Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß nach den finalistischen Straftatlehren und nach einer materialen Konzeption [1 ed.] 9783428478217, 9783428078219

138 6 31MB

German Pages 307 Year 1993

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß nach den finalistischen Straftatlehren und nach einer materialen Konzeption [1 ed.]
 9783428478217, 9783428078219

Citation preview

WOLFGANG RÖTTGER

Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß nach den flnalistischen Straftatlehren und nach einer materialen Konzeption

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. on!. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 82

Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß nach den finalistischen Straftatlehren und nach einer materialen Konzeption

Von

Wolfgang Röttger

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser, Hamburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Röttger, Wolfgang: Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluss nach den finalistischen Straftatlehren und nach einer materialen Konzeption / von Wolfgang Röttger. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 82) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07821-7 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07821-7

Vorwort Diese Abhandlung ist meine an einigen Stellen ergänzte Dissertation, die der Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg im Sommersemester 1991 angenommen hat. Literatur und Rechtsprechung wurden bis Ende Juli 1992 durchgesehen. Die Arbeit verfolgt das Ziel, durch die Kritik der vorherrschenden Konzeption der Unrechtsbegründung und der Unrechtsaufhebung hindurch die Strukturen eines materialen Verständnisses sichtbar zu machen, wie es im Straftatsystem Schmidhäusers entfaltet ist. Während in der deutschen Strafrechtswissenschaft allenthalben die Norm mit dem gesetzlichen Tatbestand in den Mittelpunkt gestellt wird, soll in der vorliegenden Schrift das Gegenmodell einer materialen Sicht, die sich an der Struktur des Handeins und den den Strafgesetzen zugrundeliegenden Werten orientiert, in seinen Grundlagen skizziert und in einigen Richtungen weitergeführt werden. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Eberhard Schmidhäuser, möchte ich herzlich danken. Er hat durch vielfältige und verständnisvolle Ermunterung wesentlich dazu beigetragen, daß diese Arbeit aus einem allzu anspruchsvollen Projekt entstehen konnte. Seine alle Freiheit lassende Förderung ging weit über das hinaus, was ein Student und Doktorand erwarten darf. In welchem Maße sein strafrechtliches Denken mich beeinflußt hat, mag diese Abhandlung dokumentieren.

Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................................................. 13

Erster Teil Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation

15

I.

Der Gedanke elementweiser Unrechtskompensation ...................... 15

11.

Anwendungen ................................................................... 18

III.

Wertörientierte Betrachtungsweise als Voraussetzung .................... 25

Zweiter Teil Die fmalistischen Unrechtslehren und die Konstruktion der elementweisen Unrechtskompensation I.

28

Die traditionelle und vorherrschende Lehre: vollständig verschiedenes Handlungsunrecht bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tat ............................................................ 29 A.

B.

Vorsätzliches Unrecht ................................................... 29 1.

Auf den rein subjektiv begründeten Handlungsunwert beschränktes Unrecht .................................... 29

2.

Rein subjektiver Handlungsunwert ............................. 31

3.

Objektiver und subjektiver Handlungsunwert ................. 38

Fahrlässiges Unrecht .................................................... 45 1.

Die Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung ................. 45

2.

Grundlagen einer angemessenen Konzeption ................. 58

8 11.

111.

Inhaltsverzeichnis

Neuere Konzeptionen: Teilidentität des vorsätzlichen und des fahrlässigen Handlungsunrechts .............................................. 62 A.

Vorsätzlicher und fahrlässiger subjektiver Handlungsunwert ......................................................... 62

B.

Objektiver Handlungsunwert ........................................... 74

Zusammenfassung .............................................................. 88

Dritter Teil Handlungstheoretische Vorüberlegungen

93

I.

Handlungserklärung durch Gründe .......................................... 95

11.

Handeln mit einer Absicht, Handeln als Reaktion und absichtliches Handeln ........................................................ 104

111.

Handeln ........................................................................ 111

IV. Beabsichtigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 118 V.

Praktisches Überlegen ........................................................ 124 A.

Von den bedingten Einstellungen zur Absicht: das Abwägen der Gründe ............................................. 124

B.

Das Überlegen, wie man ein Ziel erreichen kann ........... , ..... 129

C.

Die Auswahl eines von mehreren Wegen zum Ziel: Haupt- und Nebengründe(-absichten) ............................... 141

D.

Ein Prinzip praktischen Überlegens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 145

Vierter Teil Kritik des Gedankens elementweiser Unrechtskompensation I.

150

Unannehmbare Konsequenzen...... ...... .. ....... . . . . . . . . . . . . . . . .... . . .... 150 A.

Der Inhalt des subjektiven Notwehrelements ...................... 150

B.

Unrechtsausschluß und Unrechtsminderung bei der fahrlässigen Tat und die Gleichartigkeitsbedingung .............. 153

C.

Der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes ............................................... 160

Inhaltsverzeichnis

D. 11.

9

Umfassende Saldierung ............................................... 175

Unzutreffende Voraussetzungen ............................................ 185 A.

Strukturgleichheit von Unrechtstatbestand und Rechtfertigungsgrund ......................................................... 186

B.

Realisierung eines subjektiven Handlungswertes:die Art des subjektiven Rechtfertigungselements, insbesondere bei der Notwehr und beim Notstand ..................................... 190 1.

Rechtfertigung wegen Notwehr und wegen Notstands ohne subjektiven Handlungswert ................. 190

2.

Die Beschaffenheit des subjektiven Rechtfertigungselements ....................................... 194 Das subjektive Rechtfertigungselement bei der Notwehr und beim Notstand ................................... 207

3.

111. Ergebnis ........................................................................ 212

Fünfter Teil Zur Kritik des rmalistischen Ansatzes der UnrechtsbegrüDdung I.

213

Der verfehlte handlungstheoretische Ansatz.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 213 A.

Die Struktur des Handeins ............................................ 214

B.

Der Vorsatz als angeblich handlungsunwertbegründendes Datum .................................................................... 217

c.

1.

Das psychische Material des Vorsatzes (der Vorsätzlichkeit) ............................................ 217

2.

Die Art des handlungsunwertbegründenden subjektiven Datums ............................................. 220

3.

224 225 227 233

Nichtschlüssige Argumentationen ............................ a) Materiale Begründung ................................... b) Normtheoretische Begründung ......................... Zusammenfassung .....................................................

11.

Die verfehlte normtheoretische Sicht ...................................... 236

III.

Die Lehre von der DoppelsteIlung des Vorsatzes ........................ 241

10

Inhaltsverzeichnis

Sechster Teil Ein konsequent materiales Modell der Unrechtsbegriindung und des Unrechtsausschlusses

244

I.

Unrecht und Schuld in einem materialen Straftatsystem ................ 244

11.

Unrechtsbegründung ......................................................... 247

111.

A.

Die Arten der Unrechtsbegründung im Objektiven und Subjektiven .............................................................. 247

B.

Überlegungen zur Grundlegung ..................................... 261

Unrechtsaufhebung ........................................................... 274 A.

Das Prinzip der Rechtfertigung ...................................... 274

B.

Die zwei Klassen der Rechtfertigungsgründe ...................... 280 1.

Rechtfertigung aus überindividueller Zweckhaftigkeit. ................................................. 281

2.

Rechtfertigung aus individueller Zweckverfolgung ........ 284

Zusammenfassung .................................................................. 291

Verzeichnis der gebildeten Fälle ................................................ 294

Literaturverzeichnis ............................................................... 295

Abkürzungsverzeichnis und Hinweise Neben den üblichen werden folgende Abkürzungen verwendet: ed. et al. FS GS ibid. id. Le. sub

edidit, edidunt (herausgegeben von) et alii (und andere) Festschrift, Festgabe Gedächtnisschrift ibidem (an derselben Stelle) idem und die deklinierten Formen (derselbe u.s.w.) id est (das ist) unter

Paragraphen ohne Zusatz sind solche des StGB. Absätze von Paragraphen sind mit römischen Zahlen, Sätze mit arabischen Zahlen gekennzeichnet. Sofern nicht anders angegeben, stammen Übersetzungen vom Verfasser.

Einleitung In der heutigen Strafrechtswissenschaft ist das folgende Verständnis des Unrechtsausschlusses durch Rechtfertigung weit verbreitet, ja nahezu allgemein anerkannt; es wird allerdings zumeist mehr unausgesprochen vorausgesetzt als ausdrücklich dargetan: Die Unwertkomponenten des Unrechts sollen von werthaften Momenten, die durch einen Rechtfertigungsgrund umschrieben und folglich bei dessen Erfülltsein gegeben sind, ausgeglichen werden. Diese Konzeption hat nicht nur Auswirkungen im Bereich der Rechtfertigung, Z.B. bei der Behandlung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes. Sie bildet, in ihrem Anwendungsbereich erweitert um die Konstellation, daß die von einer Tat verwirklichten Wertmomente die für eine Rechtfertigung vorausgesetzte Höhe nicht erreichen (oder die Erforderlichkeitsbedingung der Rechtfertigung nicht eingehalten ist) außerdem die entscheidende Grundlage für die vorherrschende Auffassung der Entschuldigung, nach welcher der Schuldausschluß durch Entschuldigungsgründe wesentlich auf einer Unrechtsminderung durch solche werthaften Momente beruht. Wie genau die vollständige (im Fall der Rechtfertigung) oder teilweise (im Fall der Unrechtsreduzierung) Kompensation der Unrechtselemente durch werthafte, wertverwirklichende Momente zu verstehen ist, hängt von der Struktur des Unrechts ab. Den allgemein akzeptierten Unrechtskomponenten Handlungs- und Erfolgsunwert entsprechen nach der skizzierten Konzeption der elementweisen Unrechtskompensation Handlungs- und Erfolgswert als positive, wertverwirklichende Gegenstücke. Was die nähere Beschaffenheit des Handlungswertes angeht, zeigt sich eine spezifische Nähe des Gedankens der elementweisen Unrechtskompensation zur Lehre vom personalen Unrecht bzw. zum Finalismus l . Dem subjektiven Element,das, wie weithin anerkannt wird, Voraussetzung der Rechtfertigung ist2 , läßt sich nämlich auf der Basis des Finalismus der Vorsatz als der Träger des (subjektiven) HandlungsunDie Termini "Finalismus " , "fmalistische Straftatlehre" und "Lehre vom personalen Unrecht" sollen in gleicher Weise und Bedeutung den Oberbegriff der Lehren bezeichnen, die den Vorsatz als Unrechtselement auffassen und demgemäß vorsätzliche und fahrlässige Straftat bereits dem Unrecht nach unterscheiden. 2 Dazu, daß es eine Klasse von Rechtfertigungsgründen gibt, die kein subjektives Moment voraussetzen, unten 6. Teil sub III.

14

Einleitung

werts zuordnen. Nach anderen Straftatmodellen ist das psychische Material, das den Vorsatz ausmacht, hingegen erst für die Vorsätzlichkeit als Schuldform bedeutsam, so daß dem subjektiven Rechtfertigungselement keine bei jeder vorsätzlichen Tat gegebene Unrechtskomponente entspricht. Die Arbeit hat vornehmlich ein kritisches Ziel: Es soll gezeigt werden, daß der Unrechtsausschluß nicht nach dem Muster der elementweisen Aufhebung der Unrechtskomponenten verstanden werden kann und daß der finalistische Ansatz der Unrechtsbegründung verfehlt ist. Dabei beschränken die Überlegungen sich auf das Handlungsdelikt, weil das Unterlassungsdelikt Besonderheiten aufweist, deren Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Diese Begrenzung im Phänomenbereich erscheint legitim angesichts der wissenschaftlichen Diskussion über die Strukturen der Unrechtsbegründung und der Rechtfertigung, in der mehr oder weniger stillschweigend die Unterlassungstat ausgeblendet wird. Nach einer Darstellung und Analyse des Gedankens der elementweisen Unrechtskompensation im ersten Teil und der kritischen Untersuchung der verschiedenen finalistischen Unrechtskonzeptionen vor allem im Hinblick auf diesen Gedanken im zweiten Teil wird im vierten und fünften Teil versucht, die Konzeption der elementweisen Kompensation zu widerlegen und das finalistische Unrechtsmodell zurückzuweisen. Ein Teil dieser Argumentation macht Gebrauch von handlungstheoretischen Überlegungen; diese werden vorab als dritter Teil im Zusammenhang der Skizze einer Handlungstheorie gebracht, wodurch nicht nur das Verständnis erleichtert, sondern auch die Plausibilität der einzelnen Gedanken erhöht werden soll. Vorbereitet durch die im vierten und fünften Teil geleistete Kritik wird im abschließenden sechsten Teil ein konsequent wertorientiertes Modell der Unrechtsbegründung und des Unrechtsausschlusses vorgestellt.

Erster Teil

Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation I. Der Gedanke elementweiser Unrechtskompensation Man ist sich heute innerhalb des Finalismus', aber auch sonst2 weithin einig, daß das Unrecht des Handlungsdelikts sich aus Handlungs-und Erfolgsunwert zusammensetzt. Auf der Grundlage dieser auch hier geteilten Sicht der Struktur des Unrechts erscheint die in der heutigen Strafrechtslehre3 fast überall mehr oder weniger ausdrücklich vertretene Auffassung des Unrechtsausschlusses durch Rechtfertigung zunächst einleuchtend: Die Unrechtskomponenten sollen durch gewissermaßen spiegelbildliche Rechtfertigungskomponenten oder -elemente, die bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes begründet seien, je für sich in ihrem Unwert aufgewogen werden4 • Detaillierte Nachweise im 2. Teil. So etwa auch das Straftatmodell Schmidhäusers; näher dazu im 6. Teil sub 11. Anders, soweit ersichtlich, ausdrücklich nur Alwart GA 1983, 449 f., 454 f.; für die Unabhängigkeit der Voraussetzungen der Rechtfertigung von der Struktur der Unrechtsbegründung auch Langer 317 f. mit Fn. 146. Vgl. ferner auch Jakobs, AT 6158, der allerdings an anderer Stelle (AT 6159 und 12/64 a.E.) für eine Unrechtsminderung infolge partieller Rechtfertigung eintritt, und Gallas, FS Bockelmann 168, 173 ff., dessen Ausführungen zum Teil indessen auch in die Richtung der im Text vorgestellten Rechtfertigungskonzeption gehen (zu Gallas' Auffassung s. unten 2. Teil sub I A 3 in Fn. 45). 4 Besonders deutlich vor allem Zielinski 222 f., 229 ff. (besonders 232 mit Fn. 21), 250 ff., 266 f., 275, 289 mit Fn. 53, 54, 310; Stratenwerth: FS Schaffstein 178 ff.; AT Rn. 484, 486 ff.; 490,504; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 10 a, 13, 14,22; Wolter 38 ff., 134, 139 ff., 160 f., 166, 357 f., 362; Burgstaller: 175 ff.; JBI. 1980, 495; Ebert 56 ff.; Hellmann 31 f., 50 f.; Jungclaussen 127 f., 140 f., 164, 180; Steinbach 125, 134, 140 f., 145, 164 ff., 213, 239, 310, 350 ff. und passim. - Sodann Nowakowski: SchwZStr 65 (1950) 304; JBI. 1972, 28 Fn. 55; ÖJZ 1977, 574, 576 ff.; Kern ZStW 64 (1952) 255 ff., 266 ff., 287 f.; Noll: 45 ff.; ZStW 68 (1956) 181 ff.; SchwZStr 80 (1964) 165, 169 ff.; ZStW 77 (1965) 9, 13 f.; Annin Kaufmann, Unterlassungsdelikte 157; Krümpelmann: 27 ff.; GA 1968, 135 ff.; Rudolphi: FS Maurach 57 ff.; GS Schröder 75, 82 ff.; GS Armin Kaufmann 379 ff.; s. auch SK (Rudolphi) § 22 Rn. 29; Jescheck 292, 295; Schaffstein MDR 1951, 199; Lenckner: 35 ff.; FS Hellmuth Mayer 173 ff.; MaurachlZipj, AT 1 § 25126, 34; Ouo, AT2 154 (eindeutig); AT 210 f. (nicht mehr so eindeutig, aber implizit); Wessels, AT § 8 I 2; Bockelmann, AT 95; BockelmannlVolk, AT 92; LKJO (Vogler) § 22 Rn. 140; SK (Samson) vor § 32 Rn. 5, 24 f., 26; Prittwitz: GA 1980, 384 ff.; Jura 1984, 76; Geilen Jura 1981, 309; Günther 114 f., 244 f., 276, 325 f., 328 f. und passim; JR 2 3

16

1. Teil: Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation

Die Überzeugungskraft dieses Gedankens elementweiser Kompensation als Konzeption des Unrechtsausschlusses hängt daran, daß die für den Ausschluß des Unrechts angeblich erforderlichen werthaften Rechtfertigungselemente den unwerthaften Komponenten, die bei Gegebensein des Unrechtstatbestandes begründet sind, strukturell entsprechen, quasi deren positive Gegenstücke darstellen. Diese strukturelle Entsprechung oder Gleichartigkeit ist schon für das Vorverständnis einleuchtend: Man wird, wenn man seine wirtschaftliche Belastung ermitteln will, eine Verpflichtung zur Lieferung einer bestimmten Menge Erdbeeren nur um einen Anspruch auf Lieferung von Erdbeeren, nicht dagegen um einen Anspruch auf Lieferung von Äpfeln mindern. Die strukturelle Gleichartigkeit ist als Bedingung der Kompensation überdies zwingend, wenn man nicht die fahrlässige Straftat bei irrig angenommenen tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gerechtfertigt sein lassen will5 . Die wertverwirklichenden, werthaften Komponenten einer Tat müssen also denselben oder doch einen sehr ähnlichen Bezug auf einen Wert oder ein Rechtsgut, nur sozusagen mit entgegengesetztem Vorzeichen, wie ihre wertverletzenden, wertwidrigen Komponenten aufweisen, damit die Komponenten im Hinblick auf die Wert-Unwert-Dimension komensurabel sind und eine Kompensation oder Verrechnung möglich ist. Daraus folgt für eine solche Konzeption des Unrechtsausschlusses, daß die in Entsprechung zu den Unrechtskomponenten Handlungs- und Erfolgsunwert anzunehmenden Rechtfertigungskomponenten Handlungs- und Erfolgswert in ihrer Gestalt von der Struktur des Unrechts bestimmt werden und somit von Unrechtsmodell zu Unrechtsmodell differieren können6 • Außerdem ergibt sich für die Konstruktion der Kompensation, daß nur strukturell gleichartige Komponenten mit unrechtskompensierender Wirkung einander gegenübergestellt werden können; es sind also nicht die jeweils vorhandenen Unwertelemente mit allen jeweils vorhandenen Wertelementen zu saldieren, ohne daß es auf die strukturelle Entsprechung ankäme, so daß etwa ein Erfolgswert auch bei fehlendem Erfolgsunwert zu berücksichtigen wäre. Nach dem Gedanken der komponenten- oder elementweisen Kompensation sind also Unrechtsbegründung und durch Rechtfertigung begründeter Unrechtsausschluß gleich strukturiert.

1985, 270 ff.; TriJfterer: 72; FS Oehler 220 ff. Gedenfalls dem Ansatz nach, allerdings ausdrücklich nur für das österreichische Recht); Schflnemann GA 1985, 372 f., 374; Preisendanz vor § 1 Amn. VI 5 e; Roxin, AT I § 14/82, 93, 98. 5 Dazu unten 4. Teil sub I B. 6 Einzelheiten dazu unten im 2. Teil.

I. Der Gedanke elementweiser Unrechtskompensation

17

Der Gedanke der elementweisen Kompensation von Unrechtskomponenten läßt sich verallgemeinern und wird tatsächlich verallgemeinert zu einem allgemeinen Verfahren der Unrechtsbemessung, nach dem der Unrechtsausschluß nur noch als der Sonderfall erscheint, wo die von der Tat verwirklichten Wertmomente deren Unwertelemente überwiegen7 • Es sind unter Berücksichtigung struktureller Gleichartigkeit alle von einer Tat angeblich realisierten Handlungs- und Erfolgswerte den verwirklichten Unwerten gegenüberzustellen. Das Maß der Werte und Unwerte wird vor allem durch das Rechtsgut, auf das sie sich beziehen, bestimmt. Es wird gewissermaßen eine Bilanz8 der Wert- und Unwertelemente aufgestellt, und die jeweils gleichartigen Elemente werden in ihrem Wert und Unwert miteinander saldiert. Der Saldo, die Differenz9 , gibt dann den Ausschlag: Sind alle Unwerte vollständig ausgeglichen, ist das Unrecht aufgehoben und ist die Tat gerechtfertigt; sind Unwertkomponenten ganz oder zum Teil ohne kompensierende Wertelemente geblieben, ist das Unrecht nur herabgesetzt. Dabei ist freilich bereits an dieser Stelle zu beachten, daß ein Erfolgswert zur vollständigen Unwertkompensation und damit zur Rechtfertigung nicht erforderlich ist. Das entspricht nicht nur den gesetzlichen Regelungen der Notwehr und des rechtfertigenden Notstands in den §§ 32, 34, wonach es auf den (positiven) Erfolg der Angriffsbeendigung oder der Gefahrbeseitigung nicht ankommt, sondern auch dem Saldierungsgedanken: Wenn ein objektiver Handlungswert den (objektiven) Handlungsunwert im Sinne der Gefahrschaffung lO neutralisiert, hat sich in einem ggf. eingetretenen (negativen) Erfolg keine unerlaubt geschaffene Gefahr und damit schon gar kein Erfolgsunwert realisiertli. Das Verfahren des Vergleichens läßt sich als element- oder komponentenweises Saldieren bezeichnen. Nimmt man nicht die Tätigkeit des Beurteilers, 7 Explizit bereits früher Zimmerl 71 ff., 207, 212, von der Prämisse ausgehend, daß sich der tatsächliche Unrechtsgehalt nach der sozialen Wertigkeit der Tat bemesse (34 ff.), sowie heute etwa Zielinski 232 mit Fn. 21; implizit alle Vertreter der Lehre von der Unrechtsminderung aufgrund partieller Rechtfertigung (dazu unten bei und in Fn. 26 ff. und 43). 8 Dieser Ausdruck bei Zielinski 233, 235 f., 250 f. und passim. 9 Da es auf den Saldo aus Wert und Unwert auch für die Unrechtsreduzierung ankommt, trifft der dritte von Jakobs (AT 20/3) gegen die Lehre von der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung (dazu unten bei und in Fn. 26 ff.) vorgebrachte Einwand diese nicht. 10 Ein objektiver Handlungsunwert und entsprechend ein objektiver Handlungswert werden nicht durchweg anerkannt; s. unten im 2. Teil sub lAI und 2, zusammenfassend sub m. 11 Anders liegt es hingegen bei nur teilweise ausgeglichenem Handlungsunwert, nach der Lehre von der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung (dazu sogleich sub 11 bei Fn. 26 ff.) also in den Entschuldigungsfällen: Der in dieser Konstellation verbleibende Handlungsunwert ermöglicht es, einen Erfolg zur unerlaubten, unwerthaften Handlung zuzurechnen; ein etwaiger Erfolgsunwert kann daher auch mit einem etwa vorhandenem Erfolgswert saldiert werden. Zu beiden Konstellationen, derjenigen der vollständigen und derjenigen der partiellen Kompensation des Handlungsunwerts s. noch unten 2. Teil sub 11 A in Fn. 206. 2 RÖIl&'~

18

1. Teil: Die Konzeption des Umechtsausschlusses als elementweise Kompensation

sondern die rechtlichen Gegebenheiten und das Resultat in den Blick, erscheint der Ausdruck "element- oder komponentenweise (vollständige oder partielle) Kompensation" natürlicher. Hier wie sonst in dieser Arbeit werden beide Termini (und zwar sowohl mit als auch ohne Adjektiv) in gleicher Bedeutung verwendet. Ersichtlich liegt dem Saldierungsverfahren als Grundsatz der Rechtfertigung des Handlungsdelikts, auf das sich diese Untersuchung beschränkt, das Prinzip zugrunde, daß das Unrecht ausgeschlossen ist, wenn ein dem verletzten Rechtsgutsanspruch vorgehender Rechtsgutsanspruch beachtet oder - mit anderen Worten - einem überwiegenden Interesse gedient wird 12 : Der Gedanke der elementweisen Kompensation verlangt für die Beachtung des vorrangigen Anspruchs, daß auf ihn bezogene Handlungs- und ggf. Erfolgswerte die Handlungs- und ggf. Erfolgsunwerte übertreffen. Das (angebliche) Rechtfertigungsprinzip des mangelnden Interesses, das man anerkennen muß, wenn man z.B. die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund begreifen Will l3 , hat hier keinen Platz. Denn weder stellt ein objektiv von einer beachtlichen Einwilligung gedecktes Handeln für sich genommen eine wertvolle Tätigkeit dar, noch ist das Resultat eines solchen Handeins allein deshalb, weil es von dem Einwilligenden gewollt ist, positiv zu bewerten, weshalb ein objektiv darauf gerichtetes Handeln keinen Wert realisieren kann; und es ist nicht ersichtlich, worin das Wertvolle eines Handeins in Kenntnis oder aufgrund einer Einwilligung liegen könnte 14 •

11. Anwendungen Daß der Unrechtsausschluß im Sinne einer elementweisen Kompensation der Unrechtselemente verstanden wird, belegen die Stellungnahmen von Vertretern dieses Gedankens zu drei Problemen aus dem Bereich der Rechtfertigung, die mit sich aus dem Kompensationsgedanken jeweils ergebenden Lö12 Etwa Schmidhäuser: AT 9/4, 14 f.; StB 6/1, 16 ff.; Rudolphi, GS Armin Kaufmann 392 f.; vgl. z.B. auch S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 7, 13, der aber noch das Prinzip des mangelnden Interesses anerkennt. 13 So z.B. KohlrauschlLange Systematische Vorbemerkung 111 2 b; Blei, AT 130 f.; Dreher, FS Heinitz 218 f.; Lenckner 134 f.; S/S (Lenckner) wie vorige Note; Eben 61,74 ff. 14 Es werden also von dem Titer, der mit Einwilligung des Verletzten handelt, weder ein Tätigkeitswen (als eine Form des objektiven Handlungsunwerts), noch ein Erfolgswen, noch ein Chancenwen (als die andere Form des objektiven Handlungswerts), noch ein subjektiver Handlungswen verwirklicht. Zu diesen angeblichen, von den Venretern des Gedankens elementweiser Kompensation anzuerkennenden wenhaftenMomenten. s. näher unter 2. Teil, besonders sub I A 3 bei Fn. 50 ff., zusammenfassend sub 111; zur Kritik s. den 4. Teil.

11. Anwendungen

19

sungen übereinstimmen. Zur Frage der Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements wird vorgetragen, daß es zur Rechtfertigung stets eines subjektiven Elements bedürfe, damit der subjektive (oder subjektiv geprägte l5 ) Handlungsunwert aufgehoben sei 16, und zwar durch den im Handeln mit dem subjektiven Rechtfertigungselement liegenden (subjektiven I7) Handlungswert. Im Falle der Putativrechtfertigung (verstanden als irrige Annahme rechtfertigender Umstände) soll eine Vorsatztat ausscheiden und nur ein Fahrlässigkeitsdelikt in Frage kommen l8 ; das ist vom Boden des Kompensationsgedankens aus folgerichtig, weil der mit der subjektiven Rechtfertigungsseite gegebene (subjektive) Handlungswert 19 den (subjektiven) Handlungsunwert20 der Vorsatztat neutralisiert21 • In der Konstellation, daß der Täter bei Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen, aber ohne subjektives Rechtfertigungselement handelt, will man wegen (untauglichen) Versuchs strafen, was überwiegend mit einer Analogie zugunsten des Täters begründet wird, der anderenfalls (d.h. wenn man keinen Versuch annehme) wegen vollendeter Tat zu bestrafen sei22 ; auch das stimmt mit der Kompensati15 Zu den unterschiedlichen Auffassungen von der Struktur des Handlungsunwerts und der davon abhängigen des Handlungswerts s. unten den 2. Teil, zusammenfassend sub III. 16 Etwa Jescheck 295; Stratenwenh, AT Rn. 486 f.; Rudolphi, GS Schröder 75, 83 f.; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 13; SK (Samson) vor § 32 Rn. 23 f.; Burgstaller JBl 1980, 495; Wolter 134 Fn. 284; MaurachlZipf, AT 1 § 25/26; WesseIs, AT § 8 I 2; Eben 57. 17 Wie Fn. 15. 18 Dazu eingehend unten 4. Teil sub I C. 19 Wie Fn. 15. 20 Wie Fn. 15. 21 Wie Fn. 18. 22 Schaffstein MDR 1951, 199; Lenckner: 192 ff.; FS Hellmuth Mayer 175; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 15; Rudolphi, FS Maurach 58; SK (Rudolphi) § 22 Rn. 29; (Samson) vor § 32 Rn. 24; Stratenwenh: FS Schaffstein 179, 189; AT Rn. 493 f.; Burgstaller 177 f.; Wolter 134 f., 166; MaurachIZipf § 25/34; Roxin, AT I § 14/101 f.; Bockelmann, AT 205; BockelmannlVolk, AT 207; Blei, AT 132, 152; LKlO (Vogler) § 22 Rn. 140; Otto, AT 277; Jescheck 295 f.; Wessels, AT § 8 I 2; § 18 V B 3 a; Lackner § 22 Rn. 16; Eser I 112; Geilen Jura 1981, 309; Trijfterer 75, 81, 85, 86,95 (demgegenüber nimmt er in FS Oehler 224 f. für das österreichische Recht Vollendung an); Hellmann 31 f.; Steinbach 303 ff.; auch Frisch: 455 ff.; FS Lac1cner 138 ff. (s. unten 2. Teil sub 11 B bei Fn. 255 ff.); ferner KG GA 1975, 213. 215. Für dasselbe Ergebnis unabhängig vom Kompensationsgedanken: v. Weber 88,91 f.; KohlrauschlLange vor § 43 Anm. IV; Preisendanz vor § 1 Anm. VI5 e; Hruschka: GA 1980, 12 f., 16 f.; Strafrecht 203 ff.; Jakobs, AT 11122 f.; BaumannIWeber 292 f., 300; Herzberg JA 1986, 192 f.; Eben 134 f. Demgegenüber für vollendete Tat: Welzel 83 f., 92; Schmidhäuser: AT 9/17; StB 6/24; Maurach, AT 303 ff .; Maurach/Gössell7ipf, AT 2 § 40/10 ff.; Alwan GA 1983, 454 f.; Zielinski 263 ff.; Niese 17 f. mit Fn. 37; Hirsch 254 f.; LKlO (Hirsch) vor § 32 Rn. 59, 61; Gallas, FS Bockelmann 172 ff.; Paeffgen: 156 Fn. 382; GS Armin Kaufmann 422 ff.; Dreher § 32 Rn. 14; § 34 Rn. 18; DreherlTröndle § 32 Rn. 14, § 34 Rn. 18. Für Straflosigkeit (ausdrücklich nur) im Fall der Notwehr (bei fehlender Kenntnis objektiver Notwehrvoraussetzungen), weil es keine subjektive Notwehrvoraussetzung gebe, Spendei: FS Bockelmann 245 ff.; LKlO § 32 Rn. 138 ff.; FS Oehler 197 ff. (jeweils mit Nachweisen aus der älteren Judikatur und Literatur); ihm folgend mit verfehlter Begründung Rohrer JA 1986, 365 ff.

20

1. Teil: Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation

onsthese zusammen, weil Erfolgswert und (soweit ein solcher anerkannt wird23 ) objektiver Handlungswert, die durch die objektive Rechtfertigungsseite garantiert werden, die entsprechenden Unwerte ausgleichen und der verbleibende (subjektive) Handlungsunwert (nach der vorherrschenden subjektiven Versuchslehre24) Grundlage des (untauglichen) Versuchs ist25 • Der Gedanke der elementweisen Kompensation der Unrechtselemente hat eine weitere wichtige Anwendung: Er dient der in der Strafrechtswissenschaft zum Prinzip der Entschuldigung heute überwiegend vertretenen Lehre von der Unrechtsminderung (oder: der doppelten Schuldreduzierung) als Grundlage. Nach dieser Lehre beruhen die Entschuldigungsgründe, also vornehmlich der entschuldigende Notstand (§ 35), aber z.B. auch der Notwehrexzeß (§ 33), auf zwei Minderungen der Schuld, von denen die eine aus einer Unrechtsreduzierung resultieren und die andere unabhängig davon im Schuldbereich begründet sein so1126 • Die unabhängige Schuldminderung werde durch eine psychische Sonderlage, welche die Steuerungsfahigkeit einschränke, bewirkt, etwa beim entschuldigenden Notstand durch einen sog. außergewöhnlichen Motivationsdruck, der als auf den Motivationsprozeß wirkender besonVgl. Fn. 10 und den dortigen Hinweis auf den 2. Teil. Vgl. unten 4. Teil sub I C in Fn. 113. Vom Standpunkt der Kompensationsthese aus durchaus inkonsequent soll allerdings wegen vollendeter Tat zu strafen sein, wenn eine für die Rechtfertigung neben dem kognitiv verstandenen subjektiven Rechtfertigungselement erforderliche besondere Absicht fehle, z.B. bei der vorläufigen Festnahme nach § 127 I StPO die Absicht, die Strafverfolgung zu ermöglichen: Lampe GA 1978, 9 ff.; Stralenwerth, AT Rn. 495; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 16 f.; Wolter 134 Fn. 185; Rudolphi, GS Schröder 75 (anders - für Versuch - jetzt SK (Rudolphi) § 22 Rn. 29 a); Prittwitz GA 1980, 387 ff.; Schünemann GA 1985, 374; Ebert 57 f.; Roxin, AT I § 14/103; auch Frisch 452 mit Fn. 137, 460 f. mit Fn. 163 (anders, nämlich ausdrücklich für Versuch jetzt id., FS Lackner 147 f.). Zu dieser Konstellation der sog. unvollkommen zweiaktigen Rechtfertigungsgründe s. noch unten 4. Teil sub 11 B 2 bei Fn. 209 ff. 26 Annin Kaufmann: Normentheorie 204 f. (ohne Erwähnung der psychischen Ausnahmelage); Unterlassungsdelikte 156 ff.; ZStW 80 (1968) 45; FS Klug 290; Noll: ZStW 68 (1956) 187; ZStW 77 (1965) 17 f., 28 f.; Lenckner 35 ff.; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 118 a.E.; vor §§ 32 ff. Rn. 22, 111; § 35 Rn. 2, 16, 19 und passim; § 33 Rn. 2; Welzel178 f., auch 183, 186; Rudolphi: ZStW 78 (1966) 79 ff.; JuS 1969, 462 f.; FS Welzel 630 f.; SK (Rudolphi) vor § 19 Rn. 6; § 33 Rn. 1 f.; § 35 Rn. 2 ff.; Eggert 57 ff.; Vogler GA 1969, 105 f.; Küper: JuS 1971,477; JZ 1983, 89 (einschränkend jedoch 95 a.E.); JuS 1987, 91; JZ 1989, 626 f.; Ulsenheimer: 92 f.; GA 1972, 23; Jescheck 429, 430 f., 438, 444, 446 f.; Zielinski 232 mit Fn. 21, auch 289 mit Fn. 53, 54; Stralenwerth, AT Rn. 601 f. (einschränkend jedoch Rn. 603); LKJO (Hirsch) vor § 32 Rn. 183 a.E.; § 35 Rn. 3 f., 47, 73; Eser I 193 f., 198; Wessels, AT § 10 VII pr.; Woller 41; SchajJstein, FS Stutte 264; Sauren Jur;l 1988, 569 ff.; Otto 1ura 1987, 607; Bacigalupo, OS Armin Kaufmann 462 Cf., 466, 467, 471; Kny 1ura 1979, 324; Vormbaum 1uS 1980, 367; Triffterer 122; Baunnann, in: Seminar IV 229 f.; Frisch 470 mit Fn. 27, auch 369 mit Fn. 60; LKJO (Spendel) § 33 Rn. 39 f., 50; Günther: 115, 329; JR 1985, 272; in: Rechtfertigung und Entschuldigung I 405 Cf.; Krümpelmann GA 1983, 344IDit Fn. 31; Ebert 89, 92, 93; BockelmannIVolk, AT 127 f., 130. Vgl. ferner die Nachweise in Fn. 32. 23 24 25

11. Anwendungen

21

ders starker Gefahrabwendungswunsch zu verstehen ist, und bei der Notwehrüberschreitung durch die seelische Desorientierung infolge "Verwirrung, Furcht oder Schrecken" (§ 33)27. Die Unrechtsreduzierung, welche die abhängige, zweite Schuldminderung nach sich ziehen soll, wird unterschiedlich bestimmt. Teilweise wird zur Begründung lediglich auf die im Fall der Entschuldigungsgründe angeblich vorliegende partielle Rechtfertigung, das teilweise Erfülltsein der Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes, oder die Güter- und Interessenkollision verwiesen, ohne daß von der Tat realisierte Wertelemente dargetan werden28 • Andere Autoren sehen den Handlungsunwert der entschuldigten Tat als herabgesetzt an, z.B. beim Notstand durch das Handeln in Gefahrabwendungsabsicht29 , nehmen also (nur) einen durch die Tat verwirklichten (subjektiven) Handlungswert an. Sofern man innerhalb des Finalismus auch einen objektiven Handlungsunwert und dementsprechend einen objektiven Handlungswert anerkennt30 , müßte folgerichtig auch Z.B. beim entschuldigenden Notstand und bei der Notwehrüberschreitung ein durch die Schaffung einer Rettungsbzw. Abwehrchance begründeter objektiver Handlungswert angenommen werden, der den objektiven Handlungsunwert mindert. Schließlich wird zusätzlich zu der Reduzierung des Handlungsunrechts eine Herabsetzung des Erfolgsunrechts vertreten: Etwa beim Notstand liege in der Gefahrabwendung ein den Erfolgsunwert mindernder Erfolgswert und beim Notwehrexzeß verhindere der Täter durch die Angriffsabwehr eine Rechtsguts(objekt)verletzung und realisiere dadurch auch einen Erfolgswert31 • Während die These der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung von der Mehrzahl ihrer Vertreter zusammen mit der weiteren Prämisse einer selbständigen Schuldreduzierung zur Erklärung der Voraussetzungen und Ausnahmen von der Entschuldigung verwandt wird - nur in diesem Fall kann von einer Theorie der Entschuldigung die Rede sein -, wird von einigen Autoren die Herabsetzung des Unrechts lediglich als Kennzeichen jedenfalls etlicher Entschuldigungskonstellationen angeführt, ohne daß damit ein Erklärungsan-

27 Jescheck (431), Ulsenheimer (92 f.) und Wessels (AT § 10 VII pr.) stellen außerdem auf eine Gesinnungsbewertung ab; vgl. dazu unten in Fn. 41. 28 In diese Richtung vor allem Noll, Lenckner, Stratenwenh, Baurmann, Spendei, Frisch, Eben und Scluiffstein, sämtlich wie Fn. 26. 29 So Armin Kaufmann, Welzel, Zielinski, Hirsch, Sauren und Triffterer, sämtlich wie Fn.26. 30 Dazu unten 2. Teil sub I A 3, 11 und zusammenfassend III bei Fn. 304 ff. 31 In diesem Sinne Rudolphi, Eggen, Vogler, Ulsenheimer, Jescheck, Eser, Krey, Vormbaum und BockelmannlVolk, alle wie Fn. 26.

22

1. Teil: Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation

spruch erhoben wird32 • Dieser Unterschied kann hier jedoch unberucksichtigt bleiben, weil es in dieser Abhandlung nicht darum geht, die Erklärungskraft der Lehre von der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung zu untersuchen und diese Lehre anhand der Nonnierungen der Entschuldigungsgrunde zu überprufen33 . Von Interesse ist allein, daß auch die vorherrschende Lehrmeinung im Bereich der Entschuldigung auf der These von der elementweisen Unrechtskompensation basiert. Sieht man genauer hin, setzt die zentrale Prämisse der Lehre von der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung, nämlich die in dieser Arbeit zu diskutierende These der elementweisen Kompensation von Unrechtselementen, ihrerseits voraus, daß die Entschuldigungsgrunde wie Rechtfertigungsgrunde strukturiert sind. Die Gedanken, daß die Unrechtsminderung Kennzeichen und daß sie zentrales Erklärungsmitlel der Entschuldigung ist, beziehen ihre Plausibilität daher, daß vor allem die beiden hauptsächlichen Entschuldigungsgrunde des Notstands nach § 35 und der Notwehrüberschreitung nach § 33 auf den ersten Blick die gleiche Struktur wie die korrespondierenden Rechtfertigungsgrunde des rechtfertigenden Notstands (§ 34) und der Notwehr (§ 32) aufweisen. Entschuldigender Notstand und Notwehrexzeß bauen gleichsam auf rechtfertigendem Notstand und Notwehr auf, indem ihre gesetzlichen Schilderungen einen Teil der Merkmale der Rechtfertigungsnonnen übernehmen; zugleich erreichen sie die Grenze der Rechtfertigung nicht: kein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses beim entschuldigenden Notstand, kein Einhalten der Notwehrgrenzen bei der Notwehrüberschreitung. Das Gesetz suggeriert daher, die Entschuldigungsgrunde als partielle, nicht vollständig erfüllte Rechtfertigungsgrunde aufzufassen. Nur wenn diese Ähnlichkeit in der Oberflächenstruktur sachlich fundiert ist - diese Voraussetzung zu diskutieren ist hier nicht der Ort -, kann der Gedanke der Rechtfertigung durch elementweise Kompensation der Unrechtselemente in verallgemeinerter Fonn auf die Entschuldigungsgrunde angewandt werden. Die hier auch "Kompensationsgedanke" genannte verallgemeinerte Version, daß den wertverletzenden Komponenten einer Tat ihre wertverwirk32 Roxin: AT I § 7177; § 22/9 f., 71 f.; Kriminalpolitik 43, 47 Fn. 11; FS Schaffstein 115 f.; FS Bockelmann 288; Jakobs, AT 20/4; Timpe: 293 f.; JuS 1984, 861; vgl. auch Küper JZ 1983, 95 a.E.; Schiinemonn GA 1986, 301. 33 Diese Lehre wird für den entschuldigenden Notstand nach § 35 abgelehnt von Bemsmonn 205 ff. (am eingehendsten); Neumtl1III 210 ff.; Hefermehl 68 ff.; Jakobs, AT 20/3; Timpe: 289 ff., 298 Fn.76; JuS 1984, 861; Roxin JA 1990, 98 f.; kritisch hinsichtlich § 33 (Notwehrexzeß): Fischer 76 f.; Roxin: AT I § 22171 f.; FS Schaffstein 115 f.; Jakobs, AT 20/28 Fn. 44; Timpe JuS 1985, 118 f.; prinzipielle Ablehnung bei Schmidhäuser: AT 11/6; StB 8/10; Achenbach JR 1975, 494; Hruschka, Strafrecht 367; Lugert 93 ff., 101.

11. Anwendungen

23

lichenden Komponenten mit kompensierender Wirkung gegenüberzustellen sind, führt dann zu der These von der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung: In den Fällen der (angeblich wie Rechtfertigungsgründe aufgebauten) Entschuldigungsgründe gleichen die (angeblich) realisierten Wertelemente den Unwert zwar nicht aus, setzen ihn jedoch erheblich herab. Die Lehre von der Unrechtsminderung (oder: der doppelten Schuldreduzierung) bei der Entschuldigung ergibt sich, wenn man zu der genannten These zwei weitere Prämissen hinzunimmt. Die Schuld des entschuldigten Täters ist infolge des (angeblich) herabgesetzten Unrechts verringert34 , wenn die Schuld nicht nur für sich35 , sondern auch in Abhängigkeit vom Maß des Unrechts quantiflZierbar ist36 • Die zweite, vom Unrecht unabhängige Schuldminderung aufgrund der durch den besonderen seelischen Zustand des entschuldigten Täters zwar nicht ausgeschlossenen, aber erheblich eingeschränkten Fähigkeit zur Rechtsbefolgung setzt den vorherrschenden psychologisch-normativen Schuldbegriff voraus. Denn damit eine derartige Erschwerung der normgemäßen Willensbildung für die Schuld überhaupt relevant ist, muß diese entsprechend psychologisierend verstanden werden. Das tut die heute vorherrschende normative Schuldlehre in der Tat, indem sie vom Unrecht auf die Schuld blickt37 und in der Schuld nach der Vermeidbarkeit des Unrechts fragt. Neben die formal-normative Seite der Schuld als Vorwertbarkeit der Willensbildung und der Tat tritt als materialer Grund, weshalb dem Täter seine rechtswidrige Tat vorgeworfen wird, das "Dafür-Können" des Täters für seine Willensbildung und seine Tat; die Schuld bestehe darin, daß der Täter sich gegen das Recht entschieden habe, obgleich er zu einer anderen Entscheidung imstande war, weil er nämlich bei Begehung der Tat in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, 34 Zumindest ausdrücklich nur für einen speziell im Schuldbereich gründenden Schuldminderungsgrund Wetzel 178 f.; Triffterer 122; Wessels, AT § 10 VII pr.; Eser I 193 f.; Schaffstein, FS Stutte 264. 35 So bereits Frank, FS Gießen 523 ff.; Goldschmidt, FS Frank I 456 ff.; ferner etwa Gallas ZStW 67 (1955) 45 f.; Maihofer, FS Hellmuth Mayer 192 ff., 210 ff.; Maurach, AT 419; Schmidhäuser: Gesinnungsmerkmale 197 ff.; AT 10/28, 116 ff.; 1117; StB 4126, 28; 7/35, 124 ff.; 8/5; Baumann 657 f.; BaumannIWeber 626 f.; s. auch Jescheck 384; Jakobs, AT 17/46. 36 Besonders eingehend bereits Zimmerl 207 ff.; ferner etwa Frank vor § 51 Anm. 11 1; Nowakowski SchwZStr 65 (1950) 304 f.; Armin Kaujmann: Normentheorie 194, 199 ff.; Unterlassungsdelikte 156 f.; Noll: 46; ZStW 68 (1956) 185; SchwZStr 80 (1964) 169; Lenckner 38; Krümpelmann: 63, 98 ff.; GA 1968, 135 ff.; Jescheck 387; Küper, GA 1968, 328; Jakobs, AT 17/44, 47 (implizit mit seiner Lehre, daß das Unrecht Teil des Schuldtatbestandes sei); vgl. auch Gallas ZStW 67 (1955) 29 f., 45; Welzel 165; Rudolphi ZStW 78 (1966) 84; SK (Rudolphi) vor § 19 Rn. 2. 37 Zu den die Schuldkonzeptionen charakterisierenden Blickrichtungen von der Schuld auf das Unrecht und vom Unrecht auf die Schuld s. Schmidhiiuser, FS Jescheck 488 f., 497.

24

1. Teil: Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation

d.h. sich gegen die Tat zu entscheiden38 • Entscheidend ist, daß für die Frage nach der Schuldhaftigkeit auf ein psychologisierend verstandenes Können, die Fähigkeit zur Nonnbefolgung, sei es des Täters, sei es eines Durchschnittsbürgers "39. abgestellt wird. Das Wesen der Schuld wird nach dieser Auffassung in der Nichtausnutzung dieser Fähigkeit gesehen. Diese Schuldkonzeption wird von der Annahme bzw. Postulierung der selbständigen Schuldminderung bei entschuldigten Taten vorausgesetzt. Denn eine so verstandene Schuld ist reduziert, wenn die Fähigkeit zu nonngemäßer Willensbildung und zur Nonnbefolgung, das Sich-bestimmen-Iassen-Können durch das Recht"O, infolge einer psychischen Ausnahmelage eingeschränkt ist4 1• 11

Der Kompensationsgedanke findet in verallgemeinerter Fonn außerhalb des Bereichs der Entschuldigung auf die Konstellation nicht vollständig erfüllter Rechtfertigungsgründe Anwendung. Nach der Lehre von den Graden (oder der Quantifizierbarkeit) des Unrechts42 ist das Unrecht einer Tat bei nur partiell erfüllten Rechtfertigungsgründen gemindert, beispielsweise bei Fehlen der Erforderlichkeit im Fall der Notwehr und des Notstands oder im Fall des Nichteinhaltens der Interessenrelation des rechtfertigenden Notstands43 . Diese 38 Etwa BGHSt 2, 194, 200 f.; Welzel 138 ff.; Armin Kaufmann: Normentheorie 160 ff., 180 ff.; Unterlassungsdelikte 138 ff.; Brauneck GA 1959, 261 ff.; Maurach, AT 359 f., 410 ff.; MaurachfZip[, AT 1 § 30/7 f.; 31/19 f.; 35/1 ff.; Stratenwerth, AT Rn. 192 f., 507 ff.; Blei, AT 173 f., 180; Otto, AT 227 f.; SK (Rudolphi) vor § 19 Rn. 1; Hirsch ZStW 94 (1982) 255; LKlO (Hirsch) vor § 32 Rn. 170 f., 175 ff.; Lackner vor § 13 Rn. 23; Dreher vor § 13 Rn. 28 ff.; Dreherfl'röndle vor § 13 Rn. 28 ff.; auch Baumann 377; BaumannIWeber 365 f.; ferner Wessels, AT § 10 I 3, 11 2 und S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 118, 119, die die Schuld außerdem im Gesinnungsunwert sehen. 39 Vgl. z.B. Stratenwerth, AT Rn. 513; Jescheck 385 f.; LKJO (Jescheck) vor § 13 Rn. 71; SK (Rudolphi) vor § 19 Rn. I; Wolter 45 Fn. 110 (alle m.w.N.). 40 Sog. voluntatives im Gegensatz zum intellektuellen Schuldmoment, der Erkennbarkeit des Unrechts; s. zu dieser, die Alternative in § 20 aufnehmenden Unterscheidung der normativen Schuldlehre etwa Welzel 141; Stratentwerth, AT Rn. 193, 511; Jescheck 386 f.; LKJO (Hirsch) vor § 32 Rn. 178 ff. i.V.m. 175; Lackner § 20 Rn. 12. 41 Nicht einsichtig ist, weshalb aus dieser Behinderung der Fähigkeit zu normgemäßer Motivation folgen soll, daß die Gesinnung weniger tadelnswert sei (s. die Nachweise oben in Fn. 27). Denn für einen derartigen auf das geistige Verhalten des Täters abstellenden Schuldbegriff sind psychische Fakten als solche nicht relevant. Zu einem solchen Schuldbegriff s. unten 6. Teil sub I. 42 Nach Andeutungen insbesondere bei Zimmerl 71 ff., Welzel ZStW 58 (1939) 536 und Nowakowski SchwZStr 65 (1950) 304 begründet von Kern ZStW 64 (1952) 255 ff.; ferner vor allem Noll: 45 f.; ZStW 68 (1956) 181 f.; SchwZStR 80 (1964) 169 ff.; ZStW 77 (1965) 13; Lenckner 34 ff. 43 Zimmerl 71 ff., 207, 212; Kern ZStW 64 (1952) 266 ff.; Noll: 47; ZStW 68 (1956) 183 ff.; SchwZStr 80 (1964) 165, 169 ff.; ZStW 77 (1965) 9, 13 ff.; Lenckner 34 ff.; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 22; Krünlpelmann: 28 ff.; GA 1968, 135 ff.; Jescheck 299 f.; Wolter 160 mit Fn. 405; Günther 114 f.; JR 1985, 270 ff.; Jakobs, AT 6/59; 12/64 a.E.; Baumann 266; Baumann/Weber 257.

III. Wertorientierte Betrachtungsweise als Voraussetzung

25

These setzt voraus, daß sich der Unrechtsgehalt einer Tat aus der Saldierung der realisierten Unwerte mit den verwirklichten Werten ergibt44 •

m.

