mönche und Nonnen. Deshalb sollte er auch mit hundertmal größerem Recht für geistlich angesehen werden, als es dem klösterlichen Stand zukommt, der mit Recht als der allerweltlichste und fleischlichste angesehen werden sollte, weil er aus Fleisch und Blut und in jeder Hinsicht aus weltlicher Überlegung und Vernunft erfunden und gestiftet wurde. Ein weiterer Grund dafür wäre, dass Kinder und Jugendliche lernten, diesen Stand mit Ernst anzusehen und in Ehren zu halten als eine göttliche Handlung und ein göttliches Gebot, statt dabei zum Zeitvertreib Unsinn zu machen, mit Gelächter, Spott und dergleichen Leichtfertigkeiten, wie man es bisher gewohnt gewesen ist, gerade als wäre es ein Scherz oder Kinderspiel, ehelich zu werden oder Hochzeit zu machen. Diejenigen, die es als Erste eingeführt haben, dass man Braut und Bräutigam zur Kirche geleiten soll, haben es sicher nicht als einen Scherz, sondern als sehr ernste Angelegenheit angesehen. Denn ohne Zweifel wollten sie damit den Segen Gottes und die gemeinschaftliche Fürbitte bekommen und nicht eine Komödie oder heidnische Possen treiben. Das zeigt auch die Handlung selbst deutlich; denn wer von dem Pfarrer oder Bischof Gebet und Segen begehrt, der zeigt damit deut-

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lich (auch wenn er es nicht ausspricht), in welche Gefahr er sich begibt, welches Risiko er eingeht und wie nötig er den göttlichen Segen und die gemeinsame Fürbitte braucht für die neue Lebenssituation, in die er sich begibt; so zeigt es sich wohl auch täglich, welches Unglück der Teufel anrichtet im Ehestand durch Ehebruch, Untreue, Uneinigkeit und allerlei Jammer. So wollen wir auf folgende Weise an dem Bräutigam und der Braut (wenn sie es wünschen und verlangen) handeln: Zum Ersten auf der Kanzel aufbieten mit diesen Worten: »Hans N. und Greta N.22 wollen nach göttlicher Ordnung zum heiligen Stande der Ehe greifen und begehren darum eine gemeinsame christliche Fürbitte für sich, dass sie es in Gottes Namen anfangen und es wohl gelinge. Falls jemand etwas dagegen einzuwenden hat, tue er es rechtzeitig oder schweige später. Gott gebe seinen Segen. Amen.« Vor der Kirche trauen mit diesen Worten: »Hans, willst du Greta zum ehelichen Gemahl haben?« Er spreche: »Ja.« »Greta, willst du Hans zum ehelichen Gemahl haben?« Sie spreche: »Ja.« An dieser Stelle lass sie einander die Trauringe geben, lege ihre rechten Hände ineinander und sprich: »Was Gott zusammenfügt, soll kein Mensch scheiden.«23 Danach spreche der Pfarrer folgende Worte, an die gesamte Gemeinde gewandt: »Weil denn Hans N. und Greta N. einander zur Ehe begehren und dies hier öffentlich vor Gott und der Welt bekennen und zum Zeichen dafür die Hände und Trauringe einander gegeben haben, so spreche ich sie ehelich zusammen im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen.«

22. Hans (Johannes) und Greta (Margarethe) waren beliebte zeitgenössische Vornamen, die Luther hier als Platzhalter für die Namen von Bräutigam und Braut verwendet. 23. Mt 19,6.

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Vor dem Altar lese der Pfarrer im Beisein von Bräutigam und Braut Gottes Wort, aus dem zweiten Kapitel des Buches Genesis [V. 18.21–24]: »Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.24 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.25 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.« Danach wende er sich zu ihnen beiden und rede sie folgendermaßen an: »Weil ihr beide euch in den Ehestand begeben habt in Gottes Namen, so hört zunächst das Gebot Gottes über diesen Stand. So spricht der heilige Paulus [Eph 5,25–29.22–24]: ›Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben, um sie zu heiligen. Er hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, damit er sie vor sich stelle als eine Gemeinde, die herrlich sei und keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern die heilig und untadelig sei. So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst. Denn niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst; sondern er nährt und pflegt es, wie auch Christus die Gemeinde. Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist, die er als seinen Leib erlöst hat. Aber wie nun die Gemeinde sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen ihren Männern unterordnen in allen Dingen.‹ Zum andern hört auch das Kreuz [vgl. Mt 16,24], das Gott auf diesen Stand gelegt hat. So sprach Gott zur Frau [Gen 3,16]: 24. wörtlich: eine Hilfe als sein Gegenüber (die ihm entspricht, zu ihm passt). 25. Luther versucht hier ein Wortspiel im hebräischen Urtext wiederzugeben: vyai Ijsch (Mann) – hV…ai Ischah (Frau).

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›Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein,26 aber er soll dein Herr sein.‹ Und zum Mann sprach Gott [Gen 3,17–19]: ›Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen – verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.‹ Zum Dritten, so ist das euer Trost, dass ihr wisst und glaubt, wie euer Stand vor Gott angenehm und gesegnet ist. Denn Folgendes steht geschrieben [Gen 1,27f.31]: ›Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.‹ Darum spricht auch Salomo [Spr 18,22]: ›Wer eine Ehefrau gefunden hat, der hat etwas Gutes gefunden und Wohlgefallen erlangt vom Herrn.‹« Hier strecke die Hände aus über sie und bete folgendermaßen: »Herr Gott, der du Mann und Frau geschaffen und zum Ehestand bestimmt hast, dazu mit Fruchtbarkeit des Leibes gesegnet und das Sakrament deines lieben Sohnes Jesus Christus und der Kirche, seiner Braut, darin abgebildet, wir bitten deine grundlose Güte, du wollest diese deine Stiftung, Ordnung und Segnung nicht verändern oder verderben lassen, sondern gnädiglich in uns bewahren durch Jesus Christus, unsern Herrn, Amen.«

26. Im Traubüchlein lautet die Stelle: »und du sollst dich ducken vor deinem Mann«.

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Taufbüchlein (1526)

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Das Taufbüchlein ins Deutsche übersetzt und neu bearbeitet27 Martin Luther wünscht allen christlichen Lesern Gnade und Friede in Christus, unserm Herrn. Weil ich täglich sehe und höre, mit welcher Nachlässigkeit und mit wie geringem Ernst, um nicht zu sagen Leichtfertigkeit, man das hohe, heilige, tröstliche Sakrament der Taufe an den kleinen Kindern vollzieht, was auch daher kommen mag, dass diejenigen, die dabeistehen, nichts von dem verstehen, was da geredet und getan wird, halte ich es nicht nur für nützlich, sondern für ausgesprochen notwendig, dass man es in deutscher Sprache tue. Und ich habe dies darum ins Deutsche übersetzt, damit man fortan in deutscher Sprache taufe, damit die Paten und die übrige Taufgemeinde umso mehr zum Glauben und zu ernsthafter Andacht bewegt werden und die Priester, die die Taufe vollziehen, um der Zuhörer willen mit umso größerer Sorgfalt handeln müssen. Ich bitte aber aus christlicher Treue alle diejenigen, die taufen, Kinder aus der Taufe heben und dabeistehen, die vortreffliche Handlung und den großen Ernst hierin zu Herzen zu nehmen. Denn du hörst hier in den Worten dieser Gebete, mit wie viel Klagen und mit welch großem Ernst die christliche Kirche das Kind herbeiträgt und so mit deutlichen und unbezweifelbaren Worten vor Gott bekennt, es sei vom Teufel besessen und ein Kind der Sünde und Ungnade, und so angelegentlich um Hilfe und Gnade bittet durch die Taufe, dass es ein Kind Gottes werden möge. Darum wollest du bedenken, dass es durchaus kein Scherz ist, gegen den Teufel vorzugehen und denselben nicht nur von dem Kind fortzujagen, sondern dem Kind auch einen solch mächtigen Feind für die Dauer seines Lebens auf den Hals zu laden, so dass es wirklich nötig ist, dem armen Kind aus ganzem Herzen und mit starkem Glauben beizustehen und aufs andächtigste zu bitten, dass ihm Gott ent27. Luther veröffentlichte 1523 das Taufbüchlein separat (als Übersetzung des bis dahin üblichen lateinischen Taufritus); eine stark überarbeitete Fassung, die zugunsten einer Konzentration auf den Kern der Taufhandlung zahlreiche daran angelagerte Symbolhandlungen fallen lässt (er zählt einige unten auf: unter die Augen blasen, Kreuze mit Salböl auftragen etc.), gab er 1526 heraus. Diese Fassung wurde schon ab 1529 als Anhang frühen Buchausgaben des Kleinen Katechismus beigefügt.

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sprechend dem Wortlaut dieser Gebete nicht allein aus der Gewalt des Teufels heraushelfe, sondern es auch stärke, dass es ritterlich gegen ihn im Leben und im Sterben bestehen möge. Und ich fürchte, dass die Leute nach der Taufe sich auch deshalb so übel entwickeln, weil man so kalt und nachlässig mit ihnen umgegangen ist und ohne jeden Ernst für sie gebetet hat in der Taufe. So beachte nun, dass bei der Taufhandlung diese äußerlichen Teile das Geringste ausmachen, wie: unter die Augen zu blasen, Kreuze mit Salböl aufzutragen, Salz in den Mund zu geben, Speichel und Erde auf Ohren und Nase zu streichen, mit Öl auf der Brust und den Schultern zu salben und mit Chrisam den Scheitel zu bestreichen, das Taufkleid anzuziehen, brennende Kerzen in die Hände zu geben und was dergleichen mehr von Menschen hinzugetan wurde in der Absicht, die Taufhandlung zu verschönern; denn es kann auch recht gut ohne dies alles die Taufe vollzogen werden, und das sind nicht diejenigen Kunstgriffe, vor denen sich der Teufel scheut oder flieht. Er achtet bedeutendere Dinge gering, man muss hier mit Ernst zu Werke gehen. Achte deshalb vor allem darauf, dass du im rechten Glauben dastehst, Gottes Wort hörst und ernsthaft mitbetest. Denn wenn der Priester sagt: »Lasst uns beten!«, ruft er auch und gerade dich dazu auf, mit ihm zu beten. Die Worte seines Gebetes sollen alle Paten und die übrige Taufgemeinde in ihren Herzen mit ihm zu Gott sprechen. Darum soll der Priester diese Gebete recht deutlich und langsam sprechen, damit die Paten es hören und vernehmen können und die Paten auch einmütig im Herzen mit dem Priester beten, die Not des Kindes aufs Allerernstlichste vor Gott tragen, sich mit aller Kraft für das Kind dem Teufel widersetzen und sich so verhalten, dass es erkennbar ihr voller Ernst mit dem ist, was für den Teufel kein Scherz ist. Deshalb ist es auch angemessen und richtig, dass man nicht betrunkene und grobe Pfaffen die Taufe vollziehen lässt, auch nicht leichtfertige Personen als Paten bestellt, sondern würdige, ehrbare, ernste, rechtschaffene Priester und Paten, von denen man erwarten kann, dass sie die Handlung mit Ernst und rechtem Glauben vornehmen, damit man das hohe Sakrament nicht dem Spott des Teufels preisgebe und Gott missachte, der uns darin mit so überschwänglichem und grundlosem Reichtum seiner Gnade überschüttet, dass er es selbst eine »neue Geburt« nennt, durch die wir von aller Tyrannei

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des Teufels frei, von Sünden, Tod und Hölle los, Kinder des Lebens und Erben aller Güter Gottes und zu Gottes Kindern und Geschwistern Christi werden. Ach liebe Christen, lasst uns diese unaussprechliche Gabe nicht so nachlässig ansehen und mit ihr umgehen. Die Taufe ist ja doch unser einziger Trost und Eingang zu allen göttlichen Gütern und zur Gemeinschaft aller Heiligen.28 Dazu helfe uns Gott, Amen. Der Täufer spreche: »Fahre aus, du unreiner Geist, und gib Raum dem Heiligen Geist.« Danach mache er dem Täufling ein Kreuzeszeichen an Stirn und Brust und spreche: »Nimm das Zeichen des heiligen Kreuzes an der Stirn und auf der Brust! Lasst uns beten: O allmächtiger, ewiger Gott, Vater unseres Herrn Jesu Christi, ich rufe dich an über diesem N., deinem Diener, der deiner Taufe Gabe erbittet und deine ewige Gnade durch die geistliche Wiedergeburt begehrt. Nimm ihn auf, Herr, und wie du gesagt hast. ›Bittet, so werdet ihr nehmen, sucht, so werdet ihr finden, klopft an, so wird euch aufgetan‹ [Mt 7,7f], so reiche nun die Gabe dem, der da bittet, und öffne die Türe dem, der da anklopft, dass er den ewigen Segen dieses himmlischen Bades erlange und das verheißene Reich deiner Gnade empfange durch Christus, unsern Herrn, Amen. Lasst uns beten: Allmächtiger, ewiger Gott, der du hast durch die Sintflut nach deinem gestrengen Gericht die ungläubige Welt verdammt und den gläubigen Noah mit sieben Angehörigen nach deiner großen Barmherzigkeit erhalten, [vgl. Gen 6,5–9,17] den verstockten Pharao mit allen Seinen im Roten Meer ersäuft und dein Volk Israel trocken hindurchgeführt, [vgl. Ex 14] der du damit dies Bad deiner Heiligen Taufe vorab angekündigt hast und hast durch die Taufe deines lieben Kindes, unseres Herrn Jesus Christus, [vgl. Mt 3,13–17; Mk 1,9–11; Lk 3,21f; Joh 1,32–34] den Jordan und alle Wasser zur seligen Sintflut und reichlichen Abwaschung der Sünden geheiligt und eingesetzt, wir bitten um dieser deiner grundlosen Barmherzigkeit willen, du wollest diesen N. gnädiglich ansehen und mit rechtem Glauben im

28. Vgl. unten S. 585f.

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Geist beseligen, dass durch diese heilsame Sintflut an ihm ersaufe und untergehe alles, was ihm von Adam angeboren ist und er selbst dazugetan hat, damit er, aus der Zahl der Ungläubigen ausgeschieden, in der heiligen Arche der Christenheit trocken und sicher untergebracht, allezeit brennend im Geist, fröhlich in Hoffnung deinem Namen diene, auf dass er mit allen Gläubigen würdig werde, das ewige Leben gemäß deiner Verheißung zu erlangen durch Jesus Christus, unsern Herrn, Amen. Ich beschwöre dich, du unreiner Geist, bei dem Namen des Vaters + und des Sohnes + und des Heiligen Geistes +, dass du ausfahrest und weichest von diesem Diener Jesu Christi, N., Amen.29 Lasst uns hören das heilige Evangelium nach St. Markus [10,13–16]: ›Zu der Zeit brachten sie kleine Kinder zu Jesus, damit er sie berühren sollte. Aber die Jünger bedrohten diejenigen, die das taten. Als Jesus das sah, ärgerte er sich darüber und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht. Denn solchen gehört das Himmelreich. Wahrlich, ich sage euch, wer nicht das Reich Gottes nimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.‹« Anschließend lege der Priester seine Hände auf das Haupt des Kindes und bete das Vaterunser samt den Paten kniend: »Vater unser im Himmel« etc. Danach bringe man das Kind zum Taufstein, und der Priester spreche: »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.« [Ps 121,8] Danach lasse der Priester das Kind durch seine Paten dem Teufel absagen und spreche: »N., entsagest du dem Teufel?« Antwort: »Ja.« »Und allen seinen Werken?« Antwort »Ja.« »Und allem seinem Wesen?« Antwort: »Ja.« 29. Bei + soll der Priester jeweils mit der Hand ein Kreuzeszeichen über dem Täufling schlagen.

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Danach frage er: »Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde?« Antwort: »Ja.« »Glaubst du an Jesus Christus, seinen einzigen Sohn, unsern Herrn, geboren und gelitten?« Antwort: »Ja.« »Glaubst du an den Heiligen Geist, eine heilige, christliche Kirche, Gemeinde der Heiligen,Vergebung der Sünde, Auferstehung des Fleisches und nach dem Tod ein ewiges Leben?« Antwort: »Ja.« »Willst du getauft sein?« Antwort: »Ja.« Da nehme er das Kind, tauche es in das Taufbecken30 und spreche: »Und ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Dann sollen die Paten das Kind halten über dem Taufbecken, und der Priester spreche, während er ihm das Taufkleid anzieht: »Der allmächtige Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi, der dich von Neuem geboren hat durchs Wasser und den Heiligen Geist und hat dir alle deine Sünde vergeben, der stärke dich mit seiner Gnade zum ewigen Leben. Amen. Friede mit dir.« Antwort: »AMEN.«

30. Luther setzt hier voraus, dass der zu taufende Säugling dreimal vollständig im Taufbecken untergetaucht wird (Immersionstaufe), wie es heute beispielsweise noch in der griechisch-orthodoxen Kirche üblich ist; erst allmählich setzte sich in der westlichen Kirche das Begießen des Täuflings mit Wasser durch (Infusionstaufe).

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Einleitung Martin Luther hat im Laufe seines Lebens immer wieder über die Hauptstücke des Katechismus gepredigt und auch geschrieben. Als er etliche kursächsische Gemeinden visitierte, stellte er erschüttert fest, dass es vielen Gemeindegliedern, aber auch Pfarrern und Predigern, an grundlegenden Kenntnissen hinsichtlich des evangelischen Glaubens fehlte. Um hier Abhilfe zu schaffen, begann Luther im Herbst 1528 auf der Grundlage von Mitschriften seiner Katechismuspredigten zunächst mit der Abfassung seines später so genannten »Großen Katechismus«, der hauptsächlich Pfarrer und Prediger dazu anleiten sollte, die grundlegenden Glaubenswahrheiten in Predigt und Unterricht Kindern und Jugendlichen, aber auch den übrigen Gemeindegliedern nahezubringen. Im Zuge der Ausarbeitung dieses »Deutschen Katechismus« erkannte Luther die Notwendigkeit, ergänzend eine kurzgefasste Sammlung der wichtigsten Texte als elementare Unterrichtshilfe vornehmlich für die Lehrenden, aber auch für die Lernenden zu schaffen. Noch ehe der Große Katechismus fertig war, begann Luther deshalb mit der Zusammenstellung und Formulierung des »Enchiridions« (griech. »Handbüchlein«), auch »Kleiner Katechismus« genannt. Der Kleine Katechismus ist darum nicht einfach ein Auszug aus dem Großen, sondern beide haben einander wechselseitig beeinflusst. Der Große Katechismus ist allerdings sprachlich deutlich weniger stark durchformt als der Kleine, er ist stärker an gesprochener Rede orientiert, die Satzgefüge ufern mitunter aus, die Rückbezüge der Pronomina werden formal undeutlich bzw. sind nur dem Sinn nach zu erfassen. Anfang oder Mitte April 1529 erschien der »Deutsche Katechismus« erstmals in Wittenberg; noch im gleichen Jahr gab Luther eine durchgesehene und vermehrte Ausgabe heraus, die dritte Auflage aus dem Jahr 1530 ergänzte Luther um eine längere Vorrede, die deshalb auch schon Erfahrungen mit der Aufnahme des Katechismus in der Pfarrerschaft widerspiegeln konnte. Luthers Großer Katechismus entstammt – ähnlich wie die Texte der Hauptstücke, die er auslegt, besonders die Zehn Gebote – einer ganz überwiegend agrarisch strukturierten, ständisch organisierten, patriarchalischen Gesellschaft, d. h., die Landwirtschaft bildete die unmit-

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telbare Lebensgrundlage der meisten Menschen; Rang und Stand bzw. die eigene Rolle innerhalb der Gesellschaft wurde meist dadurch bestimmt, in welche Familie man geboren wurde; von Gleichberechtigung konnte weder im Hinblick auf die Geschlechter noch im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung und Entscheidungsgewalt der Angehörigen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen die Rede sein; es gab Obrigkeit und Untertanen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Reformationszeit sind also allenfalls entfernt mit denen in einer modernen Demokratie vergleichbar. Die Neubearbeitung des Texts hat bei allem Bemühen um Verständlichkeit für heutige Leserinnen und Leser diese Differenz der Lebensverhältnisse nicht völlig einebnen können und wollen. Wo es, ohne dem Text Gewalt anzutun, möglich war, sind geschlechtsneutrale Formulierungen bevorzugt und weniger zeitgebundene Bezeichnungen für bestimmte Funktionen verwendet worden. Auch spezielle theologische Termini sind nach Möglichkeit in gemeinverständliches Deutsch übertragen worden, wobei mit fortschreitender Lektüre des Texts den Leserinnen und Lesern zunehmende Kenntnisse zugetraut werden. Neben den gesellschaftlichen Grundgegebenheiten spiegelt der Text auch aktuelle Probleme der Konsolidierungsphase der Reformation wider: Vielerorts freute man sich der evangelischen Freiheiten, man stellte die Abgaben zur Unterhaltung von kirchlichen Einrichtungen ein und wollte nicht einsehen, dass auch evangelische Prediger und ihre Familien durch die Gemeinden versorgt werden mussten, dass Lehrer und Küster ihr Auskommen haben mussten, wenn sie ihren Dienst versehen sollten. Nicht selten gab es auch noch Auseinandersetzungen mit altgläubigen Parteigängern, die die reformatorischen Prediger und Gemeinden verfolgten, außerdem klingt mehrmals die akute Bedrohung des Reiches durch die Türken an, die im Herbst 1529 Wien belagerten. Bei aller Zeitbedingtheit des Textes – Luthers Erziehungsgrundsätze etwa entsprechen nicht in allem den Vorstellungen heutiger, freilich ebenfalls zeitbedingter Pädagogik – bleibt der Große Katechismus dennoch in vielerlei Hinsicht erstaunlich aktuell.

Literatur: Siehe die Angaben zum Kleinen Katechismus.

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Deutscher Katechismus. Vorrede Martin Luthers.1 Dass wir selbst den Katechismus so eingehend in Predigten behandeln und auch von andern fordern und erbitten, dies zu tun, dafür haben wir schwerwiegende Gründe. Denn wir sehen, dass leider viele Prediger und Pfarrherrn2 hierin sehr nachlässig sind und sowohl ihr Amt wie auch die Katechismuslehre geringschätzen. Einige tun es wegen ihrer großen Gelehrsamkeit, andere aber aus lauter Faulheit und Bauchsorge. Letztere verhalten sich, als wären sie um ihres Bauches willen Pfarrherr oder Prediger und hätten nichts zu tun, als zeitlebens den Ertrag der Kirchengüter für sich zu verbrauchen, wie sie es unter der Herrschaft des Papstes gewohnt waren. Alles, was sie lehren und predigen sollen, ist ihnen jetzt so reichlich, klar und leicht verständlich zugänglich gemacht in so vielen heilsamen Büchern und wirklichen – wie sie sie vorzeiten nannten – »Sich selbst haltenden Predigten«, »Schlafe ruhig«, »Fix und fertig« und »Schatztruhen«.3 Dennoch sind sie nicht einmal so treu und redlich, dass sie solche Bücher kauften, oder obwohl sie sie besitzen, sehen sie sie dennoch nicht an und lesen sie nicht. Ach, das sind allesamt schändliche Fresslinge und Bauchdiener [vgl. Röm 16,18; Phil 3,19], die besser Schweinehirten oder Hundeführer sein sollten als Seelsorger und Pfarrer. Sie sind von dem unnützen, beschwerlichen Geschwätz der sieben Tagzeitengebete4 befreit; wenn sie doch wenigstens nun stattdessen

1. Vorrede aus dem Jahr 1530 zur dritten Auflage des Katechismus. 2. Der Pfarrherr (Pfarrer) war Inhaber einer Pfarrei, aus deren Einkünften er seinen Lebensunterhalt bestritt, und als solcher zuständig für alle Bereiche von öffentlichem Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht etc., während der Prediger in der Regel nur einen genau umrissenen Predigtauftrag versah. 3. »Sermones per se loquentes«, »Dormi secure«, »Paratos« et »Thesauros«: Titel von verbreiteten spätmittelalterlichen Predigtsammlungen, die den Pfarrern und Predigern die Arbeit abnehmen oder doch erleichtern sollten. 4. Priester, Mönche und Nonnen waren verpflichtet, siebenmal im Tageslauf zu bestimmten Zeiten Psalmen und weitere Stücke zu beten. Vor Sonnenaufgang begann man mit der Prim, es folgten Terz, Sext (um die Mittagszeit), Non, Vesper, Complet (Abendgebet), Matutin/Laudes (nach Mitternacht).

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morgens, mittags und abends zum Beispiel ein Blatt oder zwei aus dem Katechismus, aus dem Betbüchlein,5 aus dem Neuen Testament oder sonst aus der Bibel lesen und ein Vaterunser für sich und ihre Pfarrkinder beten wollten, um dem Evangelium Ehre und Dank zu erweisen, durch das sie so mancherlei Last und Beschwerlichkeiten losgeworden sind, und schämten sich ein wenig, dass sie wie Säue und Hunde nicht mehr vom Evangelium behalten als diese faule, schädliche, schändliche, fleischliche Freiheit. Denn die Menge achtet leider ohnedies das Evangelium gering, und wir richten nicht viel aus, selbst wenn wir all unseren Fleiß anwenden. Was sollte aber erst werden, wenn wir nachlässig und faul sein wollten, wie wir es unter dem Papsttum gewesen sind? Dazu kommt noch das schändliche Laster und die heimliche böse Seuche der Überheblichkeit und des Überdrusses, so dass viele meinen, der Katechismus sei eine schlichte, anspruchslose Lehre, die sie nur einmal durchlesen müssten, um sie vollständig zu beherrschen; dann werfen sie das Buch in die Ecke und schämen sich gleichsam, weiter darin zu lesen. Ja man findet wohl etliche grobe Menschen und Geizhälse auch unter dem Adel, die vorgeben, man brauche fortan weder Pfarrherrn noch Prediger, man habe es ja in Büchern und könne es sich selbst beibringen, und sie lassen auch die Pfarreien getrost verfallen und verwahrlosen, obendrein Pfarrherrn und Prediger ausgiebig Not und Hunger leiden, wie es denn den verrückten Deutschen zu tun gebührt. Denn wir Deutschen haben solch schändliche Leute und müssen es hinnehmen. Das sage ich aber für mich: Ich bin auch ein Doktor und Prediger, wenigstens so gelehrt und erfahren, wie alle diejenigen sein mögen, die solche Vermessenheit und Überheblichkeit zeigen. Dennoch mache ich es wie ein Kind, dem man den Katechismus beibringt, und lese und spreche auch von Wort zu Wort morgens und wenn ich sonst Zeit dazu habe, das Vaterunser, die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, Psalmen etc., und muss noch täglich dazu lesen und studieren. Dennoch beherrsche ich den Stoff nicht so, wie ich gerne wollte, und muss ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben, und ich bleibe es auch gern. Aber diese anspruchsvollen, wäh5. Luther hatte 1522 sein »Betbüchlein« veröffentlicht (vgl. WA 10/2, 375–482), das auch katechetische Stücke enthielt und die altgläubigen Andachtsbücher ersetzen sollte.

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lerischen Gesellen wollen im Nu nach einmaligem Durchlesen gelehrter als alle Doktoren sein, alles können und nichts mehr brauchen. Wohlan, das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sowohl ihr Amt als auch die Seelen des (Kirchen-)volks, ja überdies Gott und sein Wort verachten, und sie brauchen nicht erst zu fallen [vgl. 1 Kor 10,12; 2 Petr 3,17], sondern sie sind schon allzu gräulich gefallen; sie hätten es nötig, dass sie wieder Kinder würden und das ABC zu lernen anfingen, von dem sie meinen, es längst hinter sich gelassen zu haben. Deshalb bitte ich diese faulen Bäuche oder vermessenen Heiligen, sie wollten sich um Gottes willen überzeugen lassen und glauben, dass sie wahrhaftig, wahrhaftig nicht so gelehrt und so bedeutende Doktoren sind, wie sie es sich selbst einbilden, und niemals denken, dass sie diese Stücke ausgelernt hätten oder in jeder Hinsicht genug wüssten, auch wenn sie sich einbilden, sie könnten es nur allzu gut. Denn wenn sie es auch durchwegs aufs allerbeste wüssten und könnten (was doch in diesem Leben unmöglich ist), so bringt es doch mancherlei Nutzen und Frucht, wenn man es täglich liest und übt mit Gedanken und Reden, nämlich dass der Heilige Geist bei diesem Lesen, Reden und Bedenken gegenwärtig ist und immer neu und mehr Licht und Andacht dazu gibt, so dass es immer besser schmeckt und leichter aufgenommen wird, wie es Christus auch verspricht Mt 18[,20]: »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.« Überdies hilft es ganz ungemein gegen den Teufel, die Welt, das Fleisch6 und alle bösen Gedanken, wenn man sich mit Gottes Wort beschäftigt, davon redet und darüber nachdenkt, so dass auch der erste Psalm diejenigen seligpreist, die »sich Tag und Nacht mit Gottes Gesetz beschäftigen« [Ps 1,2]. Ohne Zweifel wirst du keinen Weihrauch oder ein anderes Räucherwerk mit größerer Wirkung gegen den Teufel zubereiten können,7 als wenn du dich mit Gottes Geboten und Worten beschäftigst, davon redest, singst oder darüber nachdenkst. Das ist freilich das eigentliche Weihwasser und Zeichen, vor

6. Im Anschluss an die Redeweise des Apostels Paulus nennt Luther hier »Fleisch« unsere gesamte irdische Existenz, die noch immer zur Sünde geneigt ist und bisweilen in eigentlich längst überwundene Verhaltensmuster zurückfällt. Vgl. unten bei Anm. 85. 7. Weihrauch und Weihwasser galten im Volksglauben (und z.T. auch im kirchlichen Ritus) als Abwehrmittel gegen Teufel und Dämonen.

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dem er flieht und mit dem er sich verjagen lässt. Nun solltest du ja schon allein deswegen diese Stücke gerne lesen, von ihnen reden, sie bedenken und dich mit ihnen beschäftigen, wenn du auch sonst keine Frucht und keinen anderen Nutzen davon hättest, als den Teufel und böse Gedanken damit verjagen zu können; denn er kann Gottes Wort nicht hören und nicht ertragen. Und Gottes Wort ist nicht wie irgendein haltloses Geschwätz, wie etwa die Sagen um Dietrich von Bern,8 sondern, wie der heilige Paulus sagt Röm 1[,16], »eine Kraft Gottes«, ja wirklich eine Kraft Gottes, die dem Teufel empfindliche Schmerzen zufügt und uns über die Maßen stärkt, tröstet und hilft. Und was soll ich noch viel sagen? Wenn ich allen möglichen Nutzen und alle Frucht aufzählen sollte, die Gottes Wort hervorbringt, wo wollte ich Papier und Zeit genug hernehmen? Den Teufel nennt man auch Tausendkünstler; wie will man aber erst Gottes Wort nennen, das diesen Tausendkünstler mit all seiner Kunst und Macht verjagt und zunichtemacht? Es muss freilich mehr als ein Hunderttausendkünstler sein. Und wir sollten diese Macht, diesen Nutzen, diese Kraft und diese Frucht so leichtfertig verachten, noch dazu wenn wir Pfarrherrn und Prediger sein wollen? Dann sollte man uns allerdings nicht nur nichts zu essen geben, sondern uns auch mit Hunden aus dem Ort hetzen und uns dabei mit Pferdeäpfeln bewerfen, weil wir dies alles nicht nur täglich nötig haben wie das tägliche Brot, sondern es auch täglich haben müssen gegen das tägliche und nimmermüde Anfechten und Lauern des tausendkünstigen Teufels. Und als ob dies nicht genug wäre zur Ermahnung, den Katechismus täglich zu lesen, so sollte uns doch allein schon das Gebot Gottes hinlänglich dazu bewegen, der Dtn 6[,7f] mit Ernst gebietet, dass man seine Gebote im Sitzen, Gehen, Stehen, Liegen und Aufstehen immer bedenken und wie ein beständiges Erinnerungszeichen vor Augen und in den Händen haben soll.9 Ohne Zweifel wird er dies nicht 8. Die Sagengestalt des Dietrich von Bern geht auf den Ostgotenkönig Theoderich († 526) zurück, der in Ravenna residierte und dort auch begraben liegt. Die an diese Gestalt angelagerten Volkssagen führt Luther häufiger als Beispiel für Legenden ohne Anhalt an der Realität an. 9. Um dieser Forderung Genüge zu tun, ist es jüdische Sitte, Gebetsriemen mit Lederkapseln zu tragen, die die Texte Ex 13,1–10.11–16; Dtn 6,4–9; 11,13–21 enthalten, je einen für den linken Arm und die Stirn. Sie werden in der Regel von Männern ab dem 13. Lebensjahr beim werktäglichen Morgengebet angelegt.

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grundlos so ernsthaft verlangen und fordern; sondern weil er unsere Gefahr und Not kennt, dazu das fortwährende wütende Stürmen und Anfechten der Teufel, will er uns davor warnen, dagegen wappnen und davor schützen wie mit einer guten »Rüstung« gegen ihre »feurigen Pfeile« [vgl. Eph 6,11.16] und wie mit guter Arznei gegen ihre giftige Ansteckung und böse Vergiftung. O was für verrückte, wahnsinnige Narren sind wir: Nicht genug, dass wir inmitten so mächtiger Feinde wohnen oder uns aufhalten müssen, wie es die Teufel sind, wir verachten obendrein noch unsere Waffen und Verteidigungsmittel und sind zu faul, um sie anzusehen oder daran zu denken! Solche gelangweilten, vermessenen Heiligen, die den Katechismus nicht täglich lesen und lernen wollen oder mögen, halten sich selbst offenbar für viel gelehrter, als es Gott selbst ist mit all seinen heiligen Engeln, Propheten, Aposteln und allen Christen. Denn solange Gott selbst sich nicht schämt, dies täglich zu lehren, weil er nichts Besseres zu lehren weiß, und immer dasselbe lehrt und nichts Neues oder anderes vornimmt – und alle Heiligen wissen nichts Besseres oder anderes zu lernen und können nicht auslernen –, dann sind wir wohl die allergebildetsten Leute, die wir uns einbilden, dass wir alles könnten und nicht mehr zu lesen und zu lernen brauchten, wenn wir es einmal gelesen und gehört haben, und könnten in einer Stunde auslernen, was Gott selbst nicht zu Ende lehren kann, obwohl er doch daran lehrt von Anfang der Welt bis zum Ende, und woran alle Propheten samt allen Heiligen zu lernen gehabt haben und dabei immer Schüler geblieben sind und noch bleiben müssen? Denn das muss ja sein: Wer die Zehn Gebote gut und vollständig versteht, der muss die ganze Schrift verstehen, so dass er in allen Angelegenheiten und Fällen raten, helfen, trösten, beurteilen und im weltlichen wie im geistlichen Bereich richten kann, und er kann Richter sein über alle Lehre, Stände, Geister, Recht und was es sonst in der Welt geben mag. Und was ist der gesamte Psalter anderes als reines Bedenken und Einüben des ersten Gebots? Nun weiß ich allerdings, dass diese faulen Bäuche oder vermessenen Geister nicht einmal einen einzigen Psalm verstehen, geschweige die ganze Heilige Schrift, meinen aber, den Katechismus zu kennen, und verachten ihn, der ein kurzer Auszug und eine Zusammenfassung der ganzen Heiligen Schrift ist.

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Darum bitte ich nochmals alle Christen, insbesondere die Pfarrherrn und Prediger, sie möchten sich nicht verfrüht für Doktoren halten und sich einbilden, alles zu wissen (Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz),10 sondern sich täglich eifrig darin üben und sich immerzu damit beschäftigen, sich außerdem mit aller Sorgfalt und allem Fleiß hüten vor der vergiftenden Wirkung solcher Überheblichkeit oder der Einbildung eigener Meisterschaft, dazu beständig fortfahren mit Lesen, Lehren, Lernen, Bedenken und Nachsinnen und nicht aufhören, bis sie erfahren und gewiss werden, dass sie den Teufel totgelehrt haben und gelehrter geworden sind als Gott selbst und alle seine Heiligen. Wenn sie diesen Fleiß aufbringen, so will ich ihnen zusagen, und sie werden es auch merken, welche Frucht sie erlangen werden und wie gebildete Leute Gott aus ihnen machen wird, so dass sie mit der Zeit selbst zugeben werden, dass sie, je länger und je mehr sie sich mit dem Katechismus beschäftigen, desto weniger davon wissen und umso mehr daran zu lernen haben; und es wird ihnen als Hungrigen und Durstigen dann erst richtig schmecken, was sie jetzt vor großer Fülle und Überdruss nicht riechen mögen. Dazu gebe Gott seine Gnade. Amen.

Vorrede11 Dieser Text ist dazu bestimmt und in der Absicht begonnen worden, dass er eine Unterweisung für die Kinder und Unkundigen sei. Darum nennt man ihn auch von alters her auf Griechisch Katechismus, das ist eine Kinderlehre, die jeder Christ notwendigerweise wissen soll. Wer diese Grundkenntnisse nicht hat, kann nicht als Christ angesehen und zu keinem Sakrament zugelassen werden. Ein Handwerker, der die Gepflogenheiten seines Handwerks nicht kennt, wird ja auch als unfähig entlassen. Deshalb soll man junge Leute die Stücke, die zum Katechismus oder zur Kinderpredigt gehören, gründlich lernen lassen und sie flei10. Im Original ein anderes Sprichwort: »Es geht an Dünken und gespanntem Tuch viel ab« = In Konfrontation mit der Realität schrumpft das übergroße Selbstbild des Eingebildeten ähnlich stark wie das neue Tuch beim ersten Waschen. 11. Vorrede zur ersten Ausgabe des Katechismus von 1529.

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ßig darin üben und damit beschäftigen. Darum ist auch jeder Hausvater verpflichtet, wenigstens einmal in der Woche seine Kinder und sein Gesinde der Reihe nach zu fragen und abzuhören, was sie davon wissen oder lernen, und wenn sie es nicht wissen, sie mit Ernst dazu anzuhalten. Denn ich erinnere mich an Zeiten, ja es geschieht noch täglich, dass man unerzogene alte, betagte Leute findet, die hiervon gar nichts gewusst haben oder noch wissen, und doch gleichwohl Paten werden und zum Abendmahl gehen und alles gebrauchen, was die Christen haben. Dabei sollten doch diejenigen, die zum Sakrament gehen, billigerweise mehr wissen und ein tieferes Verständnis aller christlichen Lehre haben als die Kinder und Schulanfänger. Allerdings belassen wir es für das gewöhnliche Kirchenvolk zunächst bei den drei Hauptstücken, die von alters her in der Christenheit erhalten geblieben sind, wenn auch oft unzureichend gelehrt und behandelt, so lange, bis sich alle, die Christen heißen und sein wollen, junge und alte, in diesen Stücken gut auskennen und darin wohl bewandert sind. Es handelt sich um folgende Stücke:

Erstens: Die Zehn Gebote Gottes. Das erste: Du sollst keine andern Götter haben neben mir. Das zweite: Du sollst den Namen Gottes nicht ohne guten Grund in den Mund nehmen.12 Das dritte: Du sollst den Feiertag heiligen. Das vierte: Du sollst Vater und Mutter ehren. Das fünfte: Du sollst nicht töten. Das sechste: Du sollst nicht ehebrechen. Das siebte: Du sollst nicht stehlen. Das achte: Du sollst nicht falsch aussagen gegen deinen Nächsten.13 Das neunte: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Das zehnte: Du sollst nicht begehren sein Weib, Knecht, Magd, Vieh oder irgendetwas, das ihm gehört.

12. Wörtlich: »Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich führen.« 13. Wörtlich: »Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Der Nächste ist der Mitmensch, jeder, von dem wir uns aus einer Notlage retten lassen würden; vgl. Lk 10,25–37.

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Zweitens: Die Hauptartikel unseres Glaubens. Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen einzigen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist von dem Heiligen Geist, geboren aus Maria, der Jungfrau, der gelitten hat unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ist, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters, und von dort kommend, zu richten die Lebendigen und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen.14

Drittens: Das Gebet oder Vaterunser, das Christus gelehrt hat. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden, unser täglich Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Übel. Amen.15 14. Die heute gebräuchliche ökumenische Fassung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, die 1971 von der »Arbeitsgemeinschaft für liturgische Texte« veröffentlicht wurde, weicht davon teilweise ab: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen [= einzigen] Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige, christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.« 15. Luther bietet hier die damals gebräuchliche Form des Vaterunsers, ohne den Lobpreis (Mt 6,13), gemäß Lk 11,2–4. Ökumenische Fassung der »Arbeitsgemeinschaft für liturgische Texte«: »Vater unser im Himmel! Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern

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Vorrede 1529

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Dies sind die nötigsten Stücke, die man zuallererst Wort für Wort lernen muss; und man soll die Kinder daran gewöhnen, dass sie es täglich aufsagen müssen, wenn sie des Morgens aufstehen, zu Tisch gehen und sich abends schlafen legen; und man soll ihnen weder zu essen noch zu trinken geben, ehe sie es aufgesagt haben. Ebenso soll ein jeglicher Hausvater mit dem Gesinde, Knechten und Mägden, verfahren, dass er sie nicht bei sich behalte, wenn sie es nicht können oder nicht lernen wollen. Denn man darf es keineswegs zulassen, dass ein Mensch so roh und wild bleibt, dass er das nicht lernt. In diesen drei Stücken ist nämlich alles kurz, leicht verständlich und unkompliziert zusammengefasst, was wir in der Heiligen Schrift haben. Denn die lieben Väter oder Apostel (wer auch immer es war)16 haben darin zusammengestellt, was die Lehre, das Leben, die Weisheit und die Gelehrsamkeit der Christen ausmacht, wovon sie reden und handeln und womit sie sich beschäftigen. Wenn nun diese drei Stücke begriffen sind, gehört es sich auch, dass man Auskunft geben könne über unsere Sakramente (die Christus selbst eingesetzt hat), das der Taufe und das des heiligen Leibes und Blutes Christi,17 nämlich zum einen den Text, mit dem Matthäus und Markus am Ende ihres jeweiligen Evangeliums beschreiben, wie Christus seinen Jüngern den Abschied gab und sie aussandte:

Von der Taufe. »Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« »Wer da glaubt und getauft

erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.« 16. Luther lässt es dahingestellt sein, ob das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis tatsächlich von den Aposteln formuliert wurde, wie es die Legende behauptete. Vgl. Anm. 69. 17. Während sich in der mittelalterlichen Kirche allmählich eine Siebenzahl von Sakramenten herausbildete, die dann auch durch das 2. Konzil von Lyon 1274 bestätigt wurde (Taufe, Beichte, Eucharistie [Abendmahl], Firmung, Priesterweihe, Ehe, Krankensalbung [Letzte Ölung]), ließen die Reformatoren in der Regel nur die beiden von Jesus Christus selbst eingesetzten, aus Wort und Element(en) bestehenden Sakramente gelten.

