Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen: Behandlungsleitfaden für Psychotherapie und Beratung [1. Aufl. 2019] 978-3-662-58789-8, 978-3-662-58790-4

Dieses Buch führt Psychotherapeuten und Berater in relevante Facetten von Ungewissheitsintoleranz ein, verdeutlicht ihre

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German Pages XIV, 242 [247] Year 2019

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Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen: Behandlungsleitfaden für Psychotherapie und Beratung [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-58789-8, 978-3-662-58790-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick (Nils Spitzer)....Pages 1-15
Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen (Nils Spitzer)....Pages 17-41
Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten (Nils Spitzer)....Pages 43-61
Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft (Nils Spitzer)....Pages 63-86
Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen und andere belastende Auswirkungen (Nils Spitzer)....Pages 87-118
Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz (Nils Spitzer)....Pages 119-126
Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber Ungewissheit und die therapeutische Beziehung (Nils Spitzer)....Pages 127-139
Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen (Nils Spitzer)....Pages 141-169
Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen bei geringer Ungewissheitstoleranz (Nils Spitzer)....Pages 171-224
Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und Ungewissheitsbegeisterung (Nils Spitzer)....Pages 225-233
Back Matter ....Pages 235-242

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Psychotherapie: Praxis

Nils Spitzer

Ungewissheits­ intoleranz und die psychischen Folgen Behandlungsleitfaden für Psychotherapie und Beratung

Psychotherapie: Praxis

Die Reihe Psychotherapie: Praxis unterstützt Sie in Ihrer täglichen Arbeit – praxisorientiert, gut lesbar, mit klarem Konzept und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.

Weitere Informationen in dieser Reihe: http://www.­springer.­com/series/13540

Nils Spitzer

Ungewissheits­ intoleranz und die psychischen Folgen Behandlungsleitfaden für Psychotherapie und Beratung

Nils Spitzer Gladbeck, Deutschland

ISSN 2570-3285     ISSN 2570-3293 (electronic) Psychotherapie: Praxis ISBN 978-3-662-58789-8    ISBN 978-3-662-58790-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: © Mak / stock.adobe.com Verantwortlich im Verlag: Monika Radecki Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Vorwort Menschen sind im Alltag beständig mit Ungewissheiten konfrontiert. Die Fähigkeit, mit dem Ungewissen, Unsicheren zurechtzukommen, ist dabei individuell sehr verschieden ausgebildet. Manche können das Ungewisse ausgesprochen gut tolerieren und genießen es gelegentlich sogar, andere hingegen zeigen eine ausgeprägte Intoleranz gegenüber Ungewissheit – mit oft sehr belastenden Folgen. Ungewissheit … herrscht fast überall. Man weiß schließlich nie genau, was kommt. Weiß nur selten wirklich, wie eine Sache ausgeht. Ungewissheit bezeichnet eine auf die Zukunft gerichtete Form des Unbestimmten. Und die Zukunft entzieht sich letztlich dem menschlichen Wissen, denn sie ist einfach noch nicht da. Es ist ein wenig bestürzend, sieht man einmal etwas genauer hin – die Welt ist ein Ort mit zahllosen Unbekannten. Und schnell scheinen überall Risiken zu lauern: Arbeitslosigkeit oder Schlaganfall, Haarausfall oder Regenwetter im Urlaub. Selbst die Glücklichsten haben alles andere als ein restlos gewisses, absehbares Leben. Es gibt wenig bis nichts, was dagegen zu tun wäre – und diese Aussichtslosigkeit bezüglich einer kompletten Gewissheit ist beunruhigend. Kein Wunder, dass Menschen immer wieder von einer Welt ohne Zufälle träumen, einer berechenbaren und völlig geordneten Welt. Trotzdem müssen Menschen auch in dieser mit Ungewissheit durchsetzten Welt handeln, auch dort, wo die Folgen nicht ganz absehbar sind. Und das Handeln fällt ihnen verständlicherweise nicht leicht: Sie würden am liebsten abwarten, bis sie sicher sind wie in Abrahams Schoß, aber der Verstand rät ihnen, lieber von dieser Illusion Abstand zu nehmen und sich mit dem Ungewissen einzurichten. Natürlich ist es nicht immer heikel oder bedrohlich, nur ungefähr zu wissen, was kommt. Welchen Reiz hätte das Leben noch, wenn alles im Voraus bekannt wäre? Wo bliebe dann die begeisterte Neugier, mit der ein Geschenk aufgerissen wird, die Spannung, endlich zu erfahren, wie der Film ausgeht? Das Ungewisse betrachten Menschen also letztlich mit gemischten Gefühlen: Glückliche Zufälle sind wunderbar, aber nicht zu wissen, was die Zukunft bringt, ist belastend. Als vereinfachende Grundregel scheint aber zu gelten, dass Menschen Gewissheit der Ungewissheit vorziehen. Sie haben sozusagen eine Schlagseite in Richtung Gewissheit und legen eine beachtliche Risikoaversion an den Tag. Die meisten Menschen werden nun mit alltäglichen Ungewissheiten erstaunlich gut fertig, treffen relativ leicht Entscheidungen und verfolgen ihre Ziele auch im Unbestimmten. Andere tun sich mit dem Ungewissen hingegen sehr schwer. Die Psychologie versucht diese Schwierigkeiten einer Koexistenz mit dem Ungewissen durch den Begriff der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU)

VI Vorwort

zu fassen. Geringe Ungewissheitstoleranz ist eine Art kognitiver Filter, durch den jede Ungewissheit schnell als gefährlich, belastend oder den Selbstwert destabilisierend erscheint. Sie bedroht zudem die eigene H ­ andlungsfähigkeit und wird als ausgesprochen unfair wahrgenommen, weil anderen Personen sicher nicht derart viele Ungewissheiten zugemutet werden. Bei einem solch düsteren Blick auf das Ungewisse wundert es wenig, dass die Betroffenen dringend nach absoluter Gewissheit streben. Eine geringe Ungewissheitstoleranz kann zu einem gravierenden psychischen Problem werden. Unsicherheitssituationen lassen die wenigsten Menschen kalt, aber wenn sie auf eine besondere Ungewissheitssensibilität treffen, dann lösen sie besonders heftige Reaktionen aus. Manche Menschen begegnen unvertrauten, unklaren Lagen mit Offenheit und begreifen diese als Chance für neue Erfahrungen und Lerngelegenheiten, andere wählen eher defensive Strategien, mit denen sie versuchen, sich erneut Gewissheit zu verschaffen: Sie ergehen sich ängstlich in quälenden Sorgen oder anstrengendem Vergewisserungsverhalten wie einer nie endenden Informationssuche  – Ungewissheit wird hier zu einem bedeutendem Stressor. Über diesen und andere Wege wird Intoleranz gegenüber Ungewissheit auch klinisch ausgesprochen relevant. Eine inzwischen große Anzahl von Studien hat einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer geringen Ungewissheitstoleranz und den meisten psychischen Diagnosen nachgewiesen: Vor allem die Generalisierte Angststörung und die Zwangsstörung, aber auch andere Angststörungen, Depression und Autismus-Spektrum-Störungen scheinen enge Verbindungen zu ihr aufzuweisen, und es kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass Intoleranz gegenüber Ungewissheit einen wichtigen transdiagnostischen Faktor für fast alle psychischen Störungen darstellt. Psychotherapeuten und -therapeutinnen, Beraterinnen und Berater begegnen ihr dabei in sehr unterschiedlichen Gestalten: Eine Person mit einer Generalisierten Angststörung kann gar nicht mehr aufhören, sich über das, was alles passieren könnte, Sorgen zu machen. Eine andere mit einer Sozialen Phobie quält nach der Party die Ungewissheit, was die anderen Gäste nun wohl von ihr denken. Und was hat sie an diesem Abend eigentlich genau erzählt? War es sehr peinlich? Eine dritte Person mit einer Zwangsstörung kann sich von der Kontrolle der Wohnungstür erst losreißen, wenn sie den Eindruck völliger Gewissheit hat, dass die Tür auch wirklich abgeschlossen ist. War sie zu? Lieber noch einmal nachsehen, sicher ist sicher. Jemand mit einer hypochondrischen Störung muss einfach ganz genau wissen, ob dieser Fleck auf der Haut ungefährlich ist, und empört sich nebenher über die Ärzte, weil man doch von der modernen Medizin wirklich erwarten kann, dass sie einem hier restlos Gewissheit zu verschaffen vermag. Aber eine geringe Ungewissheitstoleranz und ihre gesundheitlichen Folgen sind nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern eng verbunden mit den in einer Gesellschaft auftretenden Unsicherheiten  – ebenso wie mit den Vorstellungen, die dort über einen idealen Umgang mit Ungewissheit kursieren. Gerade anhand

VII Vorwort

von Begriffen wie Intoleranz gegenüber Ungewissheit lässt sich anregend über das Verhältnis zwischen psychotherapeutischen Bemühungen und gesellschaftlichem Rahmen nachdenken. Seit den frühesten gesellschaftlichen Utopien träumen Menschen nicht nur von einer besseren, sondern auch von einer verlässlicheren Welt ohne unvorhersehbare Risiken. Manche S­ oziologen nehmen sogar an, dass die Ungewissheiten im Leben die treibende Kraft für die Bildung von Gesellschaften überhaupt waren – um Wohlstand und Überleben trotz des Ungewissen zu sichern. Gesellschaften sind auch Maschinen zur Produktion von Gewissheit. Doch seit etwa dreißig Jahren nehmen mit dem Rückbau des Wohlfahrtsstaates auch die Gewissheiten ab, und das Ungewisse, Unsichere bricht sich in der Gegenwartsgesellschaft erneut Bahn. Heute leben wir in einer Gesellschaft, in der Gewissheiten wieder zu einem knappen Gut zu werden drohen, ungewisse Umstände hingegen zu einer alltäglichen Erfahrung. Populäre Zeitdiagnosen wie die der Risikogesellschaft oder der Multioptionsgesellschaft bringen diesen Sachverhalt schon seit den 1990er-Jahren auf den Punkt. Zunehmende prekäre Lebenslagen verlangen vom Einzelnen wieder eine ausgeprägte Ungewissheitskompetenz, einen geschickten Sinn für das Ungewisse, der Ungewissheiten einzuschätzen weiß und auf sie zu reagieren versteht, ohne sich in anstrengendem Vergewissern zu erschöpfen oder in Sorgen zu ersticken. Ungewissheit und ein kompetenter Umgang mit ihr ist also ein Thema von heute. Dieses Buch verfolgt zuallererst und hauptsächlich psychotherapeutische und beraterische Ziele. Es informiert über den neuesten Stand der psychologischen Forschung zum Umgang mit dem Ungewissen und besonders zur Intoleranz gegenüber Ungewissheit: Wie definiert man eine geringe Ungewissheitstoleranz am besten? Welche Dimensionen gehören zu ihr? Wie hängen diese mit psychischen Störungen und anderen Belastungen zusammen? Im ausführlichen praktischen Hauptteil des Buchs wird detailliert vorgestellt, wie sich die verschiedenen Facetten geringer Ungewissheitstoleranz sensibel explorieren lassen und welche therapeutischen Interventionen zu ihrer Veränderung sinnvoll sind. Es ist hoffentlich von allen Gruppen aus dem therapeutischen Feld mit Gewinn zu lesen, Beratern wie Psychotherapeuten, Novizen wie alten Hasen, die einen Blick auf psychische Probleme auch jenseits störungsspezifischer Programme genießen. Mein herzlicher Dank geht an Monika Radecki und Hiltrud Wilbertz vom Springer Verlag sowie meiner engagierten Lektorin Dörte Fuchs für ihre unermüdliche und kenntnisreiche Unterstützung. Natürlich geht er besonders an meine Patientinnen und Patienten, die es mir überhaupt erst möglich gemacht haben, einen tieferen Einblick in ein Phänomen wie geringe Ungewissheitstoleranz zu gewinnen. Nils Spitzer

Gladbeck, Deutschland Frühjahr 2019

IX

Inhaltsverzeichnis 1

Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  1

1.1

 das Licht im Kühlschrank wirklich aus? Leben mit dem Ist Ungewissen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  4 Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) – die psychotherapeutische Seite des Ungewissen����������������������������������������������������������������������������������������������������  6 Eine Frühgeschichte geringer Ungewissheitstoleranz in der kognitiven Verhaltenstherapie ����������������������������������������������������������������������������������  8 Zum Inhalt des Buchs ���������������������������������������������������������������������������������������������������� 12 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 14

1.2 1.3 1.4

2

Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen������������������������������������������������������������������������������������������ 17

2.1 Was bedeutet Ungewissheit?�������������������������������������������������������������������������������������� 18 2.2 Ungewissheit und der Mensch – Errungenschaft, Schrecken, Reiz �������������� 20 2.3 Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?���������������������������������������������������� 23 2.3.1 Intoleranz gegenüber Ungewissheit – ihre kognitive Architektur �������������������� 25 2.3.2 Intoleranz gegenüber Ungewissheit – ihre Dynamik�������������������������������������������� 31 2.4 Unterschiede in der Intoleranz gegenüber Ungewissheit – ungewissere Lebensbereiche und intolerantere Personengruppen �������������������������������������� 35 2.5 Mögliche Ursachen einer geringen Ungewissheitstoleranz���������������������������� 37 2.6 Die Messung von Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) ���������������������������� 39 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 39 3

Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten������������������������������������������ 43

3.1 Varianten des Unbestimmten�������������������������������������������������������������������������������������� 44 3.1.1 Unsicherheit������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 44 3.1.2 Risiko ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 46 3.1.3 Ambiguität�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 47 3.1.4 Zufall ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 49 3.2 Tolerieren oder akzeptieren? Formen des Umgangs mit dem Ungewissen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 51 3.2.1 Frustrationstoleranz��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 51 3.2.2 Ungewissheitsakzeptanz als eine Facette der Realitätsakzeptanz? ������������������ 52 3.3 Ungewissheitstoleranz und Handeln������������������������������������������������������������������������ 54 3.3.1 Ungewissheitsorientierung�������������������������������������������������������������������������������������������� 54 3.3.2 Sensation Seeking������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 55 3.3.3 Vertrauen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 56 3.3.4 Kontrolle������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 58 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 60

X Inhaltsverzeichnis

4

Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft�������������������������������������������������    63

 Moderne: das Versprechen von Gewissheit und die Die Normalisierung des Ungewissen�����������������������������������������������������������������������������   66 4.2 Von der festen zur flüchtigen Moderne ���������������������������������������������������������������   68 4.2.1 Doppelte Entsicherung: Wegfall traditioneller Orientierungen und Abbau staatlicher Sicherungssysteme���������������������������������������������������������������������    69 4.2.2 Prekäre Lebenslagen: die ungleiche Verteilung von Ungewissheit ���������������    71 4.2.3 Multioptionsgesellschaft: die Schwemme schwer einzuschätzender Angebote �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    72 4.2.4 Unklarheit durch Wissen: die unbeabsichtigten Folgen der Wissensexplosion�����������������������������������������������������������������������������������������������������������    73 4.3 Sinn haben für das Ungewisse: Verlangt zunehmende Ungewissheit eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz?�����������������������������   74 4.3.1 Das resiliente Selbst – Wachsen an der Konfrontation mit dem Ungewissen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    76 4.3.2 Das unternehmerische und das kreative Selbst – Kalkül und Ideenfeuerwerk���������������������������������������������������������������������������������������������������������������    78 4.4 Gesellschaftliche Ungewissheitsbegeisterung und psychologische Ungewissheitstoleranz: Wie stehen sie zueinander?���������������������������������������   81 4.5 Die möglichen Folgen eines ungewissen Lebens���������������������������������������������   82 4.5.1 Ungewissheit und Gesundheit – die normalisierte Angst���������������������������������    82 4.5.2 Ungewissheit und Handlungsfähigkeit – Lähmung und Zaudern �����������������    83 4.5.3 Ungewissheit und das sinnvolle Leben – „Driften“ statt Identität�������������������    84 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   85 4.1

5

Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen und andere belastende Auswirkungen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������    87

 Direkte Folgen geringer Ungewissheitstoleranz – Sichsorgen, Angst und Vergewisserungsverhalten�������������������������������������������������������������������������������   90 5.1.1 Sorgen, Sorgen, Sorgen … und noch mehr Sorgen �������������������������������������������    91 5.1.2 Ungewissheitsgefühle �������������������������������������������������������������������������������������������������    94 5.1.3 Vergewisserungsverhalten bei geringer Ungewissheitstoleranz �������������������    95 5.2 Stress – Bindeglied zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und psychischen Störungen ���������������������������������������������������������������������������������������������   99 5.3 Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer Faktor psychischer Störungen�����������������������������������������������������������������������������������������������  100 5.3.1 Generalisierte Angststörung und geringe Ungewissheitstoleranz�����������������   102 5.3.2 Zwangsstörung und geringe Ungewissheitstoleranz�����������������������������������������   104 5.3.3 Generalisierte Angststörung und Zwangsstörung – Verwandtschaft angesichts des Ungewissen ���������������������������������������������������������������������������������������   106 5.3.4 Geringe Ungewissheitstoleranz und Soziale Phobie�������������������������������������������   107 5.3.5 Weitere Angststörungen und geringe Ungewissheitstoleranz �����������������������   108 5.3.6 Autismus-Spektrum-Störungen und geringe Ungewissheitstoleranz�����������   110 5.3.7 Depression und geringe Ungewissheitstoleranz�������������������������������������������������   111 5.1

XI Inhaltsverzeichnis

5.3.8 Essstörungen, vermehrter Alkoholkonsum und geringe Ungewissheitstoleranz�������������������������������������������������������������������������������������������������   112 5.3.9 Chronische körperliche Erkrankungen und geringe Ungewissheitstoleranz�������������������������������������������������������������������������������������������������   113 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  115

Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz���������������������������   119  Geringe Ungewissheitstoleranz als eigenständiges Therapieziel?�������������  120 Die große und die kleine Ungewissheitstoleranz – was soll überhaupt geändert werden? ���������������������������������������������������������������������������������  121 6.2.1 Ungewissheitsbegeisterung schaffen – „embracing uncertainty“ �����������������   123 6.2.2 Ungewissheitstoleranz fördern – die kleine psychotherapeutische Lösung�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   124 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  126 6

6.1 6.2

7

Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber Ungewissheit und die therapeutische Beziehung���������������������������������������������������������������������������������   127

 Ungewissheit, zwischenmenschlicher Umgang und die kognitive Verhaltenstherapie�������������������������������������������������������������������������������������������������������  129 7.2 Soll ich oder soll ich nicht? Ungewissheiten zu Therapiebeginn�����������������  131 7.2.1 Ungewissheiten in Bezug auf die eigenen Probleme�����������������������������������������   131 7.2.2 Ungewissheiten bezüglich des Beginns einer Psychotherapie�������������������������   133 7.3 Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Ungewissheiten im Laufe einer Psychotherapie���������������������������������������������������������������������������������������  133 7.3.1 Die besonderen Ungewissheiten der kognitiven Umstrukturierung�������������   136 7.4 Die Rigidität des Gewissheitsverlangens und wie man ihr in der therapeutischen Interaktion begegnen kann ���������������������������������������������������  137 7.5 Ambivalente Veränderungsmotivation bezüglich der eigenen geringen Ungewissheitstoleranz�����������������������������������������������������������������������������  138 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  139 7.1

8

Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen ���������������������������������������������   141

Über die Notwendigkeit des geduldigen Nachfragens�����������������������������������  143  Exploration typischer Episoden geringer Ungewissheitstoleranz Die und das individuelle Ungewissheitsprofil�����������������������������������������������������������  145 8.3 Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz���������������������������������������������������  146 8.3.1 Die Vermittlung des ABCs �������������������������������������������������������������������������������������������   147 8.3.2 Das A geringer Ungewissheitstoleranz: Situationen, in denen man nicht weiß, was kommt����������������������������������������������������������������������������������������������������150 8.3.3 Das C geringer Ungewissheitstoleranz: Emotionen, Vergewisserungsverhalten und kognitive Prozesse explorieren���������������������   154 8.3.4 Ziel-C: die situativen Ziele bei geringer Ungewissheitstoleranz erfragen�����   157 8.3.5 Das B geringer Ungewissheitstoleranz: die belastenden Kognitionen ermitteln���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   158 8.1 8.2

XII Inhaltsverzeichnis

8.3.6 Beispiel für eine komplette Exploration einer Ungewissheitsepisode�����������   163 8.3.7 Zusätzliche Metakognitionen explorieren�������������������������������������������������������������   165 8.4 Geringe Ungewissheitstoleranz – fehlende Kompetenz oder mangelnde Ressource?�����������������������������������������������������������������������������������������������  166 8.5 Was am Ende steht: eine Fallkonzeption des spezifischen Ungewissheitsprofils���������������������������������������������������������������������������������������������������  167 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  168 9

Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen bei geringer Ungewissheitstoleranz�����������������������������������������������������������   171

 Das Phänomen geringer Ungewissheitstoleranz anschaulich machen, für das Problematische daran sensibilisieren�����������������������������������  175 9.2 Interventionen für die sechs kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz�����������������������������������������������������������������������������������������������  177 9.2.1 Gewissheitsverlangen (Dimension 1): „Gewissheit ist absolut notwendig“ ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   179 9.2.2 Die Bedrohlichkeit des Ungewissen (Dimension 2): „Ungewissheit ist gefährlich“ �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   188 9.2.3 Das Anstrengende des Ungewissen (Dimension 3): „Ungewissheit ist belastend“ �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   193 9.2.4 Paralyse durch Ungewissheit (Dimension 4): „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“���������������������������������������������������������������������������������������������   195 9.2.5 Das Abwertende des Ungewissen (Dimension 5): „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“ �������������������������������   203 9.2.6 Gerechtigkeitsverlangen (Dimension 6): „Ungewissheit ist einfach unfair“ �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   210 9.3 Metakognitionen verändern – Vermittler zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und Sichsorgen���������������������������������������������������������������  212 9.4 Den Grad des Unklaren einer Sache richtig einschätzen – die Situationsstruktur „upgraden“���������������������������������������������������������������������������������  215 9.4.1 Von Unwissenheit zu Ungewissheit „upgraden“���������������������������������������������������   216 9.4.2 Von Ungewissheit zu Risiko „upgraden“�����������������������������������������������������������������   218 9.5 Ungewissheitstoleranz als Ressource wiederaufbauen�����������������������������������  221 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  222 9.1

10

Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und Ungewissheitsbegeisterung��������������   225

10.1

 Eigenkomplexität des Ungewissen genießen – Ungewissheit Die als Genuss? ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  228 Sich dem Ungewissen als Abenteuer stellen – das Unvorhersehbare als Möglichkeit der Veränderung ���������������������������������������  230 Resonanz für das, was das Ungewisse zu sagen hat ���������������������������������������  231 Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  232

10.2 10.3

Serviceteil Stichwortverzeichnis ����������������������������������������������������������������������������������������������������� 237

XIII

Über den Autor Nils Spitzer, Dipl.-Psych., M.A., ist Psychologischer Psychotherapeut (kognitive Verhaltenstherapie) in freier Praxis (7 www.­psycho­therapeutische-praxis-nils-spitzer.­de), Dozent, Autor zahlreicher Artikel und Mitherausgeber der Zeitschrift für Rational-Emotive & Kognitive Verhaltenstherapie. Neben Psychologie studierte er Soziologie und L­ iteraturwissenschaft.  

1

Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick 1.1

I st das Licht im Kühlschrank wirklich aus? Leben mit dem Ungewissen – 4

1.2

I ntoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) – die psychotherapeutische Seite des Ungewissen – 6

1.3

 ine Frühgeschichte geringer E Ungewissheitstoleranz in der kognitiven Verhaltenstherapie – 8

1.4

Zum Inhalt des Buchs – 12 Literatur – 14

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_1

1

2

1

Kapitel 1 · Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick

Kapitel 1 verschafft einen ersten Überblick über das Ungewisse und das Phänomen geringer Toleranz ihr gegenüber. Nach einer ersten Definition stellt es das Leben mit dem Ungewissen in den Kontext traditioneller Anthropologie und aktueller Gesellschaftsdiagnosen: Menschen tun sich schwer mit dem Ungewissen, aber die aktuelle Gesellschaft scheint ihnen mehr als zuvor davon zuzumuten. Darauf werden das psychologische Konzept einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit (UI) sowie deren belastende Auswirkungen vorgestellt. Schließlich wird die Frühgeschichte der Beschäftigung mit einer geringen Ungewissheitstoleranz in der kognitiven Verhaltenstherapie bis in die 1980er-Jahre skizziert, deren Einfluss in den heutigen Konzepten noch spürbar ist.

Fallbeispiel Das monatliche Treffen mit ihrer Schwester! Und wie sich Frau G. darauf freut! Beide sind um die Dreißig, ihr Leben ist wirklich voll, aber diesen einen Abend im Monat lassen sie sich trotzdem nicht nehmen. Sie gehen wie immer zusammen in ein Restaurant und plaudern den ganzen Abend über alles Mögliche. Obwohl … Eine Sache daran, wirklich nur eine Kleinigkeit, ist ihr schon etwas peinlich, wenn sie daran denkt. Seit Jahren sitzen sie beide dann jedes Mal in einem anderen Restaurant, studieren ausführlich die Karte, erwägen dies oder jenes Gericht … und bestellen dann: Wiener Schnitzel. Komisch eigentlich, dass sie immer das Gleiche bestellt, wundert sie sich. Und ihre Schwester auch. Aber schließlich sind es so seltene Abende zusammen … Was wäre, wenn sie etwas anderes, Exotischeres bestellen würden? Vielleicht schmeckt es ja einfach nicht. Und läge dann nicht irgendwie ein Schatten auf ihrem Treffen? Die Stimmung ginge vielleicht in den Keller. Das Gespräch verebbt, man spricht nicht mehr so unbefangen und angeregt wie sonst … Und dann? Irgendwie wüsste sie dann einfach nicht weiter. Der Abend wäre irgendwie verdorben. Besonders wahrscheinlich ist das nicht, aber wenn doch … Diese quälende Ungewissheit. Das hält sie wirklich nicht gut aus. Dann doch lieber die Sicherheit des Wiener Schnitzels. Ein bisschen langweilig ist das inzwischen natürlich schon. Eigentlich gefällt sie sich auch gar nicht so: Sie wäre gern dem Neuen gegenüber aufgeschlossener, offen für überraschende Erfahrungen, kleine Alltagsabenteuer. Wie man es heute eben sein sollte. Für einen kleinen Moment fühlt sie sich eingeengt, sogar ein klein wenig lächerlich. Sie linst von der Karte zu ihrer Schwester hinüber und sagt versuchsweise: „Vielleicht nehme ich diesmal was Vegetarisches?“ Mist. Keine Reaktion. „Oder warum nicht die geschmorte Lammschulter?“ Eigentlich könnte meine Schwester jetzt auch mal was sagen … Sie weiß doch, wie schwer ich mich damit tue. Die Unsicherheit will einfach nicht weichen. Wenn ihre Schwester wenigstens etwas sagen würde … Aber da ist der Kellner schon. Nein, das Risiko kommt ihr auf einmal viel zu groß vor. Besser nicht. Aber beim nächsten Mal wird bestimmt alles anders.

Ungewissheit herrscht fast überall, im Großen wie im Kleinen. Man weiß einfach nie genau, was kommt. Die Zukunft entzieht sich der genaueren Kenntnis, denn sie ist einfach noch nicht da. Das Unvorhersehbare ist Teil eines jeden Geschehens und versieht die Zukunft mit einer Prise Unberechenbarkeit. Was wäre, wenn es am letzten Tag des Urlaubs wolkiger gewesen wäre? Hätte ich dann vielleicht die Wanderung, bei der ich mich so unsäglich verlaufen habe, durch Lektüre im sicheren Sessel ersetzt? Komme ich morgen mit dem Auto pünktlich zur Arbeit, oder bleibe ich im Stau stecken? Wie wird

3 Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick

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die chronische Erkrankung weiter verlaufen? Ist dieses plötzliche Herzklopfen der Beginn einer Panikattacke, oder war der Kaffee heute früh einfach nur stärker als sonst? Nichts in dieser Welt sei sicher – außer dem Tod und den Steuern, hat der Politiker und Schriftsteller Benjamin Franklin einmal in einem Brief angemerkt. Das Erleben von Ungewissheit bezieht sich also in einer ersten Annäherung auf den Zweifel darüber, ob ein bestimmtes Ergebnis einer Handlung oder eine bestimmte Situation in Zukunft wirklich eintreten wird. „Ungewissheit – ist ein wesentliches Element des Lebens“ (Viertl und Yeganeh 2013, S.  271). Und in den allermeisten Lebenslagen scheint ein ungewisser Ausgang etwas wenig Erstrebenswertes zu sein – gewöhnlich ziehen Menschen Gewissheit der Ungewissheit vor. Die meisten fühlen sich zumindest ein wenig unbehaglich, wenn sie in eine Situation mit ungewissem Ausgang geraten. Eine ungewisse Zukunft wirkt schnell risikoreich, etwas Bedrohliches scheint auf den so Nachdenkenden zuzukommen: „Ob Karies oder Herzinfarkt, Drogenkonsum oder Jugendgewalt, ob körperliche Deformation oder psychische Erkrankungen, ob Terroranschläge oder Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln“ (Bröckling 2017, S. 80). Die Zukunft steht in ihrer Gestaltbarkeit wie ein riesiger offener Raum an Möglichkeiten und Gelegenheiten vor den eigenen Augen – und ein beständiges Sichsorgen ist die dunkle Seite dieser Offenheit des Menschen gegenüber der Zukunft. Manche Zeitdiagnostiker sprechen davon, dass viele Zeitgenossen sich heute in einer Art Sorgenkultur eingerichtet haben: Es ist, als seien ihre Gedanken oft wie obsessiv in die Zukunft und auf deren mögliche Gefahren gerichtet. Gerade in einer solchen Sorgenkultur besteht ein kaum zu überschätzendes Talent einiger Personen darin, diese allgegenwärtig präsente Ungewissheit relativ gut tolerieren zu können. Eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz gilt als erstrebenswerte Kompetenz, ja, folgt man psychologischen Weisheitstheorien, sogar als ein wichtiger Aspekt umfassender Weltklugheit. Der Weise kennt die dem Leben inhärente Ungewissheit und besitzt eine gleichmütige Toleranz ihr gegenüber, die das Leben erträglich macht, selbst in sehr unvorhersehbaren Lebenslagen: „Ungewissheitstoleranz ist das Gegenteil von Zukunftsangst und eine Form von Lebens-‚Mut‘“ (Sandau et al. 2009, S. 112). Dagegen gilt eine besondere Empfindlichkeit bezüglich der Unvorhersehbarkeiten des Lebens als eine Vulnerabilität, die nichts Gutes mit sich bringt. Psychologie und Psychotherapie versuchen seit etwa zwei Jahrzehnten, diese Empfindlichkeit unter dem Begriff Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) greifbar zu machen. Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) bezeichnet die interindividuell verschieden ausgeprägte Neigung, negativ auf ein ungewisses Ereignis oder eine ungewisse Situation zu reagieren, letztlich unabhängig von der Wahrscheinlichkeit eines möglichen negativen Ausgangs und der damit verbundenen Konsequenzen (Ladouceur et al. 2000).

Es ist dabei die pure Möglichkeit eines unerwünschten Ausgangs, die Ungewissheit selbst, die hier belastend wirkt, nicht die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens, ob nun richtig kalkuliert oder überschätzt. Menschen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz sehen sich von ungewissen Ausgängen schnell bedroht, fühlen sich wie gelähmt davon

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Kapitel 1 · Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick

und erleben Ungewissheit als wirklich nur schwer zu ertragen. Sie verlangen geradezu nach Gewissheit: Sie müssen die Ungewissheit dringend überwinden – und unternehmen viel dafür: Sie fragen z. B. andere Menschen nach Sicherheit, denken lange über alle möglichen Ausgänge einer Sache nach … aber ihre Suche nach Gewissheit hat selten ein befriedigendes Ende. Eine solche „Intolerance of Uncertainty“ (IU) gilt inzwischen als ein wichtiger transdiagnostischer Faktor für viele psychische Störungen (7 Abschn. 5.3). In diesem Buch geht es also um den therapeutischen Umgang mit den vielen Facetten einer solchen fast schon allgegenwärtigen „Intolerance of Uncertainty“ (IU). Es ist ein wichtiges und spannendes Konzept – mit einem leider sehr unglücklichen Namen. Der doppelten Negation (In-, Un-) lässt sich gedanklich nicht gut folgen. Denn was soll das schon sein – wenig von etwas (nämlich Toleranz) gegenüber der Abwesenheit von etwas (nämlich Gewissheit)? In den wenigen bisher unternommenen deutschen Übersetzungsversuchen findet man IU mit Unsicherheitsintoleranz übersetzt (z. B. Gerlach et al. 2008), was die Verständlichkeit nicht verbessert, sondern die doppelte Negation auch noch in ein einziges Substantiv packt. Zudem übersetzt es „uncertainty“ mit Unsicherheit, nicht mit Ungewissheit, was das Konzept enger mit der Vorstellung von Gefahr und Bedrohung vernäht als nötig (7 Kap. 3). Auch im Original wird ja schließlich nicht der Begriff „insecurity“ verwendet. Hier werde ich stattdessen die wortwörtliche Übersetzung Intoleranz gegenüber Ungewissheit im Wechsel mit der lesbareren Bezeichnung geringe Ungewissheitstoleranz verwenden. Aber auch dieser letzte Übersetzungsversuch hat trotz des Bonus an Lesbarkeit einen Haken: Die wichtigen Fragebögen zu diesem Konzept sind unipolar und messen eigentlich nur die Intoleranz gegenüber Ungewissheit oder ihre Abwesenheit  – Ungewissheitstoleranz, die positive Ausprägung, wird also von ihnen nicht erfasst. So bleibt letztlich jeder Benennungsversuch mit Mängeln behaftet, und ich bitte schon vorweg um Milde. Die Negation im Un-Gewissen drückt aber mehr aus als bloß sprachliches Ungeschick. Das Ungewisse steht in einer Reihe mit ähnlichen Negationsbegriffen wie dem Unklaren, Unbestimmten, Unheimlichen, Unerklärlichen, Unfassbaren, Übernatürlichen, Unglaublichen, Unsicheren oder Intransparenten, deren „Un“s, „In“s oder „Über“s anzeigen, was die damit benannten Situationen so unbehaglich macht: Mit ihnen verlässt man den Bereich des Beschreibbaren und betritt etwas, das nur als Aussparung oder Lücke in der Wirklichkeit noch zu kennzeichnen ist. Und die Intoleranz gegenüber der Ungewissheit, die oft von Angst begleitet wird, ist möglicherweise Teil einer allgemeineren „fear of the unknown“ (Carleton et al. 2016, S. 58), wie sie gerade diese Negationen fassen können.  



1.1  Ist das Licht im Kühlschrank wirklich aus? Leben

mit dem Ungewissen

Der Umgang mit Ungewissheit wird in der philosophischen Anthropologie häufig zur Gruppe der Existenzialien eines Menschenlebens gerechnet  – man kann ihr einfach nicht entgehen: Der Mensch muss sich um das sorgen, was kommt, sich mit der Erfüllung seiner Bedürfnisse und Wünsche beschäftigen, mögliche Gefahren abwehren, kurzum, sich um die nahe und ferne Zukunft kümmern. Und das, was kommt, ist nie

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vollkommen klar und determiniert. Als eine Stimme von vielen sieht daher der Philosoph Hans Blumenberg im Menschen ein riskantes Lebewesen, das sich selbst misslingen kann (Blumenberg 2006). Aber auch schon diesseits der Schwere solcher heroischen Worte, im Alltag, scheint Ungewissheit dem Menschen wirklich lästig werden zu können – die Stunden bis zur Gewissheit werden ihm oft unerträglich lang. Der Mensch und das Ungewisse ist auch ein Stoff für die Satire: Ein Mann schlendert z. B. durch die Straßen und bleibt vor einem Uhrenladen stehen. Beiläufig liest er eine Werbung  – Leuchtet Ihre Uhr des Nachts? –, und eine seltsame Unbehaglichkeit befällt ihn, wo er doch bis zu diesem Moment recht zufrieden durch den Tag geschlendert ist: „Was, sage ich, hat das alles für einen Nutzen und Gewinn, wenn ich nicht weiß, ob meine Uhr des Nachts leuchtet? […] Ich fieberte den ganzen Tag. Ich aß nichts. Ich saß stier und verstört im Café Glasl vor einer Schale Nuß und dachte nur den ganzen Tag: Leuchtet meine Uhr des Nachts? … Leuchtet meine Uhr des Nachts? […] Wenn es doch erst Abend … Wenn es doch erst Nacht wäre!“ (Klabund 1983, S. 38). Es braucht nicht viel, und schon entfaltet die quälende Wirkung eines unerfüllten Verlangens nach Gewissheit ihre ganze lähmende Kraft. Denn die zügige Beseitigung des Ungewissen ist durch die prekäre Lage des Menschen in der Zeit nicht ganz so einfach, schließlich verhält es sich mit der Zeit anders als mit dem Raum, durch den er sich willentlich bewegen kann, um sich schnell darüber Gewissheit zu verschaffen, was eigentlich da hinten in der Ecke herumliegt (und so komisch funkelt aus der Ferne). Die Zukunft hingegen muss der Mensch auf sich zukommen lassen, bestenfalls kann er sie vage abschätzen. Er muss beständig in einen beweglichen und vor allem beschränkten Horizont hinein handeln – manchmal sind die Folgen relativ gut abzuschätzen, aber oft genug sind sie radikal ungewiss. Weil Menschen als weltoffene Wesen ihr Leben führen, weil sie handeln müssen, ist ihr Verhältnis zur Zukunft von einem elementaren Paradox bestimmt: Sie sind zur Antizipation genötigt, auch wenn das Künftige empirisch unerreichbar bleiben muss. Eine solche existenzielle Sicht auf Ungewissheit wird differenziert durch den Einfluss der Gesellschaft auf das Gewisse und Ungewisse im Leben. Manche Soziologen sehen in der Herstellung von Sicherheit und Gewissheit eines der Hauptmerkmale menschlicher Gesellschaftsentwicklung. >> „Ungewissheit war wahrscheinlich die treibende Kraft für die Bildung von Gesellschaften überhaupt, um Sicherheit, Prosperität und Überleben zu verbessern“ (Kolliarakis 2013, S. 313).

Viele sehr alte kulturelle Einrichtungen wie Hellsehen, Orakel oder Zauberei dienten bereits dem Herstellen von Gewissheit. Es sind Techniken gegen das Ungewisse, ebenso wie etablierte Sprichwörter, welche die Komplexität menschlichen Verhaltens reduzieren („Stille Wasser sind tief “), Bauernregeln, die helfen, das Wetter vorherzusagen („Ein feuchter März ist des Bauern Schmerz“), oder Redewendungen, die noch dem Zufälligsten eine vorhersagbare Ordnung abgewinnen sollen („Wenn’s kommt, dann kommt’s dicke“). Meist soll dabei natürlich einer Bedrohung oder einem Schaden vorgebeugt werden. Manchmal aber sorgt die Eigendynamik einer Gesellschaft für das genaue Gegenteil von zunehmender Gewissheit, und viele Gegenwartsdiagnostiker gehen davon aus, dass das Ungefähre gerade in der aktuellen Gesellschaft besonders hervorbricht.

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Kapitel 1 · Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick

>> „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Gewissheiten zu einem knappen Gut, Ungewissheit, Riskanz und Prekarität individueller Lebensführung zur alltäglichen Erfahrung Vieler geworden sind“ (Lantermann et al. 2009, S. 167).

Bewährte Orientierungssysteme wie Geschlechterrollen, Altersnormen oder die traditionelle Familie gehen ebenso zurück wie staatliche Sicherungssysteme. Die Lebensführung individualisiert sich, Wissen explodiert und wandelt sich zunehmend schneller. Dabei ist die Zunahme an Ungewissheit nicht für alle gleich: Je privilegierter die soziale Lage einer Person, desto größer ist die Planbarkeit ihrer Zukunft und desto eher können eventuelle Gefährdungen in Risiken umgewandelt werden, zu deren Bewältigung Handlungen zur Verfügung stehen (Koppetsch 2013). Mit der Zunahme gesellschaftlich bedingter Ungewissheiten wird den Menschen auch ein anderer Blick auf das Phänomen Ungewissheit selbst nahegelegt – weg davon, Gewissheiten vom Staat einzufordern, hin zu der individuellen Kompetenz, mit Ungewissheit gut umgehen zu können. Unter dem bisherigen modernen Paradigma der Berechenbarkeit, Planbarkeit und Beherrschung von Risiken galt Ungewissheit als Störung, die gefährlich ist und beseitigt werden muss: Ungewissheit ist danach etwas Negatives, allerdings beherrschbar, und es gilt als Ideal, sie zu eliminieren. Im Kontrast dazu steht ein aktueller Blick auf Gewissheit als Illusion und Ungewissheit als eigentliche Normalität. Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob Ungewissheit noch zu beseitigen wäre, sondern die Frage wird zentraler, wann sie nachteilig für das Handeln und wann sie im Gegenteil eine Chance oder sogar eine Ressource ist (Kolliarakis 2013).

1.2  Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) – die

psychotherapeutische Seite des Ungewissen

Relativ unberührt von Mutmaßungen über die existenzielle Rolle des Ungewissen im Menschenleben oder kritische Überlegungen über eine Inflation ungewisser Lebenslagen in der Gegenwartsgesellschaft konzentriert sich die Psychotherapie auf Ungewissheiten im Alltag und wie man sie und die belastenden Folgen einer geringen Ungewissheitstoleranz am besten aushält: Mit Ungewissheit umgehen zu müssen ist ein unvermeidbarer Bestandteil des Alltagslebens  – weil Menschen nicht in die Zukunft sehen können, aber gewöhnlich unter Handlungsdruck stehen und zügig entscheiden müssen, reicht die Zeit selten aus, alle Einflüsse zu durchdenken. Oft ist es ihnen also praktisch unmöglich, alles über ihre Umwelt im Voraus zu erfahren, und es bleiben nur mehr oder weniger abgesicherte Schätzungen und Vermutungen. Immerhin können sie meistens die Grenze ihres Unwissens mit Anstrengung und Geduld noch etwas hinausschieben und der Ungewissheit ein wenig Terrain abtrotzen. Aber lohnt sich der Aufwand? Das Problem liegt normalerweise darin, dass wir nicht beliebig großen Aufwand treiben wollen oder können, um die Wirklichkeit zu erforschen und so bessere Vorhersagen zu machen. Gerade im Alltag findet Handeln und Entscheiden fast immer unter Zeitdruck und daher unter fehlendem Wissen statt. Und trotzdem – die meisten Menschen kommen mit dieser alltäglichen Ungewissheit ohne viel Aufheben ganz gut zurecht: „In everyday life, we are required to make many choices, appraisals, and decisions, usually with an insufficient amount of information, a limited

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timeframe, conflicting emotions, and some degree of uncertainty with regard to the outcome. Yet, most individuals manage to deal with these constraints and are able to make decisions of minor or major significance with relative ease under such conditions“ (Koerner und Dugas 2006, S. 212 f.). Insgesamt scheint es also von Vorteil, dem Leben mit einer ausgeprägten Ungewissheitstoleranz zu begegnen, statt überall an mögliche Gefahren zu denken, sich das Hirn darüber zu zermartern, ob die eigene Uhr des Nachts leuchtet, oder sich mit findigem, aber aufwendigem Kontrollverhalten Gewissheit darüber zu verschaffen, ob das Licht im Kühlschrank wirklich erlischt, wenn man dessen Tür schließt. Problematisch wird es dagegen, wenn diese alltägliche Notwendigkeit, sich dem Ungewissen zu stellen, auf eine individuelle Empfindlichkeit gegenüber dem Unvorhersehbaren trifft. Psychologen versuchen diese Aversion gegenüber dem Unbekannten und die Belastungen, die sich daraus ergeben können, mit dem Begriff Intoleranz gegenüber Ungewissheit – „Intolerance of Uncertainty“ (IU) – zu erfassen. Er kennzeichnet Menschen, die existenzielle oder auch nur alltägliche Unklarheiten nur schwer akzeptieren und aushalten können und schon damit dem alltäglichen Leben eine besondere Verwundbarkeit entgegenbringen. Gerade gegenüber Ungewissheit besonders intolerante Menschen finden es oft schwierig, mit unvermeidlich ungewissen Lebenssituationen oder -lagen halbwegs ausgeglichen zu koexistieren. Eine geringe Ungewissheitstoleranz wird dabei gewöhnlich als ein ganzer Strauß kognitiver Schemata definiert, „distorted beliefs about uncertainty“ (Fama und Wilhelm 2005, S. 265) – negative Überzeugungen in Bezug auf die Ungewissheit selbst oder ihre Folgen, die sich in Aussagen oder Gedanken wie diesen wiederfinden lassen: „Man kann sich über eine Sache absolut sicher werden, wenn man sich nur genug anstrengt“, „Unklarheit halte ich einfach nicht aus“ oder „Wenn ich bei einer Sache nicht absolut sicher bin, werde ich zwangsläufig Fehler machen“. In der Folge führen solche Ansichten zu einer Unfähigkeit, mit widersprüchlichen, unklaren Situationen oder ungewissen Folgen angemessen umzugehen. „Intoleranz gegenüber Ungewissheit manifestiert sich in der exzessiven Tendenz, ungewisse Situationen als stressbelastend und aufregend anzusehen, überzeugt zu sein, dass unerwartete Ereignisse negativ sind und vermieden werden sollten, sowie daran zu denken, dass es unfair ist, keine Gewissheit bezüglich der Zukunft zu haben. Darüber hinaus führt Intoleranz gegenüber Ungewissheit zu Handlungsunfähigkeit, wenn man einer ungewissen Situation gegenübersteht“ (Dugas et al. 2005, S. 58; Übers. v. Autor).

Die von einer geringen Ungewissheitstoleranz Betroffenen strengen sich in ungewissen Situationen extrem an, um die Lage doch noch zu kontrollieren und auch die geringfügigsten Ungewissheiten zu eliminieren. Und oft verwenden sie dabei Bewältigungsstrategien, die wiederum belastende Folgen haben. Ein ausgeprägtes Sich-­Sorgen ist bei Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz z. B. besonders verbreitet, um sich über alle möglichen Ausgänge einer ungewissen Lage Gewissheit zu verschaffen (Robichaud und Dugas 2015).

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Fallbeispiel Noch einmal Frau G., die ihren Wagen zur Jahresinspektion bringen musste. Eigentlich war alles in Ordnung, nur eine Routinekontrolle. Bis zum Nachmittag, dem Abholtermin, lässt sie aber die Beschäftigung mit dem, was mit ihrem Wagen sein könnte, nicht mehr los. „Was, wenn es größere Probleme gibt? Das könnte teuer werden … O Gott! Was, wenn ich es mir gar nicht mehr leisten kann? Vielleicht kann ich dann ja eine Ratenzahlung vereinbaren. Aber was, wenn die Werkstatt die nicht akzeptiert? Dann habe ich plötzlich keinen Wagen mehr, vielleicht für länger. Das heißt, es wird schwierig, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Und eigentlich wollten ich und mein Partner damit doch bald in den Urlaub fahren … Aber vielleicht können wir ja auch seinen Wagen nehmen. Aber wenn nun …“

Inzwischen hat sich IU als ein bedeutender transdiagnostischer Faktor für eine ganze Reihe psychischer Störungen und Probleme etabliert, allen voran für die Generalisierte Angststörung und für Zwangsstörungen. Aber auch bei anderen Angststörungen wie der Sozialen Phobie, bei Depressionen und Essstörungen, bei Autismus und bei der Verarbeitung chronischer körperlicher Krankheiten spielt die Intoleranz gegenüber Ungewissheit eine bedeutende Rolle (7 Abschn. 5.3). Es lohnt sich also, auf diesen transdiagnostischen Faktor vorbereitet zu sein und therapeutisch mit ihm umgehen zu können.  