Wertorientierte Betrachtungsweise als Voraussetzung

Der Gedanke elementweiser Saldierung oder Kompensation als allgemeines Prinzip der Unrechtsbemessung u.a. in den Fällen der Rechtfertigung und der Entschuldigung erfordert eine materiale, wertorientierte Betrachtung: Es muß auf die von menschlichem Verhalten verletzten und verwirklichten Werte, also beim Handlungsdelikt auf die Handlungs- und (ggf.) Erfolgsunwerte und die Handlungs- und (ggf.) Erfolgswerte abgestellt werden. Während die Unrechtskompensation bei der Rechtfertigung beschrieben werden kann, indem man den gesetzlich vorausgesetzten objektiven und subjektiven Unrechtselementen die zumeist ebenfalls normierten objektiven und subjektiven Rechtfertigungselemente gegenüberstellt, genügt eine entsprechende formale Betrachtungsweise bei der Unrechtsminderung nicht. Denn der Gedanke der Unrechtsminderung (bzw. teilweisen Rechtfertigung) setzt die Graduierbarkeit des Unrechts voraus, die nur bei einer wertbezogenen Sicht des Unrechts möglich ist. Man muß deshalb einen Begriff davon haben, wie die Unrechtsaufhebung und -minderung zu konstruieren sind, d.h. welche Elemente des Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrundes mit welchen Unrechtskomponenten zu saldieren sind. Da es für die Unrechtsminderung als solche anders als bei der Unrechtsaufhebung an einer gesetzlich bestimmten Rechtsfolge fehlt, ist nämlich zunächst einmal unklar, welche und wie viele Rechtfertigungselemente oder solchen entsprechende Elemente eines Entschuldigungsgrundes eine wie große Minderung des Unrechts hervorrufen. Alle Auffassungen, die zur Begründung einer Unrechtsreduzierung lediglich auf das teil weise Erfülltsein eines Rechtfertigungsgrundes45 oder - beim Notstand - auf die Güterkollision verweisen46 , sind daher unzureichend. 44 Vgl. insbesondere Noll ZStW 68 (1956) 183 f.; SchwZStr 80 (1964) 165; ZStW 77 (1965) 9; Lenckner 34 ff. 45 Im übrigen ein Begriff, der selbst der Erläuterung bedarf. Soll er besagen, daß immerhin einige Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes "vollständig" erfüllt sein müssen? Oder müssen zwar alle Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes "im Ansatz" gegeben sein, sind aber dafür die Anforderungen bei den graduierbaren Voraussetzungen weniger streng? Und wie ist das Verhältnis der beiden Arten "partieller Rechtfertigung" beschaffen, wenn naheliegenderweise unterstellt wird, daß sie beide zur Umechtsminderung führen sollen: Müssen graduierbare Merkmale möglichst nahe an das für die Rechtfertigung zu fordernde Maß herameichen, wenn eine Voraussetzung eines Rechtfertigungsgrundes auch nicht ansatzweise gegeben ist? Schließlich ist der Gedanke einer Umechtsreduzierung bei teilweisem Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes keineswegs so einleuchtend, wie er auf den ersten Blick scheinen mag, wenn man die Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes betrachtet, bei denen die Rede, daß ihnen ein Sachverhalt mehr oder

26

1. Teil: Die Konzeption des Unrechtsausschlusses als elementweise Kompensation

Insbesondere bei den Entschuldigungsgründen kann man zur Begründung einer Unrechtsreduzierung nicht einfach auf deren objektive Voraussetzungen und auf den subjektiven Bezug auf diese abheben, weil gerade zu zeigen ist, inwiefern das Unrecht herabgesetzt ist. Während bei der Rechtfertigung feststeht, daß, wenn alle Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vorliegen, kein Unrecht mehr vorhanden ist, also auch alle seine Elemente in ihrem Unwert ausgeglichen sind, läßt das vollständige Erfülltsein eines Entschuldigungsgrundes nur den Schluß zu, daß die (Rechts-)Schuld ausgeschlossen ist, nicht hingegen den Schluß, daß auch das Unrecht gemindert ist. Das ist vielmehr zu begründen, und dazu bedarf es der Angabe solcher werthaften Momente, welche die Unrechtselemente teilweise zu kompensieren vermögen. Die Übereinstimmung mit den Rechtfertigungsgründen in der formalen Struktur (insbesondere bei § 35 und § 34) enthebt einen nicht etwa dieser Aufgabe, sondern erleichtert sie lediglich, indem sie es erlaubt, die Wertmomente von der Rechtfertigung auf die Entschuldigung zu übertragen. Sie fordert aber andererseits deren Konstruktion auch für die Rechtfertigung. Die Unrechts- und Rechtfertigungselemente können nicht einfach mit den Tatbestandsmerkmalen bzw. mit den (in der Regel gesetzlich fixierten) Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gleichgesetzt werden. Denn es ist keineswegs so, daß mit der Anzahl der erfüllten Merkmale des Unrechtstatbestandes das Unrecht zunimmt und mit Anzahl der vorliegenden Rechtfertigungsvoraussetzungen das Unrecht abnimmt. Es muß vielmehr dargetan werden, wie das Gegebensein einzelner im Unrechtstatbestand oder im Rechtfertigungsgrund umschriebener Umstände den Unwert oder den Wert des Verhaltens oder eines ihm nachfolgenden Ereignisses begründet oder verändert. Nur insofern dies der Fall ist, sind diese Momente oder - im Fall der behaupteten Unrechtsminderung - ihnen strukturelle entsprechende Umstände für das Maß des Unrechts relevant. Auch die vielfach zum Unrechtsausschluß bei der Rechtfertigung vertretene These, der Erfolgsunwert werde durch die objektiven Rechtfertigungselemente und der Handlungsunwert durch die subjektiven Rechtfertigungskomponenten ausgeglichen47 , bleibt einer formalen Sicht verhaftet, indem die werthafweniger entspricht, wenig sinnvoll ist: Soll etwa das Unrecht herabgesetzt sein, wenn ein gegenwärtiger rechtmiijJiger Angriff abgewehrt wird, es also an dem Notwehrmerkmal der Rechtswidrigkeit des Angriffs fehlt? Es ist daher in jedem Fall einer behaupteten Unrechtsreduzierung aufzuzeigen, auf welche Weise sie zustandekommen soll. 46 S. die Nachweise oben in Fn. 28. 47 Etwa Schaffstein MDR 1951, 199; Lenckner: 35 ff.; FS Hellmuth Mayer 174 f.; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 13 f.; Krümpelmann GA 1968, 135 ff.; Jescheck 292, 296; Rudolphi: FS Maurach 57 f.; GS Schröder 75, 82 ff.; s. auch SK (Rudolphi) § 22 Rn. 29 (anders

III. Wertorientierte Betrachtungsweise als Voraussetzung

27

ten Aspekte unbenannt bleiben. Wie sollten denn objektiv vorliegende Umstände, etwa ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff oder eine Notstandslage, als solche wertvoll sein48? Es muß dargelegt werden, inwiefern und warum ein Verhalten unter bestimmten Umständen oder mit bestimmten Eigenschaften werthaft ist und welche Komponenten des Unrechts durch die charakterisierten werthaften Aspekte aufgehoben oder in ihrem Unwertgehalt herabgesetzt werden. Dazu bedarf es entsprechend der allgemein anerkannten Unterscheidung von Handlungs- und Erfolgsunwert des Aufweises von Handlungs- und Erfolgswerten. Wie solche Handlungs- und Erfolgswerte nach den finalistischen Unrechtsmodellen beschaffen sind, ist im nächsten Teil zu untersuchen.

jetzt Rudolphi GS Armin Kaufmann 379 f., 381; s. dazu 2. Teil sub I A 3 bei und in Fn. 62); Burgstaller 175 ff.; Stratenwenh, AT Rn. 486 ff., 504; Prittwitz: GA 1980, 382 ff.; Jura 1984, 76; MaurachfZipj, AT 1 § 25/26, 34; Otto, AT2 154; Wessels, AT § 8 I 2; Triffterer 72; Eben 56 f. 48 So aber wohl Jescheck 443, 444 für den Notwehrexzeß: Das Handlungsunrecht werde auch durch die Notwehrlage herabgesetzt.

Zweiter Teil

Die rmalistischen Unrechtslehren und die Konstruktion der elementweisen Unrechtskompensation Entsprechend der Struktur des Unrechts variieren die unrechtskompensierenden Elemente. Die Kompensationsbedingung der Gleichartigkeit führt daher nicht nur dazu, gemäß den allgemein anerkannten und jedenfalls innerhalb des Finalismus einhellig zugrundegelegten Unrechtskomponenten des Handlungs- und des Erfolgsunwertes einen Handlungs- und einen Erfolgswert als unwertausgleichende Elemente anzunehmen; sie beeinflußt auch die Konstruktion der werthaften Komponenten: Die Beschaffenheit dieser Komponenten hängt von der Beschaffenheit der unwerthaften Elemente ab. Die Unterschiede auch innerhalb des Finalismus im Hinblick auf die Gestalt von Handlungs- und Erfolgsunwert wirken sich folglich auf die Beschaffenheit der entsprechenden Wertelemente und die Konstruktion von Unrechtsausschluß und -minderung aus. Diese Unterschiede machen es notwendig, die Spielarten des Finalismus genauer zu betrachten. Während nach dem herkömmlichen und noch heute ganz überwiegenden finalistischen Unrechtsmodell das Handlungsunrecht der fahrlässigen Straftat in einer Sorgfaltspflichtverletzung begründet ist und die finalistischen Unrechtskonzeptionen nur im Hinblick auf den Aufbau des vorsätzlichen Unrechts voneinander abweichen (dazu unten sub I), stimmen nach neueren Auffassungen vorsätzliches und fahrlässiges Unrecht im objektiven Handlungsunwert überein und differieren lediglich im subjektiven Handlungsunwert (dazu unten sub 11). Auch für diese Lehren gilt indessen die. Grundthese des Finalismus ' und der personalen Unrechtslehre, daß der Vorsatz jedenfalls auch' Unrechtselement ist und deshalb vorsätzliche und fahrlässige Straftat sich (vornehmlich) dem (Handlungs-)Unrecht nach unterscheiden2 • Zu der Lehre von der DoppelsteIlung des Vorsatzes im Unrecht und in der Schuld s. unten 5. Teil sub III. 2 Für alle Hirsch ZStW 93 (1981) 838 mit Fn. 36 i.V.m. 834 f. mit Fn.13 (umfassende Nachw.), zuletzt Roxin, AT I § 10/61 ff., 69, 88, 101 und passim.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

29

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre: vollständig verschiedenes Handlungsunrecht bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tat A. Vorsätzliches Unrecht Es sind drei Meinungen zur Struktur des Unrechts auseinanderzuhalten. Nach der einen, im folgenden als erster dargestellten Auffassung ist das Unrecht des Handlungsdelikts auf den Handlungsunwert beschränkt. Die beiden anderen rechnen auch den Erfolgsunwert zum Unrecht und unterscheiden sich in der Bestimmung von Handlungs- und Erfolgsunwert.

1. Auf den rein subjektiv begrüDdeteten Handlungsunwert beschränktes Unrecht Als Extremposition findet sich die Auffassung, daß der Erfolg keinerlei Bedeutung für das Unrecht habe, dieses sich vielmehr im Handlungsunwert, der als normwidriges finales Verhalten verstanden wird, erschöpfe und der Erfolgsunwert eine bloße Strafbarkeitsbedingung seP. Der Handlungsunwert des Vorsatzdelikts soll rein subjektiv durch den mit der Handlung verfolgten, auf die Realisierung eines rechtlich mißbilligten Sachverhalts gerichteten Zweck begründet werden. Dieses Unwertigkeitskriterium, die Finalität und Finalsteuerung, wird dann, wie auch sonst innerhalb des Finalismus' , mit dem Vorsatz (oder: der Vorsätzlichkeit) gleichgesetzt und als solches zum Träger des Handlungsunrechts gemacht: Eine Handlung soll auch im Hinblick auf die lediglich für möglich gehaltenen Umstände und Folgen final gesteuert sein, so daß - bei den Vorsatzdelikten - das unrechtmäßige Verhalten ein Handeln mit bestimmten (nämlich auf den Unwertsachverhalt oder das tatbestandsmäßige Verhalten bezogenen) Möglichkeitsvorstellungen ist4 , je nach

3 Am eingehendsten Zielinski 120 ff., 205 ff. (zustimmend Schaffstein GA 1975, 343); ferner Horn 70 ff., 78 ff.; SK (Horn) § 46 Rn. 46 f.; Suarez Mantes, FS Welzel 382 ff.; Darnseifer GS Arrnin Kaufmann 433 ff.; weniger eindeutig Lüderssen: ZStW 85 (1973) 292; FS Bocke!mann 182 ff.; vgl. auch Armin Kaufmann: Normentheorie 71 f., 156 ff.; FS Wetze! 403, 410 f. (der Erfo!gseintritt soll wohl nur bei der fahrlässigen Tat bloße Strafbarkeitsbedingung sein). 4 So z.B. Zielinski 84, 127, 159 ff. sowie 233 f., 268, 310 ganz entsprechend für das subjektive Rechtfertigungse!ement (mit der Einschränkung, daß der Täter sich der tatsächlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen sicher sein müsse: 298 f., 310 a.E.).

30

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

zugrundegelegtem Vorsatzbegriff jedenfalls dann, wenn noch eine voluntative oder emotionale Einstellung des Täters hinzukommt5 • Zur Unrechtskompensation ist der "rechtsgutsverletzenden Finalität" die "rechtsgutserhaltene Finalität"6, die durch das subjektive Rechtfertigungsoder Entschuldigungselement repräsentiert wird, gegenüberzustellen. Zu vergleichen sind der durch die subjektive Verletzungs tendenz begründete Handlungsunwert und der durch die subjektive Rettungstendenz, die werterhaltende Intention, begründete Handlungswert, also der unwertige und der wertvolle Sachverhalt, auf deren Realisierung die Absicht, mit der gehandelt wird, gerichtet ist. Nach dem Übergang von der Finalität, dem Handeln mit einer Absicht, zum Handeln mit einer Vorstellung7 ist dann der durch den Vorsatz begründete Unwert mit dem Wert zu saldieren, der durch den "Rechtfertigungs-" oder "Entschuldigungsvorsatz" - d.h. die auf einen rechtfertigenden oder entschuldigenden Sachverhalt8 bezogene Vorstellung (bei entsprechendem Vorsatzverständnis: begleitet von einer voluntativen oder emotionalen Einstellung) - begründet wird. Je nachdem, wie dieser Wertsaldo ausfallt und welches Ausmaß ein positiver Saldo haben muß, damit das Unrecht ausgeschlossen ist (vgl. das Merkmal des wesentlichen Überwiegens bei § 34), ist das Unrecht teilweise oder ganz kompensiert, wobei jedenfalls für die vollständige Kompensation, d.h. den Unrechtsausschluß, nötig ist, daß der realisierte Unwert zur Verwirklichung des Werts erforderlich, d.h. der geringstmögliche ist9 • Grundlage des Wertvergleichs sind aber allein die Vorstellungen des Täters, der Vorsatz und eine auf einen werthaften Sachverhalt gerichtete Vorstellung, also z.B. das subjektive Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungselement: Der Unrechtsbegründung ausschließlich im Subjektiven entspricht eine Unrechtskompensation, insbesondere ein Unrechtsausschluß, allein durch subjektive Momente 10 . 5 Eingehende Darstellung und Kritik der verschiedenen Auffassungen zum voluntativen oder emotionalen Vorsatzelement bei Schmidhiiuser JuS 1980, 242 ff. und Frisch 4 ff., 255 ff., 473 ff.; s. noch unten 5. Teil sub I B 1 bei Fn. 22 ff. 6 Diese Begriffe bei Zielinski 233; zum Saldierungsgedanken ibid. 222 f., 229 ff., 250 ff., 266 f., 275, 310. 7 Wie Fn. 4. 8 Genauer muß es natürlich heißen: "Die Vorstellung eines Sachverhalts, der den objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes entspricht". 9 Zielinski 225 ff., 235 ff., 266 f., 275; Zielinski will freilich die Erforderlichkeit auf der Grundlage der Tätervorstellungen beurteilen (248 ff., 267). 10 So ausdrücklich Zielinski 222 f., 232 f., 262 C., 266 C., 268, 310 und 232 mit Fn. 21, 289 mit Fn. 53, 54 zur Unrechtsminderung; ZieUnski will sogar die Erforderlichkeit auf der Grundlage der Tätervorstellung von den tatsächlichen Verhältnissen ermitteln (237 ff., 248 ff.). Ferner Suarez Mon/es, FS Welzel 386 ff. Das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungslage, die allerdings ex ante zu beurteilen sei, verlangt dagegen Armin Kaufmann (FS Welzel 398 f.): Der positiv zu wertende Handlungszweck mindere das Handlungsunrecht lediglich. Das bedeutet frei-

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

31

Die speziell gegen dieses Modell der Unrechtsbegrundung und der Unrechtsauthebung vorgebrachten - und durchschlagenden - Argumente ll sind hier nicht zu wiederholen. Die besonderen Probleme, die sich stellen, wenn man auf seiner Grundlage den Gedanken komponentenweiser Saldierung vertritt, werden unten (sub B 1) bei der Behandlung des Fahrlässigkeitsunrechts angesprochen. 2. Rein subjektiver Handlungsunwert Innerhalb der finalistischen Richtung, die Handlungs- und Erfolgsunwert als Unrechtskomponenten anerkennt, wird zum Teil der Handlungsunwert (jedenfalls der vorsätzlichen Tat) wie bei der soeben skizzierten Unrechtskonzeption als bloßer "Intentionsunwert" 12, als Betätigung eines bestimmten, nämlich auf die "Tatbestandsverwirklichung" (d.h. die Ausführung einer in lich bei einem rein subjektiv begründeten und das Unrecht erschöpfenden Handlungsunwert der Vorsatztat, wie ihn Kaufmann vertritt, die Abkehr vom Kompensationsgedanken. 11 Zur Kritik auf der Basis des Finalismus etwa Stratenwerth, FS Schaffstein 182 ff.; Gallas, FS Bockelmann 157 ff.; Wolter 113 ff., 127 ff. Schünemann: FS Schaffstein 171 ff.; JA 1975,511 f.; Krey ZStW 90 (1978) 204 f., 208; Schönebom GA 1981, 73 ff.; Paeffgen: 110 ff.; GS Armin Kaufmann 413 ff.; Hellmann 21 ff.; Jakobs, AT 6173; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 59; s. auch Krauß ZStW 76 (1964) 59 ff.; Lampe 93 ff. 12 Nach Rudolphi (FS Maurach 55, 58 f., 65), der, soweit ersichtlich, als erster das Gegenstück des von Hartmann (256 ff., 382 ff.) geprägten Begriffs "Intentionswert" in die strafrechtliche Unrechtslehre eingeführt hat, wird damit nicht nur das vorsätzliche (oder gar nur das absichtlich begangene), sondern auch das fahrlässige Unrecht erfaßt: Es gebe verschiedene Intensitätsgrade des Intendierens oder Erstrebens und dementsprechend auch ein fahrlässiges Erstreben eines unwerthaften Sachverhalts. Legt man die gewöhnliche Bedeutung von "intendieren", "beabsichtigen" und "erstreben" zugrunde - und eine andere wird nicht angeboten und ist auch nicht erkennbar -, ist eine solche Konzeption schon begrifflich ausgeschlossen: Einen Sachverhalt, den zu verwirklichen man sich nicht bewußt ist, beabsichtigt man nicht, mit dieser Handlung zu verwirklichen (die Reichweite des Begriffs des Intentionsunwerts einschränkend auch S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 56; Jakobs, AT 6176 Fn. 156). Und auch wenn man sich den Eintritt eines Sachverhalts als mit dem Vollzug einer Handlung verbunden vorstellt, beabsichtigt man - entgegen einer vielfach und auch von Rudolphi (ibid. 58 a.E. " ... , so ist sein Wille ... ") vertretenen Meinung - noch nicht, ihn herbeizuführen; dazu unten 3. Teil sub 11 bei Fn. 64 ff. und sub IV nach Fn. 139. Aber selbst wenn man mit dem Finalismus den gesamten Bereich des vom Täter Vorgestellten zu dem von ihm Gewollten, Erstrebten und Intendierten rechnete (zu diesem und gegen diesen Grundsatz des Finalismus unten 5. Teil sub I A bei Fn. 14 ff., B 2 bei Fn. 42 f. und B 3 a und b, insb. bei Fn. 72 ff.), bliebe die fahrlässige Tat außen vor. Man mag bei der Fahrlässigkeit zwar sagen, der Täter erstrebe den Sachverhalt (z.B.: mit der Hand auf den Tisch zu schlagen), den er erstrebt, fahrlässig, weil er dessen Unwert (z.B.: daß mit dem Schlagen die Tasse umgestoßen wird), nicht erkennt, obwohl er ihn erkennen konnte. Aber es ist geradezu absonderlich anzunehmen, in diesem Fall erstrebe der Täter den "Sachverhaltsunwert" (daß die Tasse umgestoßen wird), wenngleich mit geringer Intensität (vgl. jedoch Rudolphi, ibid. 55 a.E., 65 a.E.). Und die Sache verfehlend ist auch die Beschreibung, der "tatsächlich bewirkte Sachverhaltsunwert (lag) im Bereich des vom Täter mit seiner Handlung Beherrschbaren, Erstrebbaren" (Rudolphi, ibid. 59).

32

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

einem Tatbestand des Besonderen Teils beschriebenen Handlung) gerichteten Willens, verstanden, während alle objektiven oder äußeren die Unrechtsseite der Straftat bestimmenden Merkmale dem Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert, der die Rechtsgutsverletzung oder die Verwirklichung des objektiven Tatbestands darstellen soll, zugeordnet werden13 • Das ist insoweit unpräzise, als der Handlungsunwert, insofern er allgemein, also auch beim fahrlässigen Delikt, in einer rechtlich mißbilligten Willensbetätigung l4 (d.h. Handlung) und speziell bei den Vorsatztaten in der Betätigung eines bestimmten Willens, einer bestimmten Absicht (nämlich des Tatentschlusses) liegen soll, notwendig eine Handlung und damit etwas, das eine objektive Seite hat, voraussetzt. Gemeint ist deshalb, daß der Handlungsunwert (jedenfalls des vorsätzlichen Delikts) durch die subjektive Seite der Handlung, also eine bestimmte Absicht (die "Finalität") - und nach der Gleichsetzung des Finalismus': durch den

13 Schaffstein MDR 1951, 199; Rudolphi: FS Maurach 55, 57 f., 61, 64 f., 70; SK (Rudolphi) § 16 Rn. 12; vor § 22 Rn. 5 a, 14; § 22 Rn. 28 ff. (anders jetzt Rudolphi, GS Armin Kaufmann 379 f.; s. dazu sub 3 bei und in Fn. 42); Stratenwerth: FS Schaffstein 178 ff., 192 f.; AT Rn. 486, 489 f., 493, 504; Nowakowski: JBI. 1972, 26 f.; ÖJZ 1977, 574, 576, 578; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 54 ff., 60 f., auch 11, 18; SK (Samson) vor § 32 Rn. 5, 23 f., 26; Bockelmann, AT 53 f., 56, 95; BockelmannlVolk, AT 51 f., 54, 92; Triffterer 72; Burgstaller 175, 177. Auch die Konzeption Wolters (vor allem 25 f., 29, 46, 49 f., 65, 78, 113, 115 f., 121 f., 153, 174; so auch schon GA 1977, 267 f.; ZStW 89 (1977) 673 f., 681 f., 703) gehört trotz des Etiketts "objektiv-subjektives Handlungsunrecht" hierher. Denn das objektive Moment soll nichts anderes als die Täterplanverwirklichung, mit anderen Worten eine Handlung sein, während die subjektive Seite der Vorsatz oder die subjektive Fahrlässigkeit sei. Der Handlungsunwert des vorsätzlichen (Verletzungs-)Deliks werde dadurch begründet, daß sich der (auf die Schaffung eines adäquaten und rechtlich mißbilligten Risikos gerichtete) Vorsatz in einer Handlung manifestiere. Die (intendierte) rein subjektive Fassung des Handlungsunwerts wird insbesondere deutlich an dem normtheoretischen Ansatz mit der Verhaltensnorm als imperativischer Bestimmungsform (25 ff., 33, 46 f., 48 f., 115 f., 121 f., 132, 152 ff.), der Bestimmung des Handlungsunwerts als subjektive Beziehung zu einer bestimmt gearteten Handlung (etwa 116 mit Fn. 214) sowie der Gleichsetzung von Handlungsunwert und "Handlungsversuchsunwert" (z.B. 25), der auch beim untauglichen Versuch voll begründet sei (etwa 65, 78 f., 80 f., 113, 132, 137, 174, 177). Der "Eindruck der Gefährlichkeit" die "Störung des Rechtsfriedens", die beim untauglichen Versuch ebenfalls gegeben sei oder als zusätzliches Unrechts moment hinzukommen müsse - insofern bleibt Wolter undeutlich (s. 48, 78 ff., 137, 174) - stellt allenfalls ein zusätzliches Element dar, ändert aber an der rein subjektiven Fassung des Handlungsunwerts nichts. Zu Wolters Konzeption s. noch unten in Fn. 144. - Paeffgen (110 ff., etwa 123, 131; auch GS Armin Kaufmann 405 f. mit Fn. 33 und 36, 413 ff.) unterscheidet zwischen Intentionalitätsunwert, der allein in der wertwidrigen Finalität liegen, d.h. ohne Berücksichtigung der diese manifestierenden Handlung begründet sein soll, und Erfolgsunwert, der das gesamte äußere Tatgeschehen von der Objektivation der Finalität in einer Handlung bis zum ggf. eintretenden Erfolgsereignis umfasse. Es werden also die subjektiven Momente dem Intentionalitätsunwert und alle objektiven Momente deIp. Erfolgsunwert zugewiesen, und es kann keinen strafrechtlichen Intentionalitätsunwert ohne Erfolgsunwert geben. 14 Z.B. S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 52, 54; SK (Samson) vor § 32 Rn. 5, 23; Stratenwerth, AT Rn. 486; anders Paeffgen, wie vorige Fußnote.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

33

Vorsatz und delikts spezifische subjektive Unrechtselemente l5 - begründet sein soll. Die Neutralisierung des Handlungsunwerts ist wie bei der zuvor vorgestellten Unrechtsauffassung zu konstruieren l6 , wobei dafür - bis auf die Sonderfälle der sog. unvollkommen mehraktigen Rechtfertigungsgründe, z.B. der vorläufigen Festnahme nach § 127 I StPO - sichere Annahme der Umstände oder deren unsichere Annahme und das Vertrauen darauf, daß sie vorliegen, ausreichen soll 17 • Konsequenterweise ist dann auch zur Minderung des Handlungsunwerts im Bereich der Entschuldigung eine Absicht nicht erforderlich l8 • Zur Kompensation des Erfolgsunwerts ist diesem der durch die objektiven Rechtfertigungselemente, durch den äußeren, vom betreffenden Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vorausgesetzten Sachverhalt repräsentierte Erfolgswert gegenüberzustellen l9 • Kritisch ist zunächst zu bemerken, daß die genannte Abgrenzung zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert nichts anderes als die Trennung von subjektiver und objektiver Seite des Unrechts bedeutet, also auf die Unterscheidung

15 So für die hier beschriebene Richtung des Finalismus etwa S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 52, 54 ff.; SK: (Rudolphi) § 16 Rn. 3, 12; vor § 22 Rn. 5 a, 14; (Samson) vor § 32 Rn. 5, 26; Stratenwerth, AT Rn. 486, 498 f., 504; Wolter passim, etwa 154, 164. 16 Zum Kompensationsgedanken paßt es freilich nicht, wenn von dem Willen die Rede ist, der auf einen Erfolgswert und nicht auf einen Erfolgsunwert gerichtet sei (so Rudolphi, FS Maurach 57,58 f.; vgl. auch SK (Rudolphi) § 16 Rn. 12; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 19; Otto, AT 210. Der Vorsatz als psychisches Phänomen und der Handlungsunwert werden ja durch das subjektive Rechtfertigungselement nicht etwa inexistent, sondern lediglich in ihrem Unwert aufgewogen; so denn auch Rudolphi, GS Schröder 75, 83; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 13. 17 Stratenwerth, AT Rn. 489 ff., 504; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 14, 16; Rudolphi, GS Schröder 75, 83 f. (anders bzw. unklar noch FS Maurach 57 f.); SK (Samson) vor § 32 Rn. 23 f. (für Rechtfertigung nach § 34 verlangt Samson indessen einen Rechtfertigungswillen: ibid. vor § 32 Rn. 25; § 34 Rn. 24); s. eingehend unten 4. Teil sub 11 B 2. 18 Explizit S/S (Lenckner) § 35 Rn. 16; Rudolphi (SK § 35 Rn. 3) stellt allerdings beim entschuldigenden Notstand nach § 35 auf den ·Willen zur Erhaltung eines Rechtsguts· als handlungsunrechtsmindernd ab. Zu dieser rein subjektiven Handlungsunwert annehmenden Unwertkonzeption will es freilich nicht passen, wenn zur Begründung der Reduzierung des Handlungsunwerts bei § 35 auf die Güterkollision und damit auf einen doch wohl objektiven Umstand abgestellt wird (s. oben 1. Teil sub 11 bei und in Fn. 28). Das ist allenfalls für das sub 3 dargestellte Unrechtsmodell anhängig, s. unten sub 3 bei Fn. 44 f. 19 Rudolphi: FS Maurach 57 f.; GS Schröder 75, 83 f. (zu dem dort zwischen Erfolgs- und Handlungsunwert angesiedelten Gefährlichkeitsunwert und seiner Kompensation s. unten bei und in Fn. 40 und sub 3 bei und in Fn. 52 ff.; zu Rudolphis Auffassung bei der Entschuldigung s. oben 1. Teil sub 11 bei und in Fn. 31); S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 10 a, 13, 15; SK (Samson) vor § 32 Rn. 24; Stratenwerth: AT Rn. 486, 504; FS Schaffstein 178 ff.; Nowakowski: JBI. 1972,28 mit Fn. 55; ÖJZ 1977,574,576 ff.

3 Ränger

34

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

von subjektivem und objektivem Tatbestand hinausläuft2o • Zusammen mit der komplementären Unterscheidung von subjektiver und objektiver Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsseite als Handlungs- und Erfolgswert läßt das eine materiale Konstruktion der elementweisen Kompensation nicht ZU21 . Sieht man die Rechtsgutsverletzung nicht im Handlungsunwert, sondern im Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert, den man zugleich als Verwirklichung des objektiven Tatbestandes begreift, macht man sich ein adäquates Verständnis dieser ja notwendig wertbezogenen Begriffe und des Zusammenhangs zwischen ihnen unmöglich. Ein solches materiales Verständnis läßt sich am besten auf folgende Weise gewinnen. Fragt man, wonach sich im Strafrecht der Unwert einer Handlung als solcher, d.h. unabhängig von ihren Folgen, den von ihr verursachten weiteren Ereignissen, bemißt, wird man auf die Tatbestände des Besonderen Teils verwiesen, denen nach allgemeinem Verständnis bestimmte Rechtsgüter zugrunde liegen. Rechtsgüter sind - auch darüber besteht im wesentlichen Einigkeit - Werte, die Geltungs- oder Achtungsansprüche erheben und auf deren (unerlaubter) Mißachtung (oder: Verletzung) die staatlichen Organe mit Rechtsfolgen zu reagieren haben22 , die, wie vielfach gesagt wird, gegen Verletzung durch die Rechtsordnung (z.B. durch die Androhung von Strafe) "geschützt" sind23 • Die Rechtsgutsverletzung scheint nun den (strafrechtlichen) Unwert einer Handlung (oder Unterlassung) auszumachen24 • Sie kann näher bezeichnet

20 VgJ. Hirsch: 246 mit Fn. 75; ZStW 94 (1982) 250. Gegen die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand eingehend Schmidhiiuser, FS Schultz 65 ff. 21 S. schon oben 1. Teil sub III bei Fn. 47 f. 22 Schmidhäuser: AT 2/30 ff., 6/6; 8/28; StB 5/25 ff.; diese betont ideelle Sicht auch bei LKJO (Jescheck) vor § 13 Rn. 5 ff. 23 So (auch zum allgemeinen Verständnis des Rechtsguts, auf Unterschiede im einzelnen kommt es hier nicht an) etwa Maurach, AT 213; MaurachfZipf, AT 1 § 19/4 ff.; Jescheck 44, 231 f., 233 f.; LKJO (Jescheck) vor § 13 Rn. 6; Armin Kaufmmm, Normentheorie 11, 69; KTÜmpelmann 68 f.; Baumann 137; BaumannIWeber 139 f.; Wessels, AT § 1 12; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 9. Zu einer etwas abweichenden Sicht vgJ. SK (Rudolphi) vor § 1 Rn. 8 m.w.N.; die Abweichung ist im vorliegenden Zusammenhang freilich unerheblich. - S. hierzu noch unten 6. Teil sub 11 A vor und bei Fn. 7. 24 So vor allem Schmidhiluser: AT 6/6 ff.; 8/28 ff.; 16/62 ff.; StB 4/7 ff., 17 ff.; 5/32 ff.; 12/38 ff.; ähnlich Jescheck 6 f., 210, 237; LKIO (Jescheck) vor § 13 Rn. 5 ff.; Wessels, AT § 1 I 5. Unklar aber viele, z.B. Lenckner: Einerseits wird die Rechtsgutsverletzung wie hier als ideelles Phänomen verstanden (S/S vor §§ 13 ff. Rn. 9), andererseits als Verursachung eines negativ bewerteten Erfolgs und mit dem Erfolgsunwert gleichgesetzt (ibid. Rn. 11); s. noch unten bei und in Fn. 35 ff.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

35

werden mit Hilfe des Begriffs des Unwertsachverhalts25 • Einem Rechtsgut läßt sich eine Klasse bestimmter positiv (eben: als wertvoll) eingeschätzter Sachverhalte zuordnen, z.B. dem Rechtsgut Leben, daß ein Mensch lebt, dem Rechtsgut Eigentum, daß körperliche Gegenstände der Eigentümerherrschaft eines Menschen unterworfen sind, dem Rechtsgut der Einehe, daß ein Mensch nur höchstens einen Ehegatten hat26 • Sofern es z.B. einen einzelnen Menschen als Bezugs- und Konkretisierungspunkt gibt, kann man von einem Rechtsgutsobjekt und einem einzelnen wertvollen Sachverhalt sprechen, z.B. dem Leben des X oder dem Sachverhalt, daß X lebt. Noch konkreter läßt sich der einzelne Gegenstand oder der Mensch, in dem der Achtungsanspruch des Rechtsguts gleichsam sichtbaren Ausdruck findet, als Rechtsgutsobjekt bezeichnen27 • Als negative Gegenstücke der Wertsachverhalte lassen sich jeweils Unwertsachverhalte angeben. So ist dem Rechtsgut Leben und dem wertvollen Sachverhalt, daß ein (bestimmter) Mensch lebt, jeder Unwertsachverhalt, daß ein (bestimmter) Mensch stirbt (oder: tot ist), entgegengesetzt. Es können einem Rechtsgut aber auch verschiedene Arten von Unwertsachverhalten widersprechen, die der Ausformung der strafrechtlichen Tatbestände entsprechen. Z.B. ist dem Rechtsgut Eigentum sowohl der Sachverhalt entgegengesetzt, daß eine Sache ihrem Eigentümer für erhebliche Zeit entzogen wird (ist) - das ist der bei Diebstahl (§ 242) und Unterschlagung (§ 246) gemeinte Unwertsachverhalt -, als auch der Sachverhalt, daß eine Sache beschädigt oder zerstört wird (ist) - darauf kommt es im Fall der Sachbeschädigung (§ 303) an. Da der Achtungsanspruch in einer bestimmten Situation besagt, daß ein Wertsachverhalt bestehen bleiben soll, wird er mißachtet (verletzt) durch eine Handlung, die auf einen dem wertvollen Sachverhalt entgegengesetzten Unwertsachverhalt gerichtet ist, oder durch das Unterlassen einer Handlung, die 25 Hierzu und zum Folgenden Schmidhäuser: AT 2/30 ff.; 6/6; 8/28 f.; StB 5/25 ff.; vgl. noch unten 6. Teil sub 11. 26 Vielfach werden diese Sachverhalte und die ihnen entsprechenden Zustände selbst als Rechtsgüter verstanden, die strafrechtlich geschützt werden sollen (so vor allem Stratenwenh, AT Rn. 210). Man kann dann als Rechtsgut sowohl die Klasse dieser Sachverhalte (die Leben aller Menschen) als auch den einzelnen konkreten Sachverhalt (das Leben des Opfers) als Rechtsgut bezeichnen. 27 Schmidhäuser (AT 2/31; StB 5/29 f.) unterscheidet davon noch das Tatobjekt als den Gegenstand oder Menschen, an dem oder mit Bezug auf den die Tat begangen wird. In ähnlicher Weise bestimmt etwa Zielinski (s. die Definition auf S. 315) das Rechtsgut als rein geistige Größe, der konkrete Objekte oder Zustände als Rechtsgutsobjekte zugeordnet werden. Freilich wird dieser Begriff des Rechtsguts als geistiger Wert nicht durchgehalten, wenn es etwa heißt, Handlungen seien "mit Rücksicht auf die von ihnen regelmäßig ausgehenden Gefahren für fremde Rechtsgüter (statt richtig: Rechtsgutsobjekte) sorgfaltswidrig" (172); ferner z.B. 184: "Risiko für Rechtsgüter" sei mit einer Handlung verbunden; 257: "gefahrdetes und schließlich verletztes Rechtsgut".

36

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

auf die Aufrechterhaltung des wertvoIien Sachverhalts gerichtet ist (indem sie die Verwirklichung eines Unwertsachverhalts zu verhindern verspricht). Demgemäß wird dem Achtungsanspruch entsprochen durch eine Handlung, die auf die Aufrechterhaltung oder Herbeiführung des wertvollen Sachverhalts gerichtet ist, sowie durch das Unterlassen einer Handlung, die einen Unwertsachverhalt realisierte28 • Worin das Rechtsgutsverletzende oder -erhaltende der Handlung genauer liegt, ob in einem subjektiven, von dem Handelnden in seinem Bewußtsein hergestellten Bezug oder in einem objektiven Bezug29 , ist an dieser Stelle noch unerheblich. Entscheidend ist, daß die Rechtsgutsverletzung in einem Gerichtetsein der Handlung auf einen Unwertsachverhalt besteht, eine negative (Unwert-)Eigenschaft der Handlung ist und von dem Unwertsachverhalt selbst zu unterscheiden ist3o . Dieser kann (so z.T. bei den Erfolgsdelikten, z.B. dem Totschlag nach § 212), muß aber nicht (etwa nicht beim Diebstahl nach § 242 und bei der Falschaussage nach § 153) mit dem nach einem Straftatbestand vorausgesetzten, von der Handlung verschiedenen Ereignis (genauer: dem Sachverhalt, daß dieses Ereignis eintritt) identisch sein. Nur dieses Ereignis empfiehlt es sich, unter den Begriff des Erfolgs zu fassen31 , so daß es einen Erfolg nur bei den sog. Erfolgsdelikten32 gibt3 3 • Dann läßt sich der - gleichfalls nur bei den Erfolgsdelikten vorhandene - Erfolgsunwert als eine bestimmte Beziehung zwischen Handlung (oder Unterlassung) und Erfolg oder auch als der in einer solchen Beziehung zur Handlung bestehende Erfolg selbst auffassen: Der Erfolgsunwert ist begründet, wenn der tatbestandliche Erfolg eingetreten ist und zur Tat objektiv zugerechnet werden kann; dies ist der Fall, wenn sich im Erfolg die durch die Handlung begrün-

Zu Präzisierungen s. unten 6. Teil sub III. S. Schmidhöuser: AT 8/29 ff.; StB 5/38 ff.; Annin Kaufmiznn, Normentheorie 71; Krü1npelmann 91 ff.; Frisch 74 ff. 30 Ganz Entsprechendes, nur gleichsam mit anderem Vorzeichen, gilt für die Rechtsgutserhaltung oder -beachtung als Handlungswert. 31 Um beim konkreten Gefahrdungsdelikt ebenfalls von einem Erfolg sprechen zu können, kann auch der Eintritt einer konkreten Gefahr als Erfolg bezeichnet werden. 32 Danach sind z.B. auch die EhrverIetzungs- und Aussagedelikte insofern Erfolgsdelikte, als die Wahrnehmung der Äußerung durch einen Dritten bzw. der Aussage durch die zuständige Stelle vorausgesetzt ist (s. Schmidhäuser: AT 8/38 Fn. 11; BT 5/11; 23/9); in diesem Sinne z.B. StraJenwerth. AT Rn. 211; Roxin. AT I § 10/102. 33 Vor allem Schmidhäuser. AT 8/40. 47 ff.; StB 5/52 ff.; Jakobs. AT z.B. 6/69. 75; Hruschka, Strafrecht 400 f.; Jescheck 237; LKIO (Jescheck) vor § 13 Rn. 6. - Gegen den Begriff des Erfolgs "im weiteren Sinne", verstanden als "Erfüllung des Tatbestands" (so Baumann 206 f.; BaumannIWeber 201 f.; Maumch, AT 237; MaurachlZipj. AT 1 § 20127) Schmidhöuser, AT 8/39 Fn. 12; Stratenwerth, AT Rn. 207; Hruschka, Strafrecht 401 f. Fn. 7. 28

29

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

37

dete Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt (d.h. die Gefahr der Realisierung eines Unwertsachverhalts) verwirklicht hat34 • Abweichend werden mit dem als "Rechtsgutsverletzung" verstandenen35 und mit dem (verwirklichten) objektiven Tatbestand gleichgesetzten Erfolgsunwert mindestens drei verschiedene Begriffe, die auseinanderzuhalten sind, bezeichnet: erstens das tatbestandsmäßige Geschehen, also die Gesamtheit der Ereignisse oder Sachverhalte einer bestimmten Art, die nach der Fassung des gesetzlichen Tatbestandes eintreten oder verwirklicht sein müssen, wozu bei jedem Handlungsdelikt das Handlungsereignis mit den tatbestandlieh festgeschriebenen Eigenschaften und bei den Erfolgsdelikten (Verletzungserfolgsund konkreten Gefährdungsdelikten) ein weiteres Ereignis zählen; in diesem Sinn fehlt es bei einem Versuchsdelikt an einer Rechtsgutsverletzung und an einem Erfolgsunwert36 , und sind beide beim schlichten Tätigkeitsdelikt gegeben37 • Zweitens meint man das nur beim beendeten Erfolgsdelikt vorkommende und gleichfalls tatbestandlieh vorausgesetzte Erfolgsereignis, das hier "Erfolg" genannt wird. Drittens wird mit "Erfolgsunwert" ein nicht für das Vorliegen einer bestimmten Straftat erforderliches Schadens- oder Gefahrereignis (oder ein entsprechender Sachverhalt) erfaßt, das (der) mit dem, was 34 Schmidhäuser: AT 8/47 ff.; StB 5/52 ff.; der gleiche Begriff bei Zielinski (131), der den Erfolgsunwert allerdings nicht als unrechtsrelevant anerkennt (s. oben sub 1 bei und in Fn. 3). Der angedeutete Gedanke der objektiven Zurechnung wird auch sonst vielfach vertreten, etwa von Jescheck 257 ff.; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 9.2 ff.; SK (Rudolphi) vor § 1 Rn. 57 ff.; Wessels, AT § 6 11; Otto: AT 66 ff., bes. 74; NJW 1980, 417 ff., bes. 423 f.; Maurach/Zipf, AT 1 § 18/42 ff. Dabei wird jedoch der Erfolgsunwert mit dem Erfolg gleichgesetzt und damit die objektive Zurechnung nicht in das System der Unrechtselemente integriert; so z.B. Jescheck 44, 216, 237; Wessels, AT § 1 15, § 6; wie hier ausdrücklich z.B. Wolter 27 f. 35 Unklar Lenckner: Zunächst werden Rechtsgutsverletzung und Erfolgsunwert gleichgesetzt (S/S vor §§ 13 ff. Rn. 11, 18,52,56,57). Sodann verneint Lenckner (vor §§ 13 ff. Rn. 11) beim (untauglichen) Versuch einerseits den als Rechtsgutsverletzung verstandenen Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert; andererseits soll der untaugliche Versuch einen Sachverhaltsunwert eigener Art aufweisen, nämlich "das Hervorrufen eines rechtserschütternden Eindrucks" (ibid. Rn. 56, 57). Damit ist die Einheit des Begriffs aufgegeben, soll doch der Sachverhaltsunwert des vollendeten Delikts (und des tauglichen Versuchs?) in dem wertwidrigen, im Tatbestand beschriebenen äußeren Sachverhalt (oder Zustand) oder in dessen Verursachung liegen (ibid. Rn. 11, 19, 52, 56, 57, 60), auf den der Vorsatz sich beziehe (ibid. Rn. 19, 60). Außerdem ist bei einer solchen Begriffsbildung nicht erfmdlich, inwiefern der Erfolgsunwert das Unrecht der vollendeten Tat gegenüber dem der versuchten soll erhöhen können (so ibid. Rn. 58). 36 So ausdrücklich Rudolphi, FS Maurach 58; Lenckner 196; wohl auch Stratenwenh, FS Schaffstein 178 Fn. 9. Anders jedoch Roxin, AT I § 10/88,99: Erfolg und Erfolgsunwert gebe es als "Herbeiführung eines rechtlich mißbilligten Zustandes" auch beim Versuch; der Erfolg liege im Anfang der Ausführung, es fehle lediglich der Erfolgsunwert des "Verletzungsdelikts "; anders dann jedoch offenbar § 14/101, 102: der im Falle fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements angeblich gegebene untaugliche Versuch weise nur einen Handlungsunwert auf! 37 Gegen diesen Begriffsinhalt Stratenwenh (AT Rn. 211), der allerdings an anderer Stelle (Rn. 486; ebenso wohl in FS Schaffstein 192 f.) den Begriff in eben diesem Sinn verwendet.

38

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

hier "Unwertsachverhalt" genannt wird, zusammenfallen kann38 . In allen Hinsichten ist mit "Rechtsgutsverletzung" nicht der ideelle Begriff der Mißachtung (Beeinträchtigung oder Verletzung) eines Achtungsanspruchs bezeichnet. Die hier behandelte Unrechtskonzeption verfehlt nicht nur den Begriff der Rechtsgutsverletzung und damit den materialen Unwert der Handlung. Sie ist durch ihre rein subjektive Fassung des Handlungsunrechts außerdem gezwungen, die Gefährlichkeit oder Gefahrschaffung, die ja eine Eigenschaft der Handlung ist und die Grundlage der objektiven Zurechnung bildet, entweder den Begriffen Handlungs- und Erfolgsunwert überhaupt nicht zuzuordnen39 oder als primären Erfolgsunwert zu qualifizieren4O , so daß dieser Teil des Erfolgsunwerts ex ante zu beurteilen ist, während der andere Teil, der objektiv zurechenbare Erfolg, ex port ermittelt wird - ein Umstand, der sich immerhin merkwürdig ausnimmt41 .

3. Objektiver und subjektiver Handlungsunwert Die dritte finalistische Position zur Struktur des (vorsätzlichen) Unrechts grenzt Erfolgs- und Handlungsunwert nicht als objektive und subjektive Tatseite ab, sondern nimmt objektive und subjektive Merkmale des Handlungsunwerts und außerdem einen Erfolgsunwert an42 . Danach wird der subjektive 38 Vgl. Rudolphi, FS Maurach 56: Bei § 173 sei die zerstörte "Reinheit der konkreten familiären Beziehung" der wertwidrige Sachverhalt und Erfolgsunwert; ebenso LencTcner 196. Vgl. ferner Rudolphi ibid. 70 ff.: Beim Versuch gebe es einen Erfolgsunwert im Sinne "einer konkreten Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgseintritts ". 39 So etwa SK (Rudolphi) vor § 1 Rn. 57 ff.: Gefahrlichkeit als Teilmoment der objektiven Zurechnung; Rudolphi, GS Schröder 82: Der Gefahrlichkeitsunwert wird neben Handlungs- und Erfolgsunwert gestellt; vgl. auch SK (Rudolphi) vor § 22 Rn. 5 a: Bei ex ante gefahrlichen Versuchen steigere der objektive Gefahrlichkeitsunwert das Unrecht; anders (im Sinne eines objektiven Handlungsunwerts) jetzt Rudolphi, GS Armin Kaufmann 379 f. 40 Nowakowski: JBI. 1972,26; ÖJZ 1977,574, 576; Wolter: GA 1977, 267 f. mit Fn. 99; ZStW 89 (1977) 674, 681 f. mit Fn. 143 b, 692; id. 25 f., 35, 50, 65, 82 ff., 94, 100, 123, 173 f., 178, 197 f., 356 f. und passim. 41 Im Sinne dieser Kritik Frisch 91 f. Fn. 134 a; 120 f. Fn. 9. 42 Jescheck 6 f., 44 f., 215 ff.; LKJO (Jescheck) vor § 13 Rn. 11, 40; Krauß ZStW 76 (1964) 38 ff., 56, 58, 61 ff., 65 ff.; Gallas, FS Bockelmann 156 ff.; KrüTnpelmann: 82 ff., bes. 91, 94; GA 1968, 135; Wessels, AT § 1 15, § 5 III 4; Otto, AT 165; Lackner vor § 13 Rn. 20 f.; Ebert/Kühl Jura 1981, 231 ff.; Ebert 25 ff.; Hellmann 20 ff., 32; Jungclaussen 159 ff., bes. 160, 163 f.; Steinbach 88 f. (nach den Ausführungen auf S. 89 und 350 vertritt er allerdings die oben sub 2 dargestellte Konzeption); Günther 238 f. und passim; jetzt auch Rudolphi, GS Armin Kaufmann 379 f. (zur früheren Auffassung Rudolphis s. oben sub 2 bei und in Fn. 13). - Nicht ist hier Stratenwerth zu nennen, der vielmehr die soeben sub 2 behandelte Position vertritt. Das ergibt sieh nicht nur daraus, daß der Handlungsunwert bereits durch Annahme einer rechtfertigenden Sachlage aufgehoben sein soll (FS Schaffstein 178 ff. ; AT Rn. 486,

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

39

Handlungsunwert durch den mit dem Vorsatz gleichgesetzten deliktischen Tatentschluß, den auf die Herbeiführung des verbotenen Ereignisses gerichteten Willen, und ggf. weitere deliktsspezifische subjektive Unrechtsmerkmale begründet. Die objektiven Handlungsmerkmale bestimmen den objektiven Handlungsunwert. Der Erfolgsunwert wird durch den tatbestandsmäßigen Erfolg, die der Handlung nachfolgende Verletzung oder Gefährdung des Handlungsobjekts, begründet43 • Der Gedanke der elementweisen Saldierung verlangt für die Rechtfertigung, d.h. die vollständige Kompensation der Unwertelemente, den Aufweis entsprechender Handlungs- und Erfolgswerte. Eine solche materiale Begründung wird jedoch auf der Grundlage dieser Unrechtskonzeption nicht gegeben. Es bleibt vielmehr bei einer formalen, an den Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrunds orientierten Betrachtungsweise: Die objektive Seite des Rechtfertigungsgrunds wiege den Erfolgsunwert auf, während dessen subjek489 f.), sondern auch aus der Bestimmung des Handlungsunwerts selbst. Dieser liege in der Betätigung eines bestimmten Willens (AT Rn. 486), werde (bei der Vorsatztat) durch den Vorsatz begründet (ibid. Rn. 504), während der Erfolg(sunwert) das "objektive Gegenstück zum Handlungsunwert" darstelle (FS Schaffstein 192 f.). Zwar heißt es an anderer Stelle (ibid. 178 Fn. 9), der Handlungsunwert erschöpfe sich nicht in subjektiven Momenten, sondern liege (beim Vorsatzdelikt) im beendeten Versuch, während die Differenz zur Vollendung den Erfolgsunwert ausmache. Das bedeutet jedoch den Verzicht auf einen einheitlichen Begriff, weil die Differenz von der Deliktsart und der einzelnen Tat abhängt: Beim beendeten Versuch etwa eines Erfolgsdelikts, z.B. der gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223 a, 22 kann die Differenz im Fehlen des Erfolgs (T bespritzt X mit Säure, verfehlt ihn aber) oder zusätzlich beim untauglichen Versuch in der Abwesenheit eines tatbestandIich vorausgesetzten Umstands oder mehrerer solcher Umstände (T bespritzt die Stoffpuppe mit Wasser, im Glauben, es sei X und es handele sich um Säure) liegen, beim Tätigkeitsdelikt hingegen nur im letzteren u.s.w. - Nach Hirsch (ZStW 94 (1982) 242 ff.; wohl ebenso Welzel 62; ganz ähnlich Roxin, AT I § 10/88, 97 f., 101, der freilich auch bei den Fahrlässigkeitstaten den Erfolg zum Handlungsunwert rechnet) setzt sich der Handlungsunwert zwar ebenfalls aus objektiven und subjektiven Momenten zusammen. Doch soll der vom Vorsatz umfaßte tatbestandliche Erfolg ein Bestandteil der verbotenen Handlung sein und deshalb zum Handlungsunwert gehören, während der Erfolgsunwert "in der Regel die Rechtsgutverletzung" (ibid. 247), den "Widerspruch, in dem der Zustand einer objektiven Rechtsgutsverletzung zur Rechtsordnung steht" (ibid. 253) darstelle. Indessen spricht nichts dafür, den Handlungsbegriff in dieser Weise als Zusammenfassung einer Fülle von Ereignissen, des Handlungsereignisses selbst sowie derjenigen Ereignisse, auf die sich der Vorsatz als Wirkungen der Handlung bezieht, zu bestimmen; ebenso Gallas, FS Bockelmann 166. 43 Ein mit dem hier zugrundegelegten übereinstimmenden Begriff des Erfolgsunwerts fmdet sich - freilich ohne Berücksichtigung der objektiven Zurechenbarkeit - etwa bei Jescheck und Wesseis (wie vorige Fn.). Andeutung der objektiven Zurechnung bei Gallas (FS Bockelmann 163), der neben dem formellen Erfolgsunwert als dem (objektiv zurechenbaren) tatbestandsmäßigen Erfolg (161, 163, 166) allerdings noch einen materiellen Erfolgsunwert annimmt, der als Rechtsgutsverletzung verstanden wird (162, 163 Fn. 21). Widersprüchlich Ebert/Kühl Jura 1981, 229, 231: Einerseits soll der Erfolgsunwert die Rechtsgutsverletzung und den tatbestandsmäßigen Erfolg darstellen, andererseits soll das Handlungsunrecht rechtsgutsverletzende Handlung(sweise) sein.

