Unmusikalisch...?: Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby 3907117050, 9783907117057

Was ist Begabung? Was ist Musikalität? Der neu entdeckte Reformpädagoge Heinrich Jacoby hatte in der ersten Hälfte unser

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Unmusikalisch...?: Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby
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Walter Biedermann

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Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby

Mit einem Beitrag von Heinz R. Gai/ist zur Aktualität von Jacobys Schaffen

«Nur Stolpern sollt ihr lernen!» «Nicht machen, sondern geschehen lassen.» «Bewusste Nachentfaltung» «Tastendes Probieren» Das sind Schlüsselbegriffe bei Heinrich Jacoby. Walter Biedermann stellt Jacobys Musikpädagogik in diesem Buch auf umfassende und treffende Weise dar.

DC Heinrich Jacoby, 1889 (Frankfurt) \·-, - 1964 (Zürich), Pianist, Pädagoge, :: "' Begabungsforscher. Der heute viel zu wenig bekannte Reformpädagoge hatte in den Jahren vor 1933 in Deutschland grosse Erfolge bei der Arbeit mit sogenannten «Unmusikalischen» und «Unbegabten». Ab 1935 wirkte er als Privatgelehrter und als Kursleiter bei der «Schweizerischen Vereinigung zur Förderung der Begabungsforschung» in Zürich.

Wege Musikpädagogische Schriftenreihe Band 5

Walter Biedermann

Unmusikalisch ...? Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby Mit einem Beitrag von Heinz R. Gallist zur Aktualität von Jacobys Schaffen

© 1993 by MUSIKEDITION NEPOMUK Postfach, CH-5001 Aarau, Schweiz Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Satz: Lektorat: Druck:

Tilmann Ottlik desktop atelier, Aarau Margrit Bühler, Aarau AZ Druckhaus, Kempten

ISBN 3-907117-05-0

1nhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... 7 9 Einführung ..................................................................................................... Jacobys Allgemeinpädagogik .......................................................................... 11 Musikpädagogik............................................................................................ 15 Jacobys Standort .................................................................................... 15 Spracherwerb contra Musikunterricht.. .................................................... 17 Musikalische Nachentfaltung-Jacobys Vorgehen ..................................... 18 Stoff und Gehalt ............................................................................ 20 «Naturprozesse» geschehen lassen .................................................... 21 23 Musik als Prozess ........................................................................... Zuhören, Lauschen ........................................................................ 27 Verfassung, Zustand, Verhalten ....................................................... 28 Bässe ............................................................................................. 30 Improvisieren ................................................................................. 32 Noten ........................................................................................... 36 Interpretation ................................................................................ 38 Musik und Körper ......................................................................... 40 Instrument .................................................................................... 41 Üben ............................................................................................ 43 Kreativität ..................................................................................... 45 Auf zwei Geleisen? . . .. .. ... . .. .. . .. . .. .. .. ... .. . .. .. . .. .. . .. ... .. .. . .. .. .. .. . .. ... . .. .. . .. .. 48 Unmusikalisch ...? ................................................................................... 49 Erläuternde Ergänzungen ....................................................................... 54 Zusammenfassung ......................................................................................... 61

Heinz R Gallist:HeinrichJacobyheute......................................................... 63 Anhang Biographie ............................................................................................. Schriftprobe .......................................................................................... Notenbeispiel ........................................................................................ Konzertbericht .......................................................................................

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Zitierte Literatur ............................................................................................ Bibliographie ................................................................................................

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Vorwort

Wer war Heinrich Jacoby? Ich begegnete ihm erstmals im Jahre 1944, als ich-mitten im Chemiestudium-ihn in seiner Zürcher Wohnung aufsuchte. Beeindruckt hat mich nicht nur die Art, wie er das Gespräch führte, tief beeindruckt war ich auch von seinem Improvisieren auf dem Klavier. Mein Spiel veranlasste ihn zur Empfehlung, doch meine Ohren mehr zu gebrauchen. Später, beim zweiten oder dritten Besuch lautete das Urteil: «Die Finger sind immer noch schneller als die Ohren». Diese Bemerkung-wie konnte ich es wissen-berührte ein zentrales Anliegen von Jacobys Pädagogik. Ich wusste nichts über ihn, nicht dass er beim Komponisten Hans Pfitzner gearbeitet hatte (zusammen mit Furrwängler und Klemperer); ich ahnte noch nicht, dass ich 1950-1960 bei J acoby nachhaltig wirkende Kurse besuchen würde, und vor allem dachte ich nicht, dass Jacoby vierzig Jahre später von kompetenter Seite als einer der wirklich bedeutenden Musikpädagogen unserer Zeit bezeichnet würde. Helmut Hopf* und Rudolf Weber** schrieben 1984: «Heinrich Jacoby zu lesen bedeutet, eine der interessantesten Personen der neueren Musikpädagogik zu entdecken. In Seminaren zur Geschichte der Musikpädagogik wurde er durch seine Schriften und überlieferten Kurse zum faszinierenden Anreger für viele Studenten .... Man möchte das Werk dieses kreativen und ungewöhnlichen Denkers jedem Musikpädagogen in die Hand und ans Herz legen, und er wird aufmerksam werden auf die Formelhaftigkeit, die falsche Orientierung heutigen Musikunterrichts». Jacoby war vor 1933 in Deutschland ziemlich bekannt. Als Folge des Nationalsozialismus geriet er allmählich in Vergessenheit, genauer: nur noch kleine Kreise wussten von ihm. Seit 1980 kehrt er ins allgemeine Bewusstsein zurück, nicht zuletzt deshalb, weil er sich schon intensiv mit Fragen der Begabung, der Kreativität, der Körperbeziehung und des soziologischen Umfelds auseinandergesetzt hat. Der Umstand, dass ich ihn unmittelbar erlebte, lässt mich hoffen, auch als Laienmusiker ein zutreffendes Bild Jacobys vermitteln zu können, wobei mein eigentliches Anliegen darin besteht, seine Pädagogik zu aktualisieren, sie weiterzutragen und ihm neue Leser zuzuführen. Jacoby hat ausser ein paar Vorträgen und Aufsätzen nichts publiziert. Trotzdem erschienen in den Jahren 1980-1990 unter seinem Namen vier Bücher0- 4l, wovon eines_ Wird dieses Zurückstellen der eigenen Person dazu fuhren, dass sich gute Wiedergaben gleichen wie ein Ei dem andern? Kaum; zwar werden sie im Grundkonzept übereinstimmen, aber Differenzen können weiter bestehen, schon aufgrund der jeweiligen Vorgeschichte und damit des unterschiedlichen Verständnisses der Interpreten. Da Interpretation sich immer auf bereits komponierte Stücke bezieht, spricht man auch von Reproduktion. Für Jacoby, der sich gern des ursprünglichen Sinnes der 38