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wird, der wird selig werden, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.« [Mt 28,19; Mk 16,16] Damit weiß ein Unkundiger von der Taufe genug aus der Schrift, entsprechend auch vom andern Sakrament in kurzen, deutlichen Worten, nämlich den Text des heiligen Paulus [1 Kor 11,23–25]:

Vom Sakrament [des Altars]. Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, als er verraten ward, nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: »Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Solches tut zu meinem Gedächtnis.« Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach: »Dieser Kelch ist ein neues Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünde. Solches tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis.« Auf diese Weise hätte man in fünf Hauptteilen die gesamte christliche Lehre, die man immerfort behandeln und von Wort zu Wort fordern und abhören soll. Denn verlasse dich nicht darauf, dass die Kinder und Jugendlichen allein aus der Predigt alles Nötige lernen und behalten. Wenn man nun diese Stücke gut kennt, so kann man anschließend noch etliche Psalmen oder Gesänge, die darüber gedichtet sind, vorlegen als Zugabe und Vertiefung desselben Stoffes und so die Jugend in die Schrift führen und täglich weiter vorangehen. Es soll aber nicht damit genug sein, dass man es nur dem Wortlaut nach auffasst und aufsagen kann, sondern lass die Kinder und Jugendlichen auch zur Predigt gehen, insbesondere zu der Zeit, die für den Katechismus vorgesehen ist, damit sie hören, wie er ausgelegt wird, und verstehen lernen, was jedes Stück beinhaltet, so dass sie es auch aufsagen können, wie sie es gehört haben, und verständig antworten, wenn man sie fragt, damit es nicht ohne Nutzen und Frucht gepredigt werde. Denn darum machen wir uns die Mühe, den Katechismus oft vorzupredigen, damit man dies der Jugend einpräge, nicht anspruchsvoll oder schwer verständlich, sondern kurz und möglichst einfach, damit sie es leicht auffassen und es im Gedächtnis bleibt. Deshalb wollen wir uns nun die genannten Stücke nacheinander vornehmen und möglichst deutlich davon reden, so viel nötig ist.

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Zehn Gebote – 1. Gebot

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[Der erste Teil: Über die Zehn Gebote] Das erste Gebot: Du sollst nicht andere Götter haben. Das bedeutet: Du sollst mich alleine für deinen Gott halten. Was ist damit gesagt und wie ist es zu verstehen? Was heißt einen Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Gott nennt man denjenigen oder dasjenige, von dem man alles Gute erwartet und bei dem man Schutz sucht in allen Notfällen. Einen Gott zu haben ist also nichts anderes, als ihm von Herzen zu vertrauen und zu glauben. Oft schon habe ich es gesagt: Allein das Vertrauen und Glauben des Herzens macht beide, Gott und Abgott. Sind Glaube und Vertrauen richtig, so ist auch dein Gott richtig, und umgekehrt: Wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der wahre Gott nicht. Denn die beiden gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässt dich darauf, das ist eigentlich dein Gott. Darum ist nun der Sinn dieses Gebots, dass es wahren Glauben und wahre Zuversicht des Herzens verlangt, die auf den einzig wahren Gott gerichtet sind und sich an ihm allein festmachen. Es sagt so viel wie: »Hab Vertrauen und lass mich alleine dein Gott sein und suche niemals einen andern«; das heißt: Was dir an Gutem fehlt, das erwarte von mir und suche es bei mir, und wenn du Unglück und Not erleidest, dann suche bei mir Schutz und halte dich zu mir. ICH, ich will dir genug geben und dir aus aller Not helfen, hänge nur dein Herz an keinen andern. Damit man es versteht und merkt, muss ich es deutlich hervorheben anhand von Gegenbeispielen aus dem Alltag: Mancher meint, er habe Gott und alles zur Genüge, wenn er Geld und Besitz hat, verlässt sich darauf und brüstet sich damit so überheblich, dass er niemanden der Beachtung wert findet. Sieh, der hat auch einen Gott, der heißt Mammon [vgl. Mt 6,24], das ist Geld und Besitz, worauf er sich voll und ganz verlässt. Das ist der verbreitetste Abgott auf Erden. Wer Geld und Besitz hat, der weiß sich unangreifbar, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies. Wer hingegen keines hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird wenige Leute finden, die guten Mutes sind und nicht trauern oder klagen, wenn sie den Mammon nicht

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haben. Das ist eine Eigenart der menschlichen Natur, die ihr anhaftet bis ins Grab. Entsprechend verhält es sich mit dem, der darauf vertraut und pocht, dass er große Gelehrsamkeit, Klugheit, Macht, Einfluss, Beziehungen und öffentliches Ansehen habe; der hat auch einen Gott, aber auch nicht den wahren, einzig wirklichen Gott. Das erkennst du wieder daran, wie vermessen, überheblich und stolz man ist auf solche Güter und wie verzagt, wenn sie nicht vorhanden sind oder entzogen werden. Darum sage ich noch einmal, dass die zutreffende Auslegung dieses Stückes sei, dass einen Gott haben heißt, etwas haben, worauf das Herz ganz und gar vertraut. Bedenke ferner, was wir bisher angestellt und getan haben zur Zeit der Verblendung unter der Herrschaft des Papstes: Wenn jemandem ein Zahn wehtat, fastete er zu Ehren der Heiligen Apollonia;18 wer sich vor Feuersnot fürchtete, der machte den Heiligen Laurentius zum Nothelfer;19 wer sich vor der Pest fürchtete, tat ein Gelübde zugunsten des Heiligen Sebastian20 oder des Heiligen Rochus,21 und der Gräuel waren noch unzählige mehr. Da wählte ein jeder seinen persönlichen Schutzheiligen und betete ihn an und rief zu ihm, damit er ihm aus einer Notlage helfe. Hierher gehören auch diejenigen, die es gar zu grob treiben und mit dem Teufel einen Pakt schließen, dass er ihnen Geld genug gebe oder in Liebesdingen helfe, ihr Vieh bewahre, verlorenes Gut wiederbeschaffe etc., wie die Zauberer und Magier; denn diese alle setzen ihr Herz und Vertrauen anderswohin als auf den wahrhaftigen Gott, erwarten nichts Gutes von ihm, suchen es auch nicht bei ihm.

18. Der Heiligen Apollonia († um 248/249) wurden im Verlauf ihres Martyriums die Zähne ausgeschlagen, deshalb wandte man sich an sie um Hilfe gegen Zahnleiden. 19. Der Heilige Laurentius von Rom soll im Jahre 258 das Martyrium auf einem Bratrost erlitten haben; so wurde er zum Nothelfer gegen Feuersgefahr, aber auch gegen Wundbrand und dergleichen, außerdem zum Schutzheiligen zahlreicher feuergefährdeter Berufsgruppen. 20. Der Heilige Sebastian (Ende des 3. Jahrhunderts) wurde im Verlauf seines Martyriums von Pfeilen durchbohrt; zum Pestheiligen wurde er vermutlich aufgrund von Ps 91,5f. 21. Der Heilige Rochus († 1327) soll Pestkranke gepflegt und geheilt haben und auch selbst von der Pest genesen sein.

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Also verstehst du nun leicht, was und wie viel dieses Gebot fordert, nämlich das ganze Herz des Menschen, alle seine Zuversicht auf Gott allein und niemand anderen zu setzen. Denn dass einen Gott zu haben nicht heißen kann, ihn mit Fingern zu ergreifen, in einen Beutel zu stecken oder in eine Truhe einzuschließen, das erkennst du wohl. Das bedeutet aber, ihn erfasst zu haben, wenn ihn das Herz ergreift und an ihm hängt. Mit dem Herzen an ihm zu hängen ist aber nichts anderes, als sich ganz und gar auf ihn zu verlassen. Darum will er uns von allem anderen abwenden, das außerhalb von ihm liegt, und zu sich ziehen, weil er das einzig ewige Gut ist; er sagt gleichsam: »Was du zuvor bei den Heiligen gesucht oder worin du auf den Mammon oder anderes vertraut hast, das erwarte alles von mir, und halte mich für denjenigen, der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will.« Siehe, da hast du nun, was die rechte Verehrung und der rechte Gottesdienst ist, der Gott gefällt, den er auch anordnet bei Strafe seines ewigen Zorns, nämlich dass das Herz keinen anderen Trost und keine andere Zuversicht kenne, als auf ihn zu vertrauen, sich auch nicht davon wegreißen lasse, sondern bereit sei, alles dafür aufzugeben, was auf Erden ist. Dagegen wirst du leicht erkennen, wie die Welt allenthalben falschen Gottesdienst und Abgötterei treibt. Denn es ist bislang kein Volk so verkommen gewesen, dass es nicht irgendeine Form von Gottesdienst aufgerichtet und gehalten hätte. Da hat jedermann das zum besonderen Gott erhoben, wovon er für sich Gutes, Hilfe und Trost erwartet hat. Zum Beispiel erhoben die Heiden, die ihre Zuversicht auf Macht und Herrschaft setzten, ihren Jupiter zum höchsten Gott, andere, die nach Reichtum, nach Glück oder nach Vergnügen und Wohlleben strebten, den Herkules, den Merkur, die Venus oder andere, die schwangeren Frauen die Diana oder die Lucina,22 und so fort; jeder machte sich den zum Gott, zu dem ihn sein Herz zog. Demnach heißt in der Tat, auch nach Auffassung aller Heiden, einen Gott zu haben: ihm zu vertrauen und an ihn zu glauben. Nur darin gehen sie fehl, dass ihr Vertrauen falsch und unrecht ist, denn es richtet sich nicht auf den einzig wahren Gott, neben dem es wahr22. Lucina ist ein Beiname der altrömischen Göttin Iuno in ihrer Eigenschaft als Geburtsgöttin.

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haftig keinen anderen Gott gibt, weder im Himmel noch auf Erden. Darum machen die Heiden genau genommen ihre eigene, selbstgemachte Vorstellung und ihren Traum von Gott zum Abgott und verlassen sich auf ein bloßes Nichts. So ist es um alle Abgötterei bestellt; denn sie besteht nicht bloß darin, dass man etwa ein Bild aufrichtet und es anbetet, sondern sie hat ihren Ort vor allem im Herzen, das anderswohin gafft, Hilfe und Trost sucht bei den Heiligen oder Teufeln und sich um Gott nicht schert, von ihm nicht einmal annimmt, dass er helfen wolle, auch nicht glaubt, dass von ihm kommt, was ihm Gutes widerfährt. Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Form von falschem Gottesdienst, die höchste Abgötterei, die wir bislang getrieben haben und die noch in der Welt vorherrscht, auf der auch alle geistlichen Stände beruhen. Sie betrifft allein das Gewissen, das Hilfe, Trost und Seligkeit sucht in eigenen Leistungen. Es maßt sich an, Gott den Himmel abzuzwingen, und rechnet, wie viel es gestiftet, gefastet, Messe gehalten hat etc. Es verlässt sich auf die eigene Leistung und pocht darauf, als wolle es nichts von Gott geschenkt nehmen, sondern alles aus eigener Kraft erwerben oder auch noch für andere verdienen, gerade als müsste Gott uns zu Diensten sein und sei unser Schuldner, wir aber seine Vorgesetzten und Gläubiger. Was bedeutet das anderes, als aus Gott einen Götzen, ja eine bloße Vogelscheuche23 zu machen und sich selbst für Gott zu halten und zum Gott aufzuwerfen? Aber das ist ein wenig zu scharf, es ist zum Vortrag vor den jungen Schülern nicht geeignet. Das sei aber den Unkundigen gesagt, damit sie den Sinn dieses Gebotes erfassen und sich gut einprägen: Man soll Gott allein vertrauen und lauter Gutes von ihm erwarten, denn er gibt uns Leib, Leben, Essen, Trinken, Lebensunterhalt, Gesundheit, Schutz, Frieden und alles, was wir in diesem Leben und für die Ewigkeit brauchen, außerdem bewahrt er uns vor Unglück, und wenn uns doch etwas widerfährt, rettet er uns und hilft uns heraus. Gott ist also (wie oft genug gesagt) der eine, von dem man alles Gute empfängt und der 23. Originaltext: Apfelgott. Möglicherweise bezieht sich der Ausdruck auf die in römischen Obstgärten aufgestellten, mit leuchtend roter Mennige angestrichenen Statuen des Gottes Priapus.

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von allem Unglück befreit. Aus diesem Grunde, vermute ich, nennen wir Deutschen seit alters Gott auch mit ebendiesem Namen (passender und angemessener als jede andere Sprache), nach dem Wörtchen »gut«, weil Gott eine unerschöpfliche Quelle ist, die von lauter Güte überfließt und aus der alles fließt, was gut ist und gut heißt.24 Auch wenn uns sonst viel Gutes von Menschen getan wird, so bedeutet es doch, alles von Gott zu empfangen, was man durch seinen Befehl und seine Anordnung empfängt. Denn unsere Eltern und alle, die uns etwas zu sagen haben, (ebenso wie wir alle im Hinblick auf unsere Mitmenschen) haben den Befehl, dass sie uns allerlei Gutes tun sollen. Wir empfangen das Gute also nicht von ihnen, sondern durch sie von Gott. Denn die Geschöpfe sind nur die Hände, Kanäle und Mittel, mit deren Hilfe Gott uns alles gibt. So gibt Gott der Mutter Brüste und Milch, um sie ihrem Kind zu reichen, er gibt Korn und allerlei Gewächse aus der Erde als Nahrungsmittel, die kein Geschöpf selbst herstellen kann. Deshalb soll sich kein Mensch unterstehen, etwas zu nehmen oder zu geben, es sei denn von Gott befohlen, damit man es als seine Gabe erkenne und ihm dafür danke, wie dieses Gebot verlangt. Darum soll man auch solche Mittel, bei denen man durch andere Geschöpfe Gutes von Gott empfängt, nicht ausschlagen oder aus Vermessenheit andere Wege und Weisen suchen, dies Gute zu erlangen, als Gott befohlen hat. Denn das hieße nicht, das Gute dankbar von Gott zu empfangen, sondern es auf eigene Faust an sich bringen zu wollen. Darauf achte nun jeder Mensch bei sich selbst, dass man dieses Gebot vor allen Dingen groß und hoch achte und nicht für einen Scherz ansehe. Befrage und erforsche dein Herz genau, so wirst du herausfinden, ob es allein an Gott hängt oder nicht. Hast du ein Herz, das lauter Gutes von ihm erwartet, insbesondere in Notlagen und Mangel, und das alles andere loslassen kann, was nicht Gott ist, dann hast du auch den einzigen wahren Gott. Wenn es hingegen von etwas anderem abhängig ist, von dem es mehr Gutes und Hilfe erwartet als von Gott, und läuft nicht zu ihm, sondern flieht vor Gott, wenn es in Not ist, dann hast du einen Abgott. 24. Tatsächlich besteht wohl kein etymologischer Zusammenhang zwischen beiden Wörtern.

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Damit man sieht, dass Gott die nicht in den Wind geschlagen haben, sondern sehr ernst genommen wissen will, hat er zu diesem Gebot zunächst einmal eine schreckliche Drohung, dann aber auch eine schöne, tröstliche Zusage gesetzt. Beides soll man auch gründlich behandeln und den Kindern und Jugendlichen eindringlich vortragen, damit sie es sich einprägen und behalten: Denn ich bin der HERR, dein Gott, ein starker Eiferer, der die Missetat der Eltern heimsucht an den Kindern bis in die dritte und vierte Generation, wenn sie mich hassen; aber ich übe Barmherzigkeit an vielen Tausenden, wenn sie mich liebhaben und meine Gebote halten. Zwar beziehen sich diese Worte auf alle Gebote (wie wir später sehen werden), sie sind aber zu diesem Hauptgebot gesetzt, weil es darauf am meisten ankommt, dass ein Mensch ein richtiges Haupt hat; denn wo das Haupt in Ordnung ist, da ist auch das ganze Leben in Ordnung, und umgekehrt. So lerne nun aus diesen Worten, wie zornig Gott ist über diejenigen, die sich auf irgendetwas anderes als ihn allein verlassen, und wiederum, wie gütig und gnädig er denen gegenüber ist, die ihm allein von ganzem Herzen vertrauen und an ihn glauben. Der Zorn hält an bis in die dritte und vierte Generation, die Wohltat und Güte dagegen erstreckt sich über viele Tausende, damit man nicht so gleichgültig dahinlebe, wie die ungehobelten Charaktere denken, als käme es nicht sonderlich darauf an. Er ist ein solcher Gott, der es nicht ungeahndet lässt, wenn man sich von ihm abwendet, und der nicht aufhört zu zürnen bis in die dritte und vierte Generation, so lange, bis sie vollständig ausgerottet werden. Darum will er gefürchtet und nicht verachtet sein. Das hat er auch bewiesen in allen Geschichtsdarstellungen und historischen Erzählungen, wie sie uns die Schrift reichlich anzeigt und wie uns die tägliche Erfahrung noch immer eindrücklich lehren kann. Denn er hat alle Abgötterei von Anfang an konsequent ausgerottet und deshalb weder Heiden noch Juden verschont. So stürzt er auch heute noch allen falschen Gottesdienst, so dass schließlich alle, die darin verharren, untergehen müssen. Wenngleich man also heute anmaßende, reiche Säcke findet, die sich auf ihren Mammon etwas

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einbilden, ohne Rücksicht darauf, ob Gott zürnt oder lacht, weil sie meinen, auch seinem Zorn die Stirn bieten zu können, so werden sie mit dieser Haltung doch Schiffbruch erleiden, wie auch alle andern untergegangen sind, die sich noch für weit unangreifbarer und mächtiger gehalten haben. Gerade wegen solch harter Köpfe, die sich, weil Gott sie eine Weile mit ihrem Treiben gewähren lässt, einbilden, er wisse gar nichts davon oder es liege ihm nichts daran, muss er so dreinschlagen und so hart strafen, bis hin zu ihren Enkeln, damit jeder darauf aufmerksam wird und erkennt, dass er es sehr ernst meint. Denn diese meint er auch mit »denen, die mich hassen«, das heißt, die in ihrem Eigensinn und Hochmut verharren. Was man ihnen predigt oder sagt, wollen sie nicht hören. Hält man ihnen eine Strafpredigt, damit sie zu Selbsterkenntnis und Reue kommen, ehe es zu spät ist, dann regen sie sich auf, fühlen sich beleidigt und bekräftigen ihren verkehrten Standpunkt noch. So verdienen sie sich den Zorn redlich, wie sich auch an Bischöfen und Fürsten täglich zeigt. So erschreckend diese Drohworte einerseits sind, so ist doch andererseits der Trost der Zusage noch stärker, dass Gott an denjenigen, die sich allein an ihn halten, seine Barmherzigkeit erweisen will, das heißt: ihnen und ihren Nachfahren Gutes tun über unzählige Generationen. Das sollte uns dazu bewegen, von Herzen auf Gott zu vertrauen mit aller Zuversicht, wenn wir alles Gute haben wollen für die Dauer unseres begrenzten Lebens auf dieser Erde und für das ewige Leben bei Gott, weil der hohe und erhabene Gott uns so entgegenkommt, so eindringlich um uns wirbt und so großzügige Zusagen ausspricht. Darum sollte jeder Mensch sich diese Worte sehr ernsthaft zu Herzen nehmen und sie nicht etwa als bloßes Gerede leichthin abtun. Denn du hast davon entweder ewigen Segen, Glück und Seligkeit, oder ewigen Zorn, Unglück und Herzeleid. Was könntest du im Ernst über das hinaus haben wollen, was er dir so freundlich verspricht, nämlich dass er dir gehören will mit allem Guten, dich schützen und dir in allen Notlagen helfen will? Es scheitert aber daran, dass die Welt das alles nicht glaubt und nicht für Gottes Wort hält, weil sie sieht, dass diejenigen, die Gott und nicht dem Mammon vertrauen, Kummer und Not leiden und dass der Teufel gegen sie arbeitet und verhindert, dass sie zu Geld, Einfluss oder öffentlichem Ansehen kom-

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men, ja kaum das Leben behalten. Diejenigen aber, die dem Mammon dienen, genießen Macht, Einfluss, Ansehen und Besitz und jegliche Annehmlichkeiten vor aller Augen. Deshalb muss man diese Worte auffassen als gerade gegen diesen trügerischen Anschein gerichtet und wissen, dass sie nicht lügen oder trügen, sondern schließlich in Erfüllung gehen müssen. Denke du selbst zurück oder erkundige dich bei anderen und sage mir: Was haben diejenigen, die alle ihre Sorge und ihren Fleiß darauf verwendet haben, großen Besitz und Geld zusammenzuscharren, schließlich damit erreicht? Bei näherem Hinsehen wirst du feststellen, dass sie Mühe und Arbeit verloren haben oder dass sie zwar große Schätze zusammengebracht haben, die aber bald wieder zerstoben und auseinandergeweht sind, so dass sie selbst ihres Besitzes nie froh geworden sind und jedenfalls die dritte Erbengeneration davon nichts mehr gesehen hat. Genug Beispiele dafür wirst du in allen Geschichtsbüchern finden, auch von alten erfahrenen Leuten hören. Betrachte sie nur und achte darauf. Saul war ein großer König, von Gott erwählt und ein rechtschaffener Mann; aber als er sich an seine Macht gewöhnt hatte und seine Stellung für selbstverständlich ansah, als er sein Herz von Gott abwandte und sich ganz auf seine Krone und seine Macht verließ, musste er untergehen mit allem, was er hatte, so dass auch keines seiner Kinder übrig blieb.25 David hingegen war ein armer, verachteter Mann, verjagt und auf der Flucht, so dass er seines Lebens nirgends sicher war, und doch konnte Saul ihm nichts anhaben, und er wurde an seiner Stelle König [vgl. 1 Sam 16; 2 Sam 5]. Denn diese Zusagen mussten Bestand haben und in Erfüllung gehen, weil Gott weder lügen noch betrügen kann. Willst du aber betrogen werden, dann halte dich nur an den Teufel und die Welt mit ihrem oberflächlichen Glänzen, das eine Zeit lang blendet, aber schließlich doch verschwindet! Darum lasst uns das erste Gebot gründlich lernen, damit wir erkennen, dass Gott weder Selbstüberschätzung noch abergläubisches

25. Saul und seine Söhne Jonatan, Abinadab und Malkischua kamen im Kampf gegen die Philister zu Tode (vgl. 1 Sam 31,2–6), Isch-Boschet/Eschbaal/Jischwi wurde ermordet (vgl. 2 Sam 4,7). Sauls Tochter Michal war mit David verheiratet, aber dieser zeugte keine Kinder mit ihr (vgl. 2 Sam 6,23). Über das weitere Schicksal von Sauls Tochter Merab (vgl. 1 Sam 18,19) verlautet nichts.

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Vertrauen auf irgendetwas anderes dulden will und dass er nicht mehr von uns verlangt, als dass wir von ihm alles Gute erwarten, so dass wir auf geraden Wegen durchs Leben gehen und alles, was Gott uns Gutes gibt, nicht in höherem Grad von uns Besitz ergreifen lassen als etwa ein Schuhmacher seine Nadel, seine Ahle26 oder seinen Schusterdraht, die er für seine Arbeit gebraucht und anschließend beiseitelegt, oder wie ein Gast die Unterkunft, Futter für sein Reittier und das Bett gebraucht, nämlich für den jeweiligen unmittelbaren Bedarf. So sollen wir es mit demjenigen halten, was Gott uns Gutes gibt, jeder an seinem Platz entsprechend der guten Ordnung Gottes, und nichts davon sollen wir zu unserem Herrn und Abgott werden lassen. Das sei genug vom ersten Gebot, das wir haben besonders betonen müssen, weil es ganz besonders wichtig ist. Wenn nämlich (wie schon gesagt) das Herz im richtigen Verhältnis zu Gott steht und deshalb dieses Gebot eingehalten wird, dann ergibt sich die Erfüllung der übrigen Gebote von selbst.

Das zweite Gebot: Du sollst Gottes Namen nicht ohne guten Grund in den Mund nehmen. Während das erste Gebot das Herz unterweist und den Glauben lehrt, führt uns dieses Gebot nach draußen und richtet den Mund und die Zunge auf Gott aus. Denn das Erste, was aus dem Herzen nach außen dringt und sich zeigt, sind die Worte. Was es heißt, einen Gott zu haben, habe ich oben gelehrt. Entsprechend musst du auch den Sinn dieses und aller weiteren Gebote möglichst deutlich auffassen und auf dich selbst beziehen. Wenn man nun fragt: »Wie verstehst du das zweite Gebot, oder was heißt Gottes Namen ohne guten Grund in den Mund nehmen oder missbrauchen?«, dann antworte kurz und bündig: »Das heißt Gottes Namen zu missbrauchen, wenn man Gott den Herrn im Zusammenhang mit irgendeiner lügnerischen, betrü-

26. Eine Schusterahle (auch »Ort« oder »Pfriem« genannt) ist ein starker, vorn meist gebogener, spitzer Metallstift mit (hölzernem) Griff, mit dessen Hilfe Löcher insbesondere in Leder gestochen oder vorhandene Löcher geweitet werden können; ein Öhr an der Spitze ermöglicht das Durchziehen des Schusterdrahtes (mit Pech getränkter, deshalb besonders haltbarer und reißfester starker Faden aus Hanf oder Flachs).

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gerischen oder sonstigen unehrenhaften Absicht nennt.« Darum ist so häufig geboten, dass man sich auf Gottes Namen nicht fälschlich beziehen und ihn nicht in den Mund nehmen soll, wenn man sich bewusst ist oder bewusst sein müsste, dass es sich in Wahrheit anders verhält, als man öffentlich beteuert, wie es bei denen geschieht, die vor Gericht einen Meineid leisten. Denn Gottes Namen kann man nicht übler missbrauchen, als wenn man damit lügt und betrügt. Das ist die klarste und verständlichste Bedeutung dieses Gebotes. Daraus kann jedermann selbst leicht entnehmen, wann und in wie vielfältiger Weise Gottes Name missbraucht wird, auch wenn es unmöglich ist, alle Formen des Missbrauchs darzulegen. Kurz gesagt, geschieht aller Missbrauch des göttlichen Namens einerseits in weltlichen Angelegenheiten, die Geld, Besitz, Ansehen betreffen, es sei öffentlich vor Gericht, auf dem Marktplatz oder anderwärts, wenn man schwört und Meineide leistet auf Gottes Namen oder eine Lüge »bei meiner Seele« bekräftigt. Insbesondere ist das gängige Praxis in Ehesachen, dass sich nämlich zwei Menschen erst heimlich miteinander verloben und später alles unter Eid ableugnen. Am schwersten wiegt allerdings der Missbrauch in geistlichen Belangen, die das Gewissen betreffen. Da stehen falsche Prediger auf und geben ihre Lügengespinste als Gottes Wort aus. Bei dem allen benutzt man Gottes Namen, um etwas Fragwürdiges oder Verwerfliches zu beschönigen oder mit dem Schein der Ehrbarkeit oder des Rechts zu verbrämen, es gehe nun um handfeste materielle Interessen oder um hochspezielle Fragen des Glaubens und der Lehre. Unter die Lügner gehören auch die Lästermäuler, und zwar nicht nur die sehr unverschämten, allgemein bekannten, die ohne Scheu Gottes Namen missbrauchen (die gehören nicht in unseren Unterricht, sondern in den des Henkers!), sondern auch diejenigen, die die Wahrheit und Gottes Wort öffentlich schmähen und sie dem Teufel zuschreiben.27 Doch davon genug für jetzt. Hier lass uns nun lernen und zu Herzen nehmen, wie viel an diesem Gebot gelegen ist, damit wir uns mit allem Fleiß hüten und scheuen, den heiligen Namen zu missbrauchen, weil das die höchste Sünde ist, die äußerlich begangen werden kann. Denn lügen und be-

27. Hier denkt Luther offenbar an altgläubige Gegner der evangelischen Lehre.

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trügen ist an sich schon eine schwere Sünde, sie wird aber noch viel schwerer, wenn man zu ihrer Begründung und Absicherung Gottes Namen benutzt, um die Lüge zu bekräftigen und den Betrug zu bemänteln, so dass aus einer einfachen Lüge eine doppelte, ja vielfache Lüge wird. Darum hat Gott diesem Gebot auch ein ernstes Drohwort angehängt, das lautet so: »denn der HERR wird den nicht für unschuldig halten, der seinen Namen ohne guten Grund gebraucht«, das bedeutet: Es soll keinem geschenkt werden oder ungestraft abgehen. Denn sowenig er es ungestraft lassen will, dass man das Herz von ihm abwende, so wenig will er es dulden, dass man seinen Namen benutzt, um Lügen zu beschönigen. Nun ist es leider eine verbreitete Plage in aller Welt, dass nur wenige Gottes Namen nicht zur Lüge und zu aller Bosheit missbrauchen, ebenso wenige, wie von Herzen auf Gott allein vertrauen. Denn diese schöne Tugend haben wir von Natur alle an uns, dass, wer etwas Böses getan hat, gerne seine Schande verbergen und bemänteln möchte, damit niemand es sieht oder erfährt; und niemand ist so verkommen, dass er sich einer Übeltat vor allen Leuten rühmte; man will es lieber heimlich tun, damit es nicht bekannt wird. Greift man nun jemanden an, so muss Gott mit seinem Namen herhalten und das Verbrechen zu einer guten Tat und die Schande zu Ehrbarkeit machen. Das ist der gewöhnliche Lauf der Welt, der sich überall ausgebreitet hat wie eine Sintflut. Deshalb geschieht uns auch recht, was dabei herauskommt: Pest, Krieg, Geldentwertung, Brände, Überschwemmungen, Schwierigkeiten in der Ehe, bei der Erziehung der Kinder und im Umgang mit Untergebenen sowie sonstiger Schaden. Woher sonst käme so viel Jammer? Es ist noch eine große Gnade, dass uns die Erde überhaupt trägt und ernährt. Darum sollte man vor allen Dingen die Kinder und Jugendlichen mit Ernst dazu anhalten und daran gewöhnen, dass sie dieses und andere Gebote deutlich vor Augen haben, und wenn sie sie übertreten, sofort mit der Rute hinter ihnen her sein und das Gebot vorhalten und immer einschärfen, damit sie nicht bloß mit Strafe, sondern zur Scheu und Ehrfurcht vor Gott erzogen würden. So verstehst du nun, wie Gottes Name missbraucht wird, nämlich, kurz gesagt, entweder bloß zum Zweck der Lüge und um etwas Unheiliges als heilig auszugeben, oder um zu fluchen, zu beschwören,

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Zauberei zu treiben, und – alles in allem – Bosheiten zu verüben, wie man will. Daneben musst du auch wissen, wie man den Namen angemessen gebraucht. Denn wenn Gott sagt: »Du sollst Gottes Namen nicht ohne guten Grund gebrauchen«, so gibt er damit zu verstehen, dass man den Namen an sich durchaus gebrauchen darf und soll. Denn er ist uns eben darum offenbart und gegeben worden, um gebraucht zu werden. Weil hier verboten ist, den heiligen Namen zum Zweck der Lüge oder Untugend zu missbrauchen, ergibt sich im Umkehrschluss von selbst, dass geboten ist, ihn für die Wahrheit und alles Gute zu gebrauchen, zum Beispiel, wenn man wahrhaftig schwört, wo es nötig ist und gefordert wird, oder wenn man wahrhaftig lehrt, ebenso wenn man den Namen anruft in Notlagen, lobt und dankt im Guten etc. Das alles ist zusammengefasst und geboten in dem Spruch Psalm 50[,15]: »Rufe mich an zur Zeit der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen.« Denn das alles meint, den Namen zur Wahrheit heranzuziehen und in Gottes Sinn zu gebrauchen, und so wird sein Name geheiligt, wie wir im Vaterunser beten. Damit ist der Sinn des Gebotes insgesamt erfasst. Und von diesem Verständnis her ist die Frage leicht zu klären, mit der sich viele Kirchenlehrer herumgequält haben, warum es nämlich im Evangelium verboten ist zu schwören, obwohl Christus, der heilige Paulus und andere Heilige oft geschworen haben [vgl. 2 Kor 1,23; Gal 1,20]. Die Bedeutung ist, kurz gesagt: Schwören soll man nicht zum Bösen, das ist: um zu lügen, oder wo es weder notwendig noch nützlich ist; aber zum Guten und um einem Mitmenschen zu helfen, soll man schwören. Denn es ist eine gute Tat, durch die Gott gepriesen wird, die Wahrheit und das Recht bestätigt, die Lüge bekämpft, die Leute zum Frieden gebracht, Gehorsam geleistet und Streitigkeiten geschlichtet werden; denn Gott greift da selbst ein und scheidet Recht und Unrecht, Böse und Gut voneinander. Leistet eine Seite einen Meineid, so haben sie ihr Urteil und werden der Strafe nicht entgehen, selbst wenn diese eine Weile auf sich warten lässt; so soll ihnen doch unterdessen nichts gelingen, so dass aller möglicher Gewinn aus dem Meineid ihnen unter den Händen zerrinnt und niemals fröhlich genossen wird. Das habe ich bei vielen beobachtet, die ihr heimliches

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Eheversprechen öffentlich unter Eid abgeleugnet haben, dass sie danach keine gute Stunde und keinen gesunden Tag gehabt haben und so an Leib und Seele und selbst am Vermögen jämmerlich zugrunde gegangen sind. Deshalb sage und ermahne ich noch einmal, dass man die Kinder beizeiten daran gewöhne mit Warnen und Abschrecken, Verwehren und Strafen, dass sie sich scheuen vor Lügen, und insbesondere davor, Gottes Namen dafür zu missbrauchen. Denn wenn man das durchgehen lässt, wird nichts Gutes daraus, wie man jetzt deutlich sehen kann, dass die Welt böser ist als je zuvor: die gesellschaftliche Ordnung zerfällt, die Regeln für das Zusammenleben werden missachtet, es gibt weder Zuverlässigkeit noch Vertrauen mehr, sondern nur noch verkommene, zügellose Leute, bei denen weder Lehren noch Strafen hilft. Das alles ist ein Ausdruck des Zornes Gottes und eine Strafe wegen der mutwilligen Missachtung dieses Gebots. Andererseits soll man die Kinder auch immer wieder dazu anhalten, Gottes Namen zu ehren und stetig im Mund zu führen bei allem, was ihnen widerfährt und zu Gesicht kommt; denn das ist die wahre Ehre des Namens, dass man alle Hilfe von ihm erwartet und deshalb zu ihm ruft, so dass zuerst das Herz durch den Glauben Gott die Ehre gibt, danach der Mund durch das Bekenntnis. Das ist auch eine nützliche Gewohnheit im Einklang mit Gottes Willen und sehr kräftig gegen den Teufel, der ständig um uns herumschleicht und darauf lauert, wie er uns zu Sünde und Schande, Jammer und Not bringen könnte, der aber da sehr ungern zuhört und es nicht lange aushalten kann, wo man Gottes Namen von Herzen nennt und zu ihm ruft; und es würde uns wohl manches schreckliche und gräuliche Unglück widerfahren, wenn uns Gott nicht wegen des Anrufens seines Namens davor rettete. Ich habe es selbst versucht und die Erfahrung gemacht, dass oft plötzliches großes Unglück sogleich, wenn ich zu Gott um Hilfe rief, sich gewendet hat und vorübergegangen ist. Wir sollten den heiligen Namen ständig im Munde führen, um gewissermaßen dem Teufel wehezutun, damit er nicht schaden kann, wie er gerne will. Diesen Zweck hat es auch, dass man es sich zur Gewohnheit werden lässt, mit Körper und Seele sich selbst, den Ehepartner, Kinder, Mitarbeiter und was wir haben, täglich Gottes Schutz und Fürsorge anzubefehlen für alle möglichen Notfälle. Daher kommen auch die

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Tischgebete »Benedicite« und »Gratias«28 und andere Segensworte für morgens und abends und sind in Gebrauch geblieben, ebenso der Brauch aus Kindertagen, wenn man etwas Ungeheueres und Schreckliches sieht oder hört, sich zu bekreuzigen und zu sagen »HERR Gott, behüte«, »Hilf, lieber Herr Christus« oder dergleichen. Entsprechend auch wenn jemandem unverhofft etwas Gutes widerfährt, es sei auch nur eine Kleinigkeit, dass man sagt: »Gott sei gelobt und gedankt«, »Das hat mir Gott beschert« etc. (So hat man früher die Kinder daran gewöhnt, für den Sankt Nikolaus und andere Heilige zu fasten und zu beten.) Wenn man das täte, wäre es Gott angenehm und wäre ihm lieber als jedes noch so strenge Klosterleben. So könnte man die Jugend in kindgemäßer, spielerischer Weise heranwachsen lassen in Ehrfurcht vor Gott, dass das erste und zweite Gebot in ständigem Gebrauch und steter Übung blieben. Da könnte etwas Gutes Wurzeln schlagen, aufgehen und Frucht tragen, so dass Leute heranwüchsen, von denen ein ganzes Land Nutzen und Freude haben könnte. Das wäre auch die angemessene Art, Kinder gut zu erziehen, solange man sie mit Güte und Vergnügen daran gewöhnen kann. Denn wenn man sie allein mit Ruten und Schlägen zwingen will, wird sich kein guter Charakter entwickeln, sondern wenn man viel erreicht, betragen sie sich doch nur einigermaßen rechtschaffen, solange die Rute auf dem Nacken liegt. Aber hier wurzelt es im Herzen, dass man sich mehr vor Gott als vor der Rute und dem Knüppel fürchtet. Das sage ich so schlicht für die Jugend, damit es doch einmal verstanden werde. Denn wenn wir Kindern predigen, müssen wir auch mit ihnen lallen. Also haben wir vor dem Missbrauch des göttlichen Namens gewarnt und seinen rechten Gebrauch gelehrt, der nicht bloß in Worten, sondern auch im täglichen Leben verwirklicht werden soll, damit wir uns bewusst sind, dass dies Gott von Herzen gefällt und er es so reichlich belohnen will, wie er den Missbrauch zu strafen droht.

28. Traditionelle Gebete vor und nach Tisch, vgl. oben S. 485f im Kleinen Katechismus.

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Das dritte Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen. Von »Feiertag« sprechen wir nach dem hebräischen Wort Sabbat, das eigentlich »feiern« bedeutet, das heißt: untätig sein, von der Arbeit ausruhen. Daher pflegen wir zu sagen »Feierabend machen« oder »heiligen Abend geben«.29 Nun hat Gott im Alten Testament den siebten Tag ausgesondert und zum Feiern eingesetzt und geboten, diesen Tag gegenüber den anderen Tagen besonders heilig zu halten [vgl. Gen 2,3; Ex 20,8–11; Dtn 5,12–15]. Und im Hinblick auf diese äußerliche Ruhe ist dieses Gebot allein an die Juden gerichtet. Sie sollten keine anstrengenden Arbeiten ausführen und stattdessen ruhen, damit sich Menschen und Tiere wieder erholen könnten und nicht durch ununterbrochenes Arbeiten geschwächt würden. Allerdings haben sie das Gebot in der Folge allzu sehr auf die Spitze getrieben und grob missbraucht, so dass sie auch Christus wegen solcher Handlungen tadelten, die sie doch selbst auch am Feiertag getan hätten, wie man im Evangelium liest [vgl. Mt 12,1–14par]. Als sollte das Gebot dadurch erfüllt werden, dass man überhaupt keine körperlichen Tätigkeiten mehr ausführte, was doch nicht die Absicht war; vielmehr ging es eigentlich darum, den Feier- oder Ruhetag zu heiligen, wie wir hören werden. Darum geht nun dieses Gebot uns Christen wörtlich genommen nichts an; denn es ist etwas ganz Äußerliches, wie andere Vorschriften des Alten Testaments, die an bestimmte Formen, Personen, Zeiten und Orte gebunden sind und die jetzt, da Christus uns befreit hat vom Gesetz, für uns nicht mehr verpflichtend sind [vgl. Kol 2,16f]. Aber um klarzumachen, was dieses Gebot für uns Christen bedeutet und was Gott darin von uns verlangt, so merke, dass wir Feiertage nicht wegen der verständigen und gelehrten Christen einhalten, denn diese haben sie nicht nötig, sondern wir halten sie erstens auch ein wegen körperlicher Ursachen und Bedürfnisse, die die Natur lehrt und verlangt im Hinblick auf die arbeitende Bevölkerung, Menschen, die die ganze Woche über berufstätig sind, damit sie auch einen Tag haben, an dem sie Muße finden zu Ruhe und Erholung. Zweitens halten wir 29. am Vorabend eines Heiligenfestes die Arbeit beenden bzw. das Arbeiten einstellen.