40

2. Teil: Die ftnalistischen Unrechtslehren

live Seite, das subjektive Rechtfertigungselement, den Handlungsunwert aufhebe44 • Das ist für dieses Unrechtsmodell in doppelter Hinsicht ungenau. Die objektive Rechtfertigungsseite neutralisiert nicht nur den Erfolgs-, sondern auch den objektiven Handlungsunwert4s, und sie muß diese Wirkung auch haben, weil das subjektive Rechtfertigungselement nur den subjektiven Handlungsunwert ausgleichen kann46 , so daß anderenfalls der objektive Handlungsunwert ohne kompensierendes Gegenstück bliebe. Das ist für die nur eine teilweise Kompensation erfordernde Reduzierung des Handlungsunrechts, auf der nach der Lehre von der Unrechtsminderung die Entschuldigung aufbaut, immerhin denkbarn , obgleich es nach dem Gedanken der elementweisen Saldierung auch insofern konsequenter ist, einen Ausgleich, wenn auch nur einen teilweisen, ebenfalls des objektiven Handlungsunwerts zu fordern48 • Die Sicht, daß das subjektive Rechtfertigungselement nur einen Teil des Handlungsunwerts aufzuwiegen vermag, wird denn auch an anderer Stelle, nämlich bei der Begründung, weshalb bei irriger Annahme einer rechtfertigenden Sachlage das vorsätzliche Unrecht bestehen bleibe, vorausgesetzt, wenn es heißt, der Handlungsunwert sei bei Vorliegen nur der subjektiven 44 Jescheck 294 f., 321 f. a.E., 345; Krümpelmann GA 1968, 137; Wessels, AT § 8 I 2; Ebert 56 f.; Hel/mann 31; Steinbach passim, z.B. 125, 145,239,287, 310; Roxin, AT I § 14/93,

94.

4S VgJ. Gallas, FS Bockelmann 173. Gallas vertritt den Gedanken der elementweisen Saldierung in modifIZierter Form: Die Kompensation als materielle, an den verwirklichten Handlungs- und Erfolgsunwerten und den dazu komplementären Werten orientierte Betrachtungsweise führe nur im Rahmen einer formellen, an der Norm orientierten Sicht zu rechtserheblichen Ergebnissen (z.B. zur Rechtfertigung), d.h. nur dann, wenn alle Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds erfüllt seien (ibid. 168, 169, 173 f., 176 ff., auch 160). Damit ist freilich der Saldierungsgedanke trotz der Annahme einander strukturell entsprechender Handlungs- und Erfolgs(un)werte in Wahrheit aufgegeben. Denn nach diesem kommt es nur auf die einander korrespondierenden Unwerte und Werte an, nicht auf die formalen, gesetzlichen Merkmale, soweit sie die (Un-)Werte nicht bestimmen. S. auch Frisch 458 Fn. 160. 46 So auch Otto, AT 210. Das ergibt sich aus der Forderung, daß die miteinander saldierten Momente sich in ihrer Struktur zumindest ähneln müssen; s. dazu unten 4. Teil sub I B. 47 So verweisen die Vertreter dieser Unrechtskonzeption beim entschuldigenden Notstand denn auch nur auf den Rettungswillen als handlungsunrechtsmindemd, s. oben 1. Teil bei und in Fn. 29. Unklar Hirsch: Einerseits heißt es, der Rettungszweck mindere den Handlungsunwert (LKIO vor § 32 Rn. 183); andererseits soll das Vorliegen der subjektiven (Gefahrabwendungsabsicht) und objektiven Notstandsmerkmale die Reduzierung des Unrechts bewirken (ibid. § 35 Rn. 3 f., 73). 48 Beim Notwehrexzeß nach § 33 nimmt Jescheck (443) an, daß das Handlungsunrecht auch durch die Notwehrlage, also ein objektives Moment, gemindert werde. Da dieses im Fall des Putativnotwehrexzesses fehlt und folglich das Handlungsunrecht weniger deutlich herabgesetzt ist, kann die Versagung der Entschuldigung in diesem Fall (allerdings nur scheinbar) erklärt werden (ibid. 444); s. dazu oben 1. Teil sub III bei und in Fn. 48. Demgegenüber stellt Wessels (AT § 10 VII 3 a) für die Unrechtsminderung allein auf den Verteidigungszweck ab.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

41

Rechtfertigungsseite nicht aufgehoben, sondern nur gemindert49 : Das impliziert, daß der verbleibende objektive Handlungsunwert nur durch ein Moment ausgeglichen werden kann, das durch das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsseite garantiert wird. Um die Art eines solchen objektiven Handlungswerts zu ermitteln, muß zunächst Klarheit über sein Gegenstück im Negativen, den objektiven Handlungsunwert bestehen. Wie kann ein solcher aussehen? Es muß sich um ein allgemeines, d.h. nicht nur bei einigen Delikten vorkommendes Phänomen handeln, dem ein strukturell entsprechendes positives Pendant gegenübergestellt werden kann. Deshalb scheiden die als Merkmale des (objektiven) Handlungsunwerts genannten objektiv-täterschaftlichen Merkmale50 (z.B. die Amtsträgereigenschaft bei der Rechtsbeugung nach § 336 und der Körperverletzung im Amt nach § 340) als einen allgemeinen objektiven Handlungsunwert begründende Momente aus. Das gleiche gilt für die in einigen Tatbeständen beschriebenen spezifischen Begehungsweisen51 (etwa die unterschiedlichen Modalitäten der Vermögens schädigung bei der Hehlerei, § 253, beim Betrug, § 263 und bei der Untreue, § 266). Abgesehen davon, daß es schwerlich möglich wäre, ihnen spiegelbildlich entsprechende werthafte Handlungsmomente anzugeben, wäre es mit einer wertorientierten Sicht nicht zu vereinbaren, lediglich formal-normorientiert auf die objektiven Merkmale des (Unrechts-)Tatbestands abzustellen. Es muß vielmehr - gerade auch, damit ein korrespondierender rechtsgutsbeachtender objektiver Handlungswert aufgewiesen werden kann - angegeben werden, worin der im Objektiven liegende negative Rechtsgutsbezug (d.h. die in der äußeren Seite der Handlung angelegte Rechtsgutsverletzung) von Handlungen besteht, die eine bestimmte Eigenschaft haben. Die Art dieses objektiven Bezugs einer Handlung erkennt man, wenn man den beim subjektiven Handlungsunwert gegebenen subjektiven Bezug vergleichend heranzieht. So wie dort die Handlung nach ihrer subjektiven Seite auf 49 Jescheck 417, 418; Wessels, AT § 11 III 1 f.; Krümpelmann GA 1968, 134 ff. Der Grund, weshalb das subjektive Rechtfertigungselement das vorsätzliche Unrecht nicht soll ausgleichen können, mag in dem Wunsch begründet sein, im Fall der Putativrechtfertigung vorsätzliches Unrecht annehmen zu können (vgl. den Darstellungszusammenhang bei Jescheck, Wessels und Krümpelmann); s. dazu unten 4. Teil sub I C bei und in Fn. 51 ff.). Allerdings ist unerfmdlieh, wie für Jescheck, der als subjektives Rechtfertigungselement eine bestimmte Absicht fordert (294 f., 345), das bloße "Rechtfertigungsbewußtsein" (417, 418) den Handlungsunwert mindern, also offenbar als subjektives Rechtfertigungselement fungieren kann. S. zur Art und zum Inhalt des subjektiven Rechtfertigungselements unten 4. Teil sub 11 B. 50 Statt aller Jescheck 216; Gallas, FS Bockelmann 165. 51 Dafür jedoch etwa Jescheck 215 f.; Lackner vor § 13 Rn. 20; Gallas, FS Bockelmann 156; Eben/Kühl Jura 1981, 231.

42

2. Teil: Die fInalistischen Umechtslehren

die "Tatbestandsverwirklichung"52 gerichtet ist, und zwar nach finalistischer Sicht qua Vorsatzinhalt, so wird der objektive Handlungsunwert dadurch begründet, daß die Handlung nach ihrer objektiven Dimension auf die "Tatbestandsverwirklichung" gerichtet ist, und zwar qua Gefahrschaffung oder Gefährlichkeit: Die Ausführung der Handlung bringt die Gefahr mit sich (oder erhöht eine bereits bestehende Gefahr), daß der im (Unrechts-) Tatbestand geschilderte Unwertsachverhalt sich verwirklicht53 , insbesondere daß - bei den (Verletzungs- und Gefährdungs-)Erfolgsdelikten - der tatbestandsmäßige Erfolg eintritt. Ein solcher Gefährdungs- oder Gefährlichkeitsunwert wird auch innerhalb des Finalismus54 und auch für die vorsätzliche Straftat55 vielfach anerkannt56 , wenngleich zumeist nur als Element der objektiven Zurechnung57 oder des Erfolgsunwerts58 . Doch ist die Gefahrschaffung Kriterium bereits des Unwerts (der "Mißbilligung", des "Verbotenseins") der Handlung, während für die objektive Zurechnung entscheidend ist, daß sich im Erfolg die geschaffene Gefahr realisiert59 . Für die Richtung innerhalb des Finalismus, die objektive und subjektive Elemente des Handlungsunwerts anerkennt, kommt danach zum subjektiven Handlungsunwert der Gefährdungsunwert als objektiver Handlungsunwert hinzu. Dabei müssen jedenfalls bei den Erfolgsdelikten - bis auf den Ausnahmefall des untauglichen Versuchs - bei der vorsätzlichen Straftat der durch den "deliktischen Tatentschluß"60, d.h. den Vorsatz, und eventuelle besondere subjektive Unrechts elemente begründete subjektive und der durch die Gefahrschaffung begründete objektive Handlungsunwert zugleich gegeben sein.

52 Richtiger und aus materialer Sicht muß es heißen: "Herbeiführung eines den betreffenden Umechtstatbestand kennzeichnenden Unwertsachverhalts." 53 Vgl. für den Finalismus Annin Kaufmann, Normentheorie 71. 54 Zu Schmidhäusers Lehre vom dualistisch begründeten Handlungsunwert s. unten 6. Teil sub 11. 55 Zur fahrlässigen Straftat s. sogleich sub B 2. 56 Etwa Wolter und Nowakowski (oben Fn. 40); Rudolphi, GS Schröder 80 ff. (zu RUdolphis gegenwärtiger Auffassung s. sogleich bei und in Fn. 59; Gallas, FS Bockelmann 160, 165; Eben/Kühl Jura 1981, 235. 57 Etwa Jescheck 257 f.; SK (Rudolphl) vor § 1 Rn. 57 ff., 62; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 92 ff.; WesseIs, AT § 6112,7; Otto, AT 66 ff., bes. 68, 74; auch Gallas, FS Bockelmann 163, 165. 58 So die Vertreter eines rein subjektiv begründeten Handlungsunwerts, die einen sog. "primären" Erfolgsunwert annehmen, s. oben bei und in Fn. 40. 59 Vor allem Schmidhäuser, z.B.: FS Schaffstein 133 Fn. 21; AT 8/31, 49; StB 5/38, 40, 54, 57 f.; Frisch 490 Fn. 64; wohl auch Rudolphi GS Armin Kaufmann 379 f. Insbesondere zu Wolters Konzeption s. noch unten sub B 2 in Fn. 144. 60 Z.B. Gallas, FS Bockelmann 156, 157, 159, 173.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

43

Im Rahmen der elementweisen Kompensation kann man auf dieser Grundlage die auf der Seite der Rechtfertigtingselemente undifferenzierte Sicht, daß die objektiven rechtfertigenden Umstände den Erfolgs- und den objektiven Handlungsunwert ausgleichen61 , verabschieden und zu einer wertbezogenen Konstruktion des Unrechtsausschlusses vordringen. Der Erfolgsunwert wird durch einen Erfolgswert neutralisiert, der subjektive, durch den Vorsatz begründete Handlungsunwert wird durch den im Handeln mit subjektivem Rechtfertigungselement liegenden subjektiven Handlungswert aufgewogen und der objektive Handlungsunwert durch einen objektiven Handlungswert62 • Dieser liegt in der Schaffung einer Gefahrabwendungschance63 : Der Vollzug einer Handlung macht es wahrscheinlich, daß ein positiv zu bewertendes Ereignis eintritt, z.B. die Beendigung eines negativen Zustandes (etwa bei der Notwehr der Angriff und beim Notstand die Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt) oder die Verwirklichung eines positiven Sachverhalts (z.B. bei der vorläufigen Festnahme nach § 127 I StPO, daß die Strafverfolgung gefördert wird)64. Darauf aufbauend ist ein Erfolgswert realisiert, wenn die geschaffene Chance z.B. der" Angriffsabwehr sich realisiert, also z.B. der Angriff abgewehrt wird. Eine ganz entsprechende Saldierung der vom Täter verwirklichten Unwerte mit den von ihm verwirklichten Werten ist nach dem Gedanken der elementweisen Kompensation in den Entschuldigungsfallen möglich, freilich mit dem Unterschied im Ergebnis (dem "Saldo"), daß das Unrecht nicht aufgewogen, sondern nur herabgesetzt ist, weil die Werte die Unwerte nicht übertreffen. Der objektive Handlungswert wird durch das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsvoraussetzungen garantiert. Das gilt, Vgl. dazu Gallas ibid. 173; Frisch 458 Fn. 160. Ähnlich jetzt Rudolphi, GS Armin Kaufmann 379 ff. So jetzt auch Rudolphi, GS Arrnin Kaufmann 379 ff. In diese Richtung, allerdings auf der Basis der oben sub 2 dargestellten Umechtskonzeption: Armin Kaufmann: Normentheorie 71; Unterlassungsdelikte 2; Nowakowski ÖJZ 1977,576 f.; Rudolphi, GS Schröder 82 ff.; am eingehendsten Woller (38 f., 67, 134, 139 f., 166, 170, 173, 357 f.), der von "Rettungschancenwert" spricht, der die Grundlage für den "primären Erfolgswert" (hier "Erfolgswert" genannt) bilde. 64 Offensichtlich liegt in den Fällen der Einwilligung und den meisten der unter dem Terminus "mutmaßliche Einwilligung" erörterten Fällen ein solcher objektiver Handlungswert nicht vor. Auch vom Standpunkt des Kompensationsgedankens aus empfiehlt es sich daher, Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung nicht als Rechtfertigungsgriinde einzuordnen (vgl. Wolter 38, 63, 138 Fn. 301). Aus dem Rechtfertigungsprinzip der Beachtung des vorrangigen Rechtsgutsanspruchs erzielt dieses Ergebnis Schmidhäuser (AT 8/124 f.; 9/49 f. mit Fn. 65; StB 5/106 f. mit Fn. 45; 6/86), der die mutmaßliche Einwilligung als solche verwirft und im Fall der Einwilligung mit einer verbreiteten Auffassung (statt aller: MaurachfZipj, AT 1 § 17/32 ff. und Rudolphi, GS Armin Kaufmann 374 f., 392 f., jeweils m.w.N.) schon die tatbestandmäßige Rechtsgutsverletzung verneint. 61 62 63

44

2. Teil: Die fInalistischen Umechtslehren

wie schon der Gesetzeswortlaut zeigt, nicht für den Erfolgswert: Schlägt die objektiv ex ante erforderliche Verteidigungs- oder Rettungshandlung fehl und behauptet sich der rechtswidrige Angriff oder verwirklicht sich die Gefahr, bleibt ein Erfolgswert aus, ohne daß deshalb die Rechtfertigung oder Entschuldigung ausschiede65 • Erkennt man sowohl einen subjektiven als auch einen objektiven Handlungswert an, besteht die Möglichkeit, zur (teilweisen oder vollständigen) Kompensation das Vorhandensein beider auch dann zu verlangen, wenn nur ein subjektiver Handlungsunwert verwirklicht ist. (Einen rein objektiven Handlungsunwert kann es für den Finalismus beim vorsätzlichen Delikt nicht geben, weil der Vorsatz und damit der subjektive Handlungsunwert notwendiges Unrechtsmerkmal sein soll.) Das entspricht jedoch nicht dem streng durchgeführten Gedanken der elementweisen Kompensation, weil auf diese Weise dem subjektiven Handlungsunwert auch ein ungleichartiger, nämlich objektiver, Handlungswert gegenüberstünde66 . Daher ist bei rein subjektiv begründetem Handlungsunwert (Konstellation des untauglichen Versuchs) ein objektiver Handlungswert (und natürlich ebenfalls ein Erfolgswert) zur Kompensation nicht erforderlich. Das bedeutet, daß z.B. ein untauglicher Versuch einer gefahrlichen Körperverletzung (§§ 223 a 11, 22) schon bei Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungs- oder Entschuldigungselements straffrei ist, also etwa wegen Notwehr gerechtfertigt ist, wenn der Täter von einer Notwehrlage ausgeht67 (und/oder handelt, um sich zu verteidigen68 ), oder wegen Notstands entschuldigt ist, wenn der Täter handelt, um sich aus einer Todesgefahr zu retten69 • Andererseits machen Straftaten, bei denen es einen Gefahrdungsunwert nicht gibt, also Ziel- und Tätigkeitsdelikte (z.B. Diebstahl gemäß § 242 und 65 Das gilt zunächst nicht, wenn man mit der Konzeption eines rein subjektiven Handlungsunwerts einen anderen Begriff des Erfolgsunwerts annimmt (s. oben sub 2) und folglich den Begriff des Erfolgswerts anders bilden muß. Doch auch diese Auffassung muß die beiden Aspekte der Gefährlichkeit und Gefahrminderung einerseits und deren Realisierung in einem negativen oder positiven Ereignis andererseits auseinanderhalten und anerkennen, daß es für die Kompensation bei der Rechtfertigung und Entschuldigung nur auf den ersten Aspekt ankommen kann. So der Sache nach denn auch die Darstellung bei Rudolphi, GS Schröder 83 f.; Wolter 39, 136 f., 139 ff., 169, 356 ff. 66 Vgl. zur Gleichartigkeitsbedingung oben 1. Teil sub I bei Fn. 5 sowie unten 4. Teil sub I B. 67 Für dieses Ergebnis ausdrücklich etwa v. Weber JZ 1951, 262; Hruschka: GA 1980, 17 f.; Strafrecht 227 ff.; dagegen explizit z.B. Dreher, FS Heinitz 222. 68 Mit diesem Zusatz soll eine Festlegung hinsichtlich des subjektiven Rechtfertigungselements vermieden werden; dazu unten 4. Teil sub 11 B. 69 Für die oben sub 1 und 2 vorgestellten Umechtsmodelle gilt insoweit natürlich dasselbe.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

45

Urkundenfälschung gemäß § 267; Beischlaf zwischen Verwandten nach § 173 und Trunkenheit im Verkehr nach § 316) deutlich, daß an der Strukturgleichheit der zu saldierenden Komponenten nicht ausnahmslos festgehalten werden kann. Wenn nämlich zur Rechtfertigung auch dieser Delikte nicht nur das bloße subjektive Rechtfertigungselement, sondern auch der durch die Schaffung (z.B.) einer Gefahrabwendungschance begründete objektive Handlungswert zu verlangen ist - und daran kann nach der Fassung der gesetzlich vertypten Rechtfertigungsgründe kein Zweifel bestehen -, steht dieser (angebliche) objektive Handlungswert bei diesen Deliktsarten einem ganz andersartigen objektiven Handlungsunwert gegenüber, der zudem nur nicht-material als eine spezifische Handlungsmodalität bestimmt werden kann und als "Verwirklichung des objektiven (Unrechts-)Tatbestands" insoweit mit dem Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert der oben unter 2 vorgestellten Konzeption zusammenfällt. Daß der Gedanke elementweiser Kompensation dadurch an Attraktivität verliert, ist nicht zu verkennen.

B. Fahrlässiges Unrecht 1. Die Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung Die Vielfalt der Meinungen zur Unrechts struktur des Vorsatzdelikts hat keine Entsprechung bei der fahrlässigen Straftat. Vielmehr findet sich innerhalb des Finalismus' bzw. der "personalen" Unrechtslehre ganz überwiegend die Auffassung, daß das Handlungsunrecht der Fahrlässigkeitstat in der Verletzung einer vom Rechtsgut geforderten Sorgfaltspflicht, einer Pflicht zu um das Rechtsgut(sobjekt) "besorgtem" Verhalten, liege7o • Dabei ist angesichts einer Tendenz, den Akzent beim fahrlässigen Handlungsdelikt auf ein Unterlassen zu legen71 , zu betonen, daß eine Handlung wegen ihrer Sorgfaltswidrigkeit (weil sie einen Sorgfaltsmangel oder -verstoß dokumentiert) verboten ist und nicht etwa die Erbringung einer bestimmten Sorgfaltsleistung geboten ist72 •

70 Für alle Jescheck 509 f.; Burgstaller 16 ff., 29, 32 ff.; S/S (Cramer) § 15 Rn. 121 (alle mit umfassenden Nachw.); zuletzt etwa Lampe ZStW 101 (1989) 48 f. Zur Kritik zunächst der Verweis vor allem auf Schmidhäuser: FS Schaffstein 130 ff.; AT 10/82; StB 7/93 f.; sowie Schroeder JZ 1989, 776 ff.; LKIO (Schroeder) § 16 Rn. 127 ff.; näher unten sub 2 bei und in Fn. 126 ff. 71 So besonders Stratenwenh, AT Rn. 1094 ff.; Bocke/mann, AT 159 ff., bes. 160; Bocke/mann/ Volk, AT 157 ff., bes. 158. 72 Etwa Nowakowski JZ 1958, 337 f. (389 wird allerdings für die sog. unbewußte Fahrlässigkeit die Verletzung einer Sorgfaltspflicht, auf eine beabsichtigte Handlung verboten machende

46

2. Teil: Die fmalistischen Umechtslehren

Im einzelnen ist allerdings manches unklar oder umstritten, insbesondere die systematische Einordnung der objektiven Voraussehbarkeit oder Erkennbarkeit der "Tatbestandsverwirklichung" - vor allem (oder ausschließlich?) bei den Erfolgsdelikten: des Erfolgs und des Kausalverlaufs in seinen wesentlichen Eigenschaften73 - und die Frage, ob die Sorgfaltspflicht nach den individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten zu bestimmen ist und damit die individuelle Voraussehbarkeit bereits zum Unrecht gehört74 • Es überwiegt indessen die Meinung, daß die Sorgfaltsanforderungen, deren Verletzung den Handlungsunwert begründen soll, sich nach einem objektiven, generellen Maßstab richteten, wogegen deren subjektive (individuelle) Erkennbarkeit und Erfüllbarkeit seitens des Täters, insbesondere (im Fall der sog. unbewußten FahrUmstände zu achten, konstruiert); Armin Kaufmann: ZfRV 1964, 46 f. (unter Aufgabe seiner früheren Ansicht in: Normentheorie 284 f.; Unterlassungsdelikte 168, 180 ff.); FS Welzel 406, 409 f.; Zielinski 172; Hirsch ZStW 93 (1981) 857 f.; 94 (1982) 269, 276; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2 § 42/23; Hruschka, Strafrecht 418 f. 73 Als Element der Sorgfaltspflichtverletzung, und zwar auch bei den Nicht-Erfolgsdelikten wie den Taten nach §§ 163,264 III, gesehen etwa von S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 93. Nach Hirsch (ZStW 94 (1982) 266, 274, 276) soll die objektive Voraussehbarkeit offenbar den Sorgfaltsmaßstab bestimmen. Jescheck ordnet die "Erkennbarkeit der Gefahr der Verwirklichung des Tatbestandes" zunächst als erstes Element des Umechtstatbestandes ein (510), ohne auf dieses Merkmal beim Handlungsumecht zurückzukommen (521 ff. - dort ist lediglich von der Pflicht, "die Gefahr für das geschützte Rechtsgut zu erkennen und richtig einzuschätzen" (522), die Rede), und sieht sodann bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten die objektive Voraussehbarkeit des Erfolgs (und des Kausalverlaufs) als Teilmoment des Erfolgsumechts an (526 ff.), während andererseits die Sorgfaltsanforderungen generell "im Hinblick auf die Voraussehbarkeit des Erfolgs" gestellt werden sollen (510 Fn. 17). Ähnlich unklar die systematische Einordnung bei eramer: Eingangs wird die Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung und des Erfolgs als Element der Sorgfaltswidrigkeit angesprochen (S/S § 15 Rn. 122, 125 f.), dann aber erst im Rahmen der "Zurechnungsprobleme beim fahrlässigen Erfolgsdelikt" (Rn. 159) behandelt (Rn. 180 ff.). Vgl. zu den Unklarheiten hinsichtlich der Stellung auch des Gegenstands der objektiven Voraussehbarkeit LR.d. Fahrlässigkeitsumechts die Zusammenstellung bei Triffterer, FS Bockelmann 204, 206 ff., 218 ff. - Zu Recht wird die selbständige Bedeutung der objektiven Voraussehbarkeit des Erfolgs neben dessen objektiver Zurechenbarkeit verneint von Nowakowski JBI. 1972, 26, 31; Burgstaller 77 f.; Roxin, AT I § 24/5, 10 ff.; auch Triffterer (FS Bockelmann 201 ff., bes. 223). Vielmehr ist die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs, d.h. die Realisierung einer durch die Handlung geschaffenen Gefahr, und konsequenterweise auch die Gefahrschaffung selbst gemeinsames Merkmal der vorsätzlichen und fahrlässigen Erfolgsde1ikte (so auch Nowakowski ibid.; Wolter 29 f., 33 f., 43, 156, 195; der Sache nach auch Jakobs, AT 9/7 ff. und Roxin, AT I § 24/5, 10 ff. LV.m. § 11). Jedenfalls insoweit besteht also kein Unterschied im Umecht des vorsätzlichen und des fahrlässigen Delikts, s. näher unten sub 2. - Auf die subjektive Voraussehoder Erkennbarkeit als eigenständiges Umechtsmerkmal der Fahrlässigkeitstat neben der individuellen Erkennbarkeit verzichten die in der folgenden Note Genannten. 74 Dafür vor allem Stralerrwerth: AT Rn. 1096 ff.; FS Jescheck 285 ff.; SK (Samson) Anh. zu § 16 Rn. 13 ff.; Otto, AT § 10 I 3, 5; Jakobs, Studien 48 ff., 64 ff., 83 und passim (zu Jakobs' und Wolters Konzeption s. unten sub 2 bei und in Fn. 126, 135 ff. und sub 11 A). Dagegen zutreffend Schünemann: FS Schaffstein 160 ff.; JA 1975, 512 ff.; Armin Kaufmann, FS Welzel 405 ff.; Schmidhäuser, FS Schaffstein 151 ff.; LKlO (Schroeder) § 16 Rn. 146 ff.; Wolter GA 1977,265 f.; Triffterer, FS Bockelmann 208 ff.; Hirsch ZStW 94 (1982) 268 ff.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

47

lässigkeit) das individuelle Voraussehenkönnen der "Tatbestandsverwirklichung" - wiederum: vor allem des ~rfolgs und des Kausalverlaufs - Schuldmerkmale seien75 . Vereinzelt wird die individuelle Voraussicht (sog. bewußte Fahrlässigkeit) und Voraussehbarkeit (sog. unbewußte Fahrlässigkeit) der Rechtsguts(objekts)beeinträchtigung oder "Tatbestandsverwirklichung" einem in Entsprechung zum Vorsatzdelikt gebildeten subjektiven Tatbestand zugeordnet, während die objektive Sorgfaltswidrigkeit den objektiven Tatbestand ausmachen so1l76. Ganz herrschend ist indessen die Auffassung, daß das Unrecht des fahrlässigen Delikts rein objektiv in der Verletzung einer nach objektiven Maßstäben bemessenen Sorgfaltspflicht begründet seP7. Für die Kompensation hat grundSätzlich dasselbe wie beim Vorsatzdelikt zu gelten. Sie ist jedoch bei der fahrlässigen Tat, wenn man sie in der gewohnten, soeben skizzierten Weise aufbaut, mit eigentümlichen Schwierigkeiten verbunden. Das zeigt sich bereits bei einem Vorschlag, der für das rein subjektive, den Erfolgsunwert aus dem Unrecht eliminierende Modell (oben sub A 1) von ZielinskP8 gemacht worden ist. Danach ist der Unrechtsaus75 Etwa Welzel131 ff., 175 f.; Jescheck 510 ff., 521 ff., 535 ff.; Burgstaller 16 ff., 23 f., 26 f., 29, 32 ff., 184 ff.; S/S: (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 52, 54; (Cramer) § 15 Rn. 133 ff. (mit der Maßgabe, daß höheres individuelles Leistungsvermögen zu berücksichtigen sei), 190 ff.; Lackner § 15 Rn. 36 ff.; Wessels, AT § 15 I, n 1-3, III 2; Bockelmann, AT 56, 159 f., 165; BockelmannlVolk, AT 54, 157 f., 165, 169; Maurach/Zipf, AT 1 § 17/9 ff.; Blei, AT § 82 I, n 1, 3 a; Schünemann: JA 1975, 438 ff., 512 ff., 787 ff., zusammenfassend 792; FS Schaffstein 159 ff.; Ebert 140 ff. 76 Maurach/Gössel/Zipj, AT 2 § 42143, § 43/5 ff., 23 ff., 112 ff. Zu Jakobs', Roxins und Wolters Fahrlässigkeitskonzeptionen, nach denen gleichfalls schon im Unrechtstatbestand nach objektiver und subjektiver Seite zu unterscheiden ist, s. unten sub 2 a.E. und sub 11 A. 77 Das gilt - sei es mit generellem, sei es mit individuellem Maßstab der Sorgfaltspflicht (oben bei und in Fn. 74) - auch für die Anhänger einer rein subjektivistischen Konzeption des vorsätzlichen Handlungsunwerts (oben sub A 2). Lenckner hat seine zumindest mißverständliche These, daß die objektive Sorgfaltspflichtverletzung als Handlungsunwert der Fahrlässigkeitstat im Sinne eines psychischen Sachverhalts zu verstehen sei (S/S21 vor §§ 13 ff. Rn. 55), offenbar fallengelassen: Nunmehr soll ganz in Parallele zum Handlungsunwert der Vorsatztat, der in einem 'objektiv ins Werk gesetzten 'Intentionsunwert'" bestehe, die "Objektivierung eines 'Sorgfaltsmangelunwerts' • den Handlungsunwert der Fahrlässigkeitstat darstellen (seit der 22. Aufl., jetzt S/S vor §§ 13 ff. Rn. 56). Allerdings wird die objektive Sorgfaltspflichtverletzung dann (immer noch) als subjektives Tatbestandsmerkmal eingeordnet, das bei den Fahrlässigkeitsdelikten "an die Stelle des Vorsatzes' trete (ibid. Rn. 63). Das ist Folge eines rein subjektiv verstandenen Handlungsunwerts, der den subjektiven Tatbestand widerspiegeln soll (s. oben sub A 2 bei und in Fn. 12 ff.). - Auch soweit man auf einen Erfolgsunwert als Unrechtskomponente meint verzichten zu können (dazu oben sub AI), wird ein objektiver Fahrlässigkeitsmaßstab vertreten; deutlich etwa Armin Kaufmann, FS Welzel 404 ff.; Zielinski 169 ff. (freilich mit der unabgeleiteten und nicht einsichtigen Einschränkung, daß die Gefährlichkeit der Handlung als Voraussetzung der Sorgfaltspflicht und der Sorgfaltswidrigkeit auf der Basis des Tatsachenwissens des Täters von der Situation beurteilt werden soll, 189 ff.). 78 Zielinski 255 ff., 310.

48

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

schluß ebenso wie bei der Vorsatztat79 rein subjektiv begründet: "Nur dadurch, daß die ' an sich sorgfaltswidrige ' Handlung zugleich ein rechtlich positiv bewertetes Handlungsziel intendiert und damit einen Handlungswert realisiert, ergibt sich die Möglichkeit, den durch die Sorgfaltswidrigkeit 'an sich' konkretisierten Handlungsunwert zu kompensieren und das Unrecht auszuschließen. "80 Auch bei der Rechtfertigung der fahrlässigen Tat sollen ausschließlich die Vorstellungen des Täters von der tatsächlichen Situation maßgebend sein. Der schon auf den ersten Blick merkwürdige Umstand, daß zwei völlig verschiedenartige Momente, die Sorgfaltspflichtverletzung und das subjektive Rechtfertigungselement, miteinander saldiert werden, wird bei Zielinski dadurch verdeckt, daß die für den Unrechtsausschluß erforderliche Abwägung unter dem Gesichtspukt des erlaubten Risikos bereits die Sorgfaltswidrigkeit entfallen lassen S01l81. Es ist aber beim fahrlässigen Delikt noch weniger als beim vorsätzlichen Delikt plausibel, daß für diese Abwägung die tatsächlichen Verhältnisse, so wie der Täter sie sich vorgestellt hat, zugrunde zu legen sind82 ; denn die Fahrlässigkeit bedeutet ja gerade, daß der Täter die Situation in einer Hinsicht verkennt, und diese Hinsicht kann für die Wertabwägung bedeutsam sein83 • So bleibt von diesem Vorschlag nur, daß das subjektive Rechtfertigungselement als subjektiver Handlungswert den Sorgfaltsmangel als objektive Komponente in seinem Unwert aufheben soll. Das ist, wenn man den Gedanken der elementweisen Saldierung vertritt, wegen der Strukturverschiedenheit der Elemente wenig einleuchtend84 . Daß das Erfordernis der strukturellen Gleichartigkeit der zu saldierenden Elemente für den Kompensationsgedanken darüber hinaus zwingend ist, soll noch gezeigt werden85 • Im umgekehrten Extrem meint man, auf ein subjektives Moment bei der Rechtfertigung einer fahrlässigen Tat verzichten zu können: Der Erfolgsun79

80

S. oben sub A 1 bei und in Fn. 6 ff.

Zielinski 255. Dabei ist schon hier darauf hinzuweisen, daß mit "intendiert" von Zielinski

nicht etwa das gemeint ist, was sonst unter den Begriffen des Intendierens (Beabsichtigens) und der Intention (Absicht) etc. verstanden wird, sondern vielmehr ein Vorstellen oder Annehmen; so ausdrücklich Zielinski 233 ff. und passim. Zur Kritik s. 5. Teil sub I B 2 und 3 b. 81 Wie Fn. 78. 82 Für Zielinski (295) beruht diese Sicht auf seiner verfehlten Annahme, daß sowohl die konkrete Gefährlichkeit und Sorgfaltswidrigkeit der Handlung (s. Fn. 77 a.E.) als auch die Erforderlichkeit der Rettung (248 ff.) auf der Basis der vom Täter vorgestellten Situation zu beurteilen seien. 83 Vgl. Stratenwerth, FS Schaffstein 191, der das Beispiel des Schützen bringt, der mit einem Schuß die in seinem Fischweiher wildernde Katze töten will und dabei ein Kind, das er nicht bemerkt hat, schwer verletzt. Zu Zielinskis Konstruktion einer sog. kognitiven Tatfahrlässigkeit, die diesen Fall erfaßt, s. unten 4. Teil sub I C. 84 S. bereits oben 1. Teil sub I bei Fn. 5. 85 Unten 4. Teil sub I B.

1. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

49

wert entfalle, wenn die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllt seien, und der verbleibende Handlungsunwert sei mangels Strafbarkeit des fahrlässigen Versuchs in der Regel straflos 86 • So beispielsweise im folgenden Falll:

Übermut tut manchmal gut?

V macht mit seinem Hockeyschläger aus Übermut eine plötzliche Ausholbewegung, durch die er dem sich unbemerkt von hinten anschleichenden Angreifer A einen mächtigen Schlag versetzt. Dieser Schlag war, objektiv gesehen, zur Abwehr des Angriffs erforderlich87 . Die vielfach ergänzend zur Begründung vertretene These, der Täter sei gerechtfertigt, wenn er fahrlässig einen Erfolg herbeigeführt habe, den er auch vorsätzlich hätte bewirken dürfen88 , ist in mehrfacher Hinsicht ungenau. Zunächst geht es bei der Rechtfertigung wie bei der Unrechtsbegründung nicht um das Ergebnis der Handlung, sondern um das Handlungsereignis selbst mit seiner Rettungstendenz bzw. seiner Gefährlichkeit. Sodann ist es nicht die Frage, ob eine vorsätzliche Tat gerechtfertigt wäre, sondern ob ein Verhalten, das nach der finalistischen Lehre nur fahrlässiges Unrecht verwirklicht, gerechtfertigt ist. Schließlich begründet die These nicht, was sie begründen soll, nämlich die Entbehrlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungsmoments beim Fahrlässigkeitsdelikt, weil die vorsätzliche Tat gerade nur bei Vorliegen auch des subjektiven Rechtfertigungselements gerechtfertigt ist. Rein immanent, d.h. bei Zugrundelegung des Finalismus, trifft es lediglich zu, daß die Rechtfertigung des fahrlässigen Delikts keinen schärferen Voraussetzungen unterliegen kann als die der Vorsatztat. Der von dieser Ansicht gemeinte Begriff des Erfolgsunwerts ist, wie der jeweilige Zusammenhang der Darlegungen ergibt89 , offenbar nicht der umfas86 R. Schmitt JuS 1963, 65 f., 67, 68; Stratenwenh, AT Rn. 1120 ff.; Rudolphi, FS Maurach 58; Burgstaller 180 f.; Schaffstein, FS Welzel 573 f., 576 (explizit nur für einzelne Fallgruppen); Hruschka: GA 1980, 17 f.; Strafrecht 227 f., 229 f.; Jakobs, AT 11130 ff.; SK (Samson) Anh. zu § 16 Rn. 32; S/S17 vor § 51 Rn. 77; Otto, AT § 10 I 5; Frisch, FS Lackner 130 ff.; Bockelmann, AT 166; Baumann/Weber 300; Schünemann JA 1975, 787; Geilen Jura 1981, 309 f.; Eben 146 f.; Steinbach 346 ff.; teilweise ebenso Jescheck 531 f. und BockelmannIVolk, AT 166 (für die Erfolgsdelikte); S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 95 ff. (für eine Fallgruppe, s. dazu in Fn. 107); § 32 Rn. 64. 87 Weitere Beispiele bei Schmitt JuS 1963, 66 f.; Maurach, AT 552; Stratenwenh, AT Rn. 1121; Burgstaller 172. 88 Schmitt JuS 1963, 66; Stratenwenh, AT Rn. 1120; Jescheck 532; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 95,99; Eben 146; Bockelmann, AT 166; Bockelmann/Volk, AT 166. 89 Etwa Stratenwenh, AT Rn. 1121 f.: Erfolgsunwert der Körperverletzung, "Handlungsunwert des unsorgfältigen Verhaltens als solchen"; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 99: "(Verlet4 RÖllgcr

50

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

sende im Sinne eines negativ bewerteten Sachverhalts oder der Verwirklichung des objektiven Tatbestands90 , sondern es ist der von der oben sub A 3 erörterten Konzeption und auch hier zugrundegelegte Begriff des Erfolgsunwerts gemeint, den nur die Erfolgsdelikte aufweisen und der durch ein der Handlung nachfolgendes und objektiv zurechenbares Ereignis begründet wird91 • Doch ist ein diesem Erfolgsunwert korrespondierender Rettungserfolgswert für die Rechtfertigung z.B. wegen Notwehr und Notstands nach §§ 32, 34 nicht vorausgesetzt: Ob die Abwehr oder die Rettung gelingt, ist für den Unrechtsausschluß gleichgültig, wenn nur die Handlung objektiv eine (hinreichende) Chance zur Rettung (Abwehr) eröffnete92 • Nun ist es kein Ausweg, auf die formale Sicht zurückzugreifen und den in der Verwirklichung der objektiven Rechtfertigungsseite (d.h. in einer den objektiven Merkmalen eines Rechtfertigungsgrunds entsprechenden Handlung) liegenden Erfolgswert den durch die Verwirklichung des objektiven Tatbestands (d.h. durch eine diesem entsprechende Handlung und - ggf. durch einen objektiv zurechenbaren Erfolg bestimmter Art) realisierten Erfolgsunwert (dieser Begriff also im umfassenden Sinne verstanden) ausgleichen zu lassen. Denn abgesehen von den Mängeln einer solchen Bildung des Begriffs des Erfolgsunwerts93 , bliebe unbestimmt, wie das positive Pendant, der kompensierende Wert, beschaffen sein muß. Ein solcher Ansatz muß daher von vornherein bei der Begründung einer Unrechtsminderung versagen94 • Überdies hätte das Bestehenbleiben des Handlungunrechts der Fahrlässigkeitstat die Konsequenz, daß "Rechtfertigung" hier nicht wie sonst bedeutete, daß das Verhalten erlaubt ist, sondern lediglich, daß es nicht bestraft werden kann95 • Und schließlich stellt sich selbst dann, wenn man auf eine Kompensation des (wie hier) eingeschränkt verstandenen ("sekundären"96) Erfolgsunwerts abstellt, die Frage, wie dann zu verfahren ist, wenn ein solcher fehlt zungs- oder Gefährdungs-)Erfolg", "sorgfaltswidrige Handlung als solche"; SK (Samson) Anh. zu § 16 Rn. 32: "folgenlose Fahrlässigkeit", es geht um Erfolgsdelikte; Burgstaller 179 ff.; Jescheck 532 mit der Beschränkung auf Erfolgsdelikte. Daß damit die Vertreter der oben sub A 2 dargestellten Unrechtskonzeption (so die Vorgenannten mit Ausnahme von Jescheck, s. die Nachw. oben sub A 2 in Fn. 13) ihren sonst zugrundegelegten umfassenden Erfolgsunwertbegriff nicht ernstnehmen, sei nur angemerkt. 90 Dazu oben sub A 2 bei und in Fn. 13, 35 ff. 91 S. ibid. bei und in Fn. 31 ff. und sub A 3 bei und in Fn. 43. 92 S. oben sub A 3 bei Fn. 65. 93 Dazu oben sub A 2 a.E. 94 S. bereits oben 1. Teil sub UI. 95 Daß wegen des nichtkompensierten Handlungsunwerts das Unrecht der Fahrlassigkeitstat nicht ausgeschlossen ist, sondern (bei Erfolgsdelikten) lediglich straflos bleibt, wird durchaus gesehen: deutlich Burgstaller 180 f.; Roxin, AT I § 24/96, 98; ferner etwa Stratenwenh, AT Rn. 1120, 1122; Jeschedc 532; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 99. 96 Oben sub A 2 a.E. bei und in Fn. 40.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

51

und eine Straftat nur einen Handlungsunwert aufweist. Man denke etwa an eine fahrlässige Falschaussage (§ 16497) oder eine Trunkenheitsfahrt nach § 316 11 in einer Notstandssituation. Als den Handlungunwert der Fahrlässigkeitstat kompensierendes Moment kommt zunächst der bereits herausgearbeitete Gefahrenabwendungs- oder Rettungschancenwert98 in Betracht. Eine Handlung, die den objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen entspricht, schafft die Chance, daß ein Rechtsgutsobjekt vor Schaden bewahrt (gerettet) wird - so z.B. im Fall des Notstands nach § 34 - oder (mit Kategorienwechsel, aber griffiger formuliert) ein Geltungsanspruch durchgesetzt wird - so das Strafverfolgungsinteresse bei der vorläufigen Festnahme nach § 127 I StPO und die empirische (oder unmittelbar präsente) Geltung oder Selbstbehauptung der Rechtsordnung (als Rechtsgut zweiter Ordnung) bei der Notwehr nach § 3299 . Doch spricht gegen diese Möglichkeit, den objektiven Handlungswert dem durch die Sorgfaltspflichtverletzung begründeten Handlungsunwert gegenüberzustellen, die Ungleichartigkeit der zu saldierenden Elemente. Ein dem Sorgfaltsmangelunwert strukturell entsprechendes werthaftes Element müßte in der Beobachtung einer vom Rechtsgut in einer Rechtfertigungssituation geforderten bzw. ihm zugute kommenden Sorgfalt bestehen. Wo der Täter es in einer Hinsicht gegenüber dem Rechtsgut an Sorgfalt hat fehlen lassen, soll er, so könnte man formulieren, gewissermaßen zum Ausgleich in anderer Hinsicht, nämlich soweit es um die rechtfertigende Seite seiner Handlung geht, sorgfaltig gewesen sein. Aber das ist nur ein Spiel mit Worten. Denn den werthaften Aspekt der fahrlässigen Tat macht aus, daß sie einem anderen als dem beeinträchtigten Rechtsgutsobjekt zugute kommt (einen anderen Achtungsanspruch erfüllt), was nur von den objektiven Umständen und den objektiven Eigenschaften der Handlung, die bei Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen so beschaffen sind, abhängt und nicht davon, ob der Täter eine so beschaffene Handlung auch sorgfaltig ausgeführt hat.

97 Die Aussagedelikte werden hier mit einer verbreiteten Meinung (etwa Lackner vor § 13 Rn. 32; S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 130) als Tätigkeitsdelikte eingeordnet, obwohl sie einen Erfolg aufweisen, nämlich die Wahrnehmung der Aussage durch die zuständige Stelle, s. oben sub A 2 Fn. 32. 98 S. oben sub A 3 bei und in Fn. 63. 99 Zu diesem Verständnis der Notwehr hier nur der Hinweis auf Schmidhäuser: FS Honig 192 ff.; AT 9/86, 95; StB 6/51 ff.; GA 1991, 121 f. (das bei der Notwehr vorrangige Gut ist statt mit "empirische Geltung der Rechtsordnung" angemessener und unmißverständlicher mit "Selbstbehauptung des Rechts" zu bezeichnen); s. noch unten 4. Teil sub I A bei und in Fn. 2 f.

52

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

Eine besondere Sorgfaltsforderung könnte allenfalls in der Prüfung bestehen, ob die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen gegeben sind und von der geplanten Handlung eingehalten werden. In der sorgfaltigen Prüfung dieser Umstände einen Handlungswert zu sehen, hätte im Hinblick auf die strukturelle Gleichartigkeit mit dem Sorgfaltsmangelunwert einige Attraktivität für das vorherrschende Fahrlässigkeitsverständnis. Verlangte man eine derartige Prüfung allein für die Rechtfertigung der fahrlässigen Tat, stellte man an ihre Rechtfertigung schärfere Anforderungen als an die der Vorsatztat; denn ein Bewußtsein rechtfertigender Umstände zu haben oder aus einem entsprechenden Grund zu handeln, bedeutet im Gegensatz zu einer Prüfung keine Anstrengung. Wenn Konsequenz im Spiel sein soll, müßte die genannte Sorgfalts forderung mithin Rechtfertigungsvoraussetzung auch des Vorsatzdelikts sein. Dann wäre allerdings die heute zu Recht als Voraussetzung der Rechtfertigung abgelehnte Pflicht zur gewissenhaften Prüfung der Rechtfertigungslage lOO wieder eingeführt, und zwar als formelle Voraussetzung, deren Fehlen auch bei objektiv erfülltem Rechtfertigungsgrund die Rechtfertigung ausschlösse. Als das subjektive Rechtfertigungselement entgegen z.B. der gesetzlichen Fassung des Notstands nach § 34 ersetzendes Moment wäre die beschriebene Sorgfalts leistung zu ungleichartig, um mit dem subjektiven Handlungsunwert der Vorsatztat saldiert zu werden. In diesem Fall ergäbe sich zudem die mißliche Folge, daß bei Befolgung dieser Pflicht, wofür es nach der Lehre vom individuellen Sorgfaltsmaßstab lOl konsequenterweise auf die Fähigkeiten des Täters ankommen müßte, die Tat wegen aufgehobenen Handlungsunwerts

100 Für viele Zielinski 273 ff.; Rudolphi, OS Schröder 76 ff.; Jescheck 296 f.; SK (Samson) vor § 32 Rn. 26; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 17 f. m.w.N. Die Rechtsprechung hat zwar zum früheren übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand die pflichtgemäße Prüfung verlangt (etwa ROSt 62, 137, 138; BOHSt 14, I, 2), aber offenbar im Fall tatsächlich gegebener Rechtfertigungslage nie wegen nicht erfolgter gewissenhafter Prüfung bestraft (s. Welzel JZ 1955, 143; Zielinski 272; Jakobs, AT 11/24 Fn. 37). - Die Ansicht, die eine sorgfältige Prüfung als objektiv vorhandene Rechtfertigungsumstände ersetzendes Moment bei solchen Rechtfertigungsgründen fordert, bei denen eine ex post nicht erforderliche Rechtsgutsverletzung im Hinblick auf die Zwecke des Täter und die ex ante bestehende Unsicherheit gebilligt werden soll - genannt werden die sog. mutmaßliche Einwilligung, die berechtigte Wahrnehmung berechtigter Interessen gem. § 193 und bestimmte Amtsrechte, etwa nach § 12711 StPO - (so insbesondere Lenckner, FS Hellmuth Mayer 178 ff.; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 19 f.; Jescheck 296 f.), ist ebenfalls abzulehnen; s. Rudolphi, OS Schröder 76 ff., 86 ff.; Jakobs, AT ll/25 ff.; SK (Samson) Anh. vor § 32 Rn. 28; LKIO (Hirsch) vor § 32 Rn. 54; wohl auch Zielinski 273 ff. - Daß das Prüfungserfordernis bei der Putativrechtfertigung als Kriterium der Vermeidbarkeit des Irrtums dann doch wieder eine (bedeutsame) Rolle spielen soll, sei hier nur angemerkt; dazu näher unten 4. Teil sub I C. 101 S. oben bei und in Fn. 74.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

53

auch dann gerechtfertigt wäre, wenn die Rechtfertigungsvoraussetzungen in Wahrheit nicht erfüllt sind. Nähme man den in der Sorgfaltsleistung angeblich liegenden Handlungswert hingegen als zusätzliche Rechtfertigungsvoraussetzung, würde die Rechtfertigung entgegen dem Gesetzeswortlaut z.B. der §§ 32, 34 eingeschränkt. Er wäre nach dem Gedanken elementweiser Saldierung zudem überflüssig, weil der durch das Handeln mit subjektivem Rechtfertigungselement (angeblich) begründete subjektive Handlungswert zusammen mit dem objektiven Handlungswert das Unrecht bereits vollständig kompensiert lO2 • Schließlich kann durch die sorgfältige Prüfung der rechtfertigenden Situation gar kein Handlungswert der rechtsgutsverletzenden Handlung, um deren Rechtfertigung es geht, begründet werden. Denn erstens ist die Unterlassung oder Erbringung dieser Prüfung nicht für das Unrecht, sondern allenfalls für die Schuld relevant lO3 ; und zweitens kann ein notwendig vor dem in Rede stehenden Handeln liegendes Verhalten keinen Wert-(aspekt) dieses Handeins ausmachenl()4. Daher scheidet die genannte Sorgfaltsleistung als Rechtfertigungsvoraussetzung aus und scheitert demgemäß eine auf sie abstellende Konstruktion der Kompensation fahrlässigen (und vorsätzlichen) Unrechts. So bleibt nur die Möglichkeit, zur Kompensation des fahrlässigen Handlungsunwerts das subjektive Rechtfertigungselement heranzuziehen und dieses zur Rechtfertigung der Fahrlässigkeitstat stets 105 oder doch im Fall der Tätig102 Zu der sorgfältigen Prüfung der Rechtfertigungssituation als den objektiven Handlungswert im Fall der Putativrechtfertigung ersetzendes Moment s. den Hinweis in Fn. 100 a.E. 103 Dazu näher unten 4. Teil sub I C bei und nach Fn. 101. 104 S. dazu unten 4. Teil sub I C bei Fn. 108. 105 So auf der Grundlage des Finalismus neben Zielinski (oben Fn. 78): Niese 46 f. mit Fn.72; Maurach, AT 551 f.; Maurach/GössellZipj, AT 2 § 44/15 ff.; LKIO (Hiseh) vor § 32 Rn. 58; auch Nowakowski ÖJZ 1977,580 i.V.m. 576 f.; Jungclaussen 168 ff.; mit Modifikationen gegenüber der Vorsatztat: Geppert ZStW 83 (1971) 978 ff. (es genüge bloße Kenntnis der rechtfertigenden Situation, insbesondere bei der Einwilligung); Raimund Hassemer JuS 1980, 414 (ebenso speziell für die Notwehr); Eser 11 23 f. (von genereller Verteidigungstendenz getragenes Handeln bei der Notwehr bzw. Vorstellung von der Einwilligung). Für ein subjektives Rechtfertigungselement bei der Fahrlässigkeitstat teilweise die Rechtsprechung: OLG Hamm NJW 1962, 1169 (aber unklar); BGHSt 25, 229, 231 f. (beide zur Notwehr); OLG Schleswig VRS 30 (1966) 462,464 (zum Notstand). Ebenso unabhängig vom Finalismus: Baumann 314 (für die Notwehr wird Kenntnis der rechtfertigenden Situation verlangt; anders jetzt BaumannIWeber, s. Fn. 86); Dreherffröndle § 15 Rn. 15 i.V.m. § 32 Rn. 14, 16. - Für die Straftatkonzeption Schmidhäusers ergibt sich ohne weiteres, daß vorsätzliche und fahrlässige Straftat hinsichtlich der Voraussetzungen des Unrechtsausschlusses nicht voneinander abweichen, da sie sich erst in der Schuld unterscheiden (s. unten 6. Teil sub I). Ausdrücklich für dasselbe subjektive Rechtfertigungselement bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tat Alwart GA 1983, 455.