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Wörter erinnerte und bediente, bedeutete «Reproduktion» eine Wieder-Erschaffung. So verstanden sollte die Musik wie eine Neuschöpfung wirken. Passt das zur Forderung der Werktreue und des Verzichts auf «eigene Gefühle»? Nach Jacoby besteht kein Widerspruch, sofern der Interpret bereit ist, sich von seiner Aufgabe führen, sich von ihr verwandeln zu lassen*. Damit ist nichts Hintergründiges gemeint, sondern entspricht etwa dem Sich-Einstellen eines guten Schauspielers auf seine Rolle, um hernach, wenn er die Szene betritt, in ihr aufzugehen. Um die Einstellwirkung, die «von der Aufgabe ausgeht», bewusst erleben bzw. wahrnehmen zu lernen, empfahl Jacoby seinen Kursteilnehmern, beizeiten zu erscheinen, durch Abklingenlassen der Tagesunruhe still zu werden und gleichzeitig zu versuchen, Themen des vorhergehenden Kursabends wieder auftauchen zu lassen. Er nannte dies-es war davon schon die Rede-«das Ankommen», und es wird jetzt wohl deutlicher, was er sagen wollte mit: «Das Wesentliche passiert vordem Start» oder mit: «Sie müssen in einem Saal voll von tausend Menschen ein Kinderlied oder ein Volkslied mit einem Finger so spielen können, dass es mucksmäuschenstill wird»(25l_ Der Start ist also eine Situation, die dem Hörer Spannung übermittelt und in ihm Erwartungen wecken sollte, ein «Wohin?» sollte bereits spürbar werden Oacoby betonte häufig: «Das Stück ist nicht mit fertig» oder auch: «Kein Stück beginnt mit ). Jacoby hat nie explizit gesagt, wie man interpretieren solle (was ja auch nicht zur Diskussion steht, solange es noch um «Spracherwerb» gehe). Aber er hat im obigen Sinn auf die Vorbedingungen der Interpretation hingewiesen: auf Grundeinstellungen und Verhaltensweisen. Darunter ist besonders auch eine grosse Vertrautheit mit dem musikalischen Gehalt zu verstehen (die Art der Bewegtheit steht hier im Vordergrund), und eine Bereitschaft, sich diesem Gehalt zu überlassen, d.h. sich die Klänge nicht zurechtzulegen, sondern sie sich zuwachsen zu lassen Oacoby sah hier eine Analogie zum Schwimmen, wo das Vertrauen, getragen zu werden, viel unnötigen Aufwand erspart). Diese Einstellung würde bedeuten, dass der Interpret auf «Gestaltungi> verzichtet: Das Stück gestaltet sich selbst. Dass Vertrautheit mit dem musikalischen Gehalt einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Notentext bedarf, erscheint jedem Musiker selbstverständlich. Weniger eindeutig ist, wie lange eine solche Auseinandersetzung dauern soll. Von Toscanini ist seine erfahrbereite und probierende Einstellung bekannt. Er war-auch bei vertrauten Kompositionen -zeitlebens beunruhigt, ob er die Absicht des Komponisten richtig erfasst hätte. Tappolet schreibt über ihn: «Toscanini, der mit 35 Jahren zum erstenmal Beethovens dirigierte, gestand im Alter von 80 Jahren, den ersten Satz noch immer nicht verstanden zu haben. Er ruhte nicht, und erst als ihm

• Die vordem Start möglicheKontaktaufnahmemit einerAufgabe wird meistemals ein «Sich-Konzentrieren» auf sie bezeichnet.jacoby vermieddiesenAusdmck und bevorzugte«Sichvon derAufgabeeimtellenlassen»,dennfor ihn bestandein grosserUnterschiedzwischendem «Ergreifen»einerMusik und einem «Sich-Ergreifenlassen» von ihr.

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auch dieser Satz verständlich wurde und fur ihn die Symphonie zu einem OrganischGanzen wuchs, gestattete er sich eine Schallplattenaufuahme dieses Werkes»freilich auf sehr hoher Stufe betrieb*. Es mag deutlich geworden sein, dass für Jacoby Kreativität, Originalität und Künstlertwn-anders als für manche Kunstinteressierte-nicht dem Alltag entrückte Bereiche waren**, und vor allem keine ausserordentlichen Entweder/Oder-Gaben; viel eher waren es für ihn Angelegenheiten von Unverstörtheit, von wacher Aufgeschlossenheit, eher ein Problem, sich von Routinen und schulmässig Gelerntem freizuhalten bzw. zu befreien, und nicht zuletzt eine Frage der Verpflichtung gegenüber dem ursprünglichen Bewegtsein sowie des Gehorsams gegenüber einer innern Führungsinstanz. Um dies zu verdeutlichen zitierte er-was er nur sdten tat-die folgende Äusserung Goethes: «...Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentwn nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das grösste Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte .... Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen ausser mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend, wie das reife Alter; alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinne sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten. -Es ist im Grunde auch alles Torheit, ob einer etwas aus sich habe oder ob er es von andern habe; ob einer durch sich wirke oder ob er durch andere wirke: die Hauptsache ist, dass man ein grosses Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig ....»07 l Wie immer man über diese Äusserung Goethes denken mag, in unserem Zusammenhang liegt ihre Bedeutung darin, dass sie die Position von Jacoby recht gut wiederzugeben imstande ist.

• Ausdrückewie Künstler,Kunstwerk,Talent, Genieusw. vermiedJacobynachMöglichkeit. •• Auf dem erwähntenHeidelbergerKongressm,g JacobysolcheGedankenunter dem Titel «DieBefreiungder schöpferischen Kräfte,dargestelltam BeispielederMusik» vor (27).

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Auf zwei Geleisen? Ich habe versucht, Jacobys Musikpädagogik unter dem Gesichtspunkt eines nachträglichen Spracherwerbs darzustellen. Das bedeutet eine Umerziehung, und Jacoby wusste um die Mühsal eines solchen Weges. Denn tief sind meistens die Spuren des konventionellen Unterrichts. Als vordringlichen Rat empfahl er, sich übers Ohr zu orientieren. Er machte diesen Vorschlag in einer ziemlich radikalen Weise: man sollte während eines halben Jahres keine Noten benützen. Eine Zumutung wohl für die meisten, geboren jedoch aus dem Wissen, dass ein solches Vorgehen die grössten Chancen für eine Umorientierung biete. Also ins Wasser springen ohne griffbereiten Rettungsring! Es geht ja darum, sich von Routinen zu lösen, und da ist es aussichtsreicher, eine Alternative für eine gewisse Zeit konsequent zu leben; denn nur Konsequenz vermag Auskunft über den Nutzen dieses Weges geben*.-Mit dem Verzicht aufNoten schafft man noch zusätzlich günstige Bedingungen: Ein probierendes Verhalten ergibt sich fast von selbst; die Forderung, sich um den eigenen Zustand zu kümmern, wird leichter erfullbar; die Berücksichtigung von Jacobys Mahnung, nicht «Stücke-spielen» zu wollen, bietet jetzt weniger Probleme. Nur: Wieviele haben es wohl wirklich praktiziert? Ein derart radikales Vorgehen schliesst neben Versuchen im Singen/Summen und Pfeifen auch das Instrumentalspiel ein. Heute, wo Tonbänder selbstverständlich sind, ist es technisch sehr viel einfacher, sich durch wiederholtes Abspielen mit kurzen Klangmodellen vertraut zu machen. Doch welche Personen kommen für diesen rein auditiven Weg in Frage? Man kann und sollte es mit Kindern praktizieren (sie nach Jacoby freilich erst ans Instrument lassen, wenn sich ihre Klangvorstellung hinreichend entwickelt hat); nur besteht bei Kindern stets die Gefahr, dass sich die Umgebung kritisch einmischt in der Meinung, es besser zu wissen. Praktikabel ist der Notenverzicht auch für Dilettanten. Aber wie steht es mit Berufsmusikern, falls sie sich dafür interessieren sollten? Sie erteilen Stunden, spielen in Orchestern und kleinen Ensembles oder wirken als Begleiter. Manchmal bereiten sie Konzerte vor. Sie können sich das Experiment «Notenabstinenz» kaum leisten und müssen «auf zwei Geleisen fahren». Vielleicht ist ein halber Jacoby besser als gar keiner. Das hier berührte Problem existiert noch in einer andern Spielart. Eine Kursteilnehmerin berichtete, sie habe Notenabstinenz weiterempfohlen, an eine Seminaristin, die später unter anderm eine Musikprüfung zu bestehen hatte. Dadurch sei Verwirrung entstanden. Jacoby lehnte ganz entschieden ab: Er wies daraufhin, wie er selbst den Kursteilnehmern den Notenverzicht nicht überfallsmässig, sondern erst nach sehr gründlicher Vorbereitung vorgeschlagen habe. Ein solch alternatives Vorgehen eigne sich schlecht, wenn es nicht in einen grösseren pädagogischen Rahmen • Jacobybezeichneteden Verzichtauf Noten als Chance,nichtjedoch alsgarantieHenWeg:Ro11tinieH musizieren lässtsich auch ohne Notenkenntnis