1.3  Eine Frühgeschichte geringer Ungewissheitstoleranz

in der kognitiven Verhaltenstherapie

Jahrzehntelang waren Ungewissheit, der angemessene oder unangemessene Umgang mit ihr und die möglichen belastenden Folgen kein wirklich eigenständiges Thema in der kognitiven Verhaltenstherapie. Ungewissheitstoleranz verschwand hinter den größeren und offensichtlicheren kognitiven Themen, wie z. B. der Gefahrenüberschätzung mit ihrer großen Bedeutung vor allem für die Angststörungen oder dem Perfektionismus, die viel mehr Interesse auf sich zogen. Trotzdem stößt man bereits 1962 auf erste Spuren einer Beschäftigung mit Ungewissheit und ihrer Rolle für seelische Belastungen: im psychotherapeutischen Hauptwerk von Albert Ellis, Reason and Emotion in Psychotherapy, in dem er die Umrisse der Rational-­ Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) skizziert. Die letzte der von ihm hier aufgelisteten elf irrationalen Überzeugungen charakterisiert vordergründig einen problematischen Perfektionismus: „Irrationale Überzeugung Nr.  11: Die Vorstellung, dass es für jedes menschliche Problem eine absolut richtige, perfekte Lösung gibt, und dass es eine Kata­ strophe sei, wenn diese perfekte Lösung nicht gefunden wird“ (Ellis 1997, S. 156). In der folgenden näheren Beschreibung dieser irrationalen Überzeugung zeigt sich allerdings, dass hier Intoleranz gegenüber Ungewissheit heimlich unter der Fahne des Perfektionismus mitsegelt, denn das Verlangen nach einer perfekten Lösung scheint auch ein Gewissheitsverlangen für Ellis zu implizieren, dem er gleich eine klare Absage erteilt: „Soviel wir wissen, gibt es weder Sicherheit, Vollkommenheit noch absolute Wahrheit in der Welt.“ Denn wir Menschen leben „in einer Welt der Wahrscheinlichkeit und des Zufalls und können außerhalb unserer selbst keiner Sache sicher sein“ (Ellis 1997, S.  157; Hervorhebung v. Autor). Die beiden Bestrebungen nach perfektionistischer

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Vollkommenheit und absoluter Gewissheit bilden hier also zusammen einen großen Bereich irrationaler Überzeugung, der einer Welt der Wahrscheinlichkeiten, in der wir leben, insgesamt nicht gerecht wird. Wenn auch nicht klar ausdifferenziert, wird Ungewissheit hier schon ab den 1960er-Jahren als ein Problembereich geahnt – und Ungewissheitstoleranz als erstrebenswerte Kompetenz klingt ebenfalls bereits an. Allerdings lässt sich den Formulierungen leicht entnehmen, dass die Intoleranz gegenüber Ungewissheit hier noch deutlich im Schatten des Konzepts Perfektionismus steht (Spitzer 2016). Erst Jahre später gewinnt eine geringe Ungewissheitstoleranz in der REVT eine größere konzeptuelle Eigenständigkeit: „Später hat Ellis diesen Vorstellungen [den elf irrationalen Überzeugungen] noch einen Gedankengang hinzugefügt: (12) Die Vorstellung, daß es unmöglich ist, mit Wahrscheinlichkeiten oder Unsicherheiten zu leben“ (Diekstra und Dassen 1982, S. 60). Häufiger als den Versuch, eine Intoleranz gegenüber Ungewissheit als Problem zu beschreiben, finden sich Passagen, in denen umgekehrt eine Akzeptanz von Ungewissheit unter die Therapieziele der REVT eingeordnet wird: „Emotionally mature men and women acknowledge and accept the fact that we live in a world of probability and chance, where absolute certainties do not, and probably will never, exist. They realize that it is not horrible – indeed, it is often fascinating and exciting – to live in this kind of probabilistic and uncertain world. They enjoy the degree of order but don’t whiningly demand or command it“ (Ellis 1979, S. 56). Ähnlich klingt es in einem frühen Lehrbuch der REVT: „In unserer Welt ist vieles ungewiß und dem Zufall ausgesetzt, und das Leben kann trotzdem genossen werden“ (Walen et al. 1980, S. 96). Bis heute findet die Ungewissheitstoleranz ein Reservat in der REVT, ohne je eines ihrer zentralen Konzepte geworden zu sein. Eine hohe Ungewissheitstoleranz taucht meist eher knapp unter den Kriterien einer guten mentalen Gesundheit auf. Sie ist auch hier dadurch charakterisiert, dass „People with GMH [good mental health] do not demand that they must know what is going to happen to them or to others“ (Dryden und Neenan 1996, S. 145). Stattdessen besitzen diese gesunden Personen die Fähigkeit, „to adapt or reconcile oneself to an unpredictable and unstable world“ (Dryden und Neenan 1996, S. 145). Ungewissheitstoleranz gilt also ganz allgemein als ein Kriterium psychischer Gesundheit, ein ausgeprägtes Verlangen nach Gewissheit blockiert dagegen die eigene Handlungsfähigkeit. In Aaron T. Becks Kognitiver Therapie muss man nach frühen Spuren der Beschäftigung mit Ungewissheit noch akribischer suchen. In Becks bahnbrechender Arbeit über die kognitive Therapie von Depression, veröffentlicht 1979, findet sich nur eine kurze Passage zur Ungewissheit – unter dem Stichwort Unentschlossenheit: „Depressive Menschen glauben oft, absolute Gewißheit über die Richtigkeit einer Entscheidung haben zu müssen. Der Therapeut muß ihnen erklären, daß es im Leben keine absolute Gewißheit gibt. Es existieren keine Garantien, daß günstige oder ungünstige Ereignisse geschehen oder nicht geschehen werden. […] Die rationale Reaktion sei, daß niemand absolute Gewißheit oder ‚Richtigkeit‘ erwarten könne. Niemand könne die Zukunft voraussagen“ (Beck et al. 1992, S. 233 f.). Auch in seinem Buch über die kognitive Therapie von Angststörungen findet sich nur eine knappe Bemerkung darüber, wo eine kognitive Umstrukturierung zum Aufbau größerer Ungewissheitstoleranz ansetzen sollte: „‚Are you thinking in terms of certainties instead of probabilities?‘ Patients often demand a degree of certainty that is unattainable. Many anxious people want to have

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100-percent assurance that what they fear will not happen. It is helpful to point out to patients that there is often a 10-percent uncertainty factor that everyone has to live with. Thus, patients confronted with an ambiguous situation can see it as a part of this uncertain 10 percent“ (Beck und Emery 1985, S. 198). Auch der frühe Mitarbeiter von Beck, David Burns, Autor des Selbsthilfe-Bestsellers Feeling good. The new mood therapy, berührt das Thema Ungewissheit nur sehr knapp am Ende des Ratgebers, wenn auch auf originelle Weise – in dem Kapitel „Coping with uncertainty and helplessness: The woman who decided to commit suicide“ (Burns 1980, S. 368). An einem Montagvormittag findet Burns, so erzählt er hier, unter der Tür seines Behandlungszimmers durchgeschoben den Brief einer Patientin, der darauf hinweist, dass sie möglicherweise vorhat, sich umzubringen. Es geht also um die Ungewissheit, die Psychotherapeuten manchmal aushalten müssen, nicht um diejenige der Patientin. Sehr beunruhigt holt sich Burns Rat bei seinem Kollegen Aaron T. Beck. Dieser verordnet ihm eine kognitive Umstrukturierung, die sich aber mehr damit beschäftigt, die Gefahr nicht zu überschätzen und die eigene Verantwortung für einen möglichen Selbstmord realistisch einzuschätzen. Burns listet sehr offen seine Gedanken und Umstrukturierungen zu diesem Erlebnis auf. Interessanterweise scheint er hier mehr unter einer zu großen Gewissheit negativer Ausgänge als unter Ungewissheit zu leiden: Die Eltern seiner Patientin werden bestimmt sehr wütend auf ihn sein, ebenso werden die Kollegen verärgert reagieren. Die Intervention besteht nun vor allem darin, stattdessen ein Wahrscheinlichkeitsdenken anzuwenden: Über die Reaktion der Eltern kann er letztendlich ja noch gar nichts sagen, die Zukunft ist noch offen, und eine negative Reaktion der Kollegen ist eher unwahrscheinlich. Schließlich hat die Geschichte ein Happy End: Die Patientin überlebt ihren Selbstmordversuch und erholt sich im Laufe der weiteren Behandlung von ihrer Depression. Die frühen kognitiven Therapien zeigen in diesen Zitaten insgesamt weniger ein genuines Interesse an einem unangemessenen Gewissheitsverlangen oder einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Ungewissheit als an ihrem Gegenteil – dem Ideal einer wissenschaftlichen Grundhaltung dem Leben gegenüber. Geringe Ungewissheitstoleranz erscheint nur als einer von mehreren Verstößen gegen das wissenschaftliche Ideal. Sie ist nur eine von mehreren alltäglichen Verbohrtheiten gegenüber der Wahrscheinlichkeitsorientierung wissenschaftlichen Denkens, weniger ein Thema mit eigenem Recht. Besonders die Kognitive Therapie von Aaron T. Beck ist ja durch diese Bewunderung der Wissenschaft und des Wissenschaftlers geprägt. Die gesamte Kognitive Therapie entstand sozusagen als eine Art Training in alltäglicher Wissenschaftlichkeit: Wissenschaft gilt ihr als erfolgreiches Modell für das Schaffen von wirklichkeitsnahen Bedeutungen und sinnvollem Handeln, erkennbar an Redewendungen wie der vom Menschen als praktischem Alltagswissenschaftler, der Therapie als kollaborativem Empirismus und der Welt als Labor des Alltagslebens (Russell 1991). Beck „lehrt Patienten, Wissenschaftler in ihren eigenen mentalen Laboratorien zu werden“ (Rosner 2002; S. 10, Übers. v. Autor). Aber auch Albert Ellis hatte seine REVT stark auf Wissenschaftlichkeit ausgerichtet, manchmal geizte er dabei nicht mit Pathos: „if people only and purely think scientifically (which, to be realistic, they most probably will never completely do), if they virtually never are dogmatic, absolutistic, pious and sacramental in their attitudes towards themselves, towards other humans, and towards the world, practically all their ‚emotional‘ disturbance […] would disappear or be minimized“ (Ellis 1983, S. 33).

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Ein ausgeprägtes Gewissheitsverlangen widerspricht nun dem Blickwinkel einer wissenschaftlichen Weltsicht, die eben nur eine Lebensphilosophie der Wahrscheinlichkeit und Vorläufigkeit bietet – und so findet man in den frühen Texten kognitiver Therapien immer wieder die bohrende Frage an Patienten: „Are you thinking in terms of ­certainties instead of probabilities?“ (Beck und Emery 1985, S. 198). Die Idealisierung der Wissenschaftlichkeit in den kognitiven Therapien muss man dabei als ein Zeitphänomen verstehen. In ihren Entstehungsjahrzehnten – in den USA der 1950er-Jahren und darüber hinaus – hatte der Glaube an ein besseres Leben durch technischen Fortschritt Konjunktur. Wissenschaft und Technologie galten als zentrale Hoffnungsträger, um die moderne Massengesellschaft und ihre Entwicklung zu ordnen und auch individuell zu größerem Wohlstand, mehr Freizeit und Zufriedenheit für alle Menschen zu führen (Spitzer 2017): Wissenschaft und Technik, so der Ton der Zeit, könnten dem Menschen helfen, eine neue, bessere Welt zu erschaffen; eine Welt ohne Vorurteile, Aberglaube, Ignoranz und Missgunst. Auch die Ausdehnung staatlicher Verantwortung auf die mentale Gesundheit der Bevölkerung – sie wurde während des Kalten Krieges besonders in den USA „zu einer Alternativideologie zum Kommunismus“ (Ingenkamp 2012, S. 166) – war Teil einer allgemeinen unpolitischen Wissenschaftsgläubigkeit der 1960er-Jahre im Westen. Mentale Gesundheit verschmolz also mit der Utopie, mit wissenschaftlichen Mitteln eine Welt ohne Konflikte oder Unterdrückung zu schaffen. Viele Entwicklungen förderten eine solche allgemeine Wissenschaftsbegeisterung. Ein Einflussfaktor, der die amerikanische Gesellschaft in Richtung einer starken Betonung wissenschaftlicher Rationalität brachte, war die Irrationalität der von Europa geführten Weltkriege: Man war „delighted in contrasting American rationality with European ungoverned impulses“ (Stearns 1994, S. 201). Zudem verlangte die Entstehung großer Verwaltungsbürokratien seit den 1920er-Jahren nach neuen Tugenden im zwischenmenschlichen Umgang – ein rationales Auftreten und das Vermeiden emotionaler Intensität sicherten hier einen berechenbaren Umgang unter Menschen. Es herrschte also gerade zur Entstehungszeit der kognitiven Therapien ein ausgeprägt wissenschaftlich-technokratisches Bewusstsein mit einem großen Vertrauen in die positive Wirksamkeit wissenschaftlich abgesicherter Entwürfe – die Utopie einer durch wissenschaftlich-technische Planungsrationalität weitgehend befriedeten Gesellschaft. Diese Wissenschaftsbegeisterung hat sich spätestens seit den 1980er-Jahren vor allem durch anhaltende ökonomische und gesellschaftliche Krisentendenzen deutlich abgekühlt, und der Begriff des Risikos ist populär geworden, um den anfänglichen wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus der 1960er- und 1970er-Jahre infrage zu stellen: Technische Entwicklungen tragen z.  B. dazu bei, dass die Finanz- und Wirtschaftsmärkte fragiler werden, und das Wachstum und die zunehmende Verbreitung des wissenschaftlichen Wissens produzieren oft eher größere Unsicherheit und Zerbrechlichkeit, statt Gewissheit und Sicherheit zu schaffen (Heidenreich 2002). Und auch die damaligen gesellschaftlichen Leitfiguren des Wissenschaftlers und des Ingenieurs, die für liberale Werte, Leistungsorientierung, Gemeinschaftsgeist und Uneigennützigkeit standen (Bell 1979), sind längst abgelöst von anderen Subjektidealen und Vorbildern, z.  B. dem Unternehmer seiner selbst (Bröckling 2007) und dem Künstler (Reckwitz 2012) (7 Kap. 4). Angesichts dieses Wandels lohnt sich auch ein differenzierterer therapeutischer Blick auf die veränderte Rolle, die heute das Ungewisse und das psychologische Phänomen geringer Ungewissheitstoleranz spielen.  

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Kapitel 1 · Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick

1.4  Zum Inhalt des Buchs

Dieses Buch ist für Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Beraterinnen und Berater aller Couleur geschrieben, die einen Leitfaden für den Umgang mit geringer Ungewissheitstoleranz und ihren Folgen suchen. Es führt in die aktuelle psychotherapeutische und psychologische Forschung zu Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz ein, bietet Vorgehensweisen, um verschiedene Facetten von geringer Ungewissheitstoleranz zu erkennen, und eine breite Palette von Interventionsmöglichkeiten, die in Psychotherapien oder Beratungen eingebunden werden können, bei denen geringe Ungewissheitstoleranz als Problem auftaucht. Das kann sehr häufig der Fall sein, gilt Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) doch inzwischen als relevanter transdiagnostischer Faktor bei sehr vielen psychischen Störungen. Das Buch will aber neben den praktisch-engagierten auch die nachdenklichen Psychotherapeuten und Beraterinnen ansprechen, die Lust haben, über die gesellschaftliche Einbettung eines psychologischen Konzepts – durchaus kritisch – nachzudenken. Was ist das für eine Gesellschaft, in der gerade eine geringe Ungewissheitstoleranz zum psychischen Problem werden kann und eine hohe Ungewissheitstoleranz als „gesund“ angesehen wird? Das 7 Kap. 2 versucht sich an einem knappen Überblick über die Rolle von Ungewissheit im menschlichen Leben. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Vorstellung des psychologischen Konzepts der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU): Ungewissheitstoleranz zeigt sich dabei als ein mehrdimensionales Konzept – die verschiedenen Dimensionen, die dazu gehören, sind jedoch umstritten. Hier finden sich auch erste Überlegungen zu möglichen Ursachen einer geringen Ungewissheitstoleranz: Was sind sozusagen die familiären Herstellungsbedingungen von geringer Ungewissheitstoleranz und ihrem Gegenteil? Warum akzeptieren einige Menschen Ungewissheit besser als andere? Eine Art Wegweiser durch mit Ungewissheitstoleranz eng verwandte Konzepte findet sich in 7 Kap. 3. Ihr Verständnis dient dazu, die Vorstellung von dem, was Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz bedeuten, zu schärfen: Wie unterscheidet sich Ungewissheit z. B. von Unsicherheit, wie Ungewissheitstoleranz von Ambiguitätstoleranz? Anhand von Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz lässt sich zudem gewinnbringend über das Verhältnis zwischen psychotherapeutischen Begriffen und gesellschaftlichem Rahmen nachdenken. 7 Kap. 4 beschäftigt sich daher mit der Beziehung zwischen dem Aufkommen von Ungewissheitstoleranz als einem inzwischen recht populären psychotherapeutischen Thema und einer Gesellschaft, in der Ungewissheit in vielen Lebensbereichen für alle Mitglieder zunimmt  – man denke nur an Schlagworte wie „Abbau der staatlichen Sicherungssysteme“ oder „Zunahme prekärer Lebenslagen“. Wie erstaunlich, dass gerade in einer unsicherer werdenden Welt die Psychologie und die Psychotherapie die Rolle einer großen Ungewissheitstoleranz entdecken, nicht wahr? Ungewissheitstoleranz ist natürlich selbst keine Krankheit oder psychische Störung, sondern nur eine neutral beschriebene Eigenschaft, die stärker oder schwächer ausgeprägt sein kann. Sie gilt aber inzwischen als einflussreicher transdiagnostischer Vulnerabilitätsfaktor für sehr viele psychische Störungen. In 7 Kap. 5 werden die engen Beziehungen zwischen Ungewissheitstoleranz und der Generalisierten Angststörung, den Zwangsstörungen, der Sozialen Phobie, Essstörungen und Depressionen vorgestellt,  







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13 1.4 · Zum Inhalt des Buchs

und es wird der Frage nachgegangen, welches Ungewissheitsprofil bei welchem psychischen Problem eigentlich zu erwarten ist. Im praxisorientierten Teil des Buchs wird das Wissen über die unterschiedlichen Dimensionen von Ungewissheitstoleranz und ihre vielfältigen Beziehungen zu psychischen Störungen in eine kognitive Verhaltenstherapie übersetzt. 7 Kap. 6 widmet sich den möglichen Therapiezielen bei geringer Ungewissheitstoleranz. Wann sollte sie überhaupt ein eigenständiger Schwerpunkt der Psychotherapie sein? Und welche Facetten einer geringen Ungewissheitstoleranz sollten Gegenstand therapeutischer Veränderung sein? Eine geringe Ungewissheitstoleranz schlägt sich zudem im Umgang mit der Welt vielfältig nieder; auch eine Psychotherapie selbst bleibt davon selten verschont: Hier kann eine geringe Ungewissheitstoleranz ebenfalls z. B. zu ausgeprägten Zweifeln, ob denn die Psychotherapie überhaupt die richtige ist, führen. Oder zu ausführlichen Versuchen, durch Fragen an den Psychotherapeuten mehr Sicherheit zu erlangen. 7 Kap. 7 stellt die Besonderheiten vor, die eine geringe Ungewissheitstoleranz mit in die therapeutische Beziehung bringt, und Möglichkeiten, wie sich Psychotherapeuten und Berater auf sie einstellen können. Die Probleme, Verhaltensweisen, Emotionen und inneren Einstellungen, die mit einer geringen Ungewissheitstoleranz einhergehen, bilden in der Psychotherapie schnell eine unübersichtliche Gemengelage – 7 Kap. 8 gehört der sensiblen Exploration des je individuellen Ungewissheitsprofils: Welche Lebensbereiche sind bei einem konkreten Patienten von geringer Ungewissheitstoleranz betroffen? Welche konkreten Umstände aktivieren sie? Welche Facetten geringer Ungewissheitstoleranz zeigen sich in den Ko­ gnitionen und Grundannahmen? Zu welchen Emotionen und Handlungen führt ein nach Gewissheit verlangender Blick auf die Welt? Und welche konkreten Veränderungen wünscht sich ein je spezifischer Klient dabei? Die therapeutische Behandlung von geringer Ungewissheitstoleranz steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber erste Studien sprechen bereits für gute Erfolge durch eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung. Die in 7 Kap. 9 ausführlich vorgestellten Interventionen richten sich vor allem auf die sechs als pathologisch angesehenen Facetten einer geringen Ungewissheitstoleranz  – insbesondere auf das Verlangen nach Gewissheit in allen Lebenslagen, die Einschätzung von Ungewissheit als gefährlich und die Überzeugung, in ungewissen Situationen einfach nicht mehr handlungsfähig zu sein. Wie kann die Bereitschaft, Ungewissheit zu tolerieren (wenn schon nicht zu lieben), gesteigert werden? Wie die mit ihr verbundenen Risiken nicht überschätzt werden? Wie der Eindruck sich verfestigen, auch in ungewissen Situationen nicht gelähmt, sondern durchaus handlungsfähig zu sein? In den bisher skizzierten Kapiteln wurde eine Psychotherapie vorgestellt, die darauf abzielt, bei Betroffenen eine größere Ungewissheitstoleranz zu fördern und eine zu große Risikoscheu abzubauen. Aber kann dies das letzte Wort für eine nachdenkliche und nicht bloß affirmative Psychotherapie und Beratung sein – angesichts einer Welt, in der die Ungewissheiten und Unsicherheiten für die Individuen möglicherweise drastisch zunehmen? 7 Kap. 10 dient als eine Art Versuchsanordnung mit der Absicht, über die psychotherapeutische Vorstellung eines gesunden Umgangs mit dem Ungewissen hinauszudenken: Welche Nachteile bringt eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz eigentlich unter der Hand mit sich? Und gibt es alternative Arten des Umgangs mit dem Ungewissen, ohne zu einem altmodischen Sicherheitsfanatiker zu werden?  









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Kapitel 1 · Ungewissheit … und wie sie sich aushalten lässt – ein Überblick

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15 Literatur

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Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen 2.1

Was bedeutet Ungewissheit? – 18

2.2

 ngewissheit und der Mensch – Errungenschaft, U Schrecken, Reiz – 20

2.3

 as ist (eine geringe) W Ungewissheitstoleranz? – 23

2.3.1

I ntoleranz gegenüber Ungewissheit – ihre kognitive Architektur – 25 Intoleranz gegenüber Ungewissheit – ihre Dynamik – 31

2.3.2

2.4

 nterschiede in der Intoleranz gegenüber U Ungewissheit – ungewissere Lebensbereiche und intolerantere Personengruppen – 35

2.5

 ögliche Ursachen einer geringen M Ungewissheitstoleranz – 37

2.6

 ie Messung von Intoleranz gegenüber D Ungewissheit (IU) – 39 Literatur – 39

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_2

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

Trotz oder gerade wegen des alltäglichen Gebrauchs der Begriffe „Ungewissheit“ und „Toleranz“ ist nie ganz klar, was mit ihnen bezeichnet wird – erst recht, wenn sie zu (geringer) Ungewissheitstoleranz zusammengefügt werden. Um den Überblick nicht zu verlieren, ist eine zumindest vorläufige Definition nötig. Was also wird gegenwärtig unter Ungewissheit verstanden? Was unter (geringer) Ungewissheitstoleranz? Was sind deren zentrale Bestimmungsstücke, und wie zeigt sich ihre Dynamik im konkreten Leben? Zudem werden erste Ergebnisse zu häufig ungewissen Lebensbereichen und besonders betroffenen Personengruppen vorgestellt. Schließlich runden bisherige Erkenntnisse zur familiären Entwicklung einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) das Kapitel ab.

Beim Blick zurück auf die Frühgeschichte der kognitiven Verhaltenstherapie zeigte sich, dass Ungewissheit zwar dort durchaus ein Thema war, aber kein sehr ausführlich behandeltes – alles in allem wurde Ungewissheit und der Umgang mit ihr in den großen kognitiven Therapien zwar nicht komplett übersehen, führte dort aber doch eher ein Schattendasein (7 Abschn. 1.3). Ihre Karriere als ein interessantes und ausdifferenzierteres Konzept hat die Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) erst als ein Faktor bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der bis dahin ebenfalls vernachlässigten Generalisierten Angststörung angetreten. Von einem spezifischen kognitiven Schema der Generalisierten Angststörung und ebenso der Zwangsstörung Mitte der 1990er-Jahre machte die geringe Ungewissheitstoleranz dann eine beachtliche Karriere und stieg auf zu einem wichtigen transdiagnostischen Faktor für eine Vielzahl psychischer Störungen und Probleme (7 Abschn. 5.3). Da das Konzept der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) seit den 1990er-Jahren vor allem von der psychologischen Forschergruppe um Michel Dugas in Kanada lanciert und erforscht worden ist und in dieser Gestalt inzwischen von vielen anderen Psychologinnen und Psychologen angewendet wird, ist es bis heute relativ übersichtlich und geschlossen geblieben. Trotzdem lässt sich zu den zentralen Fragen dieses Kapitels einiges auch Divergentes sagen: Was ist also heute genauer unter Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz zu verstehen? Was sagt außerdem die allgemeine psychologische Forschung zum „normalen“ oder gesunden Umgang des Menschen mit dem Ungewissen? Und unter welchen Bedingungen entwickelt eine Person eigentlich eine ausgeprägte oder eine eher geringe Ungewissheitstoleranz?  



2.1  Was bedeutet Ungewissheit?

Gewiss ist, was nicht nur gewusst wird, sondern was sicher gewusst wird. Das, woran es keinen Zweifel gibt, was man ganz klar sieht. Auch philosophisch gilt Gewissheit als „die Sicherheit des Erkenntnis-Subjekts hinsichtlich der restlosen sachlichen Begründetheit und damit Unbezweifelbarkeit seiner Erkenntnis“ (Halder 2000, S. 124). Man hat eine Sache eben ganz klar „auf dem Schirm“. Das Gegenteil einer solchen Gewissheit, Ungewissheit, lässt sich dagegen am besten als eine Form des Unklaren, Unbestimmten verstehen (7 Abschn.  3.1). Vieles am menschlichen Leben kann unwägbar sein – die aktuelle Situation ist womöglich vage und widersprüchlich, Aspekte der Vergangenheit sind unklar (Wann bin ich eingeschult worden?), oder Facetten der eigenen Person bleiben trotz aller Mühen schwer ­einzuschätzen (Bin ich extro- oder introvertiert?).  

19 2.1 · Was bedeutet Ungewissheit?

2

Ungewissheit ist nun die Form des Unklaren, die sich auf die Zukunft richtet – Ungewissheit „refers explicitly to uncertain future events“ (Rosen et al. 2014, S. 62). Niemand weiß, wohin die Kugel rollt. Manche Ungewissheiten beziehen sich auf Sachverhalte, die dem Menschen eher schicksalhaft und jenseits seiner Handlungen zustoßen (Wird es morgen regnen?), dann wieder begegnet ihm das Ungewisse in Form unklarer Handlungsfolgen (Werde ich morgen die Prüfung bestehen?). Dabei macht der Begriff des Ungewissen keinen Unterschied, ob etwas objektiv ungewiss ist oder nur subjektiv als ungewiss angenommen wird. Ungewissheit wird aber subjektiv vor allem beim Durchspielen der vielen Ereignisfolgen erlebbar, die als Fortführung einer Ausgangssituation möglich sind. Auf oft brenzlige Weise wird die Ungewissheit einer Situation mit den mental durchgespielten Möglichkeiten spürbar. Ungewissheit ist eine Form des Unklaren, die sich auf zukünftige Ereignisse oder Handlungsfolgen bezieht.

Aber wie vorhersehbar oder unberechenbar ist die objektive Welt eigentlich selbst? Viele Theoretiker gehen von einer prinzipiellen Berechenbarkeit der Welt aus – sie sei nur viel zu kompliziert und daher einer konkreten Abschätzung praktisch nicht zugänglich: Ein Labyrinth aus Einflussfaktoren, nicht linearen Bezügen und überraschenden Wechselwirkungen versieht die komplexen Geschehnisse mit Unvorhersehbarkeit und Zufall. Kurzum: Die Welt ist groß, das Gehirn der Menschen klein, und diese haben außerdem notorisch zu wenig Zeit, alles gründlich zu überlegen. Ungewissheit ist danach eine nicht zu beseitigende Zutat der menschlichen Realität trotz einer letztlich determinierten Welt. Andere sehen die Zukunft noch in einer viel freieren und gleichzeitig abgründigeren Weise als unbestimmt an. Es geht um Kontingenz: Seit dem Spätmittelalter bezeichnete das spätlateinische „contingentia“ ein nicht kalkulierbares Ablaufgeschehen, und besonders seit der Moderne erscheint ein kommendes Geschehen nicht einmal mehr als prinzipiell berechenbar, sondern als radikal offen, ein schwer zu überschauender Möglichkeitsraum (Combe et al. 2018). So oder so – völlige Gewissheit ist nach beiden Verständnissen der Realität bestenfalls in seltenen Ausnahmefällen zu erlangen. Dieser beständig mögliche Einbruch des Unerwarteten, Ungewissen in die oft als sicher angesehene Alltagswirklichkeit hat das Ungewisse immer schon in die Nähe des Unheimlichen gerückt. Ein Beispiel ist die lange Geschichte der fantastischen Literatur: „Es [das Fantastische] ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist“ (Zondergeld 1982, S. 11). Das Ungewisse ist hier nicht mehr nur eine Herausforderung an das Wahrscheinliche, sondern in ihm klingt mit, dass die Welt selbst vielleicht undurchsichtiger ist, als die Lesenden bisher angenommen haben. In ihm klingen entfernt Zweifel am bisher so selbstverständlich akzeptierten Realitätsprinzip mit an – das Ungewisse, dem man sich nun stellen muss, bringt Zweifel an der Beschaffenheit der Welt insgesamt mit sich. Nicht umsonst findet sich in einem psychologischen Artikel zur Ungewissheit ein Zitat des bekannten Autors unheimlicher Geschichten H.P Lovecraft: „the oldest and strongest emotion of mankind is fear, and the oldest and strongest kind of fear ist fear of the unknown“ (Carleton 2012, S. 939). Die Frage, was mit dem Ungewissen an Unbekanntem

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

auf eine Person zukommt, ist nicht frei von dieser unheimlichen Note: „‚Was war das?!‘ ‚Nur eine zuschlagende Tür‘, sagte Duchesne laut. ‚Nun, mir wäre wohler, wenn Türen in einem Haus, das seit elf Monaten leer steht, nicht zuschlagen würden.‘ ‚Das ist irritierend‘, sagte Duchesne und hing sich bei mir ein, ‚doch wir müssen die Dinge nehmen, wie sie kommen.‘“ (Cram 2007, S. 16) 2.2  Ungewissheit und der Mensch – Errungenschaft,

Schrecken, Reiz

zz Ungewissheit als Errungenschaft

Menschen kommen aus der Gewissheit. Es ist eine kulturell wie biologisch relativ spät in der Menschheitsgeschichte erworbene Fertigkeit, Ungewissheit überhaupt wahrzunehmen: „Absolute Gewissheit ist ein geistiger Zustand, der jeden Zweifel ausschließt. Ein Großteil unserer Geschichte wurde von Menschen geprägt, die sich absolut gewiss waren, dass ihre Religion, Sippe oder Rasse die von Gott oder dem Schicksal auserwählte war, woraus sie das Recht ableiteten, sich aller widersprechender Ideen samt der von ihnen infizierten Menschen zu entledigen“ (Gigerenzer 2014, S. 57). Der Psychologe Daniel Kahnemann argumentiert in seinem einflussreichen Buch über schnelles und langsames Denken ähnlich, nur aus einem biologischen Blickwinkel. Das schnelle archaische Denken des Menschen (von ihm auch „System 1“ genannt) reagiert zügig, schließt dabei aber fast unbemerkt Lücken und beseitigt Ambiguitäten, um zu einer eindeutigen Interpretation der Lage zu kommen: Bewusste Zweifel gehören nicht zum Repertoire dieses Systems. Es konstruiert sofort eine Geschichte, es gibt kein Warten oder subjektives Unbehagen. Die Funktion dieser Arbeitsweise auch noch des heutigen Alltagsverstands ist es, unter Druck schnelles und adäquates Handeln zu ermöglichen, wobei eine beständig postulierte Gewissheit die Aufgabe übernimmt, Zweifel gar nicht erst aufkommen zu lassen, die als Gefahr für das Handeln angesehen werden (Kahnemann 2016). Ungewissheit zu erkennen ist erst die Aufgabe des entwicklungsgeschichtlich später entstandenen langsamen Denkens. Die Wahrnehmung von Ungewissheit wird hier konstituiert durch eine bewusst eingenommene distanzierte Haltung menschlicher Individuen gegenüber sich selbst und den Gegenständen der Erfahrung. Diese Fertigkeit ist auch heute noch derart unsicher, dass dieser Übergang von der Zweifelsfreiheit des Alltags zum organisierten Zweifel – in Form von Wissenschaft und Kunst – kulturell institutionalisiert worden ist. Aber kaum sind Menschen in der Lage, die Welt aus der Perspektive von Ungewissheit wahrzunehmen, da wird sie ihnen schon zum Problem. zz Ungewissheit als Bedrohung

Schon die häufigsten Synonyme für Ungewissheit, „Zweifel“ und „Unsicherheit“, haben eher einen negativen Beiklang. Zudem scheint es den meisten Menschen viele Mühen wert zu sein, sich Gewissheit zu verschaffen: „People gather facts, form opinions, and generate theories in an attempt to transform the unknown into the known – to make the world a bit less puzzling and more predictable by reducing their uncertainty about it. This ability has allowed the species to flourish“ (Wilson et al. 2005, S. 5). Und will man sich auf nur einen knappen Konsens in der psychologischen Forschung zur Ungewiss-

21 2.2 · Ungewissheit und der Mensch – Errungenschaft …

2

heit festlegen, dann kann es nur der sein, dass Menschen eine allgemeine Abneigung gegen Ungewissheit, eine ziemlich umfassende Risikoaversion, besitzen. Schließlich kann niemand in einer Welt leben, in der alle Konturen beständig in Bewegung sind, ununterbrochen einem unvorhersehbaren Strom des Lebens ausgesetzt. Ein ausreichendes Maß an Stabilität und Gewissheit macht das Leben erst möglich. Für diese grundsätzliche Risikoaversion finden sich empirische Belege, und sie wird auch im Kontext der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) vertreten: „As mentioned earlier, a dislike for uncertainty and ambiguity is actually normative and universal and most individuals prefer a certain outcome to one that is uncertain […]. Thus, it makes sense that even in individuals who are more tolerant of uncertainty, higher levels of intolerance would be associated with an increased tendency to appraise ambiguous scenarios as more disconcerting“ (Koerner und Dugas 2008, S. 632). Ungewissheit scheint für Menschen danach tendenziell eher etwas Unangenehmes zu sein. In ungewissen Situationen fühlen sich die meisten eher unwohl, und sie vermeiden sie, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Schon dass ein negatives Ereignis eintreten könnte, wird bereits als Gefahr angesehen, egal wie unwahrscheinlich dieses Eintreten auch sein mag. Menschen können also nur eine gewisse Dosis an Ungewissheit aushalten, ihre Ungewissheitstoleranz hat insgesamt recht enge Grenzen: Was wird die Zukunft bringen? Was ist damals wirklich passiert? Wie genau ist diese unklare Situation eigentlich zu verstehen? Alle Unklarheiten, Vagheiten oder Zweideutigkeiten bringen Menschen auf, und sie wünschen sich gewöhnlich lieber Klarheit: Es existieren kaum Zweifel, das Ungewissheit aversiv erlebt wird, wenn die zukünftigen Ergebnisse etwas Negatives beinhalten könnten – wenn die Ergebnisse eines HIV-Tests oder die Zusage einer neuen Arbeitsstelle abgewartet werden müssen. Belege dafür, dass Menschen sogar gewisse negative Ereignisse ungewissen negativen Ereignissen vorziehen, finden sich schon in psychologischen Experimenten zur Angstkonditionierung mittels elektrischer Schocks. Gewissheit über den Zeitpunkt des elektrischen Schocks reduzierte hier die Stärke der Angstreaktion beim späteren Auftreten des Schocks. Aversive Ereignisse, die unter Ungewissheit auftraten, hatten also gegenüber solchen unter Gewissheit eine negativere Wirkung, und die Versuchspersonen bewerteten die ungewiss auftretenden Schocks auch subjektiv als stärker. Schon die Vorhersagbarkeit eines negativen Ereignisses bedeutet so etwas wie Kontrolle darüber, schon die Vorhersehbarkeit einer drohenden Zukunft bietet einen Anpassungsvorteil. Doch die Bevorzugung gewisser Ergebnisse gegenüber ungewissen erstreckt sich auch auf das Eintreten positiver Ereignisse, z. B. Gewinne in einem Spiel. Insgesamt scheinen Experimente robust zu belegen, „that when facing gain options, people are risk averse and prefer a reward of a certain magnitude over a reward of an uncertain magnitude“ (Shen et  al. 2015, S.  1301). Menschen bevorzugen einen sicheren Gewinn vor einem bloß wahrscheinlichen. Sie ziehen gewöhnlich einen sicheren Ertrag von 100 Euro in einer Lotterie vor, anstatt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent einen Gewinn von 0  Euro und mit einer Wahrscheinlichkeit von 50  Prozent einen Gewinn von 200 Euro einzustreichen. Aber warum sind Menschen auf diese Weise aversiv gegenüber dem Ungewissen? Die ursprünglichen Theorien gingen von einer eher indirekten Risikoaversion aus: Menschen schätzen die Wahrscheinlichkeiten von Gewinnen und Verlusten bei solchen Lotterien ab – aber sie tun es nicht komplett rational. Vielleicht sind sie von den Rahmen-

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

bedingungen bereits so gesättigt, dass ihnen der Unterschied zwischen 100 und 200 Euro nicht mehr viel bedeutet, vielleicht verschätzen sie sich auch bei den Wahrscheinlichkeiten – das Ungewisse ist jedenfalls nicht an sich abstoßend, sondern nur ein Faktor in einer größeren Kalkulation der Gewinne und Verluste. Neuere Theorien sehen hingegen eher eine direkte Risikoaversion am Werk (Simonsohn 2009). Experimente, bei denen eine Vielzahl von Versuchspersonen sich lieber für einen sicheren Gewinn entschieden, auch wenn der noch unter der schlechtesten Alternative eines ungewissen Gewinns lag, lassen eine Kalkulation als Grund absurd erscheinen. Hier gibt es wohl eher einen direkten Ungewissheitseffekt (Gneezy et al. 2006): Menschen mögen das Ungewisse einfach nicht. Um es zu vermeiden, nehmen sie sogar einen deutlich geringeren Gewinn in Kauf: Viele Versuchspersonen sind eher bereit, 38  Dollar für einen Geschenkgutschein über 50 Dollar zu bezahlen, als 28 Dollar mit einer jeweils 50-prozentigen Chance, einen Gutschein über 50 oder einen Gutschein über 100 Dollar zu erhalten. „The results from these experiments suggest that the UE, valuing a risky prospect below the value of its worse possible outcome, occurs as the consequence of direct risk aversion, that is, risk aversion that arises directly from a literal distaste for uncertainty, rather than indirectly as a consequence of how people value outcomes or weight probabilities“ (Simonsohn 2009, S. 691). zz Ungewissheit als Reiz

Doch in dieser allgemeinen Aversion gegen das Ungewisse gibt es Ausnahmen, wie jeder sie aus dem Alltag kennt: Das Auspacken eines Geschenks beispielsweise ist eher angenehmer Nervenkitzel als quälende Ungewissheit. Für gewöhnlich will auch niemand am Anfang eines Buchs oder eines Films schon wissen, wie sie ausgehen. Viele Eltern wollen während der Schwangerschaft Gewissheit darüber haben, ob ein Down-­Syndrom bei ihrem Kind vorliegt, aber vom Geschlecht des Kindes lieber überrascht werden. Manchmal genießen Menschen eben Ungewissheit. Und auch psychologische Experimente belegen: Ungewissheit kann auch die Quelle positiver Erlebnisse sein. Es gibt sie also, die „pleasures of uncertainty“ (Wilson et al. 2005, S. 5). Im sogenannten „pleasure paradox“ (ebd.) steht das Gewissheitsverlangen dem eigenen Wohlgefühl im Weg. Erhält man z. B. überraschend ein Geschenk, dann halten die positiven Emotionen diesbezüglich länger an als bei Geschenken, die nicht überraschend kommen, daher wäre es hier dem eigenen Wohlgefühl zuträglich, nicht nach Gewissheit zu streben. Viele Menschen sind sich aber dieser auch die positiven Emotionen dämpfenden Wirkung von Gewissheit nicht bewusst und ziehen es auch in solchen Situationen vor, sich Gewissheit zu verschaffen. So verkürzen sie ihr Vergnügen: Das Herstellen von Bedeutungszusammenhängen reduziert die emotionale Kraft von Ereignissen, indem es außergewöhnliche Ereignisse in gewöhnliche, erwartbare Ereignisse verwandelt. Mit den positiven Seiten der Ungewissheit treten schnell ökonomische Interessen auf den Plan einer Forschung, in denen der Mensch nur noch verkürzt erscheint – als Konsument und Produzent: Lassen sich Konsumenten durch ungewisse Preise leichter zum Kauf, Arbeitnehmer durch ungewisse Bezahlung besser zur Arbeit motivieren? Geht es um die Motivierung zu mehr Produktivität, spricht die Forschung z.  B. von „motivating uncertainty“ (Shen et al. 2015, S. 1313): Geld sparen und motiviertere Mitarbeiter haben – ein feuchter Unternehmertraum. Allerdings erfüllte sich dieser Traum

23 2.3 · Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

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nur, wenn die Belohnungsunterschiede klein waren und wenn die V ­ ersuchspersonen vom finanziellen Ergebnis ihrer Arbeit abgelenkt wurden. Waren sie hingegen eher auf das Ergebnis als auf den Prozess konzentriert, dann wirkte sich die Ungewissheit der Bezahlung negativ aus und wurde nach Möglichkeit vermieden. Beängstigenderweise scheint die Taktik immer populärer zu werden, Menschen nicht mit Geld, sondern mit der Chance auf Geld zu bezahlen – man denke nur an die „Generation Praktikum“. Kritische Kommentare zu solchen „psychologischen“ Experimenten ließen nicht lange auf sich warten: „Wir sollten keine Lotteriegesellschaft werden, in der für die bloße Zufallschance auf Belohnung gearbeitet wird. Wir alle leben bloß einmal  – daher ist es ein moralisches Problem, dem Zufall allzu viel Macht zu überlassen“ (Aigner 2017, S. 208). Um ein erstes Fazit zu ziehen: Es ist also nicht grundsätzlich ausgemacht, ob Menschen Ungewissheit positiv oder negativ aufnehmen – beides ist möglich: mit einer gewissen Schlagseite in Richtung Gewissheit. Zumindest der Genuss von Ungewissheit scheint für Menschen seine Grenzen zu haben. Ungewisse Situationen in Zusammenhang mit einer möglichen Bedrohung empfinden Menschen sehr schnell als unbehaglich. Aber auch wenn es um ungewisse positive Ereignisse geht, bevorzugen sie oft die Gewissheit, selbst dort, wo Ungewissheit positive Gefühle verlängern würde. Menschen können zwar anscheinend auch die Chancen in einer ungewissen Situation sehen, doch spontan empfinden sie anders. Offenbar steht auch in ungewissen Situationen ohne große Bedrohung etwas auf dem Spiel – wenn auch nicht Leben oder körperliche Unversehrtheit, so doch etwas, das für das Leben von Individuen eine ähnlich zentrale Bedeutung aufweist: Ungewissheit gefährdet die individuelle Handlungs- und Funktionsfähigkeit, die eng mit der Kontrollierbarkeit und Vorhersagbarkeit von Situationen verknüpft ist. Es geht nicht nur darum, dass es in der Welt eben Ungewissheit auszuhalten gilt, sondern ihr Auftreten signalisiert auch, dass möglichweise etwas mit unserem Wissen über die Welt nicht stimmt. Neutraler als von Ungewissheitsaversion oder Ungewissheitstoleranz könnte man also vielleicht von einer „Unsicherheitsregulation“ (Lantermann et al. 2009, S. 4) sprechen. Ungewissheit ist nicht zwangsläufig abschreckend und unangenehm, sondern kann ebenso anziehend und reizvoll sein, je nachdem, ob in einer spezifischen Situation der persönliche Unbestimmtheits- bzw. Unsicherheitsmaßstab eines Individuums überoder unterschritten wird. Menschen besitzen nach diesem Modell eine Art „Ungewissheitsthermostat“: Wird ihr persönlicher Sollwert unter- oder überschritten, dann reagieren sie emotional (mit Angst oder Langeweile) und unternehmen etwas, um ihr ideales Maß an Ungewissheit wieder herzustellen  – sie vermeiden eine zu ungewisse Situation oder gehen umgekehrt vielleicht in eine Spielhalle oder buchen einen Abenteuerurlaub. 2.3  Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

Ist bei dem beschriebenen Ungewissheitsthermostaten der persönliche Sollwert an angemessener Ungewissheit im eigenen Leben sehr niedrig eingestellt, dann liegt eine geringe Ungewissheitstoleranz vor. Die Fähigkeit, das Ungewisse auszuhalten und mit ihm fertigzuwerden, variiert stark. Manche Menschen tolerieren Ungewissheit sehr gut, während andere eine so geringe Ungewissheitstoleranz zeigen, dass diese ihnen das

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

Leben schwer macht. Bei solchen stark gewissheitsorientierten Personen ist sozusagen der Setpoint der allgemein menschlichen „dispositional fear of the unknown“ (Carleton 2012, S.  939) sehr klein. Schon eine nur leicht ungewisse Zukunft ist ihnen unangenehm, sie glauben, sie unbedingt überwinden zu müssen, denken lange über die Angelegenheit nach oder fragen andere, um mehr Gewissheit zu erlangen. Manchmal reicht eine Ungewissheitsaversion sogar so weit, dass die Betroffenen einen sicheren negativen Ausgang einem ungewissen Ausgang vorziehen – selbst eine schlechte Nachricht nehmen sie mit Erleichterung auf, weil sie endlich Gewissheit haben. Oder sie fühlen sich schon durch eigentlich eher kleine Unsichheitsprobleme überwältigt: „Whereas some individuals cope well with and even embrace the uncertainties of life, others appear to be highly uncomfortable with, and even threatened by them, and as such, make every attempt to eliminate uncertainties from their lives“ (Koerner und Dugas 2006, S. 202). Unter dem Begriff Intolerance of Uncertainty (IU) untersucht eine kanadische Forschergruppe um Michel Dugas etwa seit Mitte der 1990er-Jahre (Freeston et al. 1994) dieses Phänomen und seine belastenden Folgen, vor allem seine Verbindung zur Generalisierten Angststörung. Und obwohl Intoleranz gegenüber Ungewissheit auch im Rahmen der Zwangsstörungen bereits in den 1990er-Jahren als ein wichtiger ursächlicher Faktor wahrgenommen wurde (OCCWG 1997), zog sie über diese beiden Quellen hi­ naus anfangs nur wenig Interesse in der psychotherapeutischen Forschung auf sich. Inzwischen ist IU allerdings als ein wichtiger transdiagnostischer Faktor für eine ständig länger werdende Reihe psychischer Störungen und Probleme immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt (7 Abschn. 5.3). Die Definition geringer Ungewissheitstoleranz hat sich dabei mit den Jahren immer wieder verändert, und bis heute hat sich keine eindeutige Definition durchgesetzt. Trotzdem findet sich ein geteilter Bedeutungskern.  

Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU): „Intolerance of uncertainty may be defined as a cognitive bias that affects how a person perceives, interprets, and responds to uncertain situations“ (Dugas et al. 2005, S. 85). In der Folge besteht eine „tendency to react negatively on an emotional, cognitive, and behavioral level to uncertain situations and events“ (Buhr und Dugas 2009, S. 216).

Intoleranz gegenüber Ungewissheit wird also als ein Persönlichkeitsmerkmal verstanden, als die Unfähigkeit, eine mit Ungewissheit aufgeladene Situation auszuhalten. Schwer ertragen wird dabei die Ungewissheit selbst, nicht die Wahrscheinlichkeit eines negativen Ausgangs. Eine geringe Ungewissheitstoleranz wirkt dabei subjektiv wie eine Art Filter, „through which the worried individual views and responds to the world“ (Koerner und Dugas, 2008, S. 620). Ganz im Sinne der kognitiven Verhaltenstherapie wird diese Disposition konkret als Ansammlung kognitiver Schemata verstanden, die für eine verzerrte Informationsverarbeitung ungewisser Situationen sorgen: Eine ungewisse Situation wird z. B. schnell als gefährlich eingeschätzt. Die Auswirkungen sind gravierend: Emotional kommt es häufig zu Angstgefühlen oder, allgemeiner, zu einem Zustand substanziellen Unwohlseins. Auf der Verhaltens-

25 2.3 · Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

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ebene zeigen sich parallel häufig vergebliche Versuche, unsichere Situationen zu kon­ trollieren  – aufwendige Problemlöse- und Informationssucheaktivitäten z.  B. dienen der Wiedergewinnung von Sicherheit. Manchmal zeigen sich Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz aber auch wie gelähmt im Angesicht des Ungewissen: „Furthermore, intolerance of uncertainty leads to the inability to act when faced with an ­uncertain situation“ (Dugas et al. 2005, S. 58). Oder es kommt gleich zu Vermeidungsverhalten gegenüber ungewissen Situationen. Und auch kognitiv versuchen Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz oft, Gewissheit wiederherzustellen – durch ausgeprägtes Sichsorgen, eine typische kognitive Folge geringer Ungewissheitstoleranz. Zusammenfassend lässt sich sagen: Menschen, für die Gewissheit eine zentrale Rolle spielt, empfinden ein größeres Spektrum an Situationen als unsicher, sind stärker daran interessiert, sich Gewissheit zu verschaffen oder diese zu bewahren, und reagieren auf Ungewissheit eher mit Rückzug, Sorge, Angst und anderen belastenden Emotionen sowie körperlichen Stresssymptomen; Personen mit einer größeren Toleranz gegenüber Ungewissheit begegnen den gleichen Situationen dagegen eher mit Neugier, Offenheit und Selbstvertrauen.

Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) ist ein kognitives Schema, durch dessen Filter ungewisse Situationen den betroffenen Personen ausgesprochen negativ erscheinen. In der Folge kommt es zu Angstreaktionen, Sichsorgen und dysfunktionalen Bewältigungsversuchen, die in Zusammenhang mit vielen psychischen Störungen stehen.