54

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

keits-(und abstrakten Gefahrdungs-)Delikte lO6 , in denen es an einem ("sekundären") Erfolgsunwert fehlt, oder für eine bestimmte Fallgruppe lO7 zu verlanJescheck 531 f .. Lenckner (SIS vor §§ 32 ff. Rn. 94 ff.) unterscheidet zwei Fallgruppen. Die Fälle der ersten Gruppe zeichneten sich dadurch aus, daß die Handlung nach der Art ihrer Vornahme sorg106 107

faltswidrig, doch im Ergebnis richtig sei, weil ein Sachverhalt vorliege, der bezüglich des betroffenen Guts ein Eingriffsrecht begründe, das zum Wegfall des Erfolgsunwerts führe. In dieser Konstellation sei ein - von Lenckner als Kenntnis des rechtfertigenden Sachverhalts verstandenes - subjektives Rechtfertigungselement nicht erforderlich; einer besonderen, auf den sozial wertvollen Erfolg gerichteten Absicht bedürfe es wie beim Vorsatzdelikt (ibid. Rn. 16 f.) nur, wenn dieser nicht durch die Tat als solche erreicht werden könne. Bei einem Fall der zweiten Gruppe sei bereits das fahrlässige Handlungsunrecht beseitigt, weil die an sich sorgfaltswidrige Handlung aufgrund einer besonderen Handlungsbefugnis auf die Gefahr hin habe vorgenornrnen werden dürfen, daß es zu dem tatbestandsmäßigen Erfolg komme. Es handele sich um die Fälle des sog. erlaubten oder gerechtfertigten Risikos: Die erforderliche Sorgfalt dürfe nach dem Prinzip des überwiegenden oder mangelnden Interesses unter der Voraussetzung verletzt werden, daß alle möglichen Vorsichtsmaßnahrnen getroffen würden. Dies sei nur bei sog. bewußter Fahrlässigkeit möglich und setze neben dem subjektiven Rechtfertigungselement außerdem eine pflichtgemäße Prüfung voraus. - Dieser Einteilung kann nicht gefolgt werden. Erstens gibt es Taten, die sich sowohl in die erste als auch in die zweite Gruppe einordnen lassen: beispielsweise eine fahrlässige Trunkenheitsfahrt (§ 316 11) in einer erkannten oder unerkannten Notwehrlage, die zu einer fahrlässigen Körperverletzung (§ 230, daneben Tat nach § 315 c I Nr. 1 a, III Nr. 2) des Angreifers führt (s. sogleich im Text den Fall 3); oder eine fahrlässige Trunkenheitsfahrt oder - auch verbunden damit - eine Verkehrsgefährdung nach § 315 c I Nr. 2, III, die in einer (un-)erkannten Notstandssituation den Rettungserfolg, soweit er in der Macht des Täters steht, selbst schon herbeiführt - man nehme das absurde Beispiel, daß der Fahrer den in akuter Lebensgefahr schwebenden Verletzten in seinem Auto nicht bemerkt und nun angetrunken und/oder unter konkreter Gefährdung Dritter und bedeutender Sachwerte zufällig auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus fährt - oder gar einen Unfall verursacht, was zur Folge hat, daß man den Schwerverletzten fmdet und retten kann. Fälle wie den letztgenannten, freilich mit der Abwandlung, daß die Fahrt zum Unglücksort führt und daher den Rettungserfolg noch nicht bewirken kann (und deshalb nach Lenckner mit besonderer Absicht ausgeführt werden muß), ordnet wohl auch Lenckner beiden Fallgruppen zu (s. die Bezugnahme auf die erste Fallgruppe ibid. Rn. 100 a.E.; ferner Rn. 101). Zweitens offenbart sich in der Charakterisierung der Fallgruppen eine verfehlte Sicht der Rechtfertigung. Es geht bei der Rechtfertigung nicht um ein "richtiges Ergebnis", das sich nach der Handlung einstellt, sondern immer, also nicht nur in der zweiten Fallgruppe, um eine trotz ihrer Gefährlichkeit wegen der von ihr zugleich geschaffenen Chance, daß ein positiv zu bewertendes Ereignis eintritt, erlaubte Handlung. Insofern unterfallen - sieht man von den Fällen des "mangelnden Interesses", also insbesondere der Einwilligung, einmal ab, die ohnehin nicht der Rechtfertigung zuzurechnen sind (s. oben Fn. 64) - alle Rechtfertigungskonstellationen dem "gerechtfertigten Risiko" (s. dazu sogleich bei und in Fn. 121). Auch Lenckner würde wohl kaum die von ihm (ibid. Rn. 95) aufgrund eines Eingriffsrechts für gerechtfertigt gehaltenen Handlungen der ersten Fallgruppe für verboten halten, was jedoch der fehlende Ausschluß des Handlungsunwerts impliziert (so auch die Kontrastierung der beiden Fallgruppen, s. a.A. dieser Note). Damit werden die in den beiden Gruppen unterschiedlichen subjektiven Voraussetzungen für eine Rechtfertigung obsolet. Schließlich ist die Charakterisierung der zweiten Fallgruppe verfehlt, wonach den Handelnden in den betreffenden Fällen kein echtes Eingriffsrecht, sondern nur ein ·schlichtes Handlungsrecht verliehen" werde und dem Betroffenen keine Duldungspflicht gegenüber der gerechtfertigten Handlung obliege (Rn. 101; ebenso generell Rn. 11). Denn erstens verleihen die Rechtfertigungsgründe keine subjektiven Rechte (s. Schmidhiiuser: AT 9/109; StB 6/82 m.w.N.;

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

55

gen. Danach wäre der Täter im folgenden Fall wegen Notstands nach § 34 gerechtfertigt: Fall 2:

Der unkundige Wissenschaftler

Der Unternehmer U fordert den bei ihm angestellten Wissenschaftler W auf, gegenüber dem sich im Betrieb über das Forschungsvorhaben erkundigenden Beamten der Subventionsbehörde falsche Angaben zu machen. Anderenfalls müsse er, der U, einen Kidnapper dingen, der die Tochter des W entführen werde. Aus Angst um seine Tochter tut W wie ihm aufgetragen, verkennt dabei aber leichtfertig, daß seine Angaben subventionserheblich sind (vgl. § 264 III, I Nr. 1, VII). An der differenzierenden Ansicht befremdet, daß je nach Deliktstyp unterschiedliche Rechtfertigungsvoraussetzungen gelten sollen. Das veranschaulicht folgender Fall 3:

Der glücklicherweise betrunkene Autofahrer

Der nach reichlichem Alkoholgenuß fahruntüchtige A setzt sich, ohne sich seiner übermäßigen Alkoholisierung bewußt zu sein, ans Steuer seines Autos. Im Rausch legt er statt des Vorwärts- den Rückwärtsgang ein, gibt Gas und fährt den Räuber R an, diesen so im letzten Moment daran hindernd, die Beifahrertür zu öffnen und ihm mit vorgehaltener Pistole seine Brieftasche abzufordern. Verlangte man nur für die Rechtfertigung des abstrakten Gefahrdungsdelikts und des Tätigkeitsdeliktes ein subjektives Rechtfertigungselement, so wäre in diesem Fall die Körperverletzung (§ 223 a) und das konkrete Gefahrdungsdelikt (§ 315 c I Nr. 1 a, III Nr. 2) auch dann nach § 32 gerechtfertigt lO8 , wenn A den B gar nicht bemerkt hat, während eine Rechtfertigung der Tat nach § 31611 in diesem Fall ausschiede. Umgekehrt wäre bei folgerichtiger Durchführung des Gedankens elementweiser Kompensation zur Rechtfertigung des schlichten Tätigkeits- und des abstrakten Gefahrdungsdelikts die objektive Rechtfertigungsseite entbehrlich: Da das subjektive Rechtfertigungselement (genauer: der durch das Handeln GA 1991, 108), sondern heben, wenn sie erfüllt sind, das Unrecht auf. Und zweitens ist es widersprüchlich, wenn einerseits eine Handlung gerechtfertigt ist und andererseits derjenige, in dessen Recht die Handlung eingreift, sie nicht zu dulden braucht. 108 Für die Straftat nach § 315 c ohne Begründung offenbar a.A. Stratenwenh, AT Rn. 1122.

56

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

mit ihm begründete Handlungswert} den Handlungsunwert ausschließen soll und ein Erfolgsunwert im engeren Sinn bei diesen Delikten fehltl 09 , wären objektive Rechtfertigungsmomente zum Unrechtsausschluß gar nicht mehr nötig - ein nicht akzeptables Ergebnis 11O • Vor allem ist auch dieser Lehre, daß zum Ausschluß des spezifischen Fahrlässigkeitsunrechts Gedenfalls in einigen Fällen) ein subjektives Rechtfertigungselement notwendig ist, nach dem Gedanken der elementweisen Saldierung entgegenzuhalten lll , daß das unwerthafte Element, die Sorgfaltspflichtverletzung (Manifestation eines Sorgfaltsmangels) als (wesentlich I12) objektives Moment, und das subjektive Rechtfertigungselement als werthafte Komponente zu verschieden sind, um zwecks vollständiger - beim (Handlungs-)Unrechtsausschluß - oder teilweiser - bei der (Handlungs-)Unrechtsminderung - miteinander saldiert zu werden ll3 , 114. Daß es sich andererseits empfiehlt, an der schon aus Gründen der Plausibilität zu statuierenden Vor-

So ausdrücklich auch etwa Jescheck 237. S. noch unten 4. Teil sub I B. 111 Wenn, wie anzunehmen ist, das subjektive Rechtfertigungselement nicht alleiniges, sondern zusätzliches Erfordernis neben den objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen ist, ergibt sich eine axiologische Spannung zu einer Folgerung aus dem Gedanken der elementweisen Kompensation. Danach ist nämlich bei einer Vorsatztat nur ein Versuch gegeben, wenn der Täter von den objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen nichts weiß, weil (nach diesem Gedanken) der Erfolgsunwert (bzw. der objektive Handlungsunwert) aufgehoben ist (dazu mit Nachweisen oben 1. Teil sub 11 bei und in Fn. 22 ff.). Eine entsprechende Besserstellung des Täters (in vielen Fällen Straflosigkeit, sonst fakultative Strafmilderung nach § 23 11) ist bei der Fahrlässigkeitstat, da es keinen fahrlässigen Versuch gibt, nicht möglich, wenn man ein subjektives Rechtfertigungselement als zusätzliche Rechtfertigungsvoraussetzung der Fahrlässigkeitstat fordert. Es bleibt der Handlungsunwert der Fahrlässigkeitstat bestehen, weil das subjektive Rechtfertigungselement nicht vorhanden ist und der Sorgfaltsmangel folglich nicht kompensiert ist. Erschöpft der Handlungsunwert wie bei den Tätigkeits- und abstrakten Gefährdungsdelikten das Unrecht, ist also wegen vollendeter fahrlässiger Straftat ohne Milderungsmöglichkeit zu strafen, wenn die Fahrlässigkeitsschuld gegeben ist. 112 Auch wenn man einen individuellen Fahrlässigkeitsmaßstab wählt (dazu oben bei und in Fn. 74), wird die Sorgfaltspflicht nicht durch das, was der Täter in der Handlungssituation getan, gedacht und wahrgenommen hat, sondern durch das, wozu der Täter imstande war, bestimmt. Als Pflicht ist also auch die individuelle Sorgfaltspflicht objektiv. 113 Diesen Gesichtspunkt läßt Nowakowski (ÖJZ 1977, 580) außer acht, wenn er auf der Basis des Finalismus und der Kompensationslehre (ibid. 574, 576 ff.) die subjektive Rechtfertigungsseite für vorsätzliches und fahrlässiges Unrecht ohne weiteres als dieselbe bestimmt. 114 Nimmt man einen objektiven (Sorgfaltspflichtverletzung) und einen subjektiven (Voraussicht oder Voraussehbarkeit der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes) Tatbestand der Fahrlässigkeit an (s. oben bei und in Fn. 76), stellt sich das Problem der strukturellen Ungleichartigkeit mit den kompensierenden Werten, dem objektiven (Chancenwert) und dem subjektiven (subjektives Rechtfertigungselement) Handlungswert, zweimal; zur Ungleichartigkeit im Objektiven s. oben bei Fn. 98 f., zu der im Subjektiven s. unten sub 11 A bei und in Fn. 211. 109 110

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

57

aussetzung der Strukturgleichheit der zu saldierenden Elemente festzuhalten, wird noch zu zeigen sein 115 • Man könnte endlich daran denken, in Entsprechung zum Handlungsunwert 116 das zusätzlich zu den objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen erforderliche Moment zu objektivieren und zu verlangen, daß die rechtfertigende Situation objektiv ex ante vom Standpunkt des Täters aus erkennbar war l17 • Ganz abgesehen davon, daß in diesem Umstand schwerlich ein Handlungswert oder überhaupt ein Wert erblickt werden kann, ergibt diese Einschränkung der rein objektiven Rechtfertigungssicht gar keinen Sinn. Liegt die objektive Rechtfertigungslage nämlich vor - und nur in diesem Fall kann sie ja erkennbar sein -, ist es unerfindlich, weshalb die Rechtfertigung gerade deshalb versagt werden soll, weil sie objektiv nicht und deshalb auch nicht vom Handelnden erkennbar war. Ersetzt man "erkennbar" durch "anzunehmen" und macht dieses Kriterium damit auf den Fall der fehlenden Rechtfertigungslage anwendbar, führt es zu demselben widersinnigen Ergebnis, die Rechtfertigung im Fall der tatsächlich gegebenen Rechtfertigungsvoraussetzungen dann nicht eintreten zu lassen, wenn objektiv gar kein Grund bestand, die rechtfertigende Situation anzunehmen. - Diese verfehlte Konstruktion zeigt, wozu die Auffassung führen kann, die Elemente der Rechtfertigung seien positive Spiegelbilder oder Gegenstücke der Unrechtselemente. Überblickt man die Konstruktionsversuche, kommt man nicht umhin festzustellen, daß das durchaus überwiegende Fahrlässigkeitsverständnis und der Kompensationsgedanke schwerlich miteinander in Einklang zu bringen sind. Und angesichts der verbreiteten Tendenz, auf das Ergebnis des Verhaltens und dessen Unwert und Wert abzustellen ll8 statt auf die Handlung selbst mit ihrer subjektiven Seite und den durch sie realisierten Unwert und Wert, flillt die Diskrepanz zur "personalen" Unrechtslehre auf, zu der man sich allseits bekennt und aus deren Betonung des Handlungsunwerts man die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungsmerkmals herleitet, wenn auch nur für die Vorsatzdelikte 119 • Aber der Blick auf die Folgen der Handlung entspricht Unten 4. Teil sub I B. Dazu oben bei und in Fn. 73. 117 So Burgstaller 180, der dieses Erfordernis statt der Keuntnis des rechtfertigenden Sachverhalts erwägt, aber dann mit der oben bei Fn. 86 wiedergegebenen Überlegung auf jedes der beiden Erkennbarkeitserfordernisse verzichtet. Im übrigen hat das Erkennbarkeitserfordernis nur hinsichtlich zur Zeit der Handlung bereits feststehender Umstände (wie z.B. des Angriffs bei der Notwehr nach § 32) Sinn, weil die prognostischen Elemente das Moment der objektiven Erkennbarkeit bereits enthalten. 118 S. oben bei und in Fn. 86 ff. 119 Nachweise s. oben 1. Teil in Fn. 16. 115

116

58

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

auch nicht den gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründen, nach denen es auf den positiv zu wertenden Erfolg (z.B. die Gefahrbeseitigung beim Notstand) grundsätzlich nicht ankommt l20 , und verfehlt die Funktion der Rechtfertigung. Es kommt auch im Bereich der Erfolgsdelikte nicht darauf an, ob ein "Erfolg eintreten durfte", sondern ob eine Handlung trotz der mit ihrer Ausführung verbundenen Risiken (oder Rechtsgutsverletzung(en» vorgenommen werden darf1 21 ; und dafür ist es unerheblich, ob vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt worden ist. Das legt ein anderes Modell des fahrlässigen Unrechts nahe, nach dem das Handlungsunrecht der vorsätzlichen Tat mit dem der fahrlässigen Tat zumindest teilweise identisch ist (eine vollständige Übereinstimmung kann es nicht geben, solange man mit dem Finalismus den Vorsatz als unrechtsbegründendes Moment versteht), nämlich soweit es um das objektive Handlungsunrecht geht - im Erfolgsunwert stimmen die beiden Deliktsarten ja nach einhelliger Meinung ohnehin überein. Damit könnten sich die eigentümlichen Probleme bei der Unrechtskompensation, welche die Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung mit sich bringt, vermeiden lassen.

2. Grundlagen einer angemessenen Konzeption Daß das grundlegende Charakteristikum des (unrechts-)tatbestandsmäßigen Verhaltens (auch) der fahrlässigen Erfolgsdelikte in der Gefährlichkeit für ein Rechtsgutsobjekt, in der Schaffung eines Risikos für den Erfolgseintritt liegt, also mit dem oben 122 zur dritten finalistischen Unrechtskonzeption herausgestellten objektiven Handlungsunwert gleichzusetzen ist, wird heute vielfach erkannt und ausdrücklich betont l23 • Dieses Moment der Gefahrschaffung wird S. oben sub A 3 bei Fn. 65. Deshalb heißt es, die Rechtfertigungsgründe seien Anwendungsfälle des Prinzips des "erlaubten Risikos" (Rudolphi, GS Schröder 81 f.; Wolter 38, 138, 360; der Sache nach auch Nowakowski JBI. 1972, 26). Freilich trifft das nicht auf alle Rechtfertigungsgründe zu, z.B. nicht auf § 127 I StPO, bei dem die Rechtsgutsobjektverletzung nicht ungewiß, sondern mit der Vornahme der erlaubten Festnahme bereits gegeben ist. Zur Bezeichnung eines speziellen Rechtfertigungsgrundes (Unterfall der sozialen Adäquanz) fungiert der Terminus "erlaubtes Risiko" bei Schmidhäuser: AT 9/30 ff.; StB 6/107 ff. (dazu näher unten 6. Teil sub III BI); derselbe Begriff, aber nicht als Rechtfertigungsgrund, sondern als Tatbestandsausschluß gesehen bei Nowakowski 181. 1972, 27. Nach Jescheck (360 ff., 534 f.) ist das erlaubte Risiko kein eigenständiger Rechtfertigungsgrund, sondern "Strukturprinzip für verschiedene Rechtfertigungsgründe ", die auf verfehlte, Funktion und Wirktmg der Rechtfertigung verkennende Weise dadurch gekennzeichnet werden, daß der TAter keine Eingriffsbefugnis, sondern nur eine Handlungserlaubnis habe; ebenso für Vorsatztaten Lenckner (SIS vor §§ 32 ff. Rn. 11, 100 ff., 107 b), während das erlaubte Risiko bei Fahrlässigkeitstaten ein Rechtfertigungsgrund sei (s. dazu oben in Fn. 107). 122 Sub A 3 bei Fn. 52 ff. 123 Nowakowski: JZ 1958, 337; JBI. 1972, 26, 31; Wolter 29 f., 33 f., 43, 154, 156, 195, 331 f., 361; s. auch bereits id. GA 1977, 267 f., 273; Frisch 73, 84 ff. (s. dazu unten sub 11 B); 120 121

I. Die traditionelIe und vorherrschende Lehre

59

auch in den Erläuterungen der Sorgfaltswidrigkeit deutlich sichtbar, die ohne dieses Moment gar nicht sinnvoll zu definieren ist l24 • Daß jemand seine Bücher unsorgfältig in seiner ganzen Wohnung verstreut aufbewahrt, ist rechtlich irrelevant. Das unachtsame (tlsorgfaltswidrigetl) Befahren einer Wohnstraße ist dagegen verboten, was gar nicht verständlich wäre, wenn es nicht Gefahren für mannigfache Rechtsgutsobjekte mit sich brächte, die sich in einem möglicherweise zur Strafbarkeit führenden Gefährdungs- oder Verletzungserfolg realisieren können. Freilich trägt die Rede von der Sorgfaltspflichtverletzung zur allgemein strafrechtlichen Analyse und zur Erfassung des Gefährlichkeitsunwerts von Verhaltensweisen nichts bei, sondern erweckt den Eindruck, als sei sorgfältiges Handeln geboten, wo vielmehr gefährliches (und oftmals: sorgfaltswidriges) Handeln verboten ist l25 • Schon deshalb ist auf die Sorgfaltspflichtverletzung als Merkmal des Unrechtstatbestands (der UnrechtsbegTÜndung) zu verzichten, und zwar auch bei einer finalistischen Trennung von vorsätzlichem und fahrlässigem Unrecht l26 • Das gilt auch dann, wenn man bedenkt, daß nicht jedes gefährliche Verhalten verboten sein kann. Denn erstens stellt sich das Problem, die mißbilligten, weil mit einer nicht mehr hinnehmbaren Gefahr verbundenen, Verhaltensweisen auszusondern, für vorsätzliche und fahrlässige Taten in gleicher Weise 127 • Und zweitens leistet der Topos der Sorgfaltspflicht bei dieser Aufgabe nur in eingeschränktem Maße Hilfe. Für eine materiale Unrechtssicht hat die Lösung auf der Ebene der RechtfertigungsgTÜnde zu erfolgen, wo die für eine Schmidhiiuser, z.B. FS Schaffstein 132 ff. (was für sein Straftatsystem freilich selbstverständlich ist, s. unten 6. Teil sub I und 11); auch Roxin, AT I § 24/4 f., 10 ff., 14. 124 Etwa Jescheck 510, 522 ff.; Maurach/GössellZipf, AT 2 § 44/11; Welzel 46 f., 129 f., 132; Wessels, AT § 15113 a; Stratenwerth, AT Rn. 1092 f., 1097, 1100 f., 1104, 1107; Burgstaller 40, 44, 77 und passim; Zielinski 171 ff. (besonders 173, 185, 189), 254 f., 279, 309; Rudolphi, FS Maurach 63; Hirsch ZStW 94 (1982) 254 f., 269; Weidemann GA 1984,420 ff.; SK (Swnson) Anh. zu § 16 Rn. 11 ff., 16 ff.; S/S (Cramer) § 15 z.B. Rn. 116, 125, 131 f., 139. Daß es auf den Aspekt der Gefährlichkeit ankommt, wird auch deutlich, wenn beim Fahrlässigkeitsdelikt von der wegen ihrer "Sobeschaffenheit" verbotenen Handlung die Rede ist, s. z.B. Armin Kaufmann, FS Welzel410; Zielinski 172, 182. 125 Schmidhäuser, FS Schaffstein 132 ff.; LKJO (Schroeder) § 16 Rn. 158; Schroeder JZ 1989, 779; Jakobs, AT 9/6 m.w.N.; Roxin, AT I § 24/12. Das wird auch von Vertretern der Lehre vom Sorgfaltsmangelunwert gesehen, ohne daß freilich die gebotenen Konsequenzen gezogen werden, s. etwa Jescheck 199, 523. 126 Näher dazu Nowakowski JZ 1958, 337, 390 f.; Schmidhäuser: FS Schaffstein 130 ff.; StB 7/93 f. (mit dem Hinweis, daß die Lehre von der Sorgfaltswidrigkeit bei der Kombination von Vorsätzlichkeit und Fahrlässigkeit (z.B. bei der Körperverletzung mit Todesfolge nach § 226) einen anderen Fahrlässigkeitsbegriff zugrundelegt); Schroeder: ZStW 91 (1979) 262 f.; JZ 1989, 776 ff.; LKIO § 16 Rn. 157 f., 160; Jakobs: Studien 56 ff.; AT 9/6 f., 12; Wolter GA 1977,267 f., 274; Roxin, AT I § 24/10 ff. 127 S. etwa Nowakowski: JZ 1958, 337, 390 f.; JBl. 1972, 26, 31; Jakobs, AT 917; Wolter, wie Fn. 123; Roxin, AT I § 24/10 ff.

60

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

gefahrliche Handlungsweise sprechenden Gründe und Interessen in Form von Geltungsansprüchen gegen den kollidierenden und durch die Tat (in Form der Gefahrschaffung) verletzten Geltungsanspruch abzuwägen sind. Der Begriff der Sorgfalt hat dann dort, und zwar im Rahmen des Rechtfertigungsgrunds der sozialen Adäquanz, seinen Platz, wo es darum geht, daß eine gefahrliche Verhaltensweise (wie z.B. das Autofahren) trotz ihrer Gefahrlichkeit aufgrund der mit einer solchen allgemeinen Praxis für die Gesellschaft verbundenen Vorteile erlaubt ist, wenn sie unter Beachtung der erforderlichen Sorgfalt, die die Gefahr maßvoll halten soll, vollzogen wird l28 • Aber auch wenn man mit der überwiegenden Ansicht meint, die zur Ermittlung der nicht mehr tolerierten, mißbilligten oder sozial inadäquaten Risikoschaffungen erforderliche Interessenabwägung im Rahmen des (Unrechts-)Tatbestands vornehmen zu müssen, hat die Sorgfaltswidrigkeit allenfalls sekundäre Bedeutung l29 • Innerhalb der Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung weist ein weiteres Merkmal des Unrechtstatbestands auf die Risikoschaffung als Kern des Handlungsunrechts hin: Die objektive Voraussehbarkeit (Erkennbarkeit des Erfolgs l30) bedeutet nichts anderes als eine Gefahrprognose und damit das Urteil, daß eine Handlung eine konkrete Gefahr für den Eintritt des Erfolgs begründet. Dasselbe Moment taucht noch ein zweites Mal auf, und zwar auch bei den Vorsatzdelikten, nämlich in der Lehre von der objektiven Zurechnung 131 oder als Gefahrlichkeits- oder primärer Erfolgsunwert, der zwischen (sekundärem) Erfolg(sunwert) und Handlung(sunwert) die Zurechenbarkeit vermitteln solll32. Aber diese Lokalisierung ist nicht mehr als ein Notbehelf, ist doch für die objektive Zurechenbarkeit allein die Verwirklichung der (unerlaubt) geschaffenen Gefahr im Erfolg entscheidend, während die Schaffung einer (bestimmt gearteten) Gefahr nichts von der Handlung Ablösbares ist, sondern deren Beschreibung unter einem bestimmten Aspekt, nämlich dem 128 Schmidhäuser: FS Schaffstein 137 ff.; AT 9/26 ff.; 10/82; StB 6/104 ff. (s. näher unten 6. Teil sub III BI); vgl. auch (allerdings ohne Einordnung in die Deliktskategorien) LKlO (Schroeder) § 16 Rn. 159 ff.; Schroeder JZ 1989, 780; zur sozialen Adäquanz als Rechtfertigungsgrund s. auch SK (Samson) vor § 32 Rn. 15 mit Nachw. 129 S. dazu etwa Wolter (wie Fn. 123); Frisch 138 ff. LV.m. 84 mit Fn. 114; Jakobs, AT 9/7 LV.m. 7/35 ff.; Roxin, AT I § 24/6, 11. Das zeigt auch die Behandlung der Sorgfaltswidrigkeit bei den Vertretern der herkömmlichen Auffassung. Es wird zunächst ein gefährliches Verhalten festgestellt und dann nach dessen sozialer Adäquanz gefragt; so z.B. Wetzel 132; Jescheck 522 ff.; Burgstaller 40. Sorgfaltsregeln dienen also nur zur Begrenzung von Risiken; sie statuieren keine Pflichten, sondern ihre Einhaltung ist Voraussetzung dafür, daß ein gefährliches Verhalten erlaubt ist, so daß ihre Verletzung dieses Verhalten unerlaubt macht. 130 S. oben sub I bei und in Fn. 73. 131 Nachweise oben sub A 3 in Fn. 57. 132 Nachweise oben sub A 2 in Fn. 40; zum "Verminlungsgedanken" besonders Wolter 29, 35, 83, 90, 118, 139, 181, 358.

I. Die traditionelle und vorherrschende Lehre

61

der Rechtsgutsverletzung, darstellt und damit den Handlungsunwert begründet133 • Das bedeutet, daß auch der Finalismus bei den vorsätzlichen und fahrlässigen Erfolgsdelikten einen objektiven Handlungsunwert, der durch die Schaffung einer (eventuell: sozialinadäquaten) konkreten Gefahr für Rechtsgutspbjekte begründet wird und der bis auf den Fall des untauglichen Versuchs stets gegeben ist, anerkennen muß; und es folgt weiter, daß (wiederum: auch für den Finalismus) Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt im Hinblick auf ihn und hinsichtlich des objektiven (Unrechts-)Tatbestandes übereinstimmen l34 • Für den Finalismus und die Lehre vom personalen Unrecht hat dies die Konsequenz, daß die subjektive Fahrlässigkeit bereits Element des (Handlungs-)Unrechts ist l35 . Soweit diese Folgerung ausdrücklich gezogen wird l36 , bestimmt man den Fahrlässigkeitsbegriff entgegen der vorherrschenden Ansicht137 und insoweit in Übereinstimmung mit Schmidhäusers Vorschlag 138 als individuelle Voraussehbarkeit oder Erkennbarkeit des tatbestandlichen Geschehens (der "Tatbestandsverwirklichung"), also unter Verzicht auf die sog. bewußte Fahrlässigkeit139 • S. bereits oben sub A 3 bei und in Fn. 59 sowie noch Frisch 78 ff., 120 f. mit Fn. 9. So in neuerer Zeit neben Schmidhäuser, für dessen Systematik die Identität selbstverständlich ist (ausdrücklich etwa AT 8127, 34; StB 7/93; näher dazu unten 6. Teil sub I und 11): Maihofer ZStW 70 (1958) 185 ff.; Krauß ZStW 76 (1964) 45 ff., 66 f.; Münzberg 15, 112, 144 ff.; Nowakowski JBI. 1972, 26; besonders deutlich Frisch 84 f., 490 (mit dem Hinweis - in Fn. 65 - auf M.L. Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhangs im Straf- und Schadensersatzrecht, Tübingen 1912, 27, 31, 34, 42) - zu Frischs Unrechtskonzeption näher sogleich sub 11 B; Jakobs, AT 6/24 ff., 68, 75 f.; 7/1 f.; 8/1, 88 und die Überschrift des 8. Abschnitts; 9/1 ff. und die Überschrift des 9. Abschnitts; Wolter GA 1977, 259, 267 f.; id. 29 f., 43, 154, 156, 195, 331 f., 361; Roxin, AT I § 24/5, 10 ff .. 135 Jakobs: Studien 64 ff.; AT 9/1 ff.; Wolter: 42 f., 153 ff.; auch GA 1977, 268 Fn. 102 (die subjektive Fahrlässigkeit = individuelle Erkennbarkeit soll außerdem Schuldelement sein); anders (die subjektive Erkennbarkeit gehöre zur Schuld) Roxin, AT I § 24/46 ff., 107 ff. Für die Unrechtsrelevanz der individuellen Erkennbarkeit auch die in Fn. 74 Genannten, die allerdings an dem Begriff der Sorgfaltswidrigkeit, welche die Erkennbarkeit (oder Erkenntnis im Fall der sog. bewußten Fahrlässigkeit) enthalten soll, festhalten; ähnlich auch Gössel, s. oben bei und in Fn.76. 136 Jakobs und Wolter, wie vorige Note. Dagegen läßt Schroeder (LKJO § 15 Rn. 8, 12 ff.; JZ 1989, 780) die Einordnung der Fahrlässigkeit in die Deliktskategorien offen. 137 Dazu oben sub I bei und in Fn. 70, 74 und 75. 138 Nach Schmidhäusers Straftatsystem ist die Fahrlässigkeit neben der Vorsätzlichkeit Schuldform und als potentielles (= für den Täter in der Tatsituation erlangbares) Unrechtsbewußtsein, welches das (aktuelle oder potentielle) Tatbewußtsein voraussetzt, bestimmt. Im Ansatz bereits id., Gesinnungsmerkmale 172 ff., bes. 177 f.; sodann vor allem AT 8/34, 10/77 ff.; StB 4/39; 10/91 ff.; s. noch unten 6. Teil sub I. 139 Eindeutig Jakobs: Studien 113 ff., 118, 119; AT 9/3; weniger deutlich Wolter: 121 Fn.238, 153 f.; auch 132, 173, 177 (potentielles Tat- und Unrechtsbewußtsein); GA 1977, 268 mit Fn. 102 und 103; anders, nämlich ohne Verzicht auf die bewußte Fahrlässigkeit, die vielmehr 133

134

62

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

ß. Neuere Konzeptionen: Teilidentität des vorsätzlichen

und des fahrlässigen Handlungsunrechts

Die im letzten Abschnitt (I B 2) dargelegte Erkenntnis, daß das Unrecht auch der fahrlässigen Straftat (jedenfalls bei den zumeist ohnehin nur in den Blick genommenen Erfolgsdelikten l4O) durch ein geflihrliches, gefahrschaffendes Verhalten begründet wird und nicht (erst) in einem Sorgfaltsmangelunwert liegt, hat in neuerer Zeit finalistische Konzeptionen ermöglicht, die zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Unrecht nur noch in subjektiver Hinsicht unterscheiden, die objektive Seite der Unrechtsbegründung dagegen bei beiden Formen der Straftat übereinstimmend im Sinne eines objektiven Handlungsunwerts bestimmen. Die in der Literatur zu findenden Vorschläge lassen sich jedenfalls in dieser Weise auffassen, auch wenn sie, wie die Überlegungen Frischs, nicht in Richtung auf die subjektive Seite des Unrechts ausgearbeitet sind. Da Frischs Ausführungen in diesem Punkt keine explizite Festlegung enthalten und da seine Untersuchung einen Schwerpunkt auf die - den objektiven Handlungunwert begründenden und den Gegenstand des Vorsatzes bildenden - sog. Risikoverhahensweisen legt, wird Frischs Konzeption eines bei Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt identischen objektiven Handlungsunwerts separat behandelt.

A. Vorsätzlicher und fahrlässiger subjektiver Handlungsunwert Dem klassischen finalistischen Unrechtsmodells steht, auch was den normtheoretischen Begründungsansatz angeht 141 , Wollers Vorschlag am nächsten. Er weicht von jenem ab, indem er die Lehre vom Sorgfaltsmangelunwert ablehnt und einen bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tat übereinstimmenden objektiven Handlungsunwert, verstanden als Geflihrlichkeits- oder Geflihrdungsunwert (Schaffung eines mißbilligten Risikos), annimmt l42 . Woher meint zwar, den Handlungsunwert beim Vorsatzdelikt ausschließlich subjektiv als

den subjektiven Tatbestand bilde, Roxin, AT 1 § 24/66. Auch Schroeder (LKlO § 16 Rn. 117 ff., 127 f.) erkennt die bewußte Fahrlässigkeit an; außerdem soll sogar die "aktuelle Kenntnis der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung" Fahrlässigkeit sein können (LKIO § 16 Rn. 127 f.)! 140 Vgl. sogleich sub A bei Fn. 195 ff. 141 Dazu unten 5. Teil sub 1 B 3 bund 11. 142 Siehe bereits oben sub I B 2 bei und in Fn. 123, 129 und 132. Wolter verwendet freilich den Ausdruck "objektiver Handlungsunwert" nicht, sondern spricht von objektiver Voraussehbarkeit, Konkretheit, Adäquanz und sozialer Mißbilligung des Erfolgs, was unter dem Terminus "primärer Erfolgsunwert" zusammengefaßt wird (s. bereits oben sub 1 A 2 bei und in Fn. 40 sowie Wolter 29 f., 34, 43, 156, 195, 331 f., 358, 361 und passim); s. dazu sogleich bei und in den beiden folgenden Fußnoten.

11. Neuere Konzeptionen

63

Manifestation des Vorsatzes bestimmen zu können l43 • Soll seine Auffassung indessen konsistent sein, kann ein solcher subjektiver Handlungsunwert nur eine Komponente des zur regulären (d.h. unter Ausschluß des untauglichen Versuchs definierten) Unrechtbegründung erforderlichen Handlungsunwerts sein; er muß auch bei der Vorsatztat durch den objektiven Handlungsunwert komplettiert sein l44 • Beim Fahrlässigkeitsdelikt werde der zum objektiven Handlungsunwert hinzutretende subjektive Handlungsunwert durch die subjektive oder individuelle Voraussehbarkeit, d.h. die Erkennbarkeit des Erfolgs für den Täter, begründet l45 •

Roxin orientiert sich in seiner jüngst vorgelegten Darstellung der allgemeinen Straftatlehren ganz an der herkömmlichen Unterscheidung in objektiven und subjektiven Tatbestand. Für Roxin macht den objektiven Tatbestand (neben etwa im Straftatbestand enthaltenen zusätzlichen objektiven Handlungsbeschreibungen) die objektive Zurechnung, in die er die Lehre vom Schutzzweck der Norm aufnimmt, aus: Die Zurechnung zum objektiven Tatbestand sei gegeben, wenn sich eine vom Täter geschaffene, über das erlaubte Risiko hinausgeheende Gefahr im Rahmen des Schutzzwecks der Norm verwirklicht habe 146 • Der objektive Tatbestand stimme bei Vorsatz- und FahrläsDazu oben sub I A 2 in Fn. 13. Wolter kann nicht, wie er es tut (s. oben sub I A 2 bei und in Fn. 13 und 40), beim Vorsatzdelikt den sog. primären Erfolgsunwert (= Schaffung einer bestimmten Gefahr) vom sog. objektiv-subjektiven Handlungsunwert (= Manifestation des auf eine bestimmte Gefahr bezogenen Vorsatzes = Intentionsunwert) abschichten. Denn wenn vorsätzliche und fahrlässige Tat im objektiven Handlungsunrecht übereinstimmen und sich nur im subjektiven Bezug darauf unterscheiden (etwa 18, 50, 132, 154, 156, 173, 177, 358), muß der Gefährlichkeitsaspekt, die Schaffung einer konkreten, sozial inadäquaten (dazu Wolter 32 ff., 61 f., 330 ff., 352 f.) Gefahr, auch beim Vorsatzdelikt das Handlungsunrecht (nach dem Finalismus: mit)begründen, weil sich die (subjektive) Fahrlässigkeit als Erkennbarkeit nur auf eine wirkliche Gefährlichkeit der Handlung beziehen kann, diese also den (objektiven) Handlungsunwert bei beiden Deliktsklassen ausmacht (s. noch unten in Fn. 193). Das, was sachlich geboten ist, i.e. die Gefährlichkeit nicht als sog. primären Erfolgsunwert zu verselbständigen, sondern als Eigenschaft der Handlung und ihren Unwert begründend anzusehen (so in der Kritik an Wolter auch Frisch 120 f. Fn. 9; auch 91 f. Fn. 134 a), ist also auch für Wolters Unrechtskonzeption, soll sie konsistent sein, zwingend; es wird auch von Wolter bisweilen, obgleich eher beiläufig, ausgesprochen (so etwa 110 bei Fn. 177, 141 f. Fn. 314 erster Teil a.E.) oder in seinem Verständnis der Verhaltensnormen als Gefährdungsverbote (z.B. 29 f., 32, 35 ff., 46, 124, 137, 361) vorausgesetzt. Im übrigen zählt auch Wolter außer der Manifestation des Tatplans (des Vorsatzes) noch weitere objektive Momente zum Handlungsunwert (s. etwa 173, 177 ff., 352, 357 f., 359, 361), so daß dieser sich beim Vorsatzdelikt schon deshalb nicht in einem Intentionsunwert erschöpfen kann. - Zur Kritik von Wolters Lehre der Unrechtsbegründung beim untauglichen Versuch s. unten sub B bei und in Fn.284. 145 Wolter 42 f., 46, 121 Fn. 238, 151 ff., 154, 156 f., 195, 361 (s. auch id. GA 1977, 267 f. mit Fn. 107); die subjektive Fahrlässigkeit (= individuelle Erkennbarkeit) soll außerdem Schuldmoment sein. 146 Roxin, AT I § 11/39 ff. 143

144

64

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

sigkeitstat überein l47 . Der subjektive Tatbestand werde bei der Vorsatztat durch den Vorsatz als zentrales Element bestimmt l48 . Bei der fahrlässigen Tat erkennt Roxin nur im Fall der sog. bewußten Fahrlässigkeit einen subjektiven Tatbestand an, der in der Vorstellung aller Tatumstände, insbesondere der unerlaubten Gefahr, und dem Vertrauen auf das Ausbleiben der Tatbestandsverwirklichung bestehe l49 . Das Unrecht der unbewußten Fahrlässigkeit erschöpfe sich demgegenüber in der unerlaubten Gefahrschaffung, setze also insbesondere nicht deren Erkennbarkeit durch den Täter voraus; diese sei vielmehr zusammen mit der individuellen Vermeidbarkeit des Erfolgs Schuldmerkmal 150 . Daneben will Roxin das Unrecht auch material erfassen, wobei allerdings manches unklar bleibt. Der Erfolgsunwert soll " in der Herbeiführung eines rechtlich mißbilligten Zustandes" 151 liegen. Der Handlungsunwert werde durch "die Täterhandlung mit ihrer Finalität, ihren sonstigen Eigenschaften und subjektiven Tendenzen sowie die oft von der Strafvorschrift geforderten weiteren Absichten"152 begründet, beim Vorsatzdelikt also im Normalfall durch das Handeln mit Vorsatz. Der Handlungsunwert des Fahrlässigkeitsdelikts soll demgegenüber in der unerlaubten Risiko- oder Gefahrschaffung liegen 153. Da nach Roxin Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat im objektiven Tatbestand übereinstimmen, muß die Gefahrschaffung aber auch zum Handlungsunwert des Vorsatzdelikts zählen. Das folgt auch daraus, daß Roxin zusammen mit dem Erfolg und dem Erfolgsunwert auch die objektive Zurechnung zum Handlungsunwert rechnet l54 ; denn material betrachtet setzt die objektive Zurechnung die Gefahrschaffung voraus. Deshalb läßt sich in der Konzeption Roxins die (unerlaubte) Gefahrschaffung auffassen als objektiver Kern des Handlungsunwerts sowohl der Fahrlässigkeit (dort jedenfalls bei der sog. un147 148 149 150 151

Fn.36.

152 153

Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid.

§ 24/5, 10. § 12. § 24/66 f. § 24110, 14, 46 ff., 63, 107 ff. § 10/88; zu den Unklarheiten der Begriffsbildung Roxins siehe oben I A 2 in

Ibid. § 10/88. Ibid. § 10/88; § 24/10, 14, 63. Diese Defmition wird allerdings nicht durchgehalten: Bei der Behandlung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes übernimmt Roxin die herkömmliche Bestimmung des fahrlässigen Handlungsunwerts als Aufmerksamkeits- und Sorgfaltsmangel (ibid. § 14/62, 71). 154 Ibid. § 10/97, 98 ff. Das ist allerdings nicht zweifelsfrei. Denn der Erfolgsunwert soll nach Roxin in der Herbeijührung eines rechtlich mißbilligten Zustandes bestehen (AT I § 10/88). Darm müßte die objektive Zurechnung zum Erfolgsunwert gerechnet werden. Freilich bliebe darm kein Unwertmomenl mehr für den Handlungsunwert (in Abhebung vom Erfolgsunwert verstanden) der fahrlässigen Straftat, weil dieser sich ja in der objektiven Zurechnung erschöpfen soll!

11. Neuere Konzeptionen

65

bewußten Fahrlässigkeit allerdings alleiniges Moment l55 ) als auch der Vorsatztat, bei weIcher als subjektives Element stets der Vorsatz hinzukommt. Daher lassen sich auch nach Roxins Unrechtslehre ein objektiver und ein subjektiver Handlungsunwert unterscheiden. Vornehmlich um den subjektiven Tatbestand geht es in Struensees Neukonzeption des fahrlässigen Delikts durch den neuartigen Versuch, in der Fahrlässigkeit (im fahrlässigen Unrecht) eine rechtlich mißbilligte Finalität aufzuweisen I56 • Struensee knüpft an die finale Handlungslehre mit ihren Grundannahmen an, daß die strafrechtliche Unrechtsbegründung durch die Finalität des Handeins (im Sinne des Finalismus) bestimmt und strukturiert werde und daß - nach einer materialen, wertorientierten Betrachtungsweise - das Unrecht durch den Handlungsunwert begründet werde: dieser liege dann vor, wenn die Finalität der Handlung auf den Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert (der deshalb für den Handlungsunwert grundlegend sei) gerichtet sei, der Täter also die Realisierung des Erfolgsunwerts beabsichtige oder intendiere l57 • Dem Anspruch der finalen Handlungslehre nach gebe es nur einen einheitlichen Begriff des Handlungsunwerts und müsse demgemäß der Handlungsunwert bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tat die gleiche, durch die Finalität bestimmte Struktur aufweisen 158. Für die Vorsatztat und das vorsätzliche Delikt folgt Struensee ganz dem üblichen finalistischen Verständnis: Die wegen ihres Bezugsgegenstandes, des im Straftatbestand geschilderten tatbestandsmäßigen Erfolgs (Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert l59), rechtlich mißbilligte Finalität liege im Vorsatz; der Vollzug der Handlung mit diesem Vorsatz begründe den Handlungs- oder Intentionsunwert l60 • Da der Handlungswille, der nach finalistischem Verständnis die rechtlich relevante Finalität und den Vorsatz bestimmt, bei der fahrlässigen Tat den straftatbestandichen Erfolg nicht zum Gegenstand hat, muß für das Fahrlässigkeitsunrecht ein anderer Sachverhaltsunwert als Bezugsgegenstand des Handlungswillens und der Finalität gefunden werden, wenn an der Homogenität der Struktur des Handlungsunwerts im finalistischen Sinne

155 Es bleibt die Frage, wo bei der von Roxin angenommenen sog. bewußten Fahrlässigkeit das psychische Material (s. soeben bei Fn. 149) eingeordnet werden soll; es kommt wohl nur der Handlungsunwert in Betracht. 156 Struensee: JZ 1987,53 ff.; 541 ff.; GA 1987,97 ff. 157 Struensee: JZ 1987, 54 f. 158 Ibid. 54 f., 57. 159 Erfolg und Erfolgsunwert im weiten Sinn verstanden; s. dazu oben sub I A 2 insbes. bei und in Fn. 13 und 35 ff. sowie zusammenfassend unten sub III bei Fn. 302 ff. 160 Struensee: JZ 1987,55. 5 RÖllgcc

66

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

festgehalten werden SOll161. Für den subjektiven Tatbestand der Fahrlässigkeitstat ist also das Korrelat im Objektiven zu suchen. Im objektiven Tatbestand unterscheiden sich vorsätzliche und fahrlässige Straftat auch für Struensee nicht. Ganz in Übereinstimmung mit der herkömmlichen Auffassung ist für ihn der objektive Tatbestand erfüllt, wenn die Handlung (als Körperbewegung bestimmt) gesetzmäßige Bedingung (Ursache) des tatbestandsmäßigen Erfolgs ist l62 . Die notwenige Beschränkung auf das "personale Unrecht" erfolge durch den subjektiven Tatbestand; auch die Lehre von der objektiven Zurechnung befasse sich der Sache nach mit dem subjektiven Tatbestand l63 . Der für die fahrlässige Straftat gesuchte UnwertsachverhaJt164, der als Bezugs gegenstand der Finalität dem subjektiven Tatbestand und damit dem Handlungs- oder Intentionsunwert zugrunde liegt, ist (bei den Erfolgsdelikten) gewissermaßen ein Vorstadium des tatbestandsmäßigen Erfolgs, der Unwertsachverhalt der Vorsatztat ist. "Der gesuchte Sachverhalt besteht in einer bestimmten Konstellation objektiver Umstände, die deshalb negativ bewertet wird, weil die Rechtsordnung an sie die Prognose möglicher Rechtsgutverletzung (Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges) knüpft und darum die finale Herbeiführung einer solchen Konstellation verbietet. Die Erfolgsmöglichkeit selbst wird allerdings nicht Merktnal der begrifflichen Beschreibung (Begriffsinhalt), sondern bleibt das Motiv der Zusammenstellung erfolgsträchtiger Faktoren" 165.

Diese objektiven Umstände bildeten eine Teilmenge der Bedingungen eines Kausalgesetzes, das für Ereignisse von der Art des tatbestandsmäßigen Erfolges gelte; diese Teilmenge (d.h. die Gefahr) realisiere sich im eingetretenen Erfolg, wenn die weiteren Bedingungen des Kausalgesetzes, das dem Gefahrurteil zugrunde liege, erfüllt seienl66 . Es sei eine axiologische Aufgabe, bei Erfolgseintritt die Mindestmenge derartiger Kausalfaktoren als Bezugsobjekte der Finalität und damit des subjektiven Tatbestandes festzulegen l67 .

161 Ibid. 55, 57 f. 162

Struensee: JZ 1987, 542; GA 1987, 102 ff.

163 Id.: JZ 1987, 58 ff; 542 f.; GA 1987, 99 ff. 164 Struensee verwendet die Ausdrücke "Erfolgsunwert" , "Sachverhaltsunwert" und "Un-

wertsachverhalt" offenbar synonym: JZ 1987, 54/55, 57 re.Sp., 60 Ii.Sp., 62 re.Sp. 165 Struensee: JZ 1987,58. 166 Id.: GA 1987, 102. 167 Id.: JZ 1987, 58, 62 und passim; GA 1987, 105 und passim.

11. Neuere Konzeptionen

Auf die genannten kausalen, risikorelevanten Faktoren, nicht wie bei Vorsatztat auf den tatbestandsmäßigen Erfolg, müsse sich die Finalität bei Fahrlässigkeit beziehen l68 • Mit der üblichen Gleichsetzung der Finalität dem Vorsatz und des Vorsatzes mit dem intellektuellen Moment der kenntnis ergibt sich dann die folgende Definition:

67 der der mit Er-

"Der subjektive Tatbestand des fahrlässigen Delikts (die Sorgfaltswidrigkeit) besteht darin, daß der Handelnde von den Bedingungen des eingetretenen Erfolges einen tatbestandsrelevanten Ausschnitt kennt, von dem nach Bewertung der Rechtsordnung eine intolerable Gefahr (,unerlaubtes Risiko') ausgeht. "169

Dementsprechend wird nach Struensees Konzeption der fahrlässige Handlungsunwert begründet durch die bewußte Schaffung von Risikofaktoren (oder das bewußte Handeln unter solchen Umständen), die nach der Wertung der Rechtsordnung eine unerlaubte Gefahr für den Eintritt des nach dem betreffenden Straftatbestand vorausgesetzten Erfolges darstellen. Dieser "Vorsatz" des fahrlässigen Deliktes soll sich vom Vorsatz der vorsätzlichen Tat im Gegenstand unterscheiden, nämlich in dem geringeren Umfang der risikorelevanten Umstände als Ausschnitt der vollständigen Kette der Kausalfaktoren l7o • Was für die Kausalfaktoren gelte, solle in ähnlicher Weise für die von der Handlung unabhängigen Tatumstände gelten l7l • Als - hier nur anzudeutende - Kritik dieses finalistischen Unrechtssmodells ist zunächst zu bezweifeln, ob auf die beschriebene Weise der Bereich der Fahrlässigkeit abgedeckt werden kann 172 • Zwar läßt sich, wenn sich bei einer Fallanalyse ergibt, daß der Täter sich in Unkenntnis des maßgeblichen Risikofaktors befunden hat, die Menge der risikorelevanten Umstände, auf die als Sachverhaltsunwert das Bewußtsein des Täters bei fahrlässigem Handlungsunrecht sich soll zu beziehen haben, auf einen für die Gefahrdung weniger signifikanten Ausschnitt von risikorelevanten Faktoren verkleinem173 • Doch versagt die Bestimmung der Fahrlässigkeit als Bewußtsein (Vorsatz) von Risikofaktoren offenbar dann, wenn der Täter Informationen über gefahr-begründende Umstände seines Tuns im Zeitpunkt der Tat vergessen, diese ihm also gerade nicht präsent waren l74 .