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eingebettet sei, isolierte Ratschläge seien nicht sinnvoll und könnten nur desorientieren; die Seminaristin solle den gewöhnlichen Weg beschreiten. Damit ist auch ein allgemeinpädagogisches Thema berührt. Jacoby nahm in seine Kurse keine Personen auf, die sich in Ausbildung befanden (Lehrlinge, Gymnasiasten, Studenten). Denn er wusste: Bei ihm wurden die Unterrichtssysteme kritisiert, was Unsicherheit und Verwirrung erzeugen konnte, und es bestand die Möglichkeit, dass damit ein erfolgreicher Schulabschluss in Frage gestellt wurde. Jacoby wollte nicht die Laufbahn junger Menschen gefährden; er war kein blinder Eiferer, sondern dachte «ganzheitlich» und war von Verantwortung getragen.

Unmusikalisch...? Die Begabungsfrage war Jacobys Ausgangspunkt und sie blieb sein lebenslängliches Thema. Letzlich ging es ihm um ein offeneres Bild vom Menschen: er wandte sich gegen eine voreilige Deklassierung der «Unbegabten». Denn er war zur Ansicht gelangt, dass das, was gemeinhin als Musikalität bezeichnet wird, keine spezifischen Zusatzanlagen erfordere. Dabei stützte er sich im Anfang auf seine pädagogischen Erfolge am Strassburger Theater. Freilich wirkten Jacobys Ansichten, wenn er sie öffentlich vortrug, provokativ; sie standen im Gegensatz nicht nur zur Zunfrtradition der Musiker, sondern auch zu jener erbwissenschaftlichen Richtung, welche Musikalität als weitgehend genetisch bedingt betrachtete und sich dabei mit Vorliebe auf den Stammbaum der Familie Bach stützte. Jacoby wies eingehend auf die gesellschaftlichen Bedingungen zu Bachs Zeiten hin, die bei solchem Argumentieren vernachlässigt worden waren. Darüber hinaus begann er- um seine Vorstellungen zu erhärten-breit zu experimentieren («Begabungsforschung»). Ich werde auf diese Arbeiten zurückkommen. Mit seiner Stammbaum-Kritik hat Jacoby recht behalten; familiäre Häufungen in Kunst und Wissenschaft (Bach, Bernoulli) waren als Beweisstücke schon immer anfechtbar gewesen, sie werden in der Humangenetik kaum mehr verwendet. In konkreten Situationen wären sie ohnehin ohne praktischen Wert, da es unmöglich ist, das Genom einer Einzelperson auf Musikalität hin zu untersuchen. Wie problematisch aber die Begabungsdiskussion bis heute geblieben ist, zeigt sich bereits bei der Definition des Begriffs. Sowohl die Genetik wie auch die wissenschaftliche Pädagogik (und besonders die Musikpädagogik) tun sich schwer damit; die einen verstehen unter Begabung das Erbgut, andere ein Produkt aus Erbe und Umwelt, manche wieder definieren Begabung als die durch den Begabungstest ermittelten aktuellen Fähigkeiten. Die Erziehungswissenschaft, welche um 1920 dem Begabungsdenken noch stark verhaftet war, hai: sich inzwischen liberalisiert. Es gibt Strömungen, die mit Jacobys Ansichten viele Berührungspunkte aufweisen (in Deutschland z.B. H. Roth(44l). Das

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bedeutet, dass man im Fall von Leistungsdefiziten mehr Geduld und Toleranz aufbringen möchte. Es ist mir aber kaum eine Richtung bekannt, die so hartnäckig wie Jacoby darauf dringen würde, die Folgerungen zu ziehen: einerseits konsequent nach jenen Wegen und Aufgabenstellungen zu suchen, welche eine Entfaltung wirklich gewährleisten, anderseits-sofern nötig-im Einzelfall Barrieren abzubauen.

Jacobys Analogiebetrachtungen bezüglich Sprache und Musik beinhalten, dass er in jedem Menschen die Fähigkeit vermutet, musikalische Abläufe wahrzunehmen und darauf empfindungsmässig zu reagieren, die Sprache «Musik» zu erlernen. Wenn er schreibt, hiefür sei keine Sonderbegabung erforderlich, es gehe vielmehr um den «zweckmässigen Gebrauch der biologischen Ausrüstung», so ist das insofern seltsam, als die «biologische Ausrüstung» ja gerade das Erbgut verkörpert. Jacoby will sagen, dass das Erbgut keine spezifischen Anlagen beinhalte für das, was wir als Musikalität bezeichnen, dass es sich vielmehr um stets vorhandene Strukturen und Bereitschaften handle. Im Normalfall werden diese Möglichkeiten (Potentiale) nur zu einem geringen Teil genutzt. An dieser Stelle erhebt der Genetiker von heute den Warnfinger. Jacobys Begabungsforschung war eine Antwort auf eine einseitige, erborientierte Betrachtungsweise, doch auch seine Antwort ist einseitig, nämlich umweltorientiert. Als pädagogische Leitlinie ist sie von hohem Wert, als Beitrag zu Vererbungslehre hingegen zu schmal angelegt, wobei berücksichtigt sei, dass sich-soweit bekannt-Jacoby nicht als Vererbungsforscher betrachtete. Kritiker von Jacoby unterstellen ihm öfters die Behauptung, alle Menschen seien gleich begabt. Diese Ansicht hat er nie vertreten, er war vorsichtiger als die Behavioristen, und er hätte auch nie gesagt, in jedem Kinde stecke ein Künstler. Er war vielmehr der Ansicht, der Begriff «Begabung» sei so problematisch, dass man auf ihn als Orientierungssystem verzichten sollte. Denn er verführt zum Kurzschluss, pädagogische Misserfolge auf Begabungsmangel abzuschieben. Die Aufgabe des Pädagogen besteht darin, verborgene und brachliegende Fähigkeiten zu mobilisieren, er sollte Türen nicht schliessen, sondern öffnen.

Jacobys Diskussionen über Begabung hatten schon früh den positiven Effekt, dass er über Musikalität grundsätzlich nachzudenken begann und dieses Nachdenken durch experimentelle Untersuchungen begleitete. Er bemerkte dazu, seine Ansichten liessen sich anhand praktischer Demonstrationen (z.B. am Klavier) überzeugend darstellen, sie in Worte zu fassen, sei dagegen schwierig. Dementsprechend gibt es nicht viele schriftliche Zeugnisse.