2.3.1

I ntoleranz gegenüber Ungewissheit – ihre kognitive Architektur

Intoleranz gegenüber Ungewissheit gilt also als ein „dispositional characteristic that results from a set of fundamental beliefs about uncertainty“ (Koerner und Dugas 2006, S. 202). Welche Überzeugungen sind es nun genau? Was ist die Überzeugungsarchitektur, das kognitive Gesamtgefüge der geringen Ungewissheitstoleranz? Faktorenanalysen haben immer wieder komplexe kognitive Überzeugungsstrukturen ergeben – leider nicht nur eine einzige. Es kursieren Modelle, die zwischen zwei und sechs verschiedene kognitive Dimensionen am Werk sehen. Die Lösung mit nur zwei Domänen hat besonders viel Zuspruch gefunden: „a more immediate behaviorally focused dimension (i. e., Inhibitory IU) and a more future-oriented cognitively focused dimension (i. e. Prospective IU)“ (Carleton et al. 2016, S. 59). Der erste Faktor, die hemmende IU, wird manchmal auch als Ungewissheitsparalyse oder Ungewissheits-Arousal bezeichnet. Im Kern geht es hier um Gedanken über Vermeidung und Lähmung bei auftretender Ungewissheit. Es sind Gedanken dazu, wie Ungewissheit das eigene Handeln oder das Erleben blockiert, aber auch Gedanken zu den durch Ungewissheit ausgelösten Emotionen. Die prospektive IU, der zweite Faktor, manchmal auch als Gewissheitsverlangen tituliert, versammelt dagegen eher Kognitionen über die Zukunft – über deren Vorhersagbarkeit und das Verlangen, Bescheid zu

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

wissen, über die Sorge, was die Zukunft bringt, und die Versuche, Informationen darüber zu gewinnen. In der Forschung zeigen beide Faktoren interessante unterschiedliche Beziehungen zu psychischen Störungen: Der prospektive Aspekt steht eher in Verbindung zur Generalisierten Angststörung und zur Zwangsstörung, der inhibitorische oder Arousal-Aspekt ist dagegen enger mit der Panikstörung, der Depression und der Sozialen Phobie verbunden (7 Abschn. 5.3) (Einstein 2014). Trotz dieser klinischen Relevanz ist die Aufteilung in nur zwei kognitive Domänen für therapeutische Zwecke doch zu grob. Schon ihre unterschiedlichen Benennungsmöglichkeiten deuten an, dass diese beiden großen Faktoren zu uneindeutig sind: Geht es beim ersten nun um Handlungslähmung oder um Angst? Geht es beim zweiten Faktor eher um Gewissheitsverlangen oder um eine mögliche Bedrohung durch ungewisse Folgen? Außerdem sind die beiden Faktoren zu umfassend, um sie anschaulich in konkrete kognitive Überzeugungen zu übersetzen. Manche Forscher bieten Lösungen mit vier bis sechs Dimensionen an, die sich kognitiv etwas eindeutiger als Überzeugungen verstehen lassen, und auch in der deutschen Version des zentralen Ungewissheitsfragebogens fand sich eine Lösung mit fünf Faktoren, die allerdings auch umstritten ist (Freeston et al. 1994; Robichaud 2013; Gerlach et al. 2008; Dietmaier et al. 2008). Auf der Suche nach einer relativ verschleißfesten und therapeutisch nützlichen Lösung habe ich mich hier auf die Position zurückgezogen, die sechs semantisch gut unterscheidbaren Aspekte geringer Ungewissheitstoleranz auszuwählen, die in den erwähnten Untersuchungen immer wieder auftauchen und sich so anschaulich als Kognitionen oder Überzeugungen formulieren lassen, dass sie in einer kognitiven Verhaltenstherapie benutzt werden können. Sie bilden ab hier die kognitive Implikatur geringer Ungewissheitstoleranz für das weitere Buch.  

zz 1. „Gewissheit ist absolut notwendig“

Kaum eine Untersuchung über geringe Ungewissheitstoleranz kommt ohne solche „beliefs about the necessity of being certain“ (OCCWG 1997, S. 678) aus. Oft bilden solche Überzeugungen, die ein extremes Gewissheitsverlangen ausdrücken, sogar den Kern einer kognitiven Definition geringer Ungewissheitstoleranz. Es geht um die exzessive Tendenz eines Individuums, jede noch so kleine Wahrscheinlichkeit eines negativen Ereignisses als völlig inakzeptabel anzusehen: Ungewissheit in Bezug auf das, was auf einen zukommt, bedeutet, dass auch etwas Negatives geschehen kann – und das darf auf keinen Fall sein. Es handelt sich hier also nicht nur um einen unschuldigen, wenn auch dringlichen Wunsch nach mehr Gewissheit, sondern um ein imperatives Verlangen nach ihr. Die hohen Erwartungen an Gewissheit müssen unbedingt erfüllt werden, Ungewissheit ist keine Option für die Betroffenen – sie wird einfach nicht toleriert (Einstein 2014). Von einer wirklichen Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) darf also nur gesprochen werden, wenn die betroffene Person nicht lockerlassen und nicht aufhören kann, ihrem extrem hohen Gewissheitsbedürfnis nachzustreben, egal, welche negativen Folgen sich am Handlungshorizont schon erkennen lassen. Im Gegenteil: Das Gewissheitsverlangen wird als so fordernd erlebt, dass es von den Betroffenen trotz hoher Kosten weiterverfolgt wird. Die Betonung solcher absolutistischen Forderungen ist ein wichtiges Erbstück der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) für aktuelle kognitive Störungsmodelle. Für sie geschieht eine solche Erstarrung von Wünschen regelmäßig im menschlichen

27 2.3 · Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

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Leben: Beständig sagen sich Menschen, was passieren muss, wie jemand sein sollte oder was auf keinen Fall sein darf – eine seltsame Mischung von Erwartungen und Wünschen, die so verbissen und verfestigt sind, dass ihre ausbleibende Erfüllung starke Emotionen erzeugt. Menschen machen eben schnell einen magischen Sprung von einer relativ negativen Beschreibung der Gegenwart und der Zukunft (hier einer mit Ungewissheiten gesättigten) hin zu der Weigerung, sie als das zu akzeptieren, was sie eben ist, und stattdessen darauf zu bestehen, dass sie besser sein (und bleiben) soll, als sie sich gegenwärtig manifestiert – das kann auf Dauer natürlich nicht gut gehen. Denn: „Traurigerweise […] beeinflusst das Beibehalten einer starren Überzeugung allein nicht die Wirklichkeit“ (Dryden 2009, S. 18, Übers. v. Autor). Solche imperativen Kognitionen sind, ausgehend von Albert Ellis, der Gründerfigur der REVT, vor allem unter seiner Bezeichnung „Mussturbationen“ berühmt geworden. Manchmal findet man auch die Bezeichnung „Jehovian demands“, also quasi göttliche Forderungen, die implizieren, die Welt nach den eigenen Wünschen gestaltet sehen zu können (Böhmer 2013). Häufig sind imperative Kognitionen sprachlich am Gebrauch von Modalverben zu erkennen: Ich muss auf jeden Fall Anerkennung bei wichtigen Anderen finden, darf selbstverständlich niemals Fehler machen, und andere Menschen sollten sich natürlich immer fair und gerecht verhalten. Es sind Wörter, die bereits etwas von dem Zwang in sich tragen, den absolutistische Forderungen auf die Wirklichkeit ausüben wollen (Spitzer 2015). Besser, man hält die eigenen Wünsche mit etwas lockererer Hand, also auf eine Weise, bei der Wunsch und Wirklichkeit nicht unklar verschmelzen, sondern trennscharf auseinandergehalten werden können. Das Erreichen großer Gewissheit wird dabei zwar weiterhin angestrebt, aber eher als Präferenz und nicht als Forderung: „Go desire – but don’t insist“ (Ellis 2001, S. 103). Das absolute Gewissheitsverlangen von Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz wird häufig in den konkreten Aussagen der Betroffenen greifbar: „Ich muss einfach Gewissheit haben, egal wie“; „Ich brauche es einfach, dass die Dinge und Personen um mich herum so vorhersagbar wie möglich sind“; „Ich muss mir über die möglichen Reaktionen auf Dinge, die mich betreffen, klar werden, bevor ich mir Ruhe gönnen darf “. zz 2. „Ungewissheit ist gefährlich“

Die enge Beziehung zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und Bedrohung ist immer wieder beobachtet worden – „compared to individuals who are tolerant of uncertainty, those who are intolerant of uncertainty are more likely […] to interpret ambi­ guous information in a threatening way“ (Dugas et  al. 2005, S.  67). Während ungewissheitstolerante Personen ungewisse Situationen also tendenziell eher als He­ rausforderung bewerten, sehen ungewissheitsintolerante Personen die gleichen Situationen als Bedrohung an, die sie entsprechend zu vermeiden suchen. Manche Autoren sehen in der Überzeugung, dass alle Ungewissheit gefährlich ist, sogar das Zentrum geringer Ungewissheitstoleranz. Oft entdecken davon Betroffene auf eine fantasievolle Weise überhaupt erst Möglichkeiten eines schlechten Ausgangs in der Zukunft, die ungewissheitstoleranteren Personen gar nicht eingefallen wären. Die Gedanken an Gefahr gehen jedoch häufig über die Identifizierung möglicher Gefahren hinaus (diese werden ganz selbstverständlich auch als wahrscheinlicher eingeschätzt, und weitere bedrohliche Folgen werden generiert): „not only will unpredictable, novel, or ambiguous situations turn out badly, but that the negative outcome will be

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

really terrible“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 107). Wenn ich zufällig mein Handy zu Hause vergesse, werde ich bestimmt einen wichtigen Anruf verpassen, ich werde die Benachrichtigung über den plötzlichen Herzinfarkt meiner Mutter nicht erhalten, und die ganze Familie wird sich sehr über mich aufregen. Die Überzeugung hat also eigentlich zwei Aspekte: (1) Unklare Situationen haben wahrscheinlich einen negativen Ausgang, und dieser negative Ausgang wird (2) extrem schlimm, letztlich überwältigend sein. Beispiele konkreter Kognitionen sind: „Schon eine kleine unvorhergesehene Sache kann alles verderben“; „Wenn ich etwas in meinem Alltag verändere, dann passiert sicher etwas Schlimmes“; „Vage, schwer zu durchschauende Situationen sind meist auch gefährlich“; „Man sollte immer aufmerksam sein für das, was kommt, um nicht böse überrascht zu werden“. zz 3. „Ungewissheit ist belastend“

Werden ungewisse Situationen nicht direkt als bedrohlich eingeschätzt, so doch häufig als eine Belastung, der man entsprechend gern aus dem Weg gehen würde – dass das Ungewisse auch anregend oder inspirierend sein könnte, kommt Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz dagegen gar nicht erst in den Sinn. Nein, „uncertainty is stressful and upsetting“ (Einstein 2014, S. 281). Ungewissheit, so diese Überzeugung, bringt Anstrengungen mit sich, führt zu Frustrationserfahrungen, zu Aufregung, jedenfalls zu der ganzen Vielfalt belastender Erfahrungen: „Uncertainty makes me vulnerable, unhappy, or sad“ (Berenbaum et al. 2008, S. 123). Hier geht es also um Kognitionen, die ungewisse Lagen allgemein als belastend beurteilen. Den auf diese Weise Denkenden macht Ungewissheit das Leben unangenehm, ja schwer erträglich: „Ungewissheit ist einfach schrecklich. Ich kann solche Situationen kaum aushalten“; „Ungewissheit macht das Leben unerträglich“; „Mein Verstand kommt einfach nicht zur Ruhe, wenn ich nicht weiß, was morgen sein wird“; „Ungewissheit stresst mich so sehr“; „Es frustriert mich, wenn ich nicht die Informationen über eine Sache habe, die ich brauche“. zz 4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“

Personen mit einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Ungewissheit nehmen häufig an, mit ungewissen Situationen einfach nicht fertigwerden zu können, in ihnen einfach nicht vernünftig funktionieren zu können, wie gelähmt zu sein: Hier sind also Kognitionen über die eigenen Bewältigungsfähigkeiten in Bezug auf bestimmte Situationen versammelt. Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz sprechen sich die Fähigkeit ab, mit Unvorhergesehenem umzugehen. Wenn man sich z. B. auf dem Weg zu einem unbekannten Ort befindet, dann wird man sich bestimmt verfahren. Und weil man nicht damit fertig wird, wird man Stunden brauchen, um den Weg wiederzufinden. Und auch so ist es möglich: Unklare Situationen erlauben es nicht, im Voraus einen Plan zu fassen – und ohne einen solchen Plan wird man mit einer Situation nicht fertig, sondern völlig von ihr überwältigt: „When it’s time to act, uncertainty paralyses me“ (Einstein 2014, S. 281). Die Bedeutung der eigenen Handlungsfähigkeit für die Bewertung einer mit Ungewissheit aufgeladenen Situation ist kaum zu überschätzen. Die subjektive Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit vermittelt zentral zwischen der ungewissen Situation und deren Wahrnehmung als Herausforderung oder als Bedrohung: „Das Wissen um Handlungsmöglichkeiten und das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen ist die mit

29 2.3 · Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

2

Abstand wichtigste Einflussgröße, wenn es darum geht, ob man Situationen als Herausforderung annimmt“ (Lantermann et al. 2009, S. 25). Oft reicht allerdings schon eine ungefähre Vorhersehbarkeit einer Situation, um zu handeln, man braucht sie gar nicht völlig zu kontrollieren. Menschen versuchen täglich, mit nicht oder fast nicht kontrollierbaren Situationen umzugehen, indem sie z.  B. „für alle Fälle“ einen Regenschirm mitnehmen, nie ohne Geld in der Tasche ausgehen oder etwas zu früh zum Bahnhof gehen, um den geplanten Zug auch ganz gewiss zu erreichen. Ein unkontrollierbares Geschehen bedeutet also im Alltag nicht unbedingt Handlungsunfähigkeit. Auch für diese kognitive Facette geringer Ungewissheitstoleranz finden sich viele beispielhafte Gedanken: „Ich kann mich einfach nicht entscheiden, wenn ich unsicher bin“; „Wenn etwas Unerwartetes passiert, dann werde ich damit bestimmt nicht fertigwerden“; „Ich werde einfach überwältigt von unvorhersehbaren Ereignissen“; „Wenn ich bei einer Sache nicht absolut sicher bin, werde ich zwangsläufig Fehler machen“. zz 5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“

Aber Ungewissheit macht nicht nur das Leben zur Last. Immer wieder in Situationen zu geraten, die Ungewissheit beinhalten, kann auch auf den Betreffenden selbst zurückfallen, so befürchten es zumindest Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz. Es offenbart vielleicht einen Makel, eine Unfähigkeit, Klarheit im eigenen Leben herzustellen. Wer nicht in der Lage ist, ein klares, vorhersehbares Leben zu führen – mit dem kann doch etwas nicht stimmen, oder? Es geht hier also nicht nur um den konkreten Umgang mit Ungewissheit, darum, ob sie bedrohlich ist und ob man sich als handlungsfähig erweist. Sondern das häufige Auftreten von Ungewissheit im eigenen Leben signalisiert auch, dass möglicherweise etwas nicht stimmt mit demjenigen, der immer wieder in ungewisse Lagen gerät. Immer wieder im Ungewissen zu sein könnte z. B. zeigen, dass man insgesamt ein unsicherer Mensch ist, flüchtig oder zu schwach, um mit dem Leben fertigzuwerden. Es ist die Überzeugung, „that capable and competent people experience more predictability and certainty in daily life“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 107). Man findet diese Kognitionsdomäne in Überzeugungen wie: „Sich ungewiss sein bedeutet, dass eine Person schlecht organisiert ist“; „Andere kriegen es viel besser hin, ein gewisses und sicheres Leben zu führen“.

zz 6. „Ungewissheit ist unfair“

Nicht immer reagieren Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz in unbestimmten Situationen mit Angst, oft genug ärgert es sie auch. Vielleicht liegt es ja gar nicht an ihnen selbst (Dimension 5), sondern die Welt mutet ihnen ungerechterweise viel mehr Ungewissheit zu als anderen Menschen. Erwartet jemand für eine Situation Gewissheit, muss sich aber nun mit Ungewissheit herumplagen, dann kann diese schnell als unfair oder ungerecht angesehen werden: „It’s unfair having no guarantees in life“ (Berenbaum et al. 2008, S. 123). Schnell sind Vergleiche mit anderen Personen zur Hand – und der empörende Gedanke, dass anderen nicht derart viel Ungewissheit im Leben zugemutet wird (Robichaud und Dugas 2015). Kognitionen dieser Art lassen sich ebenfalls leicht vorstellen: „Es ist einfach ungerecht, im Leben für nichts eine Garantie zu haben“; „Ich sollte einfach nicht immer wieder diese Ungewissheit ertragen müssen“. . Tab. 2.1 zeigt die sechs kognitiven Dimensionen einer geringen Ungewissheitstoleranz noch einmal im Überblick.  

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

..      Tab. 2.1  Die sechs kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz

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Kognitive Dimension

Beispielkognition

1. „Gewissheit ist absolut notwendig.“

„Ich muss einfach Gewissheit haben, egal wie!“

2. „Ungewissheit ist gefährlich.“

„Vage, schwer zu durchschauende Situationen sind meist auch gefährlich.“

3. „Ungewissheit ist belastend.“

„Mein Verstand kommt einfach nicht zur Ruhe, wenn ich nicht weiß, was morgen sein wird.“

4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“

„Ich werde einfach überwältigt von unvorhersehbaren Ereignissen.“

5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“

„Andere kriegen es viel besser hin, ein gewisses und sicheres Leben zu führen.“

6. „Ungewissheit ist unfair.“

„Es ist einfach ungerecht, im Leben für nichts eine Garantie zu haben.“

Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

Fallbeispiel Frau L. freut sich schon am Montag aufs Wochenende und auf die ganzen angenehmen Dinge, die sie für den kommenden Samstag und Sonntag schon geplant hat. Aber dann das: Eine Kollegin, die in der Woche zuvor krankgeschrieben war, klagt gleich am Montag darüber, immer noch erkältet zu sein. Sie niest gelegentlich und äußert beiläufig in der Frühstückspause, dass sie sich frage, ob sie nicht doch vielleicht zu früh an den Arbeitsplatz zurückgekommen sei. Frau L. beginnt unruhig zu werden. Was, wenn diese Kollegin, die auch am nächsten Wochenende Dienst hat, plötzlich wieder ausfällt? Dann wird ihr Vorgesetzter wahrscheinlich auf sie, Frau L., oder eine andere Kollegin zukommen und fragen, ob sie nicht einspringen können. Mist! Sie hat doch schon die Karten fürs Theater am Samstag. Und am Sonntag will sie doch endlich mal wieder zum Sport. Was, wenn sie dann arbeiten muss? Das wäre schon schlimm … Und gefährdet das nicht auf Dauer ihre Partnerschaft? Was soll sie nur machen? Nach einer Weile des Grübelns weiß sie einfach nicht mehr weiter. Immer wieder fragt sie unter vorgetäuschtem Mitgefühl die Kollegin, wie es ihr geht. „Ist es schon besser?“ Sie muss einfach Gewissheit haben! So jedenfalls hält sie das nicht mehr lange aus. Warum passiert das eigentlich immer ihr, dass sie in solche blöden unklaren Situationen gerät! Ist doch gemein!

31 2.3 · Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

2.3.2

2

Intoleranz gegenüber Ungewissheit – ihre Dynamik

In der Forschung finden sich bisher keine Bemühungen, über diese Liste an Überzeugungen geringer Ungewissheitstoleranz hinauszugehen. Eine Liste kognitiver Schemata macht allerdings noch lange keine kognitive Architektur: Gedanken treten schließlich selten allein, sondern gewöhnlich in Rudeln auf. Einzelne Kognitionsatome verklumpen sozusagen zu Kognitionsmolekülen – sie bilden kognitive Syndrome, Komplexe aus jeweils mehreren dieser Einzelüberzeugungen, die miteinander spezifische Verbindungen eingehen. Mehrere Modelle bieten nun die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen den sechs Überzeugungen geringer Ungewissheitstoleranz zu konstruieren. Das transaktionale Stresskonzept von Richard Lazarus (Lazarus 1966; Lazarus und Launier 1978) liefert ein attributionstheoretisches Modell, um die Überzeugungen geringer Ungewissheitstoleranz zu verknüpfen. Belastung entsteht hier aus einer primären Einschätzung der situativen Anforderungen und einer sekundären Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten, die einer Person zur Verfügung stehen, um mit diesen Anforderungen fertig zu werden. In einer primären Einschätzung fragt sich die Person also, was das Ereignis für ihr Wohlbefinden bedeutet: Tangiert mich das Geschehen? Und wie kompliziert sind die Anforderungen? Darauf folgt die sekundäre Bewertung: Habe ich die Fähigkeit, die Situation gut und verlässlich zu bewältigen? Wie sind die Handlungsmöglichkeiten? Können die Anforderungen routiniert bewältigt werden, bleibt die Anspannung niedrig, ist die Person aber der Situation hilflos ausgeliefert und steht die erfolgreiche Bewältigung auf der Kippe, dann steigt die Anspannung deutlich an. Lazarus hat sein Stressmodell (7 Abschn. 5.2) später zur vielleicht bekanntesten kognitiven Emotionstheorie ausgebaut – einer umfassenden „appraisal theory of emotion formation“ (David 2003, S. 142): Nicht nur Stress, sondern alle emotionalen Reaktionen entstehen hier durch die beiden Bewertungsschritte. Manche Überzeugungen geringer Ungewissheitstoleranz lassen sich nun sehr einfach in das Lazarus-Modell einordnen: „Ungewissheit ist gefährlich“ (Überzeugung 2) und „Ungewissheit ist belastend“ (Überzeugung 3) sind primäre Einschätzungsprozesse der Situation, „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ (Überzeugung 4) lässt sich dagegen ganz unkompliziert unter die sekundären Einschätzungen der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten sortieren – sie passen also hervorragend ins Bild des transaktionalen Stressmodells. Jemand, der seine Einschätzung ungewisser Situationen unter diesen kognitiven Prämissen vornimmt, dem wird Ungewissheit besonders zusetzen. Möglicherweise lässt sich zudem „Gewissheit ist absolut notwendig“ (Überzeugung 1) als eine Art Schlussfolgerung aus dem bisherigen Bewertungsprozess verstehen und einordnen. Es ist schließlich nur logisch, nach derartigen Einschätzungen ungewisse Lagen unbedingt abwenden zu wollen. Aber für die beiden verbliebenen Facetten geringer Ungewissheitstoleranz, „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“ (Überzeugung 5) und „Ungewissheit ist unfair“ (Überzeugung 6), bietet das Lazarus-Modell keine wirklich gute Erklärung. Natürlich kann man mit etwas gutem Willen auch diese beiden Überzeugungen in die Gruppe der Situationsbewertungen schubsen, dehnt diese dadurch aber doch deutlich über die im Konzept ursprünglich angedachten Situations 

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

..      Tab. 2.2  Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) im transaktionalen Stressmodell

2

Primärer Einschätzungsprozess

„Ungewissheit ist gefährlich.“ (Überzeugung 2) „Ungewissheit ist belastend.“ (Überzeugung 3)

Sekundärer Einschätzungsprozess

„Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“ (Überzeugung 4) Als Schlussfolgerung: „Gewissheit ist absolut notwendig.“ (Überzeugung 1)

Schwer zuordenbar

„Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“ (Überzeugung 5) „Ungewissheit ist unfair.“ (Überzeugung 6)

bewertungen aus. Trotz dieser Schwierigkeiten bietet das Modell gegenüber einer reinen Kognitionsliste ein deutliches Plus an Verständnis (vgl. . Tab. 2.2). Ein alternatives Modell, die verschiedenen Facetten geringer Ungewissheitstoleranz zusammenzudenken, bietet die Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT). Nach dem REVT-Störungsmodell bewegen sich Menschen entweder mit flexiblen oder aber mit starren, rigiden Absichten durch ihre Welt. Können nun gerade rigide Absichten nicht umgesetzt und absolutistische Forderungen nicht erfüllt werden, dann kommen drei zusätzliche Grundüberzeugungen ins Spiel: Die unerfüllten Forderungen können zu weiteren Einschätzungen des Sachverhalts (die Auswirkungen sind schrecklich, nahezu unerträglich) oder der beteiligten Personen führen (andere sind Idioten, man selbst ein Versager). In „a second wave of informational processing“ (David et al. 2013, S. 28) folgen also weitere Einschätzungen aus den gescheiterten Wünschen. Es handelt sich auch hier um extreme Bewertungen des Zustands, der eintritt, nachdem sich eine absolute Forderung nicht erfüllt hat. Die REVT unterscheidet also vor allem zwischen ihren vier bekannten irrational beliefs: Demandingness (absolutistisches Fordern, DEM), Awfulizing (Verschrecklichen, AWF), Frustration Intolerance (Frustrationsintoleranz, FI) und Damning/Global Evaluation (pauschales Abwerten, GE). Konträr zum transaktionalen Stressmodell von Lazarus stehen hier also absolute Forderungen wie ein ausgeprägtes Gewissheitsverlangen nicht als Schlussfolgerungen am Ende der Einschätzungsprozesse, sondern an deren Anfang. Beständig sagen sich Menschen, was passieren muss, wie jemand sein sollte oder was auf keinen Fall sein darf – eine seltsame Mischung von Erwartungen und Wünschen, die so verfestigt sind, dass ihre ausbleibende Erfüllung starke Emotionen erzeugt. Die REVT spricht hier auch manchmal von ihrer PM-Hypothese – einer „primacy of the musts“ (Still und Dryden 2012, S. 25). Am Beispiel des Erlebnisses einer Krankenschwester auf ihrer Station stellt sich der komplette Bewertungsprozess der REVT so dar, wie in . Tab. 2.3 gezeigt. Auch das REVT-Modell bietet eine gute Einordnung einiger der sechs Ungewissheitsüberzeugungen. „Gewissheit ist absolut notwendig“ (Überzeugung 1) erscheint hier als Kernkognition geringer Ungewissheitstoleranz. Erst wenn sie sich nicht erfüllt, kommen die anderen Überzeugungen ins Spiel: „Ungewissheit ist gefährlich“ (Überzeugung 2) und „Ungewissheit ist belastend“ (Überzeugung 3) lassen sich als AWF oder FI verstehen. Überzeugung 5 – „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“ –, die sich im Lazarus-Modell nur schwer einordnen ließ, lässt sich hier sehr gut als pauschales Abwerten der eigenen Person (GE) verstehen.  



2

33 2.3 · Was ist (eine geringe) Ungewissheitstoleranz?

..      Tab. 2.3  Der Zusammenhang von Situation, Forderung und abgeleiteten Bewertungen in der REVT Absolutistische Forderung

„Alle Menschen müssen gerecht und fair sein.“

Beschreibungen und Interpretationen (Kognitionsoberfläche)

„Der Chefarzt hat heute eine andere Krankenschwester vor meinen Augen ganz ungerechtfertigt angeschrien.“

Abgeleitete Bewertungen (kognitive Tiefenstruktur)

Bewertung des Satzsubjekts (GE): „Was für ein Arschloch!“

Bewertung des Satzprädikats (AWF & FI): „Das Verhalten war einfach nur schrecklich, ganz unerträglich.“

..      Tab. 2.4  Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) im REVT-Modell Katastrophisieren (AWF): „Wie furchtbar, wenn ich keine Gewissheit habe. Dann passiert etwas Gefährliches!“ (Überzeugung 2)

Frustrationsintoleranz (FI): „Es ist extrem belastend, ja letztlich nicht auszuhalten, wenn ich bei etwas im Ungewissen bleibe.“ (Überzeugung 3)

Pauschales Abwerten (GE): „Dass ich keine Gewissheit schaffen kann zeigt, dass ich ein schwacher, unorganisierter, unfähiger Mensch bin.“ (Überzeugung 5)

Grundüberzeugungen „Belief System“ (Ellis 2005, S. 23)

Absolutistische Forderung (DEM): „Ich muss bei den Dingen, die ich tue, absolute Gewissheit haben. Ich brauche sie unbedingt.“ (Überzeugung 1)

Schwer einordenbar

„Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“ (Überzeugung 4) „Ungewissheit ist unfair.“ (Überzeugung 6)

Während sich „Ungewissheit ist unfair“ (Überzeugung 6) noch mit etwas Mühe als Auswirkung einer zweiten absolutistischen Forderung einordnen lässt – sie formuliert nur eben kein Gewissheits-, sondern ein Gerechtigkeitsverlangen („Ich muss fair und gerecht behandelt werden“) –, liegt die Schwäche des REVT-Modells vor allem bei der Überzeugung „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ (Überzeugung 4), die so hervorragend ins Bild des transaktionalen Stressmodells passte. Solche Handlungsüberzeugungen sind im REVT-Modell nicht vorgesehen (. Tab. 2.4 gibt einen Überblick). Das transdiagnostische Modell geringer Ungewissheitstoleranz von Danielle Einstein geht parallel zu Lazarus von einem zweischrittigen kognitiven Bewertungsprozess ungewisser Situationen aus. Wird ein Mensch mit Ungewissheit konfrontiert, unternimmt er zuerst eine Gefahreneinschätzung: Wie bedrohlich oder belastend wird die Ungewissheit, die auf mich zukommt? Er stellt sich dazu negative mögliche Konsequenzen vor und spielt in einer mentalen Simulation verschiedene mögliche Zukunftsvarianten durch: „When faced with uncertainty, the individual makes a threat estimate“ (Einstein 2014, S. 287). In einem zweiten Bewertungsschritt trifft nun diese eingeschätzte Bedrohung anders als im Lazarus-Modell nicht auf eine Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit, sondern auf die interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Bereit 

34

Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

..      Tab. 2.5  Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) im transdiagnostischen Modell von Einstein (2014)

2

Primärer Einschätzungsprozess

„Ungewissheit ist gefährlich.“ (Überzeugung 2) „Ungewissheit ist belastend.“ (Überzeugung 3)

Sekundärer Einschätzungsprozess

„Gewissheit ist absolut notwendig.“ (Überzeugung 1)

Schwer zuordenbar

„Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“ (Überzeugung 4) „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“ (Überzeugung 5) „Ungewissheit ist unfair.“ (Überzeugung 6)

schaft, Ungewissheit zu tolerieren: „Individuals also possess a metabelief about their willingness to experience uncertainty“ (S. 288): Bin ich bereit, Ungewissheit zu ertragen, oder brauche ich unbedingt Gewissheit? Auch dieses Modell geht über eine bloße Auflistung der kognitiven Überzeugungen hinaus und ähnelt in seinem Aufbau aus primärer und sekundärer Bewertung der Lage deutlich dem Lazarus-Modell. Für die Überzeugungen „Ungewissheit ist gefährlich“ (Überzeugung 2) und „Ungewissheit ist belastend“ (Überzeugung 3) bietet es eine gute Lösung. Ebenso für die Überzeugung „Gewissheit ist absolut notwendig“ (Überzeugung 1). Für die verbleibenden drei Überzeugungen „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“ (Überzeugung 5), „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ (Überzeugung  4) und „Ungewissheit ist unfair“ (Überzeugung  6) fehlt dem Modell dagegen eine sofort einleuchtende Zuordnung (vgl. . Tab. 2.5). Alle drei vorgestellten Modelle eines Denk- oder Bewertungsprozesses bei geringer Ungewissheitstoleranz zeigen leicht erkennbar Stärken und Schwächen. Ich werde mich im Weiteren tendenziell mehr auf das REVT-Modell stützen, aus dem sehr praktischen Grund, dass es neben der Theorie auch interessante Interventionen für die kognitiven Hauptelemente der Intoleranz gegenüber Ungewissheit bereithält. Wie kommen nun die – so oder so – ineinandergreifenden Facetten geringer Ungewissheitstoleranz im konkreten Leben in Bewegung? Eine langjährige Suche nach Ungewissheit in alltäglichen Lebenssituationen hat bei den von geringer Ungewissheitstoleranz Betroffenen gewöhnlich bereits zur Ausbildung eines differenzierten Ungewissheitssensoriums geführt, das bei ungewissheitshaltigen Situationen sofort anschlägt  – ein Alarm, der häufig gegeben wird und bedeutet, dass gerade gegen das ausgeprägte Gewissheitsverlangen verstoßen wird. Durch diese Sensibilität für das Ungewisse wird die Aufmerksamkeit bereits für minimale ungewisse Umstände geschärft (Carleton et  al. 2012). In der Kaskade der oben beschriebenen kognitiven Bewertungsprozesse kommt es zu Angst als zentraler emotionaler Reaktion, die wiederum zwei Verhaltensweisen motiviert, um erneut Gewissheit herzustellen und so den subjektiven Eindruck der Bedrohung zu beseitigen: Sichsorgen und Vergewisserungsverhalten. Im Sichsorgen (7 Abschn. 5.1.1) geben sich Menschen denkerisch Mühe, auf ungewisse zukünftige Ereignisse gut vorbereitet zu sein, schließlich will man alle möglichen Ausgänge durchdenken und sich bereits vorweg auf sie einstellen. Sichsorgen tritt ge 



35 2.4 · Unterschiede in der Intoleranz gegenüber Ungewissheit …

2

rade bei geringer Ungewissheitstoleranz häufig auf – „findings suggest that intolerance of uncertainty represents a key cognitive process involved in both non-clinical and clinical worry“ (Dugas et al. 2005, S. 58 f.). Sicherheit wird zudem über praktisches Vergewisserungsverhalten (7 Abschn. 5.1.3) gesucht, wobei noch zwischen vermeidendem und annäherndem Vergewisserungsverhalten unterschieden werden kann. So schieben Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz häufiger Entscheidungen vor sich her, oder aber sie verlieren sich in übertriebener Informationssuche, um sich doch noch Gewissheit über eine Sache zu verschaffen.  

Fallbeispiel Immer wieder verblüffte Herr W. seinen Therapeuten durch das anstrengungslose Aufspüren von Ungewissheit in Alltagssituationen, an die dieser bisher nicht einmal gedacht hatte. Warum habe Herr W. denn eigentlich diesen Arzttermin so lange vor sich hergeschoben? Es gehe doch schließlich um nichts Bedrohliches, nur um eine Routineuntersuchung. Ja, aber bei dem Arzt sei er schließlich noch nie gewesen. Und wenn er beim ersten Termin dort in der Gegend keinen Parkplatz finde, dann komme er vielleicht dort zu spät. Wie sieht das denn aus! Wie peinlich! Und auf die Frage, warum Herr W. immer so verspannt sei, wenn sein Sohn mit den beiden Enkeln zu Besuch sei, schließlich habe er die beiden doch herzlich gern, antwortet der Gefragte: Ja, gerade deswegen! Was, wenn sich die beiden Kleinen beim Herumtoben auf dem Wohnzimmersofa plötzlich verletzen? Wenn sie z. B. stürzen. Oder sich an einer Kante stoßen. Das sehe er in diesen scheinbar entspannten Spielsituationen jede Sekunde kommen. Ja, klar, er wisse natürlich, dass das bei all den vielen Besuchen noch nie passiert ist. Aber möglich sei es doch … und diese Ungewissheit setze ihm eben zu. Nie sei er bei diesem Familientreffen richtig entspannt. Immer wieder spiele er im Kopf durch, was alles passieren und wie er dem zuvorkommen könne. Möglichst unauffällig suche er sich einen Platz direkt neben dem Sofa, auf dem die Kinder toben, um sofort eingreifen zu können. Er nehme nur sehr zerstreut an den Gesprächen der Erwachsenen teil. Manchmal versuche er auch die Kinder von ihrem Spielplatz wegzulocken und davon zu überzeugen, dass es doch viel schöner sei, mit ihm, ihrem Großvater, etwas zu schmusen. Aber dann lauere ja schon die nächste Ungewissheit auf ihn: Lassen die Kinder sich darauf ein oder nicht?

2.4  Unterschiede in der Intoleranz gegenüber Ungewissheit –

ungewissere Lebensbereiche und intolerantere Personengruppen

Autoren psychotherapeutischer Werke betonen üblicherweise die Allgegenwärtigkeit von Ungewissheit im menschlichen Leben – im Alltag kommt die Intoleranz gegenüber Ungewissheit therapierelevant zum Tragen. Im Alltag muss ständig eine Wahl oder Entscheidung getroffen werden, die eben immer mit einem gewissen Grad an Ungewissheit durchsetzt sind. Man weiß einfach nie bis ins Letzte Bescheid – über alle Computermodelle, die man kaufen könnte, über die Versicherungen, die man abschließen sollte, den Beruf, den man wählen sollte, die Wohnung, die man mieten könnte: „In everyday life, we are required to make many choices, appraisals, and decisions, usually with an insufficient amount of information, a limited timeframe, conflicting emotions, and

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

some degreee of uncertainty with regard to the outcome. Yet, most individuals manage to deal with these constraints and are able to make decisions of minor or major significance with relative ease under such conditions“ (Koerner und Dugas 2006, S. 212 f.). Und subjektive Unsicherheit scheint in Deutschland wirklich ein verbreitetes Phänomen zu sein. In Interviews mit tausend zufällig ausgewählten Personen zu Unsicherheiten im Leben berichteten 90 Prozent der Befragten über aktuelle Unsicherheit bei zumindest einem wichtigen Lebensthema, 50 Prozent gaben sogar eine starke oder sehr starke Unsicherheit an: Wie geht es beruflich weiter? Bleibe ich gesund? Hält die Partnerschaft? Die Erfahrung von Ungewissheit in wichtigen Lebensvollzügen ist demnach weitverbreitet und erfasst ein ebenso breit gefächertes Spektrum von Lebensbereichen. Im Jahr 2007 erlebten 50 Prozent der Befragten ihre finanzielle Lage als Gratwanderung zwischen Meistern und Absturz, 30 Prozent sorgten sich um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes, 36 Prozent um ihre Gesundheit, 18 Prozent sahen sogar mehrere Lebensbereiche als ungewiss an (Lantermann et al. 2009). Bisher haben weitere Differenzierungen noch nicht das Interesse der psychotherapeutischen Ungewissheitsforscher geweckt, aber: Ist Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz wirklich so gleichmäßig, quasi existenziell, über alle Leben verteilt? Verschiedene Beobachtungen sprechen zumindest dagegen. So betreffen ungewissheitsträchtige Lebenslagen sicher nicht alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen. Zwar machten sich in der erwähnten Umfrage auch Mitglieder der Mittelschicht Sorgen um eine ungewisse Zukunft, aber die Häufigkeit der zugemuteten individuellen Ungewissheit und Unsicherheit wurde von der sozialen Lage vermittelt – prekäre und damit ungewisse Lebenslagen häufen sich in den unteren sozialen Schichten (7 Abschn. 4.2.2). Eine weitere Umfrage deutet zudem an, dass Jüngere eher von geringer Ungewissheitstoleranz betroffen sind als Ältere. „Zukunftsblockade bei 47 Prozent der Twens“, titelte eine Zeitung nach dieser Studie (Druyen 2018). Der Aussage „Wenn etwas anders läuft als  

geplant, bin ich schachmatt und möchte mich am liebsten in Luft auflösen“ stimmten nämlich 47 Prozent der 18- bis 29-Jährigen zu. Dieser Prozentsatz nahm mit fortschreitendem Alter ab, und bei den über 60-Jährigen erreichte diese Aussage nur noch eine Zustimmung von 20 Prozent. Zumindest der Aspekt der Handlungsunfähigkeit bei Ungewissheit findet sich also womöglich eher bei Jüngeren.

Die pädagogische Forschung hat schließlich verschiedene Gruppierungen mit einem der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) sehr ähnlichen – nur konträr formulierten – Konzept der Ungewissheitstoleranz auf deren Ausprägung untersucht. In einer Studie zeigte sich der Grad an Ungewissheitstoleranz zwar nicht bildungs- oder geschlechts-, aber doch berufsabhängig. Am meisten Ungewissheitstoleranz brachten hier überraschenderweise die Verwaltungsangestellten auf, gefolgt von in der Industrie Arbeitenden und den Angestellten einer Fluglinie (Piloten und Pilotinnen, Flugbegleitung). Auffällig ist das Ergebnis für Lehrerinnen und Lehrer, deren Ungewissheitstoleranz am geringsten ausfiel. Nach dieser Studie müssen Lehrer und Lehrerinnen also als eher ungewissheitsintolerant angesehen werden. Die Ursachen hierfür sind wohl komplex: Werden sie es durch die Ausbildung, oder wählen ungewissheitsintolerantere Menschen besonders häufig den Lehrberuf (Dalbert und Radant 2010)? Innerhalb eines anderen Berufsbereichs (Sozialarbeit) zeigten sich zudem die Berufserfahrenen sicherer in ihrem Wissen und ihrer Kompetenz, die Anfänger waren dafür aber ungewissheitstoleranter. Die Ressource der Ungewissheitstoleranz nahm hier also mit dem Alter ab (Heisig et al. 2009).

37 2.5 · Mögliche Ursachen einer geringen Ungewissheitstoleranz

2

Schließlich lohnt zumindest der Hinweis auf einen „Lebensbereich“, der in der Ungewissheitsforschung bisher komplett übersehen worden ist – die „Angst vor der Unberechenbarkeit des Inneren“ (Grubner 2017, S. 114). Wie selbstverständlich geht die Ungewissheit in psychotherapeutischen Beispielen ausnahmslos von äußeren Umständen aus. In der Antike gab es dagegen gewissermaßen zwei Orte der Ungewissheit – das Außen der ungewissen Lebensumstände und das Innen eigener ungewisser Impulse, Gefühle oder Leidenschaften (Hempel 2012): Wird mir mein Gedächtnis bei der Prüfung einen Streich spielen? Wird mich meine Bequemlichkeit, meine Angst einfach überwältigen? Jedem war es hier aufgegeben, bei sich selbst für innere Sicherheit zu sorgen – für die Gewissheit, Lüste beherrschen und Affekte mäßigen zu können. Auch wenn die Ungewissheit gegenüber dem Inneren in der Forschung zur Ungewissheitstoleranz bisher keine Rolle spielt – sie ist natürlich nicht aus dem heutigen Diskurs verschwunden, denkt man z. B. an die Bemühungen des Lifelogging, den eigenen Körper immer besser zu vermessen und so die Ungewissheit in Bezug auf den eigenen Organismus zu reduzieren. So formuliert Florian Schumacher, einer der Gründer der deutschen Quantified-Self-Bewegung, deren Ziele so: „Es geht darum, ‚sich selbst besser kennenzulernen‘ und von der Vermutung zur Gewissheit zu gelangen“ (Selke 2014, S. 40). Durch kleine elektronische Selbstvermessungsgeräte sollen hier ein Unbekanntes und seine ungewissen Auswirkungen unter Kontrolle gebracht werden. 2.5  Mögliche Ursachen einer geringen Ungewissheitstoleranz

Woher kommt es, dass Menschen ungewisse Situationen vor allem als Bedrohung ansehen und sich in ihnen als handlungsunfähig erleben, sodass sie dringend nach Gewissheit verlangen? Sehr weit reicht die Forschung bezüglich dieser Fragen noch nicht über instruktive, aber wenig belegte Überlegungen hinaus: „Wir lehren unsere Kinder die Mathematik der Sicherheit – Geometrie und Trigonometrie –, aber nicht die der Ungewissheit“ (Gigerenzer 2014, S.  27). Die Pädagogik verpasst es demnach, Kinder schon in der Schule wirklich risikokompetent zu machen, also auf die Auseinandersetzung mit den alltäglichen Ungewissheiten vorzubereiten. Sie lernen nur, auf der Basis von Gewissheiten zu handeln und diese anzustreben, statt Ungewissheit als Teil des normalen Lebens mutig anzugehen. Darüber hinaus gibt es bereits einige wenige Indizien für mögliche Ursachen einer geringen Ungewissheitstoleranz, die sich vor allem auf Aspekte der Eltern-Kind-­ Beziehung konzentrieren – ein umfassenderes Entwicklungsmodell, das auch Kindesfaktoren oder andere soziale Einflüsse berücksichtigt, existiert bisher noch nicht. In einer Studie korrelierte z. B. die Ungewissheitstoleranz der Kinder vor allem mit derjenigen ihrer Mütter: Je ausgeprägter die Ungewissheitstoleranz der Mütter, desto höher war auch die der Kinder. Die Ungewissheitstoleranz der Väter spielte dagegen keine Rolle – ein wenig überraschendes Ergebnis, erinnert man sich an die immer noch deutlich höhere Präsenz der Mütter in der Kindererziehung (Goch 1998). Dabei übersetzt sich die Ungewissheitstoleranz der Eltern durch spezifische Erziehungsstile in die der Kinder. Manche Eltern erziehen ihre Kinder überbehütend und überkontrollierend. Zudem erlauben sie diesen, angstauslösende Ereignisse zu vermeiden. Ein solcher Erziehungsstil als Entstehungsbedingung geringer U ­ ngewissheitstoleranz ist nahe-

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

liegend und findet sich auch häufiger in kasuistischen Darstellungen dazu, wie Menschen zu ihrem ausgeprägten Gewissheitsverlangen und ihrer Risikoscheu kommen: „Der Biologe und Intellektuelle E. O. Wilson wurde einmal gefragt, was seiner Ansicht nach die Entwicklung von Kindern am meisten behindere; seine Antwort: die Übermutti. […] Übermuttis arbeiten darauf hin, aus dem Leben ihrer Kinder das Versuch-­und-Irrtum-Moment […] zu eliminieren, sie bewegen sie vom Ökologischen, von der realen Welt weg und verwandeln sie in Nerds, die in vorgefertigte (Übermutti-­kompatible) Realitätsentwürfe passen. Ihre Kinder werden gute Schüler, aber Nerds – wie Computer, nur langsamer. Sie erwerben auch keinerlei Erfahrung im Umgang mit Ambiguität“ (Taleb 2013, S. 375). Auch ein autoritärer, sehr regelorientierter Erziehungsstil steht in Verdacht, geringe Ungewissheitstoleranz zu fördern. Schon Else Frenkel-Brunswik hatte 1949 Indizien für einen Zusammenhang zwischen der Ambiguitätstoleranz (7 Abschn. 3.2.1), einem der Intoleranz gegenüber Ungewissheit ähnlichen Konzept, und einer autoritären Erziehung gefunden – und umgekehrt finden sich inzwischen Hinweise darauf, dass eine flexible Regelorientierung in der Familie sowie eine nachsichtige und tolerante Erziehung einen engen Zusammenhang zur Entwicklung der Ungewissheitstoleranz aufweisen. In einer Pilotstudie zumindest korrelierte die im Rückblick beschriebene Erziehung mit wenig Regelorientierung, einer gering ausgeprägten Erziehung zur Konformität und einer ausgeprägten Anleitung zur Selbstständigkeit mit größerer Ungewissheitstoleranz. Der Grad an Regelorientierung in der Familie war dabei der zentrale der drei Faktoren: „Je weniger ausgeprägt die Studentinnen die Regelorientierung in der Familie erlebten, desto ausgeprägter war ihre Ungewißheitstoleranz“ (Goch 1998, S. 121). Neben Überfürsorglichkeit und starker Regelorientierung gilt auch eine Erziehung mit ausgeprägter Kritik und einem Mangel an Wärme als Kandidat, wenn es um Ursachen für die Entwicklung von geringer Ungewissheitstoleranz geht. Hintergrund ist die Bindungstheorie von Bowlby, der kindliche Ängste auf eine „insecurity over the availability of an attachment figure“ (Grad 2011, S. 6) zurückgeführt hat, sie damit in die Nähe eines beständigen Erlebens von Ungewissheit gegenüber den Eltern rückt. Das klingt zumindest plausibel: Ungewissheit bezüglich der Eltern lädt demnach auch spätere Ungewissheiten mit Bedrohlichkeit auf. Überraschenderweise finden sich aber nun gerade Befunde über einen positiven Zusammenhang zwischen einem inkonsistenten elterlichen Erziehungsverhalten und einer ausgeprägten Ungewissheitstoleranz der Kinder: „Die Ungewißheitstoleranz der Kinder war um so stärker ausgeprägt, je ausgeprägter sie die inkonsistente Erziehung durch die Väter und Mütter sowie die Konfliktneigung in der Familie wahrnahmen“ (Goch 1998, S. 105). Auch hier war es wieder vor allem die Inkonsistenz der Mütter – je inkonsistenter die Mütter erzogen, desto ausgeprägter war später die Ungewissheitstoleranz der Kinder. Eine inkonsistente Erziehung war dabei geprägt von nicht konstantem und ambiguitärem Verhalten in wiederkehrenden Situationen. Und auch die Häufigkeit elterlicher Konflikte in der Kindheit förderten in der gleichen Studie die spätere Ungewissheitstoleranz, statt zu einer geringen Ungewissheitstoleranz beizutragen – als je ausgeprägter die Mädchen und Jungen die Konfliktneigung in der Familie beschrieben, desto ausgeprägter war ihre Ungewissheitstoleranz. Die Ergebnisse sind auf den ersten Blick verblüffend. Kann etwas Gutes wie die Ungewissheitstoleranz durch etwas Schlechtes wie eine inkonsistente und konfliktbeladene Erziehung gefördert werden? Schließlich gilt: „Der inkonsistenten Erziehung haftet ebenso wie der Konfliktneigung ein negatives Bild an […]. Inkonsistenz bedeutet Un 

39 Literatur

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eindeutigkeit, was im allgemeinen keinen Beifall in der Gesellschaft findet“ (Goch 1998, S. 128). Die Ergebnisse werfen auf den zweiten Blick aber ein durchaus interessantes Licht auf die Kompetenz der Ungewissheitstoleranz: Schließlich handelt es sich bei ihr ebenfalls nicht um eine rein positiv aufgeladene Fähigkeit wie Offenheit oder Kreativität, sondern es geht um die Kompetenz, mit etwas eher Unangenehmem, Negativem – Ungewissheit – trotzdem gut zurechtzukommen. Warum sollte man dies also nicht an ähnlichen Erziehungsbedingungen besonders gut lernen? Eine Umbewertung des beschriebenen Erziehungsstils wäre eine andere mögliche Erklärung. In der heutigen Zeit wird bei der Erziehung besonderer Wert auf einen flexiblen Umgang mit komplexen Situationen gelegt, sodass eine negative Beschreibung eines solchen Erziehungsstils vielleicht nicht mehr am Platz ist: Inkonsistente Erziehung kann einerseits Verwirrung und Verunsicherung hervorrufen und andererseits den konstruktiven Umgang mit ambiguitären Situationen fördern. Sieht man sich die Items des benutzten Fragebogens im Detail an, fällt aber doch auf, dass dort eher ein deutlich negativer Erziehungsstil beschrieben wurde („Ich werde von meiner Mutter getadelt, ohne daß ich genau weiß wofür“). 2.6  Die Messung von Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU)

Die meisten Studien zur Intoleranz gegenüber Ungewissheit stützen sich auf zwei Fragebögen, mit denen Ungewissheitsintoleranz weltweit vermessen wird – die IUS (Intolerance of Uncertainty Scale) und die Subskala zu Perfektionismus/Gewissheit des OBQ (Obsessive Beliefs Questionnaire). Die beiden Skalen sind jeweils an unterschiedlichen Störungen interessiert: Die IUS gilt eher als zugeschnitten auf die Generalisierte Angststörung, die Subskala des OBQ ist eher zwangsorientiert. Daher sind sie verschieden gestaltet, und ihre Faktorenstruktur fällt ein wenig unterschiedlich aus. Zudem sind die einzelnen Aussagen im QBC eher gravierender formuliert (Gentes und Ruscio 2011). Die IUS besteht aus 27 Aussagen (z. B. „Ungewissheit macht das Leben schwer zu ertragen“). Zusätzlich gibt es eine Kurzform mit nur 12 Aussagen. Manchmal werden beide Skalen auch als IUS-27 und IUS-12 abgekürzt. Auch eine deutsche Version des IU-Fragebogens liegt vor (Gerlach et al. 2008). Zur Messung der Ungewissheitstoleranz steht außerdem aus dem pädagogischen Bereich die Ungewissheitstoleranzskala von Dalbert (Beispielitem: „Ich probiere gerne Dinge aus, auch wenn nicht immer etwas dabei herauskommt“) zur Verfügung (Dalbert und Radant 2010).

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Kapitel 2 · Geringe Toleranz gegenüber dem Ungewissen – Definitionen und mögliche Ursachen

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43

Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten 3.1

Varianten des Unbestimmten – 44

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4

 nsicherheit – 44 U Risiko – 46 Ambiguität – 47 Zufall – 49

3.2

 olerieren oder akzeptieren? Formen des T Umgangs mit dem Ungewissen – 51

3.2.1 3.2.2

F rustrationstoleranz – 51 Ungewissheitsakzeptanz als eine Facette der Realitätsakzeptanz? – 52

3.3

Ungewissheitstoleranz und Handeln – 54

3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

 ngewissheitsorientierung – 54 U Sensation Seeking – 55 Vertrauen – 56 Kontrolle – 58

Literatur – 60

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3

44

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Ungewissheit ist nur ein Mitglied aus der großen Familie des Unbestimmten, und ebenso sind vielfältigere Umgangsweisen mit diesen Varianten des Unbestimmten oder Unklaren denkbar, weit über Toleranz und Intoleranz hinaus. Um die Grenzen des Ungewissen und der (geringen) Ungewissheitstoleranz genauer abzuschreiten, deren Bedeutungen besser zu verstehen und therapeutisch zielgenauer einsetzen zu können, lohnt sich daher ein Vergleich mit ähnlichen Begriffen. In diesem Kapitel wird die Ungewissheitstoleranz dazu mit wichtigen nahestehenden Konzepten verglichen: Was hat Ungewissheit z. B. mit Unsicherheit oder Risiko gemeinsam? Was unterscheidet eine Toleranz gegenüber Ungewissheit von ihrer Akzeptanz?

Das Unbestimmte und Unklare, das Uneindeutige und Vage, das Ambivalente, Ambige und Unvorhersehbare – es steht nicht nur dem Klaren und Geordneten, dem Absehbaren und gut Strukturierten gegenüber, sondern bildet auch schnell eine trübe Einheit des Verwischten. Die Ungewissheit, um die es hier geht, ist nur ein Teilgebiet des Unbestimmten. Ohne unterscheidungssüchtig erscheinen zu wollen: Seine Konturen lassen sich deutlich besser verstehen, wenn man nicht allein seine innere Struktur untersucht (7 Abschn. 2.3.1), sondern ebenso die Abstände zu und gemeinsamen Wegstrecken mit anderen Formen des Unklaren. Was teilt die Ungewissheit etwa mit der Unsicherheit? Was unterscheidet sie vom Risiko oder vom Zufall? Ebenso lohnt es sich, die Grenzen der Toleranz gegenüber Ungewissheit abzuschreiten: Wie unterscheidet sich Ungewissheitstoleranz von Ungewissheitsorientierung? Ist eine Unterscheidung zwischen Ungewissheitstoleranz und -akzeptanz sinnvoll? Im Folgenden werden einige ähnliche Begriffe beschrieben, um die wichtigsten Fluchtlinien des Ungewissen auch von außen konkreter zu bestimmen.  