Id.: IZ 1987, 57 f., 61, 62 und passim; GA 1987, 99 f., 105 und passim. Id.: IZ 1987, 60. 170 Id.: IZ 1987, 60 Fn. 89; IZ 1987, 542 f. 171 Id.: JZ 1987, 542 f. 172 Vgl. Herzberg IZ 1987, 537 f.; Roxin: GS Armin Kaufmann 249 f.; AT I § 24/68. 173 Struensee: JZ 1987, 61 f. 174 Vgl. Roxin, GS Armin Kaufmann 248 f. Dieses Problem scheint auch Struensee zu sehen: IZ 1987, 541/542. 168 169

68

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

Ferner ist - ganz abgesehen von den grundsätzlichen Einwänden gegen den finalistischen Ansatz zur Unrechtsbegründung l75 - der Fundierungszusammenhang bei der von Struensee für die Fahrlässigkeit gewählten Konstruktion genau besehen ein anderer als der für den Intentions- oder Handlungsunwert auch von ihm anerkannte. Der Unwert des intentionalen Zustands (Vorsatz, Absicht, Kenntnis etc.) leitet sich nur dann vom Unwert seines intentionalen Gegenstandes ab, wenn dieser der Unwertsachverhalt selbst ist und nicht ein anderer, der auf dessen Vorliegen schließen läßt. So ist beispielsweise ein den Wert des Lebens verletzender Intentionsunwert noch nicht gegeben, wenn der Handelnde z.B. sich bewußt ist, einen bestimmten Trank zu verabreichen, sondern erst dann, wenn er sich gleichfalls dessen tödlicher Wirkung bewußt ist. Struensee nennt aber als (intentionalen) Bezugsgegenstand der rechtlich mißbilligten Finalität bei fahrlässigem Unrecht gerade nicht den Unwertsachverhalt in seiner unwertigen Dimen-sion, nämlich der Gefährlichkeit (d.h. der Möglichkeit des Eintritts des tatbestands-mäßigen Erfolgs) 176. Die "Unwerttransformation" funktioniert jedoch nur, wenn der Fahrlässigkeitstäter sich der Gefährlichkeit der Umstände (zumindest als möglicherweise gegeben) bewußt ist. Das verlangt Struensee (zu Recht) gerade nicht; diese Voraussetzung würde die Stratbarkeit wegen fahrlässiger Tat nämlich auf die sog. bewußte Fahrlässigkeit einschränken. Mithin ist der von Struensee beabsichtigte Aufweis der Finalstruktur (im Sinne der finalen Handlungslehre) des Unrechts der fahrlässigen Straftat in materialer Hinsicht nicht gelungen. Das von Jakobs entwickelte Unrechtsmodellläßt sich ebenfalls mit den Kategorien des Erfolgsunwerts und des objektiven und subjektiven Handlungsunwerts erfassen und als die anfangs dieses Abschnitts vorgestellte Spielart des Finalismus ' deuten, obgleich Jakobs sich mit seiner funktionalen Straftatsystematik bewußt und entschieden von den übrigen finalistischen Straftatlehren und überhaupt von der Handlungstheorie absetzt, welche die finale Handlungslehre als Grundlage ihres Straftatmodells gewählt hatte. Jakobs will die strafrechtliche Begriffsbildung an der Aufgabe des Strafens, die Normen des Zusammenlebens durch Einübung in und Stärkung der Normanerkennung zu stabilisieren, orientierenl77 • Die Norm wird als gesellschaftliches Phänomen aufgefaßt, und der Begriff der Handlung soll von den Zurechnungsurteilen abhängen, die in der Gesellschaft im Hinblick auf Normgeltung anzutreffen seien l78 . Da eine Normverletzung immer dann zugerechnet werde, wenn 175

S. dazu den 5. Teil.

Struensee: JZ 1987. 58; 542 sub III b. Jakobs: AT Vorwort VII; 1/11, 15; 6/1, 12 Fn. 44; 17/18 und passim; Schuld 8 ff. (mit Bezug auf die Schuld). 178 Jakobs, AT 6/1, 12 Fn. 44, 20 ff. 176 177

H. Neuere Konzeptionen

69

sie vom Subjekt vermieden werden könne l79 , ist für Jakobs das Merkmal der individuellen Vermeidbarkeit für den Handlungsbegriff zentral: Handlung sei individuell vermeidbare Verursachung eines Erfolgs im weiteren Sinne, d.h. einer Körperbewegung oder einer solchen nebst Folgen l80 . Der Handlungsbegriff hat in Jakobs' System nicht die Stellung eines Oberbegriffs; diese Rolle kommt vielmehr den Begriffen des Tatbestands und der Tatbestandsverwirklichung (die durch Handlung und Unterlassen geschehen kann) ZU 181 . Jakobs übernimmt vom traditionellen Finalismus die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand und bezieht sie auf die von ihm angenommene Struktur der Handlung: Den objektiven Tatbestand machten die Körperbewegung und - soweit tatbestandiich beschrieben - deren Folgen aus, der subjektive Tatbestand sei die Vermeidbarkeit der Erfolgsverursachung, d.h. der Verwirklichung des objektiven Tatbestands l82 . Da die Erkenntnis des Verhaltensvollzugs (der Körperbewegung und der Umstände, unter denen sie geschieht) und gegebenenfalls seiner Folgen oder die individuelle Erkennbarkeit dieser Momente Bedingungen der Vermeidbarkeit sein sollen und von Jakobs mit Vorsatz und Fahrlässigkeit gleichgesetzt werden l83 , gehören Vorsatz und Fahrlässigkeit zur Handlung und damit zum Unrecht l84 und bilden die Formen des subjektiven Tatbestands 185 . Der subjektive Tatbestand sei Bedingung des objektiven (qua Vermeidbarkeit der Realisierung desselben)186 und der objektive Tatbestand sei Gegenstand des subjektiven l87 . Auch nach Jakobs sind folglich vorsätzliches und fahrlässiges Unrecht zu unterscheiden. Was die hier interessierende wertorientierte Sicht des Unrechts angeht, findet sich bei Jakobs der Vorschlag, das Unrecht in drei Unwerte aufzuglie-

179 180 181 182 183

Ibid. 2/4 f. und öfter. Ibid. 6/15 ff., 24 ff., 68. Ibid., z.B. Überschrift 6. Abschnitt, S. 123; 6/67 f. Ibid., besonders 6/68; 7/1 f. Ibid. 6/27; 8/8; 9/3 f. Die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit erfolgt also ausschließlich kognitiv nach dem Bewußtseinsinhalt des Täters und nicht wie herkömmlich unter Zuhilfenahme voluntativer und emotionaler Elemente. - An anderer Stelle (AT 8/8) heißt es dagegen im Widerspruch zu der These, daß der Vorsatz eine Form der Vermeidbarkeit, der Bedingung der Handlung, sein soll: "Vorsatz ist das Wissen um die Handlung und ihre Folgen". 184 Wie Fn. 183. 185 Jakobs, AT 8/1 ff. und 9/1 ff. jeweils mit den Abschnittsüberschriften auf S. 255 und 313. 186 Ibid. 6/68. 187 Ibid. 7/1; 9/7 Fn. 10.

70

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

dem, nämlich in Erfolgsunwert ("Sachverhaltsunwert"188), objektiven Handlungsunwert ("Verlaufsunwert": der Unwert eines erfolgbringenden Handlungsvollzugs) und subjektiven Handlungsunwert ("Vermeidbarkeitsunwert": der Unwert des Handeins mit Vorsatz und Fahrlässigkeit; im Fall des absichtlichen Handeins der Intentionsunwert mit Objektivierungsunwert)189. Jakobs leitet aus dieser Analyse allerdings keine Folgerungen ab, insbesondere nicht für den Unrechtsausschluß, wie er auch generell keinen materialen Ansatz vertritt, der auf die durch menschliches Verhalten verletzten Werte abstellt. Es ist hier jedoch nicht der Ort, die Art der Grundlegung von Jakobs' Straftatmodell kritisch zu betrachtenl90 • In diesem Zusammenhang kommt es allein darauf an, daß auch er an der systembildenden Prämisse des Finalismus, Vorsatz und Fahrlässigkeit gehörten zum Unrecht, festhält und daß sich 188 Jakobs' Bestimmung dieses Begriffs (AT 6/76) läßt nicht erkennen, ob er ihn wirklich im Sinne eines eng verstandenen Erfolgsunwerts (s. dazu oben sub I A 2 bei Fn. 33 und I A 3 bei Fn. 43) oder nicht vielmehr umfassend im Sinne der objektiven Seite des Unrechts versteht. 189 Jakobs, AT 6/76. 190 Eine zunächst vielleicht überraschende Bemerkung ist hier aber doch angebracht: Jakobs' durchgängig funktionaler, auf den Strafzweck der Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung durch Einübung und Erhaltung allgemeiner Normanerkennung bezogener Begründungsansatz setzt eine wertorientierte Sicht der Straftat voraus. Das läßt sich folgendermaßen einsehen. Der Strafzweck der positiven Generalprävention (im Gegensatz und in Ergänzung zur negativen Generalprävention, der Abschreckung der Bürger von der Begehung von Straftaten) wird von Jakobs besonders zur Bestimmung des Schuldbegriffs herangezogen (Schuld passim; AT 17/1 ff., 18 ff.), soll aber generell alle strafrechtlichen Begriffe prägen (AT Vorwort VII; 1/15 und passim). Normanerkennung (Rechtstreue - so Jakobs, Schuld 10 und passim -, Rechtsbwußtsein) wird dadurch begründet, erhalten und gestärkt, daß auf die Werteinstellungen der Bürger eingewirkt wird: Jeder einzelne Akt des Bestrafens und die Praxis des Strafens insgesamt bestätigt das Bewußtsein der Bürger von der Geltung der in der Gesellschaft anerkannten und (auch) vom Staat durchgesetzten Normen und der diese fundierenden Werte (und damit der Rechtsgüter als der Vnterklasse von Werten, auf deren Verletzung mit Rechtsfolgen reagiert wird). Bei diesen Normen handelt es sich freilich nicht um die im Strafgesetz fixierten Tatbestände, die den nicht juristisch gebildeten Bürgern weitgehend unbekannt sind; die Straftatbestände wenden sich allein an die mit der Durchführung des Strafverfahrens befaßten staatlichen Organe (s. dazu unten 5. Teil sub 11). Wenn der aufgezeigte Wirkungszusammenhang bestehen und der genannte Strafzweck erreicht werden soll, muß das Geschehen, auf das mit einem Strafverfahren (die Verfolgung einer entsprechenden Tat sowie das Gerichtsverfahren, ggf. mit Verhängung und Vollstreckung von Strafe) reagiert wird, einen Bezug auf die Werte, die Gegenstand der Werteinstellungen der Menschen sind, haben, und zwar in der Weise, daß es als Verstoß gegen eine Norm, der eine solche Wertung zugrunde liegt, und d.h. als Wertverletzung verstanden werden kann. Denn durch eine die Verletzung des Wertes negativ auszeichnende Reaktion, einen Tadel, wird die staatliche und gesellschaftliche Anerkennung des Wertes den Bürgern bewußt gemacht; und das Wert- und Rechtsbewußtsein (und damit die Normanerkennung) könnte durch das Strafverfahren nicht in dieser Weise beeinflußt werden, wenn dieses ein Phänomen zur Voraussetzung hätte, das sich ausschließlich wertfrei, ohne Rückgriff auf die Verletzung eines Wertes (etwa als Gesetzesverletzung oder Tatbestandsverwirklichung) begreifen ließe. Daraus folgt, daß die Straftat als Voraussetzung staatlichen Einschreitens auch für das funktionale Straftatmodell Jakobs' (und für in ähnlicher Weise generalpräventiv geprägte Straftatkonzeptionen) sich als Wertverletzung darstellt und das Verhalten, das dem (Unrechts-)Tatbestand unterfällt, einen Unwert verwirklicht.

11. Neuere Konzeptionen

71

seine Unrechtskonzeption jedenfalls in die übliche Begrifflichkeit übersetzen läßt. Unter Zugrundelegung der skizzierten Unrechtsmodelle Wolters, Roxins und lakobs'191 ergibt sich für die elementweise Kompensation der Unrechtskomponenten folgendes. Um Unrechts- mit Rechtfertigungselementen insbesondere zur Begründung einer Unrechtsminderung saldieren zu können, kann man sich nicht damit begnügen, einem für vorsätzliche oder fahrlässige Tat identischen objektiven Tatbestand einen subjektiven Tatbestand als Fahrlässigkeit oder Vorsatz (ggf. einschließlich besonderer subjektiver Unrechtselemente) gegenüberzustellen l92 • Vielmehr muß in folgerichtiger Durchführung des Gedankens elementweiser Saldierung das Handlungsunrecht auch des Fahrlässigkeitsdelikts bei einem finalistischen Ansatz als Kombination von objektivem Handlungsunwert, der durch ein für Rechtsgutsobjekte gefährliches Verhalten begründet wird 193 , und subjektivem Handlungsunwert, der in der Erkennbarkeit dieser Gefährlichkeit (des Tatablaufs einschließlich des Erfolgs) durch den Täter liegt, bestimmt werden l94 • Freilich ist eine solche Bestimmung der objektiven Komponente des Handlungsunwerts nur bei den Erfolgsdelikten möglich. Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten, im Fahrlässigkeitsbereich also vor allem beim Falscheid nach § 163 195 und bei der Trunkenheit im Verkehr nach § 316 11, bleibt nur - will man nicht doch wieder auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands (soweit er Handlungseigenschaften und die Handlungssituation beschreibt) zurückgreifen l96 - die Möglichkeit, als objektiven Handlungsunwert einen Tätig191 Die fInalistische Konzeption Struensees wird nicht so sehr wegen der angedeuteten Kritikpunkte (s. oben bei Fn. 172 ff.), sondern deshalb außen vor gelassen, weil Struensee sich zur Rechtfertigung nicht äußert. 192 So jedoch Jakobs, AT 6/68, 7/1 ff.; 8/1; 9/1 ff. mit Abschnittsüberschriften S. 182, 255 und 313; Jakobs lehnt den Kompensationsgedanken aber wohl ohnehin ab: s. oben 1. Teil in Fn.3. 193 Man kann auch von "Gefährlichkeitsunwert" reden (Rudolphi, GS Schröder 80 ff. für die vorsätzliche Tat und vor allem Wolter, wie oben Fn. 40), muß aber beachten, daß damit jedenfalls beim Fahrlässigkeitsdelikt nur ein Teil des Handlungsunrechts bezeichnet werden kann und nicht ein Teil, wenn auch der "primäre", des Erfolgsunrechts (so aber, obgleich vornehmlich mit Bezug auf die Vorsatztat, Nowakowski und Wolter, wie oben Fn. 40). Denn eine Erkennbarkeit oder Voraussehbarkeit (als subjektives Fahrlässigkeitsmoment) setzt etwas objektiv Vorliegendes oder zu Erwartendes als zu Erkennendes oder Voraussehendes voraus, hier also die objektive Gefährlichkeit, den negativen Erfolg als mögliche Folge des Handeins. Bei Identität des (objektiven) Handlungsunrechts von vorsätzlicher oder fahrlässiger Straftat muß dann natürlich dasselbe für jene gelten, s. oben bei und in Fn. 144 und sub I B 2 bei und in Fn. 134. 194 So Wolter 18, 42 f., 46 f., 50, 65, 153 ff.; wohl auch Nowakowski JBt. 1972,26,31. 195 S. oben in Fn. 97. 196 So aber wohl Wolter (65, 132, 173, 177,303) entgegen seiner Intention (133).

72

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

keitsunwert anzunehmen, der durch den Vollzug einer Handlung begründet wird, die selbst schon den Unwertsachverhalt darstellt, der dem dem Tatbestand zugrundeliegenden Rechtsgut entgegensteht. Das ist in diesem Zusammenhang l97 ebensowenig näher auszuführen, wie Kritik anzuführen ist, etwa daß nicht erfindlich ist, inwiefern die individuelle Erkennbarkeit der Gefährlichkeit (oder einer anderen unrechtstatbestandsrelevanten Eigenschaft) einen verhaltensbezogenen Unwert begründet, oder daß auch bei diesem Modell, was bereits für den Vorsatzbereich angesprochen wurde l98 , die materiale Erfassung des Unrechts der Zieldelikte (z.B. Diebstahl nach § 242 und Urkundenfälschung nach § 267) nicht möglich ist l99- liefe doch beides auf eine Abkehr vom finalistischen bzw. normtheoretisch - funktionalen Ansatz hinaus. Entscheidend ist, daß man nun nicht mehr auf die formale und ungenügende Gegenüberstellung von Handlungs- und (im weiten Sinn verstandenen) Erfolgsunwert einerseits und subjektiver und objektiver Rechtfertigungsseite andererseits ausweichen muß, um die Kompensation des Fahrlässigkeitsunrechts gemäß den vorgestellten Unrechtskonzeptionen zu konstruieren200 • Denn objektiver Handlungsunwert und objektiver Handlungswert, der z.B. durch die Schaffung einer Rettungschance begründet und anders als der Erfolgswert (im engeren Sinn) durch das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsmerkmale garantiert ist201 , können, da strukturell gleichartig, gewissermaßen Negation und Position darstellend202 , miteinander saldiert werden203 . Bei einem VerNäher dazu unten 6. Teil sub II A nach Fn. 15 und bei Fn. 16 ff. Oben sub I A 3 nach Fn. 69. Die Zieldelikte müssen aus einer Konzeption herausfallen, nach der Aufgabe der Strafdrohung der unmittelbare Rechtsgüterschutz durch Verbot und Verhinderung von gefährlichen Verhaltensweisen ist (so Wolter 24). So werden denn die Absichten der Zieldelikte (z.B. die Zueignungsabsicht bei § 242) als sowohl für das Unrecht wie für die Schuld relevante Merkmale dem Unrechtstatbestand schlicht als sog. strikt subjektive unrechtsbegründende Merkmale und, obwohl eine objektive Manifestation der Absicht nicht erforderlich sein soll, als subjektiver Handlungsunwert eingegliedert (Wolter 19, 65, 150 f., 158 f., 161, 177). Der Grund für diesen Mangel - und Entsprechendes gilt für das Unrecht des untauglichen Versuchs (s. dazu unten sub B bei und in Fn. 283 f.) - liegt, was wohl auch Wolter erkennt (303 mit Fn. 836), darin, daß der materiale Kern des Unrechts und seiner Begründung, die Rechtsgutsverletzung, nicht gesehen wird. Der Sache nach gilt nichts anderes für die Unrechtskonzeptionen Roxins und Jakobs' . 200 So aber Jakobs, AT 11/30. 201 S. oben sub I A 3 bei Fn. 65 und sub I B 1 bei Fn. 92. 202 Das gilt jedenfalls für die Erfolgsdelikte, bei. denen der objektive Handlungsunwert ein Gefährdungs- oder Gefährlichkeitsunwert ist. Bei dem "Tätigkeitsunwert" der Tätigkeitsdelikte fehlt zwar diese Spiegelbildlichkeit, doch handelt es sich immerhin auch um einen durch die äußere Seite der Handlung begründeten Unwert. 203 S. oben sub I A 3 bei Fn. 62 ff. zur dritten fmalistischen Unrechtskonzeption, sowie freilich ausdrücklich nur zum Vorsatzdelikt - Rudolphi, GS Schröder 82 ff.; Wolter 38 f., 138 ff., 166, 179; auch Nowakowski JB1. 1972,26. - Roxin (AT I § 24/95 f., 98 f.) meint, daß ohne ein subjektives Rechtfertigungselement der Handlungsunwert ohne Ausgleich bleibe, so daß 197 198 199

11. Neuere Konzeptionen

73

zicht auf subjektive Rechtfertigungselemente204 wäre die Kompensation zwar keine vollständige, weil der subjektive Handlungsunwert ohne positives Pendant bliebe205 . Aber nach dem Gedanken der elementweisen Kompensation bleibt er als einziger Unwert206 übrig und hat, weil es keinen fahrlässigen Versuch gibt, keine strafrechtliche Folgen. Da nach diesem Gedanken anders als bei der Lehre von der Sorgfaltswidrigkeit207 das Erfülltsein der objektiven Rechtfertigungsseite bereits den Handlungsunwert wesentlich kompensiert208 , ist das "Versuchsargument"209 hier nicht in gleicher Weise den dort vorzubringenden Einwänden210 ausgesetzt. Erscheint somit nach dem auf der Basis dieser Unrechtskonzeption durchgeführten Saldierungsgedanken ein subjektives Rechtfertigungselement zum Unrechtsausschluß beim fahrlässigen Delikt nicht erforderlich211 - und für die wegen des kompensierten Erfolgsunwerts zwar, weil es keinen fahrlässigen Versuch gebe, die Strafbarkeit, nicht aber die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen sei. Dabei übersieht Roxin freilich, daß bereits die objektive Seite des Rechtfertigungsgrunds nach dem auch von ihm vertretenen Gedanken elementweiser Kompensation einen objektiven Handlungsunwert garantiert; da es für Roxin bei der Fahrlässigkeit (jedenfalls bei der sog. unbewußten) nur ein objektives Handlungsunrecht gibt (s. oben bei Fn. 150, 153 ff.), müßte das fahrlässige Unrecht auch bei Fehlen eines subjektiven Rechtfertigungselement vollständig kompensiert sein. 204 So Jakobs, AT 11130 ff. 205 Vgl. Roxin, AT I § 24/96, 98; dazu, daß Roxins Stellungnahme zur Erforderlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements im Widerspruch zu seiner Unrechtskonzeption steht, s. oben in Fn. 203. 206 Man könnte meinen, daß, falls kein Erfolgswert vorliegt (z.B. weil der Rettungserfolg ausbleibt), der Erfolgsunwert bestehen bliebe. Aber dabei würde nicht berücksichtigt, daß sich im Erfolg keine unerlaubt geschaffene Gefahr realisiert, weil die Gefahrschaffung durch den objektiven Handlungswert in ihrem Unwert aufgehoben ist, der Erfolg folglich nicht durch einen Gefährdungsunwert "vermittelt" ist; s. Nowakowski ÖJZ 1977, 579; Rudolphi, GS Schröder 83 f.; Wolter 139 ff., 149 Fn. 349 a.E. (auch der - sog. sekundäre - Erfolgsunwert werde kompensiert). Wolter läßt freilich im umgekehrten Fall - der Rettungserfolg tritt zufällig, d.h. nicht in Realisierung des Rettungschancenwerts (= objektiver Handlungswert) ein - durchaus inkonsequent den eingetretenen Rettungserfolg den Erfolgsunwert kompensieren und wilJ beim Vorsatzdelikt nur wegen (beendeten, tauglichen) Versuchs strafen (140 Fn. 312 zweiter Teil). - Eine Zurechnung des negativen Erfolgs bleibt allerdings bei der bloßen Minderung des objektiven Handlungsunrechts, also nach der Lehre von der Unrechtsminderung im Fall der Entschuldigung, möglich: Das verbleibende Handlungsunrecht vermag den Erfolg "zu vermitteln". 207 Dazu oben sub I B 1 bei Fn. 98 f. 208 Zu Roxins Auffassung s. oben in Fn. 203. 209 Das "Versuchsargument" ist eine Anwendung des Gedankens elementweiser Kompensation: Der durch die objektive Rechtfertigungsseite garantierte objektive Handlungswert gleicht den objektiven Handlungsunwert aus, und der verbleibende subjektive Handlungsunwert reicht anders als bei der Vorsatztat (dazu oben 1. Teil sub 11 bei Fn. 22 ff.) - nicht zur Begründung eines Versuchsdeliktes aus; vgl. oben sub I B 1 bei Fn. 86. 210 Dazu oben sub I B 1 bei Fn. 89 ff. 211 Als ein der subjektiven Seite der Fahrlässigkeitstat entsprechendes subjektives Rechtfertigungselement die individuelle Erkennbarkeit der objektiven Rechtfertigkeitsvoraussetzungen zu

74

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

Unrechtsminderung muß ganz Entsprechendes gelten -, bleibt allerdings noch der Fall zu bedenken, daß die subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen allein gegeben sind, also die Konstellation einer Fahrlässigkeitstat in Putativrechtfertigung. Hier wäre es immerhin möglich, das subjektive Rechtfertigungselement den subjektiven Handlungsunwert ausgleichen zu lassen (denn nach verbreiteter Meinung soll es ja sogar die Kraft haben, den subjektiven Handlungsunwert des Vorsatzdelikts auszuschließen)212, so daß mangels subjektiver Entsprechung zum objektiven (Handlungs-)Unrecht jedenfalls keine Straftat vorläge. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, muß man strukturelle Gleichartigkeit oder doch Ähnlichkeit der zu saldierenden Elemente verlangen, an der es bei einem subjektiven Handlungsunwert als Erkennbarkeit einer bestimmten Handlungsweise einerseits und einen subjektiven Handlungswert als Handeln mit einer bestimmten Vorstellung oder Absicht auf der anderen Seite fehlt213 . B. Objektiver Handlungsunwert Den Begriff eines bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tat identischen rein objektiven Handlungsunwerts hat Frisch eingehend und auch über den Bereich der Erfolgsdelikte hinaus entfaltet214 . Seine Untersuchung gilt dem Begriff des Vorsatzes und seines Gegenstands, der mit dem der Fahrlässigkeit identisch sein soll. Er wählt eine zweckrationale Methode, die beim Rechtsgüterschutz durch rechtsbewährende Generalprävention ansetzt215 , zugleich aber auch entschieden normtheoretisch orientiert ist, indem sie den strafrechtlichen Tatbeständen als Sanktionsnormen bestimmte Verhaltensnormen entnimmt und diese dann im weiteren Begründungsgang entgegen einer ersten Ankündigung216 oftmals als Bestimmungsnorm versteht217 . Frisch verzichtet auf die Einordnung des Vorsatzes in das System der Straftat218 und fragt aus der Sicht der tragenden generalpräventiven Konzeption der verlangen, ist widersinnig: Liegen die rechtfertigenden Umstände vor, ist es grob ungerecht, die Rechtfertigung gerade deswegen zu versagen, weil der Täter sie nicht erkennen konnte; s. schon oben sub I B 1 bei Fn. 117. - Zum Erfordernis der Gleichartigkeit der zu saldierenden Komponenten s. unten 4. Teil sub I B. 212 S. oben 1. Teil sub I bei Fn. 18 und 4. Teil sub I C. 213 Wie Fn. 211 214 Zur Übereinstimmung des fahrlässigen und vorsätzlichen Unrechts im Objektiven Frisch 84 f., 130, 490, 504 und passim; eine Einschränkung dieses Grundsatzes will Frisch freilich nicht ausschließen: 158 Fn. 148. 215 Ibid. 32 f., 40 ff., 46 ff. 216 Ibid. 59 Fn. 18. 217 Ibid., grundlegend 59 ff., 76 ff.; in einzelnen Argumentationen z.B. 72, 83 f., 92, 96, 124 f., 127 f., 140,246,348,352,358,424 ff. 218 Ibid. 36 ff., 113 f.

11. Neuere Konzeptionen

75

Strafe nach dem "zweckrationalen" Grund der hervorgehobenen Vorsatzstrafe. Er sieht den Grund darin, daß'vorsätzliches Handeln als "Entscheidung gegen das Rechtsgut" , nämlich als Entscheidung nach Maßstäben, die von denen der im Sanktionstatbestand vorausgesetzten Verhaltensnormen abweichen, das Vertrauen in die Geltung der Rechtsordnung in besonderem Maße erschüttere, besonders verunsichernd wirke und wegen der möglichen Ansteckungswirkung sozialpsychiologisch besonders gefährlich sei; außerdem weise es den Täter als gegenüber dem Rechtsgut typischerweise erhöht gefährlich aus, womit der spezialpräventive Aspekt der Strafe ergänzend ins Spiel kommt219 . Daneben wird aber noch unter dem Blickwinkel der Legitimation des Strafeinsatzes ein "wertrationaler" Grund gestellt: Dem Vorsatztäter könne ein gesteigerter persönlicher Vorwurf gemacht werden, weil sein Wissen um die relevanten Eigenschaften seines Verhaitens 220 eine erhöhte Vermeidemacht begründe und ihm daher die Befolgung der Norm erheblich leichter falle als dem fahrlässig Handelnden; dem aus Präventionsgründen gesteigerten Stratbedürfnis entspreche somit eine gesteigerte personale Fehlleistung221 . Demgegenüber sei die Ratio der Bestrafung der Fahrlässigkeitstat, "daß der Täter zu wenig Sorgfalt auf die Einschätzung seines Verhaltens verwendet"; der Kern des Fahrlässigkeitsvorwurfs liege darin, daß der Täter "handelt, ohne sich zuvor der Unbedenklichkeit seines Verhaltens (gemessen an den Maßstäben des Rechts) zu versichern"222. Legen diese Bestimmungen eine Behandlung von VorsatzlVorsätzlichkeit und Fahrlässigkeit als Schuldform nahe223 , hält Frisch es andererseits für möglich, jedenfalls den Vorsatz mit in den Verhaltensunwert aufzunehmen224 . In der Tat besteht auch im Rahmen von Frischs Konzeption dann die Möglichkeit, Vorsatz und Fahrlässigkeit Unrechtsrelevanz beizulegen, wenn man durch das Handeln mit Vorsatz oder Fahrlässigkeit einen (zum objektiven Handlungsunwert hinzukommenden) subjektiven Handlungsunwert begründet sieht225 ; im Hinblick auf die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ist es für Frisch sogar notwendig, einen durch das Handeln mit Vorsatz realisierten subjektiven Handlungsunwert anzunehmen226 . Dieser Umstand legitimiert zu219 Ibid., vor allem 49 f., 96 f., 98 ff., 102 f., 106 ff., 228 f., 265, 341, 449. 220 Daß hier bereits der Inhalt des Vorsatzbegriffs zur Sprache kommt, entspricht Frischs

Vorgehensweise, den Grund der Vorsatzstrafe im Fortgang der Analyse des Vorsatzsbegriffs zu präzisieren; zu diesem Verfahren Frisch 53 f. 221 Frisch, besonders 51 ff., 97 f., 103 f. 222 Ibid. 229 f., ferner 265 Fn. 44. 223 Ausdrücklich offenlassend Frisch 113 f., s. aber auch 106 Fn. 177. 224 lbid.71 mit Fn. 73, 78 f. Fn. 98; 80 mit Fn. 101 a; 84 Fn. 113. 225 S. sogleich bei Fn. 238 ff.; zu den Schwierigkeiten s. unten bei Fn. 275 ff. 226 VgJ. unten bei Fn. 275 ff.

76

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

sammen mit dem auch von Frisch gewählten normtheoretischen Ansatz227 , sein Unrechtsmodell dem Finalismus zuzuordnen. Frisch definiert den Vorsatz rein kognitiv unter Verzicht auf voluntative und emotionale Elemente228 sowie unter Verzicht auf die Sonderform des dolus eventualis (auch soweit es um die Sicherheit des VorsteIlens geht)229 als "Für-sich-Wissen (oder: Ausgehen)", als verbindliche persönliche Sicht ("Für-sich-Sehen")230. Eine solche Definition des Vorsatzes ist freilich nur möglich, wenn zuvor sein Bezugspunkt unter Einschluß von Möglichkeiten bestimmt wird: Vorsatzgegenstand sei nicht der auf die Rechtsanwendung zugeschnittene Tatbestand der Sanktionsnorm231 und auch nicht Teilstücke von ihm232 , sondern - und hier wird der generalpräventiv-normtheoretische Ansatz deutlich - das den Gegenstand der Verhaltensnorm, die dem Tatbestand zugrunde liege, bildende sog. tatbestandsmäßige Verhalten (oder: das Verhalten in seiner tatbestandsspezifischen Unwertdimension), das über Möglichkeiten definiert sei233 . Der für Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat identische normwidrige Verhaltensunwert werde durch Risikoverhaltensweisen begründet, und zwar bei den Erfolgsdelikten durch ein Verhalten (eine Handlung), daß eine bestimmte nicht mehr tolerierte konkrete Gefahr, die objektiv ex ante aus der Perspektive des Täters zu beurteilen sei, des Eintritts des tatbestandlichen Erfolgs mit sich bringe (oder: schaffe) oder eine bereits bestehende Gefahr auf dieses Maß erhöhe (sog. erfolgsbezogene Risiken)234. Ganz Entsprechendes gelte aber auch jenseits der Erfolgsdimension für die sog. nichterfolgsbezogenen Risiken: Die in den Straftatbeständen vorausgesetzten Verhaltensnormen untersagten bestimmte Handlungen schon bei der nicht mehr zu tolerierenden und aus der Täterperspektive objektiv ex ante zu bestimmenden Möglichkeit, daß bestimmte tatbestandlieh relevante Umstände vorliegen, etwa ein bestimmtes Alter des Opfers (so beim sexuellen Mißbrauch von Kindern nach § 176), die Fremdheit der Sache (Diebstahl nach § 242), die "Falschheit" bei den Aussagedelikten oder die "Unrichtigkeit" der Entscheidung bei der Rechtsbeugung (§ 336)235. Wegen vollendeter Tat könnte freilich 227 s. dazu die Hinweise soeben bei Fn. 216 f. mit Nachweisen sowie unten bei Fn. 232 f. und nach Fn. 242. Zum normtheoretischen Ansatz des Finalismus und seiner Kritik s. unten 5. Teil sub I B 3 b und Ir. 228 Frisch 260 ff., 342 f. (zusammenfassend), 411, 494 ff. 229 Zusammenfassend ibid. 341 f., 411, 488 ff. 230 Ibid. 192 ff., 370 ff., zusammenfassend 341,408 f. 231 Ibid. 56 ff. 232 Ibid. 65 ff. 233 Ibid. 71 ff., 340 (zusammenfassend), 347 ff., 407 f. (zusammenfassend), 490 und passim. 234 Ibid. 71 ff., 118 ff., zusammenfassend 340 f. 235 Ibid. 349 ff., zusammenfassend 407 f.

II. Neuere Konzeptionen

77

nur dann bestraft werden, wenn die Umstände, hinsichtlich deren Vorliegens sich die Verhaltensnorm mit einer bestimmten Möglichkeit begnüge, neben anderen Voraussetzungen .des Sanktionstatbestandes des Besonderen Teils wirklich gegeben seien236 , so wie der eingetretene und objektive zurechenbare Erfelg gleichfalls objektive Strafvoraussetzung sei237 • Bestimmt man nun - was bei Frisch allerdings nicht explizit geschieht - die Fahrlässigkeit als die zweite Art des subjektiven Bezugs zum unwertigen Verhalten durch das Fehlen des Wissens, der verbindlichen Annahme (Vorsatz), und die Erlangbarkeit (für den Täter) eines solchen Wissens, ist das objektive Unwertkriteriums für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte in der Tat identisch. Mithin werden die Unstimmigkeiten vermieden, die bei der überwiegenden Richtung des Finalismus zu beobachten sind, daß nämlich die Gefahrschaffung einmal - bei der fahrlässigen Tat - im Rahmen der Unrechtsbegründung (wenn auch unter dem Deckmantel der Sorgfaltspflichtverletzung), ein andermal - bei der vorsätzlichen Tat - als Element (nur) der objektiven Zurechnung (oder jedenfalls des "primären" Erfolgsunwerts238) auftaucht239 • Es ist daher, auch wenn Frisch selbst diesen Schritt nicht vollzieht, möglich, dem objektiven Handlungsunwert einen durch das Handeln mit Vorsatz oder mit Fahrlässigkeit begründeten subjektiven Handlungsunwert als weitere Komponente des Handlungsunrechts an die Seite zu stellen24O • In dieser Gestalt entspricht Frischs Unrechtsmodells strukturell den im vorherigen Abschnitt A vorgestellten Konzeptionen. Das zentrale Problem der Abschichtung der tolerierten von den nicht mehr tolerierten (mißbilligten) Gefahren, die für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs oder das Vorliegen tatbestandIich vorausgesetzter Umstände bestehen, ist nach Frisch nur (aber auch im wesentlichen) über eine Abwägung der Interessen an der Vomahme der grundsätzlich risikobehafteten Handlung einerseits und den Interessen an dem Unterbleiben der Handlung andererseits zu lösen241 • Dabei könne die Hinnahme eines konkreten Risikos auch von der Erfüllung zusätzlicher Bedingungen durch den Täter, insbesondere von subjektiven Faktoren abhängen; ein Beispiel bilde im Anwendungsbereich des § 336 das Handeln des Richters "im Bemühen" (d.h. mit der Absicht), die Ibid. 356 f. Ibid. 60 ff. Zu diesem Begriff oben sub I A 2 a.E. 239 S. oben sub I B 2 bei Fn. 130 ff. 240 Vgl. noch unten bei Fn. 265 f. 241 Frisch 138 ff., auch 304 ff., 324 ff. zu den sog. erfolgsbezogenen Risiken, 360 ff., 408, auch 392 ff. zu den sog. nicht erfolgsbezogenen Risiken, resümierend 504 f. 236

237 238

78

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

richtige Entscheidung zu finden242 • Daß Frisch in dieser Weise verfahren muß, liegt in seinem normtheoretischen Ansatz begründet, der auf den Verstoß gegen (den Sanktionstatbeständen des Besonderen Teils zugrundegelegten) Verhaltensnormen und nicht auf die Rechtsgutsverletzung abstellt. Wird aber der Handlungsunwert, das "an sich" tatbestandsmäßige oder mißbilligte Verhalten, nicht material bestimmt, können gewisse für notwendig erachtete Einschränkungen hinsichtlich der Unerlaubtheit des "Risikoverhaltens" nicht, wie es bei materialer Sicht geboten ist, als Rechtfertigung begriffen werden243 • Dieser Ansatz muß dann konsequenterweise auch dazu führen, die gesetzlich normierten Rechtfertigungsgründe, die ja die Musterfälle der Kollision von Interessen (Rechtsgütem bzw. deren Achtungsansprüchen) regeln und somit lediglich vertypte Interessenabwägungen darstellen, in die Verhaltensnorm zu integrieren: Wenn ein (als Erlaubnissatz verstandener) Rechtfertigungsgrund eingreife, liege ein tatbestandsmäßiges Verhalten nicht vor244 • Für die dann doch erfolgende Ausgliederung der Rechtfertigungsgründe sollen nur Darstellungsgründe entscheidend sein245 . Sachlich bleibt es hingegen 242 Ibid. 365 ff., 393 ff., zusammenfassend 408, 409 f.; ebenso im Bereich der Erfolgsdimension, wo ein erhebliche Gefahren schaffendes Verhalten, z.B. das Hinauswerfen einer gefalrrdeten Person aus einem hochgelegenen Stockwerk in ein bereitgehaltenes Sprungtuch, durch die Umstände und das Vorliegen einer Rettungsabsicht erlaubt sein soll (143 f., 211 f.). - Nicht zu verkennen ist, daß Frischs Ansatz, das Verhaltensunwertkriterium rein objektiv zu bestimmen, durch solche subjektiven Faktoren eingeschränkt wird (unklar daher 373: Bei ihrem Gegebensein sei ein "Mangel im Objektiven" festzustellen; hier zeigt sich, daß auch Frisch am Tatbestand und an der Verhaltensnorm als ausschließlich objektive Umstände umschreibend festhalten will). Wichtiger ist freilich, daß die reklamierte und wiederholt herausgestellte Einheitlichkeit des Vorsatzbegriffs (etwa 300 ff., 409 ff., 492 f., 496 f.) mit der Annahme solcher subjektiven risikoeinschränkenden Bedingungen aufgegeben wird, was Frisch nicht thematisiert. Da das Wissen sich nicht sinnvollerweise auf den subjektiven Faktor (z.B. die Motivation) beziehen läßt (deren Reflektieren kann nicht verlangt werden), muß das Fehlen eines bestimmten subjektiven Moments mit in den Begriff der Vorsätzlichkeit aufgenommen werden: Vorsätzlich soll nur derjenige handeln, der von einer konkreten Gefahr des Gegebenseins bestimmter Umstände (z.B. bei der Rechtsbeugung nach § 336: der Falschheit und Unvertretbarkeit der Entscheidung) ausgeht, ohne zugleich (auch) die subjektiven Bedingungen zu erfüllen, bei deren Erfülltsein das Risikohandeln erlaubt sei (bei § 336: das Ziel, die richtige Entscheidung zu fmden); deshalb scheide der Vorsatz im Irrtumsfall aus, in dem die bestimmten Umstände (z.B. Falschheit der Entscheidung) leicht erkennbar objektiv vorlägen - nur bei der objektiv bestehenden Möglichkeit ihres Vorliegens mache das subjektive Moment das Risiko tolerierbar -, der Täter jedoch lediglich von einer konkreten Möglichkeit ausgehe und mit (z.B.) der entsprechenden Motivation handele (373; ähnlich für die Erfolgsdelikte 211 f.). 243 Insoweit bezeichnend der Hinweis Frischs, in dem Bereich, in dem es nach ilrrn um die Konkretisierung der Verhaltensnormen und des (Unrechts-)Tatbestands geht, sei es "formalistisch", Rechtfertigung anzunehmen (154 f. mit Fn. 132; auch 363 f.). Vielmehr setzt ein solcher Hinweis gerade seinerseits ein formales Verständnis der Rechtfertigung voraus. 244 Frisch 150 ff., 504 f. mit Fn. 11. 245 Frisch 154 ff.; die sonst für seine Trennung genannten Gründe (s. für viele SIS (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 18 und Wolter 144 ff., beide m.w.N.) hält Frisch nicht für durchschlagend.

11. Neuere Konzeptionen

79

bei der Aufnahme des Nichtgegebenseins von Rechtfertigungsgründen in die Verhaltensnorm. Das hat Folgen sowohl für die Struktur der Rechtfertigung als auch für den Vorsatzbegriff. Das objektive Handlungsunwertkriterium führt zu einer objektiven Rechtfertigungssicht und den über Risiken definierten Verhaltens normen entsprechen über Möglichkeiten definierte Rechtfertigungsgründe. Nicht nur, soweit es um zukünftige Entwicklungen und Ereignisse gehe (die prognostischen Rechtfertigungsvoraussetzungen, wie z.B. - im Bereich der Rechtfertigungslage - die Gefahr in § 34 und - im Bereich der gerechtfertigten Handlungsweise - die Erforderlichkeit in den §§ 32, 34), sondern auch für zur Zeit der Handlung vorliegende Umstände (z.B. die für die Prognose relevanten Faktoren, etwa bei § 34 die Schwere einer Verletzung der zu rettenden Person und bei § 32 etwa die Stärke und die Absichten des Angreifers) reiche vielfach246 aus, daß eine aus der Täterperspektive objektiv247 ex ante zu beurteilende Wahrscheinlichkeit für ihr Vorliegen bestehe248 , deren Grad von einer Vielzahl variabler Abwägungsfaktoren abhänge249 • Umgekehrt stünden die entsprechenden objektiven "Gegenmöglichkeiten" , daß die Zukunft anders aussehen werde oder ein Umstand nicht gegeben sei, der Rechtfertigung nicht entgegen250 • Zur Rechtfertigung sei grundsätzlich allein notwendig, daß diejenigen Umstände (Rechtfertigungssituation und Eigenart der Handlung) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorlägen, die das Verhalten insgesamt wertvoller, weil seiner objektiven Seite nach dem höheren Wert dienend, machen251 • Ein subjektives Moment sei nur ausnahmsweise zur Rechtfertigung erforderlich, wenn nämlich die Handlung nicht zwangsläufig im Dienst der vorgehenden Interessen stehe, so im Fall des § 127 I StPO, wo die Tat nur dann der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses diene, wenn der Festnehmende das Ziel verfolge, den Festgenommenen der Strafverfolgung 246 Anders z.B. bei der Einwilligung und beim Züchtigungsrecht, wo bei bloßer Wahrscheinlichkeit, daß eine wirksame Einwilligung oder ein Züchtigungsanlaß vorliege, eine Rechtfertigung ausscheide: Frisch 430 f., 453. 247 Freilich soll es außerhalb des Bereichs, in dem für die Beurteiligung standardisierte Fähigkeiten vorausgesetzt werden, auf das Wissen und die Fähigkeiten des Täters ankommen (Frisch 441) - dies, obwohl dieselben Prinzipien wie für die Feststellung der Risiken gelten sollen, wo optimales Wissen maßgeblich sei (ibid. 136 f.)! 248 Frisch 419 ff.; ebenso etwa Nowakowski: 181. 1972,26; ÖJZ 1977, 576 f.; Annin Kaufmann, FS Welzel 401 f.; Rudolphi, OS Schröder 81 f.; Wolter 38, 137 ff. (m.w.N. in Fn. 300), 166; Schaffstein, FS Bruns 95 ff. (für den rechtfertigenden Notstand); für eine Beschränkung der ex-ante-Sicht auf die prognostischen Rechtfertigungsvoraussetzungen hingegen z.B. Gallas, FS Bockelmann 167 mit Fn. 29, 178 f.; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 10 ff., 19 a; § 32 Rn. 27 f.; § 34 Rn. 13; Jescheck 297. 249 Frisch 440 ff., 462. 250 Ibid. 442 f., 447 f. 251 Ibid. 455 ff., besonders 461 f.; auch Frisch, FS Lackner 122 ff., 142 ff.

80

2. Teil: Die finalistischen Unrechtslehren

zuzuführen252 . Das subjektive Rechtfertigungselement sei hier in entsprechender Weise wie bei der "Tatbestandsmäßigkeit" (Unrechtsbegründung)253 Bedingung dafür, daß die Gefahr toleriert werde254 . Die rein objektive und weitgehend über Chancen definierte Rechtfertigung erlaubt es Frisch, Konsequenzen für den Vorsatzbegriff zu ziehen. Gehe der Täter nämlich nicht nur von einem Verhalten mit einer bestimmten Gefährlichkeit (zu dem tatbestandsmäßigen Erfolg zu führen oder tatbestandsmäßige Umstände zu erfüllen), sondern zugleich davon aus, daß rechtfertigende Umstände mit normrelevanter Wahrscheinlichkeit gegeben seien, entscheide er nicht nach Maximen, die von den Verhaltensprinzipien der Rechtsordnung abwichen, sondern nach solchen, die mit ihnen übereinstimmten; damit entfalle der zweckrationale (und auch der wertrationale) Grund für die Vorsatzstrafe255 . Es empfehle sich, den Vorsatzbegriff entsprechend zweigliedrig zu fassen: Vorsätzlich handele, wer seiner Handlung eine Risikodimension zuschreibe, die nicht mehr toleriert sei, und nicht zugleich davon ausgehe, daß die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes mit objektiv hinreichender Wahrscheinlichkeit256 vorlägen257 • Nehme der Täter dagegen eine Möglichkeit, daß rechtfertigende Umstände gegeben seien, an, die objektiv zur Rechtfertigung ausreiche, scheide Vorsatz aus, so daß das notwendigerweise zugleich vorhandene Annehmen der objektiv die Rechtfertigung ausschließenden Gegenmöglichkeit oder Gegenwahrscheinlichkeit unschädlich sei258 . Ein solches Für-möglich-Halten (Für-sieh-Ausgehen von ausreichenden Möglichkeiten), üblicherweise "subjektives Rechtfertigungselement" genannt, sei zwar nicht zur Rechtfertigung des allein durch die Erfüllung der objekti252

Frisch 452 mit Fn. 137,460 mit Fn. 163,461; anders jetzt wohl id., FS Lackner 146 ff.

253 S. oben bei und in Fn. 242.

254 Frisch 452 Fn. 137,460 Fn. 163. Übrigens zeigt sich hier wiederum (vgl. oben Fn. 242) an versteckter Stelle eine entscheidende Schwierigkeit für Frischs Konzeption. Denn das den Interessen des Festgenommenen (bzw. der Gefahr für die betreffenden Rechtsgutsobjekte, welche die Festnahrnehandlung schafft) gegenüberstehende und vorgehende Strafverfolgungsinteresse (das nach Frisch auch nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit tangiert zu sein braucht, wenn nämlich nur hinreichend wahrscheinlich ist, daß der Festgenommene eine Straftat begangen hat, s. Frisch 433 ff., 442) wird ja überhaupt nur durch die subjektive Tendenz der Handlung gewahrt, was durch die Formulierung der "subjektiven Formalisierung der tolerierten Gefahr" (Frisch 460 Fn. 163) verdeckt wird. 255 Frisch 449 ff. und 244 ff. für den Fall der sicheren Annahme einer rechtfertigenden Situation. 256 Wo (wie etwa bei der Einwilligung) im Fall der bloßen Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit nicht gehandelt· werden dürfe, müsse der Täter entsprechend von dem Vorliegen der rechtfertigenden Umstände ausgehen (Frisch 453,461). 257 Ibid. 248 ff., 341, 449 ff., 462; auch Frisch, FS Lackner 134, 144 f., 148. 258 Frisch: 452 ff., 461 f.; auch FS Lackner 134.

11. Neuere Konzeptionen

81

ven Rechtfertigungsvoraussetzungen entfallenden Verhaltensunwerts, wohl aber zur Vermeidung der Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs erforderlich; denn nur wenn der Täter von rechtfertigenden Möglichkeiten ausgehe, entfalle der Vorsatz und damit die die Versuchsstrafbarkeit begründende betätigte Entscheidung gegen das Rechtsgut259 • Was nun die Konstruktion der Unrechtsaufhebung und -minderung angeht, so scheint Frischs Rechtfertigungsgesichtspunkte aufnehmende Kategorie der Verhaltensnormen und sein Begriff des gegen dies verstoßenden ("verhaltensnormwidrigen" , "mißbilligten") Risikoverhaltens ebenso wie der sich auf dieses beziehende und das sog. (allgemeine) subjektive Rechtfertigungselement in sich aufnehmende Vorsatz eine elementweise Saldierung auszuschließen260 • Doch setzt Frischs Konzeption der Sache nach eine solche Betrachtungsweise gerade voraus, wenn er die Abschichtung der tolerierten von den nicht mehr tolerierten Risikoverhaltensweisen und damit die Grenze des mißbilligten Verhaltens (Verhaltensunwerts) umfassend, d.h. über den Bereich der Rechtfertigung hinaus, mit dem Mittel der Interessenabwägung vornehmen Will 261 • So ist denn auch mehrfach von der Unwertigkeits- und der Wert(erhaltungs)dimension, der wertverletzenden und der werterhaltenden Tendenz einer Handlung oder Verhaltensweise in Rede262 , und setzt das auch von Frisch der Rechtfertigung zugrundegelegte Prinzip des überwiegenden Interesses263 die Trennung von Interessenverletzung und Interessenwahrung durch ein und dieselbe Handlung voraus264 . Demzufolge ist ganz entsprechend wie im Rahmen der bereits vorgestellten Spielarten des Finalismus265 dem objektiven Handlungsunwert, der durch eine Handlung, die eine bestimmte Gefahr für den Eintritt eines tatbestandsmäßi259 Frisch: 456 f., 458 Fn. 160,459 Fn. 161 a.E., 461 f. mit Fn. 171; FS Lackner 126 ff., 130, 133 f., 144 f., 148. 260 Vgl. insbes. Frisch 458 Fn. 160 und 462 Fn. 171 zum fehlenden (nicht erst kompensierten) objektiven und subjektiven Handlungsunwert sowie oben bei und in Fn. 241-245 (mit Nachw.) zum generellen Ansatz, das Fehlen der Rechtfertigungsgründe (und das Nichtvorliegen nicht vertypter Fälle der Interessenabwägung) in das "tatbestandsmäßige, mißbilligte" Risikoverhalten zu integrieren. 261 S. oben bei und in Fn. 241-245. 262 Etwa Frisch 438 f. sowie 369 mit Fn. 60 für den Bereich außerhalb der klassischen Rechtfertigungsgründe. 263 Frisch 428 f., 437 und passim; s. dazu noch sogleich im Text. 264 So denn auch ibid., z.B. 428 f., 437 ff., 458, 460, 461 mit Fn. 170; vgl. auch die Rede vom "an sich nicht mehr tolerierten Verhalten" etwa 452, 461 a.E. S. ferner Frisch, FS Lackner 123 f., 125 f., 128 f., 144 f. und passim. 265 S. oben sub I A 3 bei Fn. 63 ff. und nach Fn. 69 sowie sub A bei Fn. 201 ff. und bei Fn. 195 f. 6 RÖlIger

82

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

gen Erfolgs schafft (Gefährlichkeitsunwert) oder unter Risiko des Vorliegens tatbestandsrelevanter Umstände vollzogen wird (Tätigkeitsunwert), begründet wird, ein objektiver Handlungswert gegenüberzustellen, der z.B. durch die Schaffung einer Rettungschance (allgemein: die Schaffung der Chance, daß ein wertvoller Sachverhalt sich realisiert),begründet wird. Aber auch im Hinblick auf die subjektive Seite kann, trotz Frischs ausdrücklieher Zurückweisung266 , in gleicher Weise verfahren werden, weil das zweite Glied in Frischs zweigliedrigem Vorsatz als subjektives "Rechtfertigungselement" , wenn auch nur im Sinne des Ausschlusses der Versuchsstratbarkeit, verstanden werden kann267 : Die Betätigung der auf den Risikoaspekt der Handlung bezogenen Annahme (Für-sieh-Ausgehen von einem bestimmten Risiko) stellt den subjektiven Handlungsunwert dar, der vom subjektiven Handlungswert, der durch die Annahme der relevanten Chance bzw. der Betätigung der Annahme begründet wird, kompensiert wird268 • Für die im (objektiven) Verhaltensunwert mit der vorsätzlichen Tat übereinstimmende fahrlässige Tat folgt daraus, daß zur Rechtfertigung nur ein objektiver Handlungsunwert erforderlich, ein subjektives Rechtfertigungselement mithin entbehrlich ist269 • Eine solche Sicht ist besonders dann angezeigt, wenn man wie Frisch die Funktion der Rechtfertigung nicht darin erblickt, jegliches Unrecht auszuschließen, die Tat also als rechtmäßig auszuweisen und dem Betroffenen Duldungspflichten aufzuerlegen, sondern in dieser deliktssystematischen Kategorie nur Bedingungen beschrieben sieht, die erfüllt sein müssen, damit das strafrechtliche Unrecht entfällt, der Verhaltensunwert also unter die Grenze dessen sinkt, was zur Anknüpfung der Rechtsfolge Strafe notwendig ist27o • Denn eine solche Sicht, nach der etwa bereits bei ungefährer Gleichwertigkeit der verletzten und gewahrten Interessen "Rechtfertigung" als "Strafunrechts266 Frisch: 458 Fn. 160, 462 Fn. 171; FS Lackner 125 f. und passim; aber auch, im Sinne einer Trennung, Frisch 491. 267 Vgl. auch Frisch, FS Lackner 130, 134. 268 Dies gilt allerdings nur unter der für Frischs Konzeption aber wohl zu bejahenden Bedingung, daß der Vorsatz Unrechtselement ist; s. oben bei und in Fn. 223 und 224. 269 Frisch, FS Lackner 130 ff. Das stimmt mit der oben sub A dargestellten fmalistischen Konzeption überein, s. dort bei Fn. 204 ff. 270 Frisch 425, 437 ff., 459 Fn. 161 und passim. Ebenso eingehend Günther 247, 249, 255 ff., 310 ff. und zusammenfassend 359 f., 393 ff., der den Begriff "Strafunrechtsausschließungsgrund" prägt, der nicht die Erlaubtheit eines Verhaltens durch die Gesamtrechtsordnung, sondern lediglich die Minderung des Umechtsgrades unter die Strafwürdigkeitsschwelle voraussetze; ihm folgend z.B. Amelung JZ 1982, 619 und Schüne11lQ1/1l GA 1985, 351 ff.; zu Recht ablehnend jedoch die überwiegende Meinung: Weber JZ 1984, 277 f.; He1l11lQ1/1l 6 ff., 91 f.; Rudolphi, GS Armin Kaufmann 374 ff.; Hirsch, FS Universität Köln 411 ff.; LKlO (Hirsch) vor § 32 Rn. 10; Bacigalupo, GS Armin Kaufmann 468 ff.; Roxin JuS 1988, 430 f.; S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 8.