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Seinen Experimenten liegt die Vorstellung zugrunde, das Wesentliche des musikalischen Erlebens und Verstehens beruhe auf einer Reihe von Grundfunktionen. Jacoby versuchte nachzuweisen, dass auch ganz «unmusikalische» Menschen (er untersuchte eine sehr grosse Anzahl) über diese Funktionen verfügen. Voraussetzung ist allerdings ein Verzicht auf Zuhören-Wollen und Erfassen-Wollen, dafür eine Bereitschaft zu spüren, was in mir selbst passiert. Ein Beispiel sei hier stellvertretend vorgestellt. Es stammt aus einem allgemeinpädagogischen Einfuhrungskurs, besitzt also keine Beweiskraft, da die Teilnehmer vielleicht «musikalisch» waren, aber es illustriert Jacobys Vorgehen( 2 I): • Jacoby improvisiert auf dem Klavier eine einfache Melodie, bricht aber vorzeitig und unvermittelt ab. Die Hörer empfinden die Zaesur als Abbruch, obschon die Musik für sie neu war. • Die Melodie wird nochmals gespielt und wieder unterbrochen, diesmal bei einem Halbschluss. Die Hörer spüren einerseits die Unfertigkeit, empfinden anderseits die grössere Berechtigung zu einer Unterbrechung als vorhin. • Die Melodie wird diesmal vom Anfang bis zum Ende gespielt und trotz ihrer Neuheit als abgeschlossen und stimmend empfunden. • Eine unbekannte Melodie wird zwei Takte vor Schluss gestoppt. Die Hörer sind in der Lage, den fehlenden Rest summend zu ergänzen. • Eine Improvisation wird bis zu ihrem formalen Ende gespielt, doch die Hörer spüren, dass Jacobys «Ladung» weiter gereicht hätte. Eine grosse Zahl solcher und verwandter Versuche, ausgefuhrt mit möglichst «unbegabten» Versuchspersonen, lieferten Jacoby einen Einblick in jene Erlebens- und Empfindungsbereiche, die auch im Falle musikalischer Verstörtheit noch intakt bleiben. Sie verkörpern fur ihn das eigentliche Fundament der Sprache «Musik», auf welchem sich erst eine differenziertere Musikbeziehung aufbaut. Jacoby hat die Ergebnisse solcher Studien wie folgt dargestellt(28 >: «Jeder Mensch, auch der ,fuhlt, ob eine Musik abschliesst. Wenn Kinder selber eine Melodie erfinden, oder wenn man ihnen etwas vorspielt, werden sie ohne Zögern feststellen, ob die Musik abschliesst, ob sie willkürlich mitten im Fluss abgebrochen wird oder ob sie etwa nur unterbrochen wurde. Jeder merkt auch ohne weiteres, ob eine Klangfolge ganz abschliesst, oder ob sie nur zu einem organischen, gliedernd wirkenden Einschnitt, einer Atempause, einem Halbschluss oder einem Trugschluss fuhrt. Bricht die Musik kurz vor Schluss ab, so empfindet jeder, sofern nur ein die Tonika genügend charakterisierender Zusammenhang gegeben ist, den Zwang zum Schluss und hört ohne weiteres deutlich voraus, wie der Schlusston-die Tonika-klingen müsste, obwohl er nicht gespielt wird. Dieses Empfinden fur die Tonika-für Anfang und Ende-ist weder durch die temperierte Stimmung noch durch die Tonalität bedingt. Eswird durch jede Klangfolge, die einen inneren Zusammenhang hat, ausgelöst, und zwar durch allermodernste genauso wie durch alte Musik (Anm. d. Autors: 1921, die

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Zwölftonmusik war also schon bekannt!). Jeder an sich sinnvolle Zusammenhang charakterisiert sich nur dadurch als Zusammenhang, dass er seinem. inneren organischen Bau nach anfängt und aufhört. Jeder empfindet auch deutlich, ob einem Thema oder einer Tonika ein neuesThema oder eine neue Tonika folgt, ob trotz des Wechsels der Themen eine Einförmigkeit entsteht, weil die Tonika dieselbe bleibt, oder ob dem Thema eine Reihe von Klängen folgt, die eine Spannung verursachen, welche durch die Wiederkehr des Themas, bzw. der alten Tonika, gelöst wird». Jacoby äussert sich noch eingehender über das Spannungs-Erleben: «Dieses elementare Empfinden für Kontraste, für Spannung und Lösung gestattet die Orientierung auch bei grösseren Formen und führt gleichzeitig zu unmittelbarem Erleben der Grundverhältnisse der Harmonien, die in sich selber, als Unterdominant- und Dominantwirkung in der Kadenz, die gleichen Spannungselemente tragen, wie sie für das Entstehen grosser Formen Voraussetzung sind. Aus diesem Empfinden für Spannung und Lösung entwickelt sich in kurzer Zeit die Fähigkeit, den Aufbau und Ablauf auch grösserer musikalischer Formen so sicher bewusst zu erleben, dass es möglich wird, ihre Proportionen schon nach einmaligem Hören schematisch zu rekonstruieren. Für die Harmonie bedeutet dies Spannungsempfinden zusammen mit dem Empfinden für Grundtöne die Möglichkeit zur zuverlässigen Unterscheidung der Funktionen der Hauptdreiklänge und damit die Grundlage für das Erkennen aller anderen akkordlichen Erscheinungen. Das eingebor~ne Empfinden für den Auftakt gestattet die klare Unterscheidung von Phrasen, Rhythmen und Taktarten, lange bevor der Schüler etwas von 3/4-, 4/4- oder 5/4- Takt weiss, und umso leichter und richtiger, je weniger er von solchen Dingen gehört hat und je weniger er an Zählen und Messen denkt». Nun baut Jacoby seine Ablehnung allen messenden Vorgehens noch weiter aus: «Durch das bewusste Erleben dieser noch verhältnismässig groben Gliederungen wird allmählich die Voraussetzung für das Erkennen auch der feineren Einzelheiten geschaffen: Jeder empfindet, sobald er gewöhnt ist, gelassen auf Klänge zu lauschen, ob ein Ton von her zu einer Tonika führt (2-1) oder von her (7-1). Auf diese Weise kann jeder sofortempfindungsmässig und mit Sicherheit den Unterschied zwischen Halb- und Ganzton erkennen, ohne den Abstand messenzu müssen, weil er ihn aus der Empfindung des musikalischen und logischen Zusammenhangs heraus erlebt, während die übliche Gehörbildung versucht, diese Fähigkeit durch Messübungen an toten, aus dem inneren Zusammenhang gelösten Ausschnitten auszubilden. Auf die gleiche Weise sind später auch die anderen Melodiestufen in ihrem Verhältnis zur Tonika leicht zu erkennen. Will man das Phänomen Oktave bewusst erfahren lassen, so braucht man nur einen hohen oder tiefen Ton ausserhalb des menschlichen Stimmumfangs und zum Nachsingen aufzufordern. Jeder tut das unbewusst in seiner Stimmlage. Auch wenn gleichzeitig dieselbe Tonika singen und dabei bewusst wird, dass dennoch nicht alle