3.1  Varianten des Unbestimmten 3.1.1  Unsicherheit

Sicherheit oder Gewissheit, Unsicherheit oder Ungewissheit – im Alltag macht das oft keinen Unterschied: Ist man sich über das Wetter nicht sicher, dann herrscht Ungewissheit, ob es morgen regnet oder nicht. Von Sicherheit oder Unsicherheit zu sprechen ist im Alltag zudem wohl deutlich gebräuchlicher als die Rede von Gewissheit oder Ungewissheit. Es ist eben einfach in sehr vielen Lebensbereichen von Sicherheit oder ihrer Abwesenheit die Rede, z. B. in der Politik. Als eine der zentralen Aufgaben jedes Staates gilt es, die Sicherheit seiner Mitbürger zu gewährleisten. Heute finden sich zudem eine ganze Reihe käuflich zu erwerbender Sicherheitsprodukte – „Airbags, Anti-­Virenprogramme, Diebstahlsicherungen, Bunkerarchitektur, Reiseversicherungen“ (Holert 2004, S. 246). Private Sicherheitsdienste wollen Sicherheit vermitteln. Aber macht nicht gerade die Gegenwart eines privaten Sicherheitsdienstes im Supermarkt erst darauf aufmerksam, dass dieser Ort nicht ganz ungefährlich sein könnte? Solche kursorischen Beispiele zeigen bereits einen wichtigen Unterschied zwischen Ungewissheit und Unsicherheit auf: Unsicherheit ist enger mit Gefahr verschwistert als Ungewissheit. Schon die Wortgeschichte der Sicherheit (lat. „securus“) deutet es an: Der

45 3.1 · Varianten des Unbestimmten

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römische Philosoph Cicero übersetzte den Begriff in der Antike aus der griechischen Ethik als „se curus“ – ohne Sorge. Sicherheit bezeichnet hier die Sorglosigkeit, die mit der Abwesenheit jeder Gefahr verbunden ist (Hempel 2012). Bedrohung kann natürlich auch eine Bedeutungsfacette von Ungewissheit sein, vor allem dort, wo die Ungewissheitstoleranz gering ausfällt (7 Abschn. 2.3.1) – sie ist es aber nicht zwangsläufig. Bei Unsicherheit dagegen gehört Gefahr schon zum Begriff.  

„Es lassen sich zwei Bedeutungsvarianten von Unsicherheit unterscheiden, von denen die erste als Unsicherheit im Sinne von Gefahr oder Bedrohung beschrieben werden kann, während die zweite sich auf Zustände des Nicht-Wissens oder jeden­ falls nicht-genau Wissens bezieht und daher präziser als Ungewissheit zu kennzeichnen wäre“ (Lantermann et al. 2009, S. 1).

Genauer als im Alltag wird in Ökonomie und Entscheidungstheorie zwischen Unsicherheit und Ungewissheit getrennt. Entscheidungen unter Unsicherheit gelten sogar als das hauptsächliche Beschäftigungsgebiet der Entscheidungstheorie: Unsicherheit fungiert dabei als eine Art Oberbegriff für alle möglichen Unklarheiten bezüglich solcher Entscheidungen. Es geht in der Entscheidungstheorie gewöhnlich um ökonomische Entscheidungen (Welches Getreide soll ein Bauer anbauen?) und den damit verbundenen unterschiedlichen Gewinn. Entscheidungen dieser Art hängen von mehreren Faktoren ab, die zumeist leider nicht eindeutig vorherzusagen sind (das Wetter, die Nachfrage auf dem Weltmarkt, die Anbaukosten). Von einer Entscheidung unter Sicherheit spricht man, wenn alle diese Faktoren bereits klar sind. Meistens jedoch sind zwar die Handlungsalternativen klar (hier etwa die alternativen Getreidesorten), aber für die anderen Faktoren können nur verschiedene Stadien an Unbestimmtheit gelten: „Wenn den einzelnen Umweltzuständen Eintrittswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können, so spricht man von einer Entscheidung unter Risiko. Lassen sich hingegen keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen, so handelt es sich um eine Entscheidung unter Ungewissheit“ (Dörsam 2013, S. 12). Ungewissheit ist hier also ein Unterbegriff der Unsicherheit und dadurch gekennzeichnet, dass man keine Eintrittswahrscheinlichkeiten für eine Gruppe von Zukunftszuständen kennt. Wird es morgen regnen? Kann sein, kann nicht sein. Genaueres lässt sich nicht sagen. Bei vielen Entscheidungssituationen sind aber weder die Voraussetzungen für Risiko noch die für Ungewissheit erfüllt: Die Informationslage ist derart diffus, dass die verschiedenen Handlungsalternativen nicht auszumachen sind, geschweige denn die jeweiligen Ergebnisse. In derartigen Situationen wird von einer Entscheidung unter Unwissenheit gesprochen  – und sie wird notwendigerweise aus dem Bauch heraus getroffen. Unwissenheit (man kennt nicht einmal die möglichen Ausgänge), Ungewissheit und Risiko sind also drei Begriffe, die unterschiedliche Grade an Unbestimmtheit bezüglich der Zukunft bezeichnen – und diese Unbestimmtheit wird für ein Lebewesen umso größer, je weniger es die Sachverhalte seiner Umgebung kategorisieren die zukünftigen Zustände der Komponenten der gegenwärtigen Situation voraussehen kann.

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Durch den Vergleich mit der Unsicherheit gewinnt die Ungewissheit deutlich an Kontur: Einerseits ist sie nicht so eng mit einer Bedrohung oder Gefahr verbunden, sondern betont mehr den Aspekt der Unbestimmtheit des Kommenden. Andererseits bedeutet Ungewissheit im engeren Sinn, dass man zwar weiß, was passieren könnte, aber nicht abschätzen kann, welcher Ausgang wie wahrscheinlich ist. Werde ich in der Nähe des Kinos einen Parkplatz finden? Und komme ich dann noch pünktlich zum Film? Zahlen für eine verlässliche Kalkulation liegen hier sicherlich nicht vor. 3.1.2

Risiko

Der Begriff Risiko kam mit dem entstehenden Fern- und Seehandel in den italienischen Stadtstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts auf und leitet sich von dem italienischen Verb „riscare“ ab, mit der Bedeutung von „etwas wagen“. Aber das Wort lässt sich noch weiter bis zu einem sehr konkreten Risiko zurückverfolgen: „risico“ oder „risco“ wurde wohl abgeleitet von einer griechischen Wurzel, die auch „Klippe“ bedeutete, und verallgemeinerte sich dann schnell: „In der Kaufmannssprache stand der Begriff seit dem 15. Jahrhundert für ‚Gefahr‘, ‚Unsicherheit‘ und ‚Wagnis‘, aber ebenso für ‚Chance‘ und ‚Möglichkeit‘“ (Wolf 2009, S. 26 f.). Mit dem Begriff und seinem Handlungsumfeld entstand an den oberitalienischen Seehandelsplätzen des 14. Jahrhunderts eine neue, wagnisfreudige Mentalität, in der nun die Gefährlichkeit einer Handlung gegen ihren Nutzen abgewogen wurde. Und es entstanden erste Versicherungen, die es erleichterten, halbwegs bestimmbare Risiken in Kauf zu nehmen. Inzwischen gilt die Fähigkeit, solche Risiken einzugehen, nicht mehr nur als eine rare Kompetenz einer Kaufmannselite, sondern Risikobereitschaft wird eigentlich von jedem Bürger erwartet. Gewinne gibt es schließlich nur dort, wo auch Verluste drohen: „Wenn jeder heute sein Leben wie ein Unternehmen führen soll, so hat er Risiken aktiv einzugehen und zwischen unterschiedlichen Risiken abzuwägen“ (Schmidt-Semisch 2004, S. 226). Ein Risiko ist also stets handlungsbezogen. Und gerade diese Handlungsbezogenheit grenzt Risiko und Ungewissheit (verstanden wie in der Entscheidungstheorie als ein dem Risiko eng verwandter Begriff) von der bloßen Gefahr ab – Gefahren gibt es unabhängig vom eigenen Verhalten, Risiken und Ungewissheit nur in Bezug auf das eigene Handeln. Wenn sich also eine Person gegen Gefahren wappnet, dann verwandeln diese sich in Risiken, weil sie dabei ein Kalkül aufstellt, d.  h. die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadens in Abhängigkeit vom eigenen Handeln oder Unterlassen sieht: Dass ein Haus vom Blitz getroffen werden kann, ist eine Gefahr, sich trotzdem gegen die Installation eines Blitzableiter zu entscheiden ist ein Risiko. Nicht mehr von Gefahren, sondern von Risiken und Ungewissheiten zu sprechen verwandelt schicksalhafte Ereignisse in aktive Wagnisse. Daher trifft es auch ins Herz des Begriffs Ungewissheit, wenn Menschen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz die Überzeugung vertreten, in ungewissen Situationen wie gelähmt und nicht handlungsfähig zu sein (7 Abschn. 2.3.1). Eine fortwährende statistische Unterfütterung mittels Wahrscheinlichkeiten geschah etwa ab dem frühen 18. Jahrhundert – und etablierte eine neue Handlungsrationalität speziell für Risiken: Bei Handlungen unter Risiko half nun statistisches Denken. Beispiele sind die Regenwahrscheinlichkeit oder das Thromboserisiko, sie lassen sich  

47 3.1 · Varianten des Unbestimmten

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anhand von beobachteten Häufigkeiten berechnen. Vernünftig erschien es nun, Handlungen auszuwählen, die eine geringe Verlust-, aber eine hohe Gewinnwahrscheinlichkeit besitzen. Schon die Entdeckung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und deren Durchsickern bis ins Alltagsdenken enthielt aber nicht nur eine Chance, die eigenen Handlungen besser zu kalkulieren, sondern konnte genauso gut zu einer tiefen Verunsicherung führen. Mit der Mathematisierung der Wahrscheinlichkeit neigte man schließlich auch dazu, diese als ein Merkmal der objektiven Welt von inhärent unbeständigen Zusammenhängen anzusehen. Die Wahrscheinlichkeit wurzelte danach in einer allgemeinen Unbeständigkeit der Welt, nicht nur in den begrenzten Möglichkeiten des Beobachters. Die Dinge in der Welt müssen den Zeitgenossen also viel zusammenhangloser erschienen sein als zuvor, als die möglichen Weltläufe noch kausal zusammenhängende Ketten bildeten. Vorfall und Ursache, Ereignis und Kausalität wirken auf den Einzelnen nun entkoppelt. Alle Ereignisse können auch ins Gegenteil umschlagen, wenn nur noch der Durchschnitt in eine Richtung weist. Die Zufälligkeit von Ereignissen tritt stärker ins Erleben der Zeitgenossen. Es kann der Eindruck entstehen, dass alles in der Welt mit den Wahrscheinlichkeiten von einer tiefen Zusammenhanglosigkeit geprägt ist (Vogl 2007). Haben Risiko und Unbestimmtheit die Handlungsbezogenheit gemeinsam, so trennen sie die Wahrscheinlichkeiten – Risiko ist kalkulierbar, Ungewissheit nicht. Bei ihr ist nicht so einfach zu berechnen, was eine vernünftige Handlung ist. Gute Handlungen unter Ungewissheit, bei denen Eintretenswahrscheinlichkeiten eben nicht zu bestimmen sind, verlangen statt Kalkül „Intuition und kluge Faustregeln“ (Gigerenzer 2014, S. 38). Hier reicht statistisches Denken nicht aus. Faustregeln oder Heuristiken erlauben es aber doch oft genug, Entscheidungen unter Ungewissheit auf sinnvolle Weise zu treffen. Ungewissheit bezieht sich also immer schon – wie das Risiko – auf eine Handlung oder die Auswahl einer Handlung: Ungewissheit ist immer schon ein handlungsbezogener Begriff, der helfen soll, wie beim Risiko ein Wagnis für eigene Handlungen gut zu bestimmen. Nur ist das Wagnis bei Handlungen unter Ungewissheit noch größer als bei Handlungen unter Risiko, und es gilt zudem die Empfehlung, anders vorzugehen. Wer auch in ungewissen Situationen versucht, sich auf ein Kalkül zu stützen, gerät schnell in endlose und wenig förderliche Berechnungen, wo eigentlich intuitive Urteile, Heuristiken oder Faustregeln gefragt sind. Daran werden sich später einige therapeutische Interventionen anlehnen (7 Abschn. 9.4).  

3.1.3

Ambiguität

Eine Frau hat einer Freundin eine Nachricht geschickt, aber diese hat sich darauf seit mehreren Tagen nicht gemeldet. Ein Vorgesetzter will seine Angestellte dringend sprechen, hat aber auf dem Anrufbeantworter keinen Grund genannt. Ambiguität findet sich dort, wo es mehr als eine mögliche Interpretation eines Ereignisses gibt. Eine ambige Situation ist eine, „that isn’t very well-defined“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 6). Ambiguität beschreibt also eine Mehr- oder Vieldeutigkeit. Im Deutschen ist der Begriff weniger gebräuchlich als im Französischen und Englischen, wo er zur Alltagssprache gehört  – als Bezeichnung für vielfältige Phänomene der Unentscheidbarkeit.

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Gelegentlich wird dabei noch genauer zwischen Vagheit und Ambiguität unterschieden: Bei Vagheit ist eine Sache so unklar, dass sie mehrere Interpretationen zulässt. Ambiguität hat dieselbe Folge, aber deshalb, weil eine Sache auf mehrere Bedeutungen gleichzeitig verweist, wie etwa dieses Motto eines Schützenvereins: „Schießen lernen – Freunde treffen“ (Bauer 2018, S. 13). Die Beschäftigung mit der näheren Beziehung zwischen Ambiguität und Ungewissheit hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen – vor allem entlang der beiden sehr ähnlichen Begriffe Ambiguitätstoleranz und Ungewissheitstoleranz. Ausgangspunkt beider Konzepte ist die Grundintuition, dass die Welt nur so strotzt vor Uneindeutigkeiten: Ambiguitäten und Ungewissheiten können also nie vollständig vermieden werden, und es ist sinnvoll, mit ihnen umgehen zu können. Es geht dabei eher um eine Ambiguitätszähmung, nicht um ihre komplette Liquidierung: Am bekömmlichsten ist es, zu versuchen, Ambiguität auf ein lebbares Maß zu reduzieren, aber den verbliebenen Rest zu tolerieren, statt sich auf eine zwecklose und anstrengende „fundamentalistische Eindeutigkeitssuche“ (Bauer 2018, S. 83) zu begeben. Eine angemessene Ambiguitätstoleranz wird definiert als die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten, unlösbare Widersprüche und Ungewissheiten recht gut auszuhalten. Bei einer Intoleranz gegenüber Ambiguität (IA) sehen die Betroffenen ambige Situationen als Bedrohung oder als eine Quelle der Belastung an und reagieren stark negativ: Als kognitive Reaktion werden ambige Situationen rigide in Schwarz-Weiß-Manier umkonzipiert, emotional kommt es zu Angst, Unbehagen, aber auch Ärger, und im Verhalten dominiert eine Tendenz zur Vermeidung: „In contrast, people with low IA view ambiguous stimuli as challenging, desirable, and interesting“ (Rosen et al. 2014, S. 62). Die Ähnlichkeiten zwischen Intoleranz gegenüber Ambiguität und Intoleranz gegenüber Ungewissheit sind kaum zu übersehen: Beide sind charakterisiert durch ein Unbehagen angesichts von Unklarheit und Unbestimmtheit, beide sind sozusagen kognitive Filter, durch die Unbestimmtes als bedrohlich erscheint. „Ambiguitätsintoleranz ist Teil einer Mentalität“ (Bauer 2018, S. 95) – das Gleiche wird oft über die Intoleranz gegenüber Ungewissheit behauptet. Beides steht für eine Weltanschauung, in der alles Unklare, Vage und Widersprüchliche nicht als Bereicherung, sondern als Makel angesehen wird. Daher wundert es nicht, dass die empirisch ermittelte Korrelation zwischen beiden Konzepten regelmäßig recht hoch ausfällt (Buhr und Dugas 2006). Was sie unterscheidet, ist das Zeitfenster des Unbestimmten: „IU refers explicitly to uncertain future events, while IA refers only to ambiguity in the present“ (Rosen et al. 2014, S. 62). Ungewissheit bezieht sich allein auf eine Unbestimmtheit in dem, was noch kommt. Die hohe Korrelation beider Konzepte sagt aber auch: Menschen, die sich mit einer unklaren Zukunft unbehaglich fühlen, erleben gewöhnlich auch Unbestimmtheiten in der Gegenwart als störend. Aber ist der Unterschied auf der Zeitlinie so klar, wie er zuerst erscheint? In dem Beispiel des Vorgesetzten, der seine Angestellte dringend sprechen will, aber auf dem Anrufbeantworter keinen Grund dafür hinterlässt, liegt zuerst einmal Ambiguität vor – es herrscht eine Mehrdeutigkeit der gegenwärtigen Situation. Aber auch hier ist natürlich Ungewissheit im Spiel. Mit den verschiedenen möglichen Bedeutungen der Situation (Gehaltserhöhung? Entlassung? Etwas viel weniger Dramatisches?) gehen sehr unterschiedliche zukünftige Entwicklungen und Folgen einher. Möglicherweise sind

49 3.1 · Varianten des Unbestimmten

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..      Tab. 3.1  Positionen des Unbestimmten Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

Unklarheit



Vagheit

Unwissen

Vielgestaltigkeit



Ambiguität (Mehrdeutigkeit)

Ungewissheit, Risiko (mehrere mögliche Zukünfte)

beide Konzepte also gar nicht klar zu trennen, sondern überlappen sich – auch weil sie beide Ausdruck der gleichen Furcht vor dem Unbekannten sind (Carleton 2012). Trotzdem gilt erst einmal: In der Tendenz steht eine geringe Ungewissheitstoleranz für eine ­Unverträglichkeit von Unklarheit, die auf zukünftige Folgen ausgerichtet ist, anders als eine geringe Ambiguitätstoleranz (vgl. . Tab. 3.1).  

3.1.4

Zufall

Zufall bedeutet, dass etwas Unvorhergesehenes passiert, dazwischenkommt, etwas, womit man nicht gerechnet hat – im Guten wie im Schlechten: Viagra war ein verunglücktes Herzmittel, bis den Forschern auffiel, dass die männlichen Versuchspersonen ihr Medikament gar nicht mehr absetzen wollten (Klein 2015). Im Englischen wird besonders deutlich, dass der Zufall auch freundliche Züge haben kann – „luck“ bedeutet dort auch „Möglichkeit“ oder sogar „Glück“. Und nach dem Philosophen Byung-Chul Han leitet sich das Wort Glück von „Lücke“ (Selke 2014) her: Es entsteht dort, wo nicht alles durchsichtig und durchgeplant ist, dort, wo einem etwas überraschend, also zufällig, in den Schoß fällt. Am Zufall ist etwas Paradoxes, über das sich schon viele Denker den Kopf zerbrochen haben: Wird das Universum wie eine Art Uhrwerk gedacht, in dem die Naturgesetze bestimmend ineinandergreifen, wo ist dann Platz für das Unvorhersehbare? Wenn sich mit wissenschaftlichen Methoden die ganze Welt beschreiben lässt, ein berechenbares Universum, wo ist dann überhaupt Raum für so etwas wie Zufall? Oder ist er nur eine Illusion? Die Uhr war in der frühen Moderne das Bild vieler Wissenschaftler für ein komplett determiniertes Universum, aber auch heute findet sich unter Wissenschaftlern diese Vorstellung einer zufallslosen Welt: „Für Max Tegmark [ein Kosmologe] ist unser Universum eine mathematische Struktur mit bestimmten unveränderlichen Eigenschaften. Und aus diesen Eigenschaften folgt zwingend, dass negativ geladene Elektronen einander abstoßen, dass sich die Erde um die Sonne dreht und dass ich heute gerade Lust auf Pizza habe. Die Zukunft des Universums steht längst eindeutig fest“ (Aigner 2017, S. 22). Selbst die Chaostheorie erweitert letztlich nur ein derart mechanistisches Weltbild um die Vorstellung besonders komplexer Zusammenhänge und diejenige, dass bereits sehr kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Problematisch ist hier nur, dass man für eine perfekte Vorhersage nicht genug weiß – prinzipiell wäre sie aber möglich. Die Grundannahme, dass alles in der Welt nach eindeutigen Regeln abläuft, wird durch die Chaostheorie nicht ausgehebelt.

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Der Zufall kann danach nur etwas zutiefst Subjektives sein – bestimmte Ereignisse werden als zufällig erlebt. Zufälle können dadurch entstehen, dass voneinander unabhängige Determinationsketten unvermutet aufeinandertreffen: Eine Person vergräbt einen Schatz, eine andere gräbt ihn zufällig aus, als sie im Garten einen Baum pflanzt. Prinzipiell sind auch diese Ketten berechenbar miteinander verbunden, aber für den Einzelnen ist die Verbindung nicht mehr einsehbar. Wenn Menschen versuchen, das Universum zu beschreiben, müssen sie sich mit Vereinfachungen zufriedengeben – sie beschränken sich auf einen kleinen Bereich und gehen davon aus, dass sie den Rest ­ignorieren können: „Das funktioniert meistens ziemlich gut: Wenn ich meine Kaffeemaschine repariere, muss ich nicht wissen, wie die Präsidentin von Südkorea heißt. […] Aber manchmal funktioniert dieses Vereinfachen nicht perfekt. Manchmal lässt sich die Welt eben nicht sauber in unabhängige Teilbereiche zerlegen. Das, was wir Zufall nennen, ist oft genau darauf zurückzuführen“ (Aigner 2017, S. 101). Zufälligkeit ist also wohl keine Eigenschaft des Universums, sondern eine Kategorie im Kopf des Individuums. Es ist der Einbruch des Unvorhergesehenen in die eigenen Pläne. Der Zufall hat die Tendenz, Geordnetes zu durchmischen, Sortiertes zu vermengen, Ordentliches durcheinanderzubringen. Besonders wichtig sind die Fälle, in denen bei eigenen wichtigen Absichten etwas dazwischenkommt – es widerfährt einem etwas, dass man nicht gewollt hat. Manche Philosophen gehen davon aus, dass das Leben sogar hauptsächlich aus solchen Zufällen besteht: „Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“ (Marquard 1986, S.  131), menschliche Leben bestehen danach zwangsläufig aus „Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen“ (S. 129). Vergleicht man das Zufällige mit dem Ungewissen, dann fällt ihr Unterschied bezüglich des Unerwarteten auf: Beim Zufälligen kommt einer absichtsvollen Handlung etwas Unerwartetes, Überraschendes dazwischen, bei Ungewissheit kennen Menschen dagegen die Möglichkeiten, die eintreten können – nur welche davon eintreten wird, das ist nicht gewiss. Während die Person beim Handeln unter Ungewissheit also mit den möglichen Folgen „rechnet“, aber ihre Wahrscheinlichkeit nicht bestimmen kann, hat sie das Zufällige einfach nicht vorhersehen können. Über das Ungewisse ist mehr bekannt als über das Zufällige. Solche genauen Unterscheidungen des Unklaren sind kein Selbstzweck, sondern dienen später während der Exploration (7 Abschn. 8.3.2) dazu, die spezifischen Intoleranzauslöser eines Patienten differenzierter zu erkennen, und bieten auch unterschiedliche Ansatzpunkte für die therapeutischen Interventionen (7 Abschn. 9.4).  



Ungewissheit bezeichnet (anders als Ambiguität) eine Unklarheit bezüglich der Zukunft. Dabei sind die Zukunftsmöglichkeiten bekannt (anders als beim Zufall, der überraschend dazwischenkommt, oder beim Unwissen), aber deren Auftretenswahr­ scheinlichkeit ist nicht berechenbar (wie beim Risiko). Das Ungewisse hängt zudem nicht zwangsläufig mit Gefahr zusammen (wie das Unsichere): Es ist im Kern weder gefährlich noch glücklich, sondern legt sich in Bezug auf das Kommende auch inhaltlich nicht fest. Ungewissheit hat schließlich einen starken Handlungsbezug (wie einige der anderen Begriffe auch). Sie taucht dort auf, wo sich eine Person Gedanken um die eigene Handlungswahl oder die Folgen eigener Aktionen macht.

51 3.2 · Tolerieren oder akzeptieren? Formen des Umgangs mit …

3

3.2  Tolerieren oder akzeptieren? Formen

des Umgangs mit dem Ungewissen

Menschen unterscheiden sich in Bezug auf das Unklare erheblich in ihren Vorlieben: Manche richten sich gern in einem absehbaren und kontrollierten Leben ein, während sich andere begeistert auf alles Neue und Überraschende stürzen. Und auch die psychologische Forschung hat schon lange ein Auge auf den Umgang von Menschen mit dem Unklaren und Unbestimmten geworfen. Ihre Beschäftigung damit geht zumindest bis auf Else Frenkel-Brunswik zurück (Frenkel-Brunswik 1949), die schon in den 1940er-Jahren den Begriff der (geringen) Ambiguitätstoleranz prägte, um einen Persönlichkeitsstil zu beschreiben, der mehrdeutigen Situationen vor allem mit der Strategie der Leugnung begegnet. Wenn es um angemessene Umgangsformen geht, fallen aktuell immer wieder die Begriffe „tolerieren“ und „akzeptieren“. Was genau bezeichnen sie? 3.2.1

Frustrationstoleranz

Intoleranzen haben in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Karriere gemacht: Sie finden sich plötzlich überall dort, wo Menschen in ihrem Kontakt mit einem Stück Umwelt unverträglich reagieren  – auf Stoffe wie Laktose oder Fruktose, aber auch auf Schmerzen oder plötzliche Veränderungen. Eine bestimmte Umweltbedingung ist hier derart unbekömmlich, dass sie zu Funktionsstörungen führt. Die traditionsreichste Intoleranz aus dem psychischen Register ist sicherlich die Frustrationsintoleranz. Der Begriff „frustrieren“ selbst – mit der Bedeutung „vereiteln“ – wurde zwar schon im 18. Jahrhundert aus dem Lateinischen („frustrare“) entlehnt, die heutige Bedeutung geht aber wohl auf die englische Übersetzung des psychoanalytischen Begriffs der Versagung Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. In dieser Definition ging es im Kern darum, unerfüllte Wünsche aushalten zu können: „Rosenzweig (1938) meint mit Frustrationstoleranz die Fähigkeit, psychische Spannungen zu ertragen, die aus dem Nichtbefriedigen von Triebwünschen herrühren“ (Stavemann und Hülsner 2016, S. 15). Heute bezeichnet der Begriff weit allgemeiner die Fähigkeit, alle möglichen unbekömmlichen Bedingungen einigermaßen zu ertragen. Der Begriff der Frustrationstoleranz impliziert gewöhnlich eine bestimmte Weltanschauung, so auch in der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT): Jedes Wollen in Bezug auf die Welt ist danach dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt – trotzdem kann ein Menschenleben nur dann als erfüllt und sinnvoll gelten, wenn es in bedeutungsvollen Handlungen in Richtung eigener Ziele organisiert ist. Dabei trifft es nun beständig auf eine Welt, die eine Zielerreichung manchmal zulässt, ein anderes Mal schwer macht und oft genug auch vereitelt. Für diese existenzielle Grundsituation des Menschen ist eine hohe Frustrationstoleranz, bei der eine Person zwar zugibt, dass ein Lebensumstand hart sein kann, aber dessen Unerträglichkeit gleichzeitig verneint, unabdingbares Requisit für ein sinnvolles Leben. Bekommen Personen nicht, was sie wollen, dann kommt es aber oft genug dazu, dass sie „refuse to accept this grim reality, whimper and whine, and develop a philosophy of desperate nonacceptance“ (Ellis 2003, S. 198) – sie zeigen eben eine geringe Frustrationstoleranz.

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) erscheint aus dieser Perspektive nicht als ein solitäres Phänomen, sondern als eine Frustrationsform unter vielen, die alle dieselbe Grundstruktur teilen: Beim Streben nach der Verwirklichung eigener Ziele oder Wünsche stößt man auf den Widerstand der Welt – man will mehr oder weniger unbedingt Gewissheit, erhält sie aber einfach nicht. Letztlich bieten sich so viele Möglichkeiten der Frustration, wie es menschliche Wünsche gibt: Zwischen Schmerzintoleranz und einer Intoleranz gegenüber bestimmten Gefühlen (Scham, Angst, Wut), Abscheu gegenüber bestimmten Wahrnehmungen und Krankheitsintoleranz, einer Intoleranz gegenüber Ungerechtigkeiten, Unbequemlichkeit, einer geringen Veränderungstoleranz und einer „boredom intolerance“ findet sich eben auch „the dire need for certainty“ (Dryden 1999, S. 184 und 188) – das dringende Verlangen nach Gewissheit. Intoleranz umschreibt in der kognitiven Verhaltenstherapie nun detaillierter eine Gruppe von Kognitionen über die geringe Tolerierbarkeit eines Zustands – es handelt sich um einen „extreme belief relating to a person’s perceived inability to tolerate frustration in its broadest sense“ (Dryden und David 2008, S.  204): Dieser Zustand, also z. B. Ungewissheit, ist derart unerträglich, dass es völlig unmöglich wird, dem Leben auch nur das geringste Quantum Freude abzugewinnen  – „Das ertrage ich einfach nicht! Ich halt’s nicht mehr aus!“ Man kann unter dieser Intoleranz auch ein Fehlen von Resilienz verstehen, einen Mangel an Toughness – den Eindruck, den Schwierigkeiten der Welt einfach nichts entgegenzusetzen zu haben. Ausgeprägte Toleranz formt dagegen Kognitionen wie „Es ist schon hart, aber nicht das Ende der Welt“, „Es ist nicht entsetzlich, ich kann es schon ertragen“ oder „Ich kann diese Unannehmlichkeit letztlich aushalten, wenn es drauf ankommt.“ Toleranz (von lat. „tolerare“) besitzt den gleichen Wortstamm wie das Deutsche „dulden“. Es bezeichnet also das – passive – Ertragen oder Erdulden unerwünschter, unangenehmer Umstände: Es passt zwar nicht, aber man nimmt es trotzdem auf sich. Einen nörgelnden Unterton kann die Toleranz daher nicht ganz leugnen. Dem schrill Unerträglichen der Intoleranz steht also in der Toleranz ein bestenfalls gleichmütiges Ertragen des Unerwünschten gegenüber. Von den sechs Facetten der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) deckt vor allem „Ungewissheit ist belastend“ den Aspekt der direkten (fehlenden) Tolerierbarkeit von Unangenehmem ab (7 Abschn. 2.3.1) – die anderen Überzeugungen scheinen sich eher darum zu drehen, wie unangenehm Ungewissheit denn nun wirklich ist: Ist sie gefährlich? Ungerecht? Gefährdet sie den Selbstwert? Macht sie handlungsunfähig? Wäre dies alles nicht der Fall, dann wäre gar nicht mehr so viel Toleranz nötig, um sie zu ertragen.  

3.2.2

 ngewissheitsakzeptanz als eine Facette U der Realitätsakzeptanz?

Das Konzept der Akzeptanz hat in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls eine erstaunliche Karriere gemacht – besonders in der Verhaltenstherapie. Es gilt als das vielleicht zentrale Charakteristikum der Dritten Welle der Verhaltenstherapie schlechthin: „Die Integration des Konzepts der Akzeptanz hat die westlichen kognitiven Verhaltenstherapien radikal verändert“ (Follette et  al. 2012, S.  282). Der Zweck des Akzeptierens ist dabei mit dem des Tolerierens identisch: Akzeptiert eine Person auch Unangenehmes, dann fällt es ihr leichter, den eigenen Zielen zu folgen, und sie verliert sich nicht so

53 3.2 · Tolerieren oder akzeptieren? Formen des Umgangs mit …

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schnell darin, nur noch dies Unangenehme vermeiden zu wollen. Wie die Frustrationstoleranz besitzt der Begriff der Akzeptanz ein weites Spektrum an Inhalten, auf die sich das Akzeptieren richten kann. Üblicherweise wird Folgendes unterschieden: 55 Realitätsakzeptanz: Die äußeren Umstände, z. B. andere Menschen, sollen als ein Stück der Realität in ihrem Sosein hingenommen werden. 55 „Experiental acceptance“ (Lundh 2004, S. 257) oder Erlebnisakzeptanz bezeichnet das Gegenteil von Erlebnisvermeidung – innere Erfahrungen wie unangenehme Gefühle oder Gedanken sollen komplett und ohne Widerstand erlebt werden. 55 Selbstakzeptanz: Die „so-called unconditional self-acceptance“ (Lundh 2004, S. 257) bezieht sich darauf, die eigene Person anzunehmen, wie sie eben ist, auch mit ihren weniger schönen Zügen. Eine Akzeptanz des Ungewissen wäre also ein Teilaspekt der Realitätsakzeptanz, denn Unklarheit bezüglich der zukünftig eintretenden Ereignisse gehört zur den Menschen umgebenden Welt. Akzeptanz scheint sich nicht mit der untergründig nörgelnden Toughness der Toleranz zu begnügen: „Toleranz bedeutet hier aber nur, widerwillig die Existenz von dem, was wir aus vollem Herzen ablehnen, zu dulden. Wollen wir darüber hinauskommen, müssen wir lernen, das Widersprüchliche, das Vage, das Vieldeutige, das Nichtzuzuordnende, das Nichtklärbare als den Normalfall der menschlichen Existenz hinzunehmen, es mindestens zu achten, vielleicht sogar zu lieben“ (Bauer 2018, S. 79). Schon der Begriff Akzeptanz (von lat. „capere“) verspricht von seiner Wortherkunft mehr – zumindest ein aktives Nehmen, Fassen, Ergreifen gegenüber dem passiven Erdulden der Toleranz. Auch in den frühen psychologischen Definitionen des Akzeptierens klingt der Begriff anders, etwa bei dem humanistischen Psychologen Abraham Maslow in den 1950er-­Jahren, der Selbstakzeptanz in dieser Weise definiert: Man empört sich nicht über das Wasser, weil es nass ist, beschwert sich nicht über Bäume, weil sie grün sind. Ein Umstand erscheint hier nicht mehr aus der Perspektive eines Wunsches – als Störung des Wohlbefindens oder Vereitelung des Wunsches nach Gewissheit –, sondern als „nonjudgmental acceptance“ (Mellinger 2010, S. 223). Es scheint hier fast so, als würde man die Sachverhalte von der Perspektive eigener Absichten befreien und in die Per­ spektive einer absichtslosen Neugier einordnen: Ach, so fühlt sich Schmerz an! Interessant! Das Aktive des Akzeptierens findet sich auch im Begriff der „willingness“, z. B. in der ACT. Es geht dabei um die Bereitwilligkeit, mit der eine Person Beschwerlichkeiten oder hier die Ungewissheit akzeptiert. Am weitesten in diese Richtung geht eine am Buddhismus geschulte westliche Psychologie, die unter radikaler Akzeptanz Folgendes versteht: „clearly recognizing what is happening […] and regarding what we see with an open, kind, and loving heart“ (Mellinger 2010, S. 224). Für die Ungewissheitstoleranz (IU) machen die Überlegungen zur Akzeptanz darauf aufmerksam, dass sie sich implizit mit dem alten, „toughen“ Toleranzbegriff begnügt – bestenfalls, bei hoher Ungewissheitstoleranz, kann die Ungewissheit mit weniger Nörgeln ertragen werden. Therapeutisch kann es interessant sein, darüber hinaus von einer Ungewissheitsakzeptanz zu sprechen, die auf eine weitergehende Weise mit dem Ungewissen ihren Frieden zu machen erlaubt (7 Kap. 9).  

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Toleranz bezeichnet die eher passive Fähigkeit, etwas Unangenehmes zu ertragen oder zu erdulden (wie bei der Frustrationstoleranz): Es geht um das passive Ertragen oder Erdulden unerwünschter, unangenehmer Umstände. Und so muss letztlich auch eine große Ungewissheitstoleranz verstanden werden: Etwas Unerwünschtes wird ausgehalten. Es handelt sich dabei um ein unipolares Konzept, das nur ein Mehr oder Weniger von etwas Schlechtem formuliert. Die darüber hinausgehenden Bedeutungskomponenten der Akzeptanz, eine Neutralität allen Welttatsachen gegenüber, eine Bereitwilligkeit, sie anzunehmen, sogar eine neugierige Offenheit ihnen gegenüber, bieten aber vielleicht zusätzlich therapeutische Möglichkeiten und könnten interessante Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz sein (7 Kap. 7).  

3.3  Ungewissheitstoleranz und Handeln

Ungewissheit ist wie das Risiko eng mit dem Handeln verbunden. Wie es aber genau um die Verbindung zwischen dem Ungewissen und dem Handeln steht, lässt sich ebenfalls durch den Vergleich mit einer Gruppe ähnlicher Konzepte näher beleuchten. Wie sieht z. B. die Beziehung von Ungewissheitstoleranz zum Sensation Seeking aus?

3.3.1

Ungewissheitsorientierung

Die Ungewissheitsorientierung oder „uncertainty orientation“ (Rosen et al. 2014, S. 67) stellt das Handeln in ungewissen Lagen in den Mittelpunkt. Sie unterscheidet Personen danach, ob sie dazu tendieren, Situationen zu vermeiden, in denen einmal gewonnene Gewissheiten und fest gefügte Weltbilder durch neue Informationen und Erfahrungen in Gefahr geraten könnten, oder ob sie gerade daran interessiert sind, ihr Wissen über sich selbst und die Welt, in der sie leben, immer wieder zur Disposition zu stellen: „Ein Mensch, der möglichst viel über sich selbst und seine Umwelt erfahren will, ist ein ungewissheitsorientierter Mensch. Ein gewissheitsorientierter Mensch neigt eher dazu, die einmal gewonnene Klarheit über sich und seine Umwelt zu erhalten“  – es sind zwei unterschiedliche Orientierungsstile in der Welt (Goch 1998, S. 1). Ungewissheitsorientierte Personen werden durch die Gegenwart des Unbestimmten dazu angeregt, dieses gerade aufzusuchen, um die Umstände zu klären, gewissheitsorientierte Personen neigen dagegen eher dazu, bekannte und sehr konsistente Umgebungen aufzusuchen. Der Psychologe Richard Sorrentino untersuchte Mitte der 1980er-Jahre Ungewissheitsorientierung in einem Kontext der Leistungsmotivation. Er fand, dass erfolgsorientierte Personen vor allem bei Aufgaben mittlerer Schwierigkeit bessere Leistungen erbringen als misserfolgsorientierte Personen – das galt aber nur, wenn sie gleichzeitig auch ungewissheitsorientiert waren. Bei Gewissheitsorientierten galt genau das Gegenteil: Erfolgsorientierte, aber gewissheitsorientierte Personen zeigten die besten Leistungen eher bei leichten Aufgaben. Auch beim Lernen gab es unterschiedliche Profile für Ungewissheits- und Gewissheitsorientierte – die Ersteren lernten am besten in koope-

55 3.3 · Ungewissheitstoleranz und Handeln

3

rativen Lernsituationen, die Letzteren bei traditionellen Lernmethoden. Therapeutisch besonders interessant sind Unterschiede im Gesundheitsverhalten: „Ungewißheitsorientierte Personen wollen Klarheit über eine mögliche Krankheitsgefährdung erlangen, wenn sie als besonders bedrohlich galt und die eigenen Einflußmöglichkeiten als sehr hoch eingeschätzt wurden. Gewißheitsorientierte Personen zeigten insgesamt ein ­geringeres Gesundheitsverhalten als die Ungewißheitsorientierten, aber ihr Informationsbedürfnis war besonders gering, wenn die eigene Gefährdung und die eigenen Einflußmöglichkeiten als gering eingeschätzt wurden“ (Goch 1998, S. 9). Wie die Ungewissheitstoleranz beschreibt die Ungewissheitsorientierung Unterschiede in der Vorliebe für Gewissheit oder Ungewissheit: Während aber die geringe Ungewissheitstoleranz die psychischen Effekte gegebener Ungewissheiten betont, die mit Ungewissheit verbundenen Ängste und ein ausgeprägtes Sichsorgen, erfasst die Ungewissheitsorientierung den Unterschied in der Neigung, Ungewissheit darauf zugehend zu lösen oder sie zu vermeiden. Intoleranz gegenüber Ungewissheit konzentriert sich also auf die „psychological effects of uncertainty […] rather than the motivation to approach or avoid uncertainty“ (Rosen et al. 2014, S. 67). Außerdem ist Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) ein einseitiges Konzept – man kann nur mehr oder weniger von ihr haben –, während die Ungewissheitsorientierung bilateral konzipiert ist. Bei ihr geht es nicht nur darum, eine negative Sache (Ungewissheit) mehr oder weniger gut aushalten zu können: Ungewissheitsorientierte finden ungewisse Situationen sogar reizvoll und herausfordernd, und daher nähern sie sich ihnen. Der Vergleich klärt den Begriff der Ungewissheitstoleranz etwas weiter: Selbst eine stark ausgeprägte Ungewissheitstoleranz heißt noch lange nicht, dass die damit ausgezeichneten Personen sich auch motiviert fühlen, ungewissen Situationen näherzukommen. Sie ertragen das Ungewisse nur mit weniger Angst und Sorgen. Ebenso wenig geht danach eine geringe Ungewissheitstoleranz zwangsläufig mit einer Vermeidung ungewisser Situationen einher (auch wenn es plausibel erscheint). Das Konzept erfasst vor allem den Aspekt, sich unter Ungewissheit unbehaglich zu fühlen – die behaviorale Reaktion auf ungewisse Situationen liegt außerhalb des Konzepts, wenn sich auch eine enge Korrelation zwischen einer geringen Ungewissheitstoleranz und einem ausgeprägten Vergewisserungsverhalten finden lässt (7 Abschn. 5.1.3).  

3.3.2

Sensation Seeking

Sensation Seeking meint eine Vorliebe für erregende Ungewissheit. Die klassische Definition dieses Persönlichkeitszugs reicht schon weit zurück: „Sensation Seeking is a trait defined by the seeking for varied, novel, complex, and intensive sensations and experiences, and the willingness to take physical, social, legal, and financial risks for the sake of such experiences. The term seeking is used because the trait is expressed in an active mode“ (Zuckerman 1979, S. 10). Risikobereitschaft ist also ein zwingender Bestandteil des Sensation Seekings – eine adaptive Neugier, mit der sich an Interessantes angenähert wird, reicht allein nicht aus. Die Risikobereitschaft steht allerdings nicht immer im Mittelpunkt, denn es geht vor allem um neue, ungewöhnliche und ungewisse Erfahrungen, die nicht unbedingt risikoreich sein müssen: Das einzig wirklich Gewisse im Leben eines Sensation Seekers ist

56

3

Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

das Überraschende, Ungewisse (Zuckerman 1994). Neuheit, Komplexität und Wandelbarkeit werden von Sensation Seekers eben sehr positiv bewertet. Ausgangspunkt des Konzepts war ein homöostatisches Modell zum optimalen Niveau der Stimulation oder Aktivierung von Menschen, das sich anfangs auf die reizarme Umwelt in der Raumfahrt und andere Formen sensorischer Deprivation bezog: Geht die Stimulation durch die Außenwelt zurück, veranlasse dies eine Person zu einer aktiven Suche nach weiteren Stimuli, bei einer Überflutung mit Reizen zieht sich eine Person dagegen von diesen Stimuli zurück. Gleichzeitig nahm man aber interindividuelle Unterschiede im optimalen Niveau solcher Stimulierung an – Menschen haben bei der Suche nach Situationen, die sie als stimulierend erleben, einfach verschiedene Werkseinstellungen. In den späten 1960er-Jahren beginnt der ursprüngliche Begriff des Sensation Seekers sich allerdings auszudehnen – er wird nun „durch seine ‚Tendenz‘ zu überaktivem, nonkonformistischem, extravertiertem und dabei auch antisozialem Verhalten charakterisiert; er sei wenig ängstlich und neige zu Impulsivität“. Es entsteht das Bild der aufgedrehten Kick-Sucher, wie man es heute kennt: „Sie stürzen sich nur an einem Gummiseil befestigt von einem hundert Meter hohen Turm. Auf der Autobahn lassen sie kein noch so waghalsiges Manöver aus. Und alles, was nicht nach Gefahr aussieht, scheint sie zu langweilen“ (Möller und Huber 2003, S. 8 und 1). Und wirklich finden Untersuchungen Nachteile: Die Verhaltensdisposition des Sensation Seekings geht mit einer erhöhten Rate riskanten und potenziell gesundheitsgefährdenden Verhaltens einher. Konträr zur geringen Ungewissheitstoleranz (IU), aber in einer Linie mit der Ungewissheitsorientierung bezeichnet auch Sensation Seeking nicht die psychischen Auswirkungen von Ungewissheit, sondern eher eine aktive Suche nach solchen Eindrücken. Zudem betont es neben dieser Verhaltenstendenz noch ein übergroßes Bedürfnis nach Stimulation (Hammelstein und Roth 2003). Menschen, die diesen Zug sehr ausgeprägt haben, suchen absichtlich nach neuen, intensiven Eindrücken – sie sind mehr als nur ausgesprochen tolerant gegenüber Ungewissheit. Vielmehr zeigen sie eine gegenteilige Schwäche: Sie können das sehr Gewisse – Monotonie, Langeweile und Reizarmut, die mit Situationen hoher Sicherheit und Vorhersehbarkeit verbunden sind – nur schwer ertragen. Sie sind sozusagen intolerant gegenüber Gewissheit, dem Vorhersehbaren und Bekannten. Eine hohe Ungewissheitstoleranz kann dagegen dieses andere Extrem nicht abbilden. 3.3.3

Vertrauen

Vertrauen ist zuerst einmal ein Begriff aus der zwischenmenschlichen Sphäre  – eine Person vertraut oder misstraut anderen Menschen. Wird einer anderen Person Vertrauen entgegengebracht, dann wird erwartet, dass diese im Interesse des Vertrauen Suchenden handelt. Vertrauen wird hier definiert als „Glauben einer Person daran, dass eine andere ihre Verpflichtungen erfüllen wird und allgemein zu ihrem wechselseitigen Verhältnis ‚das Ihrige beiträgt‘“ (Illouz 2018, S. 266). Aktuelle Zeitdiagnosen meinen festgestellt zu haben, dass dieses zwischenmenschliche Vertrauen immer schwieriger wird, denn Personen vertrauen gewöhnlich nur jemandem, mit dem sich gegenseitiges Vertrauen bereits häufig bewährt hat – in den heutigen eher kurzen und schwer einzu-

57 3.3 · Ungewissheitstoleranz und Handeln

3

schätzenden Beziehungen wird ein solcher Vertrauensaufbau immer unmöglicher. Auch sonst bleibt Vertrauen immer eine durchaus risikoreiche Sache: Eine Seite muss schließlich damit anfangen. Aber Vertrauen erschöpft sich nicht in solchen individuellen Beziehungen: Systemund Institutionenvertrauen (Lantermann et al. 2009) geht z. B. davon aus, dass die gesellschaftlichen Einrichtungen ordnungsgemäß funktionieren. Zu solchen Institutionen zählen natürlich die Familie, aber auch die Kirche oder die Gerichte. In allen Gesellschaften bilden sich außerdem besondere Vertrauensmilieus – Milieus, in denen man sich gegenseitig vertraut (Wertheimer und Birbaumer 2016). Vertrauen kann sich aber nicht nur auf andere Personen oder Institutionen richten. Selbstvertrauen meint gewöhnlich die zuversichtliche Einschätzung eigner Kompetenzen und Ressourcen, um den Anforderungen gerecht zu werden, also ein Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Doch auch anderen eigenen Reaktionen wird gewöhnlich wie selbstverständlich vertraut, obwohl es keine Garantien gibt. So finden sich bei den Patienten mit neurologischen Ausfällen in den Fallgeschichten des Psychiaters Oliver Sacks Beispiele für „sensorisches Vertrauen, also Vertrauen in die eigene Wahrnehmung […]. Daneben existiert noch motorisches Vertrauen, also Vertrauen in die intendierten Bewegungen meines Körpers auf ein Ziel hin“ (Wertheimer und Birbaumer 2016, S. 35 f.). Vertrauen kann sich schließlich ganz allgemein als Zukunftsvertrauen auf das beziehen, was kommt. Wer voller Zukunftsvertrauen ist, der glaubt daran, dass sich die Dinge positiv entwickeln. Es ist die Erwartung, dass alles schon irgendwie gutgehen wird (Lantermann et al. 2009). Die Reichweite des Begriffs Vertrauen ist also außergewöhnlich groß. Vertrauen scheint zudem eine Eigenschaft zu sein, in der deutliche intersubjektive Unterschiede auftreten. So zeigt sich, dass Vertrauen gegenüber Fremden eine Verhaltenstendenz darstellt, die, wenn sie einmal entwickelt wurde, über die gesamte Lebensspanne stabil bleibt. Dasselbe gilt für Misstrauen und die Angst vor Vertrauensbruch. Aus der Perspektive von (geringer) Ungewissheitstoleranz betrachtet, setzt Vertrauen eine Situation voraus, in der eine Person nicht genau Bescheid weiß, in der also Ungewissheit herrscht. Vertrauen lässt sich somit als eine Strategie zur Bewältigung von Ungewissheit ansehen. Nach dem einflussreichen Soziologen Niklas Luhmann ist die primäre Funktion des Vertrauens, soziale Komplexität zu reduzieren. Allerdings ist das „Schenken“ von Vertrauen immer eine durchaus heikle Strategie – ein Sprung in die Hoffnung auf mehr Gewissheit: „Vertrauen haben meint zunächst […] immer auch, einer unsicheren Situation ‚wider besseren Wissens‘ ein gewisses Maß an Sicherheit zuzuweisen; man vertraut auf die Zukunft, und gerade dadurch wirkt die Zukunft weniger unbestimmt und unsicher, man vertraut den Institutionen und fühlt sich daher weniger ausgeliefert, weniger unsicher im Umgang mit diesen Institutionen, man vertraut seinen Mitmenschen und fühlt sich darüber weniger ungeschützt und ungeborgen“ (Lantermann et al. 2009, S. 24). Vertrauen reduziert also den Möglichkeitsbereich denkbarer Handlungsfolgen  – und dazu noch auf relativ positive Ausgänge: Andere Menschen werden schon Unterstützung gewähren, die Gerichte sich an die Gesetze halten, die Zukunft wird schon nicht so schlimm werden und man selbst schon alle nötigen Fähigkeiten aufweisen, um mit dem Kommenden fertigzuwerden. Aber schon die widersprüchlichen Wortbildungen um das Vertrauen herum zeigen, wie umstritten diese Strategie der Umwandlung

58

3

Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

von Ungewissheit in Gewissheit ist: vertrauenswürdig oder vertrauensselig, Urvertrauen oder blindes Vertrauen. Einerseits erscheint Vertrauen als der Kitt, der die Welt im Innersten zusammenhält. Andererseits gehen die Vertrauenden mit ihm stets das Risiko ein, betrogen zu werden. Trotzdem gilt: Kann man sich über eine Situation und ihre Folgen nicht auf andere Weise Gewissheit verschaffen, dann ist Vertrauen eine Strategie, die ebenfalls zur Verfügung steht. Vertrauen erhält vor allem die Handlungsfähigkeit: Manchmal schwärmen Schauspieler von einem Regisseur, dem sie blind vertrauen können. Sie werden dadurch in einen Zustand gebracht, wo sie loslassen und einfach spielen können – unbedingtes Vertrauen führt anscheinend zu gesteigerter Kreativität. Vertrauen ist also möglicherweise mehr als der letzte Notnagel, wenn man kein Wissen und keine Kon­ trolle über eine Situation und ihren Ausgang hat, gerade als wechselseitiges Vertrauen im zwischenmenschlichen Umgang. Vertrauen lebt davon, dass man dem anderen gegenüber eine epistemische Einstellung einnimmt, die auf Nichtwissen beruht. Vertrauen ist hier nicht ein Zustand, den man aus einem aktuellen Mangel an Wissen in Kauf nimmt, aber sofort wieder aufgibt, wenn der Mangel behoben werden kann. Vertraut eine Person einer anderen, dann ist sie sozusagen vom Zwang zum Wissenserwerb befreit – und hat den Kopf frei für anderes (Wertheimer und Birbaumer 2016). Vertrauen kann allerdings auch ganz konträr zur Delegation von Verantwortung und zu Passivität führen und etwas Autoritäres in der sozialen Beziehung implizieren: Wähler vertrauen einer Regierung und lassen sie machen. Insofern bleibt Vertrauen letztlich eine janusköpfige Strategie zur Bewältigung von Ungewissheit. 3.3.4

Kontrolle

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Kontrolle über eine Situation zu haben heißt jedenfalls, die eigenen Ziele in ihr erreichen zu können – und damit die eigenen Lebensbedingungen im Griff zu haben: „Wer eine Blumenvase vom Pult auf einen Tisch stellen will und das auch tut, übt Kontrolle über den Standpunkt der Vase aus“ (Flammer 1990, S.  20). Es liegt hier also in der eigenen Hand, sich Gewissheit zu verschaffen. In der Psychologie geht es dabei nicht nur um die wirklich vorhandene objektive Kontrolle, sondern genauso um den subjektiven Eindruck davon – die Kontrollmeinung. Zudem kann eine Person potenziell die Kontrolle über eine Situation haben, sie aber gerade nicht ausüben, also z. B. im Augenblick davon absehen, die Vase auf den Tisch zu stellen. Hat eine Person die Kontrolle nur scheinbar, dann spricht man von Kontrollillusion. Ein sehr illustratives Beispiel findet sich bei dem Schriftsteller und Journalisten Mark Twain: „Ich hatte mich auf den Rücken geworfen, den Gegner auf mich gelegt und meine Nase zwischen seine Zähne gesteckt“ (Klein 2015, S. 351). Natürlich unterliegen Menschen in Wirklichkeit immer einer Kontrollillusion, denn jede Situation ist kausal vielfältig in Kontexte oder Systeme eingebettet, die sie ebenfalls bestimmen. Entsprechend ist die Kontrolle eines Individuums immer abhängig von physikalischen, psychischen oder sozialen Bedingungen. Sie fließen in die subjektive Kontrollmeinung gewöhnlich nur nicht ein, weil sie sich „still“ verhalten, also keiner Veränderung unterliegen – wie die Schwerkraft im Beispiel mit der Vase. Praktisch ha-

59 3.3 · Ungewissheitstoleranz und Handeln

3

ben einzelne Menschen, wenn sie „die Kontrolle haben“, also immer nur Kontrollanteile: Sie teilen Kontrolle mit anderen Umständen. Ein Aspekt dieser vielfältigen Facetten der Kontrolle hat in der Psychologie besondere Bekanntheit erlangt. Julian Rotter entwickelte das Konzept des „locus of control“, der Kontrollüberzeugung, bereits in den 1950er-Jahren. Grundgedanke ist, dass das menschliche Verhalten stark von dieser Kontrollüberzeugung beeinflusst wird, wobei zwischen internaler und externaler Kontrollüberzeugung unterschieden wird – Menschen unterscheiden sich interindividuell danach, ob sie ein Ereignis eher als Folge der eigenen Handlungen oder als glücklichen oder unglücklichen Zufall ansehen. Rotter formulierte diese Vorstellung im Rahmen einer sozialen Lerntheorie, die unter anderem thematisierte, dass Menschen glauben, in bestimmten Situationen durch eigenes Verhalten bestimmte Verstärker zu erreichen (Flammer 1990). Therapeutisch bedeutsam ist, dass die Überzeugung, ein Geschehen unter Kontrolle zu haben, einen wichtigen Aspekt menschlichen Wohlgefühls bildet. Sind Menschen davon überzeugt, dass alles halbwegs nach ihrem Willen läuft, fühlen sie sich nicht nur sicher, sondern auch gut. Wer sich dagegen nicht als Herr der Lage empfindet, verspürt häufig Niedergeschlagenheit und zieht sich zurück. Der Komplementärbegriff zu Kon­ trolle ist nicht umsonst Hilflosigkeit – die Meinung, ein Ziel eben nicht kontrollieren zu können. Der Grad an erlebter Kontrolle scheint dabei auch gesellschaftsabhängig zu sein: Eine Untersuchung an Kindern zwischen 9 und 14 Jahren für den Zeitraum zwischen 1960 und 2002 zeigte z. B., dass die Kontrollüberzeugung in diesem Zeitraum im Durchschnitt erheblich abgenommen hat (Gigerenzer 2014). Auch bei Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) gehört die Überzeugung, nicht mehr handlungsfähig zu sein, zur kognitiven Architektur (7 Abschn. 2.3.1) und spielt dort eine wichtige Rolle – aber dieser Eindruck, nicht die Kontrolle zu haben, ist nicht der einzige Faktor, der Ungewissheit so unangenehm macht. Ohne die anderen Faktoren in der negativen Bewertung von Ungewissheit (z. B. „Ungewissheit ist gefährlich“) muss er sich nicht unbedingt negativ auswirken. Außerdem ist die Beziehung zwischen Kontrolle und Handlungsfähigkeit nur auf den ersten Blick derart eng – auch in Situationen, über welche die Kontrolle recht gering ist, bleibt oft die Handlungsfähigkeit erhalten: „Im übrigen müssen diese Situationen der Nichtkontrolle trotz Vorhersehbarkeit gar nicht immer so dramatisch sein: Wir versuchen täglich, mit nicht oder fast nicht oder vernünftigerweise nicht kontrollierbaren Situationen umzugehen, indem wir z. B. gelegentlich ‚für alle Fälle‘ einen Regenschirm mitnehmen, nie ohne Geld in der Tasche ausgehen, etwas zu früh zum Zug gehen etc.“ (Flammer 1990, S. 83). Ungewissheit kann also als eine Form des Kontrollverlusts begriffen werden: Der Handelnde hat nicht die komplette Kontrolle über die Handlungsfolgen, aber dies muss nicht gleichbedeutend damit sein, der Situation ohnmächtig oder hilflos ausgeliefert zu sein. Zudem ist eine geringe Kontrolle nicht unbedingt bedrohlich, wenn die Folgen einer Situation es nicht sind. Toleranz gegenüber Ungewissheit ist also durchaus auch in Situationen geringer Kontrolle möglich.  