H. Neuere Konzeptionen

83

ausschluß" eintritt271 , liegt ja in der in der Konsequenz des Gedankens der elementweisen Kompensation und der Unrechtsminderung durch Rechtfertigungselemente272 und setzt damit eine materiale Sicht voraus 273 • Frischs These - dies ist bereits an dieser Stelle kritisch zu bemerken274 - offenbart allerdings ein verfehltes oder doch verkürztes Verständnis der Rechtfertigung, nach dem es nur auf das Wertverhältnis der beiden unmittelbar kollidierenden Interessen (oder Geltungsansprüche) ankommt, z.B. beim Notstand also auf das "geschützte" und das "beeinträchtigte" Interesse. Außer Betracht bleibt das, wenn man so will, mittelbare Interesse zweiter Ordnung daran, daß Eingriffe in die rechtlich bestimmten Freiheitsbereiche unterbleiben. Weil solche Eingriffe auch dann die Sicherheit im gesellschaftlichen Zusammenleben stören, wenn sie positive Aspekte haben, indem sie Interessen oder Achtungsansprüche wahren, müssen diese ein erhebliches Übergewicht über die beeinträchtigten Interessen, deren Verletzung das Unrecht des betreffenden Delikts ausmacht, haben, um auch den besonderen Unwert der Störung der die Freiheitsräume sichernden Ordnung aufzuwiegen. Nur so ist ja auch die Regelung des § 34 zu verstehen, daß das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen muß. Das schließt nicht aus, daß bei anderen Rechtfertigungsgründen, etwa beim Defensivnotstand, wo ja gerade einer (drohenden) Störung der Ordnung entgegengetreten wird, ein anderes Verhältnis der unmittelbar verletzten Geltungsansprüche maßgebend ist. Wenn man diesen für das Verständnis der Rechtfertigung und des ihr zugrunde liegenden Prinzips des überwiegenden Interesses (oder Achtungsanspruchs ) wesentlichen Gesichtspunkt außer acht läßt, kommt man mit dem Kompensationsgedanken zu einer "Aufweichung" der Rechtfertigung zu einem "Strafunrechtsausschluß " . Auf Schwierigkeiten, die sich für Frischs Konzeption des Unrechts und des Unrechtsausschlusses stellen, ist hier nur kurz einzugehen. Die erste besteht darin, daß der untaugliche, ungefahrliche Versuch aus Frischs Unrechtsmodells herausfällt, weil sich sein Unrechtsgehalt offensichtlich mit dem Risikokriterium nicht erfassen läßt. Zwar kann die Konstellation des untauglichen Versuchs innerhalb des Begriffssystems dieses Modells durchaus beschrieben werden: Er liegt vor, wenn mit der (stellungnehmenden) Vorstellung gehandelt wird, mit bestimmter (normrelevanter) Wahrscheinlichkeit eine beSo Frisch 439. Zu der sich Frisch denn auch ebenso wie zur Lehre von der Unrechtsminderung bei der Entschuldigung bekennt; s. oben 1. Teil sub H bei und in Fn. 26. 273 S. oben 1. Teil sub III. 274 S. noch unten 6. Teil sub H A. 271

272

84

2. Teil: Die finalistischen Umechtslehren

stimmte Handlung, die zu einem tatbestandsmäßigen Erfolg führt oder tatbestandlich bestimmte ex nunc feststehende Eigenschaften hat, zu vollziehen, ohne daß diese Wahrscheinliehkeit bei objektiver Beurteilung ex ante tatsächlich gegeben ist. Dies harmoniert sowohl mit Frischs Vorsatzbegriff als auch mit seinem Unwertkriterium des Risikoverhaltens. Nur: Auf diese Weise ist das Unrecht des untauglichen Versuchs noch nicht dargetan. Das erkennt auch Frisch275 • Doch ist nieht ersichtlich, wie sich ein subjektives Unwertkriterium in Frischs Konzeption einfügen könnte. Frisch meint, es ließen sich auf subjektive, (nur) vorgestellte Risiken abstellende Verhaltensnormen begründen, die das Betätigen der genannten Risikovorstellungen, oder - wie Frisch in Übereinstimmung mit einer verbreiteten Ansicht276 annimmt - das Betätigen des deliktischen Vorsatzes verbieten277 . Aber Vorstellungen können nicht "betätigt" werden, sondern als solche nur mit einer Tat oder Handlung einhergehen; damit es zu einer Handlung kommt, muß vielmehr ein Grund oder eine Absicht für diese Handlung vorhanden sein278 • Und was für die Vorstellung gilt, gilt natürlich in gleicher Weise für den Vorsatz (als Rechtsbegriff, d.h. im Sinne von "Vorsätzlichkeit" verstanden), wenn man diesen - wie Frisch - zu Recht von allen Willens- und Einstellungselementen reinigt und als (stellungnehmendes) Vorstellen, als "Für-sieh-Sehen" bestimmt. Etwas, das in die Tat umgesetzt werden kann, nämlich eine Entscheidung (im Sinne eines Entschlusses, eine bestimmte Handlung auszuführen), wird von Frisch freilich auch genannt: Die Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit des untauglichen Versuchs werde durch die betätigte Entscheidung gegen das Rechtsgut begründet279 . Damit taucht der Umstand auf, der von Frisch als Frisch 86 ff., besonders 89 mit Fn. 133,90 f. mit Fn. 130,93; ferner etwa 357 f. Für viele Jescheck 462 f. mit Nachw. Frisch 88 f., 91, 355 f. Das Schwanken zwischen betätigter Vorstellung und betätigtem Willen (so Frisch 89 Fn. 130, 205 Fn. ISO, 456 Fn. 155) rührt wohl von dem Einfluß (oder ei275

276 277

nem Überbleibsel) des Finalismus her, für den ja über die Gleichsetzung des finalen (Absichts-)Elements der Handlung (oder des "Verwirklichungswillens" , der "Finalsteuerung") mit dem Vorsatz und des Vorsatzes (weitgehend) mit der Vorstellung eine entsprechende Austauschbarkeit gegeben ist. Bezeichnend für einen solchen Ansatz auch Frisch 91 Fn. 134: "Betätigung eines - ggf. notwendig mit - auf Rechtsgutsbeeinträchtigung zielenden Entschlusses". S. dazu unten 5. Teil, zusammenfassend sub I C. 278 S. unten 5. Teil sub I B 2 bei Fn. 38 f. und 3. Teil sub I bei Fn. 16 ff. und 42 ff. sowie sub III bei Fn. 82 ff. 279 Frisch 205, 356, 456 f. mit Fn. ISS, 462 mit Fn. 171. Nunmehr (in: FS Lackner 128, 130, 145) stellt Frisch auf die "Betätigung der umechtlichen Gesinnung" als maßgeblichen Grund des subjektiven oder intentionalen Umechts (des untauglichen Versuchs) ab. Ganz abgesehen davon, daß bei jeder schuldhaften Straftat eine umechtliche Gesinnung "betätigt" wird: Auf diese

11. Neuere Konzeptionen

85

Ratio der erhöhten Vorsatzstrafe eingeführt worden ist280 , ohne daß indessen die Unrechtsbegründung dargetan wäre. Diese wird beim "tauglichen" Delikt ja auch von Frisch nicht etwa in dieser Ratio gesehen oder mit ihr gleichgesetzt, sondern in der Risikodimension erblickt. Überdies handelt es sich bei der- "Entscheidung gegen das Rechtsgut" auch gar nicht um eine Entscheidung, die als Entschluß durch die Straftat betätigt werden kann, indem sie ausgeführt wird, sondern um die Deutung, die man nach Frisch einem solchen Verhalten geben kann, oder um das einen geistigen Sachverhalt darstellende Datum, das nach Frischs Konzeption bei vorsätzlichem Verhalten festgestellt werden kann und das die besondere Vorsatzstrafe tragen soll, das aber - jedenfalls in aller Regel - nicht von einem Täter in die Tat umgesetzt wird. Der Täter setzt vielmehr Z.B. seine Entscheidung oder seinen Entschluß, X zu töten, in die (Straf-)Tat um, mag er sich damit in seinem geistigen Verhalten auch zugleich gegen das Rechtsgut Leben entscheiden. Schließlich wird die Unrechtsbegründung beim untauglichen Versuch auch nicht dadurch aufgezeigt, daß die Notwendigkeit und Legitimation der Strafe in diesem Fall generalpräventiv (und spezialpräventiv) begründet wird281 . Ganz abgesehen davon, daß eine rechtserschütternde Bedrohlichkeit nur von einem subjektiv auf den Unwertsachverhalt gerichteten, also insoweit absichtlichen Verhalten, nicht aber von einem lediglich von einer darauf bezogenen Vorstellung begleiteten Verhalten ausgeht282 : Auf die Frage, worin das Unrecht eines Verhaltens liegt, kann nicht die Antwort gegeben werden, welche die Frage nach dem Zweck oder der Legitimation der Strafe als Institution beantwortet. Die Frage, warum generell auf verwerfliches, unwerthaftes Verhalten mit Strafe reagiert wird, ist von der Frage zu trennen, warum ein Verhalten oder eine Verhaltensweise unwerthaft ist. Auf die erste Frage geben die Straftheorien eine Antwort, auf die zweite die Straftatsysteme. Deshalb muß ein System der Straftat das Unrecht des untauglichen Versuchs begrifflich mit einem Kriterium erfassen - was nach Frischs Ansatz offenbar nicht möglich ist - und kann dem nicht dadurch ausweichen, daß darWeise wird offenbar die Schuld (oder doch ein Schuldmerkmal) zur Begründung des Unrechts herangezogen! 280 S. oben bei und in Fn. 219. 281 Frisch 89 Fn. 130, 205, 358 Fn. 22: Der untaugliche Versuch erschüttere mit der in ihm dokumentierten Entscheidung abweichend von den Maßstäben der Rechtsordnung (also gegen das Rechtsgut) das allgemeine Vertrauen in die Geltung der Rechtsordnung und seine Straflosigkeit schaffe sozialpsychologische Gefahren, und er zeige die Gefährlichkeit des Täters (spezialpräventiver Aspekt). 282 So zu Recht Alwan, Versuchen 168 ff. im Anschluß an Kenny, in: Essays in Legal Philosophy 158 f.; vgl. auch Nowakowski 181. 1972,23. S. noch unten 6. Teil sub 11 B.

86

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

gelegt wird, der oder die Strafzwecke sei bzw. seien bei diesem erfüllt. Auf diese Weise verfahrt ja auch Frisch im übrigen nicht, sondern er legt eingehend dar, weshalb sein Unwertkriterium - das Schaffen einer bestimmten Gefahr oder das Handeln unter dem Risiko, daß bestimmte Umstände vorliegen oder die Handlung bestimmte nicht erfolgsbezogene Eigenschaften aufweist die strafgesetzlieh verbotenen Verhaltensweisen erfasse. Es ist überdies nicht zu übersehen, daß bei dem Bemühen, den untauglichen Versuch in das Unrechtssystem zu integrieren, der dem verwendeten Unrechtskriterium sonst zugrundegelegte Zweck - Rechtsgüterschutz durch Verhinderung der Gefahrdung und Verletzung der zugeordneten Rechtsgutsobjekte283 - unversehens gegen einen anderen, nämlich den allgemeinen Strafzweck, ausgetauscht wird: Rechtsgüterschutz durch Strafe, indem die allgemeine Gefahrdung der Rechtsgüter (als Werte verstanden) durch Erschütterung des Rechtsbewußtseins und durch die Wirkung des schlechten Beispiels (sog. sozialpsychologische Gefahren) verhindert werde284 • Der Grund für die Schwierigkeit, das Unrecht des untauglichen Versuchs darzutun, liegt offenbar in einer nicht-materialen, nicht rechtsgutsbezogenen Unrechtskonzeption. Diese ist auch dafür verantwortlich, daß das Unrecht der Zieldelikte nicht erfaßt werden kann. Denn z.B. beim Diebstahl kann das Unrecht ja schwerlich anders als durch ein Handeln (die Wegnahme) in Zu-(oder Ent)eignungsabsicht285 begründet sein. Ein Handeln mit einer bestimmten Vorstellung dafür zu reklamieren, wäre ebenso sinnlos wie eine spezifische Risikoverhaltensweise als Kern des Handlungsunrechts anzunehmen, weil eine Vorstellung nicht betätigt werden kann und es daher erst recht an einem objektiven Risikomoment fehlt286 . Ein weiteres Indiz für die fehlende Materialisierung ist, daß Frisch dort, wo es nicht um das Schaffen von Gefahren und die Zurechnung von Erfolgen geht, also im Bereich dersog. nichterfolgsbezogenen Risiken, auf die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung abhebt287 , ohne die hinter der gesetzlichen Form des Tatbestands stehende und ihn überhaupt erst 283

Frisch 74 ff.

Ibid. 47 ff. Ähnliches gilt für Wolters Unrechtslehre (s. oben sub A in Fn. 144): Der Gedanke des unmittelbaren Rechtsgüterschutzes durch Verhinderung von (objektiv) gefahrlichen Verhaltensweisen (Wolter 24) wird durch das (strafbarkeitseinschränkende) Merkmal der Störung des Rechtsfriedens ersetzt (78 f., 137). Denn durch die Bestrafung des untauglichen Versuchs wegen Störung des Rechtsfriedens wird gerade kein spezifisches Rechtsgut geschützt. Wolter erkennt das mit dem Ausdruck "mittelbarer Angriff auf das Rechtsgut" (79 bei Fn. 51 und 55) auch an. Hier wirkt sich die fehlende Materialisierung des Unrechts (die Wolter ebenfalls nicht entgangen ist: 303 mit Fn. 836) aus. 285 S. dazu Schmidhäuser, etwa BT 8/14 ff., 29 m.w.N.: Nur die Enteignungsabsicht ist Unrechtsmerkmal, die Aneignungsabsicht dagegen (besonderes) Schuldmerkmal. 286 S. bereits oben sub A bei und in Fn. 199. 287 Frisch, z.B. 361, 405 f., 408. 284

11. Neuere Konzeptionen

87

verständlich machende Rechtsgutsverletzung als den Unwert des Verhaltens zur Unrechtsbegründung heranzuziehen. Der normtheoretische Ansatz führt außerdem zu axiologisch fragwürdigen Ergebnissen. Wenn man mit Frisch den Verhaltensnormen die Funktion der Verhaltenssteuerung (über die Einwirkung auf die Motivation) zuschreibt, so ist für die Beurteilung der Möglichkeit (Gefahr), daß nach Vollzug einer Handlung ein Erfolg eintritt oder bei Vollzug einer Handlung bestimmte Umstände vorliegen, die Perspektive des Täters maßgebend288 (hier hat der bestimmungsnormtheoretische Ansatz praktische Konsequenzen). Das bedeutet: Besteht allein aus der Sicht des Täters die Gefahr der "Tatbestandsverwirklichung" , so ist die Handlung verboten, während im umgekehrten Fall des zwar nicht aus der Täterperspektive, wohl aber aus der Sicht des Opfers oder eines unbeteiligten Beobachters bestehenden Risikos die Handlung nicht verboten, also wohl erlaubt ist. Für das Beispiel der Hehlerei (§ 259) folgt daraus: Jemand darf eine Sache ankaufen, wenn bei objektiver Betrachtung289 von seinem Standpunkt aus keine (oder nur eine zu geringe) Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß sie gestohlen ist - der dem Ankauf beiwohnende wissende Eigentümer könnte also diesen nicht unterbinden; und wenn aus seiner Sicht vieles dafür spricht, daß die Sache gestohlen ist, darf er sie auch dann nicht kaufen, wenn es sich um eine (die "einzige") Sache handelt, die der Verkäufer rechtmäßig erworben hat. Handelt der Täter vorsätzlich, geht er also von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Diebstahls aus, müßte er - bei Vorliegen der Bereicherungsabsicht - im ersten Fall wegen versuchter (und nicht wegen vollendeter!) Hehlerei bestraft werden290 • Daß im zweiten Fall nur eine versuchte Hehlerei gegeben ist291 , erkennt auch Frisch292 : Der Sanktionstatbestand verlange für das Vollendungsdelikt, daß die Sache wirklich gestohlen sei. Bei der Rechtfertigung will Frisch für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gege288 Ibid. z.B. 124, 127 f. für die sog. erfolgsbezogenen Risiken und 358, 361 für die sog. nicht erfolgsbezogenen Risiken. 289 Auf die will auch Frisch nicht verzichten, wenngleich er vom Erfordernis des optimalen Urteils für den Fall Abstriche macht, daß innerhalb bestimmter sozialer Rollen ein Wissensstandard existiere (132 ff. und 358 f.). 290 Wegen fehlenden Verstoßes gegen die (objektive) Verhaltensnorm (so ausdrücklich Frisch 389) muß für Frisch ein Vollendungsdelikt ausscheiden. 291 Dazu, daß auch die Annahme eines Versuchsdelikts verfehlt ist, weil es schon an einer Tatsituation fehlt, innerhalb der allein ein rechtsgutsverletzendes Verhalten möglich ist, s. Alwart, Versuchen 185 ff. (allgemein), 196 (zu § 259); Schmidhäuser: StB 11/39 ff. (allgemein), 43 (zu § 259); BT 11/75 (zu § 259). 292 S. oben bei und in Fn. 236.

88

2. Teil: Die fmalistischen Unrechtslehren

ben sein müssen, nicht nur auf den Standpunkt des Täters, sondern auch - außerhalb spezifischer Rollenstandards - auf dessen Wissen und Fähigkeiten abstellen293 . Das hat untragbare Konsequenzen. Der nach seinen Fähigkeiten unvermeidbar irrig z.B. eine Notwehr- oder Notstandslage oder auch nur deren hinreichende Wahrscheinlichkeit annehmende Täter handelte ("verteidigte" und "rettete") erlaubt und könnte nicht zurückgehalten werden, wenn es nicht (mehr) gelingt, seinen Irrtum - der ja nach dieser Sicht strenggenommen gar keiner wäre! - aufzuklären; dies auch dann, wenn er obendrein, wiederum für ihn unvermeidbar, das Mittel bei weitem überzieht. Im umgekehrten Fall, daß zwar die rechtfertigenden Umstände objektiv (oder: nach objektivem Wahrscheinlichkeitsurteil) vorliegen und die prognostischen Voraussetzungen nach objektiver Einschätzung gegeben sind, unter Zugrundelegung eines individuellen, auf die Täterfahigkeiten abhebenden Maßstabes diese Bedingungen jedoch nicht erfüllt sind, wäre der Täter nicht gerechtfertigt, und müßte wegen vollendeter Tat bestraft werden, sofern er nur die Erforderlichkeit seiner Rettungshandlung (objektiv zu Unrecht) verneint. Und selbst wenn man den individuellen Maßstab fallen ließe, aber weiterhin auf bloße Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten abstellte, müßte im Fall, daß diese nicht zu bejahen sind, die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrunds aber unter Berücksichtigung nachträglich entdeckter Umstände gleichwohl ex ante vorlagen, die Rechtfertigung konsequenterweise verneint werden; in diesem Fall müßte derjenige, der zwar von einem rechtfertigenden Sachverhalt ausging, jedoch hätte erkennen können, daß die Chance dafür nur sehr gering war, wegen fahrlässiger Tat bestraft werden - und das, obwohl ja die Voraussetzungen der Rechtfertigung erfüllt waren!

111. Zusammenfassung Die These der elementweisen Kompensation von Unrechtselementen als allgemeines Verfahren der Unrechtsbemessung auch im Bereich der Rechtfertigung erfordert eine materiale Betrachtungsweise, die insbesondere auf die vom Verhalten des Täters verletzten und beachteten Werte abstellt294 . Die auf der negativen Seite der Unrechtsbegründung beim Handlungsdelikt geeignet erscheinenden Begriffe des Handlungs- und Erfolgsunwerts werden innerhalb des Finalismus und der personalen Unrechtslehre durchweg anerkannt, allerdings durchaus unterschiedlich bestimmt. Entsprechende Gegenstücke auf der positiven Seite der Wertverwirklichung werden dagegen nur selten angeboten 293 294

S. oben bei und in Fn. 247. S. oben 1. Teil sub III.

III. Zusammenfassung

89

und sind daher auf der Grundlage der jeweiligen finalistischen Auffassung von der Struktur des Unrechts herauszuarbeiten. Der Gedanke elementweiser Saldierung oder Kompensation verbietet es, eine vereinheitlichende Betrachtung vorzunehmen, die Unwert und Wert zusammenzieht. Deshalb ist die These, im Fall der Rechtfertigung sei der Wille (oder auch die Vorstellung) nur auf einen Sachverhaltswert und nicht auf einen Sachverhaltsunwert gerichtet295 , nicht nur phänomenologisch unzutreffend - die den Unwert begründende Absicht (Vorstellung) wird durch die weitere für die Rechtfertigung entscheidende Absicht (Vorstellung) ja nicht etwa ausgelöscht -, sondern die widerspricht auch dem Saldierungsgedanken; denn zu saldierende oder einander kompensierende Momente müssen zunächst einmal je für sich gegeben sein. Entsprechendes gilt im Bereich des der Handlung zurechenbaren Erfolgs für die Rede vom negativ oder positiv bewerteten Sachverhalt296 : Es gibt zwar regelmäßig nur ein Ereignis oder Geschehen, das jedoch im Hinblick auf verschiedene seiner Eigenschaften negativ oder positiv bewertet werden kann; dem korrespondieren Erfolgsunwert und Erfolgswert, die beide vorausgesetzt werden müssen, damit von einer Saldierung und Kompensation gesprochen werden kann. Schließlich sind die Eigenschaften der Handlung, den Eintritt eines Ereignisses mit negativ und den Eintritt eines Ereignisses mit positiv bewerteter Eigenschaft wahrscheinlich zu machen, und damit der objektive Handlungsunwert (als Gefährlichkeitsunwert) und der objektive Handlungswert (als Chancenwert) auseinanderzuhalten. Gleiches gilt, wenn die Handlung selbst bereits das (im Hinblick auf eine Eigenschaft) negativ oder/und (im Hinblick auf eine andere Eigenschaft) positiv bewertete Ereignis ist (Tätigkeitsunwert und -wert als die zweite Form des objektiven Handlungsunwerts und -werts)297. Auch heute noch herrscht innerhalb des Finalismus die Ansicht vor, daß die Unrechtsbegründung bei der vorsätzlichen und bei der fahrlässigen Tat gänzlich unterschiedlich strukturiert ist. Was das vorsätzliche Unrecht angeht, lassen sich drei Ansichten zu dessen Autbau unterscheiden. Nach der einen Spielart des Finalismus beschränkt sich das Unrecht auf den rein subjektiv durch das Handeln mit Vorsatz (und ggf. weiteren sog. subjektiven Unrechtselementen wie der Täuschungsabsicht bei der Urkundenfalschung nach § 267) begründeten Handlungsunwert, während dem Erfolg keine Unrechts re295 Nachw. oben sub I A 2 in Fn. 16. 296 Vgl. S/S (Lenckner) vor §§ 13 ff. Rn. 60; auch Rn. 19 a.E.; Frisch 458 Fn. 160 und

passim; richtig S/S (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 10, 13; korrekt auch etwa Stratenwenh, FS Schaffstein 178. 297 S. oben sub 11 A bei Fn. 195 f. und B bei Fn. 265.

90

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

levanz zukommen so1l298. Für diese abzulehnende299 Auffassung kann es nur einen subjektiven Handlungswert geben, so daß zur vollständigen Unrechtskompensation und damit zur Rechtfertigung das subjektive Rechtfertigungselement genügt3OO • Wer mit der zweiten finalistischen Konzeption des vorsätzlichen Unrechts zwar nicht das Unrecht insgesamt, aber doch den Handlungsunwert rein subjektiv versteht und im Handeln mit Vorsatz (und ggf. weiteren subjektiven Unrechtselementen) begründet sieht, benötigt zu dessen Kompensation nur einen subjektiven Handlungswert, so daß zum Ausschluß vorsätzlichen Unrechts gleichfalls das subjektive Rechtfertigungselement genügt30I . Allerdings korrespondiert diesem verfehlten302 Begriff des Handlungsunwerts ein weit gefaßter Erfolgsunwert, der unter dem irreführenden Etikett "primärer Erfolgsunwert" auch Handlungseigenschaften und damit auch die Gefährlichkeit der Handlung in sich aufnimmt303, so daß auf diese Weise der Sache nach, aber unter verfehlter Begrifflichkeit auch objektive Handlungswerte zur Unrechtskompensation berücksichtigt werden können304 • Eine (auch für den Saldierungsgedanken) hinreichende Materialisierung erlaubt allein eine dritte Version des Finalismus, die auch objektive Merkmale des Handlungsunwerts anerkennt, allerdings nur dann, wenn man sich nicht lediglich auf dem Gesetz entnommene objektive Merkmale beschränkt, sondern neben dem subjektiven einen objektiven Handlungsunwert annimmt und diesen als Geflihrlichkeits- (bzw. Tätigkeits-)Unwert bestimmt305 • Der Erfolgsunwert läßt sich dann zutreffend eng als der dem Verhalten objektiv zurechenbare (weil die Realisierung der geschaffenen Gefahr darstellende) Eintritt eines Ereignisses mit negativ bewerteter Eigenschaft definieren. Der subjektive Handlungsunwert wird auch nach dieser Auffassung in der "Manifestation des Vorsatzes", d.h. in dem Handeln mit Vorsatz (und ggf. besonderen subjektiven Unrechtsmerkmalen) gesehen und ist dem finalistischen Ansatz nach bei jeder vorsätzlichen Straftat gegeben. Bei dieser Konzeption er298 Dazu oben sub I A I. 299 Nachweise zur Kritik ibid.

in Fn. 11; s. ferner oben sub I B 1 bei und in Fn. 78 ff. Oben sub lAI; zur Konstruktion des auch von dieser Auffassung für möglich gehaltenen Fahrlässigkeitsdelikts im Fall der Putativrechtfertigung s. unten 4. Teil sub I C. 301 Vgl. oben sub I A 2. 302 S. ibid. bei Fn. 20 ff. und bei Fn. 39 ff. 303 S. ibid. bei Fn. 39 ff. 304 Zu den objektiven Handlungswerten, die erst auf der Basis der dritten fmalistischen Spielart angenommen werden könnten, s. sogleich im nächsten Absatz des Textes und oben sub I A 3 bei Fn. 62 ff. 305 Oben sub I A 3, insbes. bei und in Fn.53 ff.; zum Tätigkeitsunwert s. soeben bei Fn. 297 mit den Verweisen in dieser Note. 300

III. Zusammenfassung

91

geben sich als kompensierende Gegenstücke Erfolgswert, objektiver Handlungswert (Rettungschancenwert) und subjektiver Handlungswert. Letzterer wird durch das subjektive Rechtfertigungselement (oder ein ihm ähnliches Moment, etwa die subjektive Seite eines Entschuldigungsgrundes) begründet, das als dem subjektiven Unrechtselement gleichartig ein Rechtfertigungsvorsatz ist, so daß die Vorstellung bestimmter Umstände ausreicht306 • Zum Unrechtsausschluß ist nicht nur das subjektive Rechtfertigungselement, sondern auch der objektive Handlungswert erforderlich, während eine bloße Unrechtsminderung auch durch jenes oder ein ihm ähnliches subjektives Element bewirkt werden kann307 • Es ergibt sich folgendes Dilemma für den Finalismus. Einerseits ist zur Erfassung des Handlungsunrechts eines "normalen" Delikts ein objektiver Handlungsunwert anzuerkennen, weshalb die zuletzt genannte Auffassung unter der finalistischen Konzeption des Vorsatzunrechts vorzugswürdig ist. Andererseits zeigt der Sonderfall des strafbaren untauglichen Versuchs, daß ein solcher objektiver Handlungsunwert zur Unrechtsbegründung offenbar nicht notwendig ist, vielmehr irgendein Handeln mit Vorsatz, also der subjektive Handlungsunwert im Sinne der bezeichneten Spielart des Finalismus, hinreichp08; daher rührt wohl die sich in der als zweiter vorgestellten Konzeption niederschlagende Tendenz, den Handlungsunwert entsprechend rein subjektiv zu fassen und die Unwertigkeit der Handlung in objektiver Hinsicht mit in einen weitverstandenen Erfolgsunwert aufzunehmen309 • Eine Lösung dieses Dilemmas kann innerhalb des Finalismus nicht gelingen, sondern erfordert einen anderen Ansatz, nämlich eine dualistische Unrechtsbegründung 31O • Die herrschende Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung als dem Handlungswert des Fahrlässigkeitsdelikts ist nicht mit dem Kompensationsgedanken zu vereinbaren311 • Aber auch unabhängig von dieser Konzeption der Unrechtsaufhebung empfiehlt es sich, auf die Begriffshülse der Sorgfaltswidrigkeit zu verzichten312 • Vorzugswürdig ist daher das "modernere" finalistische Modell, nach dem das Unrecht der fahrlässigen Tat in objektiver Hinsicht wie das der Vorsatztat strukturiert ist und die subjektive Fahrlässigkeit, die indi306 Vgl. dazu unten 4. Teil sub 11 B 2 bei und in Fn. 171 ff. sowie bei und in Fn. 201 ff. (auch zu den abweichenden Meinungen innerhalb des Finalismus). 307 S. oben sub I A 3 bei und in Fn. 47 ff. mit Nachweisen. 308 Jedenfalls nach der auch außerhalb des Finalismus vorherrschenden subjektiven Versuchsiehre; s. unten 4. Teil sub I C in Fn. 113. 309 Vgl. die Überlegungen von Ga/las, FS Bockelmann 159 f. 310 Dazu unten 6. Teil sub 11. 311 Oben sub I B 1. 312 Dazu oben sub I B 2.

92

2. Teil: Die fInalistischen Unrechtslehren

viduelle Erkennbarkeit, den subjektiven Handlungsunwert bildet313 . Nach dieser Konzeption ist ein subjektives Element zur Rechtfertigung der Fahrlässigkeitstat nicht notwendig 314 . Auch die neueren Konzeptionen, nach denen das Handlungsunrecht der Vorsatztat mit dem der Fahrlässigkeitstat partiell übereinstimmt, sind freilich Einwänden ausgesetzt, die vor allem aus der nicht konsequent materialen Erfassung des Unrechts resultieren315 • Darüber hinaus leiden sie wie alle Spielarten des Finalismus an dessen verfehltem Ansatz der Unrechtsbegründung 316 .

313 Ibid. bei und in Fn. 135 ff. mit ersten Hinweisen zur Kritik dieser Konzeption; eingehend zu ihr oben sub 11. 314 S. oben sub 11 A bei und in Fn. 204 ff. und sub 11 B bei Fn. 269. 315 Dazu insbes. oben sub 11 A in Fn. 144, 153-155, bei Fn. 172 ff., in Fn. 190 sowie bei und in Fn. 196 ff.; sub 11 B bei und in Fn. 275 ff. 316 Zur Kritik der fInalistischen Begrüßdungsansätze s. unten den 5. Teil.

Dritter Teil

Handlungstheoretische Vorüberlegungen In den folgenden Teilen 4 bis 6 wird von handlungstheoretischen Argumenten Gebrauch gemacht, die auf einer Analyse der Struktur des Handeins fußen. Diese Analyse ist vorab im Zusammenhang zu präsentieren. Eine zusammenhängende Darstellung dient nicht nur der Übersichtlichkeit; sie steigert auch die Überzeugungskraft der einzelnen Stücke. Da es im Strafrecht um die Bewertung menschlichen Verhaltens geht, sind dessen Strukturmerkmale vom Strafrecht und der es zu ihrem Gegenstand machenden Strafrechtswissenschaft (oder -lehre, -dogmatik) zu beachten. Das bedeutet: Das Strafrecht und seine Wissenschaft sind nicht frei darin zu bestimmen, was eine Handlung ist, was es heißt, mit einer Absicht zu handeln, wann von einem Unterlassen gesprochen werden kann u.s.w.; sie schaffen sich ihre Gegenstände nicht selbst!. Zwischen der Struktur der Handlung (und des Unterlassens einer Handlung) und der Struktur der Straftat besteht in zweifacher Weise ein Grundlegungsverhältnis. Da nur menschliches Verhalten dem Strafrecht unterfällt, muß bestimmt sein, was eine Handlung und was eine Unterlassung ist. Wenn ein Unwerturteil über eine Handlung (oder das Unterlassen einer Handlung) gefällt wird - und das geschieht im Strafrecht -, muß angegeben werden, inwiefern das Verhalten wertwidrig ist, was an ihm den Unwert begründet; für das System der Straftat kommt es also auf die Struktur der Handlung und der Unterlassung an. Die Ergebnisse der Handlungstheorie - diese Beschränkung auf das Handeln entspricht der in dieser Arbeit durchgängigen Beschränkung auf das Handlungsdelikt - stehen also weder in einem Verhältnis der Beliebigkeit (so wie man einen Lieblingswein hat oder sich wählt) noch in einem Verhältnis der bloßen Geeignet- oder Passendheit zur Straftatsystematik ! Schon deshalb ist der Vergleich zwischen Strafrechtsdoktrin und Geometrie (so Hruschka: GA 1981, 242, 249; JZ 1985, 1 ff.) unpassend. Denn was die Gegenstände der Geometrie

sind, wird durch deren Axiome festgelegt, ohne daß diese Gegenstände mit irgendwelchen Objekten der empirischen Welt übereinstimmen müßten, was sie bekanntlich ja auch nicht tun.

94

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

(i.S.v.: Welche Theorie der Handlung paßt am besten zur gewählten Straftatkonzeption? - vgl.: Welcher Wein paßt am besten zu diesem Essen?). Auch zahlreiche gesetzliche Vorschriften zeigen schon ihrem Wortlaut nach, daß die Strafrechtsdogmatik auf handlungstheoretische Klärungen angewiesen ist, um zu einem präzisen Verständnis (einiger) ihrer Grundbegriffe zu kommen. So erfordern etwa die §§ 146 I Nr. I, 242, 267 (Straftaten der Geldfalschung, des Diebstahls und der Urkundenfalschung) das Handeln in einer bestimmten Absicht, und diese Absicht kann jeweils bereits für das Unrecht des Handeins relevant sein. Folglich bedarf es zur Erfassung der Struktur des Unrechts einer Analyse des Handeins mit einer Absicht. Auch Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe setzen das Handeln mit einer Absicht voraus, so z.B. die Regelungen der §§ 32, 34 (Notwehr und rechtfertigender Notstand) und der §§ 33, 35 (Notwehrexzeß und entschuldigender Notstand)2. Deshalb erfordern sachgerechte Konzeptionen der Rechtfertigung und der Entschuldigung gleichfalls eine Analyse dieses Begriffs. Nun kann in dieser Arbeit keine Handlungstheorie in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Modellen entwickelt werden; das würde den Gegenstand einer separaten Untersuchung bilden. Die hier notwendige Beschränkung erfolgt in zweierlei Hinsicht. Den Gegenstand der Analyse bildet vor allem das für das Strafrecht offenbar besonders wichtige Handeln mit einer Absicht. Es wird in einen Zusammenhang mit dem Handeln aus Gründen, mit der Handlung und mit dem Beabsichtigen gestellt; dabei kommt dem praktischen Überlegen entscheidende Bedeutung zu. Indem ein Zusammenhang zwischen diesen Begriffen hergestellt wird, steigt die Plausibilität der Einzelanalysen; und die Einsichtigkeit und Erklärungskraft des Modells als Ganzes ist ein guter Grund dafür, die Prämissen der Einzelanalysen zu akzeptieren. Zum zweiten wird nur eine Theorie skizziert und in einigen Aspekten, die für die Argumentationen dieser Arbeit entscheidend sind, näher ausgeführt. Das hier vorgestellte Modell ist in seinen entscheidenden Grundzügen von dem amerikanischen Philosophen Davidson in einer Reihe von einflußreichen Abhandlungen entwickelt worden3 . Diese Konzeption setzt an bei dem Erklä2 Daß das auch für die Notwehr gilt, ergibt sich aus dem Begriff der Verteidigung in der Definition des § 32: Verteidigung ist ein Handeln in Verteidigungsabsicht; s. unten 4. Teil sub 11 B 2 bei und in Fn. 159. 3 Sie sind alle wieder abgedruckt in: Davidson Essays on Actions and Events (zitiert: Davidson, Essays). Die Folge begann 1963 mit dem Aufsatz "Actions, Reasons and Causes". Die daneben wichtigsten Abhandlungen sind: "How is Weakness of the Will Possible?" , "Agency" , "Freedom to Act" und "Intending"; außerdem "Psychology as Philosophy" und "Hempel on Explaining Action". Schließlich sind zu nennen "Paradoxes of irrationality" (in: Philosophical Es-

I. Handlungserklärung durch Gründe

95

ren einer Handlung durch die Gründe, aus denen der Handelnde handelte, ein Ausgangspunkt, den viele Philosop~en seit Aristoteles4 für ihre Theorien des HandeIns gewählt haben5 • Den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung bildet die Unterscheidung zwischen drei hauptsächlichen Verwendungsweisen des Begriffs der Absicht oder Intention: Handeln mit einer Absicht, absichtliches Handeln und Beabsichtigen zu handeln (etwas zu tun)6. Eine Absicht, mit der jemand handelt, wird auch durch einen Final- oder Kausalsatz wiedergegeben: !lH schießt auf X, um ihn zu töten (weil er ihn töten will)." Solche Sätze geben einen Grund an, aus dem der Handelnde das getan hat, was er getan hat, indem sie das Ziel nennen, das er mit seiner Handlung verfolgte, und die Handlung als Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels (oder Zwecks) erscheinen lassen. Dementsprechend wird im folgenden der Begriff der Absicht (mit der gehandelt wird) auf den Begriff des handlungserklärenden Grunds zurückgeführt. Absichtliches Handeln wird als Handeln in einer bestimmten Absicht in diese Konzeption eingefügt. Danach ist der Vorschlag Davidsons zu erläutern, daß das Beabsichtigen (die Absicht), etwas zu tun, eine Einstellung gegenüber einer einzelnen Handlung ist, nach der diese anderen Handlungen vorgezogen wird. Schließlich stellt eine Betrachtung des praktischen Überlegens weitere Begriffe zur Verfügung, deren es für die Argumentation in den folgenden Teilen der Arbeit bedarf.

I. Handlungserklärung durch Gründe Absichtliches (intentionales) Verhalten (Handeln und Unterlassen7) ist grundlegend dadurch charakterisiert, daß es aus Gründen vollzogen wird8 • says on Freud) sowie - klarstellend und ergänzend - "Replies to Essays I-IX" (in: Essays on Davidson, Actions and Events). An diesen Texten orientieren sich die folgenden Darlegungen. 4 Zur noch immer grundlegenden Handlungstheorie des Philosophen, auf die bei einzelnen Fragen zurückzukommen ist, die Interpretationen etwa bei Loening 16 ff., 130 ff.; Kenny: Will 15 ff., 97 f.; Aristotle's Theory; Ackrill Mind 1978, 595 ff.; und vor allem Charles, besonders 30 ff., 57 ff. 5 Zu Vorläuferkonzeptionen zu Davidsons Theorie s. die Hinweise bei Davidson, Essays 261. 6 Anscombe I, 30 ff., 90 und passim. Ihr folgend etwa Han 116 f., Davidson, Essays xiii; auch Kenny, Will 21. 7 Auch das Unterlassen einer Handlung kann intentional sein: Ich habe absichtlich nicht geklingelt - ohne weiteren Grund, weil ich es unterlassen wollte; weil ich das Kind nicht wecken wollte. Anders als bei der Handlung ist es, damit einem Subjekt die Unterlassung einer Handlung zugeschrieben werden kann, nicht erforderlich, daß es eine auf solche Gründe rekurrierende Erklärung für sein Unterlassen gibt. - Eine Analyse dessen, was es heißt, eine Handlung zu unterlassen, soll hier nicht geleistet werden, obgleich sie Konsequenzen für die Struktur des Unterlas-

96

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Wir beschreiben und verstehen Handlungen, indem wir die Ziele oder Zwecke der Handlungen angeben und verstehen. Ziele oder Zwecke einer Handlung sind die Sachverhalte, die der Handelnde mit der Ausführung der Handlung realisieren will. Diese Ziele (Zwecke) erfassen wir, indem wir die Gründe verstehen, aus denen er so handelte, wie er handelte. Warum (mit welchem Ziel) hat H auf X geschossen? Weil er ihn töten wollte (um ihn zu töten). Eine intentionale oder teleologische Handlungserklärung9 erklärt eine Handlung also dadurch, daß sie den Grund (oder die Gründe), aus dem (denen) gehandelt wurde, und damit das (die) mit der Handlung verfolgte Ziel(e) angibt. Ein Grund erklärt eine Handlung nur, wenn er uns in die Lage versetzt, etwas zu sehen, was der Handelnde in seiner Handlung sah, eine Eigenschaft, einen Aspekt oder eine Folge der Handlung, die der Handelnde wollte, wünschte, begehrte, für pflichtgemäß, nützlich, angenehm oder sonstwie positiv hielt lO • Wir können nicht erklären, weshalb jemand das tat, was er tat, indem wir einfach sagen, die Handlung habe ihm zugesagt; wir müssen angeben, was ihm an der Handlung wünschenswert, pflichtgemäß etc. zu sein schien ll . Wenn jemand etwas aus einem Grund tut, kann er daher als einer charakterisiert werden, der erstens eine Art von positiver Einstellung, Einschätzung oder Haltung gegenüber Handlungen einer bestimmten Art hat und zweitens glaubt, daß seine Handlung von dieser Art sei l2 . Der Ausdruck "positive Einstellung" steht dabei für die bereits angedeutete Vielfalt von mentalen Zuständen, die Wünsche, Begierden, moralische, ökonomische oder ästhetische Werte und Einschätzungen umfaßt, insofern diese als Einstellungen eines Subjekts, die sich auf Handlungen einer bestimmten Art beziehen, aufgefaßt werden können 13 • Vielleicht kann Wollen als Oberbegriff dieser Einstellungen gelten l4 • Die Begriffe "positive Einstellung" und "positive Einschätzung" müssen jedenfalls weit genug verstanden werden, um langandauernde geistige Zustände, wie das Bestreben, seine Aufgaben möglichst gut zu erfüllen, die Maxime, anderen in der Not zu helfen, oder den Charakterzug sungsdelikts hätte; dieses Desiderat ist hinnehrnbar, weil die Unterlassungstat aus dieser Arbeit ausgeklammert ist. 8 Übereinstimmend z.B. Anscombe 9 ff., 24 f., 28, 34, 83 f. und passim (intentionale Handlungen seien dadurch gekennzeichnet, daß auf sie Warum-Fragen, die nach Gründen für die Handlung fragen, angewendet würden); Kenny, Will; Vorwort, 19 ff., 53, 56, 107 und passim (ausgehend von einer Thomas-Interpretation). 9 Davidson (Essays 2 ff.) spricht von Rationalisierungen. 10 Ibid. 3; Peacocke in: Essays on Davidson 56; auch Anscombe 71 ff. 11 S. Fn. 10. 12 Davidson, Essays 3 f. 13 Ibid.4. 14 Das erwägt auch Davidson, ibid. 6.

I. Handlungserklärung durch Gründe

97

ebenso zu erfassen wie so kurzlebige mentale Zustände, wie z.B. den Drang, einen Schluck Wasser zu trinken l5 . In einer intentionalen Handlungserklärung wird dem Handelnden oft eine positive Einstellung (wofür im folgenden in der Regel der Unterfall des Wunsches genommen wird l6) und eine Meinung, welche die Einstellung mit der Handlung verbindet, zugeschrieben 17: Solche (Handlungs-)Gründe, die im folgenden oft "Primärgründe" genannt werden l8 , sind immer Paare dieser geistigen Zustände l9 ; Meinungen, Vorstellungen oder sonstige kognitive Zustände stellen für sich allein keine Gründe dar20 . Wenn wir gleichwohl häufig nur entweder einen Wunsch oder eine Meinung angegeben, geschieht das deshalb, weil wir darauf verzichten, offenkundige Meinungen oder Wünsche zu erwähnen, die zu haben wir uns wechselseitig unterstellen: Ich habe die Wäsche ins Haus gebracht, weil ich sie vor dem Regen schützen wollte (zu ergänzen ist: und glaubte, es auf diese Weise - d.h.: durch Hineintragen - zu bewerkstelligen); ich habe die Wäsche hineingebracht, weil ich glaubte, sie so vor dem Regen zu schützen (im Erklärungskontext wird als selbstverständlich unterstellt: und weil ich die Wäsche vor dem Regen in Sicherheit bringen wollte)21.

Vgl. ibid. 4; vgl. auch Kenny, Wil1113 f. Es ist nicht das Wünschen gemeint, das als "bloßes Wünschen" in Gegensatz zum Wollen gestellt wird (vgl. etwa Patzig 121 f. mit Fn. 21), sondern dasjenige, das gerade die Tendenz zur Verwirklichung umfaßt (s. Anscombe 67 f.; Kenny, Will 27; Davidson: Essays 86; in: Essays on Davidson 214; Blackbum 188). Es soll also, wenn im folgenden "wünschen", "Wunsch" oder die Adjektive "erwünscht" und "wünschenswert" gebraucht werden, die Bedeutungskomponente des Begehrens und Erstrebens rniterfaßt sein, wie es wohl für die englischen Ausdrücke "desire" und "desirable" sowie für die griechischen "ÖptyEcrSat" und "ÖP&~lC;" gilt, die deshalb entsprechend übersetzt werden. 17 Als Davidson-Zitate etwa: Essays 3 ff. (wo er von "primary reason" spricht), 31, 72 f., 83 ff., 231 f.; in: Philosophical Essays on Freud 292 f.; in: Essays on Davidson 195 f., 213 f. 18 Davidson (Essays 4 und passim) benutzt den Ausdruck "Primärgrund" (primary reason) für diese Art von Grund. Damit soll die gegenüber anderen Arten von Gründen hervorgehobene Bedeutung solcher Gründe zum Ausdruck gebracht werden. Ihre grundlegende Bedeutung kommt in folgender These Davidsons (Essays 4) zum Ausdruck: "Um zu verstehen, wie ein Grund von irgendeiner Art eine Handlung erklärt (rationalisiert), ist es notwendig und hinreichend, daß wir einsehen - zumindest in wesentlichen Umrissen -, wie ein Primärgrund zu konstruieren ist." S. noch unten bei und in Fn. 34 ff. 19 Wie Fn. 18. 20 Das entspricht dem Vorverständnis und wird in der analytischen Handlungstheorie öfters ausdrücklich festgestellt: s. nur Anscombe 62 f., 72 ff. (besonders 75); Kenny: Will 55 ff.; weitgehend ebenso in: Essays in Legal Philosophy 148 ff.; Blackbum 187 f. Für die aristotelische Theorie etwa: De Anima III 10, 433 a 9 ff.; NE VI2, 1139 a 35 f. und eingehend Charles 58 ff., 84 ff. (bes. 89), 168 ff.; Kenny, Will 15 f. 21 Zu weiteren Charakteristika der Handlungserklärung durch Gründe s. Davidson, Essays 6 ff. 15 16

7 Ränget

98

3. Teil: Handlungstheoretische Voruberlegungen

Erklärungen und das Anführen von Gründen zielen eher auf Sätze und Aussagen als auf das, worauf diese sich beziehen22 . So erklären Gründe eine Handlung immer nur im Hinblick auf eine Beschreibung: Ich drücke den Schalter, um das Licht anzuschalten. Mit der Nennung dieses Grundes für mein Drücken des Schalters erkläre ich nicht, weshalb ich das Zimmer beleuchtet habe, was eine andere Beschreibung meiner Handlung ist23 , und ebensowenig, weshalb ich den Schalter (gerade) mit dem linken Zeigefinger gedrückt habe, wodurch meine Handlung auf wieder andere Weise beschrieben ist. Wenn jemand etwas aus einem Grund tut (die Handlung a unter der Beschreibung A ausführt), gilt daher von ihm, daß er eine positive Einstellung (z.B. einen Wunsch) gegenüber Handlungen hat, insofern sie die Eigenschaft B haben, also von der Art B sind (er wünscht zu b'en), und glaubt, seine Handlung a habe (unter der Beschreibung A) die Eigenschaft B24. Beispielhaft: Ich drücke den Schalter, weil ich das Licht anzuschalten (z.B.) wünsche (d.h. etwas Wünschenswertes oder Erwünschtes in Handlungen sehe, insofern sie ein Anschalten des Lichts sind) und glaube, daß das Drücken des Schalters diese Eigenschaft hat (d.h. ein Anschalten des Lichts darstellt) . Damit ein Paar von mentalen Zuständen ein Grund für eine Handlung ist, muß zwischen diesem Paar und der Handlung eine logische Beziehung bestehen. Die (propositionalen oder intentionalen) Inhalte der erklärenden Einstellung und Meinung müssen so beschaffen sein, daß aus ihnen (nach Prinzipien praktischen Überlegens) folgt, daß die unter einer Beschreibung zu erklärende Handlung aus der Sicht des Handelnden etwas Positives (Wünschenswertes, Wertvolles etc.)25 an sich hat26 . Der Inhalt der Meinung kann durch einen Indikativsatz wiedergegeben werden, der das, was geglaubt wird, ausdrückt, im Beispiel also, daß das Drücken des Schalters ein Einschalten des Lichts ist. Der Inhalt der positiven Einstellung (z.B. des Wunsches) kann nicht durch einen Indikativsatz repräsentiert werden, der ausdrückt, was ich wünsche (oder will), nämlich das Licht anzuschalten (oder: daß ich das Licht anschalte). Denn das würde zusammen mit dem Inhalt der Meinung nicht die 22 23

Davidson, Essays 171.