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denselben Ton gesungen haben, so wird dadurch dem Singenden das Wesen der Oktave bewusst und damit die Möglichkeit gewonnen, den weiten Umfang des Tongebietes zwischen Bass und Diskant zu gliedern; auf ähnliche Weise müssen auch alle anderen Erscheinungen wie Tonarten, Grundtöne, Dreiklänge, Gegenstimmen usw. erarbeitet werden. Wir stützen uns dabei stets nur auf die Funktionsmöglichkeiten, die im Menschen a priori vorhanden sind, die nur in der rechten Art und im rechten Augenblick bewusst werden müssen, um später als unbedingt sichere, nicht erlernte Orientierungsmöglichkeiten für die Erfassung auch und darum auch unverlierbare der kompliziertesten Klang- , Raum- und Zeitverhältnisse dienen zu können». Dies also sind die Vorstellungen, die J acobys erfolgreicher Lehrtätigkeit an der Odenwaldschule zugrunde lagen. Er hat-ich verwende im folgenden weitgehend seine eigene Beschreibung( 29l_bei seinen Schülern versucht, das Interesse vom Musikstoff weg und hin zu den in ihnen ausgelösten Spannungsabläufen zu lenken. Dadurch wird das Klangvorstellungs- und Klangerinnerungsvermögen begünstigt, es hat allem Technischen voranzugehen. Mit etwa 100 Schülern im Alter von 9-19 Jahren wurden Gruppen von ungefähr 20 Teilnehmern gebildet. Pro Woche und Gruppe standen zweimal 45 Minuten zur Verfügung. Die Knaben und Mädchen waren zum grössten Teil stimmlich gehemmt und nervös, und im üblichen Sinn waren nur wenige musikalisch. Viele konnten keine zwei Takte nachsingen oder auswendig behalten, auch nicht Noten lesen. Nach anderthalb Jahren waren sie so weit, dass sie grössere Melodien, dreiteilige Formen selbst erfinden und sie ebenso wie fremde Melodienwenn auch zunächst noch langsam-fehlerlos nach dem Gehör aufschreiben konnten, und zwar sowohl in den drei Schlüsseln als auch in verschiedenen Tonarten. Ausserdem konnten sie einfach aufgeschriebene Melodien innerlich hören und sie nach beliebigen Tonarten transponieren. Bei einer Gruppe konnte schon mit dem Erfinden von Gegenstimmen und Akkorden und mit dem Einbeziehen von Instrumenten begonnen werden. Das Formenbewusstsein war so weit entwickele, dass auch grössere Musikstücke wie langsame Sätze oder Scherzi aus Sonaten oder Symphonien in ihrem Aufbau beim Hören deutlich erkannt wurden, und zwar nicht durch Analyse, sondern durch das Erlebenihrer Gliederung als Spannung und Lösung und als dynamische Abstufungen.

• JacobysMusikalitätsbegriffinKurzform Jacoby hat keine Schlagwörter (z.B. «Alle Menschen sind musikalisch») gebraucht, sondern experimentiert und anhand konkreter Erfahrungen argumentiert. Als Resultat musste er-darauf verweist schon der Titel dieses Buches-die traditionellen Vorstellungen über Musikalität in Frage stellen. Denn die gängige Begabungsthese ist zu wenig fundiert; sie untergräbt allzu oft das Selbstvertrauen des Schülers und verführt andrerseits die Lehrer dazu, ihre (pädagogische) Flinte zu früh ins Korn zu werfen.

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Die wahrscheinlich kürzeste Form seines Musikalitäts-Verständnisses hat Jacoby im Jahre 1935 gegeben. Er schrieb, so für das Trautonium und die damit experimentierenden Komponisten (Genzmer, Hindemith). Den späteren Aufschwung hat Jacoby meines Wissens nicht mehr verfolgt. Er hätte sicher das Erkunden und Erproben neuer Möglichkeiten begrüsst, dann aber die Frage gestellt, ob sie wirklich dazu verwendet würden, einem echten Äusserungsbedürfuis zu genügen, d.h. ob die erzeugten Klänge vom «inneren Ohr» auch vorausgehört worden seien. Es handelt sich um Kriterien, die gleichermassen an den Umgang mit konventionellen Instrumenten zu stellen sind. • Entdecker und Forscher

Bezüglich des Phänomens «menschliche Äusserun&>ist Jacoby nicht nur praktischer Pädagoge gewesen, sondern auch Entdecker und Forscher. Er versuchte nachzuweisen, dass jedermann befähigt ist, wahrzunehmen, wenn gewisse «naturgesetzliche» Forderungen beim Sich-Äussern verletzt werden; und dass jedermann imstande ist, sich solchen Forderungen zu unterziehen, wenn er sich selbst äussert. In direktem Zusammenhang damit stehen qualifizierte Leistungen und die Begabungsfrage. Jacoby legte hiezu eine Sammlung über Musikexperimente mit Hunderten von Personen an. Ähnlich ging er auf dem Gebiet «Zeichnen» vor, und eine weitere, breite Dokumentation besass er für ausserordentliche Leistungen von Behinderten. Im Umfeld der damaligen Pädagogik war eine derartige Arbeitsweise ungewohnt. Jacoby nahm um Jahrzehnte vorweg, was in Deutschland erst nach 1950 in Bewegung kam und von H. Roth als «realistische Wendun&> bezeichnet wurde' 30>.Seither hat die Pädagogik aufgeholt, weshalb aus heutigerSicht bei Jacobys Studien auch Mängel sichtbar werden, Mängel, die manche Kritiker bewogen, seine Arbeit als unwissenschaftlich zu qualifizieren. Dazu ist zu sagen, dass «Wissenschaftlichkeit» kein eindeutiger Begriff ist, sondern zu einem guten Teil auf Definition beruht. Aber Jacoby selbst hat eben-auf seine Weise freilich-einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben, wenn er wiederholt sagte: «Das ist nicht nur meine persönliche Ansicht, das können und sollten Sie selbst überprüfen».

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Freilich hat Jacoby seine Experimente zur Musikalität nicht im Detail beschrieben, Statistiken sind nirgends publiziert, und es gibt bezüglich des pädagogischen Vorgehens keine Kontrollgruppen. Einwände sind auch dort möglich, wo Jacobyvon Ausrüstung»spricht: Aus einer allgemeinen Bereitschaft aufgrund der «biokgischen humangenetischer Sicht ist es nicht so, dass solche Bereitschaften entweder vorhanden sind oder nicht, sondern es besteht eine breite Variabilität. Dies trifft besonders für die komplexe Frage der Begabung zu. Jacobys Stellungnahme gegen Begabungsvorurteile ist heute so aktuell wie damals, gefährlich ist es hingegen, sie mit den damaligen Argumenten rechtfertigen zu wollen. Trotz dieser Einwände darf man den Gehalt von Jacobys Pädagogik keinesfalls unterschätzen, sie ist ein bedeutender Entwurf. Es gehört leider zu den Merkmalen von Konzepten mit umfassender Perspektive, dass sie schwerer zu «beweisen» sind als kleinmaschige Einzelstatements. • Sprache, Bücher