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sie vor allem, damit man an einem solchen Ruhetag (weil man sonst nicht dazu kommt) Gelegenheit und Zeit findet, am Gottesdienst teilzunehmen, dergestalt dass man zusammenkommt, um Gottes Wort zu hören und zu bedenken, danach Gott zu loben, zu singen und zu beten. Das aber (sage ich) ist nicht in der Weise an eine bestimmte Zeit gebunden wie bei den Juden, dass es unbedingt dieser oder jener Tag sein müsste, denn an sich ist kein Tag besser als der andere, vielmehr sollte eigentlich täglich Gottesdienst gefeiert werden, aber weil dies die große Mehrheit der Menschen nicht verwirklichen kann, muss man doch wenigstens einen Tag in der Woche dafür vorsehen. Weil aber von alters her der Sonntag dafür vorgesehen ist,30 soll man es auch dabei bleiben lassen, damit es in einträchtiger Ordnung vonstattengehe und niemand durch unnötige Neuerungen Unordnung stifte. Demnach ist dies die schlichte Bedeutung dieses Gebots, dass man, weil man ohnehin Ruhetag hält, diese Ruhe nutze, um Gottes Wort zu lernen. Das eigentliche Amt dieses Tages ist das Predigtamt, um der Kinder und Jugendlichen und um der kleinen Leute willen, doch soll man das Ruhen nicht zu scharf auslegen, damit deshalb nicht unumgängliche Arbeiten zwangsweise liegenbleiben müssen. Deshalb antworte, wenn man fragt, was »Du sollst den Feiertag heiligen« eigentlich bedeuten soll: »Den Feiertag heiligen heißt so viel wie ihn heilig halten.« Was heißt aber heilig halten? Nichts anderes als heilige Worte reden, heilige Taten tun und ein heiliges Leben führen. Der Tag selbst braucht nämlich nicht geheiligt zu werden, denn er ist an sich schon heilig erschaffen. Gott will aber haben, dass der Tag dir heilig sei, also wird er in Bezug auf dich heilig oder unheilig, je nachdem, ob du heilige oder unheilige Dinge treibst an jenem Tage. Wie geschieht nun solches Heiligen? Nicht in der Weise, dass man es sich gemütlich macht, keine schwere Arbeit verrichtet oder Schmuck anlegt und seine besten Kleider anzieht, sondern, wie gesagt, indem man sich mit Gottes Wort beschäftigt und sich darin übt. Wir Christen sollten eigentlich fortwährend solche Feiertage halten und ausschließlich heilige Dinge tun, das heißt, uns täglich mit Got30. Schon in der Urchristenheit war der Tag der Auferstehung des Herrn, der Sonntag, bevorzugter Gottesdiensttag, seit dem Jahr 321 wurde der Sonntag gesetzlicher Feiertag im Römischen Reich.

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tes Wort beschäftigen und es im Herzen und im Mund bei uns tragen. Aber weil wir, wie gesagt, nicht alle Zeit und Muße haben, müssen wir jede Woche ein paar Stunden für die Jugend oder wenigstens einen Tag für alle dazu verwenden, dass man sich ausschließlich damit beschäftige und eben die Zehn Gebote, den Glauben und das Vaterunser durchdenke und so unser gesamtes Leben von Grund auf nach Gottes Wort ausrichte. Wenn nun ein bestimmter Zeitraum dementsprechend gestaltet wird, dann wird ein wirklicher Feiertag gehalten, wenn nicht, kann man nicht von einem wirklich christlichen Feiertag sprechen. Denn sich ausruhen und nichts tun, das können auch die Nichtchristen, und auch der ganze Schwarm unserer Geistlichen, der täglich in der Kirche steht, singt und musiziert, heiligt dabei trotzdem keinen Feiertag, denn sie predigen kein Gotteswort und handeln nicht danach, sondern lehren und leben dagegen an. Denn das Wort Gottes ist der allerkostbarste Kirchenschatz, ja der einzige, den wir Christen kennen und haben. Denn auch wenn wir die Knochen aller Heiligen oder alle heiligen und geweihten Gewänder auf einem Haufen hätten, so wäre uns doch damit nichts geholfen, denn es sind alles tote Dinge, die niemanden heiligen können. Aber Gottes Wort ist der Schatz, der alle Dinge heilig macht, wodurch auch sie selbst, die Heiligen allesamt, erst geheiligt worden sind. Wann immer man sich nun mit Gottes Wort beschäftigt, es predigt, hört, liest oder bedenkt, so wird dadurch die Person, der Tag und ihr Tun geheiligt, nicht wegen des äußerlichen Tuns, sondern wegen des Wortes, das uns alle zu Heiligen macht. Darum sage ich immer wieder, dass unser Leben und unser Handeln sich ganz und gar in dem Wort Gottes bewegen müssen, wenn sie gottgefällig oder heilig heißen sollen. Wo das geschieht, da erzielt dieses Gebot seine volle Wirkung und findet seine Erfüllung. Was hingegen außerhalb von Gottes Wort unternommen wird, das ist vor Gott unheilig, ganz gleich, wie es glitzern und glänzen mag, wenn man es mit lauter Stücken aus dem Reliquienschatz behängt; so verhält es sich mit den angeblichen geistlichen Ständen, deren Angehörige Gottes Wort nicht kennen und versuchen, sich durch eigene Frömmigkeitsleistungen die Heiligkeit zu verdienen.31

31. Luther denkt hier vor allem an Mönche und Nonnen.

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Darum präge dir ein, dass es bei diesem Gebot vordringlich nicht ums Feiern geht, sondern ums Heiligen, so dass diesem Tag eine besondere heilige Betätigung zugeordnet wird. Denn andere Arbeiten und Geschäfte heißen eigentlich nicht heilige Betätigungen, sofern nicht der Mensch, der sie ausübt, zuvor bereits heilig ist. Hier aber muss etwas geschehen, wodurch der Mensch selbst heilig wird. Und das geschieht, wie schon gesagt, durch Gottes Wort. Dazu sind Ort, Zeit, Personen und der gesamte äußerliche Gottesdienst bestimmt, damit davon auch öffentlich rege Gebrauch gemacht werden kann. Weil es nun so sehr auf Gottes Wort ankommt, dass ohne es kein Feiertag geheiligt wird, sollen wir wissen, dass Gott dieses Gebot streng befolgt wissen will und diejenigen bestrafen wird, die sein Wort verachten und weder hören noch lernen wollen, besonders zu der Zeit, die dazu bestimmt ist. Darum verstoßen gegen dieses Gebot nicht nur diejenigen, die den Feiertag in grober Weise missbrauchen und entheiligen, wie es diejenigen tun, die es aus Gewinnsucht oder Leichtfertigkeit unterlassen, Gottes Wort zu hören, oder sich in Wirtshäusern herumtreiben, sinnlos betrunken wie die Säue, sondern es verstoßen auch diejenigen gegen dieses Gebot, die Gottes Wort anhören, als wäre es irgendein belangloser Zeitvertreib, und nur aus Gewohnheit zur Predigt und wieder hinaus gehen, und wenn das Jahr um ist, haben sie keinerlei Fortschritt im Verständnis des Wortes Gottes gemacht. Denn bisher hat man gemeint, man feiere angemessen, wenn man am Sonntag eine Messe oder den vorgeschriebenen Evangelienabschnitt hätte verlesen hören,32 aber nach Gottes Wort hat niemand gefragt, es hat ja auch niemand gelehrt. Jetzt, da wir Gottes Wort haben, stellen wir gleichwohl den Missbrauch nicht ab, sondern lassen uns zwar predigen und ermahnen, hören aber ohne Ernst und Sorgfalt. Darum wisse, dass es nicht allein aufs Hören ankommt, sondern auch aufs Lernen und Behalten, und bedenke, dass dies weder dir überlassen ist noch überhaupt wenig daran liegt, sondern dass es ein Gebot Gottes ist, vor dem du wirst verantworten müssen, wie du sein Wort gehört, gelernt und geehrt hast. Entsprechend sind auch jene eingebildeten Geister zu tadeln, die des Hörens überdrüssig sind, sobald sie nur eine oder zwei Predigten 32. Lateinisch, so dass Gemeindeglieder ohne entsprechende Vorbildung den Text nicht verstehen konnten.

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gehört haben, weil sie meinen, sie könnten es nun selbst recht gut und bräuchten keinen Lehrer mehr. Denn das ist genau die Sünde, die man bisher unter die Todsünden33 gezählt hat und die »Akidia« heißt, das bedeutet Trägheit oder Überdruss, eine feindselige, schädliche Plage, mit der der Teufel viele Herzen verzaubert und betrügt, um uns zu überrumpeln und uns das Wort Gottes wieder heimlich zu entziehen. Denn das lass dir gesagt sein: Auch wenn du es aufs beste könntest und alle Dinge meisterlich beherrschtest, so bewegst du dich doch täglich im Bereich der Herrschaft des Teufels, der weder Tag noch Nacht aufhört, dich heimlich zu verfolgen, um in deinem Herzen Unglauben und böse Gedanken gegen die vorgenannten und alle übrigen Gebote zu wecken. Darum musst du fortwährend Gottes Wort im Herzen, im Mund und vor den Ohren haben. Wenn aber das Herz untätig ist und das Wort nicht erklingt, dann bricht der Teufel ein und hat den Schaden getan, ehe man es merkt. Hingegen hat das Wort die Kraft, wo man es mit Ernst betrachtet, hört und auslegt, dass es niemals ohne Frucht bleibt, sondern immer wieder neue Einsicht, Aufmerksamkeit und Anteilnahme weckt und das Herz und die Gedanken reinigt. Denn es sind nicht faule oder tote, sondern wirksame, lebendige Worte. Und wenn uns auch sonst kein möglicher Nutzen und keine Not dazu veranlasste, so sollte doch der Umstand jedermann dazu bewegen, dass dadurch der Teufel aufgescheucht und verjagt wird, außerdem wird dieses Gebot erfüllt, was Gott besser gefällt als alle oberflächlich glitzernden Heucheltaten.

Das vierte Gebot Bisher haben wir die ersten drei Gebote behandelt, die auf Gott bezogen sind: Zum ersten, dass man ihm von ganzem Herzen vertraue, ihn fürchte und liebe in unserem ganzen Leben. Zum anderen, dass man seinen heiligen Namen nicht missbrauche, um zu lügen, oder für sonstige böse Zwecke, sondern ihn gebrauche zum Lob Gottes 33. Die mittelalterliche Schultheologie unterschied sieben Todsünden: Hochmut (superbia), Habgier (avaritia), Zügellosigkeit (luxuria), Hass (invidia), Völlerei (gula), Zorn (ira), Trägheit/Launenhaftigkeit/Überdruss in religiösen Dingen (acedia).

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und zum Nutzen und zur Seligkeit unserer Mitmenschen und unser selbst. Zum dritten, dass man Zeiten der Feier und Ruhe dazu nutze, Gottes Wort mit Fleiß zu lehren und zu durchdenken, damit all unser Tun und Leben sich danach ausrichte. Es folgen nun die anderen sieben Gebote, die sich auf unsere Mitmenschen beziehen. Davon ist das erste und höchste folgendes: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Diesen Vater- und Mutterstand hat Gott in besonderer Weise ausgezeichnet vor allen andern Ständen, die ihm nachgeordnet sind, indem er nicht einfach gebietet, die Eltern lieb zu haben, sondern sie zu ehren. Denn im Hinblick auf Brüder, Schwestern und Mitmenschen allgemein befiehlt er nichts Höheres, als sie zu lieben. Damit unterscheidet er Vater und Mutter von allen anderen Personen auf Erden und stellt sie auf eine besondere Stufe neben sich. Denn »ehren« ist etwas viel Höheres als »lieben«, denn es umfasst nicht allein die Liebe, sondern auch eine gewisse Bescheidenheit, Demut und Scheu wie gegenüber einer darin verborgenen Hoheit; es genügt nicht, dass man sie freundlich und mit Ehrerbietung anspricht, sondern es gehört auch dazu, dass man von Herzen so eingestellt sei und dass sich diese Einstellung auch im Verhalten zeige, dass man viel von ihnen halte und sie nach Gott am höchsten schätze. Denn wen man von Herzen ehren soll, den muss man wahrhaftig für hoch und groß ansehen. Deshalb präge man den Kindern und Jugendlichen ein, ihre Eltern an Gottes Stelle vor Augen zu haben und zu denken: Auch wenn sie ohne besondere gesellschaftliche Stellung, arm, gebrechlich und wunderlich sind, so sind sie doch Vater und Mutter, von Gott gegeben. Dass sie sich im Alter verändern oder Irrtümern erliegen, beraubt sie nicht der verliehenen Würde. Darum soll man nicht darauf sehen, wie die Personen an und für sich sind, sondern dass Gottes Wille es so schafft und anordnet. Sonst sind wir zwar vor Gottes Augen alle gleich, aber eine menschliche Gemeinschaft kann ohne solche aufgabenbezogene Ungleichheit und ordentliche Unterscheidung auf längere Frist nicht funktionieren. Deshalb hat Gott auch geboten, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten, damit du mir als deinem Vater gehorsam seiest und ich die Oberhand habe. So lerne nun zum Ersten, was die Ehrerbietung gegenüber den Eltern bedeutet, die in diesem Gebot verlangt wird, nämlich dass man

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die Eltern über alle Dinge wert achtet als den höchsten Schatz auf Erden, dass man außerdem ihnen gegenüber auch mit Worten bescheiden auftritt, sie nicht missgelaunt anfährt, ihnen nicht lautstark Vorhaltungen macht und nicht in rüdem Ton zu ihnen spricht, sondern sie Recht behalten lässt und schweigt, auch wenn sie einmal zu weit gegangen sind; drittens soll man ihnen auch mit Taten, das heißt mit eigener Person und mit dem eigenen Besitz insofern Ehrfurcht erweisen, als man ihnen zur Hand geht, ihnen hilft und sie versorgt, wenn sie alt, krank, gebrechlich oder bedürftig sind, und das nicht nur gern, sondern darüber hinaus mit Demut und unter Wahrung ihrer Würde, im Bewusstsein, dies vor Gott zu tun. Denn wer das weiß, wie er sie im Herzen achten soll, wird sie nicht Not oder Hunger leiden lassen, sondern sie hochschätzen und für sie sorgen, so gut er kann. Zum andern sieh und merke, eine wie große, wichtige und heilige Aufgabe hier den Kindern gestellt ist, die man leider geringschätzt und in den Wind schlägt, und dabei nimmt niemand wahr, dass Gott das geboten hat und dass es ein heiliges, göttliches Wort und eine ebensolche Lehre ist. Denn wenn man es dafür gehalten hätte, hätte jeder daraus entnehmen können, dass diejenigen, die danach leben, heilige Leute sein müssen. Dann hätte man darauf verzichtet, Klöster oder besondere geistliche Stände zu erfinden, und jedes Kind wäre bei diesem Gebot geblieben und hätte sein Gewissen auf Gott hin ausrichten und sagen können: »Wenn ich gute und heilige Taten verrichten soll, so weiß ich freilich nichts Besseres, als meinen Eltern alle Ehre und Gehorsam zu leisten, weil Gott es selbst geboten hat. Denn was Gott gebietet, muss bei Weitem edler sein, als was wir selbst uns ausdenken. Und weil kein höherer oder besserer Lehrmeister zu finden ist als Gott, wird es freilich auch keine bessere Lehre geben als die, die er erteilt. Nun lehrt er ja reichlich, was man tun soll, wenn man rechtschaffene, gute Taten verrichten will, und damit, dass er sie gebietet, bezeugt er zugleich, dass sie ihm gefallen. Wenn Gott nun aber dies gebietet und sich nichts Besseres auszudenken weiß, so werde ich es ja wohl auch nicht besser machen.« Sieh, so hätte man ein braves Kind ordentlich unterrichtet, in Übereinstimmung mit Gottes Willen erzogen und daheim behalten,34 in

34. statt es ins Kloster zu schicken.

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Gehorsam und Dienstbereitschaft gegenüber den Eltern, so dass Gutes daraus erwachsen wäre und man seine Freude daran gehabt hätte. Aber so genau hat man es mit Gottes Gebot nicht nehmen wollen, sondern hat es vernachlässigt und ist darüber hinweggegangen, so dass ein Kind den Sachverhalt nicht bedenken, sondern stattdessen nur das anstaunen konnte, was wir eigenmächtig aufgebracht hatten ohne jegliche Rücksprache mit Gott. Darum lasst uns einmal lernen um Gottes willen, dass die Kinder und Jugendlichen, abgesehen von allem anderen, zuallererst dieses Gebot im Auge behalten, wenn sie Gott mit wirklichen guten Taten dienen wollen, dass sie tun, was Vater und Mutter oder anderen Erziehungsberechtigten lieb ist. Denn wenn ein Kind das weiß und tut, so hat es zum Ersten den großen Trost im Herzen, dass es fröhlich und stolz von sich sagen kann (zum Trotz und gegen alle, die selbsterfundene Leistungen erbringen): »Sieh, was ich hier mache, gefällt meinem Gott im Himmel gut, das weiß ich gewiss.« Lass sie mit ihren vielen großen, sauren, schweren Frömmigkeitsübungen alle in einer großen Menge zusammenkommen und sich rühmen, lass sehen, ob sie irgendeine anführen können, die größer und edler wäre als der Gehorsam gegenüber Vater und Mutter; den hat Gott in die Nähe des Gehorsams seiner eigenen Majestät gegenüber gerückt und hat befohlen, wenn Gottes Wille und Wort ausgerichtet wird und man sich danach hält, dass nur Wille und Wort der Eltern noch gelten sollen, allerdings im Rahmen des Gehorsams Gott gegenüber und nicht gegen seine Gebote. Darum kannst du von Herzen froh sein und Gott danken, dass er dich dazu erwählt und würdig gemacht hat, solche von ihm geschätzten und ihm angenehmen Taten zu verrichten. Sieh es als etwas Großes und Kostbares an, auch wenn es als das Allergeringste und Verachtetste angesehen wird, nicht unserer Würdigkeit wegen, sondern weil es in die Kostbarkeit und das Heiligtum, nämlich in Gottes Wort und Gebot, eingefasst ist und da hineingehört. O wie viel müssten alle Kartäusermönche und -nonnen35 darum geben, wenn sie unter all ihren geistlichen Anstrengungen auch nur eine einzige Tat verrichte35. Der 1084 im unwirtlichen Bergland nahe Grenoble begründete Kartäuserorden galt als besonders streng. Seit 1147 gab es auch einen weiblichen Zweig.

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ten und vor Gott brächten, die in Erfüllung seines Gebots geschähe und von der sie mit fröhlichem Herzen vor Gottes Augen sagen könnten: »Nun weiß ich, dass dir diese Tat gut gefällt.« Wo wollen sie, die armen, traurigen Leute, bleiben, wenn sie vor Gott und aller Welt schamrot und überaus beschämt stehen werden angesichts eines Kindes, das dieses Gebot in seinem Leben verwirklicht hat, und zugeben müssen, dass sie mit all ihrem vermeintlich heiligmäßigen Leben diesem das Wasser nicht reichen können? Wegen der teuflischen Verdrehung, weil sie Gottes Gebot mutwillig verachten, geschieht es ihnen recht, dass sie sich mit selbsterdachten Frömmigkeitsübungen quälen müssen und damit nur Spott und Schaden gewinnen. Sollte nun nicht ein Herz hüpfen und vor Freude zerfließen, wenn es zur Arbeit ginge und täte, was ihm befohlen wäre, weil es sagen könnte: »Sieh, das ist besser als die Heiligkeit aller Kartäuser zusammen, selbst wenn sie sich zu Tode fasten und immerzu auf den Knien liegen und beten.« Denn hier hast du einen zuverlässigen Text und eine göttliche Aussage, dass er dies angeordnet hat, aber von jenem kein Wort befohlen. Aber das ist der Jammer und eine unglückselige Verblendung der Welt, dass dies niemand glaubt, so sehr hat uns der Teufel verzaubert mit falscher Heiligkeit und dem verführerischen Glanz selbstgewählter Frömmigkeitsübungen. Darum wünschte ich sehr (ich sage es noch einmal), dass man Augen und Ohren öffnete und das zu Herzen nähme, damit wir nicht künftig irgendwann einmal wieder weg von dem reinen Gotteswort und hin zu teuflischen Lügengespinsten verführt werden. Dann hätten die Eltern umso mehr Freude, Liebe, Zuneigung und Einigkeit in ihren Häusern, und die Kinder könnten die ganze Liebe ihrer Eltern gewinnen. Wenn sie hingegen eigensinnig sind und erst dann tun, was sie sollen, wenn man ihnen einen Knüppel auf den Rücken legt, erzürnen sie Gott und ihre Eltern und bringen sich selbst um diesen Schatz und die Freude des Gewissens; stattdessen sammeln sie nur Unglück. Darum geht es auch jetzt in der Welt so zu, wie jeder beklagt, nämlich dass Jung und Alt wild und zügellos leben, keinen Respekt anderen gegenüber und keine Selbstachtung zeigen, zu allem mit Schlägen getrieben werden müssen und andere hinter deren Rücken verleumden und niedermachen, so viel sie können. Darum straft Gott auch, so dass sie in allen Schaden und Unglück kommen. So können die

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Eltern für gewöhnlich selbst nichts; ein Versager erzieht den anderen; was sie vorgelebt haben, leben ihre Kinder ihnen nach. Das soll nun also (sage ich) das Erste und Größte sein, das uns zur Erfüllung dieses Gebots antreibt. Ja, wenn wir keinen Vater und keine Mutter hätten, hätten wir deshalb wünschen sollen, dass uns Gott Holz und Stein hinstellte, die wir Vater und Mutter nennen könnten. Weil er uns lebendige Eltern gegeben hat, sollen wir uns erst recht darüber freuen und ihnen Ehre und Gehorsam erweisen. Weil wir wissen, dass es dem erhabenen Gott und allen Engeln so gut gefällt und alle Teufel verdrießt, dass es zudem das Beste ist, was man tun kann, nächst dem hohen Gottesdienst, wie er in den vorigen Geboten enthalten ist, so dass Spenden und alle anderen guten Taten gegenüber Mitmenschen nicht daran herankommen. Denn Gott hat diesen Stand an die Spitze gestellt, ja an seine (Gottes) eigene Stelle auf Erden gesetzt. Solcher Wille Gottes und sein Wohlgefallen sollen uns Grund und Antrieb genug sein, freiwillig und freudig zu tun, was wir können. Überdies sind wir ja auch in den Augen der Öffentlichkeit dazu verpflichtet, für alles Gute, das wir von den Eltern haben, dankbar zu sein. Aber da regiert wiederum der Teufel in der Welt, so dass die Kinder ihre Eltern vergessen, wie wir alle Gott vergessen, und niemand macht sich Gedanken darüber, wie uns Gott ernährt, behütet und beschützt und uns so viel Gutes gibt für Körper und Seele, und insbesondere wenn einmal eine böse Stunde kommt, zürnen und murren wir mit Ungeduld, und alles ist vergessen, was wir ein Leben lang Gutes empfangen haben. Ebenso halten wir es mit den Eltern, und kein Kind erkennt und bedenkt das, wenn es ihm der Heilige Geist nicht schenkt. Diese Unart der Welt kennt Gott recht gut, darum erinnert und treibt er sie mit Geboten, damit jeder bedenke, was die Eltern für ihn getan haben. Dann kommt er zu dem Schluss, dass er Körper und Leben von ihnen hat, von ihnen ernährt und aufgezogen wurde, wo er sonst hundertmal im eigenen Dreck erstickt wäre. Darum ist es wahr und zutreffend von alten weisen Leuten gesagt worden: »Deo, parentibus et magistris non potest satis gratiae rependi«, das bedeutet: »Gott, den Eltern und Lehrern kann man niemals genug danken oder ihnen ihre Wohltaten vergelten.«36 Wer das betrachtet

36. Sprichwort unbekannter Herkunft.

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und darüber nachdenkt, der wird wohl aus eigenem Antrieb seinen Eltern alle Ehre erweisen und sie auf Händen tragen, weil ihm Gott durch sie alles Gute getan hat. Über das alles hinaus soll auch ein großer Antrieb für uns sein, dass Gott an dieses Gebot eine freundliche Verheißung knüpft und spricht: »Auf dass du langes Leben habest im Lande, in dem du wohnst.« Da sieh selbst, wie ernst es Gott mit diesem Gebot ist, denn er sagt nicht nur, dass es ihm angenehm sei und er Freude und Gefallen daran empfinde, sondern dass es auch uns gelingen und zum Besten gedeihen solle, dass wir ein angenehmes, süßes Leben haben mögen mit allem Guten. Deshalb hebt auch der heilige Paulus in Epheser 6 dies besonders hervor und rühmt es, indem er sagt: »Das ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat: ›auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden‹« [Eph 6,2f]. Zwar haben die anderen Gebote auch ihre Verheißungen, aber zu keinem anderen ist sie so deutlich und ausdrücklich hinzugesetzt. Da hast du nun die Frucht und den Lohn, dass, wer es hält, gute Tage, Glück und Wohlergehen haben soll, und wiederum die Strafe, dass, wer ungehorsam ist, desto eher umkommen und des Lebens nicht froh werden soll. Denn »langes Leben haben« nennt die Schrift nicht nur hochbetagt werden, sondern alles haben, was zu einem langen Leben gehört, wie Gesundheit, Familie, Lebensunterhalt, Frieden, eine gute gesellschaftliche Ordnung etc., ohne das dies Leben nicht fröhlich genossen noch auf Dauer erhalten werden kann. Willst du nun Vater und Mutter nicht gehorchen und dich nicht erziehen lassen, so gehorche dem Henker, gehorchst du dem nicht, so gehorche dem Streckebein, das ist der Tod. Denn so will Gott es nun einmal halten: Entweder, wenn du ihm gehorchst, Liebe und Dienst erweist, dass er es dir überschwänglich vergelte mit allem Guten, oder, wenn du ihn erzürnst, dass er dir Tod und Henker auf den Hals schicke. Wo anders kommen so viele Übeltäter her, die man täglich hängen, köpfen und rädern muss, wenn nicht vom Ungehorsam? Weil sie sich nicht mit Güte haben erziehen lassen, haben sie es durch Gottes Strafe dahin gebracht, dass man Unglück und Herzeleid an ihnen sieht. Denn es geschieht sehr selten, dass solche verruchten Leute eines natürlichen und späten Todes sterben.

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Die Rechtschaffenen aber und Gehorsamen haben den Segen, dass sie lange in guter Ruhe leben und ihre Enkel sehen (wie oben gesagt) »in dritter und vierter Generation«. So zeigt sich auch, dass, wo ehrbare alte Familien sind, die blühen und viele Kinder haben, diese gewiss daher kommen, dass viele davon wohlerzogen sind und ihre Eltern ihnen Vorbilder waren. Hingegen steht über den Gottlosen geschrieben, Ps 109[,13]: »Seine Nachkommen müssen ausgerottet werden, und ihr Name muss in einer Generation untergehen.« Darum lass dir’s gesagt sein, wie bedeutsam der Gehorsam bei Gott ist, weil er ihn so hoch bewertet, selbst Gefallen daran hat und ihn reichlich belohnt, zudem streng darauf achtet, dass die gestraft werden, die dagegen verstoßen. Das sage ich alles, damit man es den Kindern und Jugendlichen gut einschärfe, denn niemand glaubt, wie nötig dies Gebot ist. Unter dem Papsttum hat man es bisher nicht geachtet und nicht gelehrt. Es sind schlichte und einfache Worte, und jeder meint, er hätte es schon verstanden, darum geht man leichtfertig darüber hinweg und hält Ausschau nach andern Dingen, sieht und glaubt nicht, dass man Gott so hoch erzürnt, wenn man es vernachlässigt, noch dass man so kostbare und gottgefällige Taten vollbringt, wenn man daran festhält. In den Bereich dieses Gebotes gehört es ferner, von allerlei Gehorsam gegen Vorgesetzte zu reden, die zu befehlen und zu regieren haben. Denn aus der Vorrangstellung der Eltern leitet sich jede andere ab. Denn wo ein Vater sein Kind nicht allein erziehen kann, nimmt er einen Lehrer dazu, der es unterrichtet; wenn er allein zu schwach ist, nimmt er seine Verwandten oder Nachbarn zu Hilfe; wenn er stirbt, so befiehlt er die Leitung seines Hauswesens anderen an, die man dazu bestimmt. Entsprechend muss er auch Bedienstete, Knechte und Mägde zur Leitung des Hauswesens unter sich haben. Daher stehen alle, die man Vorgesetzte nennt, an der Stelle der Eltern und müssen von ihnen her Kraft und Vollmacht zum Regieren empfangen. Deshalb heißen sie auch gemäß der Schrift alle Väter, weil sie in ihrer Leitungsfunktion das Vateramt ausüben und ein väterliches Herz für ihre Untergebenen haben sollen. So haben auch von alters her die Römer und andere Sprachen Herren und Herrinnen im Haus patres et matres familias genannt, das bedeutet »Hausväter und Hausmütter«. So haben sie auch ihre Landesfürsten und hohen Würdenträger Patres patriae genannt, das bedeutet »Väter des ganzen Landes«. Eine

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große Schande für uns, die wir Christen sein wollen, dass wir sie nicht auch so nennen oder wenigstens dafür halten und entsprechend ehren. Wozu nun ein Kind Vater und Mutter gegenüber verpflichtet ist, dazu sind auch alle diejenigen verpflichtet, die unter die Leitung des Hauswesens gehören. Darum sollen Knechte und Mägde zusehen, dass sie ihrer Dienstherrschaft nicht nur gehorsam sind, sondern sie auch in Ehren halten wie ihre eigenen Väter und Mütter; alles, wovon sie wissen, dass man es von ihnen erwartet, sollen sie nicht aus Zwang oder mit Widerwillen tun, sondern gern und mit Freude, eben aus dem genannten Grund, dass es Gottes Gebot ist und ihm besser gefällt als alles andere. Darum sollten sie sogar bereit sein, auf einen Teil ihres Lohns zu verzichten,37 und sich freuen, dass sie Herren und Herrinnen erhalten, ein so fröhliches Gewissen haben und wissen, wie sie wahrhaft goldene Taten vollbringen sollten; diese wurden bisher unterschätzt und missachtet, stattdessen lief jeder in des Teufels Namen in Klöster, zu Wallfahrten und zum Ablass,38 mit Schaden und bösem Gewissen. Wenn man das den Leuten einprägen könnte, so würde ein Mädchen nur noch vor Freude hüpfen, Gott loben und danken und mit gewissenhafter Arbeit, für die sie auch noch Unterhalt und Bezahlung erhält, einen solchen Schatz erwerben, wie ihn alle, die man für die Heiligsten hält, nicht haben. Was könnte man Großartigeres von sich sagen als dies: »Wenn du deine tägliche Hausarbeit verrichtest, so ist das besser als die Heiligkeit und das strenge Leben sämtlicher Mön37. Vgl. aber Dtn 24,14f; Lk 10,7; 1 Kor 9,7–10. 38. Der Ablass hatte sich im Rahmen des mittelalterlichen Bußwesens entwickelt als eine Möglichkeit, der sehr verbreiteten Furcht vor Strafe im Fegefeuer zu begegnen und gleichzeitig horrende Einnahmen für die vorreformatorische Kirche zu sichern: Man bot den Gläubigen an, gegen eine angemessene Geldzahlung zur Unterstützung kirchlicher Einrichtungen ihren nach dem Tod zu erwartenden Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen oder ihn ganz zu umgehen. Als der Dominikaner Johann Tetzel im Dienste des Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg den Ablass zur Unterstützung des Baus des Petersdoms in Rom (und zur Zahlung der Schulden des Erzbischofs beim Augsburger Bankhaus Fugger) 1517 nahe der Grenze zum kursächsischen Territorium verkaufte, erfuhr Luther in Wittenberg von den Praktiken des Ablasshandels, und sein Widerspruch dagegen löste die Reformation aus. Luther vertrat die Auffassung, dass Gott den Glaubenden aus Gnade um Christi willen die Sünde vorbehaltlos vergibt.

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che«? Und außerdem hast du die Zusage, dass es dir zu allem Guten ausschlagen und wohlgehen soll. Wie willst du in größerem Einklang mit Gott sein oder heiliger leben, soweit es dein Tun betrifft? Denn vor Gott macht eigentlich allein der Glaube heilig und dient ihm allein, die Taten dienen den Mitmenschen. Da hast du allen Besitz, Schutz und Schirm unter dem Herrn, ein fröhliches Gewissen und einen gnädigen Gott dazu, der es dir hundertfältig vergelten will, und bist sogar ein Edelmann, wenn du nur zuverlässig und gehorsam bist. Wenn aber nicht, so hast du vor allem Zorn und Ungnade von Gott, keinen Frieden im Herzen, und außerdem alles Leiden und Unglück. Wen diese Aussichten nicht dazu bewegen können, rechtschaffen zu werden, den verweisen wir an den Henker und an Streckebein. Darum bedenke jeder, der sich belehren lassen will, dass es Gott kein Scherz ist, und wisse, dass Gott mit dir redet und Gehorsam fordert. Gehorchst du ihm, so bist du das liebe Kind, verachtest du das Wort aber, so sollst du auch Schande, Jammer und Herzeleid zum Lohn haben. Desgleichen ist auch vom Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit in diesem Abschnitt zu reden, die (wie schon gesagt) allesamt in den Bereich der Elternschaft gehört und am weitesten ausgreift. Denn hier ist nicht ein einzelner Vater, sondern die Obrigkeit verkörpert gewissermaßen einen so vielfachen Vater, wie es unter ihrer Oberherrschaft Bürger oder Untertanen gibt. Denn Gott gibt und erhält uns durch sie wie durch unsere Eltern Nahrung, Haus und Hof,39 Schutz und Sicherheit. Weil sie diesen Namen und Titel als höchste Auszeichnung mit allen Ehren führen, sind wir auch verpflichtet, dass wir sie ehren und hochschätzen als den teuersten Schatz und die größte Kostbarkeit auf Erden. Wer nun hierin gehorsam, bereitwillig und einsatzfreudig ist und gern alles tut, was die Ehre anbetrifft, der weiß, dass er Gott gefällt und Freude und Glück als Belohnung erhält. Will er es nicht mit Liebe tun, sondern verachtet es, sträubt sich oder beklagt sich lautstark, dann muss er wissen, dass er weder Gottes Wohlwollen noch sein Wohltun erlangt. Und wo er ein Goldstück zu gewinnen meint, verliert er anderswo zehn oder fällt dem Henker in die Hände, kommt

39. Besitz, Wohnung und wirtschaftliche Existenzgrundlage in einem.

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durch Krieg, Seuche und Geldentwertung um oder erlebt an seinen Kindern nichts Gutes, muss von Mitarbeitern, Nachbarn oder Fremden und Gewaltherrschern Schaden, Unrecht und Gewalt erleiden, damit uns ausgezahlt und vergolten werde, wonach wir streben und was wir verdienen. Wenn wir nur ein einziges Mal die Botschaft aufnähmen, dass solche Handlungen Gott so angenehm sind und uns so reichliche Belohnungen einbringen, dann säßen wir inmitten übergroßer Reichtümer und hätten, was unser Herz begehrt. Weil man aber auf Gottes Wort und Gebot nichts gibt, als wäre es der reißerische Werbespruch irgendeines Marktschreiers ohne jeden Anhalt an der Wirklichkeit, so zeige doch, ob du ihm tatsächlich die Stirn bieten kannst! Wie schwer wird es ihm wohl fallen, dir dein Tun zu vergelten? Darum lebtest du viel besser mit Gottes Wohlgefallen, Friede und Glück als mit Ungnade und Unglück. Warum, meinst du, ist jetzt die Welt so voller Untreue, Schande, Jammer und Mord, wenn nicht deshalb, weil jeder sein eigener Herr und völlig ungebunden sein will, nach keiner anderen Meinung fragt und alles tut, wozu er Lust hat? Darum bestraft Gott den einen Übeltäter mit dem anderen, so dass, wenn du deinen Herrn betrügst oder verachtest, ein anderer kommt, der dir ebenso übel mitspielt, ja in deinem eigenen Haus musst du von Seiten deines Ehepartners, eurer Kinder oder Bediensteten zehnmal mehr ertragen. Wir spüren unser Unglück wohl, murren und klagen über Untreue, Gewalt und Unrecht, wollen aber nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir selbst Bösewichter sind, die Strafe reichlich verdient haben, und werden keinen Deut besser davon. Gnade und Glück wollen wir nicht haben, also bekommen wir zu recht pures Unglück ohne alle Barmherzigkeit. Anscheinend leben doch irgendwo noch einige fromme Leute auf der Erde, da uns Gott noch so viel Gutes zuteilwerden lässt [vgl. Gen 18,20–33]. Unseretwegen dürften wir keinen Heller im Haus und keinen Strohhalm auf dem Acker behalten. Das alles habe ich mit so vielen Worten erörtern müssen, damit es vielleicht doch einmal jemand zu Herzen nimmt und wir aus der tiefen Verblendung und dem Elend, in dem wir uns befinden, endlich herauskommen, Gottes Wort und Willen wahrhaft erkennen und mit Ernst annehmen. Denn daraus würden wir lernen, wie wir in diesem

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Leben und in der Ewigkeit genug Freude, Glück und Wohlergehen bekommen. Wir haben demnach drei Arten von Vätern in der Auslegung dieses Gebots vorgestellt: die leiblichen Väter, die verantwortlichen Hausväter und die Väter in leitenden Ämtern des Gemeinwesens. Es gibt außerdem auch noch geistliche Väter, allerdings nicht so wie im Papsttum, die sich zwar so nennen ließen, aber nicht wirklich als Väter für uns da waren.40 Denn nur diejenigen heißen mit Recht geistliche Väter, die uns durch Gottes Wort Wegweisung geben und Halt, wie sich der heilige Paulus rühmt, ein Vater zu sein, indem er spricht 1 Kor 4[,15]: »Ich habe euch gezeugt in Christus Jesus durch das Evangelium.« Weil sie nun Väter sind, gebührt ihnen auch die Ehre, wohl vor allen andern, aber da wird sie am wenigsten erwiesen; denn die Welt ehrt ihre geistlichen Väter auf die Art, dass man sie aus dem Land vertreibt und ihnen kein Stück Brot gönnt, und alles in allem hält man sie (wie Paulus sagt [vgl. 1 Kor 4,13]) für den letzten Dreck. Es ist aber nötig, auch dem gewöhnlichen Volk einzuprägen, dass diejenigen, die Christen heißen wollen, vor Gott verpflichtet sind, ihre Seelsorger »besonders in Ehren zu halten« [vgl. 1 Tim 5,17], ihnen wohlzutun und sie zu versorgen. Gott wird dafür sorgen, dass du genug dafür übrig behältst und kein Mangel deshalb eintritt. Aber da verweigert sich jeder und wehrt ab, und alle haben Sorge, ihr eigener Bauch könnte verschmachten, und sehen sich nicht in der Lage, auch nur einen einzigen rechtschaffenen Prediger mit Unterhalt zu versorgen, wo wir früher zehn Mastbäuche gefüllt haben.41 Wir hätten es verdient, dass Gott uns sein Wort und seinen Segen wieder weg-

40. Der Papst, Bischöfe, Äbte, Welt- und Ordenspriester werden herkömmlich im römischen Katholizismus als Väter angeredet. 41. Mit der Reformation wurden zahlreiche Pfründenstellen abgeschafft; insbesondere Stiftungen, aus deren Einkünften Priester bezahlt worden waren, damit sie für das Seelenheil Verstorbener Messen lasen, wurden infolge der reformatorischen Erkenntnis, dass dieses Vorgehen weder Gottes Wort noch seinem Willen entspricht, aufgehoben. Luther hätte es gern gesehen, wenn die frei werdenden Stiftungsgelder und Abgaben genutzt worden wären, um den Unterhalt der Pfarrer und Prediger und ihrer Angehörigen zu sichern und Überschüsse zur Einrichtung von Schulen und für karitative Zwecke zu gebrauchen. Das gelang allerdings nicht immer, vielfach bereicherten sich auch weltliche Fürsten und Herren an den Kirchengütern.