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Kapitel 3 · Das Klare und das Unklare – Ungewissheit, Ungewissheitstoleranz und ihre Verwandten

Handeln und Ungewissheit

3

Ungewissheitstoleranz bezieht sich vor allem auf die mit Ungewissheit verbundene Einstellung und damit verbundene Emotionen – eine Handlungstendenz, das Ungewisse aufzusuchen oder zu meiden (wie bei der Ungewissheitsorientierung oder dem Sensation Seeking), gehört nicht direkt zum Konzept. Die Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit oder Handlungsparalyse gehört allerdings schon zum engeren Kreis der Überzeugungen, die mit geringer Ungewissheitstoleranz verbunden sind (7 Abschn. 2.3.1). Die totale Kontrolle über eine Situation zu haben be­deutet auch, Gewissheit über die damit verbundenen Handlungsfolgen zu besitzen. Aber Gewissheit gibt es ebenso ohne Kontrolle – als schicksalhafte Gewissheit, also als das Wissen um das sichere Eintreten eines Sachverhalts, obwohl man darauf keinen Einfluss hat. Doch auch eine unkontrollierte Situation ermöglicht Handlungsfähigkeit (z. B. einen Schirm mitnehmen, wenn es regnen könnte). Außerdem ermöglicht die riskante Operation des Vertrauens in eine Situation, deren Ungewissheit zu reduzieren – und so handlungsfähig zu bleiben.  

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61 Literatur

3

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63

Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft 4.1

 ie Moderne: das Versprechen von Gewissheit D und die Normalisierung des Ungewissen – 66

4.2

Von der festen zur flüchtigen Moderne – 68

4.2.1

 oppelte Entsicherung: Wegfall traditioneller D Orientierungen und Abbau staatlicher Sicherungssysteme – 69 Prekäre Lebenslagen: die ungleiche Verteilung von Ungewissheit – 71 Multioptionsgesellschaft: die Schwemme schwer einzuschätzender Angebote – 72 Unklarheit durch Wissen: die unbeabsichtigten Folgen der Wissensexplosion – 73

4.2.2 4.2.3 4.2.4

4.3

 inn haben für das Ungewisse: Verlangt S zunehmende Ungewissheit eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz? – 74

4.3.1

 as resiliente Selbst – Wachsen an der Konfrontation D mit dem Ungewissen – 76 Das unternehmerische und das kreative Selbst – Kalkül und Ideenfeuerwerk – 78

4.3.2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_4

4

4.4

Gesellschaftliche Ungewissheitsbegeisterung und psychologische Ungewissheitstoleranz: Wie stehen sie zueinander? – 81

4.5

 ie möglichen Folgen eines ungewissen D Lebens – 82

4.5.1

 ngewissheit und Gesundheit – die normalisierte U Angst – 82 Ungewissheit und Handlungsfähigkeit – Lähmung und Zaudern – 83 Ungewissheit und das sinnvolle Leben – „Driften“ statt Identität – 84

4.5.2 4.5.3

Literatur – 85

65 Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – …

4

Anhand von Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz lässt sich über das Verhältnis zwischen psychotherapeutischen Konzepten und ihrem gesellschaftlichen Rahmen anregend nachdenken. Verschiedene Gesellschaften haben Gewissheit und Ungewissheit einen sehr unterschiedlichen Stellenwert zugeschrieben, ebenso den verschiedenen Formen des Umgangs mit dem Ungewissen. In den letzten Jahrzehnten hat die Ungewissheit in den westlichen Gesellschaften zugenommen, darüber sind sich die meisten Zeitdiagnostiker einig. Ebenso wird verstärkt ein interessierter, aufgeschlossener Umgang mit ihr fast schon als eine Selbstverständlichkeit erwartet. Das Kapitel fragt : Wo genau entstehen die aktuellen Ungewissheiten und Unsicherheiten? Welcher Umgang mit dieser neuen Ungewissheit wird den Zeitgenossen nahegelegt? Welche versteckten Risiken birgt ein sehr aufgeschlossener Umgang mit Ungewissheiten eigentlich? Und vor allem: Wie ist die Beziehung zwischen der aktuell grassierenden Ungewissheitsbegeisterung und dem psychologischen Konzept der Ungewissheitstoleranz?

Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz wurden bisher wie selbstverständlich aus einem existenziellen Blickwinkel vorgestellt. Die Rechnung war dabei denkbar simpel: Prinzi­ piell wäre es vielleicht sogar möglich, alle Zusammenhänge zu durchdenken und sich über das, was kommt, völlige Gewissheit zu verschaffen, aber leider ist das Menschen­ leben allzu kurz, um die dafür nötigen Berechnungen abwarten zu können – der Tod ist immer schneller als die absolute Gewissheit (Marquard 1986), vom alltäglichen Hand­ lungsdruck ganz zu schweigen. Ungewissheit erscheint hier als eine unvermeidliche Universalie des menschlichen Lebens – alle Menschen begegnen im Alltag zwangsläufig ungewissen Situationen, auch wenn sie letztlich das Gewisse bevorzugen. Ungewissheitstoleranz gilt entsprechend als die zeitlos wertvolle Fähigkeit, diese unvermeidliche Ungewissheit angemessen zu ertragen  – das Konzept der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) fängt den individuellen Mangel an dieser Fähigkeit ein. Angesichts dieser universellen Situation des Menschen bezüglich der Ungewissheit wird eine Art unerfüllte Gewissheitssehnsucht nur plausibel: „Kein Wunder, dass wir immer wieder von einer Welt ohne Unfälle träumen. Einer geordneten Welt. Einer be­ rechenbaren Welt“, so der Soziologe Zygmunt Bauman (2008, S. 139 f.). Manche Auto­ ren sehen sogar diese menschliche Sehnsucht nach Gewissheit und Sicherheit als zen­ tralen Antrieb hinter der Bildung von Gesellschaften: „Ungewissheit war wahrscheinlich die treibende Kraft für die Bildung von Gesellschaften überhaupt, um Sicherheit, Pros­ perität und Überleben zu verbessern“ (Kolliarakis 2013, S. 313). Aus dieser Perspektive betrachtet, ist jede Gesellschaft vor allem eine Art Maschine zur Herstellung von Gewissheiten und Sicherheiten. Besonders der einflussreiche Sozio­ loge Niklas Luhmann sieht in der Reduktion von Komplexität und Ungewissheit einen grundlegender Bestandteil aller gesellschaftlichen Prozesse (Illouz 2018). Durch As­ semblagen aus Normen und Werten, Regeln und Institutionen, gewohnten Situations­ definitionen und Rollenbildern generieren Gesellschaften Vorhersehbarkeit für die sonst recht unberechenbaren zwischenmenschlichen Interaktionen. Durch das Leben in einer Gesellschaft verwandelt sich sozusagen die Ungewissheit außerhalb der menschlichen Seinsordnung in die verbliebene Ungewissheit innerhalb der sozialen Ordnung – das große Ungewisse der Natur wird heruntergemünzt auf das kleine Un­ gewisse innerhalb der modernen Gesellschaften. Diese schaffen durch ihre Verwaltun­ gen und ihre Weltanschauungsfragmente, ihre Technik und Wissenschaft eine belast­

66

4

Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

barere Realität, die es ermöglicht, „dass man sich auf eine Reihe von Regelmäßigkeiten stützen kann, die in jeder beliebigen Situation bestehen bleiben und jedes auch noch so singuläre Ereignis einrahmen“ (Boltanski 2015, S. 37). Gesellschaftsforscher gestehen also insgesamt gern einen quasi zeitlosen existenziel­ len Rahmen des Ungewissen ein, etwa in Gestalt von Schicksalsschlägen: In keinem so­ zialen Umfeld hat es für Menschen je einen narrensicheren Schutz vor Schicksalsschlä­ gen gegeben, aber die jeweilige Gesellschaft kann den Eindruck von Ungewissheit und Unsicherheit im Leben mindern oder verstärken, ja, Gesellschaften lassen sich danach unterscheiden, wie viel Ungewissheit oder Unsicherheit sie ihren Mitgliedern zumuten und für zumutbar halten. Doch die Gesellschaft reguliert nicht nur Menge und Art des zugemuteten Ungewissen, sondern sie bearbeitet auch den psychologischen Aspekt: Jede Gesellschaft vermittelt ihren Mitgliedern auch eine spezifische ideale Form, mit Ungewissheiten und Unsicherheiten umzugehen, man könnte sagen, einen bestimmten Gefahrensinn, zu dem auch ein Sinn für das Ungewisse gehört, der sich von Epoche zu Epoche wandelt (Engell et al. 2009) – eine als „gesund“ markierte Art, Ungewissheit zu erleben, wahrzunehmen, gedanklich einzuschätzen und auf sie zu reagieren. Erst wenn sich ein Riss auftut zwischen dem gesellschaftlich zugemuteten Grad an Ungewissheit und der individuell aufgebrachten Ungewissheitstoleranz, entstehen Be­ lastungen – und gesellschaftliche Institutionen wie die Psychotherapie kommen ins Spiel. Wie von selbst ergeben sich für nachdenkliche Psychotherapeutinnen und -thera­ peuten einige Fragen: Welchen Grad an Ungewissheit mutet die aktuelle moderne Ge­ sellschaft ihren Zeitgenossen eigentlich zu? Warum wird gerade in der Gegenwart Un­ gewissheitstoleranz ein populäres Thema bis in die Psychotherapie hinein? Und welcher Grad an Ungewissheitstoleranz gehört eigentlich zum heute gewünschten Subjektideal? Wie sieht sozusagen der aktuell gesellschaftlich gewünschte Sinn für das Ungewisse aus? 4.1  Die Moderne: das Versprechen von Gewissheit

und die Normalisierung des Ungewissen

Gerade die Moderne lässt sich  – vor allem in ihrem Selbstverständnis  – als ein Programm zur Beseitigung von Ungewissheit begreifen. Dabei ließ sich ihr Versprechen ei­ ner berechenbaren Welt schon in der frühen Neuzeit vernehmen, z. B. bei dem Natur­ wissenschaftler Isaac Newton: „Newtons Welt ist ein Uhrwerk. In ihr existieren kein Zufall und erst recht kein unergründliches Schicksal. Gleichungen regeln die Bewegung aller Körper. Wer den heutigen Stand der Dinge und sämtliche Kräfte kennt, kann die ganze Zukunft vorhersagen“ (Klein 2015, S. 65). Wie das viel zitierte Uhrwerk, in dem viele Zahnräder auf wohlgeordnete Weise ineinandergreifen, galt das ganze Universum als eine große Maschine, als eine logische Abfolge von Ursache und Wirkung. Newtons Lehre nährte die Hoffnung, dass Zufälle und Überraschungen auch im gesellschaftli­ chen Miteinander bald der Vergangenheit angehören könnten. Und der schottische Phi­ losoph David Hume übertrug bereits Mitte des 18. Jahrhunderts den Newton’schen De­ terminismus auf das menschliche Verhalten. Auf der Linie dieser Utopie entwickelte die Moderne nun ein beachtliches Reper­ toire zur Überwindung von Ungewissheit. Besonders dynamisch waren dabei Wissen­ schaft, Technik und Verwaltung. Gerade auch die bürokratische Verwaltung signali­

67 4.1 · Die Moderne: das Versprechen von Gewissheit und die …

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sierte, dass es möglich ist, soziale Prozesse zu planen, zu steuern und zu kontrollieren (Böhle 2013). Das Ungewisse verstößt sozusagen gegen ein Versprechen der Moderne: Die modernen Menschen sollen durchgängig eigentlich keinen Zufällen mehr ausge­ setzt sein, sondern sie sind ganz und gar die Verwirklichung ihrer eigenen Entscheidun­ gen. Sie sind im Ideal das Resultat ihrer Absichten und Handlungen, nicht mehr das, was ihnen widerfährt und zustößt. Die Moderne war damit auch ein Programm zur „Absolutmachung des Menschen“ (Marquard 1986, S. 122). Noch verbliebene Rest-Ungewissheiten wurden dabei marginalisiert und normali­ siert: Sie waren nur das Noch-nicht-Gewisse und würden sicherlich bald überwunden sein. Das Ungewisse verlor seine Bedrohlichkeit und nahm den Platz einer Vorausset­ zung für weiteres wissenschaftliches Wissen ein: „Man nahm nun plötzlich Kenntnis von der Unkenntnis, sie wurde zu einem würdigen Gegenstand wissenschaftlichen In­ teresses“ (Esposito 2007, S. 21). Ein Beispiel für das Fortschreiten der Gewissheit in der Moderne bietet das Gewitter mit seinen bis dahin unberechenbaren Blitzeinschlägen. Im vormodernen Verständnis wurden ungewisse Gefahren wie der Blitzeinschlag bei einem Gewitter im Sinne eines persönlichen Angriffs verstanden, ausgehend von einer höheren Macht, die mit den Menschen unzufrieden war: So bezeichnet das mittelhoch­ deutsche „gevare“ nicht einfach ein beliebiges, von „ungefähr“ entstehendes Risiko, sondern eine Nachstellung, einen Hinterhalt, einen Betrug, der stets dem feindlichen Trachten und Streben eines Gegners entspringt. Mit dem modernen Verständnis der Gewitterelektrizität, wie sie Benjamin Franklin ebenfalls Mitte des 18. Jahrhunderts ver­ breitet hat, verwandelte sich diese persönliche Heimsuchung nun in ein modernes Ri­ siko, das zu beherrschen ist – durch die Erfindung des Blitzableiters (Gregory 2009). In dieser Zeit entstand aus dem gleichen Geist der klassische Kriminalroman – mit dem Ungewissen und Rätselhaften als einem Aspekt des temporären Nichtwissens in einer Welt strikt kausaler Zusammenhänge und einem Vertrauen in die Aufklärung: Selbst wenn der Leser nicht genau weiß, was kommt – eine genaue Untersuchung liefert, egal, wie überraschend etwas ist, am Ende immer eine natürliche Erklärung (Boltanski 2015). Aber derart geradlinig, wie es ihr Selbstverständnis will, stellte sich die Beziehung der Moderne zur Ungewissheit dann doch nicht dar. Dabei war die durch eine gelingende gesellschaftliche Vergewisserung entstehende Langeweile nicht einmal das größte Prob­ lem. Glühende Verfechter der modernen Berechenbarkeit wie Benjamin Franklin riefen schon zu ihren Zeiten die Nonkonformisten auf den Plan, die eine „Franklinisierung des Selbst“ (Engler 2017, S.  163) kritisierten: Akribisch notierte Franklin Woche für Woche Verstöße gegen Mäßigung, Sparsamkeit oder Reinlichkeit  – und intensivierte daraufhin die eigene Wachsamkeit bis hin zu einer lückenlosen Selbstkontrolle. Das erfolgreiche Streben nach Berechenbarkeit verwandelte hier einen Menschen in einen Regelfanatiker: Alles Genießerische und Zweckfreie blieb ausgeschlossen. Gravierender war der Einwand, dass die Moderne zwar neue Gewissheiten schaffe, aber gleichzeitig auch alte Gewissheiten zerstöre: Im Vergleich zu vorindustriellen, tra­ ditionellen Gesellschaften sind moderne industrielle Gesellschaften durch einen konti­ nuierlichen Wandel und – damit verbunden – Ungewissheit gekennzeichnet. Zugleich findet sich aber in modernen Gesellschaften in besonderer Weise das Bestreben, Unge­ wissheit zu überwinden und zu beseitigen (Böhle 2013). Seit dem Barock kam es zu ei­ ner Auflösung z. B. der religiösen Geschlossenheit der Welt: Vor allem galt die Zukunft

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

jetzt als offen, d. h. als prinzipiell unsicher – sie galt nun nicht mehr als vorherbestimmt, sondern als abhängig von den in der Gegenwart getroffenen Entscheidungen. Die neue Lücke in der Gewissheit wurde aber schnell wieder durch wissenschaftliche und organi­ satorische Vergewisserungen geschlossen – neue Ungewissheit entstand also parallel zu den Instrumenten ihrer Bewältigung. Ein Kennzeichen moderner Gesellschaften ist somit die Zerstörung alter Sicherhei­ ten durch die Auflösung traditioneller Gemeinschaften, religiöser Weltbilder sowie landwirtschaftlicher und handwerklicher Erfahrung. Gleichzeitig geht es in der Mo­ derne aber auch um zunehmende Gewissheit durch Naturbeherrschung mittels Berech­ nung. Im Selbstverständnis allerdings dominiert die Zunahme an Gewissheit: Das Leit­ bild der Naturbeherrschung und die damit verbundene Herstellung von Gewissheiten wurde zum Signum für ein bewusstes, erfolgreiches menschliches Handeln. Ungewiss­ heit und Unsicherheit hingegen erhielten das Signum der Ohnmacht. Der Soziologe Zygmunt Bauman sieht zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren eine Phase der Moderne am Werk, in der diese der Erfüllung ihres Versprechens von Gewissheit und Sicherheit besonders nah gekommen ist  – er nennt sie die feste Moderne. Neue soziale Sicherungssysteme entstanden, etwa im Gesundheitswesen, im Be­ reich der Arbeitergesetze oder des sozialen Wohnungsbaus. Unsicherheit wurde in den Randbereich von Schicksalsschlägen und verhängnisvollen Unfällen abgedrängt, sodass nicht mehr der gesamte Alltag von ihr durchdrungen war. Die feste Moderne ersetzte die traditionellen Bande recht erfolgreich „durch künstliche Pendants in Form von Ver­ einigungen und Gewerkschaften“ (Bauman 2008, S. 102). Das Ungewisse, das den Men­ schen im Alltag begegnete, war hier relativ gering, verglichen mit anderen Zeiten. Eine große Ungewissheitstoleranz wurde von den Zeitgenossen daher gar nicht erwartet. Im Gegenteil: Schnell galt sie als übergroße und unvernünftige Risikobereitschaft. Es waren die Jahrzehnte des nivellierten Mittelstands, der gesicherten Arbeitsverhältnisse und der Normalbiografien. Die Utopie einer wohlgeordneten Realität, die nichts Rätselhaf­ tes und nichts Ungewisses mehr an sich hat, schien für ihre Fürsprecher fast erreicht: „Die Realität wäre darin durchsichtig wie klares Wasser“ (Boltanski 2015, S. 69). 4.2  Von der festen zur flüchtigen Moderne

Warum wirkt diese Welt halbwegs verwirklichter Berechenbarkeit, Gewissheit und Sicherheit heute nur schon wieder derart weit entfernt? Irgendetwas hat sich grundlegend geändert in den letzten Jahrzehnten – Ungewissheit und Unsicherheit sind in der gegen­ wärtigen Spätmoderne wieder zu einer zentralen Erfahrung geworden. Schon in den 1980er-Jahren deutet sich in industriellen Gesellschaften ein weitreichender Wandel im Umgang mit Ungewissheit an: Überall scheinen plötzlich wieder Risiken zu lauern – von Altersarmut oder Herzinfarkt über unberechenbare Mieterhöhungen und Klimaer­ wärmung bis zu Einbrüchen an der Börse und stürmischem Wetter. Zudem scheinen die technischen Systeme immer komplizierter und undurchschaubarer zu werden, die Organisationen immer dezentraler und schwerer zu kontrollieren und vor allem die Märkte immer globaler und unverständlicher. Zunehmend wird eine „Rückkehr der Unsicherheit, Ungewissheit und Uneindeutigkeit“ (Böhle 2013, S. 286) gesellschaftlich diagnostiziert. Kurzum: Die aktuellen Lebensverhältnisse sind vermehrt unsichere und

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ungewisse Lebensverhältnisse. Und viele Menschen fühlen sich heute den Unwägbar­ keiten des Lebens relativ hilflos ausgeliefert: Wie geht es im Job weiter? Ist diese Schule wirklich die richtige für meine Kinder? Ist die Rente sicher? Und was kommen da ei­ gentlich jeden Tag für seltsame Geräusche aus der Nachbarwohnung? Sicherheit und Gewissheit scheinen heute nur noch denkbar im Modus ihrer Ab­ wesenheit. Es herrscht ein durch Katastrophenmeldungen und düstere Zukunftsprog­ nosen fortwährend aktualisiertes Gefühl der Entsicherung, der Ausgesetztheit ge­ genüber allgegenwärtigen Gefahren. Und auch der Bedeutungsrahmen für den zwischenmenschlichen Umgang wird immer unklarer – die Ungewissheit, die daraus resultiert, dass man sich die Bedeutung eines Verhaltens allein, ohne einen klaren Rah­ men, zusammenreimen muss, nimmt gegenwärtig zu. Es wird auch dort immer schwie­ riger, konkrete Erwartungen im Hinblick auf das zu bilden, was auf einen zukommen könnte. Viele Soziologen und Psychologen teilen inzwischen diesen Eindruck: „Wir le­ ben in einer Gesellschaft, in der Gewissheiten zu einem knappen Gut, Ungewissheit, Riskanz und Prekarität individueller Lebensführung zur alltäglichen Erfahrung Vieler geworden sind“ (Lantermann et al. 2009, S. 167). Angesichts dieses Panoramas spricht aktuell vieles für einen Übergang von einer festen in eine flüchtige Phase der Moderne – das Ungewisse nimmt in der aktuellen Gesell­ schaft wieder deutlich zu, und dem einzelnen Bürger wird dadurch oft viel zugemutet: Individuell erleben Menschen die verschiedenen Sphären des alltäglichen Lebens wie­ der häufiger als unsicher, wenig beeinflussbar und bedrohlich, aber manchmal auch im Positiven als durchaus verheißungsvoll. Voller Möglichkeiten, aber auch voller Risi­ ken – nichts ist mehr sicher oder bewährt, alles ist möglich. Kein Wunder, dass in solchen ungewissen Zeiten Ungewissheitstoleranz zu einem psy­ chotherapeutischen Thema werden muss, folgt man Baumans Schlussfolgerung: „Insge­ samt gesehen ergibt sich […] die Notwendigkeit des Handelns […] unter den Bedingun­ gen einer endemischen Ungewissheit“ (Bauman 2008, S.  11). Es ist der Rückgang der Gewissheiten und Sicherheiten unter neoliberalen Umständen, „deren Devise, wie Fou­ cault schreibt, ‚gefährlich zu leben‘ lauten könnte, was bedeutet, ‚daß die Individuen fort­ während in eine Gefahrensituation gebracht werden oder daß sie vielmehr darauf kondi­ tioniert werden, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft usw. als Träger von Gefahren zu empfinden‘ – eine Kultur der Gefahr“ (Boltanski und Esquerre 2018, S. 200). Welche konkreten Entwicklungen sorgen nun eigentlich genau für diese zuneh­ mende gesellschaftliche Ungewissheit? Hier können natürlich nur einige wenige der Anschauung halber vorgestellt werden. 4.2.1  Doppelte Entsicherung: Wegfall traditioneller

Orientierungen und Abbau staatlicher Sicherungssysteme

Das Leitbild der traditionellen Familie und hergebrachte Geschlechterrollen, religiöse Zugehörigkeiten und Altersnormen: Die allgemeine Enttraditionalisierung der Moderne setzt sich natürlich auch in der Gegenwart weiter fort. Alte Bindungen erscheinen heute häufig nur noch als lästige Pflichten, wenn sie nicht bereits gänzlich abgestreift worden sind – mit einer entsprechenden Zunahme der Schwierigkeiten für den Einzelnen: Im Alltagsleben zeigen sich diese Auflösungserscheinungen traditioneller Lebensformen

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

z. B. im Verlust normativer Vorstellungen von einer „normalen“ Lebensgestaltung und in einer zunehmenden weltanschaulichen Orientierungslosigkeit, inklusive kompensa­ torischer Suchbewegungen. >> Wurden in der festen Moderne verlorene traditionelle Ordnungen noch durch alternative Institutionen ersetzt – durch bürokratische Regeln oder Pläne, die den Menschen Orientierung gaben, indem sie ihnen den aktuellen Stand vernünftigen Handelns vorführten –, so gehen heute auch diese Ersatzordnungen zurück.

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Besonderer Ausdruck alternativer Ordnungen in der festen Moderne war der Sozialstaat – er bildete gemeinschaftlich organisierte Absicherungen gegen eine Vielfalt indi­ vidueller Schicksalsschläge aus und unterstützte die Bürger bei unerwarteten Zuspit­ zungen der Lebenslagen: Pflichtversicherungen, Sozialsysteme und das staatliche Gesundheitswesen dienten sozusagen auch als ein Gewissheitsersatz. Die flüchtige Moderne verzichtet also nicht nur auf die sinnstiftenden alten Traditio­ nen, sondern sie schafft auch die modernen Ersatzordnungen des Sozialstaats ab. Nun muss jeder moderne Mensch sich auf sich selbst verlassen, sich seine eigenen Sicher­ heiten und Orientierung schaffen. Der Staat hat dagegen seine unterstützenden Struk­ turen so weit abgebaut, dass sie inzwischen unterhalb der Schwelle liegen, jenseits derer sie ein Gefühl der Sicherheit, und damit des Selbstvertrauen der Handelnden, bestäti­ gen und aufrechterhalten können (Bauman 2008). Gerade die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft geht zurück, sodass die unkon­ trollierten Märkte permanent Ungewissheit produzieren und die Selbstwirksamkeits­ erfahrungen vieler Individuen aushöhlen – sie glauben immer seltener, dass sie die ak­ tuelle Situation und die Zukunft noch beherrschen können. Das Bedürfnis nach Überschaubarkeit, Kontrollierbarkeit und Sicherheit wird nicht länger erfüllt, und der einzelne Bürger ist verstärkt den Unwägbarkeiten des Waren- und Arbeitsmarktes aus­ gesetzt. Gewöhnlich wird auf mehr Flexibilität als Heilmittel gegen die oft nur schwer zu ertragende Unsicherheit verwiesen. Was bleibt, ist die Orientierung an eher vagen in­ formellen Regeln und an der eigenen Individualität: Die Welt wird zwar nicht völlig regellos, aber durch die beschriebene Entformalisierung sind deutliche Verhaltensre­ geln verschwunden, während es eine schwer zu überschauende Vielzahl neuer und wei­ cher Regeln gibt. Die Verunsicherung reicht bis in jede zwischenmenschliche Begeg­ nung hinein: Lösen sich diese Regeln wie beschrieben immer weiter auf, dann wird es z.  B. „unmöglich, mit Gewissheit zu sagen, ob der gutmütig aussehende, wie ein be­ stimmter Sozialtypus wirkende Unbekannte, der sich einem vorstellt, tatsächlich der ist, der er zu sein vorgibt“ (Boltanski 2015, S.  59). Manchmal wird mit dieser neuen ­Unübersichtlichkeit auch die Flut der Ratgeber erklärt, die versprechen, man könne sich mit ihrer Hilfe über das Richtige in vielfältigen Situationen ständig neu informieren. Überraschenderweise ist Sicherheit gerade in dieser zunehmenden gesellschaftli­ chen Unberechenbarkeit und Ungewissheit eines der hervorstechendsten Themen. Doch die Gefahren, vor denen der Staat die Bürger nun schützen will, haben sich inhalt­ lich geändert: nicht mehr sozialer Abstieg oder Krankheit, sondern Pädophile oder Se­ rienmörder, Terroristen oder Stalker – der ehemalige Sozialstaat ist ein „personal safety state“ (Bauman 2008, S. 26) geworden, der nur noch vor Gewalt schützt. Es gibt einen neuen Fokus auf Verbrechen und die physische Sicherheit bei gleichzeitiger ökonomi­ scher Deregulierung und der Abkehr von gesellschaftlicher Solidarität.

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4.2.2  Prekäre Lebenslagen: die ungleiche

Verteilung von Ungewissheit

In der aktuellen Gesellschaft sind nicht alle Schichten in gleicher Weise den zunehmenden Ungewissheiten ausgeliefert. Die alltägliche Notwendigkeit, sich mit Ungewissheiten aus­ einanderzusetzen, ist ungleich verteilt: Je privilegierter die soziale Lage ist, desto planbarer wird die Zukunft und desto eher können eventuelle Gefährdungen in Risiken umgewan­ delt werden, für deren Bewältigung auch Handlungsstrategien bereitstehen. In prekären Lebenslagen kommen dagegen die vielfältigsten Ungewissheiten besonders häufig zusam­ men: Reicht das Geld diesmal bis zum Monatsende? Kann ich mich noch auf die Hilfe der Freunde verlassen? Wie werden sich meine schwierigen Verhältnisse weiterentwickeln? Wird der Zeitarbeitsvertrag verlängert? Und auch die Handlungsmöglichkeiten sind oft ungewiss: Was kann ich denn bloß noch tun, um meiner prekären Lage zu entkommen? Zwar kommt es aktuell in Deutschland nicht zu dem flächendeckenden Abstieg der Mittelschicht in prekäre Verhältnisse, von dem häufig zu lesen ist: Die Mittelschicht bröckelt nur langsam an ihren Rändern – von zwei Dritteln der westdeutschen Erwach­ senen, die in den 1980er-Jahren zur Mittelschicht zählten, auf nur noch ca. 54 Prozent im Jahr 2006. Statt eines realen Abstiegs findet allerdings ein allgemeiner Verlust an subjektiver Sicherheit statt, der auch die Mittelschicht erreicht hat. Die persönliche Un­ sicherheitserfahrung ist gewachsen (Koppetsch 2013). Absolviert man die simple Rechenaufgabe, den Bevölkerungsanteil zu bestimmen, der nicht der Mittelschicht angehört, dann wird schnell deutlich: Prekäre Lagen sind auch in Deutschland durchaus stark ausgeprägt, auch wenn sie nicht dammbruchartig zunehmen. Dabei sind neben den Arbeitslosen besonders bestimmte gesellschaftliche Gruppen von dieser Entwicklung betroffen: ältere Arbeitnehmer und Industriearbeiter, landwirtschaftliche Familienbetriebe und kleine Selbstständige. Insgesamt kommt es in Deutschland zu einem Rückgang vor allem der Beschäftigungssicherheit. Neben Ent­ lassungen steht dafür auch eine Zunahme an Zeitarbeitsverhältnissen: Beides erhöht die Unsicherheit und Ungewissheit für die Betroffenen. In Studien fand sich über einen Zeitraum von zehn Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Arbeitsplatzunsicherheit. Neben der Unsicherheit des Arbeitsplatzes ist die Orientierung an Projektarbeit eine weitere Quelle beruflicher Ungewissheit. In einer Werbefirma ist die Arbeit z.  B. auf solche Projekte hin orientiert, also auf nur kurze Zeitperioden – ein Weiterkommen ist daher kaum noch feststellbar. Die jungen Angestellten mit Zeitverträgen sind nicht in der Lage, Loyalität und längerfristige Bindungen aufzubauen, sie sehen ihren Job nur als Sprungbrett. Das sind Würfelspiel-Bedingungen: Jeder Wurf ist neu, unabhängig von den vorherigen, und die am Projekt Arbeitenden beginnen beim nächsten Projekt wie­ der bei null. Auch die Bezahlung lässt oft keine klare Risikoabwägung mehr zu – bei den häufigen Stellenwechseln verlieren 34 Prozent, nur 28 Prozent gewinnen nennenswert Gehalt hinzu. Ist man nun auf- oder abgestiegen? Unsicherheit und Ungewissheit wer­ den hier zu einem Basiserleben der Arbeitenden (Sennett 1998). Die zunehmende berufliche Ungewissheit bleibt nicht ohne Auswirkungen: Negative Gesundheitsfolgen wachsen mit der Häufigkeit der Arbeitslosigkeitsepisoden und der Ar­ beitsplatzunsicherheit sowie der damit verbundenen Bedrohungsgefühle. Ungewissheit und Unsicherheit bezüglich des Arbeitsplatzes führen sogar zu vergleichbaren gesundheit­ lichen Beeinträchtigungen wie der reale Verlust des Arbeitsplatzes (Lantermann et al. 2009).

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

4.2.3  Multioptionsgesellschaft: die Schwemme schwer

einzuschätzender Angebote

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Zunehmende Ungewissheit wird nicht allein durch ein Weniger von etwas – die Ab­ nahme an Regulierungen und Sicherheiten –, sondern auch durch ein Mehr gefördert: nämlich durch eine Schwemme von Möglichkeiten. Multioptionsgesellschaft – so hatte der Soziologe Pascal Gross die Gegenwartgesellschaft schon in den 1990er-Jahren beti­ telt (Gross 1994). Danach ist die Gegenwart wie ein riesiger Markt organisiert, der jedem offensteht und auf dem alle Möglichkeiten ausgebreitet sind. Alle Optionen werden dabei immer feiner ausdifferenziert, und die Vermarktlichung erfasst nach und nach alle Bereiche des Lebens: Es gibt nicht nur tausend Handys und Freizeitevents, sondern auch ebenso viele Religionen oder alternative Sinnangebote. Eine solche allumfassende Zunahme von Optionen führt letztlich in eine Entscheidungsgesellschaft – nur sind es eben Entscheidungen unter Unsicherheit, Risiko und Ungewissheit (7 Abschn. 3.1): Die Wahl des Stromversorgers, der Renten- oder Krankenversicherung wird der staatlich geregelten Zwangssolidarität entzogen und in die Hände scheinbar souveräner Konsumenten ge­ legt. Aber welche dieser – auch noch schnell wechselnden – Optionen wählt der Ein­ zelne am besten aus? Die Ungewissheiten dieser Wahlen nehmen epidemisch zu, der Wählende kann sich schließlich schlicht überfordert fühlen oder beständig verspätet erfahren, doch nicht das Richtige gewählt zu haben. Besonders problematisch bei den vielen Optionen ist, dass die kulturellen Orientierungen sich vervielfachen und ver­ schwimmen. Wohin soll man sich wenden? Welchen Weg einschlagen? Was ist hier das Richtige? Da die Optionen auf einem Markt ausgebreitet sind, sind sowohl Käufer als auch Verkäufer mit zusätzlichen Ungewissheiten konfrontiert. Die Ungewissheit aus der Per­ spektive des Käufers richtet sich auf den Anbieter: „Hat er die Sache womöglich frisiert, damit sie besser aussieht, als sie in Wirklichkeit ist?“ (Boltanski und Esquerre 2018, S.  157) Zwischengeschaltete gesellschaftliche Institutionen, die diese Ungewissheiten früher reduziert haben, gehen vermehrt zurück. Und die Unberechenbarkeit steigt noch durch die besondere Struktur der gegenwärtigen Märkte, die immer häufiger sehr asym­ metrische sogenannte Winner-takes-all-Märkte sind, auf denen die Gegenwartsmen­ schen auch ihre eigenen Güter, die eigene Arbeitskraft, also sich selbst, anbieten müssen. Solche Märkte gelten als grundsätzlich unberechenbar: „Der Anteil von Extremisten wächst. Das Phänomen, dass der Gewinner alles bekommt, wird immer offensichtlicher: Der Erfolg eines einzigen Autors, einer Firma, einer Idee, eines Musikers, eines Athleten ist entweder global oder nicht existent. Die Vorhersehbarkeit wird immer geringer“ (Ta­ leb 2013, S. 232). Niemand weiß schließlich mit Sicherheit, welche Apps, welche Filme, Restaurants oder Therapien Resonanz finden werden. Die Ungewissheit ist hier aufsei­ ten der Produzenten (bezüglich des voraussichtlichen Erfolgs) und aufseiten des Konsu­ menten (welches Gut verdient denn eigentlich Aufmerksamkeit?) sehr hoch. Eine solche vermarktlichte Multioptionsgesellschaft drängt ihren Mitgliedern einen bestimmten Charakter auf, wenn diese sich in ihr halbwegs erfolgreich bewegen wollen. Da die Optionen immer rascher anwachsen und Entscheidungen in immer kürzerer Zeit verlangen, gibt es neben hyperaktiven Menschen die Überforderten, die einfach keine Entscheidung mehr treffen, weil ihnen alle Optionen gleichwertig erscheinen.  

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Aber vor allem wird jeder Mensch zu einem Unternehmer, der fähig sein muss zur Spe­ kulation als zentraler Handlungsstrategie, die mit Ungewissheit zum eigenen Vorteil umzugehen versteht – multiple Optionen verlangen ausgesprochen viel Ungewissheits­ toleranz und Risikobereitschaft. Anders ausgedrückt, fördert eine Multioptionsgesell­ schaft nicht Entschiedenheit, sondern Offenheit, verstanden als geschickte Wahrung von Optionen: Jeder muss offen bleiben für alles, darf keine Möglichkeit ausschlagen. Verlangt ist eine Kompetenz des In-der-Schwebe-Bleibens. 4.2.4  Unklarheit durch Wissen: die unbeabsichtigten

Folgen der Wissensexplosion

Zu Beginn der Moderne, z. B. bei Isaac Newton (7 Abschn. 4.1), war die Sache mit dem Wissen noch relativ einfach – man konnte eigentlich nie genug davon bekommen. Wis­ sen schuf wie von selbst Gewissheit: „Wer den heutigen Stand der Dinge und sämtliche Kräfte kennt, kann die ganze Zukunft vorhersagen“ (Klein 2015, S. 65). Heute dagegen verbindet ein Paradox, das manchmal als Dialektik der Informationsgesellschaft bezeich­ net wird, wissenschaftliches Wissen wieder viel enger mit der Ungewissheit: Während die Fülle der umlaufenden Informationen immer weiter zunimmt, wird die Chance, sie komplett zu wissen, nämlich immer geringer. Gerade weil das zunehmende Wissen alle Kapazitäten sprengt – das Fassungsver­ mögen des Einzelnen, dann das der Bibliotheken und schließlich die Etats von Univer­ sitäten oder ganzen Staaten –, gilt: Noch nie waren die Zeitgenossen vom Allwissen so weit entfernt. Gerade die Fülle des heutigen Wissens ist also eher Basis einer Schock- als einer Glückserfahrung – des Schocks der persönlichen Unwissenheit angesichts dieser Wissensberge. Etwas nicht zu wissen ist normal, etwas halbwegs komplett und damit gewiss zu wissen die Ausnahme. Menschen haben also individuell so ziemlich von allem keine Ahnung – aber genau das wissen sie fast schmerzlich deutlich. Nie können sie wirklich erschöpfend alles über einen neuen Computer wissen, den sie kaufen wollen. Oder über die vielfältigen Versi­ cherungen, die sie vielleicht abschließen sollten oder auch nicht, wo doch schon die Bedienungsanleitung eines Autoradios leicht hundertfünfzig Seiten überschreitet. Nur handeln müssen die Menschen trotzdem. Der alltägliche Eindruck von Ungewissheit ist nun eng mit dem Wissen über das eigene Unwissen verbunden, schon bei der Produkt­ wahl: Ist das wirklich ein halbwegs guter Kühlschrank/Computer, für den ich mich da entscheiden will? Darf ich mich überhaupt schon jetzt entscheiden, wo doch noch so viel mehr darüber zu wissen wäre? Gerade wer viel weiß, der weiß heute auch schmerz­ haft genau, wie viel er noch nicht weiß – das schafft Verunsicherung und beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit. Die fortschreitende Wissenschaft mit ihrer Flut an Wissen schafft also längst nicht mehr Gewissheit – sie transformiert oft bloß noch Ignoranz (als Nichtwissen des eige­ nen Nichtwissens) in Ungewissheit und Unsicherheit (Wissen um das eigene Nichtwis­ sen). Gelegentlich wird auch vom Fleck’schen Gesetz gesprochen – in Anlehnung an den polnisch-jüdischen Arzt und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck: Die Entdeckung neuer Unbestimmtheiten ist im Mittel immer größer als die Konstruktion von abgesi­ cherten, bestätigten Wissensbeständen.  

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

Nicht nur die zunehmenden Optionen, auch die Unmenge an verfügbarem Wissen um die Optionen herum flutet also die Zeitgenossen mit Ungewissheit. Sie müssen nicht nur das schmerzhafte Bewusstsein ihres Nichtwissens aushalten, sondern eben­ falls dafür Sorge tragen, dass es nicht zu einer Kapazitätsüberlastung kommt. Das mo­ derne Leben verlangt also nicht nur ein großes Maß an Ungewissheitstoleranz, gefor­ dert ist auch die Fähigkeit zur intelligenten Wissensabwehr  – insbesondere ist es essenziell, zu wissen, was man nicht braucht, aber auch, was das Wesentliche ist, und sich dann darauf zu beschränken. Gerade in Zeiten der Wissensexplosion und der In­ formationsüberlastung sind solche geschickten Praktiken des Wissensverzichts fast schon lebensnotwendig – ohne eine schützende Ignoranz kommt niemand mehr zurecht (Wehling 2015). 4.3  Sinn haben für das Ungewisse: Verlangt zunehmende

Ungewissheit eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz?

Regulierungen verschwinden, traditionelle genauso wie ihre modernen Pendants, statt­ dessen fluten Optionen und schier unbeherrschbare Wissensmengen den Alltag. Kein Wunder, dass auch Umfragen belegen, wie sehr die Gegenwart als ausgesprochen güns­ tiges Biotop für Ungewissheiten angesehen wird: „Die Mehrheit der Deutschen findet, man lebe heute in einer besonders unsicheren Zeit, die langfristige Planungen er­ schwert“ (Koppetsch 2013, S. 31). Wie reagieren nun eigentlich die Zeitgenossen auf diesen gestiegenen Grad an Ungewissheit? Hier lohnt es sich zu unterscheiden, wie die vielleicht verunsicherten Menschen wirklich reagieren … und welche Haltung von ih­ nen gesellschaftlich gewünscht wird. Soziologen finden Indizien dafür, dass die Betroffenen sich nicht begeistert daran machen, eine risikobereite Persönlichkeit auszubilden, sondern eher zu Vergewisse­ rungsbewegungen neigen, die in einem Abschließen, Beharren oder in einem Rückgriff auf Traditionen bestehen: „Wollte man die Mentalität der Gegenwart auf einen einfa­ chen Nenner bringen, dann hieße dieser: ängstliche Vermeidung alles W ­ iderständigen, Risikobehafteten und Unberechenbaren“ (Koppetsch 2013, S. 10). Zunehmende Ungewissheit und Sicherheitsbedürfnis Die gegenwärtige Vielfalt aus Wissen und Optionen bei gleichzeitiger Deregulierung wird eher als Bedrohung denn als Verheißung wahrgenommen: So gaben in einer Allensbach-Studie 79 Prozent der Befragten an, dass sie ein sicheres Leben in bescheidenem Wohlstand einem Leben mit Risiken, aber großen Chancen vorziehen (Koppetsch 2013). Diese Position nahm zwar mit dem Alter zu, aber auch unter den unter Dreißigjährigen fand die Aussage noch eine Zustimmungsrate von 68 Prozent.