Nochmals zurück zu Jacobys Tendenz zu Sachbezogenheit: Sie zeigt sich in dem Wenigen, was er publiziert hat, und sie äussert sich generell im weitgehenden Verzicht auf Abstraktionen. Er blieb den Phänomenennahe und überbaute sie nicht mit einer Welt von Begriffen. Darum fehlen sonst gängige Ausdrücke wie das «Sein», das «Selbst», die «Psyche», und nach Substantiven wie «Das Denken», «Das Fühlen» usw. sucht man vergeblich*. Es gibt aber zahlreiche, zum Teil neuerfundene Wörter, welche ein Verhalten signalisieren möchten wie «machen wollen», «geschehen lassen», «abklingen lassen» usw. Trotz dieser Tendenz, Abstrakta zu vermeiden und trotz vieler blendender Formulierungen ist Jacobys Schreibstil bisweilen kompliziert und manchmal umständlich. Anders seine direkte Rede! Er sprach in den Kursen stets einfach und allgemeinverständlich, nie über die Köpfe hinweg. Da ab 1945 alle Kurse auf Tonband (anfänglich Stahldraht) aufgenommen wurden, ist Jacobys Art zu sprechen erhalten geblieben. Bei dieser Gelegenheit sei ein Hinweis erlaubt, wie man sich den unter seinem Namen erschienenen Büchern-vor allem «Jenseits von ,Begabt> und ,Unbegabt>»nähern sollte. Es geht nicht um die Verkündung letzter Wahrheiten. Hin und wieder irrt sich Jacoby, aber vor allem: sein Stil ist manchmal herausfordernd. Damit ist folgendes gemeint: Weil er Prozesse auslösen wollte, konnte Jacoby gegenüber Äusserungen von Kursteilnehmern eine Gegenposition einnehmen, dabei vielleicht übertreiben, weshalb seine Formulierungen nicht immer letzte Druckreife besassen (Einmal drohte er:«Wenn ich merke, dass Sie meine Worte wiederholen, werde ich * Auch Selbstfindung,Charakter,Intuition, Wille,Reift, Mündigkeit,Freiheitkommen nicht vor. Damit in Strukturen"bzw. Jacobykeine Wandtafelzu grafischenVeramchaulich,mg«psychischer Uebereimtimmungbesass deren Wirkungen,und sogarfor die Musik benötigteer keine.

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das Gegenteil behaupten»). Im Gesprächszusammenhang schadete dies nichts, aber schwarz auf weiss reizen manche Stellen zu Kritik. Wesentlicher scheint mir ein ganz anderer Gesichtspunkt: Als ich Jacoby einmal fragte, weshalb er Bandaufnahmen mache, entgegnete er: «Für den Fall, dass sich später jemand interessiert, wie ichs gemacht habe». Diese Antwort ist zu beachten. Seine Bücher bilden ein eigentliches Dokument für das,was Jacoby unter pädagogischem Vorgehen verstand. Sie zeigen, wie er einen Teilnehmer (bzw. das Kollektiv) für ein Thema zu interessieren versuchte, wie er jemanden an seinem jeweiligen Standort abholte, um ihn mit einer andern Betrachtungsweise vertraut zu machen, wie er mit Einwänden umging, was er unternahm, um etwas in Bewegung zu bringen, wie subtil er dabei agierte und was er unter «Erarbeiten» verstand. Dies alles bedeutet, dass es sich nicht um Lehrbücher im herkömmlichen Sinn handelt. • Öffentlichkeit

Eine öfters wiederkehrende Frage betrifft die jahrelange Abwesenheit des Namens Jacoby in der öffentlichen Diskussion. Es gibt dazu eine Reihe von Mutmassungen. Er selbst hat von sich gesagt, er sei 50 Jahre zu früh auf der Welt, und in mancher Hinsicht (Körperbeziehung, Einstellung zum Improvisieren u.a.) hatte er wohl recht damit. Andrerseits hat er sein angeblich geplantes Hauptwerk über Allgemeinpädagogik nicht geschrieben; die Gründe dafür sind unklar. Eine Rolle dürften die Schwierigkeiten einer schriftlichen Übermittlung gespielt haben, nachdem sich gezeigt hatte, wie sogar bei persönlichem Kontakt (in den Kursen) Missverständnisse und Probleme auftreten konnten, trotz der Möglichkeit, auf den Einzelnen jeweils direkt einzugehen. Aber vielleicht hatte J acoby generelle Vorbehalte gegenüber einer Fixierung seiner Ansichten, wohl im Wissen, wie leicht sie in Lehrsätze und Dogmen umgemünzt werden könnten. Solche Bedenken sind es vermutlich auch gewesen, die Jacoby in späteren Jahren bewogen, keine öffentlichen Vorträge mehr zu halten, noch Kurse in bestehenden Institutionen zu geben. Die Folgen sind bedauerlich: Jacoby figuriert zwar durch einen Artikel von W. Tappolet im Musik-Lexikon( 54l, und er kommt in einem Lexikon der Psychologie(9l vor, dort meines Erachtens deplaziere unter den körperorientiereen Methoden. Hingegen fehlt er im Lexikon der Musikpädagogik( 5l, und auch in allgemeinpädagogischen Lexika habe ich ihn nicht gefunden. Dafür existiere eine kleine «Umgebungsliteratur», d.h. Bücher und Aufsätze, in denen auf einen Einfluss Jacobys hingewiesen wird, und neuerdings auch einige Arbeiten über seine Pädagogik und Musikpädagogik (7 ,is.35) sowie eine einstündige Radiosendung 00 l. Ein Ableger, der sich in USA durchgesetzt hat, ist «Sensory Awareness«; durch die Begründerin dieser Richtung, Charlotte Selver, gelangten

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UNMUSIKALISCH ...?

Jacobys Konzepte zu Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie. Jacoby gilt deshalb als deren Urahn( 42l. Die hier aufgeführte Literatur vergrössert sich noch, wenn man Elsa Gindler und ihre zahlreichen Schülerinnen mitberücksichtigt.

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Zusammenfassung

Für Jacoby war Musik eine Möglichkeit, sich zu äussern, eine Art Sprache. Man sollte sich ihr so nähern können, wie ein Kleinkind sich die Muttersprache erwirbt: übers Ohr in einer Umgebung, für die Musizieren selbstverständlich ist, und welche die Musik vor allem als Mittel zur spontanen Äusserung (Improvisation) und zur Kommunikation versteht. Konventioneller Musikunterricht orientiert sich an andern Zielen (Reproduktion, Konzert, Kunst); er überspringt die wesentliche Etappe des angstlosen musikalischen Lallens, Stammelns und selbständigen Ausprobierens; als Folge gelangt der Schüler nur in seltenen Fällen zu einer wirklichen Beherrschung der Sprache «Musik» und meistens zu Ergebnissen, die nicht dem Aufwand entsprechen. Jacobyvertrat nicht eine neue Methode, sondern zielte aufUmoriencierung; diese sollte zunächst im Erzieher und Lehrer stattfinden. Da die meisten Erwachsenen in ihrer Jugend jene Phase des Selbsterprobens verpassten, wollte Jacoby in seinen Kursen sie dies nachholen lassen. Dies bedeutet eine Art Selbst-Umerziehung auf einem Weg, der alles Übernommene zu hinterfragen bereit ist. Wesentlicher Punkt ist dabei die Orientierung übers Ohr. Während konventioneller Unterricht meistens zwischen technischer Ausbildung und eigentlicher Musik unterscheidet und das Anfangsinteresse auf Noten, Haltungen und korrekte Tonerzeugung richtet, empfiehlt Jacoby den umgekehrten, den «natürlichen» Weg. Bei ihm steht stets das musikalische Geschehen im Mittelpunkt: dessen Erleben, ein inneres (ev. äusseres) Sich-Bewegen-Lassen durch die Musik, die Entwicklung der Klangvorstellung, das Empfinden für Spannungsabläufe ... Solchen Fragen die Priorität zu geben, ist schwierig für Personen, deren Musikbeziehung auf konventionellem Weg entstand. Am ehesten gelingt eine Umorientierung demjenigen, der bereit ist, sich mit dem eigenen Zustand und Verhalten während des Musizierens und Musikhörens auseinanderzusetzen. Solche Verhaltensprobleme sind zentraler Teil von Jacobys Allgemeinpädagogik, sie sind der eigentliche Schlüssel für die Umerziehung und sie sind stets im Spiel, wenn es um musikalische Einzelfragen geht. Einzelfragen sind z.B. Lauschendes Verhalten, die Unterscheidung von musikalischem Stoff und Gehalt, das Fliessen der Musik, ihre Spannungsabläufe, ihre innere Ordnung, die meist vernachlässigte Beziehung zur Bassregion, das Improvisieren, die Auseinandersetzung mit der Notenschrift usw. Diese Nachentfaltung ist auf dem Hintergrund von Jacobys Begabungskonzept zu sehen. In seiner Optik sind Erziehung, Unterricht und Gesellschaft die entscheidenden Faktoren jeder Leistungsqualität, d.h. hinter «Unbegabtheit» versteckt sich fast immer ein Mangel an Entfaltung, meistens entstanden durch eine ungeeignete 61