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nähme und wieder Lügenprediger kommen ließe, die uns zum Teufel führten und uns ausplünderten. Die aber Gottes Willen und sein Gebot im Blick behalten, haben die Zusage, dass ihnen reichlich vergolten werden soll, was sie für leibliche und geistliche Väter aufwenden und ihnen zu Ehren tun. Es geht nicht darum, dass sie ein oder zwei Jahre lang Brot, Kleider und Geld haben sollen, sondern langes Leben, Nahrung und Frieden, und sie sollen ewig reich und im Einklang mit Gott sein. Darum tu nur, wozu du verpflichtet bist, und lass Gott dafür sorgen, wie er dich ernährt und genug herbeischafft. Hat er es zugesagt und noch nie gelogen, so wird er auch dich nicht belügen. Das müsste uns dazu bewegen, dass unser Herz geradezu zerschmölze vor Zuneigung und Liebe zu denen, denen unsere Ehrerbietung gebührt, so dass wir mit betend erhobenen Händen Gott fröhlich dankten, der uns zugesagt hat, wonach wir sonst bis ans Ende der Welt vergeblich laufen müssten. Denn auch wenn die ganze Welt eine gemeinsame Anstrengung unternähme, könnte sie uns doch das Leben nicht um eine einzige Stunde verlängern oder ein einziges Korn aus der Erde hervorbringen. Gott aber kann und will dir alles überschwänglich geben, wie es dir gefällt. Wer dies nun verachtet und in den Wind schlägt, der ist nicht wert, dass er ein Gotteswort höre. Das ist nun sehr ausführlich all denjenigen gesagt, die dieses Gebot verpflichtet. Ergänzend sollte man auch den Eltern und denjenigen, die ein elterliches Amt bekleiden, predigen, wie sie sich denjenigen gegenüber verhalten sollen, die ihnen anvertraut sind, um sie zu leiten. Das steht zwar nicht ausdrücklich in den Zehn Geboten, ist aber sonst an vielen Stellen der Schrift ausführlich dargelegt. Außerdem will Gott es in ebendiesem Gebot insofern mit eingeschlossen wissen, als er Vater und Mutter erwähnt; denn er will weder Verbrecher noch Tyrannen in dieser Leitungsfunktion haben; er spricht ihnen Ehre, das heißt: Recht und Macht zu regieren, auch nicht darum zu, damit sie sich anbeten lassen, sondern damit sie sich ihrer Verantwortung vor Gott bewusst sind und vor allen Dingen ihre Pflicht gern und treu erfüllen, ihre Kinder, Bediensteten, Untergebenen etc. nicht nur zu ernähren und ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie vor allem auch zu Gottes Lob und Ehre großzuziehen. Darum denke nicht, dass dies deinem Belieben und deiner Willkür überlassen sei, sondern dass Gott es streng geboten und dich dazu verpflichtet

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hat. Ihm gegenüber wirst du dich deswegen auch verantworten müssen. Da ist nun wiederum die leidige Plage, dass niemand das wirklich zur Kenntnis nimmt und beachtet. Sie leben dahin, als gäbe uns Gott Kinder zum Vergnügen und zum Zeitvertreib, Bedienstete als bloße Arbeitstiere und Untergebene, um sie beliebig herumzukommandieren, als ginge es uns nichts an, was sie lernen oder wie sie leben. Und niemand will wahrhaben, dass es der Befehl des erhabenen Gottes ist, der das mit ganzem Ernst einfordern und bestrafen wird, und dass es so sehr nötig ist, dass man sich der Jugend mit Ernst annehme. Denn wenn wir tüchtige, geschickte Leute haben wollen, die Aufgaben in Gesellschaft und Kirche erfüllen können, dann dürfen wir weder Fleiß noch Mühe noch Kosten für die Ausbildung unserer Kinder sparen und nicht nur daran denken, wie wir für sie Geld und Besitz sammeln; denn Gott kann sie auch ohne uns ernähren und reich machen, wie er es auch täglich tut. Darum aber hat er uns Kinder gegeben und unserer Fürsorge anbefohlen, damit wir sie nach seinem Willen großziehen und leiten. Für anderes bräuchte er nicht Vater und Mutter. Darum soll jeder wissen, dass er verpflichtet ist, wenn er Gottes Wohlwollen nicht verlieren will, seine Kinder vor allem zur Ehrfurcht gegenüber Gott und zur Erkenntnis Gottes zu erziehen und, wenn sie dazu geeignet sind, auch lernen und studieren zu lassen, damit man sie einsetzen kann, wo es nötig ist. Wenn man das nun wirklich täte, würde uns Gott auch reichlich segnen und es gelingen lassen, dass man solche Leute erzöge, von denen Land und Leute Vorteil hätten, überdies tüchtige, wohlerzogene Bürger, anständige und häusliche Frauen, die dann auch entsprechend rechtschaffene Kinder und Bedienstete aufziehen würden. Da überlege nun selbst, einen wie entsetzlichen Schaden du anrichtest, wenn du in dieser Angelegenheit nachlässig bist und lässt es an dir scheitern, dass dein Kind nützlich und im Einklang mit Gott erzogen werde, und wie du Sünde und Zorn auf dich lädst und auf diese Weise die Hölle an deinen eigenen Kindern verdienst, selbst wenn du sonst rechtschaffen und heilig wärest. Deswegen bestraft auch Gott, weil man das missachtet, die Welt so schrecklich, dass man weder Ordnung noch Regierung oder Frieden hat, was wir auch alle beklagen, ohne aber zu sehen, dass es unsere Schuld ist; denn wie wir sie aufziehen, dementsprechend haben wir ungeratene und ungehorsame Unterge-

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bene. Das sei genug zur Ermahnung; denn so etwas ausführlich zu behandeln, wird ein andermal gelegenere Zeit sein.42

Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Wir haben uns bislang mit der Bewältigung der kirchlichen und der weltlichen Leitungsaufgaben auseinandergesetzt, das heißt mit göttlichem und mit elterlichem Gehorsam. Hier aber gehen wir nun gleichsam aus unserem Haus heraus unter die Leute, um zu lernen, wie wir miteinander leben sollen, jeder Einzelne in der Beziehung zu seinen Mitmenschen. Darum sind Gott und die Obrigkeit in dieses Gebot nicht einbezogen, und es wird ihnen damit nicht die Befugnis genommen zu töten. Denn Gott hat sein Recht, Übeltäter zu bestrafen, der Obrigkeit anstelle der Eltern anbefohlen, die vorzeiten (wie man in den fünf Büchern Mose lesen kann [vgl. Dtn 21,18–21]) ihre Kinder selbst vor Gericht stellen und zum Tod verurteilen mussten. Darum betrifft, was hier verboten ist, Privatpersonen untereinander und nicht die Obrigkeit. Dies Gebot ist nun leicht verständlich und wird oft behandelt, weil man es jedes Jahr43 in Matthäus 5[,21-26] hört, wo es Christus selbst auslegt und zusammenfasst, nämlich dass man nicht töten soll, weder mit Hand, Herzen, Mund, Zeichen, Gebärden noch Beihilfe oder Hinweisen. Darum ist auch darin allen verboten zu zürnen, ausgenommen, wie gesagt, diejenigen, die Gottes Stelle vertreten sollen, also die Eltern und die Obrigkeit. Denn Gott und die ihn vertreten sollen, dürfen zürnen, tadeln und strafen eben um derentwillen, die dieses und andere Gebote übertreten. Die Veranlassung und Notwendigkeit dieses Gebotes ergibt sich daraus, dass Gott sehr wohl weiß, wie böse die Welt ist und dass in diesem Leben vielerlei Unglück geschieht. Darum hat er dieses und andere Gebote zwischen Gut und Böse gestellt. Mitunter fällt es uns nicht leicht, die Gebote zu befolgen, so auch hier, denn wir müssen 42. Vgl. Martin Luther, Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530), WA 30/II, 517–588. 43. Als Evangelium zum 6. Sonntag nach Trinitatis.

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unter vielen Leuten leben, die uns Leid zufügen, so dass wir Ursache bekommen, ihnen böse zu sein. Wenn zum Beispiel dein Nachbar sieht, dass du einen schöneren Besitz, mehr Geld und größeres Glück von Gott erhalten hast als er, so verdrießt ihn das, er beneidet dich und redet nichts Gutes über dich. Also bekommst du viele Feinde durch den Ansporn des Teufels, die dir weder körperlich noch geistlich etwas Gutes wünschen. Wenn man nun solche Leute sieht, so will unser Herz wiederum wüten und Blut vergießen und sich rächen. Es kommt zum Zurückfluchen und zur Schlägerei, woraus dann Jammer und Totschlag entstehen. Dem beugt nun Gott vor wie ein freundlicher Vater, vermittelt und will den Streit schlichten, damit kein Unglück daraus entsteht und nicht einer den andern niedermacht. Alles in allem geht es ihm darum, jeden Menschen zu beschützen, zu befreien und ihm zum Frieden zu verhelfen vor den Übergriffen und der Gewalt anderer. Er stellt dieses Gebot als eine Ringmauer, Festung und sichere Zuflucht um den Mitmenschen herum, damit man ihm kein Leid und keine körperlichen Verletzungen zufügt. Der Sinn dieses Gebotes ist also, dass man niemandem ein Leid zufüge wegen irgendetwas Bösem, auch wenn er es sehr wohl verdient hätte. Denn wo Totschlag verboten ist, da ist auch alles verboten, was in letzter Konsequenz zum Totschlag führen könnte. Denn mancher tötet zwar nicht, flucht aber doch und wünscht dem anderen Böses. Weil das nun den Menschen von Natur eigen ist, dass keiner sich etwas von einem anderen gefallen lassen will, so will Gott die Wurzel und den Ursprung beseitigen, durch welche das Herz gegen die Mitmenschen erbittert wird, und uns daran gewöhnen, dass wir allezeit dies Gebot vor Augen haben und uns darin wiedererkennen, Gottes Willen betrachten und ihm das Unrecht, das wir erleiden, anbefehlen mit herzlichem Vertrauen44 und Anrufen seines Namens,45 so dass wir unsere Widersacher feindlich wüten und zürnen lassen, so gut sie eben können. So soll ein Mensch lernen, seinen Zorn im Zaum zu halten und Geduld und Sanftmut zu üben, insbesondere denen gegenüber, die ihm Anlass zum Zorn geben, also gegenüber seinen Feinden. 44. Vgl. erstes Gebot. 45. Vgl. zweites Gebot.

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Darum ist die Zusammenfassung dieses Gebots (um den Unkundigen aufs deutlichste einzuprägen, was »nicht töten« bedeutet) folgende: 1. Man soll niemandem etwas zuleide tun, weder mit der Hand oder durch die Tat, noch mit der Zunge zu etwas anstiften oder raten, man soll darüber hinaus auch keine Mittel bereitstellen oder Gelegenheiten herbeiführen, durch die jemand beleidigt werden könnte, schließlich soll auch das Herz niemandem gegenüber feindlich gesinnt sein oder ihm aus Zorn oder Hass Böses wünschen, so dass Körper und Seele an niemandem schuldig werden, vor allem auch an demjenigen nicht, der dir Böses wünscht und zufügt. Denn demjenigen, der dir Gutes wünscht und tut, Böses zu tun, wäre nicht menschlich, sondern teuflisch. 2. Gegen dieses Gebot verstößt aber nicht nur derjenige, der Böses tut, sondern auch derjenige, der es unterlässt, seinem Mitmenschen Gutes zu tun, Schaden von ihm abzuwenden, abzuwehren, ihn zu schützen und zu retten, obwohl er es könnte. Wenn du einen nackt wegschickst, obwohl du ihm Kleidung geben könntest, dann hast du ihn erfrieren lassen. Wenn du jemanden hungern siehst und gibst ihm nichts zu essen, dann lässt du ihn verhungern [vgl. Jak 2,15f]. Ebenso wenn du jemanden siehst, der zum Tod verurteilt worden ist oder der aus anderem Grund in Todesgefahr schwebt, und du rettest ihn nicht, obwohl du Mittel und Wege dazu wüsstest, dann hast du ihn getötet. Dabei wird es dir nichts nützen, dass du dich damit herauszureden versuchst, du habest keine Beihilfe geleistet durch Worte oder Handlungen; du hast ihm nämlich die Liebe entzogen und ihn der Wohltat beraubt, durch die er am Leben geblieben wäre. Darum nennt auch Gott mit Recht alle diejenigen Mörder, die in Notfällen und bei Gefahr für Leib oder Leben weder raten noch helfen, und wird ein überaus schreckliches Urteil über sie ergehen lassen am Jüngsten Tag, wie Christus selbst verkündigt hat [Mt 25,42f], und sprechen: »Ich bin hungrig und durstig gewesen, und ihr habt mir weder zu essen noch zu trinken gegeben; ich bin ein Fremder46 gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt; ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen, 46. Wörtlich: Gast. Dem liegt offenbar die Anschauung zugrunde, der Gaststatus sei nicht vom Wohlwollen des Gastgebers abhängig, sondern das Gastrecht fordere die gastliche Aufnahme des Fremden allein aufgrund von dessen Bedürftigkeit.

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und ihr habt mich nicht besucht.« Das heißt: Ihr hättet mich und die Meinen ungerührt an Hunger, Durst und Kälte sterben oder wilde Tiere uns zerreißen lassen, ihr hättet uns im Gefängnis verfaulen und in Not umkommen lassen. Was bedeutet das anderes, als als Mörder und Bluthunde gescholten zu werden? Denn wenn du das Verbrechen auch nicht als aktiv Handelnder begangen hast, so hast du deinen Mitmenschen doch, soweit es auf dich angekommen wäre, im Unglück stecken und umkommen lassen. Das ist, als ob ich jemanden sähe, der in tiefem Wasser gegen das Ertrinken ankämpft oder der in ein Feuer gefallen ist, und ich könnte ihm die Hand reichen, ihn herausreißen und retten, aber täte es doch nicht – stünde ich nicht vor aller Welt als Mörder und Bösewicht da? Deshalb geht es Gott letztlich darum, dass wir keinem Menschen Leid widerfahren lassen, sondern ihm Gutes und Liebe erweisen; und das Gebot zielt besonders auf die Beziehung zu unseren Feinden. Denn um Freunden Gutes zu tun, dazu braucht man wirklich kein Christ zu sein, wie auch Christus Mt 5[,46f] sagt. Da haben wir nun wiederum Gottes Wort, womit er uns anspornen und begeistern will zu echten, edlen, hochgesinnten Verhaltensweisen, wie Sanftmut, Geduld und – alles in allem – Liebe und Wohltat gegenüber unseren Feinden, und er will uns fortwährend erinnern, dass wir an das erste Gebot zurückdenken, dass er unser Gott sei, das bedeutet, dass er uns helfen, beistehen und uns schützen wolle, damit er in uns die Neigung dämpft, uns zu rächen. Das sollte man nun gründlich behandeln und einprägen, dann hätten wir alle Hände voll guter Taten zu verrichten. Aber das wäre nicht im Sinne der Mönche, würde dem geistlichen Stand zu sehr schaden und der vermeintlichen Heiligkeit der Kartäusermönche zu nahe treten, deshalb würde man behaupten, es handle sich um das Verbot guter Taten und die Räumung und Schließung von Klöstern. Denn auf diese Weise würde der einfache Christenmensch genauso viel, ja viel mehr gelten als ein Mönch oder eine Nonne, und jedermann sähe, wie sie die Welt mit falschem, heuchlerischem Schein der Heiligkeit äffen und verführen, weil sie dieses und andere Gebote in den Wind geschlagen und für unnötig erklärt haben, als wären es nicht Gebote, sondern Ratschläge,47 47. Von den Zehn Geboten, die als für alle Menschen verpflichtend galten, unterschied man die »evangelischen Räte«, Ehelosigkeit, Armut, Gehorsam, die nur

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und haben demgegenüber ihre Heuchelei und selbst erfundenen Frömmigkeitsübungen unverschämter Weise als in Gottes Augen besonders wertvolles Leben gerühmt und angepriesen, um nur ja ein bequemes Leben führen zu können, ohne Leiden erdulden zu müssen. Darum sind sie auch in die Klöster gelaufen, damit sie vor allen Menschen in Sicherheit wären und niemandem etwas Gutes tun müssten. Du aber wisse, dass dies die wahren, heiligen und göttlichen Taten sind, an denen Gott mit allen Engeln seine Freude hat und denen gegenüber alle von Menschen erfundenen Heiligkeitsleistungen lediglich Gestank und Dreck sind, die noch dazu nur Zorn und Verdammnis verdienen.

Das sechste Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Die folgenden Gebote sind nun leicht nach Art des vorigen zu verstehen. Denn sie laufen alle darauf hinaus, dass man sich davor hüte, dem Mitmenschen irgendwelchen Schaden zuzufügen. Sie sind aber sinnvoll der Reihe nach angeordnet, je nachdem, worauf sie sich beziehen, zunächst auf seine eigene Person,48 dann auf die ihm zunächst stehende Person oder das ihm nach seinem eigenen Leben nächststehende Gut, nämlich seine Ehepartnerin, die mit ihm ein Fleisch und Blut ist [vgl. Gen 2,24], so dass man ihm an keinem Besitz einen höheren Schaden zufügen kann.49 Darum wird hier auch deutlich ausgedrückt, dass man ihm (dem Mitmenschen) keine Schande zufügen soll an seiner Ehefrau. Es ist hauptsächlich deshalb als Ehebruchsverbot formuliert, weil es im jüdischen Volk so Brauch war, dass jeder heiraten musste. Darum wurde auch die Jugend möglichst frühzeitig verheiratet, so dass weder ledige junge Frauen einen angesehenen Status hatten, noch beiden Geschlechtern öffentliche sexuelle Freizüfür Ordensleute verpflichtend waren und deren Beachtung für ein vollkommenes, gottgefälliges Leben entscheidend sein sollte. Die Überbewertung dieser »Ratschläge« konnte leicht zu einer Abwertung der Zehn Gebote führen, die dann selbst gleichsam nur noch den Status von Ratschlägen behielten. 48. Vgl. fünftes Gebot. 49. Vgl. sechstes Gebot. Das ursprüngliche Gebot ist ebenso wie Luthers Auslegung aus der männlichen Perspektive formuliert, gilt aber in ähnlicher Weise auch für die weibliche Perspektive.

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gigkeit gestattet wurde, wie es jetzt der Fall ist. Darum ist der Ehebruch die verbreitetste Form der Unkeuschheit50 bei ihnen gewesen. Weil aber bei uns ein solch schändliches Durcheinander herrscht und auch die übelsten Formen der Verwahrlosung und Verirrung Platz finden, ist dies Gebot auch gegen alle erdenklichen Formen der Unkeuschheit gerichtet, und es sind nicht allein äußerlich die entsprechenden Handlungen verboten, sondern auch Veranlassungen, Anreize und Mittel, damit Herz, Mund und der ganze Körper keusch51 sein sollen; sie sollen keine Gelegenheit, Unterstützung noch Hinweise zur Unkeuschheit geben, ja im Gegenteil abwehren, schützen und retten, wo eine Gefährdung besteht oder eine Notlage eintritt, und dazu beitragen, dass dein Mitmensch in Ehren bleibe. Denn wenn du die Hilfe unterlässt, obwohl du jemanden schützen könntest, oder darüber hinwegsiehst, als ginge es dich nichts an, bist du ebenso schuldig wie der Täter selbst. Also ist, kurz gesagt, so viel gefordert, dass jeder Mensch sowohl, was ihn selbst betrifft, keusch leben als auch seinen Mitmenschen darin unterstützen soll, seinerseits keusch zu leben, so dass Gott durch dies Gebot jedermanns Ehepartner geschützt und bewahrt haben will, damit sich niemand an ihnen vergreift. Weil aber dies Gebot so eindeutig auf den Ehestand gerichtet ist und Ursache gibt, davon zu reden, sollst du Folgendes wohl begreifen und merken: Zum Ersten, wie Gott diesen Stand so herrlich ehrt und preist, indem er ihn durch sein Gebot bestätigt und bewahrt. Bestätigt hat er ihn oben im vierten Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren.« Hier aber hat er ihn, wie gesagt, verwahrt und beschützt. Darum will er ihn auch von uns geehrt, angesehen und geführt haben als einen göttlichen, seligen Stand, weil er ihn zuerst und vor allen anderen eingesetzt hat und deshalb Mann und Frau unterschiedlich erschaffen, wie offensichtlich, nicht um Mutwillen zu treiben, sondern damit sie 50. verantwortungsloses Ausleben von Sexualität, sexuelle Verwahrlosung. Im Unterschied zum traditionellen Verständnis (Keuschheitsgelübde von Ordensleuten etc.) bezeichnet »Keuschheit« bei Luther vorrangig nicht völlige sexuelle Enthaltsamkeit, sondern das verantwortungsbewusste Leben der eigenen Sexualität im Rahmen einer von Liebe und gegenseitigem Respekt geprägten, auf Dauer angelegten Partnerschaft. 51. unverdorben, unbefleckt.

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beieinander bleiben, fruchtbar sind, Kinder zeugen, ernähren und aufziehen zu Gottes Ehren. Darum hat Gott diesen Stand auch vor allen anderen aufs reichlichste gesegnet und alles, was es auf der Welt gibt, dazu verwendet und ihm zugeordnet, damit dieser Stand nur ja gut und reichlich versorgt würde. Es handelt sich also keineswegs um einen Scherz oder mutwilligen Einfall, sondern um eine vortreffliche Sache und göttlichen Ernst beim Leben in der Ehe. Denn es kommt Gott vor allem darauf an, dass man Leute heranziehe, die der Welt dienen und zu Gotteserkenntnis verhelfen, zum Leben im Einklang mit Gott und zu allen Tugenden, um gegen die Bosheit und den Teufel zu streiten. Darum habe ich immer gelehrt, dass man diesen Stand nicht verachten oder geringschätzen solle, wie es die verblendete Welt und unsere heuchlerischen Geistlichen tun,52 sondern man soll ihn gemäß dem Wort Gottes ansehen, mit dem er geschmückt und geheiligt ist, so dass er anderen Ständen nicht nur gleichrangig ist, sondern ihnen vorgezogen und über sie gesetzt ist, es seien Kaiser, Fürsten, Bischöfe und wer auch immer. Denn geistliche wie weltliche Stände müssen klein beigeben und zugestehen, dass sie in diesem Stand enthalten sind, wie wir hören werden. Deshalb ist es nicht einfach ein besonderer Stand neben vielen anderen, sondern der verbreitetste, edelste Stand, der den gesamten Christenstand, ja alle Welt grundlegend durchdringt und überall hineinreicht. Zum anderen sollst du auch wissen, dass es nicht nur ein ehrbarer, sondern auch ein nötiger Stand ist und ernsthaft von Gott geboten, dass in allen Schichten der Gesellschaft Männer und Frauen, die dazu geschaffen sind, diesen Stand ergreifen sollen, einige wenige ausgenommen, die Gott ausgesondert hat, so dass sie für den ehelichen Stand nicht geeignet sind, oder die er durch eine hohe, übernatürliche Gabe befreit hat, dass sie auch außerhalb des Ehestandes ein keusches Leben führen können. Denn wo die Natur wirkt, wie sie uns von Gott eingepflanzt ist, da ist es nicht möglich, außerhalb der Ehe keusch zu bleiben; denn Fleisch und Blut bleiben Fleisch und Blut, die natürliche Neigung und Anreizung nimmt unverwehrt und ungehindert ihren Lauf, wie jeder sieht und fühlt. Damit es umso leichter sei, Unkeusch52. Im Anschluss an Stellen wie 1 Kor 7,26 sah man die Ehelosigkeit als höherwertig an gegenüber dem Ehestand. Paulus formulierte seine Meinung allerdings in Erwartung des nahen Weltendes.

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heit einigermaßen zu meiden, hat Gott auch den Ehestand befohlen, damit jeder einen zugewiesenen Bereich habe und sich daran genügen lasse, wenn auch noch Gottes Gnade dazu nötig ist, damit auch das Herz keusch sei. Daran erkennst du, wie unser papistischer Haufen – Pfaffen, Mönche, Nonnen – Gottes Gebot und Ordnung widerstrebt, indem sie den Ehestand verachten und verbieten und so vermessen sind, dass sie sich zutrauen, aus eigener Kraft ewige geschlechtliche Enthaltsamkeit bewahren und versprechen zu können, außerdem betrügen sie die Leichtgläubigen mit lügenhaften Worten und trügerischem Anschein. Denn niemand hat so wenig Liebe und Neigung zur Keuschheit als ebendiejenigen, die den Ehestand vor angeblich großer eigener Heiligkeit meiden und dabei entweder öffentlich und schamlos in Hurerei liegen oder es heimlich noch übler treiben, dass man es nicht auszusprechen wagt. Das ist leider allzu bekannt. Kurz: Selbst wenn sie die Unkeuschheit nicht ausüben, so stecken sie doch im Herzen voller unkeuscher Gedanken und böser Neigungen, so dass da ein ewiges Brennen und heimliches Leiden ist, das man im ehelichen Leben umgehen kann. Darum ist durch dieses Gebot jegliches Gelübde unehelicher Keuschheit verdammt und aufgehoben, ja auch allen armen gefangenen Gewissen, die durch ihre Klostergelübde betrogen sind, ist geboten, dass sie aus dem unkeuschen Stand ins eheliche Leben treten, denn selbst wenn das Klosterleben an sich gottgefällig sein könnte, steht es doch nicht in ihrer Kraft, Keuschheit zu bewahren, und wenn sie beim Klosterleben blieben, müssten sie deshalb immer weiter gegen dieses Gebot sündigen. Das alles erzähle ich deshalb, damit man die jungen Erwachsenen dazu anhalte, dass sie Gefallen am Ehestand finden und wissen, dass es ein seliger Stand ist, der Gott wohlgefällt. Denn so könnte man es mit der Zeit dahin bringen, dass der Ehestand wieder zu seinen Ehren käme und im Gegenzug das unflätige, wüste, unordentliche Treiben zurückginge, das jetzt allenthalben in der Welt um sich greift mit öffentlicher Hurerei und anderen schändlichen Lastern, die aus der Verachtung des ehelichen Lebens entsprungen sind. Darum sind hier Eltern und Obrigkeit auch verpflichtet, auf die Jugend zu achten, damit man sie zu Anständigkeit und Selbstachtung erzieht und, wenn sie erwachsen sind, im Vertrauen auf Gott und in allen Ehren verhei-

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ratet. Dazu würde Gott Beistand und Hilfe geben, so dass man Wohlgefallen und Freude daran hätte. Abschließend sei festgestellt, dass dieses Gebot nicht nur verlangt, dass jeder Mensch mit Handlungen, Worten und Gedanken keusch lebe in seinem jeweiligen Stand, und das ist zuallermeist der eheliche Stand, sondern auch, dass man seinen Ehepartner als eine Gabe Gottes lieb und wert halte. Denn wo eheliche Keuschheit verwirklicht werden soll, da müssen Mann und Frau vor allen Dingen in Liebe und Eintracht beieinander wohnen, dass sie einander von Herzen und mit ganzer Treue lieben. Denn das gehört zum Wichtigsten, was Liebe und Lust zur Keuschheit hervorbringt, und wo das wirksam ist, da wird auch Keuschheit von selbst folgen, ohne dass man sie eigens anordnen müsste. Deshalb ermahnt auch der heilige Paulus die Eheleute so fleißig, einander zu lieben und zu ehren [vgl. Eph 5,22–33; Kol 3,18f]. Da hast du wieder eine, ja viele kostbare und große gottgefällige Taten, die du fröhlich rühmen kannst gegenüber allen geistlichen Ständen, die ohne Gottes Wort und Gebot selbst gewählt wurden.

Das siebte Gebot: Du sollst nicht stehlen. Nach deiner eigenen Person und deinem Ehepartner ist irdischer Besitz das Nächstfolgende. Das will Gott auch geschützt haben. Darum hat er geboten, dass niemand dem anderen etwas von seinem Besitz entziehe oder unterschlage. Denn Stehlen heißt nichts anderes, als das Eigentum eines andern mit Unrecht an sich zu bringen, das heißt kurz, in allerlei Geschäften den Mitmenschen zu übervorteilen. Das ist nun allerdings ein verbreitetes, gewöhnliches Laster, aber ungemein wenig beachtet und wahrgenommen, so dass die Welt bald veröden müsste und es an Henkern und Galgen fehlen würde, wenn man alle aufhängen wollte, die zwar Diebe sind, aber doch nicht so genannt werden wollen. Denn unter »Stehlen« ist nicht nur zu verstehen, wenn einer die Truhen oder Taschen anderer mit eigener Hand ausräumt, sondern darunter ist vieles zu verbuchen, was in aller Öffentlichkeit vor sich geht, auf dem Markt, in Kaufläden, Metzgereien, Wein- und Bierkellern, Werkstätten und kurz, wo immer man Geschäfte macht und Geld für Ware oder Arbeit nimmt und gibt. Um es für die Leute

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möglichst zu verdeutlichen, damit man erkenne, wie es um unsere Rechtschaffenheit wirklich bestellt ist, nenne ich folgende Beispiele: Wenn du als Knecht oder Magd im Haus nicht treu deinen Dienst versiehst, sondern Schaden anrichtest oder nicht verhinderst, obwohl du es könntest, oder sonst das Eigentum deines Dienstherrn vergeudest und verkommen lässt aus Faulheit, Bequemlichkeit oder Bosheit zum Ärger der Dienstherrschaft – so etwas kann absichtlich geschehen (denn ich rede nicht von dem, was versehentlich und unabsichtlich getan ist) –, so kannst du in einem Jahr einen Gulden, dreißig oder vierzig und mehr entwenden, wofür ein anderer, wenn er sie heimlich genommen hätte, aufgehängt würde, und kannst dabei sogar noch auf deine vermeintliche Unschuld pochen, und niemand wagt es, dich einen Dieb zu nennen. Desgleichen rede ich auch von Handwerksleuten, Arbeitern, Tagelöhnern, die ihrer Willkür freien Lauf lassen, nicht wissen, wie sie die Leute noch übervorteilen sollen, und doch nachlässig und untreu in ihrer Arbeit sind. Diese alle sind weit schlimmer als die heimlichen Diebe, gegen die man sich mit Schloss und Riegel sichern kann oder mit denen man, wenn man sie ertappt, so umgeht, dass sie es nicht mehr tun. Vor diesen aber kann sich niemand hüten, darf sie auch nicht unfreundlich ansehen oder irgendeines Diebstahls beschuldigen, so dass einer zehnmal lieber etwas aus dem Beutel verlieren wollte.53 Denn das sind meine Nachbarn, guten Freunde und eigenen Bediensteten, von denen ich Gutes erwarte, die mich zuallererst betrügen. Entsprechend geht es auch auf dem Markt und bei gewöhnlichen Geschäften mit voller Macht und Gewalt zu, wo einer den andern öffentlich mit falscher Ware, Maß, Gewicht oder Münze betrügt und mit Fingerfertigkeit und ausgefallenen Listen oder tückischen Kniffen übertölpelt, mit dem Kauf übervorteilt und nach seiner Willkür belastet, rupft und ausnimmt. Und wer kann das alles erzählen oder erdenken? Kurz, das ist die gewöhnlichste Tätigkeit und der verbreitetste Berufsstand auf Erden, und wenn man jetzt die Welt durch alle ihre Stände besieht, so findet man nichts anderes als einen großen, weiten Stall voller großer Diebe. Im Unterschied zu Einbrechern oder Ta53. Gemeint ist wohl, der Verlust sei besonders schmerzhaft, weil er mit einem Vertrauensbruch verbunden ist.

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schendieben, die sich heimlich an anderer Leute Barschaft vergreifen, nennt man darum diejenigen auch Stuhlräuber,54 Land- und Straßendiebe, die auf dem Amts- oder Ehrenstuhl sitzen, große Junker und ehrsame, rechtschaffene Bürger heißen und dabei unter dem Schein des Rechts rauben und stehlen. Ja, hier wäre noch zu schweigen von unbedeutenden einzelnen Dieben, wenn man die großen, gewaltigen Hauptdiebe angreifen sollte, [mit welchen Herren und Fürsten Gemeinschaft machen,]55 die nicht eine Stadt oder zwei, sondern ganz Deutschland täglich ausplündern. Ja, wo bliebe das Haupt und der oberste Schutzherr aller Diebe, der Heilige Stuhl zu Rom mit seinem gesamten Anhang, der aller Welt Güter mit Dieberei an sich gebracht und bis auf diesen Tag in Besitz hat?56 Kurz, so geht es in der Welt: Wer öffentlich stehlen und rauben kann, geht unbekümmert und frei dahin, von jedermann ungetadelt, und will noch dazu ehrerbietig behandelt werden. Unterdessen müssen die kleinen, heimlichen Diebe, die sich einmal an fremdem Eigentum vergriffen haben, die Schande und Strafe ertragen, so dass jene anderen besonders rechtschaffen und ehrbar erscheinen. Doch sollen sie wissen, dass sie in Gottes Augen die größten Diebe sind, und er wird sie auch bestrafen, wie sie es wert sind und verdienen. Weil nun dieses Gebot so weit ausgreift, wie jetzt aufgezeigt, ist es nötig, es der Menge deutlich vor Augen zu halten und ausführlich zu erklären, damit man sie nicht so frei und unbekümmert hingehen lässt, sondern immer Gottes Zorn vor Augen stellt und einschärft. Denn wir müssen das nicht Christen, sondern zumeist Schurken und Schuften predigen, denen wohl angemessener ein Richter, Gefängnisaufseher oder Henker predigen sollte. Darum soll ein jeder wissen, dass er um den Preis der Ungnade Gottes verpflichtet ist, seinem Mitmenschen nicht nur keinen Schaden zuzufügen, ihn nicht um einen Vorteil zu bringen noch bei einem Verkaufsabschluss oder bei 54. Wucherer. Das Wort kommt allerdings nicht von »Stuhl«, sondern gehört zu dem niederdeutschen »stôl« = auf Zins ausgeliehenes Kapital. 55. Der eingeklammerte Text ist in späteren Ausgaben ausgelassen. 56. Luther äußert sich hier im Sinne der »Gravamina der deutschen Nation«, einer erstmals auf einem Frankfurter Kurfürstentag 1456 zusammengestellten, später immer wieder erweiterten Liste mit Beschwerden über die römische Kurie, die Deutschland ausbeute. 1523 erschienen die »Gravamina« auch im Druck.

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sonst irgendeinem Geschäft mit Untreue oder Tücke vorzugehen, sondern im Gegenteil auch seinen Besitz treu zu verwahren, ihm zu seinem Nutzen zu verhelfen und ihn zu fördern, erst recht, wenn man dafür bezahlt wird. Wer das nun mutwillig missachtet, der kann vielleicht dem Henker entlaufen, wird aber Gottes Zorn und Strafe nicht entgehen, und wenn er auch lange seinem eigenen Kopf folgt, wird er doch ein Landstreicher und Bettler bleiben und alle Plage und Unglück obendrein haben. Jetzt vernachlässigst du deine Pflicht, den Besitz deines Herrn oder deiner Herrin zu bewahren, wofür du deinen Schlund und Bauch füllst, nimmst deinen Lohn wie ein Dieb57 und lässt dich obendrein ehren wie einen Edelmann. So gibt es viele, die ihrer Dienstherrschaft noch dazu widerstreben und ihnen ungerne etwas zuliebe tun oder einen Dienst erweisen, indem sie etwa einen Schaden abwendeten. Sieh aber zu, was du davon hast: Wenn du es zu etwas Eigenem gebracht hast und zu Hause sitzt, was Gott dich zu deinem Unglück erreichen lassen wird, dann wird es dich wieder ereilen, so dass du es dreißigfach bezahlen musst, wo du auch nur den geringsten Betrag vorenthalten oder Schaden verursacht hast. Entsprechend soll es auch Handwerkern und Tagelöhnern ergehen, von denen man jetzt unerträgliche Willkür hören und erleiden muss, als wären sie Herren über den Besitz ihrer Kunden und jeder müsste ihnen geben, wie viel sie verlangen. Die lass nur getrost weiter Geld herausschlagen, solange sie können, aber Gott wird sein Gebot nicht vergessen und ihnen den Lohn geben, den sie sich verdient haben, nämlich dass sie nicht an einem grünen, sondern an einem dürren Galgen aufgehängt werden,58 dass sie ihr Leben lang nicht gedeihen und nichts zuwege bringen. Ja, wenn es um die öffentliche Ordnung im Lande besser bestellt wäre, könnte man dieser Willkür leicht begegnen und sich dagegen wehren, wie es vorzeiten bei den Römern war, wo man solche Leute sofort beim Schopf nahm, so dass sie anderen als abschreckendes Beispiel dienen mussten. So soll es auch allen anderen er57. denn du erbringst absichtlich die Leistung nicht, für die du den Lohn beziehst. 58. Der Nachsatz erläutert die Bedeutung des Ausdrucks: Die Strafe erfolgt nicht rasch, am grünen Galgen, sondern zieht sich über eine lange Zeit hin, besteht in einem erfolglosen, fruchtlosen, freudlosen Leben.

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gehen, die aus dem offenen, freien Markt einen Schindanger und eine Räuberhöhle machen, wo man täglich die Armen übervorteilt, neue Belastungen und Preissteigerungen anbringt, jeder den Markt nach eigener Willkür missbraucht und dazu noch mit großer Frechheit auftritt, als habe er jede Berechtigung, das Seine so teuer zu verkaufen, wie er Lust hat, und lässt sich nicht dreinreden. Denen wollen wir zusehen, wie sie auf alle erdenkliche Weise Geld zusammenscharren, aber dabei vertrauen wir auf Gott, der zu gegebener Zeit, wenn du lange genug die Leute ausgenommen und geschröpft hast, einen besonderen Segen darüber sprechen wird, so dass dir dein Korn im Speicher, dein Bier im Keller, dein Vieh im Stall verderben wird. Ja, wo du jemanden um einen einzelnen Gulden täuschst und übervorteilst, soll dir der ganze Geldhaufen wegrosten und weggefressen werden [vgl. Mt 6,19f; Lk 12,33], so dass du keine Freude daran hast. Wohl wird es uns täglich vor Augen geführt, dass kein gestohlener oder durch Betrug gewonnener Besitz sich gut weiterentwickelt.59 Wie viele gibt es, die Tag und Nacht Geld zusammenscharren und zusammenkratzen und doch nicht im Geringsten reicher werden. Und wenn sie auch viel sammeln, haben sie doch so viel Plage und Unglück dabei, dass sie den Gewinn nicht mit Freude genießen oder auf ihre Kinder vererben können. Aber weil sich niemand daran kehrt und wir unbeeindruckt weitermachen wie bisher, muss Gott uns anders zu Leibe rücken, indem er eine Sondersteuer nach der anderen kommen lässt oder einen Haufen Landsknechte zu Gast lädt, die uns binnen einer Stunde Truhen und Börse ausräumen und nicht aufhören, solange wir noch einen Heller haben, obendrein als Zeichen ihrer Dankbarkeit Haus und Hof verbrennen und verheeren, Frau und Kinder schänden und umbringen. Kurz: Stiehlst du viel, so rechne damit, dass dir noch einmal so viel genommen werde, und wer mit Gewalt und Unrecht raubt und Gewinn macht, der muss es sich gefallen lassen, dass ein anderer ihm ebenso mitspielt. Denn diese Kunst kann Gott meisterlich, dass er, weil jeder den andern beraubt und bestiehlt, einen Dieb mit dem andern bestraft. Wo wollte man sonst genug Galgen und Stricke hernehmen? 59. Vgl. das Sprichwort: »Unrecht Gut gedeihet nicht, kommt nicht an dritten Erben.«

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Wer sich nun belehren lassen will, der wisse, dass es Gottes Gebot ist und nicht als Scherz angesehen werden will. Denn uns magst du immerhin verachten, betrügen, bestehlen und berauben, wir werden uns damit abfinden, deinen Hochmut ertragen und dir gemäß dem Vaterunser vergeben und barmherzig sein. Denn die Frommen werden doch ausreichend versorgt sein, und du schadest dir selbst mehr als jedem anderen. Aber hüte dich, wenn Arme, von denen es gegenwärtig viele gibt, zu dir kommen, die von der Hand in den Mund leben müssen, und du tust weiterhin, als müsse sich jedermann um dein Wohlwollen bemühen, presst sie aus bis aufs Blut und weist mit Stolz und Übermut diejenigen ab, denen du etwas geben und schenken solltest, so gehen die Armen weiter, traurig und betrübt, und weil sie es niemandem klagen können, schreien und rufen sie zum Himmel. Davor hüte dich (sage ich noch einmal) wie vor dem Teufel selbst. Denn dieses Seufzen und Rufen wird nicht wirkungslos verhallen, sondern bekommt einen Nachdruck, der dir und aller Welt zu schwer werden wird. Denn es wird zu demjenigen durchdringen, der sich der armen, betrübten Herzen annimmt und sie nicht ungerächt lassen will. Verachtest du das aber und beharrst in deinem Eigensinn, so sieh zu, wen du auf dich geladen hast. Wird es dir gelingen und wohl ergehen, so darfst du Gott und mich vor aller Welt Lügner schimpfen. Wir haben genug ermahnt und gewarnt. Wer es nicht beachten und glauben will, den lassen wir hingehen, bis er es selbst erfährt. Aber den jungen Leuten muss man das einprägen, damit sie sich vorsehen und nicht dem alten, zügellosen Haufen nachfolgen, sondern sich Gottes Gebot vor Augen halten, damit nicht Gottes Zorn und Strafe auch über sie ergehe. Unsere Aufgabe ist es, zu lehren und zu tadeln mit Gottes Wort; aber um solche öffentliche Willkür in die Schranken zu weisen, wären Fürsten und Regierungen nötig, die selbst Augen im Kopf und dazu den Mut hätten, Regeln aufzustellen für allerlei Geschäftsbereiche und auch auf ihre Einhaltung zu achten, damit die Armen nicht weiter belastet und unterdrückt würden und die Regierenden sich nicht die Verantwortung für anderer Leute Sünden auflüden. Das soll genügen zur Bedeutung des Wortes »stehlen«, damit man sie nicht zu begrenzt auffasse, sondern reichen lasse, soweit wir mit anderen Menschen zu tun haben. Wie bei den vorigen Geboten, kann man hier zusammenfassend sagen, dass dadurch vor allem verboten

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ist, dem Mitmenschen Schaden oder Unrecht zuzufügen (wie auch immer man ihn an seinem Besitz schädige oder ihm etwas vorenthalte) oder darin einzuwilligen oder es zu erlauben, sondern man soll dem entgegenwirken und es verhüten. Wiederum ist damit geboten, den Besitz des Mitmenschen zu fördern und zu verbessern, und wenn er Not leidet, soll man helfen, geben und borgen, gleich, ob Freund oder Feind. Wer nun willens ist, gute Taten zu tun, wird in diesem Bereich übergenug finden, die Gott von Herzen angenehm und wohlgefällig sind und obendrein mit kostbaren besonderen Segensverheißungen verbunden und überschüttet, dass es reichlich vergolten werden soll, was wir zum Nutzen unserer Mitmenschen und aus Freundlichkeit tun, wie auch der König Salomo lehrt, Sprüche 19[,17]: »Wer sich des Armen erbarmt, leiht dem Herrn, und der wird ihm vergelten, was er Gutes getan hat.« Da hast du einen reichen Herrn, der für jeden beliebigen Betrag gutsteht und dir nichts fehlen lassen wird; so kannst du mit fröhlichem Gewissen hundertmal mehr genießen, als du mit Untreue und Unrecht zusammenscharren könntest. Wer nun aber den Segen nicht haben will, der wird Zorn und Unglück genug finden.