Ein solcher „Präventionist“ (Bröckling 2017a, S. 83) will nichts von ausgeprägter Unge­ wissheitstoleranz wissen, sondern er will seine gute alte Sicherheit zurück. Oder positi­ ver: Ihm geht es nicht darum, Ungewissheit wie etwas Schicksalhaftes hinzunehmen, sondern er setzt weiterhin auf das Absichern der Wirklichkeit, um sie vorhersehbar und

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beherrschbar zu machen – alles, was hilft, planmäßig und zweckgerichtet vorzugehen, ist ihm dabei willkommen. So wappnen sich Präventionisten im Alltag gegen alle möglichen Gefahren mit zusätzlichen Schlössern oder gepanzerten Autos: Die SUVs, die in den USA bereits 45 Prozent der verkauften Autos ausmachen, sind so etwas wie Verteidigungskapseln gegen die Ungewissheiten des städtischen Straßenverkehrs (Bauman 2008). Obwohl Gewissheits- und Sicherheitswünsche von den meisten Mitbürgern geäu­ ßert werden, also eigentlich die Mehrheitsposition bilden, werden die etwas verbohrt und altmodisch wirkenden Gewissheitsbefürworter oder Präventionisten immer wieder Gegenstand der Belustigung – z. B. werden sie als zerbrechlich verunglimpft, als Fragilisten: „Der Fragilist gehört zu der Sorte Mensch, die – selbst freitags noch – in Anzug und Krawatte auftritt; er quittiert Ihre Witze mit eisiger Indignation und hat häufig schon in jungen Jahren Rückenprobleme, weil er entweder an einem Schreibtisch oder in einem Flugzeug sitzt und ständig Zeitung liest“ (Taleb 2013, S. 36 f.). Ein möglicher­ weise berechtigtes Sicherheitsbedürfnis verwandelt sich hier in einen Mangel, in Fragili­ tät – verstanden als die Unfähigkeit, Unbeständigkeit und Ungewissheit ausreichend zu vertragen. Dem Präventionisten wird vorgeworfen, dem Leben nicht wie ein Abenteu­ rer oder Unternehmer zu begegnen, sondern wie ein Tourist. Ungewissheit und Zufäl­ ligkeit werden systematisch entfernt, und man versucht, die Realität bis ins kleinste De­ tail vorhersehbar zu machen  – alles im Dienst von Komfort, Bequemlichkeit und Effizienz: „Die schlimmste Touristifizierung aber ist das Leben in Gefangenschaft, das wir Menschen der Moderne in unserer Freizeit zu leben gezwungen sind: der Freitag­ abend in der Oper, die planmäßigen Partys, das planmäßige Gelächter […]: der goldene Käfig“ (Taleb 2013, S. 114). Werden derart starke Geschütze aufgefahren, um die stille Mehrheitsposition eines ausgeprägten Gewissheitsverlangens sturmreif zu schießen, dann lehnt man sich wohl nicht zu sehr aus dem Fenster, wenn man annimmt, dass hier eine solche Gewissheitsund Sicherheitsbetonung gesellschaftlich nicht mehr en vogue ist. Solche Diskurse ver­ mitteln schließlich, wie das Leben aktuell geführt werden soll  – und wie nicht mehr. Populäre psychotherapeutische Begriffe wie Ungewissheitstoleranz fungieren dabei möglicherweise ebenfalls als Problematisierungsformeln, als Deutungsschemata, mit de­ nen Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, interpretieren (Bröckling et al. 2004): Bin ich auch gelassen genug? Ehrgeizig genug? Flexibel und kreativ genug? Und bin ich auch risikobereit, offen und ungewissheitstolerant genug? Der typische Ton in Bezug auf den gewünschten Umgang mit der zunehmenden Ungewissheit findet sich in einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig lässt, z. B. bei einer französischen Philosophin: „Der Ausdruck ‚sein Leben riskieren‘ gehört zu den schönsten unserer Sprache. […] Denn das Risiko stößt in einen unbekannten Raum vor“ (Dufourmantelle 2018, S.  27  f.). Auch etwas weniger theatralisch gilt: Zum er­ wünschten Subjektideal der Gegenwart gehört ein ausgeprägter Sinn für das Ungewisse. Die Gegenwartsmenschen müssen schließlich in der Lage sein, ein Berufsleben ohne Zukunftsgarantien zu managen, ihren individuellen Lebenssinn ohne die Vorgabe über­ geordneter Systeme zu entwickeln und eine Komplexität von Weltverhältnissen aus­ zuhalten, die nur noch in sehr abgeschiedenen Weltwinkeln auf ein einfaches Maß ­reduziert werden kann. Wünschenswert sind dafür besonders Risikokompetenz, Risi­ kobereitschaft  – und Ungewissheitstoleranz: Ein eigenverantwortlicher Umgang mit ­Ungewissheit, Unsicherheit und Unbestimmtheit, Ungewissheitskompetenz, wird aus

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

dieser Perspektive zu einer Schlüsselkompetenz für eine erfolgreiche Bewältigung der charakteristischen Anforderungen moderner Industriegesellschaften (Lantermann et al. 2009). Aus dem Blickwinkel dieses aktuellen Sinns für das Ungewisse erscheint Gewissheit grundsätzlich als Illusion, Ungewissheit dagegen als Normalität. Anders als beim Prä­ ventionisten spielt es nun weniger eine Rolle, „ob Ungewissheit immer eliminierbar ist, sondern […], wann sie hinderlich zum Handeln ist und wann sie eine Chance oder so­ gar eine Ressource ist“ (Kolliarakis 2013, S. 328). Ungewissheit erfährt hier also eine radikale Umdeutung: weg von der Gleichsetzung mit einer Bedrohung, die dringend beseitigt werden muss, hin zu Ungewissheit als unvermeidliches menschliches Schick­ sal. Die ideale Person sollte Ungewissheit nicht per se als ein Defizit verstehen, sondern als ein Stück Normalität, das es zu beachten, aber auch zu nutzen gilt. Was den neuen Sinn für das Ungewisse auszeichnet, ist also keineswegs ein Gewinn an subjektiver Sor­ genfreiheit oder objektiver Sicherheit, wohl aber eine Sensibilisierung für ungewisse Lagen und einen geschickten Umgang mit ihnen. In drei aktuell hoch gehandelte Sub­ jektideale ist diese neue Ungewissheitskompetenz besonders eingearbeitet. 4.3.1  Das resiliente Selbst – Wachsen an der Konfrontation

mit dem Ungewissen

Im Begriff der Ungewissheitstoleranz steht dem schrill Unerträglichen der Intoleranz ein immerhin gleichmütiges Ertragen des Unerwünschten gegenüber (7 Abschn.  3.2). Manche Befürworter einer Konfrontation mit dem Ungewissen geben sich damit aber nicht zufrieden, sondern beschwören geradezu eine viel positivere Perspektive: „Wir wollen Ungewissheit nicht nur knapp überleben, nicht nur ‚gerade noch einmal davon­ kommen‘. Wir wollen Ungewissheit vollkommen unbeschadet überleben und darüber hinaus […] das letzte Wort haben. Die Frage ist: Wie gelingt es uns, das, was wir nicht sehen, nicht durchschauen, nicht erklären können, zu domestizieren, zu dominieren, vielleicht sogar zu bezwingen?“ (Taleb 2013, S. 17) Im populären psychologischen Kon­ zept der Resilienz nimmt diese allgemein positive Sicht auf den Umgang mit Ungewiss­ heit (und anderen Zumutungen) eine sehr spezifische Kontur an: Die regelmäßige Be­ gegnung mit dem Ungewissen ist gesund. Der Begriff Resilienz stammt ursprünglich aus der Werkstofflehre, wo er den Grad beschreibt, in dem ein Material nach einer Einwirkung wieder in seine ursprüngliche Form zurückkehrt. In die Psychologie geriet der Begriff in den späten 1970er-Jahren: Resilient ist hier derjenige, dessen irgendwie gearteten Eigenschaften es ihm ermögli­ chen, trotz widriger Lebensumstände die eigene Form wiederherzustellen. Resilienz be­ deutet also für therapeutische Zusammenhänge so etwas wie Widerstandskraft in Kri­ sen. In den 1980er-Jahren wurde der Begriff zunächst für die seltenen Fälle von Kindern verwendet, die sich trotz widrigster Bedingungen unauffällig entwickelten, darauf auch für Jugendliche unter Risikobedingungen. Mit der Ausweitung auf alle Menschen wurde das Vorhandensein belastender Umstände schließlich zu etwas allgemein Üblichem normalisiert, und auch die vor den negativen Folgen solcher Umstände schützende Wi­ derstandsfähigkeit sollte nun eine normale und für jedermann erwünschte Eigenschaft sein (Greve et al. 2011).  

77 4.3 · Sinn haben für das Ungewisse: Verlangt zunehmende …

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Doch inzwischen ist der Anspruch an Resilienz deutlich gestiegen – von der Fertig­ keit, auch bei widrigen Umständen relativ unbeschadet davonzukommen, zu der Super­ kompetenz, unter widrigen Umständen sogar noch zu „wachsen“. Ein resilientes Selbst ist dabei ein Mensch, der mit dieser Eigenschaft oder Fertigkeit besonders reich geseg­ net ist. Der Begriff bezeichnet Personen, die sich gezielt und absichtlich Stressoren aus­ setzen, um die eigene Widerstandsfähigkeit zu fördern. Als einer dieser förderlichen widrigen Umstände ist nun eine gewisse Dosis Ungewissheit im Gespräch, denn einige Dinge profitieren von Erschütterungen: Wenn sie instabilen, vom Zufall geprägten, ungeordneten Bedingungen ausgesetzt sind, wachsen und gedeihen sie. Aus der Perspektive der Resilienz erscheint nun also das bisherige Verlangen nach Sicherheit und Gewissheit als eine quasi pathologische Haltung von Men­ schen, die sich nicht an die gefährliche Realität anpassen können – wirklich menschlich wird man danach nicht, indem man Gefahren vermeidet, sondern indem man sich ih­ nen bewusst aussetzt. Andauernde Sicherheit gilt dagegen nun als unrealistischer My­ thos, eine Art der Wirklichkeitsverleugnung. Ratgeber zur Resilienz sehen in Menschen mit einem solchen Sicherheitsbedürfnis letztlich Personen, die auf lamentierende Weise eine Opferrolle einnehmen und nichts über die Bewältigung von Risiken lernen wollen: „Wenn man einen Monat im Bett verbringt (vorzugsweise mit einer ungekürzten Aus­ gabe von Krieg und Frieden und dem Zugriff auf sämtliche sechsundachtzig Folgen der Sopranos), führt das zu Muskelschwund. Ähnliches geschieht mit komplexen Systemen [wie dem Menschen] – sie werden geschwächt, ja vernichtet, wenn sie keinen Stressoren mehr ausgesetzt sind“ (Taleb 2013, S. 30). Mit dem Begriff der Resilienz kommt es also in der Gegenwart zu „einem Paradig­ menwechsel im Umgang mit Unsicherheit, der als Übergang von einer […] Beseitigung von Unsicherheit hin zu einer Akzeptanz von Unsicherheitspotenzialen […] charakte­ risiert werden kann“ (Bröckling 2017b, S. 137). Ganz sicher ist man doch nie – eine ra­ dikale Empfindlichkeit wird nun zum Teil des Menschen und mit ihr Resilienz als sein dauerndes Trainingsziel. Das resiliente Selbst hat diese Sicht der Dinge inkorporiert. Es löst das Paradox der Ungewissheit – nämlich nur über ein begrenztes Wissen zu verfü­ gen und nicht auf tragfähige Prognosen oder auch nur Wahrscheinlichkeitskalküle zu­ rückgreifen zu können, gleichzeitig aber an Strategien der Selbststeuerung festhalten zu wollen –, indem es diesen Zustand nicht nur für natürlich erklärt, sondern in ihm auch eine günstige Wachstumsbedingung für sich selbst sieht. Kurzum: Es ist gut und ge­ sund, sich Ungewissheiten auszusetzen! Nun ist gerade das Konzept der Resilienz wegen dieses offensichtlichen Umschmel­ zens des Schlechten zum Guten in den letzten Jahren zu einem beliebten Sandsack des kritischen Denkens geworden. Schließlich bleibt Resilienz trotz aller Begeisterung und der Nähe zur Positiven Psychologie doch eher ein pessimistisches Konzept: Es geht nicht mehr um eine optimistische Minimierung von gesellschaftlichen Risiken, die für alle Bürger möglich ist, sondern bloß noch um die Optimierung der Fähigkeit, deren erwar­ tete Folgen besser auszuhalten – statt einer gemeinsamen Anstrengung, die Belastungen abzubauen, wird eigentlich nur mehr die Belastbarkeit verbessert. In der Resilienz hat man sich von der Hoffnung verabschiedet, künftige Schädigungen abwenden zu kön­ nen. Sie verschreibt lediglich ein „Survival-Training für alle“ (Bröckling 2017b, S. 123). Politisch wird in der Resilienz ein Aspekt des neoliberalen Wandels gesehen: Der neoliberale Staat setzt nicht mehr auf die Möglichkeit von allgemeiner Sicherheit, son­

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

dern zaubert die im Resilienzbegriff präsente neue Überzeugung von der Positivität von Gefahr aus dem Hut. Er akzeptiert darin nicht nur die Vorstellung von beständig mög­ licher Gefahr, sondern empfiehlt den Zeitgenossen auch, gefährlich zu leben – es fördert schließlich die Resilienz: Was uns nicht umbringt, macht uns härter (Evans und Reid 2014). Der moderne Sozialstaat mit seiner Utopie von Sicherheit und Gewissheit gilt nun als naiv: „Das ist die Tragödie der Moderne: Ähnlich wie neurotisch überfürsorg­ liche Eltern schaden uns häufig die Personen am meisten, die uns beschützen wollen“ (Taleb 2013, S. 30). Um stattdessen wirklich Resilienz auszubilden, müsse das Indivi­ duum mit der Überzeugung leben, das Leben sei ein Prozess permanenter Anpassung gegenüber Bedrohungen, die letztlich nicht völlig unter Kontrolle zu bekommen seien. In der neuen Welt voller potenzieller Risiken muss jeder vernünftige Mensch bereit und fähig sein, solche Risiken und Ungewissheiten zu tolerieren. 4.3.2  Das unternehmerische und das kreative

Selbst – Kalkül und Ideenfeuerwerk

Der Manager und der Künstler sind wohl die beiden populärsten und einflussreichsten Subjektideale der Gegenwart. Längst haben sie den Wissenschaftler und den Ingenieur als medientaugliche Leitfiguren abgelöst (7 Abschn. 1.3), und ihre zentralen Züge sind Vorbild für alle Gesellschaftsmitglieder geworden: Alle sollen heute möglichst kreativ sein und unternehmerisch denken. Vom idealen Gegenwartsmenschen wird inzwi­ schen beides erwartet, kreativer Einfallsreichtum und nüchternes Kalkül. Er soll kreati­ ver Nonkonformist und pedantische Krämerseele zugleich sein. Diese scheinbar wider­ sprüchlichen Eigenschaften, Kalkül und Kreativität, gehen im erwünschten Subjekt inzwischen sogar sehr gut zusammen: „Der Unternehmer ist kreativ, und der Kreative ist Unternehmer“ (Reckwitz 2006, S. 516 f.). Wie das resiliente Selbst zeigen beide Ideal­ subjekte eine große Affinität zum Ungewissen und legen eine große Ungewissheitstoleranz an den Tag.  

4.3.2.1  Das unternehmerische Selbst – Vorteil

aus dem Ungewissen ziehen

„Wir alle, sofern wir es nicht schon vorher waren, sind jetzt Manager“ (Bartmann 2012, S. 19): Werden immer mehr Lebensbereiche marktförmig organisiert, dann haben die Marktberufe Konjunktur  – alle Menschen sollen sich inzwischen nach dem Vorbild unternehmerisch handelnder Subjekte organisieren. Begriffsgeschichte kann dabei so ironisch sein: Im englischen Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff „undertaker“, der, wortwörtlich übersetzt als „Unternehmer“, bald darauf ins Deutsche einwanderte, nicht nur jeden selbstständigen Gewerbetreibenden, sondern vor allem den Unternehmer in einem ganz speziellen Gewerbe – den Beerdigungsun­ ternehmer (Bröckling 2004). Besonders der in Ratgebern betriebene Managementdiskurs formulierte nun das Profil eines guten Managers oder Unternehmers aus und universalisierte es langsam zur aktuell wünschenswerten Form des Subjekts. Mit dem konservativen Wandel in den frü­ hen 1980er-Jahren setzte sich der Unternehmer als gesellschaftliches Ideal vermehrt fest. Vorläufer waren aber ebenso die Gegenkulturen der 68er-Bewegung, die sich auch als

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79 4.3 · Sinn haben für das Ungewisse: Verlangt zunehmende …

„Labore unternehmerischer Verhaltensorientierung“ (Bröckling 2007, S. 58) verstehen lassen: In alternativen Buchläden, Wohn- oder Sozialprojekten und Landkommunen wurden erste Projektarbeiten etabliert, und so, nur weniger utopisch, entwickelten sich nun die neuen Selbstständigen. Inzwischen versteht es sich in allen Lebensbereichen von selbst, dass man mittels eigener Ressourcen oder Kompetenzen bestimmte Zwecke wie Einkommen, Status oder Liebe erreichen will. Der Wandel ist fast abgeschlossen: Der Einzelne beschreibt sich heute wie selbstverständlich als Unternehmer seiner selbst. Zuletzt nahm das Bild des Managers neuen Stils Gestalt an: der selbst ernannte Non­ konformist und Business-Freak. Ein großer Schub von Hedonismus und individualisti­ scher Lockerung setzte um diesen Business-Punk herum ein, und selbst der Festange­ stellte verstand sich nun als Unternehmer mit kreativer Seite, als Kreativer, der „seine ganze Verrücktheit für den Geschäftserfolg einsetzt“ (Bartmann 2012, S. 130): Er geht ans Limit, testet Grenzen aus, besteigt Berge, lebt vegan oder macht Triathlon. Belächel­ tes Feindbild ist nun der Vorgänger dieses coolen Unternehmers, der Beamte oder An­ gestellte, und es ist ein regelrechter Kampf gegen die Bürokratie von gestern ausgebro­ chen – mit Erfolg: Der Beamte ist heute kaum noch anders denkbar denn als Hülle einer staubigen, langweiligen Buchhaltervernunft. Die enge Beziehung dieses unternehmerischen Selbsts zur Ungewissheit sticht sofort ins Auge: Unternehmer sind dadurch gekennzeichnet, dass sie findige Nutzer von Ge­ winnchancen sind, dafür die Unsicherheiten des ökonomischen Prozesses suchen und für ihren Vorteil nutzen. Alles Unternehmerische hat schließlich eine spekulative Seite – Unternehmer kaufen billig und hoffen, teuer verkaufen zu können. Wenn jeder heute sein Leben wie ein Unternehmen führen soll, so hat er Risiken aktiv einzugehen und zwischen unterschiedlichen Risiken abzuwägen. Aber Unternehmer kalkulieren nicht nur Risiken, sie zeichnen sich auch dadurch aus, „dass sie unter Bedingungen reiner, das heißt nicht in kalkulierbare Risiken zu überführender Ungewissheit agieren“ (Bröckling 2004, S. 274): Jede Investition ist eine Wette auf die Zukunft – und zum wirklichen Unternehmer wird nur, wer den Rahmen bloßer Kosten-Nutzen-Kalküle überschreitet und immer wieder den Schritt hinaus ins Ungewisse wagt, so das Rollenbild. Ein Hauch von Ungerechtigkeit liegt in dieser Gestalt eines Gewinn-Abenteurers: Aus der Bereitschaft, ein solches Wagnis einzugehen, resultiert der Unternehmergewinn schließlich nur, weil viele andere den Ausgang ungewisser Ereignisse falsch einschätzen. Der risikofreudige Unternehmer zeigt nicht nur eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz, er braucht vielleicht sogar eine ähnlich hohe Ungewissheitsorientierung (7 Abschn. 3.3.1), denn schließlich schlägt er Kapital aus der Risikoaversion der anderen.  

4.3.2.2  Das kreative Selbst – Ungewissheit als Quelle für das Neue

Parallel zum unternehmerischen Selbst bildete sich etwa seit den 1970er-Jahren ein an­ deres Subjektideal heraus: das kreative Selbst. Die Zeitgenossen sind also jetzt nicht nur alle Manager – sondern auch Künstler. Oder sollten es zumindest besser sein. Vor allem beruflich rückt nun die „Kreativarbeit“ (Reckwitz 2017, S. 187) statt der Routinearbeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Man arbeitet in sogenannten Kreativteams, und Innovation ist das Ziel: neue mediale Formate, überraschende Dienstleistungen, innovative Coachings, ungewöhnliche Ausstellungen, bisher nie gesehene Schreibtisch­ lampen. Die Beschäftigten wollen kreative Individuen sein, die ihr Potenzial ausschöp­

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fen – und genau das wird auch von ihnen erwartet. Aber Kreativität erschöpft sich nicht allein in der Arbeit, sondern durchdringt wie das Unternehmerische alle Lebensberei­ che: Kreative Personen sind in der Lage, viele Alltagsereignisse in besondere Momente zu transformieren. Liebes- und Naturerfahrungen, künstlerische Wahrnehmungen und sexuelles Erleben, aber auch Erfahrungen der Elternschaft und bestimmte Formen kör­ perlich-sportlicher Erlebnisse sind dafür besonders geeignet. Als Begriff ist Kreativität noch relativ jung, ein US-Import aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Anders als der ähnliche Begriff der Genialität beinhaltet er eine de­ mokratische Vorstellung: Es gibt nur wenige Genies, aber jeder kann kreativ sein. Vor allem in den Gegenkulturen und der humanistischen Psychologie wurde dabei die be­ sondere Bedeutung des Künstlerischen ebenso wie der Wert der Selbstentfaltung zum Maßstab des Arbeitens und Lebens. Über die Wege der Alternativmilieus, der Gender­ bewegung und der Jugendszenen entwickelte sich daraus ab den 1980er-Jahren langsam das Vorbild des „Kreativsubjekts“ (Reckwitz 2006, S.  445) für alle. Träger sind heute besonders die Kulturberufe in den großstädtischen Dienstleistungszentren: Beratung und Informationstechnologie, Design und Werbung, Tourismus, Finanzen und die Un­ terhaltungsindustrie. Kreativität bezeichnet im Kern die Fähigkeit, Neues hervorzubringen. In einer um­ fassenden Kreativitätsgesellschaft ist das Neue dabei nicht mehr eingebettet in eine Fortschrittslogik des immer Besseren – es ist eher willkommene Abweichung vom Üb­ lichen. Es zeigt eine Nähe zum Interessanten, Überraschenden, Originellen. Aber auch hier ist das Kreative eine Koalition mit dem Unternehmerischen eingegangen. Die künstlerische Existenz findet in keinem Elfenbeinturm statt, sondern fügt sich in ein marktgängiges Profil: „Das Kreativsubjekt muss auch ein unternehmerisches Selbst sein, muss ständig die kulturellen Märkte beobachten […], sich auf ihnen positionieren; es muss dort klug mit Risiken und Chancen umgehen und entsprechend maßvoll spe­ kulieren“ (Reckwitz 2017, S. 304). Das neue Kreativsubjekt entspricht also eher einem Kreativunternehmer als einem weltabgewandten Künstler: Es geht ihm ausschließlich um das Neue, das auch gute Chancen hat, akzeptiert zu werden. Und so grenzt sich der aktuelle Kreativunternehmer nach zwei Seiten ab: Er belächelt den alten Angestellten, der unkreativ und konformistisch erscheint, aber ebenso den erfolglosen Nonkonfor­ misten, der das Peinliche des Nutzlosen an sich trägt. Für das kreative Selbst und seinen Ideenreichtum stellt Ungewissheit eine Art Nähr­ boden dar, von dem sich der Kreative nicht zu weit entfernen darf: „Es wird deutlich, dass gerade in der Kunst und im Spiel in besonderer Weise Offenheit, Unbestimmtheit und damit verbunden Ungewissheit keine Bedrohung, sondern im Gegenteil ein subs­ tanzielles Element ist“ (Böhle 2013, S. 290). Die Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen, die eigentlich göttliche „creatio ex nihilo“, ist schon definitionsgemäß nicht mit Gewissheit herbeizuführen wie eine Fahrradreparatur: Man kann zwar ihre Bedingungen formulie­ ren, aber es bleibt immer noch ein unerklärlicher Sprung in den Einfall  – die Idee kommt eben, wenn es ihr, nicht, wenn es dem Kreativsubjekt beliebt. Ungewissheitstoleranz, ja besser noch Ungewissheitsbegeisterung ist also eine Art Basiskompetenz der Kreativität. Der kreative Akteur gewinnt hier, indem er die eigene Ungewissheit kulti­ viert: Es geht dem kreativen Selbst nicht darum, die eigene innere Ungewissheit zu be­ seitigen, um möglichst verlässlich zu werden, wie noch bei den Subjekten der Antike (7 Abschn. 2.4), sondern gerade um das Gegenteil – durch innere Überraschungen kein  

81 4.4 · Gesellschaftliche Ungewissheitsbegeisterung und …

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langweiliger und vorhersehbarer Typ zu sein. Man findet das Wissen darum immer wieder in den Werkstatttheorien solcher Kreativunternehmer: „Während ich diese Zei­ len schreibe, versuche ich so weit es geht die Tyrannei eines präzisen, ausgefeilten Plans zu vermeiden; ich schöpfe aus einer opaken Quelle in meinem Inneren, die immer neue Überraschungen hervorbringt. Schreiben lohnt sich nur, wenn es mich mit dem pri­ ckelnden Gefühl von Abenteuer erfüllt“ (Taleb 2013, S. 114). 4.4  Gesellschaftliche Ungewissheitsbegeisterung und

psychologische Ungewissheitstoleranz: Wie stehen sie zueinander?

Vielleicht ist das Panorama ein wenig zu infernalisch ausgefallen für den Zweck, die zentralen Tendenzen des gesellschaftlichen Wandels um die Ungewissheit besonders herauszustellen: Der Wegfall von Regulierungen, die Zunahme prekärer Lebenslagen, der Zuwachs an Optionen und Wissen haben in den letzten dreißig Jahren für eine Zu­ nahme von Ungewissheit und Unsicherheit gesorgt. Eine Gesellschaft, die sich immer mehr von dem Versprechen der Moderne, Sicherheit, Gewissheit und Berechenbarkeit zu schaffen, verabschiedet, scheint die aktuelle Lebenswirklichkeit zu sein. Gleichzeitig wird allen Zeitgenossen, obwohl Umfragen immer wieder ihr ausgepräg­ tes Sicherheits- und Gewissheitsbedürfnis bestätigen, durch prägnante Subjektideale ge­ sellschaftlich empfohlen, sich den neuen Ungewissheiten geradezu in die Arme zu werfen. >> Heute erscheint es ausgesprochen attraktiv, ein resilientes Selbst, ein unternehmerisches Selbst und ein kreatives Selbst zu sein – und alle drei Subjektideale propagieren einen sehr positiven Sinn für das Ungewisse.

Bei diesen Subjektidealen handelt es sich durchweg um gesellschaftliche ­Existenzfolien mit einem großen Ungewissheitsappetit. Ungewissheit wird in ihnen jedenfalls längst nicht mehr als eine Bedrohung aufgefasst: Das resiliente Selbst braucht die Auseinander­ setzung mit dem Überraschenden, Unberechenbaren für die Ausbildung der eigenen Fitness („Sich dem Ungewissen aussetzen hält fit und gesund!“), das unternehmerische Selbst sieht im Ungewissen Möglichkeiten, einen Gewinn zu machen, den zu machen sich andere nicht trauen („Sich dem Ungewissen aussetzen verspricht Gewinne!“), und das kreative Selbst sieht in der inneren Ungewissheit der eigenen Ideen eine Notwendig­ keit für jeden Schöpfungsprozess („Sich dem Ungewissen aussetzen ermöglicht erst Einfallsreichtum!“). Ungewissheit gehört also auf besonders relevante Weise zum Gesicht der aktuellen Gesellschaft und Ungewissheitstoleranz zu den Schlüsselkompetenzen dieser Zeit. Wie erscheint nun die psychologische Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) vor diesem Hintergrund? Geringe Ungewissheitstoleranz teilt zuerst einmal mit den meisten psy­ chologischen Begriffen eine notorische Gesellschaftsvergessenheit. Ungewissheit er­ scheint einfach als eine quasi natürliche, unhistorische Facette jeden Alltags: „In every­day life, we are required to make many choices, appraisals, and decisions, usually with an insufficient amount of information, a limited timeframe, conflicting emotions, and some degree of uncertainty with regard to the outcome“ (Koerner und Dugas 2006, S. 212).

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

Verglichen mit der empfohlenen gesellschaftlichen Ungewissheitsbegeisterung fällt die klinische Vorstellung von einer ausgeprägten Ungewissheitstoleranz allerdings an­ genehm nüchtern aus. Zwar finden sich auch in der psychotherapeutischen Literatur immer wieder zur Ungewissheitsbegeisterung neigende Formulierungen wie „embrace the uncertainties of life“ (Koerner und Dugas 2006, S. 202), aber insgesamt begnügt sich das Konzept eben doch mit einer ausgeprägten Toleranz gegenüber Ungewissheit, die einem genügsamen Dulden entspricht: Es ist schon hart mit den vielen Ungewissheiten des Lebens, aber nicht das Ende der Welt. Das psychologische Konzept der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) ist letztlich unipolar: Es versteht eine angemessene Unge­ wissheitstoleranz allein als Abwesenheit von Intoleranz ihr gegenüber – nicht als Un­ gewissheitsbegeisterung. Es reicht hier schon aus, zu begreifen, dass Ungewissheit nicht zwangsläufig gefährlich oder belastend ist, nicht ständig nach mehr Gewissheit zu ver­ langen, einzusehen, dass man auch in den meisten ungewissen Lagen gewöhnlich hand­ lungsfähig bleibt, dass Ungewissheit nichts Unfaires ist, sondern etwas Übliches, und dass sie wenig über die von ihr betroffenen Menschen aussagt. 4.5  Die möglichen Folgen eines ungewissen Lebens

Wie gezeigt, empfehlen populäre Vorbilder dringend, mehr Zeit mit dem Ungewissen zu verbringen: Das resiliente Selbst sucht das Ungewisse wie ein Fitnessstudio täglich auf, um etwas für seine Gesundheit zu tun, und das unternehmerische Selbst bewegt sich rou­ tiniert in den Sphären wirtschaftlicher Risiken. Schließlich bildet die Ungewissheit für das kreative Selbst eine Art Schatzkammer der eigenen Kreativität, die man nicht oft ge­ nug aufsuchen kann. Nur geschieht dies nicht in einer Welt, die bis zur Langeweile regu­ liert wäre. Im Gegenteil: Die Welt wird aktuell geflutet mit Ungewissheit – traditionelle wie moderne Sicherheiten werden ebenso abgebaut wie finanzielle ­Sicherungssysteme, während gleichzeitig die Menge an Optionen und Wissen explosionsartig zunimmt. Aber sind die beschriebenen Vorbilder in einer ungewissheitsgesättigten Welt über­ haupt eine gute Vorbereitung auf ein Leben unter diesen Umständen, eine gute Öffnung? Oder ist es nicht eher eine schlechte Öffnung, in einer bereits unsicher und ungewiss gewordenen Umwelt Ungewissheiten in der eigenen Lebenspraxis auch noch zu umar­ men? Was passiert, wenn in der Lebensführung das Offene und Ungewisse das Feste und Gewisse an den Bildrand drängt? Und die Menschen das tun, was diese Konzepte suggerieren  – die Ungewissheiten des Lebens umarmen? Man muss möglicherweise nicht besonders intolerant gegenüber Ungewissheit sein, um die Erfahrung zu machen, dass sich die positiven Versprechungen dieser Selbstbilder (Gesundheit, Profit, Einfalls­ reichtum) nicht erfüllen, sondern sich stattdessen eine ganze Reihe negativer Folgen einstellen. 4.5.1  Ungewissheit und Gesundheit – die normalisierte Angst

Trägt die regelmäßige Auseinandersetzung mit dem Ungewissen wirklich zu Resilienz und damit zu Gesundheit bei? Die Grundlagenforschung schätzt jedenfalls die Wirkung des Ungewissen auf den Menschen eher negativ ein (7 Abschn. 2.2). Will man sich auf  

83 4.5 · Die möglichen Folgen eines ungewissen Lebens

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nur einen knappen Konsens in der Forschung bezüglich Ungewissheit festlegen, dann kann es nur der sein, dass Menschen eine allgemeine Abneigung gegen Ungewissheit, eine ziemlich umfassende Risikoaversion besitzen. Ungewissheit scheint danach etwas tendenziell Unangenehmes zu sein, auch ohne eine besondere Intoleranz ihr gegenüber: „As mentioned earlier, a dislike for uncertainty and ambiguity is actually normative and universal and most individuals prefer a certain outcome to one that is uncertain“ (Koer­ ner und Dugas 2008, S. 632). Menschen können also nur eine gewisse Dosis an Ungewissheit aushalten, ohne Schaden zu nehmen. Selbst eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz hat recht enge Gren­ zen: Was wird die Zukunft bringen? Was ist damals wirklich passiert? Wie genau ist diese unklare Situation eigentlich zu verstehen? Alle Unklarheiten, Vagheiten oder Zweideu­ tigkeiten setzen Menschen zu – und sie wünschen sich gewöhnlich lieber Gewissheit. Zudem gibt es im Alltag nur selten diese saubere, abstrakte Ungewissheit, die in der Psychotherapie untersucht wird: Es sind unsichere, heikle und prekäre Lebenssituatio­ nen, die besonders mit Ungewissheit aufgeladen sind. Ungewissheit bedeutet gewöhn­ lich, dass etwas Unangenehmes eintreten kann, d. h, sie vermischt sich mit Gefahr (Lan­ termann et al. 2009). Bei näherem Hinschauen fällt zudem sehr schnell auf, dass es auch dem resilienten Selbst im Alltag oft nicht gut geht. Sein allgemeiner Gefühlszustand ist eine Art „nor­ malized anxiety“ (Evans und Reid 2014, S. 92), eine Alarmbereitschaft, die gerade durch das Denken in Wahrscheinlichkeiten und Ungewissheiten ausgelöst wird: Gerade die ungewissen, bestenfalls mit einer Wahrscheinlichkeit versehenen Aussagen über die Zukunft verwandeln gelegentliche Unsicherheit in eine Art milde Daueranspannung. Eine solche Alarmbereitschaft ist längst kein seltenes klinisches Phänomen mehr, son­ dern eine Alltagserscheinung, die Menschen mit resilientem Selbst nicht einmal mehr daran hindert, den alltäglichen Aufgaben nachzukommen. Kontinuierliche Wachsam­ keit prägt untergründig die Mentalität des resilienten Selbsts. Sich in ein resilientes Selbst zu verwandeln hat also seinen Preis. 4.5.2  Ungewissheit und Handlungsfähigkeit – Lähmung

und Zaudern

Ungewissheiten scheinen bei den beschriebenen Subjektidealen das Handeln nicht zu beeinflussen  – in ungewissen Lagen zu handeln ermöglicht sogar erst Gewinne und kreative Ideen. Und auch das psychologische Konzept der Intoleranz gegenüber Ungewissheit legt nahe, dass die Handlungslähmung eher etwas ist, das nur bei Personen auftritt, die eine besonders geringe Ungewissheitstoleranz aufweisen – nur sie nehmen an: „When it’s time to act, uncertainty paralyses me“ (Einstein 2014, S. 285). Schwierig­ keiten mit dem Handeln scheinen also kein inhärenter Aspekt des Ungewissen selbst zu sein, im Gegenteil: Nach der klassischen soziologischen Definition des Handelns von Karl Mannheim setzt es sogar eine gewisse Offenheit voraus. Handeln beginnt erst dort, wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfängt, wo noch nicht regulierte Situatio­ nen zur Entscheidung zwingen. Ein Fabrikarbeiter, der Schrauben formt, ein Psycho­ loge, der jemandem vorformulierte Interviewfragen stellt  – sie handeln noch nicht wirklich, sondern sie arbeiten bloß etwas ab (Engler 2017).

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Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

Ganz so eng sind aber das Ungewisse und das Handeln dann wohl doch nicht be­ freundet: Wissen, was man will, schnell entscheiden und energisch handeln – die Zu­ mutungen eines solchen Handlungsmodells, gerade in undurchschaubaren und unge­ wissen Verhältnissen, stechen ins Auge. Da die Zahl der Optionen immer rascher anwächst und Entscheidungen in immer kürzerer Zeit verlangt werden, entstehen ne­ ben den energischen Aktivisten schnell auch die Überforderten, die einfach keine Ent­ scheidung mehr treffen können, weil ihnen alle Optionen gleichwertig erscheinen. Schon in der frühen Moderne haben Zeitgenossen die Verbindung zwischen einer zunehmenden Ungewissheit und der Schwierigkeit zu handeln beobachtet. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg bildete sich unter dem Einfluss der aufkommenden Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, so der Schriftsteller und Psychologe Robert Musil, der Eindruck vom zunehmend losen Zusammenhang der Ereignisse gut ab: Vorfall und Ursache, Ereignis und Kausalität wirken für den Einzelnen entkoppelt. Parallel formten sich unter diesen Umständen zwei Handlungstypen aus – neben den modernen, ent­ hemmt handelnden tritt ein zaudernder Menschentyp: Eine tiefe Unentschlossenheit sei häufig zu beobachten, die sich im alltäglichen Innehalten zeige. Hier verhake sich, so Musil, die moderne „Unschlüssigkeit der Welt“ mit der „Unentschlossenheit der Einzel­ person“ (Vogl 2007, S. 85). Es gibt keinen schlüssigen Grund, bei dem aktuellen Unge­ wissheitsschub nicht auch mit diesem zweiten Handlungstyp, dem Zauderer, zu rech­ nen. Ungewissheiten haben also vielleicht doch eine lähmende Aura. 4.5.3  Ungewissheit und das sinnvolle

Leben – „Driften“ statt Identität

Anders als beim Streben nach Selbstoptimierung, das in engem Zusammenhang mit dem therapeutischen Konzept des Perfektionismus steht (Spitzer 2016), ist die wohl größte Gefahr für das Individuum bei einer zu großen Annäherung an das Ungewisse nicht Überlastung oder Burnout – es ist das Erleben einer „Drift“. Ungewisse Umstände, wie sie der Einzelne immer öfter bewältigen muss, bergen die Gefahr eines Orientie­ rungsverlustes im Leben. In einer Multioptionsgesellschaft müssen Menschen ständig wählen – aber was soll hierfür noch der Kompass sein, wenn alles ungewiss ist? Etwas Gewisses scheint nötig, um sich im Ungewissen zu bewegen: „Die Wahl, die wir sind, wird getragen durch […] die Nicht-Wahl, die wir sind“ (Marquard 1986, S. 125). Wenn Individuen also einer schwindenden Gewissheit und Sicherheit mit einer un­ gewissheitsfreundlichen Subjektform begegnen, dann kann es zu einer Erfahrung des Driftens kommen. Diese Drift zeigt sich in dem Unvermögen, unter ungewissen Bedin­ gungen noch eine kohärente Identität zu entwickeln. Der rote Faden des Lebens droht verloren zu gehen, und es „lauern in den großen Zwischenräumen scheinbar unendli­ cher Möglichkeiten und Horizonte besondere Gefährdungen wie Entfremdung, Drift und Vereinsamung“ (Koppetsch 2013, S. 79). Viele Menschen reagieren auf eine solche Entwurzelungserfahrung mit Nostalgiereflexen oder einer Hinwendung zu Tradition und Fundamentalismus. Oft genug schlägt die Furcht vor dem Driften also um in Re­ aktionäres. Der Begriff der Drift entstammt einer Zeitdiagnose des amerikanischen Soziologen Richard Sennett: Da im aktuellen flexiblen Kapitalismus keine Langfristigkeit mehr ent­

85 Literatur

4

steht, kann der Einzelne seine Erfahrungen nicht mehr als konsequente Geschichte ei­ nes individuellen Charakters lesen und keine dauerhafte Perspektive ausbilden, wie sein eigenes Leben eigentlich weitergehen soll. Ungewisse und unsichere Lebenslagen ver­ langen Flexibilität: Auf Lebensinhalte, die einer ungewissen, sich schnell wandelnden Welt zu starr entgegentreten könnten, sollte in diesen Lebenslagen daher besser ver­ zichtet werden – verpflichtende Lebensziele, Identitäten oder die Orientierung an ei­ nem bestimmten Lebenssinn. Es gilt schließlich: Sinn verpflichtet, sonst ist es irgendwie keiner mehr. Aber wie alle Verpflichtungen steht eine solche Festigkeit einer flüchtigen Moderne möglicherweise im Weg. In einer Welt von nur schwer einsehbaren Dynami­ ken lebt es sich womöglich mit nur kurzfristigen Orientierungen besser. Auch das resiliente Selbst ist auf eine solche Kurzfristigkeit geeicht. Es kommt nicht umhin, sein Leben als Abfolge von nicht aufeinander aufbauenden bedrohlichen Ereig­ nissen und Bewältigungsversuchen zu begreifen, und muss folglich darauf verzichten, die eigene Biografie als sinnvolles zeitliches Ganzes zu deuten. Stattdessen navigiert es durch die unübersehbaren Gefährdungslandschaften der Gegenwart (Bröckling 2017b). Denn im Zentrum der Resilienz geht es um das Überleben unter widrigen Bedingun­ gen, um „simple survival“ (Evans und Reid 2014, S. 110), nicht mehr um die Qualität des Lebens. Dies mögen gute Bedingungen für das Überleben unter Ungewissheit sein – aber es sind auch gute Bedingungen für die Erfahrung einer Drift.

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4

Kapitel 4 · Ein zeittypischer Sinn für das Ungewisse – Ungewissheitstoleranz und Gesellschaft

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Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen und andere belastende Auswirkungen 5.1

 irekte Folgen geringer D Ungewissheitstoleranz – Sichsorgen, Angst und Vergewisserungsverhalten – 90

5.1.1

S orgen, Sorgen, Sorgen … und noch mehr Sorgen – 91 Ungewissheitsgefühle – 94 Vergewisserungsverhalten bei geringer Ungewissheitstoleranz – 95

5.1.2 5.1.3

5.2

 tress – Bindeglied zwischen geringer S Ungewissheitstoleranz und psychischen Störungen – 99

5.3

 eringe Ungewissheitstoleranz als G transdiagnostischer Faktor psychischer Störungen – 100

5.3.1

 eneralisierte Angststörung und geringe G Ungewissheitstoleranz – 102 Zwangsstörung und geringe Ungewissheitstoleranz – 104

5.3.2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_5

5

5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7 5.3.8 5.3.9

 eneralisierte Angststörung und Zwangsstörung – G Verwandtschaft angesichts des Ungewissen – 106 Geringe Ungewissheitstoleranz und Soziale Phobie – 107 Weitere Angststörungen und geringe Ungewissheitstoleranz – 108 Autismus-Spektrum-Störungen und geringe Ungewissheitstoleranz – 110 Depression und geringe Ungewissheitstoleranz – 111 Essstörungen, vermehrter Alkoholkonsum und geringe Ungewissheitstoleranz – 112 Chronische körperliche Erkrankungen und geringe Ungewissheitstoleranz – 113

Literatur – 115

89 Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen …

5

Intoleranz gegenüber Ungewissheit ist zwar selbst keine psychische Störung, kann die körperliche und psychische Gesundheit aber schmerzlich beeinträchtigen. Manchem Forscher gilt sie bereits als ein Vulnerabilitätsrisiko für vielfältigste psychische Erkrankungen, als ein sogenannter transdiagnostischer Faktor. Besonders die Verbindungen zur Generalisierten Angststörung und zur Zwangsstörung sind inzwischen ausführlich untersucht und belegt, aber auch zu Sozialer Phobie und anderen Angststörungen, den Autismus-Spektrum-Störungen und der Depression haben sich interessante Verbindungen ergeben. Diese und andere gesundheitliche Auswirkungen geringer Ungewissheitstoleranz werden in diesem Kapitel vorgestellt – ebenso wird der Frage nachgegangen, welche unterschiedlichen kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz Psychotherapeuten bei welcher Diagnose zu erwarten haben. Dazu wird für die wichtigsten Diagnosen, soweit möglich, ihr typisches Ungewissheitsprofil vorgestellt.

Ungewissheit lässt die wenigsten Menschen kalt. Es ist zwar nicht ausgemacht, dass Menschen Ungewissheit grundsätzlich negativ aufnehmen. Jedoch: Einem gleich­ mütigen Umgang mit dem Ungewissen sind doch recht enge Grenzen gesetzt (7 Abschn. 2.2). Gerade ungewisse Situationen in Zusammenhang mit einer mögli­ chen Bedrohung empfinden Menschen sehr schnell als beängstigend, aber selbst wenn es um ungewisse positive Ereignisse geht, tendieren sie oft eher zur Gewissheit. Schon bei der alltäglichen Ungewissheitsregulation liegt also ihr Sollwert erträglicher Ungewissheit insgesamt eher niedrig. Wird dieser persönliche Sollwert unter- oder überschritten, dann reagieren sie emotional (mit Angst oder Langeweile) und unter­ nehmen etwas, um ihr ideales Maß an Ungewissheit wiederherzustellen: Sie vermei­ den zu ungewisse Situationen oder versuchen sie zu kontrollieren. Ein Zuviel an Un­ gewissheit löst besonders dann intensive Reaktionen aus, wenn persönlich bedeutsame Lebensbereiche tangiert werden – die berufliche Sicherheit, die körperliche Gesund­ heit, die Liebesbeziehung. Und die Häufigkeit, mit der sich Menschen mit dem Un­ gewissen auseinandersetzen müssen, ist keineswegs unter allen Lebenssituationen gleich verteilt (7 Abschn. 4.2.2). Trifft nun dies insgesamt schon fragile Verhältnis des Menschen zum Ungewissen noch auf eine individuelle Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU), dann wirkt sich häu­ fige Ungewissheit besonders gravierend aus. Manche Individuen werden mit Ungewiss­ heit recht gut fertig, sie suchen sogar nach ihr und dem mit ihr verbundenen Nerven­ kitzel. Bei einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) fühlen sich die Betroffenen von ungewissen Ausgängen dagegen schnell bedroht und erleben Unge­ wissheit als nur schwer zu ertragen. Auch empirische Studien weisen darauf hin, dass eine geringe Ungewissheitstoleranz einen wichtigen Vulnerabilitätsfaktor für psy­chische Probleme darstellt: „IU has been observed to be higher in clinical groups than in non­ clinical control groups“ (Einstein 2014, S. 283). Dabei ist besonders die Verbindung zu Angststörungen inzwischen gut belegt: „re­ cent research has clearly demonstrated that IU is a broad transdiagnostic dispositional risk factor for the development and maintenance of clinically significant anxiety“ (Car­ leton 2012, S. 937). Historisch hat die Intoleranz gegenüber Ungewissheit ihre Karriere ja in den 1990er-Jahren als ein Faktor bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Ge­ neralisierten Angststörung begonnen. Inzwischen hat sich aber eine Verbindung von  



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5

Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

geringer Ungewissheitstoleranz zu nahezu allen Angststörungen finden lassen  – sie findet sich z. B. ebenso bei der Sozialen Phobie oder der Panikstörung und darüber hi­ naus auch außerhalb der Angststörungen bei Depressionen oder beim Autismus. Dabei scheint die Intoleranz gegenüber Ungewissheit diese Störungen nicht nur zu begleiten, sondern auch eine kausale und aufrechterhaltende Rolle für sie zu spielen (Einstein 2014; Boswell et al. 2013; Gentes und Ruscio 2011): „Fearing the unknown“ (Carleton et al. 2016, S. 59) scheint ein Vulnerabilitätsfaktor für vielfältige psychische Probleme zu sein. Geringe Ungewissheitstoleranz ist also als relevanter transdiagnostischer Faktor bei der Entstehung und Aufrechterhaltung vielfältiger psychischer Störungen zu verstehen. Unter dem Stichwort Transdiagnostik firmieren vor allem in den letzten zwanzig Jahren Bemühungen in der klinischen Psychologie, solche Denkstile und Verhaltensweisen he­ rauszufiltern, die über viele psychische Störungen hinweg einen aufrechterhaltenden Einfluss haben (Mansell et al. 2013). Es handelt sich dabei unter anderem um eine Ge­ genbewegung zu den Auswüchsen störungsspezifischer Programme, deren unmäßiger Vielzahl kein Praktiker mehr allein Herr werden kann und mag. Im Folgenden werden die wichtigsten empirisch belegten gesundheitlichen Folgen geringer Ungewissheitstoleranz nachgezeichnet, besonders das Geflecht der Beziehung zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und psychischen Störungen: Was sind die di­ rekten negativen Folgen einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit? Zu welchen psy­ chischen Diagnosen unterhält sie eine besonders enge Beziehung? Dabei scheinen je­ weils unterschiedliche Aspekte geringer Ungewissheitstoleranz relevant zu sein: Bei welcher Diagnose tritt also welcher Aspekt ihrer kognitiven Architektur (7 Abschn. 2.3.1) besonders häufig auf?  

5.1  Direkte Folgen geringer Ungewissheitstoleranz –

Sichsorgen, Angst und Vergewisserungsverhalten

Eine geringe Ungewissheitstoleranz trägt bereits dann zu gravierenden Belastungen bei, wenn keine psychische Störung vorliegt. Betroffene Personen strengen sich beispiels­ weise enorm an, um sich über einen Sachverhalt wieder Gewissheit zu verschaffen: Sie fragen etwa andere Menschen um Rat oder denken lange über alle möglichen Ausgänge einer Sache nach – aber ihre intensive Suche nach Gewissheit hat selten ein befriedigen­ des Ende. Ohne Stoppsignal besteht zudem die Gefahr, dass sich diese Informationssu­ che endlos fortsetzt. Intoleranz gegenüber Ungewissheit nimmt vielfältig Einfluss auf die direkten Reaktionen der von ihr betroffenen Personen: „Negative beliefs about the un­ certainty in situations in daily life can influence how you think (leading to worry) and feel (creating anxiety), as well as what you do (engaging in safety behaviors)“ (Robi­ chaud und Dugas 2015, S. 133). Ohne bereits mit einer Krankheit oder psychischen Störung in Zusammenhang zu stehen, hat eine geringe Ungewissheitstoleranz im Angesicht ungewisser Situationen oder ganzer unsicherer Lebenslagen also schon sehr konkrete belastende Folgen: Die Verunsicherten zweifeln, zaudern, haben Schwierigkeiten, sich für etwas zu entschei­ den, oder erleben eine lang anhaltende bohrende Angst.

91 5.1 · Direkte Folgen geringer Ungewissheitstoleranz …

5

5.1.1  Sorgen, Sorgen, Sorgen … und noch mehr Sorgen

Die auffälligste kognitive Folge einer geringen Ungewissheitstoleranz ist ein ausgeprägtes Sich-Sorgen-Machen. In den letzten Jahrzehnten kam es innerhalb der akademischen Psychotherapiefor­ schung zur Kognition zu einem allgemeinen Interessenwandel. Der Blick auf kognitive Phänomene hat sich verändert: weg von den Inhalten einzelner Grundüberzeugungen, hin zum Denken als einem längeren Prozess, der Charakteristika des Grübelns („rumi­ nation“), des ärgerlichen Grübelns („anger rumination“) oder des beständigen Sichsorgens („worrying“) haben kann (Wells 2011). Unter „Grübeln“ wird im Kern ein Brüten über die Ursachen eines Geschehens, z. B. für ein Versagen, verstanden. Es ist darauf gerichtet, warum Dinge passieren und was dies bedeutet, ist also vergangenheitsorien­ tiert. Das Sichsorgen ist dagegen vor allem auf die Zukunft gerichtet und dreht sich um zukünftige Bedrohungen und wie sie sich bewältigen oder vermeiden lassen. Im Sichsorgen machen Menschen sich also denkerisch Mühe, um sich auf ungewisse zukünftige Ereignisse vorzubereiten. Stellen Sie sich vor, Ihr Wagen ist in der Werkstatt, und Sie denken: „Was, wenn dabei größere Probleme auftauchen? Das könnte teuer werden … Vielleicht kann ich mir eine Reparatur nicht leisten. Aber möglicherweise könnte ich dann ja eine Ratenzahlung vereinbaren. Aber was, wenn die Werkstatt eine Ratenzahlung nicht akzeptiert? Dann habe ich plötzlich keinen Wagen mehr, vielleicht für länger. Und es wird wirklich schwierig, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Na ja, dann könnte ich vielleicht …“ Sichsorgen ist ein kognitiver Prozess, der die Vorwegnahme von zukünftigen Pro­ blemen ebenso umfasst wie die Antizipation möglicher Umgangsweisen damit. Sorgen bestehen also aus zwei Komponenten: an negative Konsequenzen denken und problem­ lösende Gedanken darüber generieren, wie damit fertigzuwerden wäre. Typischerweise beginnen Sorgen daher mit einer „Was-wäre-wenn“-Frage. „Worry can […] be thought of as mentally planning und preparing for the future, and building elaborate scenarios in an effort to predict what could happen and how you might deal with various situations“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 5 f.).