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Pädagogik, die häufig zu Ängsten und Enttäuschungen fuhrt und eine mangelnde Leistungsbereitschaft zur Folge hat. Jacoby setzt immer einen Vorrat an ungenutzten Möglichkeiten voraus; seine Pädagogik hat zum Ziel, solche Möglichkeiten freizulegen und daraus Fähigkeiten zu entwickeln. Die Tatsache, dass sich J acoby an Erwachsene wandte, bedeutet keineswegs, dass es ihm um Erwachsenenbildung im heute geläufigen Sinn ging. Obschon man seine Pädagogik in dieser An einsetzen könnte, zielte Jacoby selbst in eine ganz andere Richtung: Weil die Erwachsenen das pädagogische Geschehen dominieren, befinden sie sich in einer Schlüsselstellung. Die von Jacoby beabsichtigte Umorientierung muss-soll sie Aussicht auf Dauer haben-bei den Erwachsenen selbst beginnen; denn nur Eigenerfahrung kann vermitteln, worum es letztlich geht, erst sie schaffe die günstigen Voraussetzungen für ein bewusstes pädagogisches Wirken.-Eine besondere Rolle spielt dabei die Auseinandersetzung mit der Begabungsthese: Vorstellungen eigener Unbegabtheit sind im Erwachsenen meistens gut zementiert; bei ihm etwas in Bewegung gebracht zu haben, besitzt deshalb besondere Überzeugungskraft. Die Frage, ob eine solche Pädagogik ohne Jacobys Gegenwart, also im Alleingang praktizierbar sei, lässt sich nicht pauschal beantworten. Zahlreiche Musiker, die bereits nach alternativen Wegen suchten, haben sich durch Jacobys Texte bestätigt gefunden und aus ihnen Ermutigung und Anregung bezogen. Empfehlenswert scheint es mir, sich einen Ausflug in J acobys Allgemeinpädagogik zu erlauben. Man wird dort (z.B. auf körperlichem Gebiet) unbefangener und prinzipieller erproben, was mit Zustandsempfinden gemeint sei, wie man Routineverhalten bei sich selbst entdeckt und wie man sich mit ihm auseinandersetzen könnte. Jacoby sah die Aufgabe eines Lehrers nicht darin, dass er urteilt, korrigiert und Besseresvormacht. Der Lehrer sollte vor allem um günstige Erfahrgelegenheiten besorgt sein, an denen der Schüler sich entfalten und ein Eigenurteil bilden kann. J acoby verstehen bedeutet deshalb, an der Mentalität des Vormachens und Nachmachens zu zweifeln und sich für andere Funktionsweisen des Menschen zu interessieren. Wer Jacobys Ratschläge isoliert übernimmt, sich also nicht gleichzeitig um seine Vorstellung von echter Kultur und um sein Bild vom Menschen kümmert, verwendet «nur eine neue Methode, um auf alte Weise Musik zu machen».

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Heinz R. Gallist

Heinrich Jacoby heute Die Musikpädagogik - ganz besonders im Bereich Schulmusik - bewegt sich heute in einem Wechselbad didaktischer Ansätze und wird weitgehend von extremen Standpunkten geprägt: von der «Kunstwerkdidaktik» eines Michael Alt («Didaktik der Musik. Orientierung am Kunstwerk», Düsseldorf 1969) über Heinz Antholz («Unterricht in Musik», Düsseldorf 1972) und ein neues Gesamtverständnis von Musik in «Sequenzen» (Stuttgart 1972) und «Resonanzen» (Frankfurt/M. 1973) bis hin zu dem heute vorherrschenden didaktischen und methodischen Pluralismus, in dem musikerzieherisch ebenso «alles möglich» wie unverbindlich erscheint. Die moderne Musikerziehung scheint ohne ruhende pädagogische Ziel-Mitte zu sein: Dies ist u.a. das Resultat eines mangelnden historischen musikpädagogischen Bewusstseins. Zudem ist die Schulmusik weitgehenden Einschränkungen, etwa Kürzungen in den Stundentafeln, ausgesetzt, die den immer wieder geforderten zweistündigen Musikunterricht gegenstandslos werden lassen. Von einer Kontinuität des Musikunterrichts in Unter-, Mittel- und Oberstufe kann keine Rede mehr sein. Die Diskussionen in Deutschland um das zwölfjährige Gymnasium und die allgemeinen Einsparungen bei schulischen und privaten musikalischen Arbeitsgemeinschaften aller Art lassen die Fragen nach Stellenwert, Sinn und Gehalt der Musikerziehung dringend erscheinen. Fragen, auf welche die Kultustechnokraten mit Sicherheit keine Antwort geben werden, keine geben können. Das diffuse, uneinheitliche Bild der heutigen Musikerziehung bedarf einer nachhaltigen Lösung. Diese darf sich nicht darin erschöpfen, dass vorhandene Stoffpläne einfach auf das geforderte Stundenmass zurückgeschnitten werden. Notwendig ist vielmehr eine grundsätzliche Besinnung auf Chancen und Möglichkeiten einer zeitgemässen Musikerziehung und die Reduktion der vorhandenen Stoff- und Wissensfülle auf ihre essentiellen Aussagen. Genau da weisen Heinrich Jacobys musikerzieherischen Erkenntnisse, Schlussfolgerungen und Forderungen grosse Aktualität auf. Ein wesentlicher Zugang dazu findet sich in einem Vortrag Jacobys: «Es kann nicht scharf genug betont werden, dass nichts gebessert wird, wenn immer wieder neue Methoden zu den vielen schon vorhandenen erfunden werden. Es handelt sich bei allem, von dem hier die Rede war, nicht um eine neue Methode und nicht darum, Veränderungen und Verbesserungen irgendwelcher Art am heutigen Musikunterricht anzustreben .... Es handelt sich darum, aus einer anderen Einstellung, einer anderen Gesinnung einen anderen Weg nach anderen Zielen zu gehen ...» (Das ganze Zitat finden Sie auf Seite 9).