Das achte Gebot: Du sollst nicht falsch aussagen zum Schaden deines Mitmenschen. Außer unserem eigenen Körper, dem Ehepartner und dem irdischen Besitz haben wir noch einen weiteren Schatz, nämlich unsere Ehre und unseren guten Ruf, den wir auch nicht entbehren können. Denn es ist wichtig, unter den Leuten nicht in öffentlicher Schande zu leben, von allen verachtet. Darum will Gott, dass das Ansehen, der Ruf und die gesellschaftliche Stellung des Mitmenschen ihm so wenig genommen oder geschädigt werden sollen wie Geld oder Besitz, damit jeder vor seinem Ehepartner, Kind, Mitarbeiter und Nachbarn als ehrenhaft dastehe. Und zum Ersten ist die einfachste Bedeutung dieses Gebots, wie die Worte lauten (»Du sollst nicht falsch aussagen«), auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung bezogen, in der man einen armen unschuldigen Menschen verklagt und durch falsche Zeugen unterdrückt, damit er an Körper, Besitz oder Ehre gestraft werde. Das scheint nun, als gehe es uns wenig an, aber bei den Israeliten kam es recht häufig vor. Denn das Volk lebte in einem wohlgeordne-

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ten Gemeinwesen, und wo immer eine solche Ordnung besteht, da geht es ohne Sünde nicht ab. Das kommt daher: Wo ein Richter, Bürgermeister, Fürst oder sonstige Regierungsmitglieder in einen Fall verwickelt sind, da geht es nach dem üblichen Lauf der Welt, dass man niemanden gern beleidigen will und deshalb heuchelt und sich in seinem Reden von Einfluss, Geld, Hoffnungen oder Beziehungen bestimmen lässt. Da wird dann ein armer Mann mit seinem gerechten Anliegen unterdrückt, verurteilt und bestraft. Und es ist ein verbreitetes Übel in der Welt, dass im Gerichtshof selten rechtschaffene Leute sitzen. Denn ein Richter muss vor allem rechtschaffen sein, aber nicht nur rechtschaffen, sondern auch weise, gescheit, ja auch kühn und tapfer. Ebenso muss ein Zeuge tapfer und vor allem rechtschaffen sein. Denn wer alle Streitfälle recht richten und mit dem Urteil durchgreifen soll, wird oftmals gute Freunde, Verwandte, Bekannte, Reiche und Mächtige erzürnen, die ihm viel nützen oder schaden können. Darum muss er geradezu blind sein, Augen und Ohren verschließen, nichts sehen oder hören als das, was unmittelbar zur Sache gehört, und danach sein Urteil fällen. Darum geht es nun zunächst in diesem Gebot, dass jeder seinem Mitmenschen zu seinem Recht verhilft und es nicht verhindern oder beugen lässt, sondern es fördert und über der Einhaltung wacht, gleichviel ob als Richter oder Zeuge und gleichgültig, worum es geht. Damit ist insbesondere unseren Herren Juristen als Ziel vorgegeben, dass sie sich bemühen, wahrhaftig und aufrichtig mit den Fällen umzugehen, was recht ist, recht bleiben zu lassen, nichts zu verdrehen, zu bemänteln oder zu verschweigen, ohne Rücksicht auf Geld, Besitz, Ehre oder Macht. Das ist ein Stück und die schlichteste Bedeutung dieses Gebots im Hinblick auf alles, was vor Gericht geschieht. Überdies erstreckt es sich noch sehr viel weiter, wenn man es in den Bereich des geistlichen Gerichts oder der geistlichen Leitung überträgt. Da geht es so, dass ein jeder falsch aussagt zum Schaden seines Mitmenschen. Denn wo rechtschaffene Prediger und Christen sind, da werden sie Ketzer, Abtrünnige, ja aufrührerische und heillose Bösewichte genannt. Überdies muss sich Gottes Wort aufs schändlichste und giftigste verfolgen, lästern, als erlogen schmähen, verdrehen, missbrauchen und missdeuten lassen. Aber das gehe seinen Weg; denn es ist die Art der Welt, dass sie die Wahrheit und Gottes Kinder verdammt und verfolgt und es doch nicht für Sünde hält.

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Zum Dritten, was uns alle betrifft, ist in diesem Gebot jegliche Sünde verboten, die mit der Zunge verübt wird, mit der man Mitmenschen Schaden tun oder sie kränken könnte. Denn »falsch aussagen« ist nichts anderes als etwas, das mit dem Mund getan wird (»Mundwerk«). Was man nun mit dem Mund gegen den Mitmenschen unternimmt, das will Gott verhindert wissen, es handele sich um falsche Prediger mit ihrer Irrlehre und Verunglimpfung Andersdenkender oder um falsche Richter und Zeugen mit einem Fehlurteil oder sonst außerhalb des Gerichts mit Lügen und Verleumdungen. Hierher gehört insbesondere das widerwärtige, schändliche Laster der üblen Nachrede oder Verleumdung, mit dem uns der Teufel reitet, wovon viel zu sagen wäre. Denn es ist eine verbreitete schädliche Plage, dass jeder lieber Böses als Gutes über seine Mitmenschen hört. Und obwohl wir selbst so böse sind, dass wir es nicht ertragen können, wenn uns jemand etwas Böses nachsagt, sondern wünschen, dass alle Welt nur goldene Worte über uns rede, können wir es doch nicht hören, dass man das Beste über andere sagt. Deshalb sollen wir diese Untugend vermeiden und beachten, dass es niemandem zukommt, seinen Mitmenschen öffentlich zu verurteilen und zu tadeln, selbst wenn er ihn sündigen sieht, sofern er nicht den öffentlichen Auftrag hat, zu richten und zu strafen. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man um eine Sünde weiß oder sie richtet. Davon wissen magst du immerhin, aber darüber richten sollst du nicht. Sehen und hören kann ich wohl, dass ein Mitmensch sündigt, aber ich bin nicht beauftragt, ihn bei anderen ins Gerede zu bringen. Wenn ich nun eingreife, richte und urteile, so falle ich in eine Sünde, die größer ist als jene. Weißt du es aber, so tue nichts anderes, als aus deinen Ohren ein Grab zu machen, und scharre es zu, bis dass dir befohlen wird, Richter zu sein und von Amts wegen zu strafen. Verleumder nennt man, die es nicht beim Wissen bleiben lassen, sondern weiter gehen und das Urteil selbst in die Hand nehmen, und wenn sie etwas über einen anderen wissen, tragen sie es in jeden Winkel und gefallen sich darin, den Schmutz eines anderen aufzuwühlen wie die Säue, die sich im Dreck wälzen und mit dem Rüssel darin wühlen. Das ist nichts anderes, als in Gottes Gericht und Amt einzugreifen, zu urteilen und zu strafen mit dem schärfsten Urteil. Denn kein Richter kann höher strafen oder weiter ausgreifen, als wenn er sagt: »Dieser Mensch ist ein Dieb, Mörder, Verräter etc.« Wer

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sich also untersteht, so etwas von einem Mitmenschen zu sagen, maßt sich eine Autorität an, wie sie dem Kaiser oder der Obrigkeit zukommt. Denn wenn du auch das Richtschwert nicht in den Händen hältst, so gebrauchst du doch deine giftige Zunge zur Schande und zum Schaden deines Mitmenschen. Darum will Gott es verhindert wissen, dass einer dem andern übel nachrede, selbst wenn der eine schuldig ist und es der andere genau weiß, erst recht aber, wenn er es nicht wirklich weiß, sondern sich nur auf Hörensagen stützt. Wendest du aber ein: »Warum sollte ich es nicht sagen, wenn es doch die Wahrheit ist?« Antwort: »Warum trägst du es nicht vor einem ordentlichen Gericht vor?« – »Ja, ich kann es nicht öffentlich bezeugen, sonst fährt man mir womöglich über den Mund und weist mich übel ab.« Ei Lieber, riechst du den Braten? Traust du dich nicht, gegenüber zuständigen Personen die Sache zu verantworten, so halte überhaupt den Mund. Weißt du es aber, so behalte es für dich. Denn wenn du es weitersagst, stehst du doch, selbst wenn es wahr ist, als Lügner da, weil du es nicht belegen kannst, und handelst wie ein Bösewicht. Denn man soll niemandem seine Ehre und seinen Ruf nehmen, wenn sie ihm nicht zuvor öffentlich genommen worden sind. Also heißt »falsche Aussage« alles, was man nicht gehörig belegen kann. Was also nicht mit hinreichenden Beweisen am Tage liegt, soll niemand bekannt machen oder als Wahrheit verbreiten. Kurz: Was verborgen ist, soll man verborgen bleiben lassen oder doch im Verborgenen tadeln, wie wir hören werden. Wenn dir also ein Schwätzer begegnet, der einen anderen ins Gerede bringt und verleumdet, so weise ihn beherzt in die Schranken, dass er schamrot werde; dann wird mancher den Mund halten, der sonst einen armen Menschen in ein Gerede brächte, aus dem er kaum wieder herauskommen könnte. Denn Ehre und Ansehen kann man leicht wegnehmen, aber nicht leicht zurückgeben. Also siehst du, dass es rundweg verboten ist, von den Mitmenschen etwas Böses zu reden. Das gilt allerdings nicht in gleicher Weise für die weltliche Obrigkeit, Prediger, Vater und Mutter, damit man dieses Gebot nicht so versteht, als sollte das Böse ungestraft bleiben. Wohl darf man dem fünften Gebot gemäß niemandem körperlichen Schaden zufügen, davon ist aber der Henker ausgenommen, der von Amts wegen dem Mitmenschen nichts Gutes, sondern nur Schaden und Böses tut; er verstößt dabei aber doch nicht gegen Gottes Gebot, weil

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Gott dieses Amt um seinetwillen geschaffen hat; denn wie er im ersten Gebot androht, hat er sich selbst die Strafe nach seinem Belieben vorbehalten. Entsprechend verhält es sich auch hier: Zwar soll niemand von sich aus einen anderen Menschen richten oder verurteilen, wenn es aber diejenigen nicht tun, die damit eigens beauftragt sind, sündigen sie ebenso wie jemand, der es ohne amtlichen Auftrag von sich aus täte. Denn hier erfordert es die Notwendigkeit, von dem Übel zu reden, anzuklagen, auszusagen, zu befragen und zu bezeugen. Dabei verhält es sich wie mit einem Arzt, der bisweilen denjenigen, den er heilen soll, an einer verborgenen Körperstelle ansehen und berühren muss. Ebenso sind die Obrigkeit, Vater und Mutter, ja auch Brüder und Schwestern und sonst gute Freunde untereinander verpflichtet, wo es nötig und nützlich ist, Böses zu tadeln. Das wäre aber die richtige Art der Zurechtweisung, wenn man die Ordnung des Evangeliums befolgte, Mt 18[,15], wo Christus sagt: »Sündigt dein Bruder an dir, so gehe hin und tadle ihn zwischen dir und ihm alleine.« Da hast du eine kostbare, feine Lehre, um die Zunge wohl zu beherrschen. Man soll sie sich gut merken gegen den widerwärtigen Missbrauch. Danach richte dich nun, damit du einen Mitmenschen nicht bei erster Gelegenheit ins Gerede bringst, sondern ihn vertraulich ermahnst, damit er sich bessere. Ebenso wenn dir ein anderer etwas zu Ohren bringt, was dieser oder jener getan hat, dann belehre ihn, dass er hingehe und ihn selbst tadele, wenn er es gesehen hat, oder andernfalls den Mund halte. Das kannst du auch aus der Erfahrung der alltäglichen Haushaltsführung lernen. Denn folgendermaßen geht ein Hausherr vor: Wenn er sieht, dass der Knecht nicht tut, was er soll, weist er ihn selbst zurecht. Wenn er aber so verrückt wäre, den Knecht daheim sitzen zu lassen und selbst auf die Straße zu laufen, um sich bei den Nachbarn über seinen Knecht zu beklagen, so würde er freilich zu hören bekommen: »Du Narr, was geht uns das an, warum sagst du es ihm nicht selbst?« Das wäre nun recht brüderlich gehandelt, wenn dem Übel abgeholfen würde und dein Mitmensch sein Ansehen behielte. So sagt auch Christus dort: »Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.« [Mt 18,15] Da hast du etwas Großartiges getan. Denn meinst du, es sei eine Kleinigkeit, einen Bruder zu gewinnen? Lass alle Mönche und heiligen Orden mit all ihren vermeintlich frommen Leistungen zusammengenommen vortreten und zeigen,

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ob sie den Ruhm aufweisen können, einen Bruder gewonnen zu haben. Weiter lehrt Christus [Mt 18,16]: »Will er dich aber nicht hören, so nimm noch einen oder zwei zu dir, auf dass alle Sache bestehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund«, dabei verhandelt man aber unmittelbar mit demjenigen, den es betrifft, und verbreitet nicht hinter seinem Rücken Gerüchte. »Will aber solches nicht helfen, so trage es denn öffentlich vor die Gemeinde« [Mt 18,17], es sei vor weltliches oder geistliches Gericht. Denn hier stehst du nicht allein, sondern hast jene Zeugen bei dir, durch die du den Schuldigen überführen kannst, worauf der Richter sich stützen, urteilen und strafen kann. So kann es ordentlich und recht dazu kommen, dass man den Bösen Einhalt gebietet oder sie bessert. Wenn man hingegen einen andern überall ins Gerede bringt und Dreck aufwirbelt, wird niemand gebessert; und wenn man sich anschließend verantworten und die Sache bezeugen soll, will man es nicht gesagt haben. Darum geschähe solchen Schwätzern recht, wenn man ihnen die Lust verleidete, so dass sich andere gewarnt sein ließen. Wenn du es deinem Mitmenschen zur Besserung oder aus Liebe zur Wahrheit tätest, würdest du nicht heimlich schleichen oder das Tageslicht scheuen. Das alles ist nun in Bezug auf verborgene Sünden gesagt. Wo aber das Vergehen ganz offenkundig ist, so dass es das Gericht und jedermann wohl weiß, so kannst du ihn ohne jede Sünde meiden und hingehen lassen als jemanden, der sich selbst zugrundegerichtet hat, außerdem auch öffentlich über ihn reden. Denn im Hinblick auf das, was offenkundig ist, kann es keine üble Nachrede noch falsches Verurteilen oder Bezeugen geben.60 Dementsprechend tadeln wir jetzt den Papst mit seiner Lehre, die öffentlich in Büchern an den Tag gegeben und in alle Welt hinausposaunt wurde. Denn wo das Vergehen offenkundig ist, soll gerechterweise auch öffentliche Strafe folgen, damit sich jeder davor hüten kann. Also haben wir nun die Summe und die allgemeine Bedeutung dieses Gebots, dass nämlich niemand seinen Mitmenschen, es sei Freund oder Feind, mit der Zunge schädigen oder Böses über ihn 60. Luther rechnet offenbar nicht mit Verleumdungskampagnen (zu diesen könnte es allerdings auch nicht kommen, wenn alle das Gebot befolgten).

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reden soll, gleich, ob es wahr oder erlogen ist, sofern es nicht im öffentlichen Auftrag oder zur Besserung geschieht, sondern dass er seine Zunge gebrauche und gebrauchen lasse, von jedem das Beste zu reden, seine Sünde und Gebrechen zuzudecken, zu entschuldigen und mit seiner Ehre möglichst vorteilhaft erscheinen zu lassen oder zu verhüllen. Der Hauptbeweggrund dafür soll sein, was Christus im Evangelium als Argument heranzieht und worin er alle Gebote im Hinblick auf den Mitmenschen zusammenfasst [Mt 7,12]: »Alles, von dem ihr wollt, dass es euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.« Das lehrt auch die Natur an unserem eigenen Leib, wie der heilige Paulus 1 Kor 12[,22f] sagt: »Diejenigen Körperteile, die uns die schwächsten zu sein scheinen, sind die nötigsten, und die die unehrenvollsten zu sein scheinen, denen tun wir am meisten Ehre an, und die uns am meisten zu entstellen scheinen, die schmücken wir am meisten.« Das Angesicht, Augen, Nase und Mund, deckt niemand zu, denn sie haben es nicht nötig, sind sie doch von sich aus die ehrbarsten Körperteile, die wir haben. Aber die allerunvollkommensten, deren wir uns schämen, verdeckt man mit allem Fleiß, da müssen Hände, Augen und der ganze Körper bedecken und verhüllen helfen. So sollen wir auch untereinander, was an unseren Mitmenschen unehrenvoll und unvollkommen ist, schmücken und mit allem, was uns zur Verfügung steht, zu ihrer Ehre dienen, helfen und förderlich sein und wiederum abwehren, was ihnen zur Unehre gereichen könnte. Und es ist insbesondere eine feine, edle Tugend, wenn man alles, was man über Mitmenschen reden hört (wenn es nicht offenkundig Böses betrifft), günstig auslegen und aufs Beste deuten oder entschuldigen kann gegenüber den giftigen Mäulern, die sich befleißigen, ihre Mitmenschen zu tadeln, wo immer sie etwas anscheinend Ungünstiges ausfindig machen und erhaschen können, und es auf die schlimmstmögliche Weise auslegen und entstellen, wie es jetzt vornehmlich dem lieben Gotteswort und seinen Predigern geschieht. Darum sind in diesem Gebot überaus viele gute Taten inbegriffen, die Gott aufs Höchste wohlgefallen und im Überfluss Gutes und Segen mit sich bringen, wenn die verblendete Welt und die falschen Heiligen sie nur erkennen wollten. Denn es ist nichts an und im ganzen Menschen, das mehr und dauerhafter sowohl Gutes schaffen als auch Schaden tun könnte in geistlichen und weltlichen

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Sachen als die Zunge, die doch das kleinste und schwächste Körperteil ist [vgl. Jak 3,5].

Das neunte und zehnte Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren seine Frau, seinen Knecht, seine Magd, sein Vieh oder was ihm sonst gehört. Diese beiden Gebote sind genau genommen ausschließlich den Juden gegeben, obwohl sie uns auch zum Teil betreffen. Denn sie legen sie nicht aus im Hinblick auf sexuelles Begehren oder Diebstahl, weil dazu oben genug verboten ist. Sie waren auch der Ansicht, sie hätten die andern Gebote alle gehalten, wenn sie äußerlich die entsprechenden Handlungen ausgeführt oder unterlassen hätten. Darum hat Gott diese beiden hinzugesetzt, damit man es auch für Sünde und verboten ansehe, den Ehepartner oder den Besitz eines Mitmenschen nur zu begehren und in irgendeiner Weise darauf aus zu sein. Dies insbesondere auch darum, weil in der israelitischen Gesellschaftsordnung Knechte und Mägde nicht wie heutzutage frei waren, jemandem für einen bestimmten Lohn zu dienen, solange sie wollten, sondern sie gehörten ihrem Dienstherren mit dem Körper und allem, was sie hatten, wie das Vieh und anderer Besitz. Überdies hatte auch jeder Mann die Macht, seine Ehefrau mit einem Scheidebrief zu entlassen und sich eine andere zu nehmen [vgl. Dtn 24,1]. Deshalb mussten sie untereinander darauf gefasst sein, dass jemand, wenn er die Frau eines anderen für sich haben wollte, seine eigene Ehefrau unter einem Vorwand entließe und dem anderen dessen Ehefrau entfremdete, um sie auf geregelte Weise an sich zu bringen. Das war nun bei ihnen keine Sünde oder Schande, sowenig wie bei uns heute im Hinblick auf das Gesinde, wenn ein Hausherr seinen Knecht oder seine Magd entlässt oder einer sie dem anderen abwirbt. Darum haben sie nun (sage ich) diese Gebote in der Weise gedeutet, wie es auch recht ist (wenn auch eine weiterreichende Deutung möglich wäre), dass niemand darauf ausgehen soll, an sich zu bringen, was einem anderen zugehört, es seien die Ehefrau, Bedienstete, Haus und Hof, Äcker, Wiesen oder Vieh, und zwar auch nicht unter einem Anschein oder Vorwand der Rechtlichkeit, der mit Schaden für den Mitmenschen verbunden wäre. Denn oben im siebten Gebot ist die

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Untugend verboten, fremden Besitz an sich zu reißen oder einem Mitmenschen etwas vorzuenthalten, worauf man keinerlei Anspruch hat. Hier aber ist auch verboten, dem Mitmenschen etwas abzulisten, auch wenn man dabei den Schein der Ehrbarkeit vor der Welt aufrechterhalten könnte, so dass niemand dich zu beschuldigen oder zu tadeln wagte, als habest du es mit Unrecht gewonnen. Denn die Natur ist so beschaffen, dass niemand dem anderen so viel wie sich selbst gönnt und jeder so viel an sich bringt, wie er immer kann, ohne sich um andere zu kümmern. Und dabei wollen wir noch für rechtschaffen gelten, können uns aufs Feinste verstellen und den Bösewicht in uns verbergen, suchen und erfinden so schlaue Kniffe und tückische Listen (wie man sie jetzt täglich aufs Beste ersinnt) vermeintlich auf der Grundlage des Rechts, wagen, uns darauf frech zu berufen und darauf zu pochen, und wollen es nicht Bosheit, sondern Geschäftssinn und Weitblick genannt wissen. Dazu helfen auch Juristen und Rechtsprecher, die das Recht hindrehen und dehnen, wie es zum gewünschten Ergebnis passt, den Sinn der Worte zurechtstutzen und sie als Vorwände benutzen, ohne sich um Angemessenheit und die Notlage eines Mitmenschen zu kümmern. Und kurz: Wer in solchen Dingen der Geschickteste und Gescheiteste ist, dem hilft das Recht am besten, wie sie auch sagen: »Vigilantibus jura subveniunt.«61 (Den Wachsamen kommen die Gesetze zu Hilfe.) Darum ist dieses Gebot nicht wegen der offenkundigen Bösewichte aufgestellt, sondern wegen der vermeintlich besonders Rechtschaffenen, die gelobt sein und redliche, aufrichtige Leute genannt werden wollen, weil sie sich im Hinblick auf die früheren Gebote nichts zuschulden kommen lassen. So wollten besonders die Juden sein und sonst viele große Junker, Herren und Fürsten. Denn das übrige gewöhnliche Volk gehört noch weit herunter in das siebte Gebot, weil sie nicht viel danach fragen, wie sie das Ihre mit Ehren und Recht erlangen. So ereignet sich dergleichen am meisten in den Geschäften, die auf juristischer Grundlage abgewickelt werden, wodurch man es unternimmt, dem Mitmenschen etwas abzugewinnen und abzunötigen. Etwa (um ein Beispiel anzuführen) wenn man streitet und verhandelt

61. Sprichwörtlich; vgl. sinngemäß Codex Iustinianus 7,40,2.

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wegen einer großen Erbschaft, Liegenschaften etc., da bringt man gern an und nimmt zu Hilfe, was auch nur irgend nach einem Rechtsanspruch aussieht, bauscht es auf und putzt es heraus, damit die Entscheidung zu dessen Gunsten fallen muss, und behält den Besitz aufgrund dieses Rechtstitels, so dass niemand mehr eine Klage darüber führen oder einen Anspruch darauf geltend machen kann. Ebenso ist es, wenn einer gern ein Schloss, eine Stadt, eine Grafschaft oder sonst etwas Großes hätte, und setzt mit Hilfe von Beziehungen so viele Betrügereien ins Werk, dass es einem anderen ab- und ihm selbst zugesprochen wird, überdies mit Urkunde und Siegel bestätigt, dass es mit fürstlichem Rechtstitel und redlich gewonnen heißt. So verhält es sich auch bei gewöhnlichen Handelsgeschäften, wo einer dem anderen etwas mit List aus der Hand windet, so dass er das Nachsehen haben muss, oder er überrascht ihn durch vorzeitige Forderungen und bringt ihn in Bedrängnis, wobei er seinen Vorteil und Nutzen darin findet, dass jener vielleicht wegen einer momentanen Notlage oder anderweitiger Schulden ein Besitztum nicht halten, aber auch nicht ohne Schaden verkaufen kann, so dass es dem Interessenten zum halben Gegenwert oder noch darunter zufällt, und doch darf man nicht sagen, er habe es mit Unrecht an sich gebracht oder entwendet, sondern es soll als redlich erworben gelten. Da heißt es: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«62 und: »Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.«63 Und wer wollte so klug sein, alle Möglichkeiten auszuloten, wie viel man unter Wahrung des Scheins der Rechtschaffenheit an sich bringen kann. Die Welt hält es für kein Unrecht und will nicht sehen, dass damit der Nächste benachteiligt wird und aufgeben muss, was er nicht ohne Schaden entbehren kann. Und doch will niemand ihm das angetan haben. Daran erkennt man deutlich, dass dieser Vorwand und Schein falsch ist. So ist es vorzeiten auch mit den Ehefrauen zugegangen: Da verstanden sie sich auf solche Kunstgriffe, dass einer, wenn ihm die Frau eines andern gefiel, es selbst oder mit Hilfe Dritter (wie denn mancherlei Mittel und Wege zu erdenken waren) dahin brachte, dass ihr Mann sie nicht mehr leiden wollte oder sie sich ihm widersetzte, so dass er sich von ihr scheiden und sie dem Ersten überlassen musste. 62. Im Original: »der Erste ist der Beste«. 63. Im Original: »Jeder sehe auf seine Gelegenheit, ein anderer habe, was er kann.«

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Das ist zweifellos unter dem Gesetz64 oft vorgekommen; so liest man auch im Evangelium über den König Herodes, dass er die Ehefrau seines eigenen Bruders bei dessen Lebzeiten heiratete, und er wollte doch ein ehrbarer, rechtschaffener Mann sein, wie auch Sankt Markus ihm bezeugt [vgl. Mk 6,17–20]. Aber zu solchen Beispielen wird es bei uns hoffentlich nicht kommen, weil im Neuen Testament den Eheleuten verboten ist, sich voneinander zu scheiden [vgl. Mt 5,31f; 19,3–9; Mk 10,2–12; Lk 16,18; 1 Kor 7,10f]. Vorstellbar wäre allenfalls, dass einer dem anderen eine reiche Braut mit List abwendig macht. Das ist aber bei uns nicht selten, dass einer dem anderen den Knecht oder die Dienstmagd abspenstig macht und entfremdet oder sonst mit Versprechungen abwirbt. Das geschehe nun alles, wie es wolle, so sollen wir wissen, dass Gott nicht haben will, dass du deinem Mitmenschen etwas, das ihm zugehört, so entziehst, dass er es entbehrt und du deine Habgier befriedigst, selbst wenn du es vor den Augen der Welt mit Ehren behalten kannst. Denn es ist eine verborgene, heimtückische Bosheit und, wie man sagt, unter dem Hütchen gespielt,65 dass man es nicht merken soll. Denn wenn du auch deiner Wege gehst, als hättest du niemandem Unrecht getan, so bist du doch deinem Mitmenschen zu nahe getreten. Und kann man nicht geradezu sagen, du habest gestohlen und betrogen, so hast du doch den Besitz deines Mitmenschen begehrt, das heißt, du hast danach getrachtet, hast ihn ihm weggenommen ohne seine Einwilligung und hast ihm nicht gönnen wollen, was ihm Gott beschert hat. Und wenn es dir auch der Richter und jedermann sonst lassen muss, wird es dir doch Gott nicht lassen; denn er sieht das böse Herz und die Tücke der Welt sehr genau, die, wenn man ihr einen Finger reicht, die ganze Hand und den Arm dazu nimmt,66 so dass auch öffentliches Unrecht und Gewalt daraus folgen. Also halten wir als allgemeine Bedeutung dieser Gebote fest, dass erstens geboten sei, dem Mitmenschen keinen Schaden zu wünschen, auch nicht dazu beizutragen oder Veranlassung dazu zu geben, son-

64. als das alttestamentliche Gesetz noch Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung war. 65. Sprichwörtlich; bedeutet so viel wie »im Geheimen betrieben«, von der Praxis des Zauberkünstlers bzw. Illusionisten, evtl. auch des Trickbetrügers abgeleitet. 66. Im Original: »... einen Finger breit einräumt, eine ganze Elle nimmt.«

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dern ihm zu gönnen und zu lassen, was er hat, und überdies zu fördern und zu erhalten, was zu seinem Nutzen und Dienst geschehen kann, ganz so, wie wir wünschen, dass man auch mit uns umgehe. Dementsprechend sind sie insbesondere gegen die Missgunst und die widerwärtige Habgier gerichtet, damit Gott die Ursache und Wurzel aus dem Weg räume, aus der alles entspringt, wodurch man dem Mitmenschen Schaden tut. Darum sagt er es auch in deutlichen Worten: »Du sollst nicht begehren etc.« Denn er will vor allem, dass das Herz rein sei, auch wenn wir das, solange wir hier leben, nicht erreichen können. So bleibt dies wohl ein Gebot wie die anderen alle, das immerfort unsere Schuld erweist und aufzeigt, wie »rechtschaffen« wir vor Gott eigentlich sind.

[Abschluss] Damit haben wir die Zehn Gebote beisammen, eine beispielhafte Sammlung göttlicher Lehre darüber, was wir tun sollen, damit unser ganzes Leben Gott gefällt, und die wahre Quelle und das richtige Leitungsrohr, aus der hervorquellen und in das hineinfließen müssen alle Taten, die gottgefällige, gute Werke sein sollen, so dass außerhalb der Zehn Gebote keine Handlung oder Einrichtung gut und Gott wohlgefällig sein kann, sie sei so groß und kostbar in den Augen der Welt, wie sie wolle. Lass uns schauen, was unsere großen Heiligen rühmen können von ihren geistlichen Orden und großen, schweren Frömmigkeitsleistungen, die sie erdacht und aufgeworfen haben, und haben dabei die Werke der Zehn Gebote außer Acht gelassen, als wären sie viel zu unbedeutend oder schon längst erledigt. Ich meinte ja, man hätte daran alle Hände voll zu tun, um sie einzuhalten: Sanftmut, Geduld und Liebe gegenüber Feinden, Keuschheit, Wohltaten und was diese Artikel noch alles mit sich bringen. Aber solche Taten sind in den Augen der Welt nicht von Bedeutung und haben keinen Glanz. Denn sie sind nicht außergewöhnlich und aufgebauscht, an besondere eigene Zeiten, Orte, Formen und Gebärden gebunden, sondern es sind alltägliche häusliche Verrichtungen, die ein Nachbar gegenüber dem anderen ausüben kann, darum stehen sie nicht in besonderem Ansehen. Bei jenen anderen aber sperrt man Augen und Ohren auf, hilft dazu noch mit großem Gepränge, Aufwand und prächtigen Bauten

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und putzt sie heraus, dass alles strahlen und leuchten muss, da zündet man Weihrauch an, da singt und musiziert man, da entzündet man Kerzen und Lichter, dass man nichts anderes mehr hören oder sehen kann. Denn dass da ein Pfaffe in einem golddurchwirkten Messgewand steht oder ein Laie den ganzen Tag in der Kirche auf den Knien liegt, das nennt man ein wertvolles Tun, das niemand genug loben kann. Aber dass ein armes junges Mädchen ein kleines Kind pflegt und treu ausrichtet, was ihr befohlen ist, das wird nicht wertgeschätzt. Was sollten sonst Mönche und Nonnen in ihren Klöstern suchen? Bedenke aber: Ist es nicht eine verfluchte Vermessenheit der heillosen Heiligen, die sich unterstehen, eine höherwertige und bessere Lebensweise und höherwertige und bessere Stände zu finden, als die Zehn Gebote sie lehren? Sie behaupten, das Leben nach den Geboten sei die gewöhnliche Lebensweise für die normale Bevölkerung, ihre eigene Lebensform aber sei für die Heiligen und Vollkommenen bestimmt. Dabei erkennen sie nicht – die elenden, verblendeten Leute! –, dass kein Mensch es so weit bringen kann, dass er auch nur ein einziges von den Zehn Geboten so einhält, wie es eigentlich eingehalten werden soll, sondern dass noch das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser uns zu Hilfe kommen müssen (wie wir hören werden), mit deren Hilfe man die Gebotserfüllung zu erreichen versucht und darum bittet und sie fortwährend erhält. Darum ist es mit ihrem Stolz auf vermeintliche geistliche Verdienste und Leistungen etwa so, als wenn ich großtun wollte, indem ich sagte: »Ich kann zwar keinen einzigen Groschen aufbringen, aber zehn Gulden kann ich leicht bezahlen.«67 Das sage und behandle ich, damit man den widerwärtigen Missbrauch loswerde, der so tief eingewurzelt ist und noch jedem anhaftet, und sich stattdessen in allen Ständen auf Erden daran gewöhne, allein hierauf sein Augenmerk zu richten und sich damit zu beschäftigen. Denn man wird noch lange keine Lehre und keine Stände einführen, die den Zehn Geboten gleichkämen, weil diese einen so hohen Anspruch in sich bergen, dass ihnen niemand durch Menschenkraft gerecht werden kann, und wer ihnen gerecht wird, ist ein himmlischer, engelsgleicher Mensch weit über alle Heiligkeit der Welt. Nimm 67. Je nach den regionalen Münzverhältnissen rechnete man 21 oder 24 Groschen auf den Gulden.

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sie dir nur vor und erprobe dich wohl, setze alle deine Macht und Kraft daran, so wirst du wohl so viel zu tun bekommen, dass du keine weiteren Werke und keine zusätzliche Heiligkeit suchen oder beachten wirst. Das sei genug von dem ersten Teil, was Lehre und Ermahnung betrifft. Doch müssen wir zum Schluss den Text wiederholen, den wir auch droben beim ersten Gebot behandelt haben, damit man lernt, welche Bemühungen Gott fordert im Hinblick darauf, die Zehn Gebote richtig anwenden und ausüben zu lernen: »Ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der bei denen, die mich hassen, die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern bis in die dritte und vierte Generation. Aber denen, die mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl in tausend Generationen.« Dieser Zusatz ist zwar zunächst und vor allem (wie oben gehört) dem ersten Gebot angehängt, aber doch im Hinblick auf alle Gebote hinzugesetzt, denn sie beziehen sich sämtlich hierauf und sollen hierauf ausgerichtet sein. Darum habe ich gesagt, man solle dies auch der Jugend vor Augen stellen und einschärfen, damit sie es lerne und behalte; denn man soll sehen, was uns drängen und bewegen soll, diese Zehn Gebote einzuhalten. Und man soll es betrachten, als sei dieser Absatz jedem einzelnen Gebot beigefügt, so dass er sich gleichsam durch alle hindurchzieht. Nun sind (wie schon gesagt) in diesen Worten ein zorniges Drohwort und eine freundliche Zusage zusammengefasst, um uns einerseits abzuschrecken und zu warnen, andererseits zu locken und anzureizen, damit man sein Wort als mit göttlichem Ernst formuliert annehme und groß achte, weil er selbst ausgedrückt hat, wie sehr ihm daran gelegen ist und wie genau er über die Einhaltung wachen will, nämlich dass er alle gräulich und schrecklich strafen will, die seine Gebote verachten und übertreten, und wiederum wie reichlich er die belohnen will, ihnen wohltun und alles Gute geben, die die Gebote hoch achten und gerne danach handeln und leben. Damit will er erreichen, dass sie alle aus einer solchen inneren Haltung heraus befolgt werden, die allein Gott ehrfürchtig liebt und vor Augen hat und wegen dieser Ehrfurcht alles unterlässt, was seinem Willen entgegensteht, um ihn nicht zu erzürnen, und

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dagegen auch ihm allein vertraut und ihm zuliebe tut, was er haben will, weil er sich so freundlich wie ein Vater hören lässt und uns alle Gnade und alles Gute anbietet. Das ist auch eben die Bedeutung und rechte Auslegung des ersten und vornehmsten Gebots, aus dem alle anderen hervorquellen und hervorgehen sollen. Demnach soll dies Wort »Du sollst nicht andere Götter haben« schlicht nichts anderes bedeuten, als was auch hier gefordert wird: »Du sollst mich als deinen einzigen wahren Gott fürchten, lieben und mir vertrauen.« Denn wenn ein Herz so zu Gott steht, hat es dieses und alle anderen Gebote erfüllt. Wer hingegen etwas anderes im Himmel und auf Erden fürchtet und liebt, der wird weder dieses noch irgendein anderes einhalten. So hat die gesamte Schrift überall dieses Gebot gepredigt und behandelt, alles auf diese beiden Stücke, Gottesfurcht und Gottvertrauen, bezogen; und besonders der Prophet David hat das im Psalter durchwegs getan, etwa wenn er sagt: »Der HERR hat Gefallen an denen, die ihn fürchten und auf seine Güte warten« [Ps 147,11], als wäre das ganze Gebot in einem einzigen Vers zusammengefasst mit der Bedeutung: »Der HERR hat Gefallen an denen, die keine anderen Götter haben.« Dementsprechend soll nun das erste Gebot leuchten und seinen Glanz ausstrahlen in alle anderen. Darum musst du auch dieses Stück durch alle Gebote als Bindeglied und Reif, der Ende und Anfang des Kranzes verbindet und alles zusammenhält, hindurchziehen lassen, damit man es immer wiederhole und nicht vergesse.68 Entsprechend gilt im zweiten Gebot, dass man Gott fürchte und deshalb seinen Namen nicht missbrauche zum Fluchen, Lügen, Betrügen und zu anderer Verführung oder Bosheit, sondern ihn recht und wohl gebrauche zum Rufen, Beten, Loben und Danken, aus Liebe und Vertrauen gemäß dem ersten Gebot. Ebenso sollen Ehrfurcht, Liebe und Vertrauen dazu bewegen und antreiben, dass man Gottes Wort nicht verachte, sondern es lerne, gerne höre, heilig halte und ehre. Danach geht es entsprechend weiter durch die folgenden Gebote im Hinblick auf die Mitmenschen, alles aus der Kraft des ersten Gebotes: dass man Vater und Mutter, Herren und alle Obrigkeit ehre, ihnen untertan und gehorsam sei, nicht um ihretwillen, sondern um 68. Wenn man die Metapher in den Bereich der Musik transponieren wollte, könnte man vom ersten Gebot als »Cantus firmus« oder »Grundthema« sprechen.

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Gottes willen. Denn du brauchst nicht Vater oder Mutter anzusehen oder zu fürchten oder ihnen zuliebe etwas zu tun oder zu lassen. Sieh vielmehr zu, was Gott von dir haben will und berechtigterweise von dir verlangen wird; lässt du es, so hast du einen zornigen Richter, andernfalls einen gnädigen Vater. Ebenso, dass du deinem Mitmenschen kein Leid, keinen Schaden und keine Gewalt antust oder ihm sonst zu nahe trittst, es betreffe seinen Körper, Ehepartner, Besitz, Ehre oder Recht, wie es nacheinander geboten ist, selbst wenn du Gelegenheit und Anlass dazu hättest und dich kein Mensch deshalb tadelte; dass du vielmehr jedermann wohltust, hilfst und förderst, wie und wo du kannst, das geschieht allein Gott zuliebe und ihm zu Gefallen, in dem Vertrauen, dass er dir alles reichlich erstatten will. So siehst du, wie das erste Gebot das Haupt und die Quelle ist, das alle anderen durchzieht, und wie sich umgekehrt die anderen auf dieses zurückbeziehen und von ihm abhängen, so dass Ende und Anfang ganz und gar ineinander geknüpft und miteinander verbunden sind. Das (sage ich nun) muss den Kindern und Jugendlichen nützlicher- und nötigerweise immer wieder vor Augen geführt werden, sie müssen ermahnt und daran erinnert werden, damit sie nicht bloß wie das Vieh mit Schlägen und Zwang, sondern in Gottesfurcht und Selbstachtung aufgezogen werden. Denn wenn man das bedenkt und zu Herzen nimmt, dass es nicht irgendwelche menschlichen Einfälle sind, sondern Gebote des hohen erhabenen Gottes, der mit solchem Ernst darüber wacht, denen zürnt und die bestraft, die sie verachten, und wiederum so überschwänglich denen vergilt, die sie befolgen, dann wird man aus eigenem Wunsch und Antrieb gerne Gottes Willen tun. Darum hatte es seinen Sinn, dass im Alten Testament [vgl. Dtn 6,6–9; 11,18–21] geboten wurde, man solle die Zehn Gebote an alle Wände und in alle Ecken, ja sogar an die Kleider schreiben, freilich nicht, damit man es lediglich da geschrieben stehen lasse oder zur Schau trage, wie die Juden taten [vgl. Mt 23,5], sondern damit man es ununterbrochen vor Augen und fortwährend im Gedächtnis habe, damit wir es in all unserem Tun und Wirken anwenden und es jeder seine tägliche Praxis sein lasse in allen Fällen, Geschäften und Händeln, als stünde es überall geschrieben, wohin er auch blickt, ja, wo er geht oder steht. So fände man sowohl für sich daheim im eigenen Haus als auch gegenüber Nachbarn genügend Gelegenheiten,

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die Zehn Gebote anzuwenden, so dass niemand weit danach laufen müsste. Daraus erkennt man abermals, wie hoch diese Zehn Gebote über alle Stände, Gebote und Leistungen, die man sonst lehrt und zu verbreiten sucht, emporzuheben und zu preisen sind. Denn hierauf können wir pochen und sagen: Lass auftreten alle Weisen und Heiligen, ob sie etwas schaffen können wie diese Gebote, die Gott mit solchem Ernst fordert und befiehlt bei seinem höchsten Zorn und höchster Strafe und setzt eine so herrliche Zusage dazu, dass er uns mit allen Gütern und mit Segen überschütten will. Darum soll man sie wahrlich vor allen anderen Lehren teuer und wert halten als den höchsten Schatz, den Gott gegeben hat.