Das klingt erst einmal ganz funktional: Gefahren sollen durch Sorgen antizipiert wer­ den, und alle möglichen unangenehmen Ausgänge werden durchgespielt, allerdings ohne eine endgültige Auflösung. Die Betroffenen springen dabei außerdem schnell von einem Problem zum anderen: Keins davon wird wirklich zu Ende gedacht, aber gleich­ zeitig entsteht der Eindruck, dass es ungeheuer viele Probleme gibt. Sichsorgen ist eine mentale Problemlöseaktivität, die durchdreht. Die erste moderne Definition des Sichsorgens stammt aus den frühen 1980er-Jahren von einer Arbeitsgruppe um Thomas Borkovec, der darunter eine Kette von Gedanken und Vorstellungen verstand, relativ unkontrollierbar und von negativem Affekt beglei­ tet. Aber die Psychiatrie subsummierte ähnliche Phänomene bereits um 1900 unter den Begriff der Grübelsucht, wie im Fall einer Frau, die sich immer fragen muss: „Wird nicht

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5

Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

jemand aus einem Fenster herabstürzen und mir vor die Füße fallen? Wird die betref­ fende Person eine Frau oder ein Mann sein?“ (Vogl 2007, S. 75) Nun macht sich jeder hin und wieder Sorgen, das ist eine normale alltägliche ­Erfahrung. So fand eine Untersuchung bei einer nichtklinischen Gruppe, dass 38 Pro­ zent der Untersuchten sich zumindest einmal am Tag Sorgen machten (Tallis et  al. 1994). Leichtes oder moderates Sichsorgen mag sogar funktional sein, ausgeprägtes Sich-Sorgen-­Machen hat eher negative Konsequenzen. Aber selbst Letzteres ist nicht selten  – mit entsprechenden Folgen: „Research on adolescent worry has shown that 25 % of adolescents report excessive and uncontrollable worry […]. This frequency is troublesome given that worried adolescents frequently display inferior social and aca­ demic functioning and are at a high risk for dropping out of school“ (Laugesen et al. 2003, S. 55). Empirische Studien belegen nun die bedeutende Rolle, die eine geringe Ungewissheitstoleranz für das Sichsorgen spielt: Beides hängt eng zusammen. So war in einer Studie Intoleranz gegenüber Ungewissheit enger mit dem Sichsorgen assoziiert als an­ dere psychologische Begriffe Konzepte wie Perfektionismus, Kontrollmeinung oder Ambiguitätstoleranz, in einer anderen Studie war die Beziehung sogar enger als dieje­ nige mit positiven Metakognitionen bezüglich des Sichsorgens. Die Verbindung zwi­ schen geringer Ungewissheitstoleranz und Sichsorgen geht dabei wohl über eine reine Korrelation hi­naus: Wird die Ungewissheitstoleranz therapeutisch gesteigert, dann führt dies zu weniger Sorgen, wird dagegen die Intoleranz gegenüber Ungewissheit ex­ perimentell erhöht, treten auch Sorgen wieder vermehrt auf (Buhr und Dugas 2009; Dugas et al. 2012; Ladouceur et al. 2000). >> Nicht alle kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz hängen gleich eng mit dem Sichsorgen zusammen – offenbar treibt besonders die Überzeugung, in ungewissen Situationen nicht handeln zu können (7 Abschn. 2.3.1), das Sorgen an: „Uncertainty Paralysis was more strongly correlated with worry than was Desire for Predictability“ (Berenbaum et al. 2008, S. 123).  

Bei einer solchen Nähe zwischen Sichsorgen und geringer Ungewissheitstoleranz kommt berechtigterweise die Frage auf, ob es sich überhaupt um unterscheidbare Konstrukte handelt  – die Beschäftigung mit dem Ungewissen ist schließlich beiden gemeinsam. Konzeptuell sind sie allerdings doch klar getrennt: Das Sichsorgen ist ein mentaler Akt, während geringe Ungewissheitstoleranz eine Art kognitiver Filter ist, durch den Indivi­ duen ihre Umwelt wahrnehmen. Filtert eine Person das konkret Ungewisse auf diese Weise, dann reagiert es mit exzessivem Sichsorgen. In diesem modellhaften Sinn lässt sich das Sichsorgen eher als eine Folge geringer Ungewissheitstoleranz ansehen. Dass beide Konzepte nicht völlig ineinander aufgehen, indiziert auch ein interessanter Ge­ schlechterunterschied: Frauen zeigen höhere Raten, was das Sichsorgen betrifft, aber für die geringe Ungewissheitstoleranz wurde kein solcher Geschlechterunterschied gefun­ den (Freeston et al. 1994). Ein Modell, das den Weg von einer geringen Ungewissheitstoleranz zum Sichsorgen formuliert, beginnt bei der erwähnten Filterfunktion: Personen mit geringer Ungewiss­ heitstoleranz erleben eine ungewisse Zukunft schnell als gefährlich und sehen dies als inakzeptabel an. Zusätzlich fühlen sie sich nicht mehr in der Lage, mit solchen Situatio­ nen handelnd fertig zu werden (Dugas et al. 2001; Laugesen et al. 2003). Das Sichsorgen

93 5.1 · Direkte Folgen geringer Ungewissheitstoleranz …

5

fungiert unter diesen Bedingungen als ein dysfunktionaler Bewältigungsversuch in un­ gewissen Situationen – die Betroffenen versuchen gedanklich wieder Gewissheit und Kontrolle zu erlangen: „Cognitively, they respond with ‚what if ‘ questions that a­ nticipate something threatening occurring in an uncertain situation (e.g., ‚What if I forget my presentation, my employer sees me as incompetent and fires me‘), thus making the out­ come of the situation less ambiguous and helping them to deal with the potential threat (e.g., by overpreparing for the presentation)“ (Leite und Kuiper 2008, S. 55). Die Auswahl einer sinnvoll erscheinenden Bewältigungsstrategie geschieht oft über bestimmte Metakognitionen, die einer Person einen bestimmten Umgang mit einer Un­ gewissheit besonders ans Herz legen. Solche metakognitiven Überzeugungen können Strategien für den Umgang mit Ungewissheit aktivieren helfen, z. B. „Es lohnt sich, in­ tensiv über Probleme nachzudenken, um besser mit ihnen fertigzuwerden“. Gerade Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz sehen im Sichsorgen eine erfolgverspre­ chende Bewältigungsstrategie: Studien haben gezeigt, dass solche Personen mehr posi­ tive Metakognitionen bezüglich des Sichsorgens haben als Personen mit einer modera­ ten Ungewissheitstoleranz (Grad 2011). Metakognitionen, dass sich das Sich-Sorgen-Machen in ungewissen Situationen lohnt, spielen hier also eine vermittelnde Rolle: Geringe Ungewissheitstoleranz aktiviert das Sichsorgen besonders, weil die negative Beurteilung ungewisser Lagen hier mit po­ sitiven Metakognitionen bezüglich des Sichsorgens einhergeht. Die involvierten positi­ ven Metakognitionen bei geringer Ungewissheitstoleranz lassen sich sogar noch detail­ lierter benennen – „excessive worry is related to at least five different kinds of positive beliefs“ (Koerner und Dugas 2006, S. 206): (1) Sichsorgen ist hilfreich; (2) es hilft, die anstehenden Probleme effektiver zu lösen; (3) es dämpft die emotionale Reaktion auf mögliche zukünftige Ereignisse; (4) es nimmt direkt – quasi magisch – Einfluss auf den Lauf der Ereignisse, und (5) es repräsentiert eine positive Charaktereigenschaft. Gerade diese letzte Metakognition hat sich in einer Studie als besonders guter Vorhersagefaktor des Sichsorgens herausgestellt. Dies kleine IU-Modell des Sichsorgens wird komplettiert, wenn man sich überlegt, dass sich die Sorgen verstärken, wenn das befürchtete Ergebnis ausbleibt – es scheint dann schließlich so, als hätten die Sorgen irgendwie geholfen (und zudem hat das Sich­ sorgen den eigenen guten Charakter bestätigt). Und wenn das Befürchtete doch eintritt, wird das Sich-Sorgen-Machen möglicherweise auf andere Weise verstärkt, glaubt man dem „contrast avoidance model“ (Bardeen et al. 2013, S. 742) des Sichsorgens: Ziel des Sichsorgens ist danach nicht, negative Gefühle per se durch Gewissheit zu reduzieren, sondern einen gleichbleibenden emotionalen Zustand zu halten, selbst wenn dieser ne­ gativ ist. Tritt nun etwas Negatives doch ein, dann war man durch das Sichsorgen im­ merhin darauf vorbereitet und wird nicht so überrascht, dass man mit den plötzlichen negativen Emotionen womöglich nicht mehr fertiggeworden wäre. Die destruktive Ko­ alition aus geringer Ungewissheitstoleranz, positiven Metakognitionen und exzessivem Sichsorgen ist so doppelt stabilisiert und nur schwer aufzubrechen. Die beschriebene Verbindung zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und Sich­ sorgen ist derart eng, dass den Metakognitionen und dem Sichsorgen im Interventions­ kapitel ein eigener Schwerpunkt gewidmet ist (7 Abschn. 9.3). Da Studien belegen, dass eine erfolgreiche Erhöhung der Ungewissheitstoleranz das Sichsorgen quasi gratis mit verringert (Ladouceur et al. 2000), darf dieser Weg, auf übermäßiges Sorgen Einfluss zu  

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

nehmen, nicht ausgelassen werden. Um ausgeprägtes Sichsorgen therapeutisch zu un­ terbinden, reicht nach dem beschriebenen Modell schließlich die Umstrukturierung von Metakognitionen allein nicht aus – die brenzlige Auslösebedingung, nämlich eine bedrohliche Ungewissheit, bleibt ja erhalten, auch ohne die beschriebenen positiven Metakognitionen: Dem Betroffenen wird nur das Sichsorgen als eine gute Bewälti­ gungsstrategie dafür ausgeredet. Um das Sich-Sorgen-Machen zu verändern, ist es da­ her nötig, die Ungewissheitstoleranz zu steigern, vor allem in Bezug auf die Überzeu­ gung, bei Ungewissheit nicht mehr handlungsfähig, sondern paralysiert zu sein (7 Abschn. 2.3.1). Ist ein Betroffener dagegen überzeugt, dass ihm schon eine Handlung einfallen wird, dann ist es für ihn nicht mehr derart dringend nötig, alle möglichen Szenarien in Form von Sorgen mental durchzuspielen.  

5

5.1.2  Ungewissheitsgefühle

Die Konfrontation mit ungewissen Umständen, wenn also z. B. etwas ohne Gewissheit entschieden werden muss und die knappe Zeit davonläuft, bereitet Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz – wenig überraschend – „substantial discomfort“ (Leite und Kuiper 2008, S. 55). Und von allen emotionalen Ablehnungstönungen einer Sache gegenüber steht eine geringe Ungewissheitstoleranz der Angst am nächsten. Eine mehr oder weniger ausgeprägte Angst vor dem Unbekannten ist schon allgemein menschlich, tritt aber bei geringer Ungewissheitstoleranz noch gesteigert auf. Bereits die Definition von Angst legt eine enge Beziehung zur Ungewissheit nahe. Während Furcht eine Schutzreaktion auf eine gegenwärtige und erkennbare Bedrohung darstellt, gilt Angst als Reaktion auf eine potenzielle Gefahr, die eintreten kann oder auch nicht. Angst erleben Menschen also gegenüber zukünftigen Bedrohungen, deren Eintreten nie ganz sicher ist: „The absence of certainty […] related to the threat and the associated potential consequences creates anxiety“ (Carleton 2012, S. 938). Ist die Be­ drohung dagegen sicher, dann entsteht, wie beschrieben, Furcht. Nur im Zusammenhang mit einer der sechs kognitiven Dimensionen geringer Un­ gewissheitstoleranz (7 Abschn. 2.3.1), nämlich der Überzeugung „Ungewissheit ist unfair“, ist auch Ärger eine häufige emotionale Reaktion  – die Welt, so scheint es hier schnell, mutet den Betroffenen ungerechterweise viel mehr Ungewissheit zu als anderen Menschen. Erwartet jemand für eine Situation Gewissheit, muss sich aber nun trotzdem mit Ungewissheit herumplagen, dann kann diese als unfair oder ungerecht angesehen werden: Schnell sind Vergleiche mit anderen Personen zur Hand – und der empörende Gedanke, dass andere Menschen sich nicht mit derart viel Ungewissheit im Leben he­ rumschlagen müssen. Genau wie das Sichsorgen scheint auch die Angst am engsten mit der kognitiven Dimension „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ verbunden zu sein, zumindest betont eine Studie die Bedeutung der Überzeugung, bei Ungewissheit nicht mehr han­ deln zu können: Kennt eine Person Handlungsmöglichkeiten, die verfügbar und gleich­ zeitig geeignet erscheinen, die eigenen Lebensumstände in gewünschter Weise zu be­ einflussen, fühlt sie sich eher herausgefordert – umgekehrt lösen Zweifel an den eigenen Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten mehr oder weniger starke Bedrohungsge­ fühle aus (Lantermann et al. 2009).  

95 5.1 · Direkte Folgen geringer Ungewissheitstoleranz …

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Und auch zum Sich-Sorgen-Machen steht die Angst in einem besonderen Verhält­ nis: Sichsorgen dient gewöhnlich nicht nur der Bewältigung ungewisser Lagen, also dazu, alle möglichen Szenarien durchzuspielen und möglichst für alle eine Lösung zu finden, sondern fungiert auch als Möglichkeit, intensive Emotionen zu vermeiden bzw. zu verhindern. Indem emotionale Reize rein kognitiv verarbeitet werden, wird die Er­ fahrung intensiver Emotionen verhindert und das Sichsorgen als kognitiver Verarbei­ tungsmechanismus negativ verstärkt (Becker und Margraf 2016). 5.1.3  Vergewisserungsverhalten bei geringer

Ungewissheitstoleranz

Intoleranz gegenüber Ungewissheit kann das Verhalten angesichts einer ungewissen Si­ tuation auf vielfältige Weise beeinflussen. Sehr unterschiedliche Verhaltensweisen die­ nen dazu, mit ungewissen Lagen fertigzuwerden – entweder das Ungewisse wieder in Gewisses zu verwandeln oder ihm weiträumig aus dem Weg zu gehen. Selbst Personen mit einer gut ausgebildeten Ungewissheitstoleranz ertragen schließlich nicht allzu viel davon und versuchen nach einiger Zeit, mehrdeutigen Aussichten Gewissheit abzuge­ winnen. Bei weniger ungewissheitstoleranten Personen kommt es noch schneller etwa zu sorgfältigen, ja verbissenen Prüfungen der Situation daraufhin, ob die wahrgenommene Ungewissheit nicht noch zu reduzieren ist. Manchmal wird die Untersuchung der Situ­ ation und ihrer Umstände dabei über jedes vernünftige Maß hinaus weitergeführt – die Betroffenen können einfach nicht aufhören, die vorliegende Ungewissheit als etwas Problematisches, nicht als etwas Normales anzusehen. Es steht für sie irgendwie außer­ halb der Realität, wird nicht als Teil von ihr begriffen. Fallbeispiel Frau W. war immer schon eine fast überfürsorgliche Mutter. Inzwischen ist ihr Sohn beinahe vierzig Jahre alt, aber sie kann es immer noch nicht lassen. Schließlich arbeitet er als LKW-Fahrer, wie soll sie sich da keine Sorgen machen? Wie oft hört man schließlich im Radio von einem Unfall auf der Autobahn. Immer wieder sieht sie ihn in ihrer Fantasie blutend im Straßengraben liegen und überlegt verzweifelt, was sie nur tun kann. Das Radio läuft bei ihr den ganzen Tag, wenn ihr Sohn seiner Arbeit nachgeht. Gibt es irgendwo einen Unfall? Diese Ungewissheit, ob auch alles gut geht … Die Angst macht sie fast verrückt. Wenn es ihr wieder einmal zu viel wird, dann ruft sie ihn auf seinem Handy an, aber das hat so seine Nachteile. Inzwischen verkneift sie sich sogar oft diese Chance auf eine direkte Beruhigung: Mitten auf der Autobahn ans Handy gehen – vielleicht ist ja gerade das gefährlich für ihn. Außerdem hat ihr Sohn inzwischen die Geduld mit ihr verloren und geht auch absichtlich oft nicht mehr ans Telefon. Und wenn sie ihn nicht erreichen kann, nehmen ihre Sorgen nur noch mehr zu. Besonders besorgt ist sie auch, wenn er längere Strecken mit dem Auto in den Urlaub fährt. Sie habe es beim letzten Urlaub geschafft, ihn währenddessen trotzdem nicht anzurufen, erzählt sie einmal zufrieden in einer Therapiestunde. Er habe ihr nämlich eine App auf ihrem Handy eingerichtet, sodass sie dort der Bewegung seines Autos jederzeit folgen könne. Zuerst sei es auch gut gelaufen: Er war beruhigt, sie war beruhigt. Aber im

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Laufe des Tages habe sie immer öfter auf ihr Handy gesehen, um kurz festzustellen, wo er gerade war, sodass ihr Mann schon gedroht habe, ihr den Apparat endlich wegzunehmen. Außerdem könne auch diese Kontrolle nach hinten losgehen: Bei einem ihrer vielen Blicke aufs Handy hätte sich nämlich der Punkt, der für das Auto ihres Sohns stand, nicht mehr bewegt. Ein Unfall! Bestimmt! Oder doch nicht? So sei es ihr gleich durch den Kopf geschossen, und sie habe nicht mehr verhindern können, ihn nun doch anzurufen. Er hatte auch ausnahmsweise Zeit für einen Anruf, denn er steckte im Stau. Aber das sind nicht die einzigen Vergewisserungsmaßnahmen, mit denen sie versucht, sich Gewissheit zu verschaffen. Sie vertraut auch oft darauf, dass man als Mutter doch spürt, ob es den eigenen Kindern gut geht oder nicht: Dafür hat man doch so einen siebten Sinn, das hört man doch immer wieder. Nur geht es ihr, geübt in Sorgen, eben längst nicht mehr an jedem Tag gut mit ihrem scheinbaren siebten Sinn … Und wenn sie eine vage Angst um ihren Sohn spürt, aktiviert dies ihre Sorgen und ihre anderen Vergewisserungsversuche nur noch mehr. Schon früher sei sie sehr abergläubisch gewesen, erzählt sie einmal etwas peinlich berührt: Habe z. B. eine Katze vor ihrem Wagen von links nach rechts die Straße überquert, dann habe sie nach Möglichkeit angehalten und das dadurch drohende Unglück neutralisiert, indem sie sich dreimal um die eigene Achse gedreht habe. Eine peinliche Szene. Aber das sei sie heute zum Glück los. Einmal hat sie sich ein Selbsthilfebuch aus dem Wartezimmer ausgeliehen  – zum Selbstwertgefühl. Sie könne nämlich einfach nicht Nein sagen, erzählt sie später, und das müsse doch damit zu tun haben. Bei näherer Betrachtung geht es auch hier wieder um ihren Sohn, um den sie sich immer solche Sorgen macht. Bittet er sie um einen eigentlich unmöglichen Gefallen (für ihn einkaufen, in seiner Wohnung auf ein Paket warten, ihm zum dritten Mal im gleichen Monat Geld leihen), dann geht ihr gleich durch den Kopf, dass sie das eigentlich ablehnen sollte. Aber was, wenn ihm gerade dann etwas passiert? Ein Unfall? Dann wird sie sich einfach nicht verzeihen können, mit ihm kurz vorher noch einen Streit gehabt zu haben. Also tut sie ihm lieber den Gefallen, als diese Gefahr heraufzubeschwören.

Zwei Formen des Vergewisserungsverhaltens lassen sich unterscheiden: Neben der Nei­ gung zu Ungewissheitsflucht oder -verweigerung findet sich oft eine fast fundamentalis­ tische aktive Gewissheitssuche. Die Vergewisserungsstrategien bei geringer Ungewiss­ heitstoleranz weisen also in zwei Richtungen: Man bemüht sich aktiv um mehr Gewissheit, oder man vermeidet ungewisse Situationen mehr oder weniger komplett (Leite und Kuiper 2008). Etwas allgemeiner lässt sich von annäherndem und vermei­ dendem Vergewisserungsverhalten sprechen. 5.1.3.1  Annäherndes Vergewisserungsverhalten

Beim annähernden Vergewisserungsverhalten versucht eine Person mit geringer Unge­ wissheitstoleranz, wie ein eifriger „Gewissyphus“ – und oft genauso vergeblich – aktiv doch noch auf die eine oder andere Weise Gewissheit über eine ungewisse Situation zu erlangen. Unter solches „approach safety behavior“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 118) fal­ len z. B. Problemlöse- und Informationssuchaktivitäten, die die Wiedergewinnung von Sicherheit zum Ziel haben, statt unvertrauten, unklaren Lagen mit einer gewissen Of­ fenheit zu begegnen und diese als Chance für neue Erfahrungen und Lerngelegenhei­

97 5.1 · Direkte Folgen geringer Ungewissheitstoleranz …

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ten zu begreifen. Eine betroffene Person betreibt z. B. eine ausgedehnte Informations­ suche, wo eigentlich schnelle Entscheidungen gefragt sind, sie sichert sich bei anderen durch ständiges Fragen ab, untersucht immer wieder, ob die Tür auch wirklich abge­ schlossen ist, fährt eine unbekannte Strecke bereits am Tag vorher mit dem Auto ab, erstellt lange Listen, um sicherzugehen, nichts zu vergessen, und überbehütet ihre Liebsten. Verschiedene Varianten annähernden Vergewisserungsverhaltens lassen sich für the­ rapeutische Zwecke unterscheiden: 1. Exzessives Absicherungsverhalten: Jede Art des Kontrollverhaltens mit der Absicht einer Vergewisserung lässt sich hier einordnen, etwa das wiederholte Kontrollieren von E-Mails oder Anrufe, wenn jemand nicht zur verabredeten Zeit erscheint. Aber auch wiederholtes Nachfragen ist eine beliebte Form dieser Vergewisserungsva­ riante („Der Termin war doch am Montag, nicht wahr?“). 2. Übertriebene Informationssuche: Gemeint sind Suchbewegungen wie der Preisver­ gleich für ein Produkt bei ausgesprochen vielen Onlinehändlern. Restlos alle Besprechungen eines Hotels werden im Internet gelesen, bevor dort ein Zimmer reserviert wird. Handlungshemmungen und Entscheidungsschwierigkeiten, wie sie bei geringer Ungewissheitstoleranz zu sehen sind, sind oft nicht nur als Aufschiebe- oder Vermeidungsverhalten zu verstehen, sondern entstehen häufig auch aus einer solchen exzessiven Informationssuche – „intolerance of uncertainty has been linked to the need for a greater number of certainty cues in order to make a decision“ (Grad 2011, S. 6). Eine Folge dieser übertriebenen Informations­ suche kann das Information Fatigue Syndrome (IFS) sein, die Informationsmü­ digkeit: Sie ist als eine moderne psychische Erkrankung lanciert worden, die durch ein Übermaß an Information verursacht wird. Die Betroffenen klagen über eine zunehmende Lähmung analytischer Fähigkeiten, eine Aufmerksamkeitsstö­ rung, allgemeine Unruhe oder die Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen (Bauer 2015). 3. Annäherndes Vergewisserungsverhalten zeigt sich auch in einem exzessiven Listenerstellen, in der Schwierigkeit, Teilhandlungen zu delegieren, und im „doing things for others“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 122). Kindern werden z. B. die Hausaufgaben komplett abgenommen, oder ihre Taschen werden gepackt, die Finanzangelegenheiten der Familie werden lieber allein erledigt usw. 4. Abergläubisches Verhalten: Schon frühe kulturelle Einrichtungen wie Horoskope, Glückssymbole oder das Böse abweisende Gesten dienten dem Herstellen von Gewissheit. Es sind Techniken gegen das Ungewisse, die noch heute von vielen Menschen eingesetzt werden, um sich mehr Gewissheit zu verschaffen. 5.1.3.2  Vermeidendes Vergewisserungsverhalten

Zum vermeidenden Vergewisserungsverhalten können alle Handlungen gehören, die dabei helfen, dem Unklaren gar nicht erst zu begegnen – also Verhaltensweisen, die die ungewissen Folgen vermeiden oder aufschieben. Es sind eher defensive Strate­ gien, um sich vor neuen Informationen und Herausforderungen so gut es geht abzu­ schotten. Personen mit solchem „avoidant (or escape) safety behavior“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 118) fahren z. B. nicht mehr Auto wegen der ungewissen Gescheh­

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

nisse, die damit verbunden sein können, schaffen dafür aber oft legitime Hindernisse oder Ausreden, sie schieben Dinge auf, stürzen sich in ablenkende Aktivitäten, um sich nicht mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen, die Ungewissheit enthält, scheuen vor Verpflichtungen zurück und halten sich insgesamt die Dinge lieber bis zum Ende offen. Sie ergehen sich sozusagen in allen Varianten des Zauderns. Zaudern wird be­ schrieben als ein Widerstreit aus vorwärtstreibenden und hemmenden Kräften: Ei­ gentlich will man ja, aber bei dieser großen Ungewissheit? Was da alles passieren kann! Zaudern ist also keine Willensschwäche oder Faulheit, sondern man muss es als eine Aktivität verstehen  – „eine Aktivität, die den Akt deaktiviert“ (Vogl 2007, S. 48). Auch beim vermeidenden Vergewisserungsverhalten lassen sich für den praktischen Gebrauch verschiedene Varianten sinnvoll auseinanderhalten: 1. Vermeidung: Direkte Vermeidung sorgt dafür, dass Verabredungen abgesagt werden, ein neues Restaurant nicht besucht wird (und wenn doch, wird dort ein bekanntes Gericht bestellt). Vermeidung findet sich auch in Entscheidungen für die sichere Alternative – z. B. in Form einer Neigung zum schnellen kleineren, aber sicheren Gewinn statt eines ungewissen größeren (Mosca et al. 2016). 2. Prokrastinieren: Beim Aufschieben werden Dinge nicht komplett umgangen, aber die Begegnung mit ihnen wird doch so weit wie möglich hinausgezögert, etwa Arztbesuche oder Verabredungen mit ungewissem Ausgang. 3. „Partial Commitment“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 123): Bei diesem oft übersehenen vermeidenden Vergewisserungsverhalten, der Halbherzigkeit, verpflichten sich die Betroffenen mit einem Rest Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, Situationen oder Vorhaben, halten Partner etwas auf Distanz oder sich selbst immer eine Hintertür offen. Hierzu gehört auch die Methode, Ungewissheit durch „Downgrading“ abzubauen, denn die Bedeutung des Risikos, zu scheitern, wächst in dem Maße, wie die eigenen Ansprüche steigen. Gewissheit kann hier wiederhergestellt werden, indem die Ansprüche an das Ergebnis entsprechend gesenkt werden. Ähnlich funktioniert der Abbau von Ungewissheit durch Delegation: Hier wird die Ungewissheit externalisiert – sofern sich nicht ergibt, was geschehen soll, liegt es immerhin nicht am Handelnden, sondern an den anderen. 4. „Impulsive Decision Making“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 124): Entscheidungen werden schnell und ohne viel Überlegen getroffen. So vermeiden die Entscheiden­ den, die volle Verantwortung zu haben, wenn etwas schiefgeht. Die Auswahl eines Restaurants wird z. B. aufgeschoben, schließlich das nächstbeste ausgewählt, das noch einen Tisch frei hat – wenn es nicht gut ist, dann liegt es immerhin an den Umständen. 5. Einrichten in Routinen: Wer ein hohes Sicherheitsbedürfnis hat, neigt eher zu Stereotypen, und so geht eine geringe Ungewissheitstoleranz auch mit einem ausgeprägten Bedürfnis nach Routine einher. Der ungeliebten Koexistenz mit dem Ungewissen wird durch ein sehr routiniertes Leben entgegengewirkt: Dienst (und Leben) nach Vorschrift mildert die Ungewissheit. Die folgende Tabelle . Tab. 5.1 gibt eine Übersicht über die hier erläuterten Formen des Vergewisserungsverhaltens.  

99 5.2 · Stress – Bindeglied zwischen geringer …

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..      Tab. 5.1  Formen des Vergewisserungsverhaltens Annäherndes Vergewisserungsverhalten

Vermeidendes Vergewisserungsverhalten

Exzessives Absicherungsverhalten

Vermeidung

Übertriebene Informationssuche

Prokrastination

Exzessives Listenerstellen

„Partial Commitment“

Nichts delegieren, sondern auch noch Aufgaben für andere übernehmen

Impulsives Entscheiden

Abergläubisches Verhalten

Einrichten in Routinen

5.2  Stress – Bindeglied zwischen geringer

Ungewissheitstoleranz und psychischen Störungen

Sorgen, Angst und ermüdendes Vergewisserungsverhalten – schon die kurze Vergegen­ wärtigung der direkten Auswirkungen geringer Ungewissheitstoleranz lässt nur einen Schluss zu: „uncertainty is a powerful stressor“ (Rosen et al. 2014, S. 55). Bereits kon­ zeptuell ist die Verbindung zwischen Ungewissheit und Stress sehr eng: „Nicht zu wis­ sen, was ich als nächstes tun soll, erzeugt Unsicherheit. […] Und Unsicherheit steckt seit jeher hinter jedem Stress“ (Peters 2018, S. 16). Wie soll es z. B. einem Angestellten gehen, der unsicher ist, ob er kündigen soll oder nicht, wenn er die Folgen beider Mög­ lichkeiten und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht hundertprozentig bestimmen kann? Stressreaktionen entstehen, wenn sich die Umwelt verändert und der Mensch in der riskanten Lage unsicher ist, welche seiner Strategiemöglichkeiten er auswählen soll. Je weniger überschaubar und vorhersagbar eine Situation erscheint, als desto bedroh­ licher wird sie erlebt. In wenig unsicheren Situationen kehrt sich dieses Muster um: Der Herausforderungscharakter überwiegt, Gefühle der Gefährdung und Überforderung tre­ ten in den Hintergrund. Ein Nebeneinander von bedrohlichen und herausfordernden Aspekten findet sich hingegen im Bereich mittlerer Unsicherheit, wo lähmende Gefühle der Angst und Hilflosigkeit in ähnlicher Ausprägung vorkommen wie aktivierende Ge­ fühle, die im Kern die Zuversicht enthalten, den Anforderungen gewachsen zu sein und notwendige Ressourcen mobilisieren zu können. Schon ohne das Zutun einer ausgepräg­ ten Intoleranz gegenüber Ungewissheit löst eine größere Portion Ungewissheit also eine Stressreaktion aus: Das Herz schlägt schneller, der Atem intensiviert sich, man schwitzt, und Hormone wie Adrenalin gelangen vermehrt ins Blut. Nach Beispielen muss man nicht lange suchen: „Während der Bombardierung Londons im Zweiten Weltkrieg häuf­ ten sich die stressbedingten Magengeschwüre in den Vororten, nicht in der Innenstadt. Denn die Bewohner der City mussten Nacht für Nacht in die Luftschutzkeller flüchten, weil deutsche Maschinen dort regelmäßig ihre tödliche Fracht abwarfen. In die Außen­ bezirke dagegen verirrte sich selten ein Bomber. Geschah dies aber zufällig einmal, hat­ ten die Menschen den Schrecken des Unerwarteten zu verkraften“ (Klein 2015, S. 416). Kein Wunder, dass sich diese Auswirkungen bei Menschen mit einer besonders aus­ geprägten Unverträglichkeit gegenüber dem Ungewissen noch intensivieren: Personen

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

mit geringer Ungewissheitstoleranz zeigen einen höheren Grad an Stress und Arousal. So fallen z. B. Veränderungen des Blutdrucks – ein typischer physiologischer Stressindi­ kator – unterschiedlich stark aus, je nach dem Grad an Ungewissheit und der ihr ent­ gegengebrachten Toleranz: Die stärksten physiologischen Stressreaktionen traten in Versuchsbedingungen auf, in denen Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz mit Situationen hoher Unsicherheit konfrontiert wurden. Personen mit hoher Ungewiss­ heitstoleranz zeigten unter diesen Bedingungen dagegen weniger intensive Stresssymp­ tome (Kuiper et al. 2014). Das lässt sich leicht im transaktionalen Stressmodell von Richard Lazarus veranschau­ lichen (7 Abschn. 2.3.2): In einer Auseinandersetzung mit ungewissen Situationen ver­ suchen Menschen, ein für sie optimales Maß an Gewissheit zurückzugewinnen oder zu erobern. Eigenschaften wie Ungewissheitstoleranz oder -orientierung (7 Abschn.  3.3.1), Risikobereitschaft oder Ambiguitätstoleranz (7 Abschn.  3.1.3) fallen hier ins Gewicht, denn sie ermöglichen es, die Stressreaktion schon bei einem höheren Grad verbliebener Ungewissheit in Grenzen zu halten. In ungewissen Lagen wirkt ausgeprägte Ungewiss­ heitstoleranz also wie ein kognitiver Puffer, der vor besonders heftigen und lang anhalten­ den Stressreaktionen schützt (Lantermann et al. 2009). Unterschiede in der Ungewiss­ heitstoleranz wirken sich folglich darauf aus, wie gut Situationen und Lebensumstände mit hoher Unbestimmtheit verkraftet und bewältigt werden können. Untersuchungen an Lehrern weisen auch empirisch in diese Richtung: „Insgesamt kommen […] ungewiss­ heitstolerante LehrerInnen besser mit ihren beruflichen Belastungen zurecht. Dies zeigte sich daran, dass LehrerInnen umso zufriedener mit ihrer beruflichen Situation waren, ihr subjektives Wohlbefinden umso besser war und sie umso weniger Burnout-Symptome aufwiesen, je ungewissheitstoleranter sie waren“ (Dalbert und Radant 2010, S. 55). Einerseits erzeugen Unsicherheit und Ungewissheit also Stress, besonders in der Kombination mit einer geringen Ungewissheitstoleranz. Andererseits erhöht diese Stressreaktion umgekehrt nun die Chance, wieder Gewissheit und Sicherheit herzustel­ len, indem sie als Aktivierungsreaktion den Menschen handlungsfähiger macht: „Stress ist ein Unsicherheits-Beseitigungs-Programm“ (Peters 2018, S.  167). So weit, so gut. Aber leider garantiert das Aufdrehen im Stress natürlich keine Reduktion der Unge­ wissheit – verlässliche Informationen zu gewinnen, etwa über die Jobsicherheit in einer Firma, die von der globalen Marktlage abhängt, ist oft genug ausgesprochen schwierig oder sogar unmöglich. Besonders wenn eine geringe Ungewissheitstoleranz dysfunktio­ nale Vergewisserungshandlungen (7 Abschn.  5.2) nahelegt, kann dieser Umgang mit ungewissen Situationen den Stress eher noch weiter steigern. Stressreaktionen häufen sich also nicht nur durch eine Intoleranz gegenüber Ungewissheit, sondern sie dauern womöglich auch durch dysfunktionales Vergewisserungs­ verhalten länger an.  

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5.3  Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer

Faktor psychischer Störungen

Schon das einflussreiche Diathese-Stress-Modell für die Entstehung psychischer Störun­ gen bietet eine Brücke, um Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) mit psychischen Stö­ rungen zu verbinden: Geringe Ungewissheitstoleranz führt zu vermehrtem Stress

101 5.3 · Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer …

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(7 Abschn. 5.2), der wieder vulnerabel für psychische Störungen macht. Durch ihr hö­ heres Stressniveau sind Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz anfälliger für die störenden Effekte negativer Lebensereignisse, und es kommt in diesem Zusammenwir­ ken womöglich häufiger zum Auftreten psychischer Störungen. Aber schon die Präsenz geringer Ungewissheitstoleranz bei vielfältigsten psychischen Störungen lässt vermuten, dass ihr Einfluss möglicherweise über die eines allgemeinen Stressfaktors im Rahmen des Diathese-Stress-Modells hinausgeht. Anfangs fiel eine geringe Ungewissheitstoleranz als ein Aspekt bei fast allen Angststörungen auf. Kein Wunder, sind gerade Angststörungen doch auch immer „Zukunftsstörungen“: Die Angst auslösenden Befürchtungen drehen sich gewöhnlich um das, was auf eine Person zukommen wird, und das für die Zukunft Befürchtete ist natürlich im­ mer auch offen – und damit ungewiss. Es liegt daher nahe, anzunehmen, dass Probleme mit der Ungewissheitstoleranz solche Sorgen verstärken müssen. Allerdings blieb diese plausible Verbindung lange unbemerkt hinter der populäreren Gefahrenüberschätzung – Angst entsteht, wo Gefahren übertrieben werden. So gilt z. B. für die Kognitive Therapie von Aaron T. Beck: Angststörungen sind geprägt von Kognitionen, welche die Gefahren über- und das eigene Bewältigungsvermögen unterschätzen. Panikstörungen übertreiben etwa die Gefahr für den eigenen Körper, ausgelöst durch eigentlich nor­ male Körperwahrnehmungen (Padesky und Beck 2003). Aber nicht nur bei Angststörungen haben sich inzwischen Verbindungen zu einer geringen Ungewissheitstoleranz finden lassen: Es scheint sich vielmehr um einen allge­ meinen Risikofaktor für eine ganze Reihe psychischer Störungen zu handeln, sodass es sich schon wegen dieser Breite seines Vorkommens lohnt, therapeutisch dafür gerüstet zu sein. Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) wird daher inzwischen als ein transdiagnostischer Vulnerabilitätsfaktor angesehen (Carleton et  al. 2012), der spezifischer als nur über den Stress in die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen eingreift: „a cognitive vulnerability refers to a cognitive set (beliefs, attitudes) that (1) when present, heightens the risk that an emotional disorder will develop […]; (2) has the status of a causal risk factor in that it contributes to the etiology of emotional disor­ der directly, or indirectly via subsidiary processes […]; and (3) is dispositional or traitlike in its stability, but malleable in that it can be altered with intervention (e.g., psycho­ therapy)“ (Koerner und Dugas 2008, S. 620). Lässt sich eine geringe Ungewissheitstoleranz wirklich als transdiagnostischer Faktor verstehen, dann wird sie auch psychotherapeutisch relevant – als eigenständiger Ver­ änderungsgegenstand in einer Psychotherapie (7 Abschn.  6.1): Gerade bei einer Ko­ morbidität verschiedener Diagnosen ist es dann möglicherweise sinnvoller, gemein­ same transdiagnostische Faktoren psychotherapeutisch anzugehen, als jede einzelne Diagnose nacheinander mit einem störungsspezifischen Programm. Besonders interes­ sant sind zudem erste Studienergebnisse, die andeuten, dass bei unterschiedlichen psy­ chischen Diagnosen auch jeweils unterschiedliche Dimensionen aus den sechs Aspek­ ten geringer Ungewissheitstoleranz eine Rolle zu spielen scheinen. Mehrere Modelle bieten sich an, um den spezifischen Einfluss geringer Ungewissheitstoleranz auf psychische Störungen abzubilden. Eine Möglichkeit ist der erlebte Kontrollverlust bei Intoleranz gegenüber Ungewissheit – sie ist möglicherweise Teil die­ ses größeren Konzepts (7 Abschn. 3.3.4) und seines Einflusses auf psychische Störungen (Boswell et al. 2013). Ein weiterer Kandidat ist der Einfluss geringer Ungewissheitstole­  





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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

ranz auf die Häufigkeit intrusiver und wiederholter negativer Denkprozesse: Man findet aufdringliche Denkprozesse nicht nur als Sichsorgen bei der Generalisierten Angststö­ rung, sondern auch bei vielen anderen Diagnosen (Gentes und Ruscio 2011). Nähere Überlegungen und Studienergebnisse zu solchen Zusammenhängen werden im Folgen­ den jeweils bezogen auf die konkrete psychische Störung vorgestellt. 5.3.1  Generalisierte Angststörung und geringe

Ungewissheitstoleranz

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Die Generalisierte Angststörung (GAD) weist schon historisch eine besonders enge Ver­ bindung zur Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) auf – geringe Ungewissheitstoleranz wurde als eigenständige Variable überhaupt erst konstruiert als Teil eines Erklärungsmo­ dells für die Generalisierte Angststörung. Schon ein frühes Störungsmodell hatte der gro­ ßen Bedeutung von Intoleranz gegenüber Ungewissheit Rechnung getragen (Krohne 1989, 1993). Danach bewirken zwei Faktoren eine Vulnerabilität für eine GAD: eine ge­ ringe Ungewissheitstoleranz und eine Intoleranz gegenüber emotionalem Arousal. Ebenso lässt die enge Verwandtschaft beider zum Sichsorgen (7 Abschn. 5.1.1) eine Verbindung vermuten. Die Generalisierte Angststörung ist keine seltene Erkrankung: Etwa 4 bis 7 Prozent der Bevölkerung sind betroffen, Frauen ein wenig häufiger. Meist beginnt sie nach dem zwanzigsten Lebensjahr, bei Frauen um die Dreißig tritt sie besonders häufig auf. Es ist alles in allem diejenige Angststörung, die bei älteren Menschen am häufigsten vor­ kommt. Insgesamt gilt: Die Generalisierte Angststörung ist die Angststörung mit der höchsten Prävalenz (Becker und Margraf 2016; Wells 2011). Trotz der Bezeichnung Angststörung ist „Angst“ gar nicht ihr Leitsymptom: „Con­ trary to its name, the primary symptome of GAD isn’t anxiety, but rather excessive and uncontrollable worry about day-to-day events“ (Robichaud und Dugas 2015, S.  14). Auch in der aktuellen Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen, dem DSM-5, steht eindeutig das Sichsorgen im Mittelpunkt des Störungs­ bildes: Für eine Diagnose sollte das unkontrollierbare Sichorgen in mehreren Lebens­ bereichen auftreten, mindestens vier Wochen anhalten und nicht auf ein besonderes Ereignis wie einen Unfall oder eine Scheidung zurückgehen. Inhaltlich sorgen sich Menschen mit einer Generalisierten Angststörung um die gleichen Dinge wie andere Personen – um den Alltag, die Familie, Freunde, die Arbeit oder die Fi­ nanzen. Sorgen beziehen sich bei Betroffenen und Nichtbetroffenen oft schon auf kleine alltägliche Dinge, etwa nicht alles pünktlich erledigen zu können, was man sich vorgenom­ men hat. Es finden sich also thematisch kaum Unterschiede. Unterschiedlich ist dagegen die Art des Sichsorgens: Kennzeichnend für eine GAD ist das schiere Ausmaß, die Sprunghaf­ tigkeit, das stärkere Katastrophisieren und insbesondere eine recht freie Assoziation – es wird von Sorge zu Sorge gesprungen, z. B. von der Angst um die Gesundheit zu der, durch Krankheit den Job zu verlieren. Der zentrale Unterschied ist also, dass sich Personen mit einer Generalisierten Angststörung mehr sorgen – das Sichsorgen scheint bei ihnen chro­ nisch geworden zu sein: Im Hintergrund ist es immer da, es gibt keine längere Zeit ohne Sorgen. Zudem wirken ihre Sorgen unkontrollierbarer, sie liegen nicht so sehr im willkürli­ chen Entscheidungsspielraum der Betroffenen (Becker und Margraf 2016).  

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103 5.3 · Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer …

Eins von aktuell fünf einflussreichen Erklärungsmodellen der Generalisierten Angststörung ist dabei das „Intoleranz-der-Ungewissheit-Modell“ (Becker und Margraf 2016, S. 34) der kanadischen Forschergruppe um Michel Dugas. Als Kern dieses Modells gilt: „patients with GAD are to a great extent motivated by a fundamental belief that uncer­ tainty is intolerable“ (Koerner und Dugas 2006, S. 203). Verglichen mit anderen Angst­ störungen, etwa der Panikstörung oder der Sozialen Phobie, war es immer schon schwierig, die spezifischen auslösenden Stimuli für eine Generalisierte Angststörung zu benennen: Haben die Betroffenen nicht Angst vor allem Möglichen? Und das auch noch in einem schnellen Wechsel? Nur die Ungewissheit schien allen Sorgen gemeinsam zu sein, sodass sich hier langsam ein wiederkehrendes Thema der Generalisierten Angst­ störung herauszukristallisieren begann  – die Bedrohung durch das Ungewisse selbst (Robichaud und Dugas 2015): Angetrieben von ihrer geringen Ungewissheitstoleranz, versuchen Personen mit einer Generalisierten Angststörung, durch beständiges Sich­ sorgen auf kognitive Weise wieder Gewissheit herzustellen  – durch das gedankliche Durchspielen aller möglichen Szenarien bezüglich einer ungewissen Situation. Das zentrale Symptom der GAD, das Sichsorgen (7 Abschn. 5.1.1), wird in diesem Erklärungsmodell verstanden als ein dysfunktionaler Bewältigungsversuch, um der Ungewissheit in ungewissheitsträchtigen Situationen wieder Herr zu werden. Die Generalisierte Angststörung hat nach diesem Modell also ihren Grund in der fundamentalen Persönlichkeitsdisposition, sehr intolerant gegenüber dem Ungewissen zu sein. Schon ganz normale Alltagssituationen erscheinen den Betroffenen aufgeladen mit Ungewiss­ heit und dadurch sehr unangenehm, was zu einem höheren Grad an Sorgen führt. Im Ungewissheitsmodell der GAD ist dies der zentrale und relevanteste von vier kognitiven Vulnerabilitätsfaktoren: Neben der geringen Ungewissheitstoleranz zählen die Autoren auch eine negative Problemorientierung, kognitive Vermeidung und positive Metako­ gnitionen – dass Sichsorgen nützlich und sinnvoll ist – dazu (Dugas et al. 2005). Auch empirische Studien sprechen für eine zentrale Rolle geringer Ungewissheitstoleranz bei der Generalisierten Angststörung: Patienten mit einer GAD zeigen eine gerin­ gere Ungewissheitstoleranz als Patienten mit eine Panikstörung, einer Sozialen Phobie oder einer Zwangsstörung. Liegen bei Patienten mehrere komorbide psychische Stö­ rungen vor, dann haben die Patienten, bei denen GAD die primäre Diagnose ist, eine ausgeprägtere Intoleranz gegenüber Ungewissheit als Patienten, bei denen eine andere Angststörung primär ist. Zudem lassen sich Patienten mit einer Generalisierten Angst­ störung anhand des Grades der Ungewissheitstoleranz gut von Personen ohne klinische Störungen unterscheiden (Dugas et al. 1998; Ladouceur et al. 1999; Grad 2011). Anfangs sah es wirklich so aus, als hätte man mit der geringen Ungewissheitstole­ ranz eine spezifische Variable gefunden, mit der sich die Generalisierte Angststörung von anderen Angststörungen unterscheiden ließ. Inzwischen ist aber deutlich gewor­ den, dass Intoleranz gegenüber Ungewissheit keineswegs exklusiv für die GAD reser­ viert ist, sondern eher eine transdiagnostische Variable für viele psychische Störungen darstellt, auch wenn sie bei der GAD eine besonders zentrale Rolle spielen mag. Konsequenterweise wird nach diesem Erklärungsmodell der Aufbau einer größeren Ungewissheitstoleranz zum zentralen therapeutischen Ansatzpunkt (7 Kap.  9) bei der Behandlung der Generalisierten Angststörung. Ja, in der bisherigen Vernachlässigung geringer Ungewissheitstoleranz sieht Michel Dugas sogar den Hauptgrund für den bisher vergleichsweise begrenzten Therapieerfolg bei einer typischen kognitiven ­  



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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Verhaltenstherapie mit kognitiver Umstrukturierung und Reizkonfrontation: Sie hilft eben nur dabei, eine realistischere Gefahreneinschätzung zu erreichen, trägt aber nicht dazu bei, die Toleranz gegenüber Ungewissheit zu erhöhen (Rapgay et al. 2011). Fallbeispiel

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Frau T. macht sich wirklich um vieles Sorgen. Aber das Schlimmste, das Allerschlimmste, so erzählt sie kurz vor Jahresende in der Therapie, ist für sie Silvester. Sie sagt sich dann, dass sie ja nun das alte Jahr gut hinter sich gebracht hat – aber was in einem neuen Jahr alles so passieren kann! Diese lange Zeit voller Ungewissheiten, die nun vor ihr liegt wie ein großes, unklares Etwas. Bleibt sie selbst gesund? Bleibt ihr Sohn von Unfällen verschont? So viele Tage, in denen etwas Überraschendes passieren kann. Meist nimmt sie nachmittags schon Baldrian, um den Silvesterabend einigermaßen zu überstehen. Sie würde sich am liebsten schon gegen zehn ins Bett legen, wenn da nicht ihr Ehemann wäre. „Mit dir kann man ja Silvester nirgendwo hingehen!“, nörgelt er schon seit Jahren. Die ersten drei oder vier Tage im neuen Jahr bleibt Frau T. noch sehr verunsichert. Erst wenn sie registriert, wie alle Routinen unbeirrbar weitergehen, beruhigt sie sich langsam wieder.