Ibid. 17 f.; näher unten sub III. Vgl. ibid. 5. Dort hat Davidson der positiven Einstellung freilich einen unbedingten Inhalt zugeordnet; s. dazu soglich im Test. 25 Anscombe (70 ff.) spricht von einern "Erwünschtheitscharakteristikurn" (desirability characteristic oder characterisation); ebenso Davidson, Essays 9. 26 Davidson: Essays 9, 72, 84, 86; in: Philosophical Essays on Freud 293; in: Essays on Davidson 209 f. 24

1. Handlungserklärung durch Gründe

99

Folgerung zulassen, das Drücken des Lichtschalters habe irgendeine positive (vom Handelnden als gut, erwünscht.etc. bewertete) Eigenschaft27 • Der Inhalt (z.B.) des Wunsches kann auch nicht durch eine unbedingte Wertaussage ausgedrückt werden: "Jede (beliebige) Handlung, die ein Einschalten des Lichts ist, ist (z.B.) wünschenswert". Diese Prämisse würde nämlich zusammen mit dem Inhalt der Meinung impliziert, daß das Drücken des lichtschalters wünschenswert ist (und nicht lediglich eine wünschenswerte Eigenschaft neben anderen positiven oder negativen Eigenschaften hat). Wenn wir aber allein daraus, daß eine Handlung einen Wunsch erfüllt, schließen könnten, daß die Handlung wünschenswert ist, wäre fast jede Handlung wünschenswert28 ; denn für nahezu jede Handlung spricht irgendetwas. Ein offensichtlich absurdes Resultat29 : Die Handlung kann neben der positiven eine höchst unerwünschte Eigenschaft besitzen und wäre dann sowohl erwünscht als auch unerwünschPo. So mag mein Drücken des Lichtschalters ein In-die-LuftSprengen des Hauses sein, weil der Schalter nicht nur mit der Lichtleitung, sondern auch mit einer Zündvorrichtung gekoppelt ist. Der Inhalt der positiven Einstellung kann daher nur durch eine bedingte oder prima-facie Wertaussage wiedergegeben werden: "Jede (beliebige) Handlung ist (z.B.) wünschenswert, insofern (oder: im Hinblick darauf, daß) sie ein Einschalten des Lichts ist. "31 Dann folgt aus den Inhalten der positiven Einstellung und der Meinung lediglich, daß die zu erklärende Handlung in einer bestimmten Hinsicht (z.B.) wünschenswert ist32 : Das Drücken des lichtschalters ist im Hinblick darauf wünschenswert, daß es ein Lichteinschalten ist. Die positive Einstellung als eine Komponente eines Primärgrunds besteht gegenüber Handlungen, insofern sie eine bestimmte Eigenschaft (z.B. ein Einschalten des Lichts zu sein) haben. Sie bezieht sich auf durch die betreffende Eigenschaft definierte Typen (Klassen) von Handlungen, nicht auf eine einzelne Handlung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und auf bestimmte Weise ausgeführt wird. Denn der Wunsch wird durch jede Handlung, welche die positive Eigenschaft (im Beispiel: ein lichteinschalten zu sein) hat, erfüllt33 . Das andere Element eines Primärgrunds, die Meinung, daß die (unter der gegebenen Beschreibung) zu erklärende Hand27 28 29 30

31 32

33

Id.: Essays 97. Id.: Essays 97 f.; in: Essays on Davidson 196. Darauf hat bereits Anscombe (58 ff.) hingewiesen. Davidson, Essays 98. Id.: Essays 38 f., 98 ff.; in: Essays on Davidson 196, 202, 209 f. Id.: Essays 95; in: Essays on Davidson 196. Davidson, Essays 5 f.

100

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

lung diese positive Eigenschaft besitzt, hat als Gegenstand (intentionales oder propositionales Objekt) die betreffende einzelne Handlung. Das ist erforderlich, damit die beschriebene logische Relation zwischen dem Paar aus positiver Einstellung und Meinung und der Handlung besteht, die Folgerung aus den Inhalten von Einstellung und Meinung sich also auf die zu erklärende Handlung bezieht. Häufig sieht der Grund, der eine Handlung erklärt, anders als bisher beschrieben aus. Es wird ein Ziel des Handelnden genannt, das ein Zustand oder die Ausführung einer von der zu erklärenden Handlung verschiedenen Handlung ist: Ich zupfe Unkraut, weil ich einen schönen Rasen haben möchte34 ; ich steige auf die Leiter, um ein Buch aus dem Regal zu nehmen; ich nagele zwei Bretter zusammen, weil ich ein Vogelhaus bauen wilp5. Man kann in Fällen wie diesen die Erklärung ergänzen und dem Handelnden einen Primärgrund der beschriebenen Form zuschreiben: Ich sehe etwas Positives in Handlungen, die mich diesem Ziel näherbringen (den Rasen verschönern; mich in die Lage versetzen oder eine Voraussetzung dafür schaffen, daß ich das Buch greifen kann; einen Teilschritt des Hausbauens darstellen), und glaube, daß meine Handlung (das Unkrautzupfen; das Auf-die Leiter-Steigen; das Nageln) diese Eigenschaft hat. Bei einer solchen Handlungserklärung wird vorausgesetzt, daß der Handelnde glaubt, mit der Handlung die Verwirklichung des Gewünschten, seines Ziels zu fördern, und in solchen fördernden Handlungen, d.h. Mitteln, etwas Positives sieht36 • Notwendige Bedingung einer solchen Handlungserklärung ist, daß der Handelnde Handlungen, die er als Mittel (oder Vorbereitungs- oder Teilschritte) zu seinem Ziel ansieht, insofern (z.B.) wünscht, als sie diese Eigenschaft haben37 • Indem wir annehmen, daß diese Bedingung erfüllt ist, unterstellen wir, daß der Handelnde das Prinzip anerkennt, das auch gebraucht wird, um zwischen dem Ziel und der Beschreibung, unter der die Handlung erklärt wird, eine logische Beziehung herzustellen: Die vom Handelnden als Mittel (oder Schritte) zum Ziel angesehenen Handlungen sind, insofern sie diese Eigenschaft haben (z.B.), erwünschtJ8 • Primärgründe der beschriebenen Art spielen auch eine Rolle, wenn etwas anderes, etwa Empfindungen, Gefühle oder Gesinnungen zur Erklärung einer Handlung angeführt werden. Aus der Äußerung "Ich esse, weil ich Hunger habe" kann geschlossen werden, daß ich esse, weil ich meinen Hunger stillen 34 35 36 37 38

Beispiel von Davidson, Essays 7. Vgl. das Beispiel ibid. 83. Ibid. 7. S. Fn. 36. S. dazu unten sub V D sowie etwa Kenny, Will 70 ff., 80.

I. Handlungserklärung durch Gründe

101

will, und damit erhält man einen Primärgrund für die Handlung. Wenn Eifersucht der Grund oder das Motiv einer Tötung ist, wissen wir, daß der Täter dadurch dem Opfer schaden und die Ursache seiner Eifersucht beseitigen wollte. Tötet jemand aus Habgier, so muß er handeln, um etwas in seinen Besitz zu bringen. Trotz dieses Zusammenhangs sind insbesondere Gesinnungen ·und (Primär-)Gründe auseinanderzuhalten. Jene sind geistige Einstellungen gegenüber Werten und moralischen Forderungen und können Quelle oder Grund von (positiven oder negativen) Einstellungen gegenüber Handlungen (und damit von Primärgründen) sein, weshalb sie aus der Bewertung der für ein Verhalten wesentlichen (Primär-)Gründe verstehend erschlossen werden können39 . Der logischen Relation zwischen einem Primärgrund, der die Prämissen eines praktischen Syllogismus liefert, und einer Handlung entspricht ein einfaches und unvollständiges Bild des praktischen Überlegens. Der Handelnde hat ein Ziel, das in einem von ihm positiv bewerteten Sachverhalt oder darin besteht, auf bestimmte Weise zu handeln; er glaubt, daß eine Handlung von bestimmter Art, die auszuführen er in der Lage ist, ihn diesem Ziel näher bringt oder dieses verwirklicht; und entsprechend handelt er, d.h. er handelt aufgrund dieses Ziels (oder der ihm entsprechenden positiven Einstellung) und der Meinung40. Nun überlegen wir nicht immer, wenn wir aus Gründen handeln, in dieser Weise, ja ein derartiges Schlußfolgern wird beim gewöhnlichen Handeln vielmehr höchst selten bewußt ablaufen. Entscheidend ist jedoch, daß, wer aus Gründen handelt, positive Einstellungen und Meinungen haben muß, aus denen er, machte er sie sich bewußt und hätte er genügend Zeit, in dieser Weise schlußfolgern könnte41 • Es ist also, wenn jemand aus einem Grund handelt, stets aufgrund seiner positiven Einstellungen und Meinungen ein kurzes Stück praktischen Überlegens, ein praktisches Argument rekonstruierbar. Die oben42 angeführte Bedingung ist nicht hinreichend dafür, daß ein Primärgrund eine Handlung erklärt. Der Handelnde kann Handlungen im Hinblick auf eine bestimmte Eigenschaft wünschen, eine Handlung von dieser Art ausführen, glauben, er führe eine solche Handlung aus, und doch nicht handeln, weil er diesen Wunsch und diese Meinung hat. Er hat dann zwar einen Grund für seine Handlung, handelt aber nicht aus diesem Grund, und 39 Vgl. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale passim, insb. 55 ff., 69, 77 f.; Alwan GA 1983,440. 40 Vgl. Davidson, Essays 31. 41 Ibid. 85; vgl. auch Anscombe 79 f. und Kenny, Wi1l20, 22 f., 101; Peacocke, in: Essays on Davidson 56. 42 Bei Fn. 24.

102

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

dieser Grund ist nicht der Grund, weshalb (aufgrund dessen) er handelt. Genau dies muß aber der Fall sein, damit ein Grund, den der Handelnde hat, die Handlung erklärt. Wenn ich das J,.icht einzuschalten wünsche und glaube, dies durch Drucken des Schalters zu bewerkstelligen, muß das nichts damit zu tun haben, weshalb ich den Schalter drucke: Dies kann ich z.B. getan haben, weil ich das Geräusch des klackenden Schalters liebe, oder weil ich darum gebeten worden bin (also weil ich etwas Wünschenswertes im Erfüllen dieser Bitte sah und glaubte, daß das Drucken die Bitte erfüllt); oder das Drucken des Schalters war gar keine Handlung, so wenn jemand meine Hand nahm und mit ihr den Schalter druckte, oder wenn ich umfiel und mit meinem Finger den Schalter betätigte. Die dargelegte logische Beziehung zwischen dem Wunsch-Meinung-Paar und der Handlung ist also nicht ausreichend. Zwischen einer Handlung und einem Grund, der die Handlung erklärt, besteht die weitere Beziehung, daß der Handelnde die Handlung vollzog, weil er den Grund hatte43 , der Grund, wie man vielleicht sagen kann, ein Grund im Handeln44 war. Das "weil" im vorangegangenen Satz besagt offenbar, daß der Grund im Hervorbringen der Handlung wirksam gewesen ist, und die damit zum Ausdruck gebrachte Beziehung ist nach Davidson am besten (und mangels einer anderen Erklärung: nur) als Kausalrelation zu verstehen: Wenn jemand aus einem Primärgrund handelt, verursachen die positive Einstellung und die Meinung, die den Grund konstituieren, die Handlung4S • Positive Einstellung und Meinung müssen also in einer logischen und einer kausalen Beziehung zu der Handlung stehen, die sie erklären sollen46 .

43 Davidsan: Essays 9, 11,87; in: Philosophical Essays on Freud 293; Kenrry, Will 20,50, 52,56 (anders noch id., in: Essays in Legal Philosophy 154). 44 Davidsan, Essays 49 Fn. 7, 232. 4S Davidson: Essays 12 ff., 32, 47 f., 87 f., 232 f., 264; in: Philosophical Essays on Freud 293. In der Sache ebenso Mackie, FS Hart 177 ff. Die Theorie Searles (84 ff.) fordert gleichfalls einen Kausalzusammenhang zwischen einer Absicht in der Handlung (intention in action) und der Körperbewegung, damit eine (intentionale) Handlung vorliegt; allerdings bleibt sowohl die angeblich besondere Art der Kausalverbindung (sog. intentionale Kausalität, 118 ff.) wie auch die Natur der Intention in der Handlung (die kein Handlungserlebnis sein soll, 91 f.) unklar. - Auch in Arisloleles' Konzeption ist die (freiwillige, intentionale) Handlung durch einen Wunsch (ein Begehren, eine Strebung, s. oben in Fn.16) verursacht: etwa NE VI 2, 1139 a 31 f.; Oe Anima III 10, 433 a 21 ff.; zur Interpretation mit weiteren TextsteIlen Loenig 25, 35 f., 101, 133 ff., 144, 245; Charles 57 ff., 97 ff. (zusammen mit 137 ff., S. 58 Fn. 2); Ackrill Mind 1978, 600 f. Nach Benlhams Theorie besteht ebenfalls ein Verursachungsverhältnis zwischen Wunsch und Handlung (s. Hacker ARSP 1976, 90 ff.). 46 Auch in Aristoleles' Modell schließen sich teleologische und kausale Erklärung nicht aus, sondern werden beide zur Analyse der (intentionalen) Handlung benutzt, s. dazu eingehend Charles 107 f., 198 ff., 232 i. V .m. 84 ff.

I. Handlungserklärung durch Gründe

103

Die These, daß Grunde, die eine Handlung erklären, deren Ursachen sind, kann hier nicht diskutiert werden47 • Wichtig ist indessen, daß die beiden dargestellten notwendigen Bedingungen der Handlungserklärung - Primärgrunde müssen, um eine Handlung zu erklären, aus positiven Einstellungen und Meinungen mit solchen Inhalten bestehen, daß sich daraus eine in den Augen des Handelnden positive Eigenschaft der Handlung ableiten läßt, und sie müssen Ursachen der Handlung sein - nicht hinreichend sind. Denn bestimmte Kausalbeziehungen zwischen Grunden und Handlungen ergeben keine Erklärung der Handlung. Jemand kann positive Einstellungen und Meinungen haben, die in der erforderlichen logischen Beziehung zu einer Handlung stehen und diese auch verursachen. Doch wegen einer Absonderlichkeit des Kausalverlaufs sind es nicht die Grunde, aus denen er gehandelt hat (oder gibt es gar keine erklärenden Grunde)48; sie hätten die Handlung erklärt, wenn sie die Handlung in der rechten Weise, über einen Prozeß praktischen Überlegens, und nicht durch eine ungewöhnliche Kausalkette (z.B. über einen Zustand emotionaler Verwirrung) verursacht hätten. Davidson gibt folgendes Beispiel: "Ein Kletterer könnte wünschen, sich von dem Gewicht und der Gefahr, einen anderen Menschen an einem Seil zu halten, zu befreien, und wissen, daß er sich von dem Gewicht und der Gefahr befreien könnte, indem er den Griff, mit dem er das Seil hält, lockert. Diese Meinung und dieser Wunsch könnten ihn so zermürben, daß sie verursachen, daß er seinen Griff lockert; und doch könnte es der Fall sein, daß er sich niemals entschied, seinen Griff zu lockern, und daß er es auch nicht absichtlich tat. Es wird, so glaube ich, auch nicht helfen, wenn man hinzufügt, daß die Meinung und der Wunsch sich verbinden müssen, um zu verursachen, daß er seinen Griff zu lockern wünscht; denn es werden die zwei Fragen bleiben, wie die Meinung und der Wunsch den zweiten Wunsch verursachen und wie das Wünschen, seinen Griff zu lockern, verursachte, daß er seinen Griff lockerte. "49

Um derartige ausgefallene Kausalverläufe auszuscheiden, muß die Analyse durch die weitere Bedingung ergänzt werden, daß der Grund die Handlung auf gewöhnliche Weise verursacht hat50 • "Gewöhnlich" ist das, was normalerweise passiert, und das bedeutet hier, daß der Wunsch und die Meinung dem praktischen Überlegen korrespondierend51 , so wie wir beim praktischen Überlegen vorzugehen pflegen bzw. der Handelnde vorgegangen ist, die Handlung herbeigeführt haben. 47 Die Gegenposition wird etwa vertreten von Anscombe 18, 21 ff., 34 und passim; Kenny, Will 107 ff.; Stoutland, in: Actions and Events 48 ff. m.w.N.; Wilson, in: ibid. 31 ff. m.w.N.; s. ferner die Nachw. in Davidson, Essays 3 Fn. 1 und Goldman 77 Fn. 18. Zur Verteidigung der These, eine Handlung erklärende Gründe verursachten diese, eingehend Davidson, Essays 12 ff. 48 Davidson: Essays 79, 87, auch 232 f., 264 f.; in: Philosophical Essays on Freud 293. 49 Davidson, Essays 79 (Übersetzung vom Verf.). 50 Vgl. Davidson: Essays 87, 232; in: Essays on Davidson 221. Die Theorie Searles (s. oben Fn. 45, auch zu deren Problematik) kommt ohne weitere Bedingung aus, da es in Fällen wie den angeführten an der sog. Absicht in der Handlung fehle: Searle 108 ff. 51 Vgl. Davidson, Essays 79, 232.

104

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Die Schwierigkeit besteht darin, die "richtige Art" der Kausalverbindung in nicht zirkulärer Weise zu präzisieren. So wird z.B. versucht, den "richtigen" Kausalverlauf mit Hilfe des für Handeln kennzeichnenden Wissens ohne Beobachtung52 zu bestimmen: Der Kausalzusammenhang müsse so beschaffen sein, daß der Handelnde, ohne zu beobachten, was er tut, weiß, welche Handlung er ausführt (oder auszuführen versucht)53. Davidson weist den Versuch, die "richtige Weise" der Kausalverbindung nicht zirkulär ohne Verwendung psychologischer Begriffe zu spezifizieren, als unmöglich zurück, weil das auf die nicht mögliche Angabe von präzisen Gesetzen hinausliefe, die psychologisch beschriebene Phänomene (i.e.: aus Gründen vollzogene Handlungen) mit physisch beschriebenen Phänomenen (z.B. Gehirnzuständen) verbinden54 . Es muß daher bei der vagen Analyse des Handeins aus einem Grund bleiben: Ein Primärgrund erklärt eine Handlung unter einer bestimmten Beschreibung dann und nur dann, wenn er aus einer positiven Einstellung und einer Meinung besteht, aus denen sich eine - aus der Sicht des Handelnden - positive Eigenschaft der Handlung ergibt, und wenn dieses Paar die Handlung auf gewöhnliche Weise verursacht. Die fehlende Präzision ist jedoch für die in dieser Arbeit zu leistenden Untersuchungen unschädlich. Wichtig ist es nur festzuhalten, daß Wünsche und Meinungen eine Handlung nur begründen und erklären, wenn der Handelnde sie nicht nur hat, sondern auch handelt, weil er sie hat55 .

11. Handeln mit einer Absicht, Handeln als Reaktion und absichtliches Handeln Häufig erklären wir eine Handlung, indem wir einen Finalsatz oder die Absicht, mit der die Handlung ausgeführt worden ist, angeben. Zwischen dieser Erklärung und der Erklärung durch Primärgründe besteht folgender Zusammenhang. Wenn wir einen Primärgrund kennen, aus dem jemand gehandelt hat, kennen wir zugleich eine Absicht, mit der er gehandelt hat56 . Wenn 52 53

Dazu vor allem Anscombe 13 ff., 24, 49 ff. und passim; auch Searle 90. NAher z.B. Cluules 97 ff. (als Weiterentwicklung aristotelischer Gedanken) m.w.N. 54 Davidson, Essays 80, 232 f.; ebenso Kenny, Will 121 Fn. 6. 55 Obwohl auch Kenny (Will 120, 142 ff.) dies annimmt (s. oben Fn. 43), Bllt der Zusammenhang zwischen Wunsch (und Meinung) und der Handlung in seiner Analyse weg; stattdessen ist es danach erforderlich, daß es in der Macht (Gewalt, Fähigkeit) des Handelnden steht, eine Handlung (auszuführen oder) nicht auszuführen, damit er sie ausführt, weil er sie wiinscht. 56 Davidson: Essays 7,84 f.; in: Philosophical Essays on Freud 292.

11. Handeln mit einer Absicht, Handeln als Reaktion und absichtliches Handeln

105

H die Handlung a vollzogen hat, weil er Handlungen, insofern sie die Eigenschaft B haben, ausführen wollte (auszuführen für wünschenswert, angenehm, nützlich, pflichtgemäß etc. hielt) und glaubte, die Handlung a habe (unter der Beschreibung A) diese Eigenschaft, dann hat H die Handlung a mit der Absicht, eine Handlung der Art B vorzunehmen (um zu b'en), ausgeführt. Um das' frühere Beispiel57 wiederaufzunehmen: Ich habe den Schalter gedrückt, weil ich das Licht anschalten wollte und glaubte ... ; ich habe den Schalter gedrückt, um das Licht anzuschalten. Umgekehrt läßt die Angabe der Absicht die genaue Art der positiven Einstellung offen58 : Wenn ich handele, um das Licht anzuschalten, muß ich irgendeine positive Einstellung gegenüber dem Lichteinschalten haben; ob ich es für wünschenswert, angenehm, nützlich, verbindlich etc. halte, ist damit noch nicht gesagt. Dies vorausgeschickt, ist folgende Analyse des Handeins mit der Absicht, etwas weiteres zu tun, möglich: Eine Person vollzieht eine Handlung a mit der Absicht zu b'en (führt a aus, um zu b'en), dann und nur dann, wenn sie die Handlung a (eventuell unter einer anderen Beschreibung A') ausführt, weil sie eine positive Einstellung in bezug auf Handlungen, insofern sie die Eigenschaft B haben, hat und glaubt, die Handlung a (unter der Beschreibung A') besitze die Eigenschaft B. Das "weil" kann kausal interpretiert werden: Die positive Einstellung und die Meinung müssen die Handlung in der rechten (normalen) Weise verursacht haben. Im Hinblick auf die notwendige Bedingung ist eine Klarstellung nötig. Mit Sätzen der Form "H tat a mit der Absicht zu b'en" wird nicht immer eine Erklärung gegeben, weshalb H die Handlung a ausführte. Ein sprachliches Indiz dafür ist, daß in diesen "Ausnahme-"Fällen eine Umformung in "H tat a, um zu b'en" nicht möglich ist. Wenn es heißt: "Ich fahre mit der Absicht nach Berlin, zu Pfingsten nach Hamburg zurückzukehren", wird damit kein Grund für meine Reise angegeben59 . (Es kann freilich ein Grund dafür gegeben werden, warum ich gerade jetzt losfahre 6O .) Um den handlungserklärenden Gebrauch der Formel "mit der Absicht" auszuzeichnen, könnte man den Ausdruck "Absicht in der Handlung (oder: im Handeln)"61 verwenden oder vom Handeln in einer Absicht sprechen.

S. oben sub I nach Fn. 24. Davidson, Essays 7 f., 84 f. 59 Vgl. White, in: The Philosophy of Action 14; LePore/McLaughlin, in: Actions and Events 13; Wilson, in: ibid. 36 Fn. 6. 60 S. unten sub V C, insb. bei und in Fn. 208 61 Vgl. Anscombe 1; Davidson, Essays 7, 84. 57

58

106

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Nach der präsentierten Analyse dient die Redeweise "Handeln mit (in) der Absicht zu b'en (b zu tun)" gewissermaßen als Abkürzung für die Vielfalt von möglichen positiven Einstellungen gegenüber Handlungen der Art B62. Diese Analyse ist daher nicht wie Konzeptionen, die das Handeln mit einer Absicht im Rückgriff auf (nur) Wünsche und Meinungen erklären, dem Einwand ausgesetzt, auf die Fälle nicht zu passen, in denen das Beabsichtigte nicht gewünscht, sondern (z.B.) für verpflichtend gehalten wird63 . Die Analyse macht außerdem deutlich, daß mit dem Ausdruck "Absicht, mit der gehandelt wird", wenn er einen Grund nennt, aus dem gehandelt worden ist, keine besondere Einstellung, kein besonderer psychischer Zustand des Handelnden bezeichnet wird. In der deutschen Strafrechtslehre wird die Auffassung vertreten, aus einer handlungsbegleitenden Meinung (oder auch: Vorstellung 64) lasse sich eine entsprechende handlungsbegründende Absicht oder ein entsprechender Wille ableiten65 ; in der hier verwendeten Terminologie: Wenn ich im Glauben handele, daß etwas Folge meines Handeins sein werde oder ich unter bestimmten Umständen handele, daß meine Handlung also eine bestimmte Eigenschaft hat, dann handele ich (nach dieser Auffassung) mit/in der Absicht, diese Folge herbeizuführen und unter diesen Umständen zu handeln (kurz: eine Handlung mit dieser Eigenschaft zu vollziehen), und ist meine Handlung unter einer Beschreibung, in die diese Folge oder diese Umstände eingehen, absichtlich. Beispielhaft: Schieße ich auf X in der Meinung, ihn dadurch zu töten, so schieße ich angeblich, um X zu töten66 ; wenn ich mit meiner Hand X eine Ohrfeige verpasse und mir bewußt bin, daß ich an dieser Hand einen Ring trage und daß die Szene von vielen Leuten beobachtet wird, so soll ich mit 62

Davidson, Essays 8. So der Einwand Hackers (ARSP 1976, 106) gegen die Konzeptionen Benthams und Kenrrys. 64 Entscheidend ist, daß es sich um eine kognitive und nicht um eine WerteinsteIlung handelt; unerheblich ist, ob meine Meinung oder Vorstellung zutrifft und ich Kenntnis oder Wissen habe. 65 Etwa Lenckner 189 f., 198; S/S21 (Lenckner) vor §§ 32 ff. Rn. 14 (nicht mehr in späteren Auflagen); Hruschka: Strukturen 26 f.; GA 1980, 15; Strafrecht 17, 70, 265 Fn. 139, 434 ff.; Otto, AT 125; Ebert 52, 57. Für Sonderfälle schließen auch Hart und Kenrry so, s. die folgende Fn. Zwischen den direkt beabsichtigten Aspekten einer Handlung, die als Ziel oder Mittel zum Ziel gewünscht würden, und den indirekt beabsichtigten Eigenschaften, die dem Handelnden lediglich bekannt seien, unterscheiden Bentham (s. die Darstellung bei Hacker ARSP 1976, 103 ff.) und Mackie, FS Hart 189. 66 Wenn eine Folge mit großer Sicherheit eintreten wird und unmittelbar mit der Handlung verbunden ist (und dies dem Handelnden bewußt ist), nehmen Hart (120) und Kenrry (in: Essays in Legal Philosophy 156 i.V.m. 149) an, daß diese Folge mit Absicht herbeigeführt werde. Ausdrücklich anderer Ansicht Köhler, Fahrlässigkeit 16 mit Fn. 8 und dem Beispiel aus "Der Kaufmann von Venedig" V 1: Shylock hat nur das Recht, ein Pfund Fleisch aus der Herzgegend von Antonius zu schneiden, darf dabei aber keinen Tropfen Blut vergießen.

63

H. Handeln mit einer Absicht, Handeln als Reaktion und absichtliches Handeln

107

der Absicht handeln, X mit meiner beringten Hand vor diesen Leuten ans Ohr zu schlagen; handele ich in Kenntnis einer Gefahrenlage (und der Rettungswirkung meines Tuns), so handele ich angeblich mit Rettungswillen67 . Daß der Schluß von der handlungsbegleitenden Meinung oder Vorstellung auf einen Grund, aus dem gehandelt wird, nicht gültig ist68 , macht man sich am besten an einem Beispiel klar. Der Zahnarzt, der einen ihm lieben Patienten behandelt, wünscht, daß es ohne Schmerzen für diesen abgehen wird, sieht aber voraus, daß das Bohren mit Schmerzen verbunden sein wird. Dann wünscht (Will)69 er weder seinem Patienten Schmerzen zufügen, noch handelt (bohrt) er mit/in der Absicht, ihm Schmerzen zuzufügen70 . Mittels der hier präsentierten Analyse des Handeins in einer Absicht ist sofort zu erkennen, woran das liegt: Dem nur mit der Vorstellung oder dem Glauben, seine Handlung habe eine bestimmte Eigenschaft (im Beispiel: verursache dem Patienten Schmerzen), Handelnden fehlt die für einen (Primär-)Grund (und für das Handeln in einer Absicht) notwendige positive Einstellung gegenüber Handlungen mit dieser Eigenschaft. Wenn der Patient wider Erwarten keine Schmerzen hat, hat der Arzt sich geirrt, ist aber uneingeschränkt erfolgreich gewesen71 • Umgekehrt folgt aus dem Handeln in (mit) der Absicht, b zu tun, nicht die Meinung, man tue b, habe also insoweit Erfolg72 , wenn man, was dem gewöhnlichen Verständnis entspricht, die Sicherheit (d.h. die subjektive Wahrscheinlichkeit) der Meinung mit größer als 0,5 annimmt. Das zeigt folgendes Beispiel von Davidson73 . Ich schreibe mit großem Druck auf einem Formular, um zehn lesbare Durchschläge zu produzieren, und zweifle daran, daß mir das gelingt. Wenn ich aber tatsächlich zehn Durchschläge herstelle, habe ich das absichtlich getan74 und mit der Absicht, zehn lesbare Durchschläge zu produzieren, gehandelt75 • 67

So ausdrücklich für diesen Fall etwa Lenckner, Hruschka und Eben 57, wie Fn. 65. Ebenso z.B. Searle 103; Alwan: Versuchen 144; GA 1983, 456 Fn. 48. 69 Wenn man das "will" im Sinne von "beabsichtigt" versteht, gilt dasselbe: s. zu diesem Fall unten sub IV bei Fn. 142. 70 Beispiel von Searle 103. Ein entsprechendes, von Schmidhäuser gebildetes Beispiel für die Umstände, unter denen gehandelt wird, bringt Alwan, Versuchen 144. 71 Vgl. Searle 103. 72 Davidson, Essays 91 f.; Pears, in: Essays on Davidson 80 ff.; auch Peacocke ibid. 69 ff. Anderer Meinung Kenny, Will 99. 73 Davidson, Essays 92. 74 Bratman (in: Essays on Davidson 20) verlangt zwei weitere Bedingungen dafür, daß in diesem Fall absichtlich gehandelt wird: Mein Erfolg müsse auf meinen relevanten Fähigkeiten beruhen, und mein Ziel im Handeln müsse sein, zehn Durchschläge herzustellen. Mit der ersten Bedingung sollen offenbar Fälle ausgeschlossen werden, in denen der Erfolg auf Zufall beruht; sie muß erfüllt sein, damit das Ausführen von b mit der Absicht, zu b' en, ein absichtliches b' en ist (vgl. unten in Fn. 80). Dagegen erscheint die zweite Bedingung bereits erfüllt, wenn ich mit/in der Absicht schreibe, zehn Durchschläge zu produzieren, und glaube, daß mein eventuelles Gelingen mit dem Schreiben identisch ist, ich also keine vorbereitende oder Teilhandlung ausführe; 68

108

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Es entspricht dem Sprachgebrauch, eine Handlung als Reaktion oder Antwort auf einen Zustand, ein Ereignis oder ein Geschehen zu bezeichnen: Ich reagiere mit dem Abnehmen der Wäsche auf die Gefahr des Regnens; mein Lichtanschalten ist Reaktion auf seine Bitte; sein böses Wort antwortet auf die Beleidigung; sein Schlag ist Reaktion auf den Angriff des X. Was soll mit solchen Sätzen gesagt werden? Läßt sich das Gemeinte als Handeln mit einer bestimmten Absicht auffassen und in der vorgeschlagenen Weise als Handeln aus einem (Primär-)Grund analysieren? Alwart meint nein76 . Er unterscheidet als Motivformen Intentionen (Absichten) und rückschauende Motive. Erstere würden typischerweise durch Finalsätze wiedergegeben ("lch schieße, um X zu töten") und könnten deshalb als "Um-Zu-Motive" bezeichnet werden; der ebenfalls mögliche Ausdruck mittels eines Kausalsatzes ("lch schieße, weil ich X töten will") sei demgegenüber sekundär. Intentionen könnten als vorausschauende Motive, die den als Folge oder Wirkung der Handlung gewollten Zustand antizipieren ("lch schieße, um X zu töten"), und als begleitende Motive gegeben sein, die auf Umstände, unter denen die Handlung stattfindet, Bezug nähmen ("lch rufe X ein Schimpfwort zu, um ihn zu beleidigen")?7. Demgegenüber bezögen rückschauende Motive sich auf eine bestimmte vom Handelnden wahrgenommene oder bloß vorgestellte Umstände, die er zum Anlaß für seine Handlung nehme. Da sie typischerweise durch Kausalsätze ausgedrückt würden ("Er schlägt X, weil er von ihm angegriffen wird"), könne man sie auch "Weil-Motive" nennen; ihre Formulierung mittels Finalsätzen ("Er schlägt X, um sich zu verteidigen") sei sekundär, weshalb man in diesem Fall von "unechten" Um-zu-Motiven sprechen könne. Ein Weil-Motiv zur Erklärung einer Handlung anführen, bedeute, die Handlung als Reaktion zu verstehen (die Handlung ist Reaktion auf den Angriff).

denn dann sehe ich in meinem Schreiben insofern etwas (z.B.) Erwünschtes, als es zu zehn Durchschlägen führt, und ist meine Absicht oder mein Ziel im Schreiben, zehn Durchschläge herzustellen. 7S Dagegen muß der mit der Absicht zu b'en Handelnde glauben, er könne b'en, es sei ihm möglich zu b'en (was bedeutet: es bestehe eine, wenn auch geringe Wahrscheinlichkeit, daß er b'en und damit Erfolg haben werde); s. dazu sub V A bei Fn. 151 f. 76 Alwart: GA 1983, 438 ff.; auch Recht und Handlung 130 ff. (auch zum Folgenden) im Anschluß an Schiltz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 1932, §§ 17, 18. 77 Das von Alwart (GA 1983, 438) gebrachte Beispiel - der Jllger geht durchs Unterholz in dem Willen, einem Reh nachzustellen - erscheint als Fall eines vorausschauenden Motivs. Denn Nachstellen ist ein Handeln mit der Absicht (dem Ziel oder Willen), das Wild zu fangen oder zu erlegen (s. Schmidhäuser, BT 9/4), so daß im Beispielsfall der Jäger durch den Wald streift, um ein Reh zu fangen oder zu erlegen.

11. Handeln mit einer Absicht, Handeln als Reaktion und absichtliches Handeln

109

Dieser Ansatz erscheint unbefriedigend, weil er einerseits, nämlich bei der Motivform der Intention oder des Um-zu-Motivs, auf den Willen und die Absicht des Handelnden abstellt und andererseits, nämlich beim rückschauenden oder Weil-Motiv, den Grund in einem objektiv gegebenen Umstand sieht, die Sicht des Handelnden, seine Absichten und Einstellungen, hingegen außer Betracht läßt; es ist aber zweifelhaft, ob ein Grund (Motiv) ohne ein solches Moment denkbar ist. Statt dessen ist zu versuchen, die Erklärung einer Handlung dadurch, daß man sie als Reaktion beschreibt, als eine Spezies der Handlungserklärung durch ein Paar von positiver Einstellung und Meinung zu deuten. Der Unterschied, auf den Alwarts Analysevorschlag abzielt, könnte in dem hier präsentierten Modell als Unterschied im Inhalt (oder: im propositionalen, intentionalen Gegenstand) der propositionalen oder intentionalen Einstellungen (d.h. der positiven Einstellung und der Meinung) aufgefaßt werden. Die Handlungseigenschaft, im Hinblick auf die der Handelnde Handlungen (z.B.) wünscht und von der er meint, sie komme seiner (d.ll. der zu erklärenden) Handlung zu, im Hinblick auf die er also in seiner Handlung etwas Positives sieht, kann erstens durch ein Ereignis oder einen Zustand als Wirkung oder Folge der Handlung bestimmt sein: der Fall des vorausschauenden oder zukunftsgerichteten Grundes und der entsprechenden Absicht, in (mit) der gehandelt wird (z.B.: Ich schieße, um X zu töten). Die Handlungseigenschaft kann zweitens Bezug nehmen auf Umstände, unter denen der Handelnde (nach seiner Ansicht) tätig wird: der Fall des begleitenden oder gegenwartsbezogenen Grunds und der entsprechenden Absicht (Beispiel: Ich rufe X ein Schimpfwort zu, um ihn zu beleidigen). Die Handlungseigenschaft kann schließlich durch ein Ereignis (als vergangenes oder ablaufendes Geschehen) oder einen Zustand, als dessen Folge ("Reaktion") die Handlung vom Täter gedacht wird, bestimmt sein; dann handelt es sich um einen rückschauenden oder rückwärtsgewandten Grund und eine entsprechende Absicht (z.B.: Er schlägt, um auf den Angriff des X zu reagieren). Gegen diese Differenzierung spricht, daß sie nicht trennscharf ist: Wenn jemand auf einen Angreifer einschlägt, um dessen Angriff abzuwehren, folgt oder reagiert seine Handlung auf den Angriff, weshalb er zugleich aus einem zukunftsgerichteten und aus einem rückschauenden Grund handelt. Außerdem läßt die Charakterisierung des rückschauenden Grundes unerklärt, was es für eine Handlung heißt, Reaktion zu sein. Wenn jemand aus einem rückschauenden Grund handelt, also tätig wird, weil er in seiner Handlung insofern etwas Positives sieht, als sie Reaktion auf ein Ereignis ist, besteht diese Handlungseigenschaft offenbar nicht nur darin, daß die Handlung bloße zeitliche Folge des Ereignisses ist.

110

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Wenn jemand auf ein Phänomen reagiert, es einen Grund seiner Handlung darstellt, ist es für sein Handeln entscheidend: Daß er handelt, macht er von diesem Phänomen abhängig. Für seine handlungsbegründende positive Einstellung spielt es eine Rolle, daß seiner Meinung nach z.B. eine Bitte geäußert wurde oder ein Angriff stattfindet. Sprachlich zeigt sich dies daran, daß mit dem Satz, der den Inhalt der positiven Einstellung wiedergibt, in irgendeiner Weise auf die Bitte oder den Angriff Bezug genommen wird. Der Wunsch, der Teil des Grundes ist, aus dem gehandelt wird, kann z.B. sein, die Bitte zu erfüllen (etwas Wünschenswertes in Handlungen zu sehen, insofern sie die Bitte erfüllen) oder die Bitte zurückzuweisen. Der Verteidiger mag aufgrund des Wunsches handeln, den Angriff abzuwehren, oder aufgrund des Wunsches, ihm auszuweichen und sich in Sicherheit zu bringen (auch die Flucht ist eine Reaktion auf den Angriff); oder der Wunsch kann darin bestehen, gegenüber dem Angriff wenigstens (d.h.: wo er ihn schon nicht abwehren kann) ein Zeichen des Widerstandes zu setzen oder dem Angreifer eine schmerzhafte Verletzung zuzufügen, ihm einen Denkzettel zu verpassen. All diese Wünsche lassen sich auffassen als Unterfälle des Wunsches, auf das Ereignis E (z.B. die Bitte oder den Angriff) zu reagieren, der die Handlung, die (u.a.) aus diesem Wunsch begangen wird, zu einer Reaktion auf das Ereignis macht. Die zusammen mit der entsprechenden Meinung handlungsbegründende positive Einstellung, auf ein Phänomen P (ein Ereignis oder einen Zustand) zu reagieren, ist Oberbegriff für solche (Primär-)Gründe, aus denen gehandelt wird, die (d.h. deren Komponenten, die positive Einstellung und die Meinung) zumindest auf verdeckte Weise auf P Bezug nehmen; sprachliches Kriterium für letzteres ist, daß eine Beschreibung von P wenigstens implizit oder verdeckt Teil der sprachlichen Wiedergabe des Inhalts von positiver Einstellung und Meinung sein muß (und zwar als Teil des die Handlungseigenschaft beschreibenden Ausdrucks). Daß eine Handlung Reaktion oder Antwort auf (z.B.) ein Ereignis ist und dieses Grund der Handlung ist, heißt also nicht, daß die Handlung aus einem Grund oder Motiv von eigener Art vollzogen wird. Damit wird lediglich ausgedrückt, daß dieses Ereignis im Überlegungs- oder Motivationsprozeß des Handelnden eine Rolle gespielt hat, indem der Handelnde den (Primär-)Grund (die positive Einstellung und die Meinung), aus dem er handelt, auf das Ereignis bezieht. Daher kann die Eigenschaft der Handlung, Reaktion z.B. auf einen Angriff zu sein, auch durch den Ausdruck "Absicht, mit/in der gehandelt wird" oder einen Finalsatz ausgedrückt werden: V schlägt A in der Absicht, den Angriff abzuwehren; er schlägt, um den Angreifer (den angreifenden A) zu verwunden; er läuft, um vor dem angreifenden A zu fliehen, d.h. um zu verhindern, durch den Angriff verletzt zu werden.

III. Handeln

111

Von den zu Beginn dieses Teils78 unterschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs der Absicht kann anscheine~d die zweite, nämlich: etwas absichtlich tun, auf die erste, nämlich: Handeln mit einer Absicht, zurückgeführt werden. Absichtliches Handeln ist Handeln mit einer bestimmten Absicht79 : H vollzieht die Handlung a absichtlich (tut a absichtlich) genau dann, wenn H's Handlung die Eigenschaft A hat und H in (mit) der Absicht, zu a'en, handelt (wenn H mit der Absicht, zu a'en, a tut)80. Absichtliches Handeln ist damit als Handeln aus einem Grund definierbar. Das gilt auch dann, wenn eine Handlung "ohne Grund" getan wird. Das heißt nämlich lediglich, daß es keinen weiteren Grund gab, außer dem Grund, sie zu tun; man hat so gehandelt, weil man es wollte81 (genauer: Die Handlung a wurde vorgenommen, weil der Handelnde eine positive Einstellung gegenüber Handlungen, sofern sie die Eigenschaft A haben, hatte und glaubte, seine Handlung habe diese Eigenschaft A).

m.

Handeln

Was eine Handlung absichtlich macht, nämlich daß sie aus einem Grund vollzogen wurde, kann auch dazu dienen, eine Definition der Handlung zu gewinnen. 78 79

Oben pr. bei Fn. 6.

Davidson, Essays xiii, 76.

80 Die Bedingung für absichtliches Handeln ist in dieser Form nicht hinreichend. Selbst wenn sich die Absicht erfüllt hat und das Ziel erreicht worden ist, die Handlung also die positiv eingeschätzte Eigenschaft besitzt, ist die Handlung unter der betreffenden Beschreibung dann nicht absichtlich, wenn die Art, wie es zu der Handlung, insoweit die Eigenschaft betroffen ist, gekommen ist, wesentlich von der Ziel-Mittel-Überlegung des Handelnden (dazu unten sub V B) abweicht. Beispielhaft: Wenn ich auf X in Tötungsabsicht schieße, ihn um einen Kilometer verfehle, mein Schuß jedoch eine Herde wilder Schweine in Panik versetzt und diese X zu Tode trampeln (dieses von Bennett stammende Beispiel wird von Davidson, Essays 78, berichtet), so habe ich X trotzdem nicht absichtlich getötet (vgl. Davidson ibid.; Searle 109). Der Grund, weshalb nicht nur die Erreichung des Ziels, sondern auch die Weise seiner Herbeiführung von Bedeutung ist, scheint zu sein, daß der Handelnde sich nicht nur als Verursacher des Zielereignisses, sondern auch als "Herr" des Kausalprozesses, der zu ihm führt, versteht. Das Ziel soll Ergebnis seines Tuns sein und auf seinen Fähigkeiten beruhen, nicht dagegen Produkt des Zufalls sein. Er überlegt sich deshalb eine bestimmte Abfolge von Ereignissen, plant seine Handlung und kontrolliert sein Handeln entsprechend (s. noch unten sub V B). Er rechnet sich das Gesamtgeschehen nicht mehr als eigenes Werk zu, wenn es wesentlich anders als geplant abgelaufen ist. Die genannte Bedingung müßte also etwa wie folgt ergänzt werden: "und das Handlungsgeschehen ungefähr so abläuft, wie H es geplant hat oder - falls H sich keine besonderen Gedanken gemacht hat - wie es dem gewöhnlichen Ablauf der Dinge entspricht. " 81 Davidson, Essays 6, auch 232.

112

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Offenbar gehören Handlungen zu den Dingen, die passieren oder stattfinden. Das was stattfindet, sind Ereignisse. Also bilden Handlungen eine Unterklasse von Ereignissen82 • Als Ereignisse sind sie Einzeldinge, die mannigfache Eigenschaften haben und auf verschiedene und den Eigenschaften entsprechende Weise beschrieben werden können83 • Angenommen, in dem bereits mehrfach benutzten Beispiel habe ich (u.a.) jeweils absichtlich den Finger bewegt, den Schalter betätigt, das Licht angeschaltet und das Zimmer erleuchtet; dann habe ich nur eine Handlung ausgeführt, die auf (mindestens) vierfache Weise beschreibbar ist, und meine Handlung ist unter jeder dieser Beschreibungen absichtlich oder intentional, weil ich mit (in) entsprechenden Absichten bzw. aus entsprechenden (Primär-)Gründen gehandelt habe. Deshalb ist eine Handlung nicht als solche, sondern immer nur im Hinblick auf

82 Ibid. 43 ff., 120 ff., 147, 229 und passim. - Nicht diskutiert werden kann die Aristoteles-Interpretation von eharles 30 ff. LV.m. 62 ff., 81 ff., 104 ff.), nach der zu unterscheiden ist zwischen Zuständen, Prozessen und Tätigkeiten (die beiden letzteren Typen von Ereignissen darstellend) als verschiedenen Entitäten (Gegenständen, Phänomen), die alle als Aktua1isierungen (oder Nichtrealisierungen im Fall der Zustände) bestimmter Fähigkeiten oder Dispositionen von Substanzen zu verstehen seien; außerdem wird ein Unterschied gemacht zwischen Herstellungen oder Hervorbringungen (1totf]CJEtc;), bei denen das Ziel außerhalb der Handlung ist, z.B. ein Haus zu bauen, Tätigkeiten (1tplx~ElC;), die selbst das Ziel darstellen und um ihrer selbst willen gewählt werden, z.B. gerecht zu handeln (s. zu beiden Formen z.B. Met. EI 1048 b 18 ff.; NE VI 4 f., 1140 a I ff., b 2 ff.) und Basishandlungen. - Auch weitere Konzeptionen und ihr Verhältnis zu dem hier vorgestellten Modell müssen unerörtert bleiben. Zu nennen sind vor allem die Theorien von Wrights (u.a.: Norm and Action 35 ff.; Varieties 115 f., 117, 141; Explanation and Understanding 66 ff.) und Kennys (Action, Emotion and Will 171 ff. unter Bezugnahme auf Aristoteles; Will 54), wonach Aktivitäten, die einen Prozeß unterhalten und bei denen jede Phase der anderen gleicht (z.B. Laufen), und Hervorbringen (acts, performances), dem Bewirken einer Veränderung oder dem Hervorbringen eines Ereignisses oder Zustands, welche als deren Ergebnis die Hervorbringungen defInieren (wie z.B. der Tod des X, das Töten des X) zu unterscheiden sind; unklar ist dabei u.a. der Status des Bewirkens bzw. Hervorbringens. - Im ganzen unklar das Modell Kindhäusers (ZStW 96 (1984) 5 ff.; im wesentlichen ebenso id., Intentionale Handlung 156 ff., zusammenfassend 175, 216): Einerseits soll eine Handlung "ein Tun, durch das ein Mensch in der Lage ist, ein Ereignis herbeizuführen" sein (ZStW 96 (1984) 16, 17), wobei Tun eine "Leerformel für alle Verben, die eine Tätigkeit ausdrücken, zu der man sich entscheiden kann" sei und Tätigkeit "jedwedes Verhalten, das als Komponente für Handlungen in Betracht kommt", bedeute (ibid. 16); andererseits sollen Handlungen "Interpretationen, symbolische Zusammenfassungen von Komponenten" sein (ibid. 16). 83 Davidson, Essays 4 f. mit Fn. 2; 56 ff., 163, 164 f. und passim; Stoutland, in: Actions and Events 45 f., 55 ff.; der Sache nach wohl ebenso Mackie (FS Hart 176 ff.), der terminologisch zwischen Handlung (action) als der "ganzen konkreten Tat" und Akten (acts), die den verschiedenen nicht gleichbedeutenden Beschreibungen der Handlung korrespondieren, differenziert. Nach dem hier vorgestellten Modell kann ein und dieselbe Handlung auf unterschiedliche Weise beschrieben werden und unter den verschiedenen Beschreibungen unterschiedlich (z.B. als absichtlich, schuldhaft etc.) beurteilt werden. Die Gegenposition ist, daß jede Beschreibung eine andere Handlung bestimmt. Zu dieser Position s. unten Fn. 99 ebenso wohl auch die in Fn. 82 zitierten, während die dort genannte aristotelische Konzeption eine Art Mittelstellung einnimmt.

III. Handeln

113

bestimmte Eigenschaften, d.h.: unter bestimmten Beschreibungen, absichtlich84 , und existiert keine Klasse absichtlicher Handlungen8s • Es gibt viele Eigenschaften des Handlungsereignisses, die dem Handelnden unbekannt sind oder denen keine positive Einstellung korrespondiert; das Ereignis bleibt eine Handlung, die jedoch unter den entsprechenden Beschreibungen unabsichtlich ist: Wenn mein Lichteinschalten, ohne daß ich es weiß, einen Einbrecher auf mein Eintreffen aufmerksam macht, habe ich den Einbrecher unabsichtlich gewarnt; wenn ich, ohne es zu wissen, Salz statt Zucker in den Tee tue, habe ich den Tee aus Versehen gesalzen. Was unterscheidet diese Fälle von solchen, in denen keine Handlung vorliegt? Mein Betätigen des Schalters ist keine Handlung, wenn ich ausrutsche und dabei den Schalter berühre oder wenn ich gegen den Schalter gestoßen werden, und mein Zufügen von Salz zum Tee ist keine Handlung von mir, wenn jemand meine Hand schüttelt. In den erstgenannten, nicht aber in diesen Fällen gibt es etwas, was ich absichtlich tue: Das, was ich tue, kann unter einem Aspekt beschrieben werden, der es absichtlich macht86 • Ein Ereignis ist eine Handlung genau dann, wenn es auf eine Weise beschrieben werden kann, die es intentional macht87 • Offenbar sind alle Handlungen körperliche Bewegungen eines Menschen88 • Ob der Begriff der körperlichen Bewegung so weit verstanden werden kann und muß, daß "Null-Bewegungen" wie Stillstehen oder Sich-Nicht-Bewegen89 (die evtl. darin bestehen, daß man die geeigneten Muskeln anspannt und dadurch äußeren Kräften Widerstand leistet, um sich nicht zu bewegen - hier könnte man von Bewegungen im Körper sprechen) oder geistige Handlungen wie Sich-Entschließen oder Zählen und Rechnen (Vorgänge im Körper) erfaßt werden können90 , kann hier nicht erörtert werden. Jedenfalls bilden als Kör84 Zuerst wohl Anscombe 11 f., 28 f., 46 und passim, die, soweit ersichtlich, auch die Formel" ... unter der Beschreibung ... " eingeführt hat; Davidson, Essays z.B. 61, 70, 76, 109 f., 147; Kenny, Will 98; Stoutland, in: Actions and Events 45 f., 55 ff.; ebenso freilich bereits Aristoteles EE II 7 1223 b 24 ff. 8S Anscombe 84 f.; Davidson, Essays 25, 46, 61, 121 f., 147; anders z.B. Kenny, in: Essays in Legal Philosophy 149 f. (übereinstimmend Will 53). 86 Vgl. Davidson 46 f., 50. 87 Ibid. 50, 70, 229, auch 4 f. mit Fn. 2; in der Sache ebenso Mackie, FS Hart 178 f. 88 Aristoteles: z.B. EE 11 6, 1222 b 29; NE VI 2, 1139 a 31 f.; III I, 1110 a 15 ff. (dazu Loening 133, 170, 246 und Charles 58, 65 ff., beide mit weiteren Aristoteles-Stellen); Davidson, Essays 49 ff.; Mackie FS Hart 178 f.; Searle 87 ff.; ebenso Benthams Theorie der Handlung (s. Hacker ARSP 1976, 90 ff.). 89 In Aristoteles' Theorie lassen sich diese Fälle als absichtliche Zustände von den Handlungen als absichtlichen Prozessen (oder Tätigkeiten) unterscheiden; s. Charles 103, 105 i.V.m. 35 ff. mit Aristoteles-Zitaten. 90 S. Davidson, Essays 49; auch Searle 102 f.; Hornsby 11, 13, 36. 8 RÖllgCf

114

3. Teil: Handlungstheoretische Voruberlegungen

perbewegungen beschreibbare Handlungen, wenn nicht die Gesamtklasse, so doch die wichtigste Unterldasse der Handlungen. Die Beschreibung von Handlungen als Körperbewegungen braucht zudem nur den Körper des Handelnden, seine Teile sowie dessen Bewegungen zurückzugreifen und kann deshalb als gegenüber anderen Beschreibungen primär angesehen werden91 . Damit ist eine Definition der Handlung möglich92 : Eine Körperbewegung ist eine Handlung dann und nur dann, wenn es eine Beschreibung gibt, unter der die Körperbewegung absichtlich ist. Eine Körperbewegung ist unter einer Beschreibung B absichtlich genau dann, wenn sie in der rechten (gewöhnlichen) Weise von einem passenden Paar von positiver Einstellung und Meinung des Handelnden (der Person, deren Körper in Rede steht) verursacht worden ist93 ; das Paar der mentalen Zustände ist passend genau dann, wenn der Handelnde eine positive Einstellung in bezug auf b'en hatte (in bezug auf Handlungen oder Körperbewegung, insofern sie die Eigenschaft B haben) und glaubte, die Körperbewegung sei ein b'en (habe die Eigenschaft B). Die hier vorgestellte Konzeption, nach der eine Handlung ein Ereignis ist, das auf unterschiedliche Weise beschrieben werden kann und unter mindestens einer Beschreibung absichtlich ist, kann anband eines bedeutsamen Zugs unserer Sprache, mit der wir Handlungen beschreiben, erläutert werden, den Feinberg "Ziehharmonika-Effekt" genannt hat94 : Wir können die Beschreibungen einer Handlung entsprechend ihren Folgen (oder anderen ihrer Eigenschaften) beliebig weit ausweiten95 • Um bei dem Lichtschalter-Beispiel zu bleiben: Ich bewege meinen Finger, dadurch den Schalter betätigend, damit bewirkend, daß das Licht angeht, das Zimmer erleuchtet und ein Einbrecher alarmiert wird, sowie - so soll das Beispiel ergänzt werden -, daß der Einbrecher vor Schreck stirbt. Aus dieser Aussage folgt: Ich betätige den Schalter, schalte das Licht an, beleuchte das Zimmer, alarmiere den Einbrecher und töte ihn. Einiges hiervon tue ich absichtlich (z.B. den Schalter drücken), aber es genügt, damit eine Handlung vorliegt, daß meine Fingerbewegung unter einer Beschreibung (z.B. der genannten) intentional ist. Wenn ich etwas tue 91 Dagegen z.B. Stoutland, in: Actions and Events 54 ff.; auch Kindhiiuser ZStW 96 (1984) 8 f. Zur Konzeption Hornsbys s. unten Fn. 104. 92 So der Sache nach neben Davidson (s.o. Fn. 87, 88, 90) u.a. Aristoteles und Bentham (s.o. Fn. 45); Mackie, FS Hart 178 ff.; Stark 84 ff. 93 Man kann, um den Begriff der Ursache zu vermeiden, auch formulieren: •... wenn der Handelnde seinen Körper bewegt hat (oder: wenn sich der Körper des Handelnden bewegt hat), weil er ein passendes Paar von positiver Einstellung und Meinung hatte". Dabei bleibt freilich der Status des ·weil· offen. 94 Feinberg, in: Philosophy of Action 106 f. 95 S. Feinberg ibid.; Davidson, Essays 53 ff.; Searle 98 ff.