Der zweite Teil: Vom Glauben Bisher haben wir das erste Stück der christlichen Lehre gehört und darin alles gesehen, was Gott von uns getan und unterlassen haben will. Darauf folgt nun angemessener Weise das Glaubensbekenntnis, das uns alles vorlegt, was wir von Gott erwarten und empfangen müssen, und das uns, kurz gesagt, ihn ganz und gar zu erkennen lehrt. Dadurch sollen wir befähigt werden, den Zehn Geboten gemäß zu handeln. Denn diese haben (wie oben gesagt) einen so hohen Anspruch, dass kein Mensch von sich aus in der Lage ist, sie wirklich zu befolgen. Darum ist es ebenso nötig, auch dieses Stück zu lernen, damit man erfährt, wie das zu erreichen, woher und wodurch diese Kraft zu nehmen ist. Denn wenn wir aus eigenen Kräften die Zehn Gebote so einhalten könnten, wie sie eingehalten werden sollen, bräuchten wir nichts weiter, weder das Glaubensbekenntnis noch das Vaterunser. Aber ehe man diesen Nutzen und die Notwendigkeit des Glaubensbekenntnisses verdeutlicht, genügt es zunächst für die ganz Unkundigen, dass sie das Glaubensbekenntnis an sich begreifen und verstehen lernen. Anfangs hat man das Glaubensbekenntnis bisher in zwölf Abschnitte eingeteilt,69 obwohl sich, wenn man alle Gegenstände, die in 69. Der Legende nach soll jeder Apostel einen Teilsatz beigetragen haben. Vgl. Anm. 16.

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der Schrift stehen und zum Glauben gehören, einzeln in den Blick nehmen wollte, sehr viel mehr Artikel ergäben, wenn man auch nicht alle mit so wenigen Worten deutlich ausdrücken könnte. Aber damit man es möglichst leicht und einfach erfassen kann, wie es den Kindern beizubringen ist, wollen wir das gesamte Glaubensbekenntnis in drei Hauptabschnitte einteilen, entsprechend den drei Personen70 der Gottheit, auf die alles, was wir glauben, ausgerichtet ist. Der erste Abschnitt von Gott dem Vater behandelt dementsprechend die Schöpfung, der zweite von dem Sohn die Erlösung, der dritte vom Heiligen Geist die Heiligung. So könnte man den Glauben aufs Allerkürzeste in diese wenigen Worte fassen: »Ich glaube an Gott den Vater, der mich geschaffen hat; ich glaube an Gott den Sohn, der mich erlöst hat; ich glaube an den Heiligen Geist, der mich heilig macht.« Ein einziger Gott und ein einziger Glaube, aber drei Personen, darum auch drei Artikel oder Bekenntnisse. So wollen wir nun kurz den Wortlaut vornehmen.

Der erste Artikel: Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde. Damit ist aufs Allerkürzeste zusammengefasst und ausgedrückt, was Gottes des Vaters Wesen, Wille, Tun und Wirken ist. Denn weil die Zehn Gebote eingeschärft haben, man solle nicht mehr als einen einzigen Gott haben, könnte man jetzt fragen: »Was ist denn Gott für ein Mann, was tut er, wie kann man ihn rühmen oder abmalen und beschreiben, damit man ihn erkennt?« Das lehren nun dieser und die folgenden Artikel. Dementsprechend ist das Glaubensbekenntnis nichts anderes als eine Antwort und ein Bekenntnis der Christen im Hinblick auf das erste Gebot. Wenn man also ein Kind 70. Luther nimmt hier altkirchliche Bemühungen um angemessene Aussagen über das Wesen des dreieinigen Gottes auf. Als »Personen« werden dabei die sich voneinander unterscheidenden Seinsweisen des einen Gottes bezeichnet. In sich selbst ist Gott liebende Gemeinschaft, und in der Person Jesu Christi ist Gott offen für die Gemeinschaft mit den Menschen. In ihm hat sich der Schöpfer des Himmels und der Erde in einzigartiger, unüberbietbar authentischer Weise offenbart, und er vermittelt uns diese Offenbarung durch seinen Heiligen Geist. Vgl. 2 Kor 4,6.

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fragte: »Liebes, was hast du für einen Gott, was weißt du von ihm?«, dann sollte es antworten können: »Das ist mein Gott, zum Ersten der Vater, der Himmel und Erde geschaffen hat. Außer diesem Einzigen halte ich nichts für Gott, denn es gibt sonst keinen, der Himmel und Erde erschaffen könnte.« Für die Gelehrten aber und diejenigen, die etwas bewandert sind, kann man die drei Artikel allesamt ausführlich behandeln und in so viele Abschnitte unterteilen, wie es Worte sind. Aber jetzt für die jungen Schüler soll es reichen, das Nötigste aufzuzeigen, nämlich, wie gesagt, dass dieser Artikel die Schöpfung betrifft; man halte deshalb inne bei dem Ausdruck »Schöpfer Himmels und der Erde«. Was heißt das nun oder was meinst du mit dem Satz: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer etc.«? Antwort: Das meine und glaube ich, dass ich Gottes Geschöpf bin, das heißt, dass er mir gegeben hat und fortwährend erhält Körper, Seele und Leben, die kleinen und großen Körperteile, alle Sinne, Vernunft und Verstand und so weiter, Essen und Trinken, Kleidung, Lebensunterhalt, Frau und Kind, Bedienstete, Haus und Hof etc., überdies lässt er alles Geschaffene zum Nutzen und Bedarf des Lebens beitragen, Sonne, Mond und Sterne am Himmel, Tag und Nacht, Luft, Feuer, Wasser, die Erde und was sie trägt und hervorbringen kann, Vögel, Fische, Landtiere, Getreide und allerlei Gewächs und was es sonst noch an materiellen und vergänglichen Gütern gibt, gute Gesellschaftsordnung, Friede, Sicherheit. Demnach soll man aus diesem Artikel lernen, dass niemand das Leben oder alles, was eben aufgezählt wurde und noch aufgezählt werden könnte, aus sich selbst hat oder aufrechterhalten kann, wie klein und unscheinbar es auch sein mag. Denn das alles ist inbegriffen in dem Wort »Schöpfer«. Darüber hinaus bekennen wir auch, dass Gott der Vater uns nicht nur all das, was wir haben und vor Augen sehen, gegeben hat, sondern uns auch täglich vor allem Übel und Unglück behütet und beschützt und allerlei Gefahren und Unfälle abwendet, und das alles aus lauter Liebe und Güte, ohne dass wir es verdient hätten, wie ein freundlicher Vater, der für uns sorgt, damit uns kein Leid widerfahren soll. Dies näher auszuführen ist Sache der beiden anderen Abschnitte dieses Artikels, wo es heißt »den Vater, den Allmächtigen«. Daraus ergibt sich von selbst folgender Schluss: Weil uns dies alles, was wir besitzen, und das, was im Himmel und auf der Erde ist,

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täglich von Gott gegeben, erhalten und bewahrt wird, so sind wir freilich verpflichtet, ihn darum andauernd zu lieben, zu loben und ihm zu danken, kurz: ihm ganz und gar damit zu dienen, wie er durch die Zehn Gebote fordert und befohlen hat. Hier könnte man viel sagen, wenn man es deutlich herausstellen wollte, wie wenige diesen Artikel wirklich glauben. Denn wir gehen alle oberflächlich darüber hinweg, hören und sagen es, erkennen und bedenken aber nicht, was die Worte uns wirklich sagen. Denn wenn wir es von Herzen glaubten, handelten wir auch dementsprechend und gingen nicht so stolz umher, prahlten und brüsteten uns nicht, als hätten wir das Leben, Reichtum, Macht, Ehre etc. von uns selbst, so dass man uns fürchten und uns dienen müsste. So macht es die unselige, verkehrte Welt, die in ihrer Verblendung ersoffen ist und alle Güter und Gaben Gottes ausschließlich zum eigenen Ruhm, zur Habgier, zur Lust und zum Vergnügen missbraucht und Gott nicht einmal ansieht, um ihm zu danken oder ihn als Herrn und Schöpfer anzuerkennen. Darum müsste uns dieser Artikel alle demütigen und erschrecken, wenn wir es denn glaubten. Denn wir sündigen täglich mit Augen, Ohren, Körper und Seele, Geld und Besitz und allem, was wir haben. Insbesondere tun dies diejenigen, die obendrein gegen Gottes Wort kämpfen. Die Christen haben immerhin den Vorteil, dass sie ihre Verpflichtung anerkennen, ihm dafür zu dienen und gehorsam zu sein. Deshalb sollen wir diesen Artikel täglich einüben und uns einprägen. Und bei allem, was uns vor die Augen kommt und was uns an Gutem widerfährt, oder wenn wir aus einer Notlage oder Gefahr entkommen, sollen wir uns daran erinnern, dass Gott es ist, der uns dies alles gibt und für uns tut, damit wir daran sein väterliches Herz und seine überschwängliche Liebe zu uns spüren und erkennen. Davon würde unser Herz warm werden und dazu bewegt, dankbar zu sein und all diese Güter zu Gottes Ehre und Lob zu gebrauchen. Damit haben wir die Bedeutung dieses Artikels aufs Kürzeste zusammengefasst, soweit zunächst für die Unkundigen erforderlich ist, zu lernen, was wir von Gott haben und empfangen und wozu wir darum verpflichtet sind. Das ist eine große, wichtige Erkenntnis, aber auch ein noch viel größerer Schatz. Denn da erkennen wir, wie sich der Vater uns gegeben hat mitsamt allen Geschöpfen und uns aufs Allerreichlichste in diesem Leben versorgt, abgesehen davon, dass er

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uns zudem auch mit unaussprechlichen ewigen Gütern durch seinen Sohn und seinen Heiligen Geist überschüttet, wie wir hören werden.

Der zweite Artikel: Und an Jesus Christus, seinen einzigen Sohn, unsern HERRN, der empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren zum Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von wo er kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Hier lernen wir die zweite Person der Gottheit kennen, damit wir erkennen, was wir über die vorgenannten vergänglichen Güter hinaus von Gott haben, nämlich wie er sich ganz und gar verausgabt hat und nichts behalten, das er uns nicht gegeben hätte. Dieser Artikel ist nun sehr inhaltsreich und umfassend, aber um ihn auch kurz und kindgemäß zu behandeln, wollen wir uns ein Wort vornehmen und darin alles zusammenfassen, nämlich (wie gesagt) dass man daraus lerne, wie wir erlöst worden sind; unseren Ausführungen sollen die Worte zugrunde liegen: »an Jesus Christus, unseren HERRN«. Wenn man nun fragt: »Was glaubst du gemäß dem zweiten Artikel von Jesus Christus?«, so antworte aufs Kürzeste: »Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gottessohn, mein Herr geworden ist.« Was bedeutet nun aber »ein Herr werden«? Es bedeutet, dass er mich erlöst hat von Sünde, vom Teufel, vom Tode und allem Unglück. Denn zuvor habe ich keinen Herrn oder König gehabt, sondern bin unter der Macht des Teufels gefangen, zum Tode verdammt, in Sünde und Verblendung verstrickt gewesen. Denn nachdem wir erschaffen waren und allerlei Gutes von Gott, dem Vater, empfangen hatten, kam der Teufel und brachte uns in Ungehorsam, Sünde, Tod und alles Unglück, so dass wir in Gottes Zorn und Ungnade gerieten, zu ewiger Verdammnis verurteilt, wie wir es verdient hatten. Es gab weder Rat noch Hilfe oder Trost, bis dass sich dieser einzige und ewige Gottessohn unseres Jammers und Elendes aus grundloser Güte erbarmte und vom Himmel kam, um uns zu helfen. Demnach sind nun jene Tyrannen und Gefängnisauf-

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seher alle vertrieben, und an ihre Stelle ist Jesus Christus getreten, der Herr des Lebens, der Gerechtigkeit, alles Guten und des Einklangs mit Gott, und er hat uns arme, verlorene Menschen aus dem Rachen der Hölle gerissen, uns gewonnen, frei gemacht und zurückgebracht in das Wohlwollen und die Gnade des Vaters, und er hat uns als sein Eigentum unter seinen Schirm und Schutz genommen, um uns zu regieren durch seine Gerechtigkeit, Weisheit, Macht, Leben und Seligkeit. Das sei nun die Zusammenfassung dieses Artikels, dass das Wörtchen »HERR« schlicht »Erlöser« bedeutet, das heißt den, der uns vom Teufel zu Gott, vom Tod zum Leben, von Sünde zur Gerechtigkeit gebracht hat und uns dauerhaft dabei erhält. Die Stücke aber, die nacheinander in diesem Artikel aufgezählt werden, tun nichts anderes, als diese Erlösung weiter auszulegen und auszudrücken, wie und wodurch sie geschehen ist; das ist, was es ihn gekostet und was er daran gewendet und darum gewagt hat, um uns zu gewinnen und zu seiner Herrschaft zu bringen, nämlich dass er Mensch geworden ist, von dem Heiligen Geist und der Jungfrau ohne alle Sünde empfangen und geboren, damit er die Sünde besiegte, dass er außerdem gelitten hat, gestorben ist und begraben worden, um für mich einzustehen und zu bezahlen, was ich verschuldet habe, und zwar nicht mit Silber oder Gold, sondern mit seinem eigenen, teuren Blut. Und dies alles darum, um mein HERR zu werden. Denn nichts davon hat er für sich getan oder tun müssen. Danach ist er wieder auferstanden, hat den Tod verschlungen und gefressen [vgl. Jes 25,8] und ist schließlich in den Himmel aufgefahren und hat die Herrschaft übernommen zur Rechten des Vaters, so dass ihm der Teufel und alle Mächte untertan sein und zu Füßen liegen müssen, bis er uns schließlich am Jüngsten Tage vollends von der bösen Welt, Teufel, Tod, Sünde etc. trennen und befreien wird. Aber diese einzelnen Stücke alle im Besonderen durchzunehmen ist nicht Sache des Kindergottesdienstes, sondern des Gemeindegottesdienstes im Jahreslauf, insbesondere zu den Zeiten im Kirchenjahr, die dafür vorgesehen sind, jeden Artikel ausführlich zu behandeln: von der Geburt (Weihnachten), Leiden (Passionszeit), Auferstehen (Ostern), Himmelfahrt Christi etc. Überdies beruht das ganze Evangelium, das wir predigen, darauf, dass man diesen Artikel richtig begreift als denjenigen, daran all unser Heil und unsere Seligkeit liegt und der so

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inhaltsreich und umfassend ist, dass wir immer genug daran zu lernen haben.

Der dritte Artikel: Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen. Diesen Artikel kann ich nicht treffender überschreiben als, wie gesagt, »von der Heiligung«, um dadurch den Heiligen Geist in seinem Wirksamsein zum Ausdruck zu bringen und vor Augen zu stellen, was er tut, nämlich dass er heilig macht. Darum müssen wir uns in der Auslegung auf das Wort »Heiliger Geist« stützen, weil es so kurz gefasst ist, dass man kein anderes haben kann. Denn es werden sonst mancherlei Geister in der Schrift erwähnt, wie Menschengeist [vgl. 1 Kor 2,11], himmlische Geister [vgl. 1 Kön 22,19.21] und böser Geist [vgl. 1 Sam 16,14.23; Apg 19,12.15]. Aber Gottes Geist heißt allein ein Heiliger Geist, das ist, der uns geheiligt hat und weiterhin heiligt. Denn wie der Vater »Schöpfer«, der Sohn »Erlöser« heißt, so soll auch der Heilige Geist gemäß dem, was er bewirkt, »Heiliger« oder »Heiligmacher« heißen. Wie geschieht aber dieses Heiligen? Antwort: Wie der Sohn die Herrschaft, durch die er uns gewinnt, antritt durch seine Geburt, sein Sterben und seine Auferstehung etc., so bewirkt der Heilige Geist die Heiligung durch die darauf folgenden Stücke, d. h. durch die Gemeinde der Heiligen oder die christliche Kirche,71 die Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben, das bedeutet, dass er uns vor allem in seine heilige Gemeinde führt und in den Schoß der Kirche legt, durch die er predigt und uns zu Christus bringt. Denn weder du noch ich könnten jemals etwas von Christus wissen noch an ihn glauben und ihn zum Herrn bekommen, wenn es uns nicht durch die Predigt des Evangeliums vom Heiligen Geist vermittelt und ans Herz gelegt würde. Die Tat ist geschehen und getan; denn Christus hat uns den Schatz erworben und gewonnen durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen etc. Aber wenn die Tat verborgen bliebe,

71. Vgl. Anm. 72.

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so dass niemand davon erführe, so wäre es umsonst geschehen und verloren. Damit nun dieser Schatz nicht vergraben bleibt, sondern angelegt und genutzt wird, [vgl. Mt 25,14–30] hat Gott das Wort ausgehen und verkünden lassen, worin er den Heiligen Geist gibt, der uns diesen Schatz nahebringt und zueignet. Darum ist das Heiligen nichts anderes, als zu dem HERRN Christus zu bringen, um dieses Gut entgegenzunehmen, zu dem wir aus eigener Kraft nicht kommen könnten. So lerne nun, diesen Artikel aufs Deutlichste zu verstehen, damit du, wenn man fragt: »Was meinst du mit den Worten: ›Ich glaube an den Heiligen Geist‹?«, antworten kannst: »Ich glaube, dass mich der Heilige Geist heilig macht, wie es seinem Namen entspricht.« Womit tut er das aber, oder was ist seine Weise und sein Mittel dazu? Antwort: »durch die christliche Kirche, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben.« Denn erstens hat er eine besondere Gemeinschaft in der Welt, die die Mutter ist, die einen jeglichen Christen zeugt und austrägt durch das Wort Gottes, das der Heilige Geist offenbart und in Gebrauch hält, und er erleuchtet die Herzen und feuert sie an, dass sie es begreifen, aufnehmen, daran hängen und dabei bleiben. Denn wenn er es nicht predigen lässt und im Herzen erweckt, damit man es begreift, ist es verloren, wie es unter dem Papsttum geschehen ist, wo man das Glaubensbekenntnis ganz vernachlässigt hat und niemand Christus als seinen Herrn angesehen hat oder den Heiligen Geist als den, der heilig macht. Das heißt, niemand hat geglaubt, dass Christus insofern unser Herr ist, als er uns ohne unser Zutun und Verdienst diesen Schatz gewonnen hat, uns dem Vater angenehm zu machen. Woran hat es denn gefehlt? Der Heilige Geist war nicht da, um es zu offenbaren und predigen zu lassen, sondern Menschen und der böse Geist waren da, die uns gelehrt haben, wir könnten durch eigene Leistung zum Einklang mit Gott kommen und sein Wohlwollen erlangen. Darum ist es auch keine christliche Kirche. Denn wo man nicht von Christus predigt, da ist kein Heiliger Geist, der die christliche Kirche macht, beruft und zusammenbringt, außerhalb deren niemand zum Herrn Christus kommen kann. Das sei genug vom Hauptinhalt dieses Artikels. Weil aber die Stücke, die darin aufgezählt werden, für die Unkundigen nicht so sehr klar sind, wollen wir sie auch kurz durchgehen.

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Die heilige christliche Kirche nennt der Glaube »Communio sanctorum«, »Gemeinschaft der Heiligen«. Denn beides soll dasselbe bedeuten, aber vorzeiten ist das eine Stück nicht dabei gewesen, es ist auch übel und unverständlich verdeutscht: »eine Gemeinschaft der Heiligen«.72 Wenn man es deutlich wiedergeben sollte, müsste man es auf deutsche Art ganz anders ausdrücken. Denn das Wort »Ecclesia« heißt eigentlich auf Deutsch »Versammlung«. Wir sind aber an das Wort »Kirche« gewöhnt, worunter die Unkundigen nicht eine versammelte Menschenmenge, sondern ein geweihtes Haus oder Gebäude verstehen, obwohl das Haus eigentlich nur darum »Kirche« heißen sollte, weil die Menschenmenge darin zusammenkommt. Denn wir, die zusammenkommen, machen und nehmen uns einen besonderen Raum und geben dem Haus nach der Menschenmenge den Namen. Also heißt das Wort »Kirche« eigentlich nicht anderes als »allgemeine Versammlung« und ist der Herkunft nach nicht deutsch, sondern griechisch (wie auch das Wort »Ecclesia«). Denn sie nennen es in ihrer Sprache »Kyria«, wie man es lateinisch »Curia« nennt. Darum sollte es in echtem Deutsch und in unserer Muttersprache »christliche Gemeinde oder Versammlung« heißen, oder am allerdeutlichsten »heilige Christenheit«.73 Entsprechend sollte auch das Wort »Communio«, das daran angehängt ist, nicht mit »Gemeinschaft« übersetzt werden, sondern mit »Gemein(d)e«. Und es handelt sich dabei lediglich um eine Glosse oder Auslegung, mit der jemand hat andeuten wollen, was die christliche Kirche genannt werde. Daraus haben die Unseren, die weder Lateinisch noch Deutsch

72. Der Abschnitt »sanctorum communio« ist tatsächlich eine Ergänzung. Zu Luthers Zeit bezeichnete das Wort »Gemeinschaft« keine durch ein gemeinsames Interesse oder Ähnliches verbundene Gruppe von Menschen, sondern lediglich etwas wie »Gemeinsamkeit«, deshalb bemängelt er die Verwendung des Wortes an dieser Stelle. Der Ausdruck »Communio sanctorum« kann verstanden werden als »Gemeinde aus (den) heiligen Menschen (bzw. den Gläubigen aller Zeiten und Weltgegenden, einschließlich der Engel)«. So deutet Luther den Ausdruck. Möglich ist aber auch eine andere Deutung: »Teilhabe an (den) heiligen Dingen«, nämlich an den Sakramenten. 73. Kirche kommt wahrscheinlich vom griech. κυριακόϚ, kyriakós = »zum Herrn gehörig«; κυρία, kyría = regelmäßige Volksversammlung; curia = Versammlung der führenden Familien in Rom, dann auch Tagungsgebäude.

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verstanden, »Gemeinschaft der Heiligen« gemacht, was im Deutschen ungebräuchlich und unverständlich ist. Der angemessene deutsche Ausdruck wäre »Gemeinde der Heiligen«, das ist eine Gemeinde, die aus lauter Heiligen besteht, oder noch deutlicher »eine heilige Gemeinde«. Das sage ich, damit man die Worte versteht, weil die Redeweise so zur Gewohnheit geworden ist, dass man sie schwerlich wieder ausmerzen könnte, und es gilt gleich als Ketzerei, wenn man nur ein Wort daran ändert. Das ist aber die Bedeutung und der Hauptinhalt dieses Zusatzes: Ich glaube, dass es ein heiliges Häuflein gibt und eine Gemeinde auf Erden aus lauter Heiligen unter einem Haupt, Christus, durch den Heiligen Geist zusammen berufen, in einem Glauben, Sinn und Verstand, mit mancherlei Gaben, doch einträchtig in der Liebe, ohne Gruppenbildungen und Spaltungen. Dazu gehöre auch ich als Teil und Mitglied, teilhaftig und Miteigentümer aller ihrer Güter, durch den Heiligen Geist dahin gebracht und dadurch in die Gemeinschaft eingegliedert, dass ich Gottes Wort gehört habe und noch höre. Das ist der Anfang, um hineinzukommen. Denn vorher, ehe wir dazu gekommen sind, sind wir ganz und gar des Teufels gewesen, wir wussten nämlich von Gott und von Christus nichts. So bleibt der Heilige Geist bei der heiligen Gemeinde oder Christenheit bis zum Jüngsten Tag, durch sie holt er uns zu sich, und er gebraucht sie dazu, das Wort laut werden zu lassen und zu verbreiten, durch das er die Heiligung bewirkt und mehrt, damit die Gemeinde täglich wächst und stark wird im Glauben und seinen Früchten, die er schafft. Ferner glauben wir, dass wir in der Christenheit Vergebung der Sünde haben; das geschieht durch die heiligen Sakramente und die Absolution,74 außerdem durch allerlei Trostsprüche des gesamten Evangeliums. Darum gehört hierher, was von den Sakramenten zu predigen ist, und insgesamt das ganze Evangelium und alle Ämter der Christenheit. Es ist auch nötig, dass dies ununterbrochen andauert. Denn wiewohl Gottes Gnade durch Christus erworben ist und die Heiligkeit gemacht ist durch den Heiligen Geist durch Gottes Wort in der Vereinigung der christlichen Kirche, so sind wir doch im Hinblick auf unser noch andauerndes Leben in der Welt niemals ohne

74. Zuspruch der Vergebung im Rahmen der Beichthandlung.

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Sünde. Darum ist alles in der Christenheit darauf hingeordnet, dass man da täglich lauter Vergebung der Sünde durch Wort und Zeichen hole, um unser Gewissen zu trösten und aufzurichten, solange wir hier leben. Also bewirkt der Heilige Geist, dass uns die Sünde, obwohl sie uns noch anhaftet, doch nicht schaden kann, solange wir in der Christenheit sind, wo lauter Vergebung der Sünde ist, und zwar sowohl insofern, als uns Gott vergibt, wie auch insofern, als wir einander vergeben, einander tragen und einander aufhelfen. Außerhalb der Christenheit aber, wo das Evangelium nicht verkündigt wird, ist auch keine Vergebung, wie auch keine Heiligkeit da sein kann. Darum haben sich alle selbst ausgeschlossen und abgesondert, die nicht durch das Evangelium und die Sündenvergebung, sondern durch eigene Leistung Heiligkeit anstreben und verdienen wollen. Inzwischen aber, weil die Heiligung begonnen wurde und täglich voranschreitet, warten wir, dass unser Fleisch zu Tode gebracht und mitsamt allem Unrat begraben werde, dann aber herrlich hervorkomme und auferstehe zu ganzer und vollkommener Heiligkeit in einem neuen, ewigen Leben. Denn jetzt bleiben wir halb und halb rein und heilig, damit der Heilige Geist immerfort an uns arbeite durch das Wort und täglich Vergebung austeile bis in jenes Leben, wo keine Vergebung mehr nötig sein wird, sondern wo die Menschen ganz und gar rein und heilig sein werden, voller Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, befreit und ledig von Sünde, Tod und allem Unglück in einem neuen, unsterblichen und verklärten Leib. Sieh, das alles soll Tätigkeitsfeld und Wirkung des Heiligen Geistes sein, dass er auf Erden die Heiligkeit anfange und täglich vermehre durch die beiden Mittel: christliche Kirche und Vergebung der Sünde. Wenn wir aber verwesen, wird er es auf einmal in einem Augenblick ausführen und uns auf ewig dabei erhalten durch die beiden genannten Mittel. Dass aber hier steht »Auferstehung des Fleisches«, ist auch nicht gut deutsch geredet. Denn wenn wir »Fleisch« hören, denken wir nicht weiter als bis in den Metzgerladen. Richtiges Deutsch wäre es aber, wenn wir sagten: »Auferstehung des Leibes oder des Körpers75.« Es liegt aber nicht allzu viel an der Formulierung, wenn man die Worte nur recht versteht. 75. Im frühneuhochdeutschen Original: Leichnam. Es geht darum, dass der ganze Mensch aufersteht, nicht nur eine ätherische Seele oder dergleichen.

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Das ist nun der Artikel, der immerfort in Kraft stehen und bleiben muss. Denn die Schöpfung haben wir nun hinter uns,76 auch die Erlösung ist ausgerichtet, aber der Heilige Geist verfolgt seine Aufgabe unablässig bis zum Jüngsten Tag, und er bestimmt dazu eine Gemeinde auf Erden, durch die er alles redet und tut. Denn er hat seine Christenheit noch nicht vollständig versammelt und die Vergebung noch nicht vollständig ausgeteilt. Darum glauben wir an den, der uns täglich zu sich holt durch das Wort und uns den Glauben gibt, ihn wachsen lässt und stark macht durch dieses Wort und die Vergebung der Sünde, auf dass er uns, wenn das alles ausgerichtet ist und wir dabei bleiben und der Welt und allem Unglück absterben, schließlich ganz und auf Dauer heilig mache. Darauf warten wir jetzt noch im Glauben. Sieh, da hast du das ganze göttliche Wesen, Gottes Willen und Wirken mit ganz kurzen und doch inhaltsreichen Worten überaus treffend beschrieben. Darin besteht alle unsere Weisheit, die alle menschliche Weisheit, alles Begreifen und alle Vernunft weit übertrifft. Denn obwohl alle Welt sich die größte Mühe gegeben hat, zu erkennen, was Gott ist, was er plant und tut, so hat sie doch nichts davon je erreicht. Hier aber hast du alles aufs Allerreichste. Denn da hat er selbst offenbart und aufgetan den tiefsten Abgrund seines väterlichen Herzens und ganz unaussprechlicher Liebe in allen drei Artikeln. Denn er hat uns eben dazu geschaffen, um uns zu erlösen und zu heiligen, und über das hinaus, dass er uns alles gegeben und eingeräumt hatte, was im Himmel und auf Erden ist, hat er uns auch noch seinen Sohn und Heiligen Geist gegeben, um uns durch sie zu ihm zu bringen. Denn wir könnten niemals dahin kommen (wie oben erklärt), die Zuneigung und das Wohlwollen des Vaters zu erkennen, ohne den Herrn Christus, der der Spiegel von Gottes väterlichem Herzen ist und außerhalb dessen wir in Gott nichts sehen als einen zornigen und schrecklichen Richter. Von Christus aber könnten wir auch nichts wissen, wenn es nicht durch den Heiligen Geist offenbart wäre. Darum unterscheiden uns diese Artikel von allen anderen Leuten auf Erden und sondern uns von ihnen ab. Denn was außerhalb der 76. Das erhaltende Handeln des Schöpfers dauert allerdings noch an; vgl. Gen 8,22; Ps 103f.

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Christenheit ist, es seien Heiden,77 Türken, Juden oder falsche Christen und Heuchler, auch wenn sie nur einen wahrhaftigen Gott glauben und anbeten, so wissen sie doch nicht, wie er uns gegenüber gesinnt ist, und können auch keine Liebe oder Gutes von ihm erwarten. So bleiben sie in ewigem Zorn und Verdammnis. Denn sie haben den Herrn Christus nicht und sind mit keinerlei Gaben durch den Heiligen Geist erleuchtet und beschenkt. Daraus erkennst du, dass das Glaubensbekenntnis eine völlig anders geartete Lehre ist als die Zehn Gebote. Denn die Zehn Gebote lehren, was wir tun sollen, das Glaubensbekenntnis aber sagt, was Gott für uns tut und uns gibt. Die Zehn Gebote sind auch ohnehin allen Menschen in die Herzen geschrieben [vgl. Röm 2,14f],78 den Glauben aber kann keine menschliche Klugheit begreifen, er muss allein vom Heiligen Geist gelehrt werden. Darum macht die Lehre der Zehn Gebote noch niemanden zum Christen; denn es bleibt noch immer Gottes Zorn und Ungnade über uns, weil wir es nicht erfüllen können, was Gott von uns fordert. Aber die Lehre des Glaubensbekenntnisses bringt lauter Gnade, macht uns rechtschaffen und Gott angenehm. Denn durch diese Erkenntnis bekommen wir Lust und Liebe zu allen Geboten Gottes, weil wir hier sehen, wie Gott ganz und gar mit allem, was er hat und vermag, uns zu Hilfe kommt und uns dabei unterstützt, die Zehn Gebote zu halten: der Vater mit all seinen Geschöpfen, Christus mit seinem Werk, der Heilige Geist mit all seinen Gaben. Damit sei genug gesagt vom Glaubensbekenntnis, um eine Grundlage für die Unkundigen zu schaffen, damit man sie nicht überfordert und sie, wenn sie das Wichtigste davon verstehen, anschließend selbst weiter nachdenken und, was sie in der Schrift lernen, hierauf beziehen und immerfort in reicherem Verständnis zunehmen und wachsen. Denn wir haben doch täglich, solang wir hier leben, daran zu predigen und zu lernen.

77. Gemeint sind insbesondere Anhänger nicht-monotheistischer Religionen. 78. Weil die Zehn Gebote unverzichtbare Grundregeln für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben darstellen, sind sie nach Luthers Auffassung allen Menschen bekannt und für alle verbindlich.

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Der dritte Teil: Das Vaterunser Wir haben nun gehört, was man tun und was man glauben soll, worin das beste und mit Gott am besten im Einklang befindliche Leben besteht; es folgt nun das dritte Stück, wie man beten soll. Kein Mensch kann die Zehn Gebote vollkommen einhalten, selbst wenn er begonnen hat zu glauben. Der Teufel sträubt sich mit aller Macht mitsamt der Welt und unserem eigenen Fleisch dagegen. Deshalb ist es am nötigsten, Gott immerfort in den Ohren zu liegen, zu rufen und zu bitten, dass er uns den Glauben und die Erfüllung der Zehn Gebote gebe, erhalte und vermehre und alles, was uns im Wege liegt und daran hindert, hinwegräume. Damit wir aber wüssten, was und wie wir beten sollen, hat uns unser Herr Christus selbst die Weise und die Worte gelehrt, wie wir sehen werden. Ehe wir aber das Vaterunser der Reihe nach erklären, ist es wohl am nötigsten, zuvor die Leute zu ermahnen und anzureizen zum Gebet, wie es auch Christus und die Apostel getan haben [vgl. Mt 7,7; Lk 18,1; 21,36; Röm 12,12; Kol 4,2; 1 Thess 5,17; 1 Tim 2,1; 1 Petr 4,7; Jak 1,6; 5,13; Jud 20]. Es soll nämlich das Erste sein, dass man wisse, wie wir wegen Gottes Gebot zu beten verpflichtet sind. Denn wir haben im zweiten Gebot gehört: »Du sollst Gottes Namen nicht ohne guten Grund in den Mund nehmen«, dass darin gefordert wird, den heiligen Namen zu preisen, zu ihm in aller Not zu rufen oder zu beten. Denn zu ihm zu rufen ist nichts anderes als beten. Demnach ist es streng und mit Ernst geboten, ebenso dringlich wie alle anderen Gebote, also wie keinen anderen Gott zu haben, nicht zu töten, nicht zu stehlen etc., damit niemand sich denkt, »es ist gleichgültig, ob ich bete oder nicht«, wie die groben Leute durchs Leben gehen mit solchen falschen Vorstellungen und Gedanken: »Was sollte ich beten; wer weiß, ob Gott mein Gebet beachtet oder hören will. Bete ich nicht, so betet ein anderer.« Auf diese Weise verfallen sie in die Gewohnheit, gar nicht mehr zu beten, und als Vorwand führen sie an, dass wir doch falsche und Heuchelgebete verwerfen, als lehrten wir damit, man solle oder dürfe gar nicht beten. Das ist allerdings wirklich wahr: Was man bisher an Gebeten gesprochen hat, heruntergeleiert und gelärmt in der Kirche, ist freilich kein Gebet gewesen. Denn eine solche äußerliche Form kann, wenn sie ordentlich durchgeführt wird, als Übung für die Kinder im Vor-

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schulalter, für Schüler und Unkundige dienen, und man mag es Singen oder Lesen nennen, aber es ist nicht eigentlich Beten. Wirklich beten heißt, wie das zweite Gebot lehrt: »Gott anrufen in allen Nöten«. Das will er von uns haben, und es soll nicht unserem Belieben überlassen bleiben, sondern wir sollen und müssen beten, so gut wie wir Vätern oder Müttern und der Obrigkeit gehorsam sein müssen. Denn durch das Anrufen und Bitten wird der Name Gottes geehrt und nützlich gebraucht. Das sollst du nun vor allen Dingen wissen, um damit solche Gedanken zum Schweigen zu bringen und zurückzuweisen, die uns davon abhalten und abschrecken. Denn so unsinnig es wäre, wenn ein Sohn zu seinem Vater sagen würde: »Was liegt an meinem Gehorsam? Ich will hingehen und tun, was ich kann, es ist doch alles gleichgültig«, obwohl doch das Gebot da steht: »Du sollst und musst es tun«, ebenso wenig ist es meinem Willen überlassen, zu beten oder nicht, sondern es soll und muss gebetet werden. Daraus, dass so eindringlich geboten worden ist, dass man beten solle, kannst du nun schließen und entnehmen, dass wirklich niemand sein Gebet geringachten soll, sondern er soll viel und große Stücke darauf halten. Und nimm dir immer ein Beispiel an den anderen Geboten. Ein Kind soll beileibe nicht seinen Gehorsam gegenüber Vater und Mutter verachten, sondern immer denken: »Das Werk ist ein Werk des Gehorsams, und was ich tue, tue ich in der Meinung, damit dem Gehorsam und Gottes Gebot zu entsprechen, darauf kann ich mich fest verlassen, und das halte ich für wichtig, nicht wegen meiner Würdigkeit, sondern um des Gebotes willen.« Entsprechend auch in diesem Fall: Was und wofür wir bitten, sollen wir betrachten, als fordere es Gott und als werde es in seinem Gehorsam getan, und wir sollen dabei denken: »Meinethalben wäre es nichts, aber darum soll es gelten, dass es Gott geboten hat.« Also soll jeder, was er auch zu bitten hat, immer vor Gott kommen im Bewusstsein, diesem Gebot Gehorsam zu leisten. Darum bitten wir und ermahnen aufs Fleißigste jedermann, dass man dies zu Herzen nehme und keinesfalls unser Gebet verachte. Denn bisher hat man in des Teufels Namen derart gelehrt, dass niemand es geachtet hat und man meinte, es genüge, dass man die Gebetshandlung vollzogen habe, ob Gott es erhört oder nicht. Das bedeutet aber, das Gebet auf gut Glück dahinzureden und aufs Geratewohl vor sich hinzunuscheln, darum ist es ein verlorenes Ge-

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bet. Denn wir lassen uns von solchen Gedanken irremachen und abschrecken: »Ich bin nicht heilig oder würdig genug; wenn ich so fromm und heilig wäre wie Petrus oder Paulus, dann wollte ich beten.« Aber nur weit hinweg mit solchen Gedanken! Denn ebendieses Gebot, das den heiligen Paulus betroffen hat, das betrifft auch mich, und das zweite Gebot ist genauso um meinetwillen aufgestellt worden wie um seinetwillen, so dass er sich auf kein besseres oder heiligeres Gebot beziehen kann als ich. Darum sollst du so sagen: »Mein Gebet, das ich bete, ist eben genauso kostbar, heilig und Gott wohlgefällig wie eines vom heiligen Paulus und von den Allerheiligsten. Begründung: Zwar will ich gern zugestehen, dass er der Person nach heiliger ist als ich, aber nicht dem Gebot nach, denn Gott sieht das Gebet nicht der Person halben an, sondern wegen seines Wortes und des Gehorsams ihm gegenüber. Denn auf das Gebot, auf das alle Heiligen ihre Gebete gründen, gründe ich meines auch, außerdem bete ich um ebendas, worum auch sie immer bitten oder gebeten haben.« Das ist der erste und nötigste Punkt, dass alle unsere Gebete sich gründen und stehen sollen auf dem Gehorsam gegenüber Gott, unangesehen, ob wir Sünder sind oder rechtschaffen, würdig oder unwürdig. Und wir sollen wissen, dass Gott es nicht als Kleinigkeit angesehen wissen will, wenn wir nicht bitten, wie er allen anderen Ungehorsam auch straft, und wir sollen wissen, dass er unsere Gebete nicht umsonst und verloren sein lassen will. Denn wenn er dich nicht erhören wollte, würde er dich nicht beten heißen und ein so strenges Gebot beifügen. Zum anderen soll uns desto mehr antreiben und bewegen, dass Gott auch eine Verheißung beigefügt und zugesagt hat, dass es wirklich und gewiss sein soll, was wir beten, wie er sagt im 50. Psalm: »Rufe nach mir in der Zeit der Not, so will ich dich erretten« [Ps 50,15] und Christus im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 7[,7f]: »Bittet, so wird euch gegeben etc. Denn jeder, der bittet, der empfängt auch.« Das sollte wahrhaftig unser Herz erwecken und anfeuern, um mit Lust und Liebe zu beten, weil er mit seinem Wort bezeugt, dass ihm unser Gebet herzlich wohlgefällt und dass es gewiss erhört und gewährt werden soll, damit wir es nicht verachten noch in den Wind schlagen und aufs Geratewohl beten. Das kannst du ihm auch vorhalten und sagen: »Hier komme ich, lieber Vater, und bitte, nicht aus eigenem Einfall noch auf eigene Würdigkeit gestützt, sondern auf dein Gebot

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Vaterunser

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und deine Zusage hin, die nicht unerfüllt bleiben oder lügen kann.« Wer nun dieser Zusage nicht glaubt, soll abermals wissen, dass er Gott erzürnt, weil er ihn aufs Höchste verunehrt und als Lügner hinstellt. Darüber hinaus soll uns auch locken und ziehen, dass uns Gott neben dem Gebot und der Zusage noch weiter entgegenkommt und uns selbst die Worte und die Art und Weise vorgibt und uns in den Mund legt, wie und was wir beten sollen, damit wir sehen, wie herzlich er sich unserer Not annimmt, und keinesfalls daran zweifeln, dass ihm ein solches Gebet wohlgefällt und dass es gewiss erhört wird. Das ist ein sehr großer Vorteil gegenüber allen Gebeten, die wir selbst uns ausdenken könnten, denn da würde das Gewissen immer im Zweifel stehen und sagen: »Ich habe gebetet, aber wer weiß, wie es ihm gefällt oder ob ich das rechte Maß und die rechte Weise getroffen habe?« Darum ist auf Erden kein edleres Gebet zu finden, weil es das vortreffliche Zeugnis hat, dass Gott es herzlich gern hört, und wir sollten es darum nicht gegen alles Geld der Welt eintauschen wollen. Und es ist auch darum beispielhaft für uns formuliert, damit wir die Not erkennen und bedenken, die uns dazu treiben und bewegen soll, ohne Unterlass zu beten. Denn wer bitten will, der muss etwas bringen, vortragen und nennen, das er wünscht, andernfalls kann man nicht von einem Gebet sprechen. Darum haben wir mit Recht die angeblichen Gebete der Mönche und Pfaffen verworfen, die zwar Tag und Nacht ein Mordsgeheul und -gemurmel von sich geben, aber gar nicht daran denken, auch nur um die kleinste Kleinigkeit zu bitten. Und wenn man alle Kirchen samt den Geistlichen zusammenbrächte, so müssten sie zugeben, dass sie nie von Herzen auch nur um ein Tröpfchen Wein gebetet haben. Denn keiner von ihnen hat jemals aus Gehorsam gegen Gott und im Vertrauen auf seine Zusage es unternommen zu beten, auch keine Not angesehen, sondern nicht weiter gedacht (vorausgesetzt, man hat es aufs Beste ausgerichtet), als eine fromme Leistung zu erbringen, um damit Gott zu bezahlen, weil sie nichts von ihm nehmen, sondern ihm nur etwas geben wollten. Wo aber ein echtes Gebet sein soll, da muss ein Ernst sein, dass man die eigene Not fühlt, und zwar eine solche Not, die uns belastet und uns treibt, zu rufen und zu schreien. Dann geht das Gebet von selbst, wie es gehen soll, und man braucht keinen Unterricht, wie man sich dazu vorbereiten und Andacht schöpfen soll. Die Not aber, die wir uns im Hinblick auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen an-

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gelegen sein lassen sollen, wirst du reichlich genug im Vaterunser finden. Darum soll es auch dazu dienen, dass man sich ihrer daraus erinnere, sie betrachte und zu Herzen nehme, auf dass wir nicht nachlässig werden zu beten. Denn jeder von uns hat Mängel übergenug, wir fühlen und erkennen sie aber nicht. Darum will Gott auch haben, dass du ihm diese Not und diese Anliegen klagst und zur Sprache bringst – nicht, weil er es nicht längst wüsste, sondern damit du dein Herz anfeuerst, desto stärker und mehr zu begehren, und damit du gleichsam den Mantel nur weit genug ausbreitest und öffnest, um viel zu empfangen.79 Darum sollen wir es uns von Jugend auf angewöhnen, täglich um Abhilfe zu bitten, wo immer wir eine Notlage spüren, die uns selbst betrifft oder auch andere Leute, mit denen wir zusammenleben, wie zum Beispiel Prediger, Verantwortliche in Politik und Gesellschaft, Nachbarn oder Mitarbeiter, und dabei sollen wir immer (wie gesagt) Gott sein Gebot und seine Zusage vorhalten und wissen, dass er sie nicht verachtet haben will. Das sage ich deshalb, weil ich gerne wollte, dass man es den Leuten wieder nahebrächte, damit sie lernten, recht zu beten, und nicht so roh und kalt ihrer Wege zu gehen, wodurch sie täglich ungeübter werden zu beten. Das will der Teufel haben und hilft mit allen Kräften dazu, denn er fühlt es wohl, was ihm für Leid und Schaden getan wird, wenn man fleißig betet. Denn das sollen wir wissen, dass all unser Schirm und Schutz allein in dem Gebet besteht. Denn wir sind dem Teufel samt seiner Macht und seiner Anhängerschaft, die sich gegen uns stellt, überhaupt nicht gewachsen, so dass sie uns leicht mit ihren Füßen zertreten könnten. Darum müssen wir bedacht sein und zu den Waffen greifen, mit denen Christen gerüstet sein sollen, um gegenüber dem Teufel standzuhalten [vgl. Eph 6,10–20]. Denn was meinst du, was bisher so große Dinge ausgerichtet und den Plänen, den Unternehmungen, dem Morden und dem Aufruhr unserer Feinde gewehrt oder sie im Zaum gehalten habe, wodurch der Teufel uns samt dem Evangelium zu unterdrücken gedachte, wenn nicht die Gebete etlicher rechtschaffener Leute als eine eiserne Mauer auf unserer Seite dazwischengekommen wären? Sie hätten sonst ein ganz anderes Spiel zu sehen bekommen, 79. Die Mantelschöße wurden bisweilen als improvisierte Taschen eingesetzt, indem man den Saum mit den Händen emporhielt.