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Erfahrbereitschaft und Selbsttätigkeit

Der weitverbreitete Methodenpluralismus in der Musikpädagogik offenbart jedoch eine didaktische Ziellosigkeit, die letzten Endes jeden musikalischen Inhalt für den Schüler technisch zugänglich machen will. Dieser falschen Einstellung zu Aufgaben und Zielen des Musikunterrichts setzt Jacoby seine Ideen entgegen, die von «Einstellun~> und «Gesinnun~> zur Musik und ihrer Vermittlung spricht. Der vielschichtige und strapazierte Begriff vom «Schöpferischen im Menschen» wird von Jacoby denn auch musikdidaktisch konkretisiert: Es ist im Musikunterricht die «Erfahrbereitschaft» und die Selbsttätigkeit der Schüler zu fördern. Diese Selbsttätigkeit, in der pädagogischen Fachsprache «learning by doing», als eine entscheidende Grundforderung an Unterricht überhaupt formuliert, findet ihre didaktisch-methodische Konkretisierung in vielerlei Konzepten. Diese sind aktuellen Zeitströmungen unterworfen, tauchen deswegen unter immer wieder neuen Namen auf und verschwinden ebenso rasch wieder. Als Beispiel dafür sei das in den 70er Jahren als musikdidaktische «Revolution» gekennzeichnete Konzept eines neuen Gesamtverständnisses von Musik genannt, das seine Ausformung im Unterrichtswerk «Sequenzen» erhalten hat. Verschiedene Komplexe mit unterschiedlichen Funktionen gliedern das Werk in ein differenziertes Beziehungsgefüge, das einen optimalen Zugang zum Gegenstand Musik in den verschiedenen Ausprägungen herstellen soll. Die sechs Komplexe: Schall, Musik und Sprache, Hören und Verstehen, Schalleigenschaften, Formverläufe, Hörerfahrung und Gesamterfahrung lesen sich wie ein Extrakt aus Jacobys musikpädagogischen Schriften. Derartige Detailkenntnisse mögen für die Lehrer wichtig und aufschlussreich sein, für die Schüler hat der Musikunterricht jedoch immer von der Musik auszugehen und soll nicht von der Intention getragen sein, über den Umweg Musik andere Fähigkeiten zu vermitteln, z.B. Ausdauer. Grundsätzlich fördert jede tief empfundene Erfahrung das Kind oder den Jugendlichen in seiner Entwicklung. Dadurch geraten sie «in Bewegun~>. Heute ist eine durchaus wörtlich zu verstehende Bewegung damit gemeint, denn gerade die Umsetzung von Musik in Bewegung ist eine allgemein menschliche Verhaltensweise, die sich in vielfältigen Erfahrungsprozessen niederschlagen kann. In der Schule wird motorische Aktivität, ein wesentliches Merkmal kindlichen Verhaltens, häufig mit musikalischem Tun verbunden. So ist es auch nicht erstaunlich, dass in allen Lehrplänen gerade diese enge Verbindung von Musik und Bewegung zu einem wesentlichen Unterrichtsinhalt wird. Was hier heute als «integratives Unterrichtskonzept>> unter dem Aspekt neuer Inhalte artikuliert wird, gehört zur sogenannt modernen Musikpädagogik. Jacobys Beitrag dazu könnte folgendermassen formuliert werden: Als Gleichgewichtsübung zur äusseren Betriebsamkeit die innere Erfahrungsbereitschaft der Kinder und Jugendlichen nähren - Lauschen, Spannungsverläufen verschiedenster Art nachspüren.

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JACOBY HEUTE

Mensch und Musik

Die Aufgaben des Lehrers liegen nach Jacobys Auffassung nicht nur in der Vermittlung von Kenntnissen und im Weitergeben eigener Erfahrungen. Seine Forderung, «Erfahrungs-Gelegenheiten» zur individuellen Auseinandersetzung mit Musik zu schaffen, bedeutet, dass alles Tönende daraufhin zu untersuchen ist, was es mitteilen will. Die von Jacoby immer wieder gestellte Frage: «Ding, was willst Du von mir?» hat der Musikpädagoge zunächst an sich selbst zu richten, um eigene Erfahrungen zu sammeln, damit er danach dem Schüler entsprechende Erfahrungsgelegenheiten überhaupt anbieten kann. Diese Grundvoraussetzung für einen lebendigen Musikunterricht findet ihren deutlichen Niederschlag in der Forderung nach einem schüler- und situationsorientierten Verhalten des Lehrers. Die oben zitierte Frage: «Ding, was willst Du von mir?» lässt sich noch in einem anderen Sinn verstehen, nämlich als Frage nach der Beziehung des Menschen zur Musik: Was will sie für den Menschen, und welche Forderungen stellt sie an ihn? Im Musikunterricht dagegen wird Musik dem Schüler in der Regel als unantastbares Kunstwerk, als Sache, vorgesetzt. Jacoby geht mit seiner Frage zum Ursprung zurück: Er liess seine Schüler tastend an musikalische Inhalte herangehen. Eine derart unvorbelastete Zugangsweise bezieht das, was sich zwischen dem Schüler und der Musik abspielt, mit ein und zielt nicht in erster Linie auf die möglichst technische perfekte Wiedergabe des vorgelegten Werkes. Der Schüler kann dadurch seine Neugier, seine Erfahrbereitschafi: spielen lassen und gleichzeitig seine bereits erworbenen Fähigkeiten einbringen. An der Musik, die auf diese Weise entwickelt wird, kann sich die Persönlichkeit entfalten. Es ist eine Form der Produktion, die einen kreativen Umgang mit musikalischem Material im Sinne der heutigen Kreativitätsforschung beinhaltet. In dieser Begegnung mit der Musik entwickelt sich auch eine musikalische «Grund- und Alltagssprache» als Vorstufe zur Kunstsprache der Kunstwerke. Neben der Aufgabe, die oben erwähnte Beziehung zu ermöglichen, hat der Lehrer Impulse zu vermitteln, damit diese Beziehung aufrecht erhalten und gepflegt wird. Heute verwendet man dafür den Begriff «Didaktische Brücke». Sie weist den Lehrer auf seine Vermittlerrolle. Er hat in seiner Vorbereitungsarbeit die musikalische Entwicklungsstufe des Jugendlichen zu berücksichtigen und sich zu fragen, welche Erfahrungen den Schüler zu musikalischen Handlungen bewegen könnten. Dieses Brückenschlagen kann an jedem musikalischen Material verwirklicht werden. Neue Zugangsweisen

Der von Christoph Ritter in seiner Schrift «Theorie und Praxis der didaktischen Interpretation von Musilo> (Frankfurt/M. 1976) eingenommene Standpunkt geht meines Erachtens noch einen Schritt weiter als Jacobys Musikpädagogik, indem er nämlich den Erfahrungsbegriff als eine Erweiterung des Verstehensbegriffs be-

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schrieb. Er weist ihm drei Ebenen der Erfahrung zu: 1. musikalisch-technischmateriale Erfahrungen, 2. allgemeine musikalische Erfahrungen und 3. allgemeine fachübergreifende Erfahrungen. Diese Zugangsweisen des Schülers zur Musik sind bei Jacoby in dieser Form nicht zu finden. Er wird von Richter nicht zitiert, weil er ihn höchstwahrscheinlich nicht kennt. Aber nicht nur in bezug auf Jacoby erscheint es symptomatisch, wie die heutige Musikpädagogik mit ihrem historisch gewachsenen Kapital umgeht: es wird kaum mehr berücksichtigt. Dies erklärt allerdings das bereits erwähnte rasche Entstehen und Vergehen musikpädagogischer Modeströmungen. Typisch dafür ist, dass musikpädagogische Begriffe innert kürzester Zeit den vermeintlich aktuellen Erfordernissen angepasst und ausgetauscht werden. Richter spricht dort von «didaktischer Interpretation», wo Jacoby «Erfahrungs-Gelegenheiten» formuliert. Richters Verstehen von Musik beinhaltet die Verschmelzung des Schülerhorizontes mit demjenigen eines Musikstückes, was für den Schüler in allererster Linie elementare Erfahrungen im Umgang mit Musik bedeuten muss. «Die unmittelbare Verknüpfung von Werkanspruch und Höreinstellung, von