III. Handeln

115

(i.e. handele, meinen Finger bewege), verursache ich all das, was meine Handlung verursacht, und kann mit Hilfe jeder dieser Wirkungen meine Handlung beschrieben werden. Wie bei einer Ziehharmonika kann man von einem Glied aus "nach oben" oder "nach unten" gehen und so neue Beschreibungen96 erhalten, ohne daß es eine klare Grenze möglicher Ausdehnungen der Ziehharmonika bzw. der Beschreibungen gibt. Der erschreckte Einbrecher mag seine Gaslaterne fallenlassen, die das Haus in Flammen setzt etc. Aber, und das ist entscheidend: Die Folgen, die bei der Beschreibung der Handlung erwähnt werden, werden nicht von der Handlung selbst umfaßt, sondern als separate Ereignisse von ihr verursacht, ohne daß die Verursachung eine numerisch von der verursachenden Handlung verschiedene Handlung ist. Wenn meine Fingerbewegung das Angehen des Lichts verursacht, so ist meine Fingerbewegung die Verursachung des Lichtangehens, d.h. ein Lichtanschalten. Der Ziehharmonikaeffekt kann daher nicht so verstanden werden, daß eine Handlung, je nachdem wieviele Folgen mit aufgenommen werden, "auf ein Minimum zusammengedrückt, oder weit auseinandergezogen" werden könne97 • Denn diese Operationen, die sich auf ein und dasselbe Ereignis zu beziehen scheinen, würden die Dauer des Ereignisses verändern, weshalb z.B. die Fingerbewegung, das Lichtanschalten und das Töten des Einbrechers nicht identisch sein könnten98 • Diese verschiedenen Handlungen, die "Primärhandlungen" (d.h. die Handlung unter der Beschreibung als Körperbewegung) und die Handlungen, bei deren Beschreibung die Folgen eingeschlossen werden, sind nicht numerisch verschieden; wenn ich a tue, indem ich b tue, sind a und b identisch99 • Die Ziehharmonika liefert keine neuen Handlungen, sondern nur neue Handlungsbeschreibungen. Deshalb kann nicht zwischen verschiedenen Arten von Handlungen unterschieden werden, indem man eine Unterscheidung trifft 96 Die Beschreibungen müssen nicht auf Ereignisse, die von der Handlung verursacht werden, rekurrieren; dazu können auch Eigenschaften des Handlungsereignisses selbst dienen: Wenn ich auf einer Versteigerung meine Hand hebe, um einen Freund zu begrüßen, so habe ich dadurch ein Gebot abgegeben - außer meiner Handbewegung fmdet kein weiteres relevantes Ereignis statt. 97 So aber Feinberg (in: The Philosophy of Action 106); vgl. auch Austin ibid. 40. 98 Vgl. Davidson, Essays 85 f. 99 Ibid. 57 f. (mit näherer Begründung), 109 f.; eingehend Homsby 3 ff., 16 ff., 29 ff., 67. Anders wohl die übrigen in Fn. 82 Zitierten. Abweichend auch Gold1TUl1l (10 ff.; The Journal of Philosophy 68 (1971) 761 ff.; ähnlich wie Gold1TUl1l Kim, in: Action Theory 159 ff., 167 ff., 173 ff., nach dessen Theorie eine (individuelle) Handlung die ExempliflZierung (Realisierung) eines Handlungstyps (einer Handlungseigenschaft) durch eine Person zu einer bestimmten Zeit ist, so daß eine Person zu einer bestimmten Zeit so viele Handlungen vornimmt, wie es nicht-synonyme Handlungsprädikate gibt, die auf sie zutreffen. Gegen diese Kortzeption argumentiert Homsby 16 ff.

116

3. Teil: Handlungstheoretische Voruberlegungen

zwischen (kausal) einfachen Handlungen, bei denen es nicht erforderlich ist, zuvor noch etwas anderes als Mittel zu tun (soeben wurden sie "Primärhandlungen" genannt), und kausal komplexen Handlungen (wie Lichtanschalten), die voraussetzen, daß man zuerst etwas anderes als ein Mittel tut lOO ; oder indem zwischen Basishandlungen (z.B. einen Finger bewegen) und anderen Handlungen unterschieden wird, die von Basishandlungen verursacht werden, wie das Bewegen eines Lichtschalters lol • Die Annahme, daß z.B. (unter den im Beispielsfall gegebenen Umständen) das Licht-Einschalten oder das Töten des Einbrechers irgendetwas anderes ist als die bestimmte Fingerbewegung, beruht auf einer Verwechslung zwischen der Eigenschaft der Beschreibung eines Ereignisses und einer Eigenschaft des Ereignisses selbst. "Der Fehler besteht darin zu glauben, daß dann, wenn die Beschreibung eines Ereignisses die Bezugnahme auf eine Folge enthält, die Folge ihrerseits im beschriebenen Ereignis enthalten ist. Die Ziehharmonika, die beim Zusammendrucken und Auseinanderziehen dieselbe bleibt, ist die Handlung; was sich ändert, sind die beschriebenen Aspekte oder die Beschreibungen des Ereignisses. "102

Es gibt unzählige Handlungsbeschreibungen, aber nur eine Handlung, auf die sich die Beschreibungen beziehenlO3 • Das Ergebnis ist also, "daß unsere Primärhandlungen, diejenigen, die wir nicht vollziehen, indem wir etwas anderes tun, bloße Bewegungen des Körpers, die einzigen Handlungen sind, die es gibt. Wir tun niemals mehr, als unseren Körper zu bewegen: Das übrige hängt von der Natur ab"l()4. Die hier vorgeschlagene Definition der Handlung ist nicht die einzig mögliche. Aber auch wenn man den Kreis der Handlungen größer ziehen Will 105 ein engerer Begriff wird einem wohl nicht in den Sinn kommen - stehen die aus einem Grund ausgeführten (d.h. von einem Grund verursachten) Körperbewegungen, (die man dann die absichtlichen Handlungen zu nennen versucht Feinberg, in: The Philosophy of Action 106. So jedoch zuerst Danto: The Journal of Philosophy 60 (1963) 435 ff.; in: The Philosophy of Action 43 ff. Dagegen neben Davidson (Essays 56) auch Homsby 67 ff. 102 Davidson, Essays 58 (übersetzt vom Verf.). 103 Anscombe 37 ff.; Davidson, Essays 59, 109 f:und passim; Homsby 3 ff., 16 ff., 29 ff., 67. Anders die oben in Fn. 82 und 99 Genannten. 104 Davidson, Essays 59 f. (mit Verteidigung dieser These). Homsby 13 f., 33 ff., 45, 88 100

101

und passim) entwickelt die Konzeption, daß Handlungen im Körper stattfmdende Ereignisse des Versuchens zu handeln sind, die ihrerseits körperliche Bewegungen verursachen. lOS Aristoteles erfaßt mit dem Begriff der Tätigkeit oder Handlung (ltpa!;&lC;) auch das Altem und Sterben (z.B. NE V 10, 1135 a 33 ff.). Zur aristotelischen Klassifikation der ltpa!;&tc; Kenny: Aristotle's Theory 8 ff.; Will 15 ff.; ehades 104 f. (beide mit weiteren Textstellen).

III. Handeln

117

ist lO6) im Zentrum. Als weitere Unterklasse kann man diejenigen Körperbewegungen (Ereignisse) als Handlungen bezeichnen, die durch eine Anstrengung des Subjekt vermieden werden können, wie Lachen lO7 , Gähnen, vor Schmerz Zurückzucken oder auch das (geistige) Brüten über einer Kränkung lO8 • Ob diese Fälle angemessen analysiert sind, indem die Ereignisse dureh die Nichtausübung einer Fähigkeit, sie zu verhindern (oder abzubrechen), oder durch das Fehlen eines Wunsches, dies zu tun lO9 , kausal erklärt werden 110 (z.B.: Wenn ich gewünscht hätte, das Lachen zu unterdrücken, hätte ich nicht gelacht), ist hier nicht zu untersuchen. Will man beide Unterklassen der Handlung zusammenfassen, scheint der Begriff der Kontrolle oder Kontrollierbarkeit geeignet zu sein11l : Handlungen (in diesem umfassenderen Sinn) sind Ereignisse (Körperbewegungen), die das Subjekt kontrollieren kann, die stattfinden zu lassen oder nicht stattfinden zu lassen, in seiner Macht steht 112 • Auch insoweit kann die notwendige weitere Analyse nicht geleistet werden. Im folgenden ist nur von der zentralen Klasse der Handlungen, nämlich von denen, die aus einem Grund vollzogen werden, die Rede.

106 So Kenny, in: Essays in Legal Philosophy ISO (übereinstimmend Will 53); auch Hacker ARSP 1976, 92; s. dazu oben bei Fn. 83-85. 107 Ein bestimmtes Ereignis des Lachens kann durchaus eine Handlung im zentralen Sinn sein: Ich lachte so schallend, um den Lehrer zu irritieren. Entsprechendes gilt übrigens auch für körperliche Vorgänge, die wir nicht gänzlich unterbinden können wie das Atmen: Ich hielt den Atem an (holt tief Luft), weil der Arzt mich dazu aufgefordert hat; vgl. Kenny, in: Essays in Legal Philosophy 149 f. (übereinstimmend Will 53). 108 S. Kenny ibid.; Hacker ARSP 1976, 92. Man mag darüber streiten, ob die Dinge, die man tut, ohne darauf zu achten (z.B. das nervöse Kratzen oder Haar-Drehen, s. Hacker ibid.), zur ersten oder zweiten Kategorie gehören. 109 Die "Verhinderung" kann in einern inneren Akt (ein Begriff, der zu erläutern wäre) oder in einer "absichtlichen" Handlung (einer Handlung im zentralen Sinn) bestehen. 110 Vgl. Mackie, FS Hart 180 für "Gewohnheits-, halbautomatische" Handlungen wie "zielloses Gehen auf der Straße". Bei diesen Handlungen handelt es sich allerdings um Fälle der Handlung im zentralen Sinn: Mein zielloses Gehen ist unter dieser Beschreibung absichtlich; ich tue es, weil ich es will (d.h. weil ich Handlungen wünsche, insofern sie ein solches Gehen sind, und glaube, daß ich meinen Körper in der dazu erforderlichen Weise bewege); s. dazu oben sub 11 bei Fn. 81 und Davidson, Essays 50 f. 111 So Kenny, in: Essays in Legal Philosophy 150 (übereinstimmend Will 53); vgl. auch Danto, in: The Philosophy of Action 49 f. 112 Das entspricht einer notwendigen Bedingung, die Aristoteles für das &K6umov (annäherungsweise zu übersetzen mit "das Freiwillige") aufstellt: Es müsse vorn Subjekt abhängen, in seiner Macht stehen, die Handlung zu vollziehen oder sie nicht zu vollziehen; z.B. EE 11 6, 1223 a 2 ff.; 11 9, 1225 b 8; NE III 1, 1110 a 17 f.; III 8, 1115 a 2 f. (dazu mit weiteren TextsteIlen Loening 146 ff.; Kenny, Aristotle's Theory 7 ff.). Daß die Handlung Resultat der natürlichen Fähigkeiten des Handelnden ist (eine Analyse der Fähigkeit, eine Handlung auszuführen oder nicht, gibt Kenny, Will 123 ff., in dessen Handlungstheorie dieser Begriff eine zentrale Rolle spielt), kann wiederum bedeuten, daß die Handlung (kausales) Produkt der Wünsche (etc.) und

118

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

IV. Beabsichtigen Das Bild, das bislang von den "absichtlichen"113 Handlungen, dem durch seine Gründe erklärbaren Handeln, entworfen wurde, ist unvollständig. Wenn jemand aus einem (Primär-)Grund (in oder mit einer Absicht) handelt, ergibt sich daraus, wie oben114 dargestellt, lediglich, daß die Handlung ein "Erwünschtheitscharakteristikum"115 hat, d.h. im Hinblick auf eine Eigenschaft, die durch die positive Einstellung bestimmt wird, wünschenswert ist (oder sonst ein positives Attribut besitzt). Wenn ich den Schalter drücke, um das Licht einzuschalten, hat mein Drücken die positive Eigenschaft, ein Angehen des Lichts zu bewirken, ist meine Handlung insofern wünschenswert, als sie ein Einschalten des Lichts ist. Sowohl die positive Einstellung, die Teil eines Primärgrurides ist, als auch die positive Einstellung, die der Koriklusion entspricht, lassen sich als prima-facie-Einstellungen (oder Urteile) bezeichnen, weil ihr Inhalt folgendermaßen wiedergegeben werden kann: "Daß Handlungen (diese Handlung) die Eigenschaft a haben (hat), macht sie prima facie gut (z.B. wünschenswert)." Eine Koriklusion dieser prima-facie-Form, die der Handelnde als Urteil aus den sich aus dem Primärgrund ergebenden Prämissen 116 zieht oder ziehen könnte, kann jedoch nicht mit der Handlung, die er ausführt, verknüpft werden, weil sie nicht ausschließt, daß der Handelnde annimmt, die Handlung sei aufgrund anderer Eigenschaften äußerst unerwünscht117. "Prima-facie-Urteile können nicht direkt mit Handlungen verbunden sein; denn es ist nicht vernünftig, eine Handlung bloß deshalb auszuführen, weil sie ein erwünschtes Charakeristikum hat. Man hat einen Grund zum Handeln, wenn man von der Handlung annimmt, sie habe ein erwünschtes Charakeristikum. Aber die Tatsache, daß die Handlung ausgeführt wird, bedeutet das weitere Urteil, daß das wünschenswerte Charakteristikum ausreichend war, um auf seiner Grundlage zu handeln - daß andere Erwägungen es nicht aufwogen. Das Urteil, das der Handlung entspricht ... , kann daher kein prirna-facie-Urteil sein; es muß ein Alles-in allemoder unbedingtes Urteil sein, das, wenn wir es in Worten ausdrücken müßten, eine Form hätte wie 'diese Handlung ist wünschenswert'. "118

Einer Handlung entspricht also ein unbedingtes Urteil mit dem Inhalt, die Handlung sei gut, wünschenswert oder habe eine andere positive Eigenschaft, Meinungen des Handelnden ist: vgl. etwa EE 11 8, 1224 a 24 ff.; in diesem Sinne die Interpretation bei Loening 148 ff. i. V .m. 135 ff. und Charles 57 ff. 113 Zur Unangemessenheit dieses Beiworts s. oben sub III bei Fn. 85 114 S. oben sub I bei Fn. 25 ff. 115 S. oben sub I Fn. 25 116 Wie Fn. 114. 117 Davidson: Essays 39, 97 f.; in: Essays on Davidson 196. 118 Id.: Essays 98 (Übersetzung vom Verf.); vgl. auch id., in: Essays on Davidson 196, 205 f., 220.

IV. Beabsichtigen

119

kurz: sei es wert, vollzogen zu werden. Das Wort "Urteil" ist allerdings unglücklich, weil es suggeriert, der H;mdelnde urteile, es sei gut, entsprechend zu handeln. Gemeint ist, daß sein (geistiger) Zustand sich als die Anerkennung einer entsprechenden Aussage verstehen läßt: Die Inhalte einer primafacie (bedingten) und einer unbedingten (alles in allem) positiven Einstellung oder Werteinschätzung (Bewertung) können durch (Wert-)Aussagen von bestimmter Form wiedergegeben werden 1l9 • Die prima-facie-Einstellungen oder Wünsche sind bedingt, weil sie sich auf einen bestimmten Aspekt von Handlungen beschränken, von dem die positive (oder negative) Einschätzung abhängt: Daß von einer Handlung angenommen wird, sie habe eine bestimmte Eigenschaft, ist der Grund einer positiven (oder negativen) Einstellung gegenüber Handlungen, die diese Eigenschaft haben; diese Eigenschaften sind die Grunde, weshalb der Handelnde die Handlungen, die er ausführt (oder unterläßt), positiv (oder negativ) einschätzt l2o • Die bedingten Einstellungen können daher ausgedruckt werden durch Aussagen wie: "Daß Handlungen die Eigenschaft a besitzen, ist ein Grund dafür, sie zu wünschen (etc.)" oder "Handlungen sind wünschenswert (etc.), vorausgesetzt daß (oder: insofern als) sie die Eigenschaft ahaben. "121 Die zweite Klasse von positiven Einstellungen, die Alles-in-allem-Werteinschätzungen, sind unbedingt, da sie sich auf Handlungen als solche beziehen; ihr Inhalt ist daher am besten wiedergegeben durch Sätze der Form "Diese Handlung ist wünschenswert (oder gut u.s.w.)". Eine solche Aussage folgt anders als die genannte prima-facie-Konklusion nicht aus den von (z.B.) Wunsch und Meinung gelieferten Prämissen. Die unbedingte positive Einstellung ist logisch unabhängig von einem Grund für eine Handlung und unabhängig von einer entsprechenden Handlung; sie muß jedoch vorhanden sein, wenn aus diesem Grund gehandelt worden ist l22 • Zwei weitere Charakteristika der unbedingten positiven Einstellung, die der Handlung korrespondiert, sind festzuhalten. Sie hat einen zumindest implizit komparativen Charakter: Der Handelnde schätzt die Handlung höher ein als 119

Id.: Essays 97 Fn. 7, in: Essays on Davidson 202,211,220 f.; s. auch eharles 89, 179

120 121

Davidson, in: Essays on Davidson 202.

Fn.16.

Das Wort "wünschenswert" (oder "erwünscht", "gut") ist nur ein Ersatz für einen fehlenden Ausdruck, der das allen Wertbegriffen, die die jeweilige Eigenart der verschiedenen bedingten Werteinschätzungen kennzeichnen, Gemeinsame widerspiegelt. Als Kunstwort könnte man vielleicht "beabsichtigenswert" einführen. S. Davidson, in: Essays on Davidson 210 f.; Peacocke Analysis 48 (1986) 47 f. (wenngleich kritisch gegenüber Davidsons Theorie). 122 Davidson, in: Essays on Davidson 196 f.

120

3. Teil: Handlungstheoretische Voruberlegungen

die anderen Möglichkeiten, die er erwägt (er mag dabei nur an die Unterlassung der Handlung denken)123. Zweitens bezieht sich die unbedingte Einschätzung auf die einzelne Handlung, die der Handelnde vollzieht, während die bedingte Einschätzung, die Teil des Grundes ist, aus dem er handelt, sich auf alle Handlungen eines bestimmten Typs (die also eine bestimmte Eigenschaft haben) bezieht: Wünschenswert (gut, begehrenswert, angenehm, nützlich, pflichtgemäß etc.) im Hinblick auf die Werte des Handelnden sind nur einzelne Handlungen l24 . In der unbedingten Einschätzung, daß eine Handlung besser ist als andere Möglichkeiten, wird diese Handlung mit anderen einzelnen Handlungen aus verschiedenen Klassen verglichen, wobei diese Klassen (oder Typen) durch die Verhaltensmöglichkeiten (also Handlungen mit bestimmten Eigenschaften), die der Handelnde erwogen hat, bestimmt werden l25 . In (dem Maß) der Erwünschtheit können die einzelnen Handlungen desselben Typs sich sehr unterscheiden: Einige Handlungen des Typs "Drücken des Lichtschalters" können äußerst unerwünscht sein, z.B. wenn sie - wegen eines mit dem Schalter verbundenen Zündmechanismus' - die Sprengung des Hauses bewirkenl26 ; oder mein Essen eines süßen Bonbons, nach dem es mich gelüstet, mag zugleich das Essen von Gift sein, weil der Bonbon vergiftet ist 127 • Jeder Handlung entspricht eine unbedingte positive Einschätzung. Sie kann mit dem Beginn der Handlung aufkommen; sie besteht während der gesamten Dauer der Handlung und sorgt dafür, daß die Handlung über ihren Beginn hinaus fortgeführt und zu Ende gebracht wird l28 , wozu es unter Umständen mehrerer Körperbewegungen bedarf1 29 . Die unbedingte Einschätzung kann aber auch schon vor dem Anfang der Handlung bestehen. Dieser auf eine Handlung bezogene, aber noch nicht von ihr begleitete geistige (oder, hier in gleicher Bedeutung: psychischer) Zustand ist offenbar das, was wir "Absicht (haben)" oder "beabsichtigen" nennen, und da er während der Ausführung der Handlung präsent bleibt, ist die unbedingte Einstellung, eine bestimmte Handlung sei wünschenswert (oder besser als jede andere bedachte Option), nichts anderes als eine Absicht l3o . Wir sprechen zwar gewöhnlich nur so lange von einem Zustand des Beabsichtigens, wie die beabsichtigte, also als 123 Davidson: Essays 39; deutlicher in: Essays on Davidson 197 f., 203, 205 f.; Bratman ibid. 16. 124 Davidson, Essays fJ7 f.; Bratman, in: Essays on Davidson 16. m Bratman, in: Essays on Davidson 16 Fn. 11. 126 S. oben sub I bei Fn. 30. 127 Vgl. Davidson, Essays 98. 128 Vgl. Davidson, in: Essays on Davidson 221; auch id., Essays 88 f. 129 S. unten sub V B nach Fn. 192. 130 Davidson, Essays 98 f., 101 f.; in: Essays on Davidson 196 ff., 205 f., 214 f., 220 f.

IV. Beabsichtigen

121

gut (oder am besten, besser als jede andere Option) eingeschätzte Handlung noch nicht begonnen hat. Aber da die unbedingte Einschätzung, wenn sie bereits vor dem Beginn der Handlung vorhanden ist, als ein kausales oder kontrollierendes Moment in der Entwicklung der Handlung auch während deren Dauer bestehen bleibt und da kein Grund ersichtlich ist, weshalb sie sich verändern sollte, wenn die Handlung ausgeführt wird und die Absicht sich "erfüllt"131, besteht die schon vor der Handlung existente Absicht bis zu deren Ende fort. Die Trennung von Absicht und Handlung kann nur zeitweilig bestehen, oder sie kann vollständig sein, wenn nämlich niemals die beabsichtigte Handlung vorgenommen wird. In beiden Fällen bezieht sich die Absicht als unbedingte positive Einschätzung wie im Fall der gegenwärtigen Handlung, wo die Einschätzung die Handlung begleitet, auf eine einzelne Handlung. Das wird deutlich, wenn man den Inhalt der Absicht (unbedingten Einschätzung) wiedergibt, indem man eine einzelne Handlung auszeichnet132 (etwa: "Mein Essen dieses Bonbons in Kürze ist gut bzw. das Beste, was ich dann tun kann"). Aber auch wenn man den Inhalt durch einen Satz wie "Jede (oder: irgendeine) beliebige einzelne Handlung, die ein Essen dieses Bonbons ist, ist gut (bzw .... )" ausdrückt133 , wird die positive Eigenschaft (Erwünschtheit etc.) einzelnen Handlungen und nicht Handlungstypen zugeschrieben l34 . Der Beabsichtigende und Handelnde kann (und wird in der Regel) durchaus mehrere Eigenschaften der Handlung erwägen und eine dementsprechend detaillierte Absicht haben: Ich beabsichtige, einen roten Bonbon in der linken Backentasche auf dem Flur vorsichtig zu lutschen. Die Absicht mag indessen so detailliert sein, wie sie will, und die beabsichtigte gegenwärtig oder zukünftig auszuführende Handlung mag damit so genau beschrieben sein, wie sie will: Es gibt immer unzählige Möglichkeiten - an einen Teil von ihnen kann das Subjekt durchaus denken -, daß die spätere Handlung zwar die Absicht erfüllt, also die berücksichtigten Charakteristika aufweist, aber aufgrund von anderen Eigenschaften äußerst unerwünscht ist135 • Ich kann mich beim Bonbonlutschen auf die Zunge beißen, verschlucken oder vergiften. Deshalb ist die Analyse durch den Zusatz zu ergänzen, daß die Absicht auf der Meinung basiert, die unerwünschten Ergebnisse, obwohl möglich, stellten, stellten sich nicht ein: Die Absicht setzt voraus, daß der Beabsichtigende nicht glaubt, irgendetwas werde seine Handlung unerwünscht oder unmöglich ma131 Id.: Essays 88 f.; in: Essays on Davidson 221. 132 Vgl. id., in: Essays on Davidson 197 f. (gegen Essays 99). 133

134 135

Id., Essays 99; vgl. auch id., in: Essays on Davidson 198, 214; Bratman ibid. 17.

Bratman ibid. Davidson: Essays 99 f.; Essays on Davidson 197.

122

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

ehen; was jemand beabsichtigt, muß mit seinen Meinungen vereinbar sein136 • Beispielhaft: Ich glaube nicht, daß ich einen vergifteten Bonbon essen werde, so daß diese Handlung nicht von meiner unbedingte Einschätzung erfaßt wird. Glaube ich hingegen, daß der Bonbon vergiftet ist oder daß ich keinen Bonbon (oder diesen Bonbon nicht) zur Verfügung haben werde, so habe ich nicht die Einschätzung, daß mein Essen eines (dieses) Bonbons wünschenswert (oder: am wünschenswertesten) ist. Da die unbedingte Einschätzung, also die Absicht, auf der gegenwärtigen Sicht des Handelnden von den gegenwärtigen und zukünftig eintretenden handlungsrelevanten Umständen (der Handlungssituation) beruht, gibt es keinen Grund, daß der Handelnde so handelt, wie er jetzt beabsichtigt, wenn sich diese Sicht als falsch herausstellt l37 : Sobald ich merke, daß der Bonbon, den zu essen ich beabsichtige, vergiftet ist, werde ich meine Absicht aufgeben und ihn nicht essen. Damit ist folgende Analyse der dritten der eingangs 138 unterschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs der Absicht möglich: H beabsichtigt, die Handlung a in der Zukunft zu vollziehen, genau dann, wenn er unter der Voraussetzung seiner gegenwärtigen Meinungen die Handlung a (bzw. jede beliebige Handlung mit der Eigenschaft A) im Vergleich zu jeder von ihm berücksichtigten und nicht zugleich zu verwirklichenden Verhaltensmöglichkeit als besser einschätzt. Läßt man die Worte "in der Zukunft" weg, erhält man eine allgemeine Definition des Beabsichtigens, der zukunftsbezogenen wie der handlungsbegleitenden Alles-in-allem-Einschätzung. Der Zustand, in dem sich jemand befindet, der in der Zukunft eine Handlung zu vollziehen beabsichtigt, bleibt derselbe, wenn die Absicht ausgeführt wird l39 • Die von der Handlung zeitlich getrennte, d.h. zukunftsbezogene, und die handlungsbegleitende Absicht unterscheiden sich also nur in ihrem zeitlichen Bezug, nicht jedoch in ihrem Charakter als Alles-in-allem-Einstellungen mit einem durch unbedingte, auf einzelne Handlungen bezogene Wertaussagen ausdrückbaren Inhalt. Das Beabsichtigen, a zukünftig (oder in diesem Moment) zu tun, ist nicht identisch mit der Meinung, a tun zu werden (oder zu tun). Denn der Zustand des Beabsichtigens ist eine unbedingte positive Einschätzung, die auf der Sicht des Beabsichtigenden von der Gegenwart und der Zukunft basiert und 136 137 138 139

Id.: Essays 99 ff.; in: Essays on Davidson 197, 199. Id., Essays 100. Oben pr. bei Fn. 6. S. oben bei Fn. 129 ff.

IV. Beabsichtigen

123

den Inhalt hat, die Handlung a oder jede Handlung der entsprechenden Klasse A sei besser als die vom Subjektiv ~erücksichtigten anderen Handlungsmöglichkeiten. Demgemäß wird auf die beabsichtigte Handlung mit einer (für den Beabsichtigenden) positiven Eigenschaft (einem "Erwünschtheitscharakeristikum") Bezug genommen und damit die entsprechende bedingte Werteinschätzung des Subjekts angegeben: Wenn ich die Absicht habe, ein Bonbon zu lutschen, sehe ich im Bonbonlutschen (z.B.) etwas Wünschenswertes; obwohl ich mir sicher bin, daß das Lutschen des Bonbons meinen Gaumen wund machen wird, beabsichtige ich doch nicht, meinen Gaumen wund zu machen, weil ich darin eine negative Eigenschaft meiner Handlung sehe. Es gilt auch nicht die Implikation: Wenn ich beabsichtige, (später) a zu tun, dann glaube ich, daß ich a tun werde l40 . Denn letzteres besagt (bei üblichem Verständnis des Glaubens), daß die subjektive Wahrscheinlichkeit, a tun zu werden, größer als 0,5 ist, während die Absicht mit der Meinung, die Erfolgschancen seien gering und man werde daher die beabsichtigte Handlung nicht (erfolgreich) ausführen, vereinbar ist l41 : Ich beabsichtigte, den GolfbaII aus 20 Metern einzulochen, und glaube als "vernünftiger Mensch", daß mir das nicht gelingen wird l42 • Zwischen den Gründen für eine Handlung, der Absicht und (ggfs., d.h. sofern die Absicht in die Tat umgesetzt wird) der Handlung besteht eine Kausalbeziehung: "... Die Gründe verursachen die Absicht 'in der richtigen Weise'. Natürlich müssen Ereignisse in der Erklärung, wie Zustände Zustände verursachen, eine Rolle spielen, aber ich nehme an, daß dies hier nicht das Problem ist (z.B. kann das Dazu-Kommen-zu-glauben, eine Dattelpflaume sei zur Hand, verursachen, daß ich die Absicht bilde, sie nicht zu essen). Das läßt die Frage übrig, welche Beziehung zwischen der Absicht und der Handlung besteht. In einigen Fällen gibt es keine Beziehung, weil die Absicht nicht ausgeführt wird. Wenn die Absicht zuerst existiert und die Handlung folgt, verursacht die Absicht zusammen mit weiteren Ereignissen (wie dem Bemerken, daß die Zeit gekommen ist), die Handlung 'in der 140 Das wird freilich vielfach vertreten, z.B.: Grice, Proceedings of the British Academy 1971,264 ff.; Harman, Tbe Review of Metaphysics 29 (1976) 432 ff. 141 Davidson: Essays 91 f., 94, 95; in: Essays on Davidson 212 f.; Peacocke ibid 69 ff.; Pears ibid. 78 f., 80 ff.; auch Charles 102 Fn. 45. 142 S. noch das Beispiel von oben sub Il bei Fn. 73 ff.: Wenn ich mit der Absicht schreibe, zehn Durchschreibekopien herzustellen, beabsichtige (LS. einer unbedingten positiven Einschätzung) ich auch, zehn Durchschreibekopien zu produzieren. - Es gelten hingegen die beiden folgenden Implikationen: Wenn ich beabsichtige, a zu tun, dann glaube ich, daß es mir möglich ist, a zu tun, d.h., daß ich a'en kann, eine - unter Umständen geringe - Erfolgschance habe (s. dazu unten sub V A bei Fn. 152); wenn ich beabsichtige, a zu tun, dann glaube ich, daß ich möglicherweise a tun werde (d.h. die subjektive Wahrscheinlichkeit, ich werde a tun, ist nicht notwendig größer als 0,5); s. dazu Davidson, in: Essays on Davidson 213 ff.; Pears ibid. 76 f.

124

3. Teil: Handlungstheoretische Voruberlegungen

richtigen Weise'. Wenn die Handlung in dem Moment begonnen wird, in dem die Absicht entsteht, dann werden das Beginnen der Handlung und das Entstehen der Absicht beide durch die Gründe verursacht, aber die Absicht bleibt ein kausaler Faktor in der Entwicklung der Handlung. "143

Oft entscheiden oder entschließen wir uns nach einem Prozeß des Überlegens für eine Handlung, bilden (formen, entwickeln) auf diese Weise eine Absicht und haben dann eine Absicht bzw. beabsichtigen die Handlung. Aber weder muß der Zustand des Absicht-Habens oder Beabsichtigens das Ergebnis eines Überlegensprozesses sein, noch ist für seine Existenz ein Akt des SichEntscheidens oder Entschließens notwendig: Man kann auch ohne diese Momente, und ohne daß man sich dessen bewußt ist, in diesen Zustand gelangen l44 .

V. Praktisches Überlegen A. Von den bedingten Einstellungen zur Absicht: das Abwägen der Gründe Das bisher gezeichnete Bild des einer Handlung vorangehenden Überlegens ist vor allem deshalb unvollständig, weil die Verbindung zwischen einem Grund für eine Handlung und der unbedingten Einschätzung in Form des bloßen, zukunfts gerichteten und von der Handlung getrennten Beabsichtigens oder des die Handlung begleitenden Zustands (der hier ebenfalls als Absicht bezeichnet wird) undeutlich ist: Wie kommt jemand zu der Einschätzung, eine Handlung sei wünschenswert (gut u.s.w.), wenn der Grund nur den Schluß gestattet, daß eine Eigenschaft (ein Zug, ein Aspekt) der Handlung für sie spricht l45 ? Bei der Erklärung einer Handlung beschränken wir uns zumeist auf einen Grund, der etwa in einem Kausal- oder Finalsatz oder durch die Wendung " ... mit/in der Absicht ... " ausgedrückt wird. Aber was in der nachträglichen Perspektive der Erklärung als der Grund erscheint, ist für das Subjekt zur Zeit seines Handeins oft nur ein Grund unter vielen gewesen, die es bei der Bildung seiner Absicht (der Formung seines Handlungsentschlusses, seiner Entscheidung für eine Handlung) berücksichtigt hat l46 • Das Abwägen der für und gegen eine Handlung sprechenden Gründe, d.h. das Einschätzen der ver143 144 145

146

Davidson, in: Essays on Davidson 221 (übersetzt vom Verf.). Id., Essays 83, 89, 99; vgl. auch Homsby 81. S. oben sub I bei Fn. 27 ff. und sub IV bei Fn. 115 ff. Davidson, Essays 16.

V. Praktisches Überlegen

125

schiedenen bedingten Werteinstellungen ihrer (wertrnäßigen I47) Stärke nach und die Beurteilung des Sicherheitsgrades der Meinungen als den anderen Komponenten der Primärgründe, bilden einen Teil des Prozesses praktischen Überlegens, der zur Absicht (dem Handlungsentschluß, der unbedingten Einschätzung einer Handlung als der besten) führt148. Neben den für eine Handlung sprechenden Gründen (ich sehe etwas Positives in Handlungen, insofern sie mich in die Lage versetzen zu lesen; ich glaube, daß das Einschalten des Lichts diese Eigenschaft hat; für mein Lichtanschalten spricht also, daß es mir ermöglicht zu lesen) gibt es gegen eine Handlung sprechende Gründe: Handlungen sind für mich insofern negativ, als sie zu einer Blendung meiner Augen führen; ich glaube, daß das Lichtanschalten diese Eigenschaft hat; gegen mein Lichtanschalten spricht folglich, daß das Licht mich blenden wird. Außerdem sind (als "relational" zu bezeichnende) Gründe wichtig, die eine Handlung(sweise) in Beziehung zu einer anderen Handlung(sweise) setzen, die der Überlegende nicht zugleich ausführen kann, oder relativ zu denen eine Handlung(sweise) als innerhalb einer Klasse von Handlungen als am besten ausgezeichnet wird. Beispielhaft: Der Kauf einer Flasche Wein ist im Hinblick darauf, daß er mir ermöglicht, ein mir schmeckendes Getränk zu trinken, besser als der Kauf einer Flasche Bier (gegen den Kauf einer Flasche Wein und für den Kauf einer Flasche Bier spricht indessen, daß Wein teurer als Bier ist); unter allen Möglichkeiten, meinen Durst zu stillen, ist es, was den Geschmack angeht, am besten, "Bernkasteler Doktor" zu trinken. Die Handlungseigenschaften, auf welche die (Primär-)Gründe und die Wünsche (oder die anderen positiven bedingten Einstellungen) als deren Komponenten Bezug nehmen, lassen sich als das Herbeiführen (u.a. Verursachen) von Ereignissen und Zuständen durch die Handlung auffassen. Diese Veränderungen der Welt, die sich als Ergebnis oder im Verlauf der Handlungen mit der entsprechenden Eigenschaft einstellen, sind das Ziel, welches das Subjekt anstrebt und worauf sich seine Werteinschätzungen "letztlich" bezie147 Es ist zwischen der wertmäßigen oder wertrationalen und der motivatorischen Stärke (oder Kraft) einer bedingten Werteinstellung (z.B. eines Wunsches) und davon abhängig des entsprechenden Grundes zu unterscheiden (dazu etwa Davidson, Essays xii, 41; Clulrles - als Aristoteles-Interpretation - 88, 148 f., 157, 179 f., 185 f., 193 und passim; Mele, Philosophical Studies 44 (1983) 351 f.; kritisch Thalberg, in: Actions and Events 94 ff.). Die wertrationale Stärke wird durch die Position des (z.B.) Wunsches in der persönlichen Wertrangordnung des Subjekts bestimmt. Die motivatorische Kraft ist demgegenüber der kausale Einfluß eines (z.B.) Wunsches (und davon abhängig eines Grundes) bei der Hervorbringung einer Absicht und einer Handlung; sie wird von nicht-rationalen Faktoren wie Charaktereigenschaften oder psycho-physischen Zuständen (z.B. Hunger, Sucht) bestimmt. S. noch unten sub V A a.E. 148 Ibid. 98 f., auch 16. Zur Präzisierung s. unten bei Fn. 153 ff.

126

3. Teil: Handlungstheoretische Voruberlegungen

hen: Ich wünsche, das Zimmer zu beleuchten (d.h.: Ich sehe etwas Erwünschtes in Handlungen, insofern sie die Eigenschaft haben, die Beleuchtung des Zimmers zu bewirken; oder: daß Handlungen diese Eigenschaft haben, ist ein Grund dafür, daß ich sie wünschenswert - oder angenehm etc. finde), weil ich möchte, daß das Zimmer beleuchtet ist; ich möchte Klavierspielen, weil ich in dieser Tätigkeit etwas Angenehmes (oder Pflichtgemäßes etc.) sehe. Die Einschätzung einer Handlung hängt aber nicht nur von dem Wert ab, den das Subjekt diesen Gestaltungen der Welt durch die Handlung beimißt, sondern auch von der Wahrscheinlichkeit, mit der sie nach Meinung des Subjekts eintreten werden. Der Gewißheitsgrad der Überzeugung des Überlegenden, die Wahrscheinlichkeit, mit der nach seiner Meinung etwas der Fall ist oder sein wird (z.B. eine Handlung eine bestimmte Eigenschaft hat), etwa zu einem bestimmten Ergebnis führt, läßt sich als subjektive Wahrscheinlichkeit bezeichnen l49 • Zwar muß ein Abwägen der für und gegen eine Handlung sprechenden Gründe dem Zustand des Beabsichtigens und HandeIns ebensowenig vorausgehen wie ein Entschluß oder ein Akt des Sich-Entscheidens. Aber der Idee nach wählt man unter den erwogenen Verhaltensmöglichkeiten nach dem folgenden Muster der Entscheidungstheorie eine Handlung als die beste aus. Der Wert, den jemand einer Handlung beimißt, hängt sowohl davon ab, wie er die Weltgestaltungen unter der Voraussetzung, die Handlung findet statt, bewertet (und wird damit einerseits bestimmt von seinen bedingten Einstellungen gegenüber Handlungen mit den betreffenden Eigenschaften), als auch davon, für wie wahrscheinlich er die verschiedenen Ergebnisse hält (und wird damit andererseits bestimmt von seinen Meinungen, daß die Handlung diese Ergebnisse herbeiführt, also die entsprechenden Eigenschaften hat). Diejenige Handlung, bei der die hinsichtlich der (subjektiven) Wahrscheinlichkeit gewichtete Summe der positiven und negativen Werte der Ergebnisse (Handlungseigenschaften) am höchsten ist, wird als relativ auf die Gründe am besten eingeschätzt l5o • Man erkennt sofort, weshalb derjenige, der beabsichtigt oder in der Absicht handelt, a zu tun, glauben muß, er könne l51 a'en, d.h. es sei ihm möglich, a Vgl. in diesem Zusammenhang nur Davidson, in: Essays on Davidson 199, 208 f., 213 f. 150 Dallidson, in: Essays on Davidson 199; vgl. auch den Hinweis auf die Entscheidungstheorie bei Kenny, Will 95. 151 Auf die verschiedenen Bedeutungen von "können" und "möglich sein" kann hier nicht eingegangen werden; s. dazu Kenny, Will 122 ff. 149

V. Praktisches Überlegen

127

zu tun und folglich erfolgreich zu handein I52 . Glaubte er das nämlich nicht, wär~ die subjektive Wahrscheinlic~eit, die Handlung habe die Eigenschaft A, gleich null, und der entsprechende Wert der Handlung (d.h. das Produkt aus dem Wert des positiv eingeschätzten Ergebnisses und der Wahrscheinlichkeit, es werde unter der Voraussetzung, die Handlung finde statt, eintreten) betrüge folglich ebenfalls null. Dann sähe das Subjekt in seiner Handlung aber insofern gar nichts Positives oder Wertvolles, und es hätte mithin weder die Absicht, a zu tun, noch einen auf die Eigenschaft A bezogenen Grund. Das Urteil und die korrespondierende Einstellung, die das Ergebnis des Abwägungsprozesses bilden, haben wie die auf einzelne Handlungseigenschaften bezogenen Urteile und Einstellungen relationalen, bedingten, primafacie-Charakter: Insofern (oder: Vorausgesetzt, daß) die betrachteten Handlungen die berücksichtigten Eigenschaften (mit der angenommenen Wahrscheinlichkeit) besitzen (oder: Mit Bezug auf die entsprechenden - und gewichteten - Gründe), ist eine Handlung besser als die anderen l53 • Glaubt das Subjekt, diese Gründe erschöpften die relevanten Gründe, so läßt sich das Urteil als ein "alles berücksichtigendes" Urteil charakterisierenl54 • Dieses Urteil läßt sich etwa folgendermaßen wiedergeben: "Alle Gründe berücksichtigend (d.h.: Im Hinblick auf alle von dem Subjekt berücksichtigten positiven und negativen Werteinschätzungen und Meinungen, nach denen den von ihm in Betracht gezogenen Handlungsmöglichkeiten mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten bestimmte Eigenschaften zukommen) ist die Handlung a am besten, d.h. besser als jede andere Handlung, die das Subjekt als Alternative berücksichtigt hat." Es handelt sich mithin immer noch um ein bedingtes Urteil und kann demnach nicht den Abschluß des Überlegungsprozesses darstellen, also nicht das unbedingte Urteil, daß die eine Handlung besser ist als die andere (und jede weitere, die berücksichtigt worden ist), das den Entschluß, die Absicht ausdrückt ISS • IS2 Ebenso z.B. Anscombe 35; Davidson: Essays 94 f., 100 f.; in: Essays on Davidson 212 ff.; Hornsl7y 40 f.; Peacocke, in: Essays on Davidson 71; Alwan: Versuchen 145; GA 1983, 450. 153 Dieses Urteil ist die Zusammenfassung der berücksichtigten für und gegen die Handlungen sprechenden Gründe, die jeweils einzelne positive und negative Eigenschaften der Handlungen ergeben (s. oben sub I bei Fn. 25 ff. und sub III bei Fn. 115 ff.). Damit diese einzelnen Gründe zusammengefaßt werden können, müssen sie vergleichbar gemacht werden: Das Subjekt muß die Werte> der Eigenschaften bzw. Weltgestaltungen infolge der Handlung nach seinen Wertmaßstäben ermitteln und mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit, daß sie realisiert werden, multiplizieren; so das als Idealisierung des praktischen Abwägungsprozesses zu verstehende quantifIzierende Modell der Entscheidungstheorie (vgl. Davidson, in: Essays on Davidson 214). IS4 Davidson spricht von "all things considered judgement": Essays 38 ff.; in: Philosophical Essays on Freud 296 f.; in: Essays on Davidson 203 ff. ISS Dazu oben sub III bei Fn. 116 ff.

128

3. Teil: Handlungstheoretische Vorüberlegungen

Das Subjekt wird aber in aller Regel von dem bedingten, alles berücksichtigenden Urteil auf das unbedingte Urteil übergehen und die entsprechende Absicht (den Entschluß) fassen, jetzt oder später die betreffende Handlung zu vollziehen. Dabei wendet es bewußt oder unbewußt das sog. Prinzip der Willensstärke an: Vollziehe (oder entscheide dich für) die Handlung, die nach deiner Ansicht auf der Basis aller verfügbaren und relevanten Gründe die beste istls6 . Verstößt jemand gegen dieses Prinzip, indem er entgegen seinem besten (bedingten) Urteil eine andere Handlung unbedingt als die beste einschätzt (beabsichtigt und ggf. ausführt), liegt ein Fall der Willensschwäche, des HandeIns wider bessere Überzeugung (oder Einschätzung) vor (oder mit dem griechischen, vor allem von Aristoteles verwendeten Terminus gesagt: der Akrasia lS7). Ein solcher Fall (des zentralen Bereichs) der Willensschwäche läßt sich mit Hilfe der Unterscheidung von wertrationaler und motivatorischer Stärke von Wünschen (und anderen bedingten Werteinstellungen)IS8 beschreibenls9 und erklären. Während der Handelnde sich bei der wertrationalen Abschätzung der Wünsche und (von diesen abhängig) der Gründe nach seinen Wertmaßstäben nicht irren kann, ist es sehr wohl möglich, daß er sich darin täuscht, welcher von mehreren Wünschen und Gründen größeren motivatorischen Anteil am Zustandekommen einer Absicht und einer Handlung hatte l60 • Der motivatorisch-kausal stärkste Grund muß vom Handelnden nicht als der (wertmäßig) beste Grund eingeschätzt werden l61 ; er mag die Handlung a (unter Berücksichtigung aller ihm wichtigen Eigenschaften, d.h. Gründe) für besser als die Handlung b halten und doch b (motivatorisch) stärker wünschen und dann auch ausführen. So kann beispielsweise ein Süßmaul bewußt und absichtlich eine Tafel Schokolade verspeisen, obwohl es sich dabei im klaren ist, daß es unter Abwägung aller für und gegen diese Handlung sprechenden IS6

205 f.

Davidson: Essays 41; in: Philosophical Essays on Freud 297; in: Essays on Davidson

IS7 Am eingehendsten Aristoteles, NE VIII-li, 1145 a 15 ff.; Interpretationen und Rekonstruktionen von Aristoteles' Beschreibung und Erklärung der Akrasia bei Kermy: Phronesis 11 (1966) 163 ff.; Aristotle's Theory 155 ff.; eharles 117 ff. IS8 ZU dieser Unterscheidung s. bereits oben in Fn. 147. IS9 ZU dieser - umstrittenen - Beschreibung des Handeins wider besserer Überzeugung Davidson: Essays 39 ff.; in: Philosophical Essays on Freud 294 ff.; in: Essays on Davidson 205 f. Abweichend etwa Kenny (Will 105 ff., 114 f.): Die Willensschwäche sei ein Fall des Konflikts verschiedener Arten von Wünschen, der langfristigen mit den kurzfristigen, die eng mit körperlichen Zuständen und Prozessen (z.B. Hunger, Müdigkeit, Sexualtrieb) verbunden seien. In diese Richtung gehen auch Beispiele, die Aristoteles diskutiert (etwa NE VII S, 1147 a 14-18, a 29 - b 3). - Ein Überblick über Versuche, das Phänomen der Willensschwäche adäquat zu beschreiben, etwa bei Davidson, Essays 24 ff. und Charles 115 ff., 159. 160 Davidson, Essays 18. 161 lbid. xii.

V. Praktisches Überlegen

129

Grunde besser wäre, die Tafel nicht zu essen. Dieses Phänomen läßt sich erklären, indem man die motivatorisch-kausale Wirkung von (z.B.) Wünschenund anderen motivatorischen Faktoren wie z.B. dem Temperament und Charaktereigenschaften - als ausschlaggebend bei dem Zustandekommen von Absichten und Handlungen ansieht l62 •

B. Das Überlegen, wie man ein Ziel erreichen kann Das praktische Überlegen besteht nicht nur in dem Abwägen des Für und Wider von Handlungen, die uns bereits genau vor Augen stehen: Häufig stehen wir vor der Frage, wie wir handeln müssen, um ein erwünschtes Ergebnis oder Ziel zu erreichen. Diese Form des Handlungsüberlegens behandeln die beiden folgenden Passagen aus der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik des Aristoteles l63 • "Wir überlegen uns nicht die Ziele, sondern die Mittel zum Ziel. Denn ein Arzt überlegt nicht, ob er heilen soll, und ein Redner nicht, ob er überzeugen soll, und ein Staatsmann nicht, ob er eine gute Staatsordnung schaffen soll, und auch sonst stellt keiner Überlegungen über sein Ziel an. Sondern sie setzen das Ziel (voraus) und erwägen dann, wie und mit welchen Mitteln es zu erreichen sein wird. Und wenn es mit mehreren Mitteln erreichbar zu sein scheint, prüfen sie, mit welchem es am einfachsten und am besten zu erreichen ist; wenn es aber nur durch ein Mittel verwirklicht werden kann, überlegen sie, wie es mit diesem Mittel zu erreichen ist und mit welchem Mittel dieses Mittel selbst erreichbar ist, bis sie zur ersten Ursache kommen, die in der Reihenfolge des Entdeckens die letzte ist. ... Das letzte in der Analyse scheint das erste im Werden zu sein. Und jedes Mal, wenn sie auf etwas Unmögliches stoßen, geben sie diesen Weg (d.h. das betreffende Mittel) aufl64 , etwa wenn Geld erforderlich ist, sie es sich aber nicht zu beschaffen vermögen; wenn der Weg aber möglich zu sein scheint, unternehmen Sie es zu handeln. Möglich ist, was durch uns geschehen kann. ... Die Überlegung bezieht sich auf das, was man selbst tun kann, und die Handlungen geschehen um etwas anderen willen. Denn man überlegt sich nicht das Ziel, sondern die Mittel zum Ziel. ... Jeder hört auf zu untersuchen, wie er handeln soll, wenn er den Ursprung (des Handelns) auf sich zurückgeführt hat. "165

162 So vor allem die Erklärungsmodelle von Davidson (Essays 41 ff.; in: Phi10sophical Essays on Freud 297 ff.); Mele (Philosophical Studies 44 (1983) 346 ff., 360 ff.) und Charles (ausgehend von einer Aristoteles-Interpretation: 149 f., 157, 175, 192 ff.). 163 Übersetzungen vom Verf. 164 Diese Interpretation (es wird nicht die gesamte Überlegung abgebrochen, wenn man zu etwas Undurchführbarem gelangt), die Kenny (Aristotle's Theory 116) folgt, wird durch den iterativen Konditionalsatz (lC