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wie der Teufel ganz Deutschland in seinem eigenen Blut erstickt hätte. Jetzt aber mögen sie es getrost verlachen und ihren Spott haben, wir wollen aber dennoch sowohl ihnen als auch dem Teufel allein durch das Gebet als überlegene Gegner gegenübertreten, wenn wir nur fleißig daran festhalten und nicht nachlässig werden. Denn wo irgendein rechtschaffener Christ bittet: »Lieber Vater, lass doch deinen Willen geschehen«, so spricht er droben: »Ja, liebes Kind, es soll wahrhaftig sein und geschehen, dem Teufel und aller Welt zum Trotz.«80 Das sei nun zur Ermahnung gesagt, damit man vor allen Dingen lerne, das Gebet groß und teuer zu achten, und recht zu unterscheiden wisse zwischen Geplapper und Gebet. Denn wir verwerfen keineswegs das Gebet, sondern das völlig unnütze Geheul und Gemurmel verwerfen wir, wie auch Christus selbst langes Gewäsch verwirft und verbietet [vgl. Mt 6,7]. Nun wollen wir das Vaterunser aufs Kürzeste und Klarste behandeln. Da sind nun in sieben Artikeln oder Bitten nacheinander alle Nöte zusammengefasst, die uns fortwährend betreffen, jede Einzelne so groß, dass sie uns antreiben sollte, unser ganzes Leben lang deswegen zu beten.

Die erste Bitte: Geheiligt werde dein Name. Das ist nun etwas dunkel und nicht gut deutsch geredet; denn in unserer Muttersprache würden wir folgendermaßen sagen: »Himmlischer Vater, hilf, dass nur ja dein Name heilig sein möge.« Was bedeutet es, darum zu beten, dass sein Name heilig werde? Ist er denn nicht ohnehin heilig? Antwort: Ja, er ist allezeit heilig in sich selbst, aber in unserem Gebrauch ist er nicht heilig. Denn Gottes Name ist uns gegeben, weil wir Christen geworden und getauft sind, dass wir Gottes Kinder heißen und die Sakramente haben, wodurch er uns mit ihm zu einem Leib zusammenschließt, so dass alles, was Gottes ist, zu unserem Gebrauch dienen soll. Da ist nun die große Not, um die wir uns am meisten kümmern sollen, dass der Name seine gebüh80. Vgl. Luthers Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«, Str. 3: »... der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht, das macht: er ist gericht’. Ein Wörtlein kann ihn fällen.«

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rende Ehre habe, heilig und in Ehren gehalten werde als unser höchster Schatz und das höchste Heiligtum, das wir haben, und dass wir als die frommen Kinder darum bitten, dass sein Name, der im Himmel ohnehin heilig ist, auch auf der Erde bei uns und bei aller Welt heilig sei und bleibe. Wie wird er nun unter uns heilig? Antwort, so deutlich wie möglich: Indem sowohl unsere Lehre als auch unser Leben gottgemäß und christlich sind. Denn weil wir in diesem Gebet Gott unseren Vater nennen, so sind wir verpflichtet, uns allenthalben zu betragen und zu benehmen wie rechtschaffene Kinder, damit er von uns nicht Schande, sondern Ehre und Ruhm habe. Nun wird er von uns entweder mit Worten oder mit Werken verunheiligt. (Denn was wir auf Erden tun, muss entweder Wort oder Werk, Reden oder Tun sein.) Das geschieht zum einen auf die Weise, dass man im Namen Gottes etwas predigt, lehrt und redet, was falsch und verführerisch ist, so dass sein Name die Lüge beschönigen und annehmbar machen soll. Das ist nun die größte Schande und Unehre gegenüber dem göttlichen Namen, entsprechend auch, wo man in grober Weise den heiligen Namen als Deckmantel missbraucht, um zu beschwören, zu fluchen und zu zaubern etc. Zum anderen geschieht das Verunheiligen des göttlichen Namens durch öffentliches böses Leben und Handeln, wenn diejenigen, die Christen und Gottes Volk heißen, Ehebrecher, Säufer, Geizhälse, neidisch und Verleumder sind: Da muss abermals Gottes Name um unseretwillen in Schande geraten und gelästert werden. Denn ebenso, wie es für einen leiblichen Vater eine Schande und Unehre ist, wenn er ein böses, ungeratenes Kind hat, das mit Worten und Taten gegen ihn handelt, so dass er seinetwegen verachtet und geschmäht wird, ebenso gereicht es auch Gott zur Unehre, wenn wir, die wir nach seinem Namen genannt werden und allerlei Gutes von ihm empfangen haben, anders lehren, reden und leben als rechtschaffene und himmlische Kinder, so dass er hören muss, dass man von uns sagt, wir müssten nicht Gottes, sondern des Teufels Kinder sein. Also erkennst du, dass wir gerade um dasjenige in diesem Stück bitten, das Gott im zweiten Gebot fordert, nämlich dass man seinen Namen nicht missbrauche zu Beschwörungen, Flüchen, Lügen, Betrügereien etc., sondern nützlich gebrauche zu Gottes Lob und Ehre. Denn wer Gottes Namen zu irgendeiner Untugend missbraucht, der entheiligt und entweiht diesen heiligen Namen etwa so, wie man vorzeiten eine

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Kirche »entweiht« nannte, wenn darin ein Mord oder ein anderes Verbrechen begangen worden war, oder wenn man eine Monstranz81 oder eine Reliquie verunehrt hatte, die zwar an sich selbst heilig blieb, aber doch im Gebrauch unheilig wurde. Also ist das Stück leicht verständlich und klar, wenn man nur die Sprache versteht, dass »heiligen« bei uns so viel heißt wie »loben, preisen und ehren«, und zwar auf doppelte Weise, mit Worten und Taten. Da sieh nun, wie sehr ein solches Gebet nötig ist. Denn weil wir sehen, wie die Welt so voller Sekten und Irrlehrer ist, die alle den heiligen Namen als Deckmantel und irreführende Beschönigung ihrer Teufelslehre einsetzen, sollten wir diesen allen ordentlich und lautstark mit Gebeten entgegenwirken, und zwar sowohl denjenigen, die Irrlehren verbreiten und daran glauben, als auch denjenigen, die unser Evangelium und die reine Lehre bekämpfen, verfolgen und unterdrücken wollen, wie Bischöfe, Tyrannen, Schwärmer etc. Ebenso sollten wir auch für uns selbst beten, die wir Gottes Wort haben, aber nicht dankbar dafür sind und nicht danach leben, wie wir sollten. Wenn du nun Derartiges von Herzen erbittest, kannst du gewiss sein, dass dies Gott wohlgefällt. Denn er wird nichts lieber hören, als dass seine Ehre und sein Ruhm vor allem und über alle Dinge geschätzt und sein Wort rein gelehrt und teuer und wert geachtet wird.

Die zweite Bitte: Dein Reich komme. Wie wir im ersten Abschnitt um dasjenige gebeten haben, was Gottes Ehre und Namen betrifft, nämlich dass Gott es der Welt verwehren möge, ihre Lüge und Bosheit darunter zu verhüllen, und dass sie Gottes Ehre und Namen in Ehren und heilig halte in Lehre und Leben, damit er bei uns gelobt und gepriesen werde, so bitten wir hier, dass auch sein Reich kommen solle. Aber wie Gottes Name an sich ohnehin heilig ist und wir doch bitten, dass er auch bei uns heilig sei, so kommt auch seine Herrschaft ohne unser Bitten von selbst. Doch bitten wir gleichwohl, dass sie auch zu uns komme, das ist: unter uns und bei uns wirksam werde, damit wir einbezogen werden in den Raum, in dem sein Name geheiligt wird und seine Herrschaft wirkmächtig ist. 81. Ein Schaugefäß, besonders zur Ausstellung der gewandelten Hostie bei der Fronleichnamsprozession.

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Was heißt nun Gottes Reich? Antwort: Nichts anderes, als was wir droben im Glaubensbekenntnis gehört haben, dass Gott seinen Sohn Christus, unseren HERRN, in die Welt geschickt hat, damit er uns erlöste und frei machte von der Macht des Teufels und zu sich brächte und regierte als ein König der Gerechtigkeit, des Lebens und der Seligkeit gegen Sünde, Tod und schlechtes Gewissen; dazu hat er auch seinen Heiligen Geist gegeben, damit er uns das zueignete durch sein heiliges Wort und uns durch seine Kraft im Glauben erleuchtete und stärkte. Darum bitten wir nun hier als Erstes, dass dies bei uns kräftig werde und sein Name so gepriesen durch das heilige Wort Gottes und durch das christliche Leben, dass einerseits wir, die es angenommen haben, dabei bleiben und täglich darin wachsen, und dass es andererseits bei anderen Leuten Beifall und Anhang gewinne und wirkmächtig durch die Welt gehe, damit viele zu dem Gnadenreich kommen und Anteil an der Erlösung gewinnen, die durch den Heiligen Geist herbeigebracht wird, damit wir so gemeinsam in einem Königreich, das jetzt begonnen hat, ewig leben. Denn Gottes Reich kommt auf zweierlei Weise zu uns: einmal hier zeitlich durch das Wort und den Glauben, zum anderen ewig durch die Offenbarung.82 Nun erbitten wir zweierlei, nämlich, dass es zum einen zu denen komme, die noch nicht darinnen sind, und zum anderen zu uns, die es erhalten haben, durch tägliches Wachstum und künftig in dem ewigen Leben. Das alles ist nichts anderes als so viel gesagt: »Lieber Vater, wir bitten, gib uns vor allem dein Wort, damit das Evangelium in aller Welt rechtschaffen gepredigt werde, außerdem, dass es auch durch den Glauben angenommen werde, in uns wirke und lebe, dass also deine Herrschaft unter uns aufgerichtet und erhalten werde durch das Wort und die Kraft des Heiligen Geistes und dass die Herrschaft des Teufels niedergerungen werde, so dass er weder Recht noch Macht über uns habe, bis seine Herrschaft schließlich völlig zerstört und Sünde, Tod und Hölle vertilgt werden, damit wir ewig leben in vollkommener Gerechtigkeit und Seligkeit.« Daraus erkennst du, dass wir hier nicht um eine Kleinigkeit oder zeitliches, vergängliches Gut bitten, sondern um einen ewigen, überreichen Schatz und alles, was Gott selbst vermag – viel zu groß, als dass

82. Bei der Wiederkunft Christi.

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Vaterunser – 3. Bitte

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ein menschliches Herz es zu begehren sich getrauen dürfte, wenn er es nicht selbst zu erbitten geboten hätte. Aber weil er Gott ist, will er auch die Ehre haben, dass er viel mehr und reichlicher gibt, als irgendjemand begreifen kann, wie ein unvergänglicher Quell, der, je mehr er sprudelt und überströmt, umso mehr von sich gibt, und nicht mehr von uns begehrt, als dass man viele und große Dinge von ihm erbitte, und der im Gegenteil zürnt, wenn man nicht getrost bittet und fordert. Wenn zum Beispiel der reichste, mächtigste Kaiser einen armen Bettler bitten hieße, was immer er begehrte, und bereit wäre, ihm ein großes, wahrhaft kaiserliches Geschenk zu machen, und der Narr erbettelte nicht mehr als einen Teller Armensuppe, so würde er mit Recht für einen Halunken und Bösewicht gehalten, der mit dem Befehl der kaiserlichen Majestät seinen Hohn und Spott triebe und nicht wert sei, vor ihre Augen zu kommen. Ebenso gereicht es auch Gott zu großer Schmach und Unehre, wenn wir, denen er so viele unaussprechliche Güter anbietet und zusagt, dies verachteten oder nicht wirklich zu empfangen glaubten und kaum um ein Stück Brot zu bitten uns entschließen könnten. Das alles ist die Schuld des schändlichen Unglaubens, der nicht so viel Gutes von Gott erhofft, dass er ihm den Bauch ernähre, geschweige, dass er solche ewigen Güter von Gott erwarten sollte, ohne daran zu zweifeln. Darum sollen wir uns dagegen wappnen und dies das Erste sein lassen, was wir bitten, so wird man gewiss alles andere auch reichlich haben, wie Christus lehrt: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch dies alles auch zufallen« [Mt 6,33]. Denn wie sollte er uns an Vergänglichem Mangel leiden und darben lassen, während er uns das Ewige und Unvergängliche zusagt?

Die dritte Bitte: Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden. Bisher haben wir gebeten, dass sein Name von uns geehrt und seine Herrschaft unter uns wirksam werde; in diesen beiden Bitten ist vollständig enthalten, was Gottes Ehre und unsere Seligkeit betrifft, dass wir Gott samt allen seinen Gütern zu eigen bekommen. Aber hier ist nun ja so große Not, dass wir dies festhalten und uns nicht davon wegreißen lassen. Denn wie in einem wohlgeordneten Gemeinwesen nicht nur Leute nötig sind, die aufbauen und gut regieren, sondern auch solche, die verteidigen, schützen und gewissenhaft darüber wa-

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chen, so auch hier: Wenn wir auch um das Allernotwendigste gebeten haben, nämlich um das Evangelium, den Glauben und den Heiligen Geist, damit er uns leite, die wir aus der Gewalt des Teufels erlöst sind, so müssen wir auch darum bitten, dass er seinen Willen geschehen lasse. Denn es muss wunderhaft erscheinen, wenn wir dabei standhaft durchhalten, obwohl wir viele Angriffe und Schläge darüber erleiden müssen von all dem, was sich untersteht, die beiden vorigen Punkte zu verhindern und sie abzuwehren. Denn niemand hält es für möglich, wie sich der Teufel dem widersetzt und sich dagegen sperrt, weil er es nicht ertragen kann, dass jemand recht lehrt oder glaubt, und es schmerzt ihn über die Maßen, dass er es geschehen lassen muss, dass seine Lügen und Gräuel – bislang83 unter dem schönsten Schein des göttlichen Namens geehrt – nun84 aufgedeckt, mit allen Schanden öffentlich zur Schau gestellt und außerdem aus den Herzen getrieben werden und dass seine Herrschaft so stark beschädigt wird. Darum tobt und wütet er als ein zorniger Feind mit aller seiner Macht und Kraft, hängt alles an sich, was er zur Verfügung hat, dazu nimmt er die Welt zu Hilfe und unser eigenes Fleisch.85 Denn unser Fleisch ist an sich schlecht und zum Bösen geneigt, auch wenn wir Gottes Wort angenommen haben und glauben. Die Welt aber ist arg und böse. Da heizt86 er an, bläst und schürt das Feuer, um uns zu behindern, zurückzutreiben, zu Fall und wieder unter seine Gewalt zu bringen. Das ist all sein Wille, Sinn und Gedanke, wonach er Tag und Nacht strebt und keinen Augenblick ruht, er setzt alle Künste, Tücken, Weisen und Wege dazu ein, die er nur erdenken kann. Darum müssen wir gewiss damit rechnen und uns darauf gefasst machen, wenn wir Christen sein wollen, den Teufel samt allen seinen Engeln [vgl. Mt 25,41] und samt der Welt zu Feinden zu haben, die uns alles Unglück und Herzeleid antun wollen. Denn wo Gottes Wort gepredigt, angenommen oder geglaubt wird und Frucht trägt, da wird das liebe heilige Kreuz87 auch nicht ausbleiben. Und denke nur nie-

83. 84. 85. 86. 87.

unter der Herrschaft des Papsttums. durch die Reformation und das wieder entdeckte Evangelium. Vgl. Anm. 6. Konjiziert aus »hetzet«. Leiden in der Nachfolge Christi. Vgl. Mt 10,38f; 16,24f.

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mand, dass er Frieden haben werde, sondern er wird daransetzen müssen, was er auf Erden hat, Besitz, Ansehen, Haus und Hof, Frau und Kind, Leib und Leben. Das tut nun unserem Fleisch und alten Adam88 weh, denn es bedeutet, standzuhalten und mit Geduld zu ertragen, dass man uns angreift, und loszulassen, was man uns nimmt. Darum geht es hier um eine ebenso große Not wie in allen andern Abschnitten, dass wir fortwährend bitten: »Lieber Vater, dein Wille geschehe, nicht der Wille des Teufels und unserer Feinde noch all dessen, was dein heiliges Wort verfolgen und unterdrücken will oder deine Herrschaft einschränken, und gib uns, dass wir alles, was darum zu erleiden ist, mit Geduld ertragen und überwinden, damit unser armes Fleisch nicht aus Schwachheit oder Trägheit nachgebe oder abfalle.« Und siehst du, so haben wir aufs Einfältigste in diesen drei Abschnitten die Not, die Gott selbst betrifft, doch alles in Bezug auf uns, denn es zielt allein auf uns ab, was wir bitten, nämlich in der Weise, wie gesagt, dass auch in uns geschehe, was ohne uns von selbst geschehen muss. Denn wie auch ohne unser Bitten sein Name geheiligt werden und sein Reich kommen muss, so muss auch sein Wille geschehen und sich durchsetzen, auch wenn der Teufel mit all seiner Anhängerschaft sehr dagegen lärmt, zürnt und tobt und versucht, das Evangelium völlig auszulöschen. Aber um unsertwillen müssen wir darum bitten, dass Gottes Wille auch unter uns trotz ihres Tobens ungehindert geschehe, so dass sie nichts erreichen können und wir trotz aller Gewalt und Verfolgung standhaft dabei bleiben und uns den Willen Gottes gefallen lassen. Dies Gebet soll also jetzt unser Schutz und unsere Verteidigung sein, die zurückschlage und alles zu Boden werfe, was der Teufel, Bischöfe, Tyrannen und Ketzer gegen unser Evangelium tun können. Lass sie nur zürnen und ihr Möglichstes versuchen, beratschlagen und beschließen, wie sie uns unterdrücken und ausrotten wollen, damit ihr Wille und Beschluss andauere und in Geltung bleibe! Dagegen wird ein einziger Christ oder zwei mit diesem einzigen Stück unsere Mauer sein, daran sie sich den Kopf einrennen und zugrunde gehen. Den Trost und Trotz haben wir, dass das Wüten und die Un-

88. Vgl. unten bei Anm. 105.

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ternehmungen des Teufels und aller unserer Feinde unausweichlich untergehen und zunichte werden müssen, wie stolz, unangreifbar und mächtig sie in ihrer Einbildung auch sein mögen. Denn wenn ihr Wille nicht gebrochen und gehindert würde, so könnte Gottes Reich auf Erden nicht bleiben und sein Name nicht geheiligt werden.

Die vierte Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute. Hier bedenken wir nun den armen Brotkorb, die Bedürfnisse unseres Körpers und unseres irdischen Lebens, und wenn es auch ein kurzes, einfaches Wort ist, so greift es doch sehr weit aus. Denn wenn du »tägliches Brot« nennst und erbittest, so erbittest du zugleich alles, was dazu gehört, das tägliche Brot zu haben und zu genießen, und wehrst ab, was das verhindern könnte. Darum musst du deine Gedanken recht öffnen und ausbreiten, nicht nur hin zu Backofen und Mehlkasten, sondern auch ins weite Feld und ins gesamte Land, das das tägliche Brot und allerlei sonstige Nahrung trägt und uns bringt. Denn wenn Gott nicht die Saat wachsen ließe, segnete und auf dem Acker erhielte, würden wir niemals je auch nur einen einzigen Laib Brot aus dem Backofen nehmen oder auf den Tisch zu legen haben. Und um es kurz zu sagen, so umschließt diese Bitte alles, was zu diesem gesamten Leben in der Welt gehört, weil wir nur deshalb das tägliche Brot haben müssen. Nun gehört zum Leben nicht nur, dass unser Körper seine Nahrung, Bekleidung und andere notwendige Dinge hat, sondern auch, dass wir unter den Leuten, mit denen wir zusammenleben und alltäglich in mancherlei Angelegenheiten und Geschäften verkehren, mit Ruhe und Frieden zurechtkommen, kurz, es gehört alles dazu, was die häuslichen und die nachbarschaftlichen oder bürgerlichen Verhältnisse und Ordnungen betrifft. Denn wo diese beiden Bereiche gestört sind, da ist auch die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen gestört, so dass es auf Dauer nicht erhalten werden kann. Und es ist wohl das Allernötigste, für weltliche Obrigkeit und Regierung zu bitten, weil Gott uns durch sie am meisten unser tägliches Brot und alle Annehmlichkeiten des Lebens sichert. Denn wenn wir gleich alle Güter von Gott in Fülle erhalten haben, so können wir sie doch nicht behalten und unbekümmert und fröhlich gebrauchen, wenn er uns nicht auch eine beständige, friedliche Gesellschafts-

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ordnung gibt. Denn wo Unfriede, Zank und Krieg ist, da ist das tägliche Brot schon weggenommen oder zumindest geschmälert. Darum sollte man eigentlich ein Brot auf den Wappenschild jedes rechtschaffenen Fürsten setzen statt eines Löwen oder eines Rautenkranzes,89 oder ein Brot statt des üblichen Gepräges auf die Münzen schlagen, um sowohl die Fürsten als auch ihre Untertanen daran zu erinnern, dass wir durch ihr Amt Schutz und Frieden haben und ohne sie das liebe Brot weder essen noch behalten können. Darum sind sie auch aller Ehren wert, dass man ihnen gebe, was wir sollen und können, weil wir durch sie alles, was wir haben, mit Frieden und Ruhe genießen können; sonst würden wir keinen Heller90 behalten. Außerdem bitte man für sie, damit Gott uns umso mehr Segen und Gutes durch sie gebe. Also sei hier kurz aufgezeigt und umrissen, wie weit dieses Gebet reicht über allerlei Verhältnisse auf Erden. Daraus könnte nun jemand ein langes Gebet machen und mit vielen Worten alle Anliegen aufzählen, die hineingehören, wie dass wir bitten, dass uns Gott Essen und Trinken, Kleider, Haus und Hof und einen gesunden Körper gebe, überdies das Getreide und die Früchte auf dem Feld wachsen und gut geraten lasse, weiter auch daheim gut haushalten helfe, eine rechtschaffene Ehefrau und ebensolche Kinder und Gesinde gebe und bewahre, unsere Arbeit, Handwerk oder was wir sonst zu tun haben, gedeihen und gelingen lasse, uns treue Nachbarn und gute Freunde beschere etc., ebenso dass er dem Kaiser, dem König und allen Ständen und besonders unseren Landesfürsten, allen Räten, Oberherren und Amtleuten Weisheit, Stärke und Glück gebe, damit sie gut regieren und gegen die Türken und alle anderen Feinde siegen, dass er den Untertanen und gewöhnlichen Leuten Gehorsam, Frieden und Eintracht gebe, miteinander zu leben, und dass er uns überdies behüte vor allerlei Schaden an Körper und Unterhalt, vor Ungewitter, Hagel, Feuer, Wasser, Gift, Pest, Viehsterben, Krieg und Blutvergießen, Geldentwertung, tierischen Schädlingen, bösen Leuten etc. Das alles ist gut, um den Unkundigen einzuprägen, dass dies und Ähnliches von Gott gegeben und von uns erbeten werden muss. 89. Vgl. den Löwen im thüringischen, meißnischen, hessischen und zahlreichen anderen Wappen, den Rautenkranz im kursächsischen Wappen. 90. Kleine, geringwertige Münze.

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Hauptsächlich ist dies Gebet auch verfasst gegen unseren höchsten Feind, den Teufel. Denn das ist all sein Sinnen und Begehren, uns alles zu nehmen oder zu beeinträchtigen, was wir von Gott haben. Und er begnügt sich nicht damit, die geistliche Ordnung zu behindern und zu zerstören, indem er die Seelen durch seine Lügen verführt und unter seine Gewalt bringt, sondern er versucht auch zu verhindern, dass eine Ordnung oder ehrbare, friedliche Verhältnisse auf Erden bestehen bleiben; da richtet er so viel Zank, Mord, Aufruhr und Krieg an, ebenso Ungewitter, Hagel, um das Getreide und das Vieh zu verderben, die Luft zu vergiften etc. Kurz, es tut ihm weh, dass jemand einen Bissen Brots von Gott habe und mit Frieden esse, und wenn es in seiner Macht stünde und unser Gebet – nächst Gott – ihn nicht hinderte, würden wir gewiss keinen Halm auf dem Feld, keinen Heller im Hause, ja nicht eine Stunde das Leben behalten und insbesondere diejenigen von uns, die Gottes Wort haben und gern Christen sein wollten. Sieh, auf diese Weise will uns Gott zeigen, wie er sich aller unserer Not annimmt und so treu auch für unsere alltäglichen Bedürfnisse sorgt. Und wiewohl er das alles reichlich gibt und erhält, und zwar auch den Gottlosen und Schurken, so will er doch, dass wir darum bitten, damit wir erkennen, dass wir es aus seiner Hand empfangen, und darin seine väterliche Güte uns gegenüber spüren. Denn wenn er seine schützende Hand abzieht, kann es doch nicht auf Dauer gedeihen oder erhalten werden, wie man wohl täglich sieht und merkt. Was ist jetzt für eine Plage in der Welt allein mit den verfälschten Münzen, ja mit täglicher Belastung und Wucher im gewöhnlichen Handel, in den Geschäften und in der Arbeit derer, die nach ihrer Willkür die Armen bedrücken und ihnen ihr tägliches Brot entziehen. Wir müssen es zwar ertragen, sie aber mögen sich vorsehen, dass sie nicht die allgemeine Achtung verlieren, und sich hüten, dass dieser Abschnitt im Vaterunser sich nicht gegen sie kehre.

Die fünfte Bitte: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern. Dieses Stück betrifft nun unser armes und elendes Leben, das ohne Sünde nicht abgeht, auch wenn wir Gottes Wort haben, glauben, seinen Willen tun und leiden und uns von Gottes Gabe und Segen er-

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nähren, weil wir noch täglich straucheln und über die Stränge schlagen, solange wir in der Welt leben unter den Leuten, die uns viel zuleide tun und Anlass geben zu Ungeduld, Zorn, Rache etc., außerdem haben wir den Teufel im Nacken sitzen, der uns von allen Seiten zusetzt und gegen alle vorgenannten Stücke ankämpft (wie gehört), so dass es nicht möglich ist, in solchem fortwährenden Kampf zu jeder Zeit standhaft zu bleiben. Darum ist es hier abermals überaus notwendig, zu bitten und zu rufen: »Lieber Vater, vergib uns unsere Schuld.« Nicht, dass er nicht auch ohne und vor unserem Bitten die Sünde vergäbe – denn er hat uns das Evangelium, worin lauter Vergebung ist, geschenkt, ehe wir noch darum gebeten oder auch nur daran gedacht haben –, es kommt aber darauf an, dass wir diese Vergebung erkennen und annehmen. Denn das Fleisch, in dem wir täglich leben, ist von der Art, dass es Gott nicht vertraut und glaubt und sich immerfort regt mit bösen Gelüsten und Tücken, so dass wir täglich mit Worten und Taten, mit Tun und Lassen sündigen; dadurch wird das Gewissen unruhig, weil es sich vor Gottes Zorn und Ungnade fürchtet, und verliert den Trost und die Zuversicht, die aus dem Evangelium kommen, aus dem Blick. Dementsprechend bleibt es fortwährend notwendig, dass man hierher läuft und Trost holt, um das Gewissen wieder aufzurichten. Das soll aber alles nur dazu dienen, dass Gott unseren Stolz überwinde und uns zur Demut führe. Denn er hat sich selbst das Vorrecht, die Sünden zu vergeben, vorbehalten, für den Fall, dass jemand auf die eigene Rechtschaffenheit pochen und andere verachten wollte; dann soll er sich selbst ansehen und sich dieses Gebet vor Augen führen, so wird er finden, dass er ebenso rechtschaffen ist wie die anderen, und es müssen alle vor Gott klein beigeben und froh werden, dass wir zur Vergebung der Sünden kommen; und es soll nur niemand meinen, solange wir hier leben, es dahin zu bringen, dass er dieser Vergebung nicht bedürfte. Kurz: Wenn Gott nicht fortwährend vergibt, so sind wir verloren. So ist nun der Sinn dieser Bitte, Gott wolle unsere Sünde nicht ansehen und uns vorhalten, was wir ja täglich verdienten, sondern mit wohlwollender Nachsicht an uns handeln und uns vergeben, wie er zugesagt hat, und uns so ein fröhliches und unbekümmertes Gewissen geben, um vor ihm zu stehen und zu bitten. Denn wenn das Herz nicht mit Gott im Reinen ist und solche Zuversicht schöpfen

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kann, so wird es sich niemals zu beten getrauen. Diese Zuversicht aber und ein fröhliches Herz kann nur daher kommen, dass es weiß, dass ihm die Sünde vergeben ist. Es ist aber dabei ein nötiger und doch tröstlicher Zusatz angehängt: »wie auch wir vergeben unseren Schuldnern«. Er hat es zugesagt, damit wir sicher sein sollen, dass uns alles vergeben und geschenkt ist, doch unter der Bedingung, dass wir auch unseren Mitmenschen vergeben. Denn wie wir Gott gegenüber täglich in vielen Dingen schuldig werden und er doch alles wohlwollend vergibt, so müssen auch wir unseren Mitmenschen immerfort vergeben, die uns Schaden, Gewalt und Unrecht tun, Heimtücke üben etc. Vergibst du nun nicht, so meine auch nicht, dass Gott dir vergebe. Vergibst du aber, so hast du den Trost und die Sicherheit, dass dir im Himmel vergeben wird, und zwar nicht wegen deines eigenen Vergebens – er tut es nämlich freiwillig, umsonst, aus lauter Gnade, weil er es zugesagt hat, wie das Evangelium lehrt –, sondern um uns dadurch zu stärken und zu vergewissern, indem er gleichsam ein Beglaubigungszeichen zu der Zusage setzt, die mit diesem Gebet übereinstimmt, Lk 6[,37]: »Vergebt, so wird euch vergeben.« Darum wiederholt sie auch Christus bald nach dem Vaterunser und sagt in Mt 6[,14]: »Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben« etc. Darum ist nun dieses Zeichen bei diesem Gebet mit angeheftet, damit wir, wenn wir bitten, uns an die Zusage erinnern und folgendermaßen denken: »Lieber Vater, darum komme ich und bitte dich, mir zu vergeben, und zwar nicht, weil ich die Schuld abarbeiten oder die Vergebung verdienen könnte, sondern weil du es versprochen hast und hast gleichsam dein Siegel angehängt, zum Zeichen, dass es so gewiss sein soll, als hätte ich eine Absolution, von dir selbst gesprochen.« Denn wie viel die Taufe und das Abendmahl, äußerlich als Zeichen aufgestellt, bewirken, so viel vermag auch dieses Zeichen, nämlich unser Gewissen zu stärken und fröhlich zu machen, und es ist vor anderen ebendarum aufgestellt, damit wir es jederzeit gebrauchen und ausüben können, weil wir es immer bei uns haben.

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Die sechste Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung. Wir haben nun genug davon gehört, was für Mühe und Anstrengung es kostet, das alles, was man erbittet, auch zu erhalten und dabei zu bleiben, was dennoch nicht ohne Schwächen und Stolpern abgeht. Dazu kommt, auch wenn wir Vergebung der Sünden und ein gutes Gewissen erhalten haben, so verhält es sich mit dem Leben doch so, dass einer heute steht und morgen fällt. Darum müssen wir immer wieder beten, auch wenn wir im Augenblick rechtschaffen leben und mit gutem Gewissen Gott gegenüber bestehen, dass er uns nicht rückfällig werden und der Anfechtung oder Versuchung erliegen lasse. Die Versuchung aber, oder (wie es unsere Sachsen91 von alters her nennen) Bekörung,92 ist dreifacher Art: des Fleisches, der Welt und des Teufels. Denn im Fleisch wohnen wir und schleppen den alten Adam mit uns herum, der regt sich und reizt uns täglich zu Zügellosigkeit, Faulheit, Fressen und Saufen, Geiz und Betrügerei, um den Mitmenschen zu täuschen und zu übervorteilen, kurz zu allerlei bösen Neigungen, die uns von Natur anhaften und die zudem angeregt werden durch anderer Leute Gesellschaft, Vorbild, Hören und Sehen, was oftmals auch ein ahnungsloses Herz verwundet und entflammt. Dazu kommt die Welt, die uns mit Worten und Taten beleidigt und reizt zu Zorn und Ungeduld, kurz: Da ist nichts als Hass und Neid, Feindschaft, Gewalt und Unrecht, Untreue, Rächen, Fluchen, Schelten, Verleumden, Hochmut und Stolz mit übermäßigem Schmuck, Ehre, Ruhm und Macht, wo niemand der Geringste sein will, sondern jeder will obenan sitzen und höher als alle anderen geachtet sein [vgl. Lk 14,7–11]. Dazu kommt nun noch der Teufel, hetzt und bläst auch allenthalben darauf los, aber besonders macht er sich da zu schaffen, wo es das Gewissen und geistliche Dinge betrifft, damit man nämlich Gottes Wort und Wirken in den Wind schlage und verachte, um uns so vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe wegzureißen und uns zu Fehlglauben, trü91. Luther meint damit die Niedersachsen mit Siedlungsgebieten im Bereich von Westfalen, Niedersachsen, Holstein und dem westlichen Sachsen-Anhalt. 92. Das schon in althochdeutschen Übersetzungen des Vaterunsers begegnende Wort »korunga« oder »bikorunga« hat sich im Niederdeutschen erhalten.

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gerischer Vermessenheit und Verstockung oder im Gegenteil zu Verzweiflung, Gottesleugnung, Gotteslästerung und unzähligen andern gräulichen Dingen zu bewegen. Das sind nun die Fallstricke und Netze, ja die eigentlichen feurigen Pfeile [vgl. Eph 6,16], die nicht Fleisch und Blut, sondern der Teufel aufs Allergiftigste ins Herz schießt. Das sind wahrhaft große, schwere Gefahren und Anfechtungen, mit denen ein jeglicher Christ hart zu kämpfen hätte, selbst wenn sie einzeln auf ihn zukämen, damit wir angetrieben werden, jede Stunde zu rufen und zu bitten, solange wir in dem schändlichen Leben stecken, wo man uns von allen Seiten zusetzt, uns jagt und treibt, dass Gott uns nicht müde werden und wieder zurückfallen lasse in Sünde, Schande und Unglauben. Denn sonst ist es unmöglich, auch nur die allergeringste Anfechtung zu überwinden. Das heißt nun »nicht in Versuchung führen«, wenn Gott uns Kraft und Stärke gibt zu widerstehen, ohne dass die Anfechtung weggenommen oder aufgehoben würde. Denn Versuchung und Anreizung kann niemand umgehen, solange wir im Fleisch leben und den Teufel um uns herum haben, und es bleibt dabei, wir müssen Anfechtung erleiden, ja darin stecken. Aber darum bitten wir, dass wir nicht hineinfallen und darin ersaufen. Darum ist es ein großer Unterschied, ob man Anfechtungen lediglich spürt oder ob man auch darin einwilligt und Ja dazu sagt. Fühlen müssen wir sie alle, wenn auch nicht alle in gleicher Weise, sondern manche mehr und schwerer: so die Jugend vornehmlich vom Fleisch, danach, wenn man erwachsen und alt ist, von der Welt, die anderen aber, die sich mit geistlichen Dingen beschäftigen, also die starken Christen, vom Teufel. Aber dieses Fühlen kann niemandem schaden, solange es gegen unseren Willen geschieht und wir gern frei davon wären. Denn wenn man es nicht fühlte, könnte man es nicht als Anfechtung bezeichnen. Einwilligen aber ist, wenn man ihm freien Lauf lässt und nicht widersteht oder dagegen bittet. Darum müssen wir Christen dagegen gewappnet sein und täglich damit rechnen, dass wir immerfort angefochten werden, damit niemand so unbekümmert und unachtsam durch den Tag geht, als sei der Teufel weit weg von uns, sondern ständig mit seinen Schlägen rechnet und dagegenhält. Denn wenn ich auch im Moment keusch, geduldig und freundlich bin und in festem Glauben stehe, so kann der Teufel mir doch noch in dieser Stunde einen Pfeil ins Herz bohren,

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dass ich kaum durchhalten kann. Denn er ist ein Feind, der niemals aufgibt oder ermüdet, so dass, wenn die eine Anfechtung aufhört, immer andere und neue anfangen. Darum gibt es keinen anderen Ausweg und keine andere Abhilfe, als hierher zu laufen, um das Vaterunser zu ergreifen und von Herzen mit Gott zu reden: »Lieber Vater, du hast mich angewiesen zu beten, lass mich nicht durch die Versuchung rückfällig werden«; du wirst sehen, dass sie aufhören und sich schließlich geschlagen geben muss. Andernfalls, wenn du es mit eigenen Gedanken und Überlegungen unternehmen wolltest, dir zu helfen, wirst du es nur verschlimmern und dem Teufel weitere Gelegenheiten eröffnen. Denn er hat einen Schlangenkopf; wenn er eine Lücke ausfindig macht, durch die er schlüpfen kann, so folgt der ganze Körper ohne anzustoßen hinterher. Aber das Gebet kann ihn aufhalten und ihn zurücktreiben.

Die letzte Bitte: Sondern erlöse uns von dem Übel.93 Amen. Im Griechischen94 lautet der Abschnitt folgendermaßen: »Erlöse uns von oder behüte uns vor dem Argen oder Boshaftigen«, und es sieht so aus, als sei die Rede vom Teufel, als wolle Jesus alles zusammenfassen, damit alles Beten gegen diesen unseren Hauptfeind gerichtet sei. Denn er ist derjenige, der dies alles, was wir erbitten, unter uns behindert: Gottes Namen und Ehre, Gottes Herrschaft und Willen, das tägliche Brot, ein fröhliches, gutes Gewissen etc. Darum fassen wir das schließlich zusammen und sagen: »Lieber Vater, hilf doch, dass wir das Unglück allesamt loswerden.« Aber gleichwohl ist auch eingeschlossen, was uns Böses widerfahren könnte unter der Herrschaft des Teufels: Armut, Schande, Tod, kurz: aller unseliger Jammer und alles Herzeleid, das auf Erden unzählig häufig vorkommt. Denn weil der Teufel nicht bloß ein Lügner ist, sondern auch ein Totschlä93. Im Griechischen wie im Lateinischen bleibt (wie in der deutschen Übersetzung »von dem Bösen«) zunächst offen, ob »das Böse« oder »der Böse« gemeint ist, Luther entscheidet sich mit seiner Übersetzung für das Neutrum. 94. Versehentlich in der Erstfassung: Hebräischen.

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ger [vgl. Joh 8,44], deshalb trachtet er uns fortwährend nach dem Leben und lässt seinem Mutwillen freien Lauf, wo er uns einen Unfall oder einen Schaden am Körper zufügen kann. Daher kommt es, dass er manchem den Hals bricht oder ihn um den Verstand bringt, etliche im Wasser ertränkt und viele dazu treibt, dass sie sich selbst umbringen, und zu vielen anderen schrecklichen Vorfällen. Darum haben wir auf Erden nichts zu tun, als ununterbrochen gegen diesen Hauptfeind zu beten. Denn wenn Gott uns nicht am Leben erhielte, wären wir keine Stunde vor ihm sicher. Daran erkennst du, wie Gott auch wegen allem, was uns körperlich anficht, gebeten sein will, damit man nur bei ihm Hilfe suche und erwarte. Das hat er aber an die letzte Stelle gesetzt. Denn wenn wir vor allem Übel behütet und davon befreit werden sollen, muss zuvor sein Name in uns geheiligt werden, seine Herrschaft bei uns sein und sein Wille geschehen. Danach will er uns schließlich vor Sünden und Schanden behüten, außerdem vor allem, was uns wehtut und schädlich ist. Also hat uns Gott aufs Kürzeste alle Notsituationen vor Augen geführt, die uns bedrücken könnten, damit wir ja keine Ausrede haben, das Gebet zu unterlassen. Aber darauf kommt es an, dass wir auch lernen, AMEN dazu zu sagen, das ist: nicht zu zweifeln, dass es gewiss erhört sei und geschehen werde. Denn dieses Wort ist Ausdruck eines Glaubens, der nicht zweifelt, der also nicht aufs Geratewohl betet, sondern weiß, dass Gott nicht lügt, weil er zugesagt hat, es zu geben. Wo nun solcher Glaube nicht ist, da kann auch kein rechtes Gebet sein. Darum befinden sich diejenigen in einem schädlichen Irrtum, die auf eine Weise beten, dass sie nicht von Herzen Ja dazu sagen und für gewiss annehmen können, dass Gott sie erhören werde, sondern im Zweifel bleiben und sagen: »Wie sollte ich so verwegen sein und mich rühmen, dass Gott mein Gebet erhört? Bin ich doch ein armer Sünder etc.« Das kommt daher, dass sie nicht auf Gottes Zusage, sondern auf ihr eigenes Tun und ihre Würdigkeit schauen, womit sie Gott verachten und ihn Lügen strafen. Deshalb empfangen sie auch nichts, wie der heilige Jakobus sagt: »Wer da betet, der bete im Glauben und zweifle nicht. Denn wer da zweifelt, der gleicht einer Woge des Meeres, die vom Wind getrieben und bewegt wird; ein solcher Mensch denke nur nicht, dass er etwas von Gott empfangen werde.« [vgl. Jak 1,6f] Sieh, so viel ist Gott daran gelegen, dass wir überzeugt sein sol-

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len, nicht vergeblich zu beten, und unser Gebet keinesfalls verachten.95

Der vierte Teil: Von der Taufe Wir haben nun die drei grundlegenden Hauptteile der christlichen Lehre behandelt. Darüber hinaus ist noch von unseren beiden Sakramenten zu reden, die von Christus eingesetzt sind, über die auch jeder Christ wenigstens einen allgemeinen kurzen Unterricht bekommen soll, weil ohne diese beiden Sakramente niemand Christ sein kann, wiewohl man leider bisher nichts davon gelehrt hat. Als Erstes aber nehmen wir uns die Taufe vor, durch die wir zuerst in die Christenheit aufgenommen werden. Damit man es aber gut verstehen könne, wollen wir es ordentlich behandeln und uns auf dasjenige beschränken, was uns zu wissen nötig ist. Denn wie man es den Ketzern und Sektierern gegenüber vertreten und verteidigen muss, das wollen wir den Gelehrten überlassen. Aufs Erste muss man vor allen Dingen die Worte gut kennen, mit denen die Taufe begründet ist und auf die sich alles bezieht, was davon zu sagen ist, nämlich wie der Herr Christus spricht am Schluss des Evangeliums nach Matthäus: »Gehet hin in alle Welt, lehret alle Heiden und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« [Mt 28,19] Entsprechend im Evangelium nach Markus, ebenfalls im letzten Kapitel: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt.« [Mk 16,16] Bei diesen Worten sollst du vor allem beachten, dass hier Gottes Gebot und Einsetzung steht, darum soll man nicht bezweifeln, dass die Taufe eine göttliche Sache ist, nicht von Menschen erdacht oder erfunden. Denn so gewiss ich sagen kann, dass die Zehn Gebote, das

95. Dem Gebetsverständnis Luthers ist es deshalb völlig fremd, Gebete als Bußleistung oder dergleichen zu fordern. Ein echtes Gebet ist an Gott gerichtet, in Lob und/oder Dank, Klage und/oder Bitte, es geschieht in der Erwartung, von Gott gehört und erhört zu werden. Wenn man hingegen z. B. zehn Vaterunser als Wiedergutmachung für eine sündhafte Handlung herunterbetete, wäre das die Perversion eines Gebetes!

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Glaubensbekenntnis und das Vaterunser kein Mensch sich in seinem Kopf zusammengesponnen hat, sondern sie sind von Gott selbst offenbart und gegeben, so gewiss kann ich auch rühmen, dass die Taufe kein Menschenkram ist, sondern von Gott selbst eingesetzt, außerdem ernstlich und streng geboten, dass wir uns taufen lassen müssen oder andernfalls nicht selig werden, damit man nicht meine, es handele sich dabei um etwas so Geringfügiges wie das Anlegen eines Feiertagsgewandes. Denn es kommt vor allem darauf an, dass man die Taufe als kostbar ansehe und wertschätze. Denn darüber streiten wir am meisten und setzen uns damit auseinander, weil die Welt jetzt so voller Gruppierungen ist, die schreien, die Taufe sei etwas Äußerliches, etwas Äußerliches aber sei unnütz. Lass es aber immerhin etwas so Äußerliches sein wie nur möglich, da steht jedenfalls Gottes Gebot, das die Taufe einsetzt, begründet und bestätigt. Was aber Gott einsetzt und vorschreibt, das kann nichts Vergebliches sein, sondern nur etwas ganz und gar Kostbares, selbst wenn es nach gängiger Ansicht geringer als ein Strohhalm geachtet wäre. Hat man es bisher für etwas Großes halten können, wenn der Papst mit Urkundsbriefen und Siegeln Ablass austeilte, Altäre oder Kirchen bestätigte, allein um der Urkundsbriefe und Siegel willen, so sollen wir die Taufe viel höher und kostbarer schätzen, weil Gott es befohlen hat und sie zudem in seinem Namen geschieht. Denn so lauten die Worte: »Gehet hin, taufet«, aber nicht »in Eurem«, sondern »in Gottes Namen«. Denn in Gottes Namen getauft zu werden heißt, nicht von Menschen, sondern von Gott selbst getauft zu werden. Wenn es auch durch die Hand eines Menschen geschieht, so ist es doch wahrhaftig Gottes eigene Tat; daraus kann wohl jeder selbst schließen, dass sie viel bedeutsamer ist als irgendeine Tat, die ein Mensch oder ein Heiliger tun könnte. Denn was könnte man Größeres ausrichten als Gottes Tat? Aber hier hat der Teufel zu schaffen, um uns mit falschem Schein zu verblenden und uns von Gottes Tat zu unseren eigenen Taten zu bringen. Denn das erscheint viel verdienstvoller, dass ein Kartäusermönch viele schwere, große Frömmigkeitsübungen verrichtet, und alle halten mehr von dem, was wir selbst tun und verdienen. Aber die Schrift lehrt folgendermaßen: Wenn man gleich die Frömmigkeitsübungen aller Mönche auf einen Haufen würfe, wie kostbar sie auch scheinen mögen, so wären sie doch nicht so edel und gut, als wenn Gott einen Strohhalm aufhöbe. Warum? Weil die Person edler und besser ist. Nun muss man hier nicht die

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Person nach ihren Taten, sondern die Taten nach der Person einschätzen, von der sie ihren Wert beziehen. Aber hier mischt sich die verwirrte Vernunft ein, und weil Gottes Tat, anders als die Leistungen, die wir vollbringen, nichts hermacht, so soll sie nichts gelten. Hieraus lerne nun, die richtige Bedeutung zu erfassen und zutreffend zu antworten auf die Frage, was die Taufe sei, nämlich so, dass sie nicht ein bloßes, schlichtes Wasser ist, sondern ein Wasser, in Gottes Wort und Gebot eingefasst und dadurch geheiligt, also nichts anderes als ein Gotteswasser. Nicht, dass das Wasser an sich edler wäre als anderes Wasser, sondern es kommt darauf an, dass Gottes Wort und Gebot dazukommt. Darum ist es ein bloßer Taschenspielertrick und des Teufels Gespött, dass jetzt unsere neuen Geister, um die Taufe herabzuwürdigen, Gottes Wort und Ordnung außer Acht lassen und nichts anderes ansehen als das Wasser, das man aus dem Brunnen schöpft, und danach daher schwatzen: »Was sollte eine Handvoll Wasser der Seele helfen?« Ja, Lieber, wer weiß das nicht, wenn es denn mit dem Trennen seine Richtigkeit hätte, dass Wasser Wasser ist? Wie wagst du es aber, so in Gottes Ordnung einzugreifen und die größte Kostbarkeit davon wegzureißen, mit der es Gott verbunden und eingefasst hat, der nicht will, dass es zertrennt wird? Denn das ist der Kern in dem Wasser: Gottes Wort oder Gebot und Gottes Name, und dieser Schatz ist größer und edler als Himmel und Erde. Also begreife nun den Unterschied, dass die Taufe etwas völlig anderes ist als jedes andere Wasser, und zwar nicht der natürlichen Beschaffenheit wegen, sondern weil hier etwas Edleres hinzukommt. Denn Gott selbst setzt seine Ehre daran und legt seine Kraft und Macht hinein. Darum ist es nicht bloß natürliches Wasser, sondern ein göttliches, himmlisches, heiliges und seliges (und wie man es noch loben kann) Wasser. Das alles um des Wortes willen, das ein himmlisches, heiliges Wort ist, das niemand genug preisen kann, denn es hat und vermag alles, was Gottes ist. Wegen dieser besonderen Beschaffenheit wird die Taufe auch als Sakrament bezeichnet, wie auch der heilige Augustinus96 gelehrt hat: »Accedat verbum ad elementum 96. Augustin (354–430), Bischof in Hippo Regius in Nordafrika, bedeutendster Theologe der Alten Kirche. Das Zitat findet sich in Augustins Tractatus in Ioannis Evangelium LXXX,3 (PL 35, 1840; CChr.SL 36, 529,5f). Eine deutsche Übersetzung ist vorhanden in: BKV Augustinus VI, 119.

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et fit sacramentum«, das ist: »Wenn das Wort zum Element oder natürlichen Wesen kommt, so wird ein Sakrament daraus«, das ist ein heiliges, göttliches Ding und Zeichen. Darum lehren wir allezeit, man solle die Sakramente und alle äußerlichen Dinge, die Gott anordnet und einsetzt, nicht nach dem groben oberflächlichen Schein ansehen – auch von der Nuss sieht man zunächst ja nur die raue Schale –, sondern man soll sie danach beurteilen, dass Gottes Wort darin eingeschlossen ist. Denn so reden wir auch vom Vater- und Mutterstand und von weltlichen Amtsträgern; wenn man die danach ansehen will, dass sie Nasen, Augen, Haut und Haar, Fleisch und Knochen haben, so sehen sie genauso aus wie Türken und Heiden, und es könnte jemand kommen und sagen: »Warum soll ich mehr von diesem einen halten als von andern Menschen?« Weil aber das Gebot dazukommt: »Du sollst Vater und Mutter ehren«, so sehe ich den Menschen anders vor mir, geschmückt und angezogen mit der Erhabenheit und Herrlichkeit Gottes. Das Gebot (sage ich) ist die goldene Amtskette, die er am Hals trägt, ja, die Krone auf seinem Haupt, die mir anzeigt, wie und warum man dies Fleisch und Blut ehren soll. Ebenso und noch viel mehr sollst du die Taufe ehren und hochschätzen um des Wortes willen, weil Gott selbst sie sowohl mit Worten als auch mit Taten geehrt hat, überdies mit Wundern vom Himmel bestätigt. Denn meinst du, dass es ein Scherz war, dass sich Christus hat taufen lassen, der Himmel sich auftat, der Heilige Geist sichtbar herabschwebte, und war ganz und gar göttliche Herrlichkeit und Erhabenheit? [vgl. Mt 3,13–17par] Deshalb ermahne ich nochmals, dass man nur ja die beiden, Wort und Wasser, nicht voneinander scheiden oder trennen lasse. Denn wenn man das Wort davon absondert, so ist es kein anderes Wasser als dasjenige, mit dem die Magd kocht, und kann wohl eine Badertaufe97 heißen, aber wenn das Wort dabei ist, wie es Gottes Gebot angeordnet hat, so ist es ein Sakrament und heißt Christi Taufe. Das sei der erste Abschnitt von der Beschaffenheit und Würde des heiligen Sakraments. Zum anderen, weil wir nun wissen, was die Taufe ist und wie sie zu halten sei, müssen wir auch lernen, warum und wozu sie eingesetzt

97. Taufe, wie sie der Bader verabreichen könnte, gewöhnliches Bad.

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ist, also was sie nützt, gibt und bewirkt. Das kann man nirgends besser als aus den oben angeführten Worten Christi erfahren, nämlich: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig.« [Mk 16,16]. Darum drücke es aufs einfachste so aus, dass dies die Kraft, die Wirkung, der Nutzen, die Frucht und der Zweck der Taufe ist, dass sie selig macht. Denn man tauft niemanden in der Absicht, dass er ein Fürst werden solle, sondern, wie die Worte lauten, dass er »selig werde«. Selig werden aber heißt, wie man wohl weiß, nichts anderes, als von Sünde, Tod und Teufel erlöst in Christi Herrschaft zu kommen und im Einklang mit ihm ewig zu leben. Da siehst du wieder, wie teuer und wert die Taufe zu schätzen ist, weil wir solch einen unaussprechlich wertvollen Schatz darin erlangen. Das zeigt wohl auch, dass es nicht schlichtes klares Wasser sein kann. Denn klares Wasser könnte so etwas nicht bewirken, aber das Wort tut es, und dass (wie oben gesagt) Gottes Name darin ist. Wo aber Gottes Name ist, da muss auch Leben und Seligkeit sein, so dass es zutreffend ein göttliches, seliges, fruchtbares und gnadenreiches Wasser heißt. Denn durch das Wort bekommt die Taufe die Kraft, so dass sie ein »Bad der Wiedergeburt« ist, wie Paulus sie im 3. Kapitel des Titusbriefs [Tit 3,5] nennt. Aber unseren Besserwissern, den neuen Geistern, die behaupten, der Glaube mache allein selig, Handlungen aber und äußerliche Dinge trügen nichts dazu bei, antworten wir, dass allerdings nichts in uns wirkt als allein der Glaube, wie wir noch weiter unten hören werden. Das wollen aber die verblendeten Führer [vgl. Mt 23,16; 15,14] nicht sehen, dass der Glaube etwas haben muss, an das er glaubt, das heißt: woran er sich hält und worauf er steht und gründet. Dementsprechend hängt nun der Glaube am Wasser und glaubt, dass es die Taufe sei, darin reine Seligkeit und Leben ist, nicht durch das Wasser, wie hinlänglich gesagt ist, sondern dadurch, dass es mit Gottes Wort und Anordnung vereinigt ist und sein Name darin steckt. Wenn ich das nun glaube, so glaube ich an Gott als an denjenigen, der sein Wort da hineingegeben und eingepflanzt hat und uns dieses äußerliche Ding vorsetzt, damit wir diesen Schatz überhaupt ergreifen können. Nun sind sie so verrückt, dass sie den Glauben von demjenigen Ding trennen, an dem der Glaube haftet und an das er gebunden ist, auch wenn es äußerlich ist. Ja, es soll und muss äußerlich sein, damit man es mit menschlichen Sinnen erfassen und begreifen und auf diese Weise ins Herz bringen kann, wie denn das ganze Evangelium eine äußerliche,

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mündliche Predigt ist. Kurz, was Gott in uns tut und bewirkt, will er durch solche äußerlichen Anordnungen bewirken. Wo er nun redet, ja wohin oder wodurch er redet, da soll der Glaube hinsehen und sich daran halten. Nun haben wir hier die Worte: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig.« Worauf beziehen sie sich, wenn nicht auf die Taufe, also auf das in Gottes Anordnung eingefasste Wasser? Darum folgt daraus, dass, wer die Taufe verwirft, damit auch Gottes Wort, den Glauben und Christus verwirft, der uns dahin weist und uns an die Taufe bindet. Drittens, weil wir den großen Nutzen und die Kraft der Taufe besprochen haben, so lass uns nun weiter sehen, wer die Person ist, die das empfängt, was die Taufe gibt und nützt. Das ist abermals sehr genau und klar ausgedrückt in eben den Worten: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig«, das heißt, der Glaube allein macht die Person würdig, das heilsame, göttliche Wasser mit Nutzen zu empfangen. Denn weil das hier in den Worten bei und mit dem Wasser vorgetragen und zugesagt wird, kann es nicht anders empfangen werden, als dass wir dies von Herzen glauben. Ohne Glauben ist es nichts nütze, obwohl es an und für sich ein göttlicher, überschwänglicher Schatz ist. Darum vermag das eine Wort: »Wer da glaubt« so viel, dass es ausschließt und zurücktreibt alle Werke, die wir in der Absicht tun könnten, dadurch Seligkeit zu erlangen und zu verdienen. Denn es steht fest: Was nicht Glaube ist, das bewirkt nichts dabei und empfängt auch nichts. Wenn die Gegner aber wie gewöhnlich argumentieren: »Die Taufe ist doch selbst ein Werk, wie kannst du dann sagen, die Werke gelten nichts zur Seligkeit? Wo bleibt denn der Glaube?«, so antworte: »Ja, unsere Werke tragen in der Tat nichts zur Seligkeit bei, die Taufe ist aber nicht unser, sondern Gottes Werk (denn du musst, wie gesagt, die Taufe Christi und die Badertaufe98 möglichst weit auseinanderhalten); Gottes Werke aber sind heilsam und nötig zur Seligkeit und schließen den Glauben nicht aus, sondern fordern99 ihn, denn ohne Glauben könnte man sie nicht erfassen. Denn damit, dass du dich übergießen lässt, hast du die Taufe nicht schon in einer Weise emp98. Siehe oben Anm. 97. 99. Im Original: »fodern«, hier primär »fordern, erfordern, verlangen«, aber auch mit dem möglichen Nebensinn »fördern«.

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fangen oder behalten, dass sie dir etwas nützen würde. Aber dadurch wird sie dir nützlich, wenn du dich in der Absicht taufen lässt, Gottes Befehl und Anordnung zu befolgen, überdies in Gottes Namen, auf dass du in dem Wasser die versprochene Seligkeit empfängst. Das kann freilich die Faust oder der Körper nicht tun, sondern das Herz muss es glauben. Also erkennst du deutlich, dass es sich nicht um eine Leistung handelt, die wir erbrächten, sondern um einen Schatz, den Gott uns schenkt und den der Glaube ergreift, ebenso wie der Herr Christus am Kreuz keine Leistung ist, sondern ein Schatz, im Wort eingefasst und uns vorgetragen und durch den Glauben empfangen. Darum missdeuten sie unsere Auffassung gewaltsam, wenn sie gegen uns wettern, als predigten wir gegen den Glauben, obwohl es uns doch gerade darauf allein ankommt, weil er so nötig ist, dass ohne ihn nichts empfangen oder genossen werden kann. Also haben wir die drei Punkte zusammen, die man von diesem Sakrament wissen muss, insbesondere dass es Gottes Anordnung ist, die in allen Ehren zu halten ist, was allein schon genügte, wäre es auch ein ganz äußerliches Ding wie das Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren«, allein auf ein leibliches Fleisch und Blut bezogen, da man nicht das Fleisch und Blut, sondern Gottes Gebot ansieht, in das es eingefasst ist und um dessentwillen das Fleisch Vater und Mutter heißt. Entsprechend, wenn wir auch nicht mehr hätten als diese Worte: »Gehet hin und tauft« etc., so müssten wir es dennoch als Gottes Anordnung annehmen und ausführen. Nun ist aber nicht bloß das Gebot und der Befehl da, sondern auch das Versprechen. Darum ist es noch viel herrlicher als das, was Gott sonst geboten und angeordnet hat, kurz, so voller Trost und Gnade, dass Himmel und Erde es nicht erfassen können. Aber dazu gehört Einsicht, um das zu glauben, denn es fehlt nicht am Schatz, aber es fehlt daran, dass man ihn erfasst und festhält. Darum hat jeder Christ sein Leben lang genug zu lernen und zu verwirklichen an der Taufe; denn er hat immerfort zu schaffen, um fest zu glauben, was sie zusagt und bringt: Überwindung des Teufels und des Todes, Vergebung der Sünde, Gottes Gnade, den ganzen Christus und den Heiligen Geist mit seinen Gaben. Kurz, es ist so unermesslich, dass die zaghafte Natur, wenn sie es bedenkt, leicht in Zweifel geraten wird, ob es wirklich wahr sein kann. Denn stell dir vor, es gäbe einen Arzt, der es fertigbrächte, dass die Leute nicht

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stürben, oder wenn sie stürben, danach ewig lebten. Wie würde die Welt mit Geld auf ihn einstürmen, dass wegen des Andrangs der Reichen sonst niemand mehr zu ihm kommen könnte! Nun wird hier in der Taufe jedem umsonst ein solcher Schatz vor die Tür gebracht und ein solches Heilmittel, das den Tod verschlingt [vgl. Jes 25,8] und alle Menschen am Leben erhält. So muss man die Taufe ansehen und uns zunutze machen, dass wir uns daran stärken und damit trösten, wenn uns unsere Sünde und unser Gewissen belasten, und sagen: »Ich bin dennoch getauft; bin ich aber getauft, so ist mir zugesagt, dass ich selig sein soll und das ewige Leben haben an Seele und Körper.« Denn darum geschieht beides in der Taufe, dass der Körper begossen wird, der nicht mehr begreifen kann als das Wasser, und dass dazu das Wort gesprochen wird, damit auch die Seele es begreifen könne. Weil nun beides zusammen, Wasser und Wort, eine einzige Taufe bildet, so müssen auch beide zusammen, Leib und Seele, selig werden und ewig leben, die Seele durch das Wort, an das sie glaubt, der Leib aber, weil er mit der Seele vereinigt ist und die Taufe auch erfasst, wie es ihm eben möglich ist. Darum haben wir an Leib und Seele keinen kostbareren Schmuck. Denn dadurch werden wir ganz heilig und selig, und das kann sonst kein Leben, keine Leistung auf Erden erreichen. Das sei nun genug gesagt von der Beschaffenheit, dem Nutzen und dem Gebrauch der Taufe, so viel hier angebracht ist. Hierzu gehört nun auch die Frage, mit der der Teufel durch seine Sekten die Welt verwirrt, über die Taufe der Kinder, ob sie auch glauben und gültig getauft werden. Dazu sagen wir kurz: Wer unkundig ist, der weise die Frage ab und verweise die Fragesteller an die Gelehrten. Willst du aber antworten, so antworte folgendermaßen: Dass die Kindertaufe Christus gefällt, beweist sich hinlänglich aus seinem eigenen Handeln, nämlich daraus, dass Gott viele von denen, die als Kinder getauft wurden, heilig macht und ihnen den Heiligen Geist gegeben hat, und dass es auch noch heute viele gibt, an denen man spürt, dass sie den Heiligen Geist haben, sowohl an ihrer Lehre wie an ihrem Leben, wie es uns durch Gottes Gnade auch gegeben ist, dass wir die Schrift auslegen können und Christus erkennen, was ohne den Heiligen Geist nicht geschehen kann. Wenn aber Gott die Kindertaufe nicht annähme, gäbe er keinem von ihnen den Heiligen Geist oder etwas von diesen Fähigkeiten, kurz, es dürfte seit langer Zeit bis in die Gegen-

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wart hinein gar keine Christen mehr auf Erden gegeben haben. Weil nun Gott die Taufe bestätigt durch Eingeben seines Heiligen Geistes, wie man an etlichen Vätern wohl spürt, z. B. am heiligen Bernhard, an Gerson, an Johann Hus100 und andern, und die heilige christliche Kirche nicht untergeht bis ans Ende der Welt [vgl. Mt 16,18; 28,20], so müssen sie zugeben, dass die Kindertaufe Gott wohlgefalle. Denn er kann ja nicht gegen sich selbst vorgehen oder der Lüge und dem Betrug helfen, geschweige seine Gnade und seinen Geist dazu geben. Dies ist die allerbeste und stärkste Beweisführung für die einfachen und unkundigen Leute. Denn man wird uns diesen Artikel: »Ich glaube eine heilige christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen« etc. nicht nehmen oder umstoßen. Danach sagen wir weiter, dass es uns nicht sonderlich darauf ankommt, ob derjenige, der getauft wird, glaubt oder nicht glaubt; denn darum wird die Taufe nicht ungültig, sondern an Gottes Wort und Gebot liegt alles. Das ist nun wohl ein wenig zugespitzt formuliert, ist aber darin begründet, dass ich gesagt habe, die Taufe sei nichts anderes als Wasser und Gottes Wort beieinander und miteinander, d. h., wenn das Wort bei dem Wasser ist, so ist die Taufe gültig, auch wenn der Glaube nicht dazukommen sollte. Denn mein Glaube macht nicht die Taufe, sondern er empfängt die Taufe. Nun wird die Taufe davon nicht ungültig, dass sie womöglich nicht bestimmungsgemäß empfangen oder gebraucht wird, weil sie (wie gesagt) nicht an unseren Glauben, sondern an das Wort gebunden ist. Denn wenn auch heute ein Jude mit Unaufrichtigkeit und bösem Vorsatz käme und wir ihn mit ganzem Ernst tauften,101 sollten wir doch festhalten, dass die Taufe 100. Bernhard von Clairvaux (1090/91–1153), Klostergründer und -reformer, bedeutender Theologe des Zisterzienserordens, Kreuzzugsprediger; Johannes Gerson (1363–1429), Kirchenreformer, Gegner des übersteigerten Machtanspruchs des Papsttums, Teilnehmer am Konstanzer Konzil. Dort wurde der böhmische Reformator Johannes Hus 1415 als Ketzer verurteilt und verbrannt; von altgläubiger Seite wurde er daher selbstredend nicht unter die Kirchenväter gerechnet. 101. Da innerhalb der Kirche allenthalben die Säuglingstaufe praktiziert wurde, kamen Erwachsenentaufen nur bei konvertierten Juden vor, deshalb nimmt Luther auch das Beispiel eines unaufrichtigen Taufbewerbers aus diesem Bereich. Zwar propagierte die Täuferbewegung, gegen deren Argumente sich Luther hier wendet, die Erwachsenen- bzw. Glaubenstaufe und lehnte die Säuglingstaufe als ungültig ab; in den Anfangsjahren der Bewegung handelte es sich aber natur-

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gültig wäre. Denn da ist das Wasser samt Gottes Wort, auch wenn er sie beide nicht empfängt, wie er sollte. Entsprechend empfangen diejenigen, die unwürdig zum Abendmahl gehen, das gültige, wahre Sakrament, auch wenn sie nicht glauben. Also siehst du, dass der Einwand der Rottengeister nichts taugt. Denn, wie gesagt, selbst wenn die Kinder nicht glaubten, was doch nicht so ist (wie eben bewiesen), so wäre doch die Taufe gültig; und niemand soll die als Kinder Getauften noch einmal taufen. Entsprechend würde auch das Abendmahl nicht beschädigt oder unwirksam, wenn jemand mit bösem Vorsatz hinginge, und es wäre nicht zu dulden, dass er es wegen des zuvor geschehenen Missbrauchs in der gleichen Stunde noch einmal empfinge, als hätte er vorher das Sakrament nicht wirklich empfangen. Denn das bedeutete, das Sakrament aufs Höchste zu lästern und zu schänden. Wie kämen wir dazu, dass Gottes Wort und Anordnung darum unrecht sein und nichts gelten sollten, weil wir sie nicht bestimmungsgemäß gebrauchen? Darum sage ich: Hast du [damals, als du getauft wurdest,] nicht geglaubt, so glaube jetzt, und sprich folgendermaßen: »Die Taufe ist sehr wohl gültig gewesen, ich habe sie aber leider nicht bestimmungsgemäß empfangen.« Denn auch ich selbst und alle, die sich taufen lassen, müssen vor Gott folgendermaßen sprechen: »Ich komme her in meinem Glauben und auch in dem der anderen,102 dennoch kann ich nicht darauf bauen, dass ich glaube und viele Leute für mich bitten, sondern darauf baue ich, dass es dein Wort und Befehl ist«, ebenso wie ich zum Abendmahl nicht auf meinen Glauben hin gehe, sondern auf Christi Wort hin. Ich mag stark oder schwach sein, das überlasse ich Gott; das weiß ich aber, dass er mir befiehlt, hinzugehen, zu essen und zu trinken etc., und dass er mir seinen Leib und sein Blut schenkt, das wird mir nicht lügen noch trügen. Entsprechend halten wir es auch mit der Kindertaufe; das Kind tragen wir herbei in der Meinung und Hoffnung, dass es glaube, und bitten, dass ihm Gott den Glauben geben möge, aber darauf taufen wir es nicht, sondern allein darauf, dass Gott es befohlen hat. Warum das? Weil wir wissen, dass Gott nicht lügt; ich und mein Nächster und kurzum gemäß durchwegs um Wiedertaufen, weil die Erwachsenen, die sich dort taufen ließen, alle bereits einmal als Kinder getauft worden waren. 102. Vgl. Mk 2,3–5.

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alle Menschen müssen sich täuschen und trügen, aber Gottes Wort kann nicht trügen. Darum sind es wahrlich vermessene, tölpelhafte Geister, die so folgern und schließen: Wo der Glaube nicht recht ist, da muss auch die Taufe nicht gültig sein. So könnte ich schlussfolgern: Wenn ich nicht glaube, so ist Christus nichts, oder: Wenn ich nicht gehorsam bin, so sind Vater, Mutter und Obrigkeit nichts. Ist das ein logischer Schluss: Wenn jemand nicht tut, was er tun soll, so soll darum auch die Sache selbst, auf die er sich bezieht, nichts sein oder gelten? Lieber, schließe vielmehr im Gegenteil so: Eben darum ist die Taufe etwas und gültig, weil man sie unrecht empfangen hat. Denn wenn sie an sich nicht gültig wäre, könnte man sie nicht missbrauchen oder sich daran versündigen. Es heißt: »Abusus non tollit, sed confirmat substantiam«, »Missbrauch nimmt die eigentliche Beschaffenheit nicht hinweg, sondern bestätigt sie«.103 Denn Gold bleibt nichtsdestoweniger Gold, auch wenn es eine Hure mit Sünden und Schanden trägt. Darum sei abschließend festgestellt, dass die Taufe allezeit uneingeschränkt gültig bleibt, selbst wenn nur ein einziger Mensch getauft würde und dieser noch dazu nicht rechtschaffen glaubte. Denn Gottes Anordnung und sein Wort lassen sich nicht von Menschen umwandeln oder ändern. Sie aber, die Schwarmgeister, sind so verblendet, dass sie Gottes Wort und Gebot nicht sehen und darum die Taufe für nichts weiter halten als für Wasser, wie es auch in einem Bach oder einem Kochtopf vorkommt, und ebenso achten sie die Vertreter der Obrigkeit nicht höher als andere Menschen; und weil sie weder Glauben noch Gehorsam sehen können, soll es sie auch an sich gar nicht geben. Da lauert ein heimtückischer, aufrührerischer Teufel, der gerne die Krone von der Obrigkeit risse, dass man sie danach mit Füßen träte, und der uns gern alle Gotteswerke und -anordnungen verkehren und zunichte machen würde. Darum müssen wir wachsam und gerüstet sein und uns nicht von dem Wort wegweisen und abwenden lassen, damit wir die Taufe nicht ein bloßes Zeichen sein lassen, wie die Schwärmer irrigerweise meinen. Zum Schluss muss man auch wissen, was die Taufe bedeutet und warum Gott gerade diese äußerliche Zeichenhandlung dem Sakrament

103. Rechtssprichwort.

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zugeordnet hat, durch das wir in die Christenheit aufgenommen werden. Das Werk aber oder die Handlung bestehen darin, dass man uns ins Wasser hineinsenkt, bis es uns vollständig bedeckt, und uns anschließend wieder herauszieht.104 Diese beiden Teile, unter die Wasseroberfläche zu sinken und wieder heraufzukommen, verdeutlichen die Kraft und die Wirkung der Taufe, nämlich nichts anderes als die Tötung des alten Adam und danach die Auferstehung des neuen Menschen. Beides vollzieht sich unser Leben lang in uns, so dass ein christliches Leben nichts anderes ist als eine tägliche Taufe, einmal angefangen und immer fortgesetzt. Denn es muss ununterbrochen daran gearbeitet werden, dass man ausfegt, was zum alten Adam gehört, damit hervorkommt, was zum neuen gehört. Was ist denn der alte Mensch? Das ist er, was uns angeboren ist von Adam105 her: zornig, gehässig, neidisch, unkeusch, geizig, faul, hochmütig, ja ungläubig, mit allen Lastern erfüllt, und was von Natur nichts Gutes an sich hat. Wenn wir nun unter Christi Herrschaft kommen, soll dies täglich nachlassen, so dass wir mit der Zeit immer milder, geduldiger und sanftmütiger werden und dem Geiz, Hass, Neid und Hochmut immer mehr Abbruch tun. Das ist der richtige Gebrauch der Taufe bei den Christen, den die Wassertaufe andeutet. Wo dies nun nicht vor sich geht, sondern dem alten Menschen die Zügel locker gelassen werden, so dass er nur umso stärker wird, da kann nicht die Rede davon sein, dass die Taufe richtig gebraucht würde, sondern da arbeitet man gegen die Taufe. Denn die außerhalb von Christus sind, können nicht anders, als täglich schlimmer zu werden, wie auch das Sprichwort lautet und wie es der Wahrheit entspricht: »Immer je ärger, je länger, je böser.« Ist einer voriges Jahr hochmütig und geizig gewesen, so ist er dieses Jahr viel geiziger und hochmütiger, die Untugend wächst nämlich von Jugend auf mit ihm und greift immer weiter um sich. Ein Kleinkind hat keine besondere Untugend an sich, wenn es aber zum Jugendlichen heranwächst, wird dieser zügellos und unkeusch; kommt er zu seinem vollen Mannesalter, so fangen die wirklichen Laster an, je länger, umso mehr. Darum folgt der alte Mensch ungehindert

104. Die ursprüngliche Immersionstaufe (vollständiges Untertauchen des Täuflings), wie sie heute z. T. noch bei den Ostkirchen und in einigen Freikirchen und anderen Gruppierungen praktiziert wird, wurde im Laufe der Zeit durch die Infusionstaufe ersetzt, das Begießen des Täuflings mit Wasser. 105. Der Urmensch, der der Sünde verfiel. Vgl. Gen 3; 1 Kor 15,22.45–49.

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seiner Wesensart, wo man nicht mit der Kraft der Taufe dagegen angeht und ihn niederhält; wo jemand hingegen Christ geworden ist, da nimmt der alte Mensch so lange täglich ab, bis er völlig verschwindet. Das heißt recht in die Taufe kriechen und täglich wieder hervorkommen. Also ist das äußerliche Zeichen nicht nur dazu bestimmt, um kraftvoll zu wirken, sondern auch, um etwas zu verdeutlichen. Wo nun der Glaube vorhanden ist mit seinen Früchten, da handelt es sich nicht um eine inhaltsleere Zeremonie, sondern die Wirkung ist dabei. Wo aber der Glaube nicht ist, da bleibt es ein bloßes fruchtloses Zeichen. Und hier erkennst du, dass die Taufe mit ihrer Wirkung und ihrer Bedeutung auch das sogenannte dritte Sakrament, die Buße, einschließt, die eigentlich nichts anderes ist als die Taufe. Denn was heißt Buße anderes, als den alten Menschen mit Ernst anzugreifen und in ein neues Leben einzutreten? Wenn du darum in der Buße lebst, so bewegst du dich auch in der Taufe, die dieses neue Leben nicht nur bedeutet, sondern auch bewirkt, anfängt und vorantreibt; denn es wird darin Gnade, Geist und Kraft gegeben, um den alten Menschen zu unterdrücken, damit der neue hervorkommen und stark werden kann. Darum bleibt die Taufe dauerhaft bestehen, und auch wenn jemand davon abfällt und sündigt, so behalten wir doch immer eine Zugangsmöglichkeit dazu, dass man nämlich den alten Menschen wieder überwindet und hinter sich lässt. Aber mit dem Wasser braucht man uns nicht noch einmal zu begießen. Denn wenn man sich auch hundertmal ins Wasser senken ließe, so ist es doch nur eine einzige Taufe. Die Wirkung aber und die Bedeutung bleiben bestehen. Also ist die Buße nichts anderes als eine Rückkehr und Wiederannäherung an die Taufe, womit man das wiederaufnimmt und fortsetzt, was man zuvor angefangen, aber unterbrochen hat. Das sage ich darum, damit man nicht auf den Irrtum verfällt, in dem wir uns lange befunden haben und wähnten, die Taufe sei hinfällig geworden und nicht mehr zu gebrauchen, nachdem man wieder in Sünde gefallen ist; diese Auffassung ergibt sich, wenn man die Taufe nur im Hinblick auf die einmal geschehene Handlung betrachtet. Das kam daher, dass der heilige Hieronymus106 geschrieben hat, die Buße 106. Kirchenvater, geb. ca. 347, gest. 419/420 in Bethlehem, Übersetzer theologischer Werke aus dem Griechischen ins Lateinische, Bibelkommentator und -übersetzer, Verfasser wissenschaftlich-theologischer und erbaulicher Werke.

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sei die zweite Planke, auf der wir weiterschwimmen und uns ans Ufer retten müssten, nachdem das Schiff zerschellt sei, auf dem wir unsere Reise antreten, wenn wir in die Christenheit hineinkommen.107 Dadurch wird der Gebrauch der Taufe beseitigt, weil sie uns scheinbar nichts mehr nützen kann. Diese Ansicht ist aber nicht richtig, weil das Schiff nicht zerbricht; denn es ist (wie gesagt) Gottes Anordnung und nicht unsere Sache. Wohl kommt es vor, dass wir ausrutschen und von Bord fallen. Geht aber jemand über Bord, so sehe er zu, dass er wieder herbeischwimme und sich festhalte, bis er wieder hereinkommt und weiter mitfährt. Also erkennt man, wie kostbar und wichtig die Taufe ist, die uns dem Teufel aus dem Rachen reißt, uns Gott zu eigen macht, die Sünde eindämmt und wegnimmt, danach täglich den neuen Menschen stärkt und immer wirkt und bleibt, bis wir aus diesem Elend in die ewige Herrlichkeit kommen. Darum soll jeder die Taufe als sein alltägliches Gewand betrachten, in dem er auf Dauer umhergehen soll, damit er sich allezeit im Glauben und seinen Früchten antreffen lasse, um den alten Menschen zurückzudrängen und den neuen wachsen zu lassen. Denn wenn wir wirklich Christen sein wollen, dann müssen wir dasjenige tun, dessentwegen wir Christen sind. Wenn aber jemand davon abfällt, so komme er wieder herbei. Denn wie Christus, der Gnadenstuhl108 [vgl. Röm 3,25; Hebr 4,16], nicht verschwindet oder uns verbietet, zu ihm zurückzukehren, auch wenn wir sündigen, so bleiben auch sein gesamter Schatz und seine Gabe. Wie uns nun einmal in der Taufe Vergebung der Sünden zuteilgeworden ist, so bleibt sie noch täglich, solange wir leben, d. h. solange wir den alten Menschen am Hals mit uns herumschleppen.

107. Vgl. Hieronymus, Epistula 130 ad Demetriadem de servanda virginitate (PL 22, 1115). 108. Luthers Übersetzung für das Sühnmal (hebr. tr