5.3.2  Zwangsstörung und geringe Ungewissheitstoleranz

Die Hoffnung, mit der geringen Ungewissheitstoleranz einen allein für die Generali­ sierte Angststörung gültigen Risikofaktor gefunden zu haben, zerstreute sich letztlich schon in den 1990er-Jahren. Längst beschäftigte man sich schon bei einer anderen Dia­ gnose mit der Rolle der Intoleranz gegenüber Ungewissheit für die Entstehung und Auf­ rechterhaltung einer Störung – der Zwangsstörung. Über die Betroffenen von Zwangsstörungen ist schon lange bekannt: Sie haben be­ sondere Schwierigkeiten mit Ambiguität, Neuheit und unvorhersehbaren Änderungen. Zwangserkrankte brauchen in Experimenten länger, um Objekte zu kategorisieren, und fragen dabei häufiger nach zusätzlichen Informationen. Außerdem zeigen sie mehr Zweifel an der Richtigkeit komplexer Entscheidungen, die sie getroffen haben. Unge­ wissheit bereitet ihnen Unbehagen: Zwangspatienten verlangen exzessiv nach Gewiss­ heit auch bei Themen, die bereits in sich selbst Unbestimmtheit beinhalten. Sie können diese nur schwer akzeptieren (Wilhelm und Steketee 2006). Und auch Sammelzwänge, als „Hoarding Disorder“ im DSM-5 aus den Zwangsstörungen ausgegliedert, weisen nach ersten Studien eine Beziehung zu einer geringen Ungewissheitstoleranz auf. For­ scher vermuten, „that avoidant behaviours in hoarding may reflect a fear of the uncer­ tainty and potential for error that accompanies discarding or failing to acquire and ob­ ject“ (Baldwin et  al. 2017, S.  314). Diese Verbindung ist so eng, dass eine geringe Ungewissheitstoleranz inzwischen als eine von sechs kognitiven Domänen angesehen wird, die für Zwangsstörungen besonders relevant sind: übertriebene Verantwortlich­ keit und Gefahrenüberschätzung, Überzeugungen in Bezug auf die übermäßige Wich­ tigkeit eigener Gedanken sowie die übermäßige Beschäftigung mit ihrer Kontrolle, Per­ fektionismus – und eben Intoleranz gegenüber Ungewissheit. Gelegentlich werden diese sechs kognitiven Domänen auch zu drei Paaren zusammengefasst, die eine besonders enge Beziehung zu bestimmten Zwangstypen aufweisen: übertriebene Verantwortlich­

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keit und Gefahrenüberschätzung (bei Kontaminierungssorgen, Reinigungsritualen und Kontrollzwängen), übergroße Wichtigkeit der eigenen Kognitionen und das Bedürfnis diese zu kontrollieren (bei Obsessionen sexuellen, gewalttätigen und unmoralischen Inhalts), sowie Perfektionismus und Intoleranz gegenüber Ungewissheit (besonders bei Symmetrie- und Ordnungszwängen, aber auch bei Kontrollzwängen) (Taylor et  al. 2010; Wheaton et al. 2010). Die Nähe zwischen Perfektionismus und geringer Unge­ wissheitstoleranz findet sich bereits in den frühen Konzepten der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) (7 Abschn. 1.3). Auch hier schiebt sich die geringe Ungewissheitstoleranz zwischen eine Ungewiss­ heitssituation als Auslöser und das zwangstypische Vergewisserungsverhalten (Ist der Ofen wirklich aus?). Lässt sich hier die normalerweise ausreichend geringe Ungewiss­ heit der Situation trotzdem nicht aushalten, dann steigt der Druck, sich mit einer er­ neuten Kontrolle Gewissheit zu verschaffen. Wenn ich nicht mehr genau genug weiß, ob der Ofen wirklich ausgeschaltet ist, dann kann doch etwas nicht stimmen … Besser noch einmal nachsehen. Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) stimuliert Kontrollver­ halten und zwangstypisches Grübeln. Sie spielt nach diesem Modell auch eine wichtige Rolle bei der Eskalation eigentlich normaler intrusiver Gedanken. Hat z. B. eine junge Frau den unerwünschten aufdringli­ chen Gedanken, das eigene Kind zu schlagen, kommt sie bei geringer Ungewissheitstole­ ranz schneller auf den Gedanken, dass sie absolute Gewissheit braucht, wirklich eine gute Mutter zu sein und das eigene Kind garantiert nicht zu schlagen: Die subjektiv unerträgliche Ungewissheit motiviert nun dysfunktionales Kontrollverhalten oder viele Sicherheitsnach­ fragen mit dem Zweck, auf diese Weise erneut Gewissheit zu erlangen (Jacoby et al. 2013). Die ausgesprochen hohe Korrelation zwischen den beiden kognitiven Domänen der Gefahrenüberschätzung und der geringen Ungewissheitstoleranz (etwa r = .8) lässt noch einen zweiten Weg vermuten, auf dem geringe Ungewissheitstoleranz die Zwänge stei­ gert: Sie führt möglicherweise dazu, dass die Wahrscheinlichkeit und die Kosten wahr­ genommener Bedrohungen von Zwangskranken regelmäßig überschätzt werden. An­ getrieben von dem damit verbundenen stärkeren Angsterleben, kommt es so noch schneller zum zwangstypischen Kontrollverhalten (Fergus und Valentiner 2011). Sieht man sich die Beispiele für Ungewissheit bei der Zwangsstörung inhaltlich et­ was genauer an, dann scheinen sie sich, anders als bei der Generalisierten Angststö­ rung, nicht allein auf eine ungewisse Zukunft zu beschränken, sondern auch Unsicher­ heit über Vergangenes (Habe ich den Ofen wirklich ausgeschaltet?) und Gegenwärtiges zu umfassen  – „such as uncertainty about whether or not they are homosexual, un­ certainty about whether they have made a mistake or said something inappropriate“ (Wilhelm und Steketee 2006, S. 111). Der Möglichkeitsraum an Unklarheiten bei der Zwangsstörung ist also größer, umfasst damit auch eine geringe Ambiguitätstoleranz (7 Abschn. 3.1.3) und beschränkt sich nicht auf Zukünftiges. Es gibt erste Indizien dafür, dass es vor allem zwei der sechs Dimensionen einer geringen Ungewissheitstoleranz (7 Abschn. 2.3.1) sind, die bei Zwangsstörungen wirksam werden: Verlangen nach Gewissheit und Zweifel an der eigenen Handlungsfähigkeit. Es finden sich vor allem Kognitionen bezüglich der Notwendigkeit, einer Sache unbedingt sicher zu sein, sowie der Gedanke, nur geringe Bewältigungsfertigkeiten bei unvorher­ sehbaren Gefahren zu haben: Zwangserkrankte zweifeln an ihren Fähigkeiten, in un­ klaren Situationen angemessen zu funktionieren (OCCWG 1997).  





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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Aber das ist noch nicht alles, geht man von nur zwei Faktoren geringer Ungewiss­ heitstoleranz aus – prospektiver und inhibitorischer (7 Abschn. 2.3.1). Die prospektive IU sammelt eher Kognitionen über die Zukunft: Vorhersagbarkeit, das Verlangen, Be­ scheid zu wissen, Angst vor dem, was die Zukunft bringt, und aktives Engagement, um Informationen darüber zu gewinnen und die Gewissheit zu erhöhen. Bei der hemmenden IU geht es dagegen um Gedanken über Vermeidung und Lähmung bei auf­ tretender Ungewissheit. Es sind Gedanken dazu, wie Ungewissheit das eigene Han­ deln oder Erleben blockiert, aber auch Gedanken zu den durch Ungewissheit ausgelösten Emotionen. Prospektive IU scheint nun vor allem Patienten zu betreffen, die sich in der Verantwortung sehen, eine Gefahr zu verhindern – sie führt zu aktiven Neutralisierungen und Kontrollen. Zudem war prospektive IU mit Symptomen von Ordnung oder Symmetrie verbunden. Inhibitorische IU war hingegen mit inakzeptab­ len Zwangsgedanken sexuellen, gewalttätigen oder religiösen Inhalts enger verbunden (Jacoby et al. 2013). Eine geringe Ungewissheitstoleranz scheint sich auch mittelbar auf die zwangstypi­ sche Exposition mit Reaktionsverhinderung innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie auszuwirken. Konfrontationsübungen dieser Art setzen schon ein gewisses Maß an Un­ gewissheitstoleranz voraus: „To achieve this goal […] it is important for the client to realize that absolute certainty is impossible, safety behaviors will not provide absolute certainty, and the client is inconsistent in his/her attempts to gain certainty“ (Fergus und Valentiner 2011, S. 564). Erste empirische Hinweise legen nahe, dass eine voraus­ gehende Vergrößerung der Ungewissheitstoleranz auch die Wirksamkeit der Konfron­ tationstherapie verbessert.  

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5.3.3  Generalisierte Angststörung und Zwangsstörung –

Verwandtschaft angesichts des Ungewissen

Vielleicht ist es kein Zufall, dass vor allem die Generalisierte Angststörung und die Zwangsstörung seit den 1990er-Jahren mit einer geringen Ungewissheitstoleranz in Ver­ bindung gebracht werden. Beide Störungen sind schließlich charakterisiert durch For­ men pathologischer Denkprozesse  – hier das permanente Sich-Sorgen-Machen, dort die realen und mentalen Neutralisierungen (Grad 2011). Beiden Prozessen wird dabei in verhaltenstherapeutischen Modellen eine ganz ähnliche Funktion zugeschrieben: Sie dienen beide dazu, sich Gewissheit bezüglich befürchteter Folgen zu verschaffen. Into­ leranz gegenüber Ungewissheit (IU) lässt sich sehr gut als ein motivierender Faktor hin­ ter Sichsorgen und Neutralisierung verstehen. Empirische Studien zeigen ebenfalls eine ähnlich große Rolle geringer Ungewissheitstoleranz bei beiden Diagnosen. Entgegen ersten Ergebnissen fanden neuere Un­ tersuchungen ein vergleichbar hohes Level von Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) in Personengruppen mit Generalisierter Angststörung und Personengruppen mit einer Zwangsstörung, einzelne Studien fanden sogar eine leicht höhere Korrela­ tion von IU und Zwangsstörungen. Zudem zeigen Personen, bei denen komorbid sowohl eine Generalisierte Angststörung als auch eine Zwangsstörung vorliegt, die geringste Ungewissheitstoleranz aller Störungsgruppen. Diese Ergebnisse weisen da­ rauf hin, dass die bisher übliche Praxis, zwischen Sichsorgen und Zwangshandlungen

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zu unterscheiden, nicht unbedingt berechtigt ist – sie ähneln sich anscheinend funk­ tional mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist (Fergus und Wu 2010; Holaway et al. 2006). Es geht aber noch genauer: Generalisierte Angststörung und Zwangsstörung ähneln sich auch noch in ihrem Ungewissheitsprofil:1 Gerade der Faktor der prospektiven IU ist eng mit den beiden Störungen verbunden, nicht so sehr der Faktor der inhibitorischen IU – diese zeigte in einer Studie eine engere Verbindung zur Panikstörung mit Agora­ phobie, zur Depression und zur Sozialen Phobie (McEvoy und Mahoney 2012). Es ist also eher die Dimension des Gewissheitsverlangens (und die der Gefährlichkeit von Un­ gewissheit), die bei Zwangsstörungen und generalisierter Angst eine Rolle spielt (7 Abschn. 2.3.1).  

5.3.4  Geringe Ungewissheitstoleranz und Soziale Phobie

Die Soziale Phobie ist eine ausgeprägte Furcht vor einem kritischen Blick, einer negati­ ven Bewertung durch andere Menschen. Ständig scheinen die anderen etwas zu erwar­ ten und das Verhalten Betroffener sehr kritisch zu beobachten, was bei diesen schnell zur Vermeidung zwischenmenschlicher Situationen führt. Häufig kommt es zu heftigen Angstsymptomen wie Erröten oder Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasser­ lassen, die selbst wieder als peinlich erlebt werden, begleitet von der Sorge, andere könnten diese Symptome bemerken und erneut kritisch bewerten. Natürlich wissen die Betroffenen gewöhnlich nichts Genaues über die Gedanken der anderen – es ist also ungewiss, wie deren Bewertungen wirklich ausfallen. Die Be­ schäftigung mit möglichen Bewertungen vor, während oder nach sozialen Situationen „involves a sense of uncertainty related to current or future social evaluation“ (Boswell et al. 2013, S. 631). Sozialphobiker wissen also nicht genau, ob ihre Vermutungen kor­ rekt ausfallen oder nur übertriebene Befürchtungen sind, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Es fällt nicht schwer, sich in eine sozial ängstliche Person hineinzuver­ setzen – sie ist sich schon bewusst, eine sehr krasse Interpretation dessen vorzunehmen, was in den Köpfen der anderen vorgeht. Und sie muss leider abwarten, ob sich die be­ fürchteten negativen Folgen für sie einstellen werden (Einstein 2014). Diese Bewertungsungewissheit muss nun ausgehalten werden. Liegt aber eine ge­ ringe Ungewissheitstoleranz vor, kommt es zu langem Nachdenken über mögliche Be­ wertungen, zu Anstrengungen in „mind reading“ und „fortune telling“(Boswell et al. 2013, S. 631) – Anstrengungen, die wiederum die soziale Angst fördern. Die Ungewiss­ heit möglicherweise unausgesprochener Urteile wird als besonders unangenehm erlebt und motiviert Vergewisserungsverhalten, z. B. häufiges Nachfragen bei anderen („Habe ich auf der Feier etwas Peinliches gesagt?“). Eine besondere Rolle bei der Aufrechterhaltung der Sozialen Phobie spielt das „Post-­ Event Processing“ (PEP): Es ist als der Versuch zu verstehen, sich nach einer sozialen Situation durch sehr unterschiedliche Anstrengungen Gewissheit über die Bewertung der eigenen Person zu verschaffen, und ist das Äquivalent bei der Sozialen Phobie zum 1

Um die Sprache nicht unnötig zu verkomplizieren, spreche ich hier verkürzend von Ungewissheitsprofilen. Gemeint sind natürlich Profile geringer Ungewissheitstoleranz.

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Sichsorgen. Sozial ängstliche Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz scheinen nun anfälliger für ein langwieriges PEP zu sein, das im Sinn eines Sichsorgens die Angst weiter steigert. Zudem zeigte sich in einer Studie, dass Personen mit einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit häufig positive Überzeugungen (Metakognitionen) bezüglich des Sinns und Zwecks eines ausführlichen PEP haben (Shikatani et al. 2016). Auch empirisch bestätigt sich diese theoretisch angenommene enge Beziehung zwi­ schen geringer Ungewissheitstoleranz und Sozialer Phobie: In einer Studie klärte eine geringe Ungewissheitstoleranz (zusammen mit Neurotizismus und Angst vor negativer Bewertung) knapp 58,2 Prozent der Varianz sozialer Angst auf, und auch ohne die an­ deren Faktoren blieb sie ein signifikanter Faktor sozialer Angst. Gerade der Faktor in­ hibitorische IU, also die Überzeugung, im eigenen Handeln gehemmt zu sein, verbun­ den mit einem hohen Arousal, scheint bei Sozialer Phobie relevant zu sein (Boelen und Reijntjes 2009). Die therapeutische Verbesserung einer geringen Ungewissheitstoleranz ist also auch bei der Sozialen Phobie ein vielversprechender Ansatzpunkt. 5.3.5  Weitere Angststörungen und geringe

Ungewissheitstoleranz

Die Hypochondrische Störung ist durch quälende unablässige Sorgen über die eigene Gesundheit charakterisiert, eine übertriebene Einschätzung scheinbar unerklärlicher körperlicher Phänomene gilt als ihr essenzielles Kennzeichen. Aber neben einer Überschätzung gesundheitlicher Gefahren werden inzwischen noch andere Kognitionen für die Entwicklung von Krankheitsängsten verantwortlich gemacht  – eine davon ist die Intoleranz gegenüber Ungewissheit. Das Ungewisse bei Krankheitsängsten liegt in der Unklarheit, ob eine körperliche Empfindung nun wirklich auf eine gefährliche Krankheit hindeutet oder nicht – „indi­ viduals with HC [Hypochondrie] may experience uncertainty about whether a bodily sensation of unknown origin signifies a deadly disease. In the face of chronic uncer­ tainty, individuals who are intolerant of such feelings may be especially likely to expe­ rience anxiety“ (Deacon und Abramowitz 2008, S. 123). Nicht nur die Angst steigt durch eine ausgeprägte Intoleranz gegenüber Ungewissheit, sondern auch die Bemühungen, sich wieder Gewissheit zu verschaffen. Vor allem die In­ formationssuche wird intensiviert: Studien haben ergeben, dass gerade bei geringer Un­ gewissheitstoleranz nach mehr gesundheitsbezogenen Informationen gesucht wird, aber dieses Mehr an Information dann wieder Angst und Sorgen steigert (Rosen et al. 2014). Von den sechs Dimensionen der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (7 Abschn. 2.3.1) scheint ein besonderer Faktor bei der Krankheitsangst eine Rolle zu spielen, der eng ver­ wandt ist mit dem Verlangen nach Gewissheit, aber noch mehr mit dem Gerechtigkeitsverlangen: „Specifically, […] IU-2 (Uncertainty is Unfair and Spoils Everything), but not IU-1 (Uncertainty has Negative Behavioral and Self-Referent Implications), moderated the relationship between catastrophic health appraisals and health anxiety“ (Fergus und Valentiner 2011, S. 564). Dass gerade bei Krankheitsängsten auch der Eindruck von Un­ fairness eine Rolle spielt, ist zumindest plausibel („Ich war schon bei so vielen Ärzten, und keiner konnte eine genaue Diagnose stellen, die alle meine Beschwerden aufklärt. Hier sollte man doch von der Medizin mehr Klarheit erwarten können!“).  

109 5.3 · Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer …

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Bei der Panikstörung versteckt sich das Ungewisse gleich in mehreren Aspekten. So treten Panikattacken schon definitionsgemäß unberechenbar auf, „aus heiterem ­Himmel“, wie es in Beschreibungen oft heißt. Auch die Gründe hinter und die Konse­ quenzen von plötzlichen körperlichen Empfindungen sind mit Ungewissheit aufgela­ den: Wo kommt das Herzrasen plötzlich her? Wo führt dieser Schwindel hin? Zudem ist die Verbindung zwischen auslösenden Umgebungsbedingungen und internen körper­ lichen Signalen nicht komplett vorhersehbar. Stößt diese vielfältige Ungewissheit nun bei der betroffenen Person auf eine geringe Ungewissheitstoleranz, so stimuliert dies ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, aber trägt selbst auch zur Entstehung einer Panikattacke bei – über die Steigerung der An­ spannung: „The heightened arousal associated with this uncertainty […] may itself be­ come a trigger for experiencing a panic attack and lead to further avoidance“ (Boswell et al. 2013, S. 631). Außerdem fördert eine ausgeprägte Intoleranz gegenüber Ungewissheit auch bei der Panikstörung ein Sichsorgen um die beschriebenen Aspekte: Wann kommt es zur nächsten Panikattacke? Was bedeutet dies plötzliche Herzklopfen? Was wird passieren, wenn ich das Haus verlasse? Kein Wunder also, dass auch empirisch geringe Ungewissheitstoleranz und Panikstörung gut zusammengehen: Obwohl die Panikstörung bisher in der Literatur zu geringer Ungewissheitstoleranz wenig wahrge­ nommen wurde, zeigten sich bei ihr in zumindest einer Studie ähnlich hohe IU-­Werte wie in einer Vergleichsgruppe mit der Diagnose Generalisierte Angststörung (Boswell et al. 2013). Das Ungewissheitsprofil der Panikstörung gleicht dabei dem der Sozialen Phobie: Gerade der Faktor inhibitorische IU – also die Überzeugung, im eigenen Handeln ge­ hemmt zu sein, und ein hohes Arousal – scheint bei ihr relevant zu sein (McEvoy und Mahoney 2012). Fallbeispiel Frau V. findet an ihren Angstanfällen vor allem deren Unberechenbarkeit ungemein quälend. Schließlich muss sie an bestimmten Punkten ihres Lebens doch verlässlich sein. Und so sorgt sie sich vor allem darum, dass etwa plötzlich Angstsymptome auftreten, wenn sie einen Ausflug mit dem Kindergarten ihrer Kinder macht, oder bei der Taufe ihres Patenkindes. Womöglich noch genau in der Kirche! Was soll sie dann machen? Bei dem Ausflug mit ihren beiden Kindern einfach wegfahren und die Erzieherin verdutzt zurücklassen? Wo die sich doch sicher auf sie verlassen hat? Kann sie dann überhaupt noch Auto fahren? Und würde ihr Bruder bei der Taufe überhaupt zulassen, dass sie sich zwischendrin zurückzieht? Schon bei den Gedanken merkt sie, wie sie immer kribbliger wird. Kann sie sich vielleicht aus diesen ganzen Verpflichtungen noch irgendwie herauswinden? Aber durch die lange Dauer ihrer Panikstörung sind eigentlich längst alle Notlügen aufgebraucht. Sie wringt ihre leicht verschwitzten Hände. Geht es etwa schon wieder los? Was soll sie nur machen?

Bei der Posttraumatischen Belastungsstörung kommt die Ungewissheit über einen Um­ weg ins Spiel: In der Forschung dazu dreht sich viel um mögliche Faktoren, die zwi­ schen Personen unterscheiden, die nach einem schockartigen Erlebnis eine Posttrau­ matische Belastungsstörung entwickeln, und Personen, die keine entwickeln – intensives Sichsorgen gilt hier als ein vielversprechender Kandidat. In einer Studie sagte z. B. der

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Grad des Sichsorgens bei Unfallopfern eine Posttraumatische Belastungsstörung nach vier Monaten gut voraus. Dabei scheint das Sichsorgen vor allem die ­Selbstheilungskräfte nach einem traumatischen Ereignis zu blockieren: „Worry drains cognitive resources, thus maintaining PTSS by reducing the potential for emotional processing“ (Bardeen et al. 2013, S. 743). Da gerade Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) das Sichsorgen fördert, scheint sie auch für die Posttraumatische Belastungsstörung relevant. Doch der Umweg über das Sichsorgen scheint nicht der einzige Pfad zu sein, auf dem eine geringe Ungewissheitstoleranz zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen kann: Sie scheint auch zu einem bleibenden Gefühl der Bedrohung beizutragen, das dann wiederum chronische Hypervigilanz aktiviert, wie sie bei einer Posttraumati­ schen Belastungsstörung typisch ist. Auch diese zieht wieder kognitive Ressourcen von einer angemessenen emotionalen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen ab. Zudem wird angenommen, dass die Hypervigilanz eine ähnliche Funktion erfüllt wie das Sich­ sorgen bei der Generalisierten Angststörung oder die Neutralisierung bei Zwängen: Hypervigilanz ist eine Form der Bereitschaft für mögliche katastrophale Ereignisse. Sie beruhigt, weil man mit ihr nie überrascht werden kann. Aber gerade durch diese Alarm­ bereitschaft gegenüber potenziellen Gefahren kommt die kognitive Verarbeitung der traumatischen Informationen zu kurz, und die posttraumatischen Symptome klingen nicht ab (Bardeen et al. 2013). 5.3.6  Autismus-Spektrum-Störungen und geringe

Ungewissheitstoleranz

Bei den Autismus-Spektrum-Störungen werden unerwartete Veränderungen oder Über­ raschungen als etwas schwer zu Ertragendes beschrieben – sie rufen oft heftige emotio­ nale Reaktionen hervor. Das Festhalten an Routinen oder eng umschriebenes Verhalten (RBB) ist typisch für Autisten; das gilt ebenso für starke Angstgefühle (Boulter et al. 2014). Ein Modell versucht diese typischen Symptome der Autismus-Spektrum-Störungen durch eine geringe Ungewissheitstoleranz der Betroffenen verständlich zu machen. Au­ tisten zeigen demnach eine ausgeprägte Ungewissheitsintoleranz und reagieren daher mit stärkerer Angst auf plötzliche Veränderungen. Die eingeschränkten repetitiven Ver­ haltensmuster bei Autismus werden hier als Bemühungen angesehen, mit denen betrof­ fene Kinder und Jugendliche versuchen, ihr Leben wieder so vorhersehbar wie möglich zu gestalten – es stellt ihr zentrales Vergewisserungsverhalten dar. Das Leben auf Routi­ nen zu begrenzen und auf das Gleichbleiben von Umständen zu bestehen reduziert Ge­ legenheiten für Ungewissheit, und die Betroffenen fühlen sich dadurch sicherer. Auch bei anderen klinischen Störungen wie der Generalisierten Angststörung ist das Sichbe­ schränken auf Routinen immer wieder eine Strategie, um sich Gewissheit zu verschaf­ fen (Rodgers et al. 2017). Solche Überlegungen legen ein kausales Modell nahe, bei dem eine geringe Unge­ wissheitstoleranz für die Autismus-Spektrum-Störungen zentral ist: Plötzliche Verände­ rungen treffen auf eine sehr ausgeprägte Intoleranz gegenüber Ungewissheit, in der Folge entstehen Angst – und autismustypisches Vergewisserungsverhalten: „According to this view, RRB may be an epiphenomenon, a consequence of other cognitive proces­

111 5.3 · Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer …

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ses, rather than a core feature of the neurodevelopmental ASD phenotype itself “ (Boul­ ter et al. 2014, S. 1398). Einige Studien konnten inzwischen wirklich eine geringe Ungewissheitstoleranz bei den Autismus-Spektrum-Störungen bestätigen. Dabei ließ sich eine Assoziation mit dem Symptom Angst finden, aber auch Korrelationen mit anderen Autismussymptomen wie repetitives Bewegungsverhalten, Festhalten an Gleichbleibendem und sensorische Überreaktivität (Keefer et al. 2017). 5.3.7  Depression und geringe Ungewissheitstoleranz

Während Angststörungen immer auch „Zukunftsstörungen“ sind, bei denen sich das Denken um das dreht, was passieren kann, und daher der Zusammenhang mit einer geringen Ungewissheitstoleranz naheliegt, sticht die Beziehung zwischen Ungewissheits­ intoleranz und Depression nicht gleich ins Auge. Das depressionstypische Grübeln dreht sich vor allem um das Negative in der Vergangenheit – zudem ist dieses Negative in den depressogenen Kognitionen für gewöhnlich eher gewiss als ungewiss: Die Betroffenen sind wirklich davon überzeugt, versagt zu haben. Und so fehlen auch Überlegungen zur Intoleranz gegenüber Ungewissheit in den aktuellen Theorien der Depression fast voll­ ständig (Gentes u Ruscio 2011). Auf den zweiten Blick finden sich aber doch interessante Verbindungen. Eine erste geht von einem weiten Begriff des Ungewissen aus, der nicht nur Unklarheiten in der Zu­ kunft, sondern auch solche in der Gegenwart oder Vergangenheit umfassen kann (7 Abschn. 3.1.3). Damit rückt die funktionale Ähnlichkeit zwischen Sichsorgen und de­ pressivem Grübeln in den Blick: Sorgen beschäftigen sich zwar eher mit zukünftigen Ge­ fahren, während es beim Grübeln oft um Verlust, Versagen und persönliche Unzuläng­ lichkeit in der Vergangenheit geht, aber funktional lässt sich das Grübeln ebenso wie das Sichsorgen als Strategie verstehen, Unklarheit zu beseitigen: „Although often past rather than future oriented, rumination involves repeated attempts to better understand the na­ ture of past outcomes (e.g., guilt over things that one should have done, should not have done, or could have done differently) and has been found to mediate the relationship bet­ ween IU and depressive symptoms“ (Boswell et al. 2013, S. 633). Eine geringe Ungewiss­ heitstoleranz stimuliert danach vermehrt das Grübeln als das depressionstypische Vergewisserungsverhalten, welches nun wiederum vermehrt depressive Symptome produziert. Zukunft spielt aber auch in depressiven Kognitionen eine wichtige Rolle, erinnert man sich an ein einflussreiches Konzept von Aaron T. Beck: Die kognitive Triade be­ steht aus drei wesentlichen kognitiven Mustern, die den Patienten verleiten, sich selbst, seine Zukunft und seine Erfahrungen in idiosynkratischer Weise zu betrachten, näm­ lich sehr negativ (Beck 1992). Eine gleichzeitig auftretende Intoleranz gegenüber Ungewissheit führt eventuell dazu, dass betroffene Personen es vorziehen, mit einer pessimis­ tischen, aber dafür gewissen Ansicht in Bezug auf zukünftige Ereignisse zu leben – was sie anfälliger machen könnte für eine Depression. Lieber also eine pessimistische Ge­ wissheit als eine ausgewogene Ungewissheit, wie es manche Ergebnisse der Grundla­ genforschung schon für Menschen insgesamt nahelegen (7 Abschn. 2.2): „IU may also facilitate pessimistic certainty in that accepting negative consequences as inevitable may be preferred to tolerating uncertainty“ (Carleton 2012, S. 941).  



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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Empirisch ist die theoretisch vermutete Assoziation von Intoleranz gegenüber Ungewissheit und Depression aktuell umstritten. Die enge Beziehung zwischen der Depres­ sion und der Generalisierten Angststörung spricht mittelbar für Gemeinsamkeiten bei­ der Störungen, zu denen auch eine geringe Ungewissheitstoleranz zählen könnte – keine andere Angststörung ist so eng mit der Depression assoziiert wie die Generalisierte Angststörung. Eine andere Studie findet hingegen keinen Hinweis auf eine besondere Rolle geringer Ungewissheitstoleranz für eine Depression – hier sind Überzeugungen, dass man es im Leben einfacher haben sollte, enger mit einer depressiven Stimmung verbunden als solche, die ein Gewissheitsverlangen beinhalten (Harrington 2007; Dugas et al. 2004). Fallbeispiel Herr K. war völlig niedergeschlagen. Seit Tagen kam er kaum noch aus dem Bett. Dabei hatte alles gut angefangen, nämlich mit seiner Ausbildung zum Verwaltungskaufmann. Es war seine letzte Chance, da war er sicher. Schließlich hatte er schon ein Studium und eine andere Ausbildung in den Sand gesetzt. Nach einer schulischen Phase, die ihm leicht von der Hand gegangen war, sollten sich nun alle Ausbildungsteilnehmer ein Praktikum in einer Kommunalverwaltung vor Ort suchen. Aber so fleißig Herr K. auch Bewerbungen schrieb, aus seiner Heimatstadt und den direkten Nachbarstädten erhielt er nur Absagen – und entferntere Städte wären für ihn mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen. Wie sollte es nun weitergehen? Würde er doch noch einen Praktikumsplatz finden? Die Ungewissheit war für ihn kaum zu ertragen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr sah er seine letzte Chance gefährdet. Er verfiel immer mehr in Aktionismus. So richtete er unsinnige Vorschläge für ein Praktikum auch in anderen Verwaltungen an die Ausbildungsleitung. Schließlich wendete er sich sogar an diese, um frei heraus über seinen Stress und die Probleme mit der Praktikumssuche zu sprechen – was ihm auch noch negativ ausgelegt wurde: War er überhaupt geeignet für diesen Ausbildungsgang, wenn ihn schon eine solche Kleinigkeit aus dem Gleichgewicht brachte? Er wusste vor lauter Hilflosigkeit einfach nicht mehr weiter. Alles schien den Bach herunterzugehen, egal wie er sehr sich um das Gegenteil bemühte. Typisch! Es konnte doch auch nur schiefgehen. War es nicht schon immer so? Akribisch erinnerte er sich an die besonders quälenden Momente eigenen Versagens zurück. Natürlich würde es auch diesmal wieder schiefgehen, ganz klar. Eigentlich doch seltsam, dass ihm dieser Gedanke sogar ein bisschen Erleichterung verschaffte.

5.3.8  Essstörungen, vermehrter Alkoholkonsum und geringe

Ungewissheitstoleranz

Auf den ersten Blick scheint eine geringe Ungewissheitstoleranz keine besonders große Nähe zu den Essstörungen aufzuweisen, und so ist es erst einmal überraschend, dass sich in einer Studie eine ausgeprägtere Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) bei Per­ sonen mit Bulimie und Anorexie fand, verglichen mit einer Kontrollgruppe  – auch wenn nicht gleichzeitig noch eine Angststörung oder eine Depression vorlag (Frank et al. 2012).

113 5.3 · Geringe Ungewissheitstoleranz als transdiagnostischer …

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Ein erster Erklärungsansatz nutzt den höheren Stress (7 Abschn.  5.2) bei geringer Ungewissheitstoleranz: Ein erhöhtes Stressniveau ist häufig mit übermäßigem Essen und in der Folge mit einer Gewichtszunahme verbunden. Menschen essen oft zu viel, um belastenden Gedanken zu entkommen, wie sie eben bei Ungewissheit vorkommen („Ich werde mit der unsicheren Situation nicht fertig“). Eine empirische Studie bestä­ tigte einen positiven Zusammenhang zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und Gewichtszunahme, wenn auch nur bei der sehr selektiven Stichprobe griechischer Ar­ meeangehöriger (Mantzios et al. 2014). Unkontrolliertes Essen und die damit verbun­ dene Gewichtszunahme könnten bei einer Bulimie nun wiederum das Gewichtskon­ trollverhalten intensivieren. Bei der Anorexie werden zwei unterschiedliche Zusammenhänge mit geringer Ungewissheitstoleranz vermutet: Gibt es in anderen Bereichen des Lebens als dem Essen eine hohe Ungewissheit bei gleichzeitig geringer Ungewissheitstoleranz, dann kommt es möglicherweise stellvertretend und als Kompensation zu einer verstärkten Kontrolle des Essverhaltens, um die begleitenden negativen Gefühle auszugleichen (Sternheim et al. 2011). Hier wirkt geringe Ungewissheitstoleranz wie ein Verstärker von Stressre­ aktionen, die gleichzeitig wieder eine besondere Kontrolle über das Essverhalten moti­ vieren. Zweitens berichteten in einer qualitativen Studie anorektische Patientinnen aber auch davon, ausgeprägte Ungewissheit bezüglich der beim Essen aufgenommenen Ka­ lorien zu empfinden (Wie viele Kalorien habe ich gerade eigentlich zu mir genommen?). Diese Ungewissheit löst, wenn die Betroffenen sie als schwer erträglich empfinden, Angst vor Gewichtszunahme aus und vermittelt gleichzeitig den Eindruck von Kon­ trollverlust: „There is a reaction to remove the uncertainty arousal by avoiding foods of uncertain calorific content or through eating rituals“ (Einstein 2014, S. 293). Eine geringe Ungewissheitstoleranz kann auch zu einem vermehrten Alkoholkonsum beitragen. Dieser wird in der Forschung häufig über positive und negative „drinking motives“ (Oglesby et al. 2015, S. 356) konzeptualisiert: Er findet statt, um ein positives Gefühl zu vergrößern oder zu verlängern auf der einen Seite und um eine bessere sozi­ ale Anpassung zu erreichen und negative Gefühle besser zu bewältigen auf der anderen. Eine geringe Ungewissheitstoleranz sorgt nun häufiger für negative Gefühle wie Angst, aber auch für Anspannung in immer etwas ungewissen zwischenmenschlichen Situationen – schafft also negative Motive für Alkoholkonsum. In einer ersten Studie mit Studierenden, die Alkohol tranken, fand sich bereits eine Korrelation geringer Un­ gewissheitstoleranz gerade mit den negativen Bewältigungs- und Konformitätsmotiven (Oglesby et al. 2015). Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz zeigen also möglicherweise eine besonders ausgeprägte Anspannung in ungewissheitshaltigen Situ­ ationen, gegen die sie dann antrinken. Sie trinken Alkohol, um die eigene Vermeidungs­ tendenz und das hohe Arousal zu reduzieren.  

5.3.9  Chronische körperliche Erkrankungen

und geringe Ungewissheitstoleranz

Chronische körperliche Erkrankungen konfrontieren die Betroffenen täglich mit Un­ gewissheit: Wie wird die Behandlung anschlagen? Wie wird meine Erkrankung weiter verlaufen? Es ist augenscheinlich plausibel, dass eine geringe ­Ungewissheitstoleranz den

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5

Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

Umgang mit einer chronischen körperlichen Erkrankung deutlich erschweren kann, eine größere Portion Ungewissheitstoleranz dagegen die Lebensqualität verbessert. Die Multiple Sklerose (MS) ist z. B. durch einen besonders schwer vorhersehbaren Verlauf charakterisiert: Alle Patienten mit MS sehen sich vielfältigsten Ungewissheiten ausgesetzt. Die meisten Betroffenen (85 Prozent) erleben einen Verlauf mit schubförmi­ gen Episoden, dazwischen kommt es zum Rückgang der Beschwerden. Der Zeitpunkt der Episoden ist dabei ebenso wenig vorhersehbar wie die Residualsymptome, und auch die Schwere und Verortung der Symptome sowie der Verlauf über eine längere Zeitpe­ riode sind ungewiss. Betroffene schätzen die Bewältigung der mit der Erkrankung ver­ bundenen Ungewissheit als eine der größten Herausforderungen ihrer Erkrankung ein: „employed patients wonder about their ability to maintain a career and their financial stability; patients with children wonder about their ability to satisfactorily participate in parenting; and, more broadly, patients worry about how disease progression will affect their identity and quality of life“ (Alschuler und Beier 2015, S. 155). In einer Studie bestätigten sich diese Überlegungen – eine ausgeprägte Ungewiss­ heitstoleranz war hier die Schlüsselvariable für eine Akzeptanz der Diagnose. Dagegen machen sich chronisch Erkrankte mit geringer Ungewissheitstoleranz häufiger Sorgen um die eigene Gesundheit, berichten von mehr Ängsten und erleben größeren Kon­ trollverlust (Alschuler und Beier 2015). In Bezug auf Krebserkrankungen verhält es sich ähnlich: Auch hier ist die Krank­ heit, einmal diagnostiziert, mit einer hohen Unsicherheit verbunden, und es kommt schnell zu einem verstärkten Sichsorgen. Erste Studien zeigen auch hier einen Zusam­ menhang zwischen höherem Stress durch die Erkrankung und einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Ungewissheit (O’Neill et al. 2006). Zusammengefasst wird deutlich: Intoleranz gegenüber Ungewissheit spielt eine be­ deutende Rolle bei vielfältigen psychischen Störungen (und darüber hinaus). Die folgende Tabelle (. Tab. 5.2) versucht einen Überblick über die noch sehr vorläufige Befundlage.  

..      Tab. 5.2 Geringe Ungewissheitstoleranz und psychische Störungen Diagnose

Ungewissheitsprofil

Zentrales Vergewisserungsverhalten

Generalisierte Angststörung

„Gewissheit ist absolut notwendig“ (Überzeugung 1) „Ungewissheit ist gefährlich“ (Überzeugung 2)

Sichsorgen

Zwangsstörung

„Gewissheit ist absolut notwendig“ (Überzeugung 1) „Ungewissheit ist gefährlich“ (Überzeugung 2)

Kontrollverhalten, andere Neutralisierungen

Soziale Phobie

„Ungewissheit ist belastend“ (wg. Arousal) (Überzeugung 3) „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ (Überzeugung 4)

Post-Event Processing (PEP)

115 Literatur

5

..      Tab. 5.2 (Fortsetzung) Diagnose

Ungewissheitsprofil

Zentrales Vergewisserungsverhalten

Hypochondrische Störung

„Gewissheit ist absolut notwendig“ (Überzeugung 1) „Ungewissheit ist unfair“ (Überzeugung 6)

Exzessive Informationssuche

Panikstörung

„Ungewissheit ist belastend“ (wg. Arousal) (Überzeugung 3) „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ (Überzeugung 4)

Sichsorgen, Vermeidung

Posttraumatische Belastungsstörung

?

Hypervigilanz

Autismus-Spektrum-­ Störungen

?

Repetitives Verhalten, Routinen

Depression

„Ungewissheit ist belastend“ (wg. Arousal) (Überzeugung 3) „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ (Überzeugung 4)

Grübeln (über die Gewissheit des Negativen)

Anorexie

?

Diät, Gewichtskontrolle

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

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Kapitel 5 · Geringe Ungewissheitstoleranz und ihre Folgen – psychische Störungen …

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Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz 6.1

 eringe Ungewissheitstoleranz als G eigenständiges Therapieziel? – 120

6.2

 ie große und die kleine Ungewissheitstoleranz D – was soll überhaupt geändert werden? – 121

6.2.1

 ngewissheitsbegeisterung schaffen – „embracing U uncertainty“ – 123 Ungewissheitstoleranz fördern – die kleine psychotherapeutische Lösung – 124

6.2.2

Literatur – 126

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_6

6

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Kapitel 6 · Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz

Was sich bei einer geringen Ungewissheitstoleranz ändern soll, versteht sich nicht von selbst. Sie ist ein komplexes Phänomen – nach innen wie nach außen. Nach außen unterhält sie vielschichtige Beziehungen zu unterschiedlichen psychischen Problemen (7 Abschn. 5.3) und gesellschaftlichen Idealen (7 Kap. 4). Wann sollte Intoleranz gegenüber Ungewissheit unter diesen Umständen überhaupt ein eigenständiges Therapieziel sein? Nach innen wird geringe Ungewissheitstoleranz durch verschiedene Dimensionen definiert (7 Abschn. 2.3.1), die im Einzelfall nicht alle auftreten müssen, sondern individuelle oder störungsspezifische Ungewissheitsprofile bilden – welche Facetten geringer Ungewissheitstoleranz sollen therapeutisch mit welchem Ziel angegangen werden?  





6.1  Geringe Ungewissheitstoleranz als eigenständiges

6

Therapieziel?

Erschöpfendes Vergewisserungsverhalten, langwieriges Sichsorgen und quälende Angstgefühle – schon diese direkten Folgen (7 Abschn. 5.1) in der Auseinandersetzung mit alltäglichen Ungewissheitssituationen machen die größere Vulnerabilität von Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz anschaulich. Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) hat aber nicht nur diese unangenehmen direkten Auswirkungen auf das Wohlbefinden der von ihr Betroffenen. Inzwischen belegt eine Vielzahl empirischer Studien die enge Assoziation zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und psychischen Problemen (7 Abschn. 5.3) – sie gilt zu Recht als ein wichtiger transdiagnostischer Einflussfaktor. Und lässt sich eine geringe Ungewissheitstoleranz wirklich als ein solcher transdiagnostischer Vulnerabilitätsfaktor nicht nur für Angst- und Zwangsstörungen, sondern auch für Autismus-Spektrum-Störungen, Essstörungen oder Depression verstehen, dann wird sie auch als eigenständiger psychotherapeutischer Ansatzpunkt ausgesprochen relevant. Gründe dafür gibt es genug. Gerade bei komorbiden Diagnosen ist es möglicherweise sinnvoller und effektiver, den gemeinsamen transdiagnostischen Faktor hinter ihnen psychotherapeutisch anzugehen, als die einzelnen Diagnosen nacheinander mit einem störungsspezifischen Programm. Außerdem ist die geringe Ungewissheitstoleranz womöglich gerade bei den Angststörungen eine bisher größtenteils noch übersehene kognitive Variable: Der nie ganz befriedigende Therapieerfolg der kognitiven Verhaltenstherapie bei Angststörungen lässt sich vielleicht auch darauf zurückführen, dass bei der kognitiven Umstrukturierung einzig und allein die Gefahrenüberschätzung im Mittelpunkt steht. Hier wäre es sinnvoll, nicht nur eine realistischere Gefahreneinschätzung anzustreben, sondern jeweils auch die Ungewissheitstoleranz zu erhöhen (Rapgay et al. 2011). Und auch mittelbar scheint sich eine verbesserte Ungewissheitstoleranz auf andere kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen positiv auszuwirken, wie eine Studie bestätigt: Durch eine vorausgehende therapeutische Arbeit an der Ungewissheitstoleranz wächst nicht nur die Bereitschaft für Konfrontationsübungen, sondern auch deren Ergebnisse fallen besser aus – zumindest gilt dies für die Exposition mit Reaktionsverhinderung (ERV) bei der Zwangsstörung (7 Abschn.  5.3.2). Schon vor den Übungen ist es „important for the client to realize that absolute certainty is impossible, safety behaviors will not provide absolute certainty, and the client is i­ nconsistent in his/ her attempts to gain certainty“ (Fergus und Valentiner 2011, S. 564).  





6

121 6.2 · Die große und die kleine Ungewissheitstoleranz – was soll …

Obwohl die konkreten Verbindungen zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und psychischen Störungen sicherlich noch nicht abschließend geklärt sind, lassen sich aus den vorläufigen Befunden doch einige Ratschläge ableiten, wann die Intoleranz gegenüber Ungewissheit in der therapeutischen Praxis als ein eigenständiges Problem angegangen werden sollte. Wann sollte eine geringe Ungewissheitstoleranz ein eigenständiger Behandlungsschwerpunkt sein? 1. Wenn Intoleranz gegenüber Ungewissheit vom Klienten selbst als ein eigenständiges Problem vorgestellt wird, sollte sie auch Gegenstand der Psychotherapie sein – wenn sie also direkt zu Problemen etwa im Beruf oder im zwischenmenschlichen Leben führt, zu anstrengendem Vergewisserungsverhalten, Vermeidung, Angst, Sichsorgen oder Überlastung. 2. Erschwert eine geringe Ungewissheitstoleranz die Behandlung selbst (z. B. Verweigerung von Konfrontationsübungen), dann sollte sie ebenfalls zu einem eigenständigen Behandlungsschwerpunkt gemacht werden. 3. Ist geringe Ungewissheitstoleranz bereits Baustein eines kognitiv-­verhal­ tenstherapeutischen Modells einer psychischen Störung (z. B. bei der Generalisierten Angststörung oder der Zwangsstörung), dann sollte sie natürlich auch ­direkt Gegenstand der Psychotherapie sein. 4. Ist geringe Ungewissheitstoleranz ein in der individuellen Exploration (7 Kap. 8) erkannter wichtiger Vulnerabilitätsfaktor für eine psychische Störung (etwa weil sie die Stressbelastung erhöht oder ein spezifisches Vergewisserungsverhalten aktiviert), dann sollte sie zumindest bei der Rückfallprävention am Ende der Behandlung ein Thema werden. 5. Erweist sich eine störungsspezifische Behandlung als nicht erfolgreich, dann kann Intoleranz gegenüber Ungewissheit ebenfalls zum Behandlungsschwerpunkt gemacht werden. 6. Taucht geringe Ungewissheitstoleranz während der Exploration als aufrechterhaltender Faktor einer psychischen Störung (oder mehrerer Störungen) auf, dann ist aktuell noch nicht klar, was vorzuziehen ist – störungsspezifische Behandlungen oder eher die Behandlung von transdiagnostischen Faktoren wie der Ungewissheitstoleranz. Wegen der noch geringen Menge an Vergleichsstudien ist daher aktuell der Einsatz evidenzbasierter störungsspezifischer Programme vorzuziehen. Intoleranz gegenüber Ungewissheit kann hier allerdings direkt angegangen werden, wenn kein störungsspezifisches Behandlungsprogramm vorliegt.  

6.2  Die große und die kleine Ungewissheitstoleranz – was soll

überhaupt geändert werden?

Die Beziehung einer geringen Ungewissheitstoleranz zu möglichen Therapiezielen ist durchaus kompliziert, obwohl auf den ersten Blick alles sehr einfach scheint. Intoleranz gegenüber Ungewissheit, wie sie hier vorgestellt worden ist, wird durch sechs kognitive Dimensionen charakterisiert (. Tab. 6.1, s. auch 7 Abschn. 2.3.1).  



122

Kapitel 6 · Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz

..      Tab. 6.1  Die sechs kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz

6

Kognitive Dimension

Beispielkognition

1. „Gewissheit ist absolut notwendig.“

„Ich muss einfach Gewissheit haben, egal wie!“

2. „Ungewissheit ist gefährlich.“

„Vage, schwer zu durchschauende Situationen sind meist auch gefährlich.“

3. „Ungewissheit ist belastend.“

„Mein Verstand kommt einfach nicht zur Ruhe, wenn ich nicht weiß, was morgen sein wird.“

4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“

„Ich werde einfach überwältigt von unvorhersehbaren Ereignissen.“

5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“

„Andere kriegen es viel besser hin, ein gewisses und sicheres Leben zu führen.“

6. „Ungewissheit ist unfair.“

„Es ist einfach ungerecht, im Leben für nichts eine Garantie zu haben.“

Umstritten ist dabei nicht so sehr, welche der sechs Dimensionen therapeutisch verändert werden sollen, sondern wie ausgeprägt der angezielte neue Sinn für das Ungewisse eigentlich ausfallen soll. Ein kurzer Rückblick auf das Panorama der vielen Einflussfaktoren in Bezug auf Ungewissheit und Ungewissheitstoleranz erinnert schnell daran. Ungewissheit scheint in der aktuellen flüchtigen Moderne (7 Abschn.  4.2) für die meisten Menschen zugenommen zu haben – sie erleben eine „Rückkehr der Unsicherheit, Ungewissheit und Uneindeutigkeit“ (Böhle 2013, S. 286), während die gegenwärtig beworbenen Subjektideale des resilienten, kreativen und unternehmerischen Selbsts (7 Abschn. 4.3) dazu drängen, diesen neuen Ungewissheiten offensiver zu begegnen. Ein ausgeprägtes Gewissheitsverlangen ist dagegen mit vielfältigen Belastungen und sogar mit psychischen Störungen verbunden (7 Kap. 5). Eine bessere Unsicherheitsregulation ist also angesichts der aufkommenden Ungewissheiten gefragt (Lantermann et al. 2009). Stichworte dafür sind Risikokompetenz und Risikobereitschaft: Ein eigenverantwortlicher Umgang mit Ungewissheit, Unsicherheit und Unbestimmtheit wird aus dieser Perspektive zunehmender Ungewissheiten zu einer Schlüsselkompetenz für eine erfolgreiche Bewältigung der charakteristischen Anforderungen in der heutigen Gesellschaft. Aber genau hier beginnt die Uneinigkeit darüber, wie groß die Bereitschaft, eine Diskrepanzerfahrung zwischen gewünschter Gewissheit und erlebter Ungewissheit zu akzeptieren, eigentlich sein sollte. Manche Stimmen empfehlen einen grundsätzlich offeneren, ungewissheitsfreundlichen Umgang mit dieser Lage, andere wiederum sehen in einer solchen Ungewissheitskompetenz eher eine Ausnahme, die dem allgemein menschlichen Gewissheitsverlangen gelegentlich abgerungen werden sollte: „Das fällt uns verständlicherweise nicht leicht. Wir wollen uns jederzeit sicher fühlen wie in Abrahams Schoß. Doch die Vernunft rät uns, von dieser Illusion Abstand zu nehmen. Das bedeutet nicht, in stoischen Gleichmut zu verfallen. Mit Zwischenfällen leben zu lernen heißt, sehr wohl jede sinnvolle Vorkehrung gegen echte Gefahren zu treffen. Nur gilt es zu verhindern, dass sich eine allzu beruhigte Stimmung breit machen kann. Denn am sichersten leben wir dann, wenn wir uns ein wenig unsicher fühlen“ (Klein 2015, S. 481 f.).  





6

123 6.2 · Die große und die kleine Ungewissheitstoleranz – was soll…

Gleichzeitig gibt es natürlich immer noch viele Fälle, in denen gerade eine Ungewissheitsintoleranz ausgesprochen nützlich sein kann – eine komplette Umstellung der Persönlichkeit auf eine große Ungewissheitstoleranz erscheint hier eher fragwürdig. So ist beispielsweise leicht vorstellbar, dass eine geringe Ungewissheitstoleranz zu besseren Ergebnissen führt, wenn die genaue Einhaltung von Vorschriften oder die Überwachung komplexer Systeme gefragt ist (Dalbert und Radant 2010). Gerade wo es nicht um die äußeren Quellen von Ungewissheit (ungewisse Folgen bei Handlungen), sondern um deren innere Quellen geht (ungewisse eigene Reaktionen aus Launen oder Affekten), ist Ungewissheitsintoleranz schon seit der Antike eher positiv besetzt: Politisch einflussreiche Personen sollten sich demnach nicht gehen lassen; ein für das Gemeinwohl erfolgreich tätiger Politiker muss innere Sicherheit besitzen, seine Eigeninteressen beherrschen und spontane Affekte mäßigen, um verantwortungsvolle Politik zu machen (Hempel 2012). Es geht also insgesamt um die Frage nach einem gelungenen Verhältnis zur Ungewissheit – eher responsiv und elastisch, nicht starr und zwingend. Aber wie sieht eigentlich eine angemessene Ungewissheitstoleranz konkret aus? Was kann für eine kognitive Verhaltenstherapie hier als Ziel gelten? 6.2.1

Ungewissheitsbegeisterung schaffen – „embracing uncertainty“

Gerade die gesellschaftlich angeregten Subjektideale geben sich nicht mit einer widerwilligen Ungewissheitstoleranz oder einer ausgeprägten Ungewissheitshärte zufrieden, sondern schwärmen sich manchmal geradezu in eine Ungewissheitsbegeisterung hinein: „Wir wollen Ungewissheit nicht nur knapp überleben, nicht nur ‚gerade noch einmal davonkommen‘. Wir wollen Ungewissheit vollkommen unbeschadet überleben und darüber hinaus […] das letzte Wort haben“ (Taleb 2013, S. 27). In Ungewissheit zu leben ist hier eine Selbstverständlichkeit. Sie wird nicht mehr als Handlungserschwernis begriffen, sondern als Chance oder sogar als Ressource: Alle Menschen sollen Ungewissheit als ein reizvolles Stück Normalität begreifen. Ungewisse Situationen gelten als Chance für die Entwicklung neuer Handlungshorizonte, und es werden eher die anstachelnden und weniger die lähmenden Aspekte einer ungewissen Situation hervorgehoben. Das resiliente Selbst sucht das Ungewisse absichtlich auf wie andere die Laufstrecke im nahen Wald, um etwas für seine Gesundheit, zumindest für seine Abhärtung, zu tun, das unternehmerische Selbst sieht gerade im Ungewissen seine Gewinnchancen, und das kreative Selbst findet nur im Vagen und Unklaren den Ausgangspunkt für eigenen Einfallsreichtum. Ungewissheit ist gefährlich? Mitnichten! Die Auseinandersetzung mit ihr garantiert Fitness, ermöglicht Gewinne, ist Vorbedingung von Kreativität oder eines intensiven Lebens. Ungewissheit ist belastend? Höchstens kurzfristig, langfristig aber garantiert die Konfrontation mit ihr Resilienz. Alle Ideale propagieren jedenfalls einen sehr positiven Sinn für das Ungewisse. Die ewiggestrigen Sicherheitsfanatiker dagegen, die sich immer noch wie Präventionisten (7 Abschn. 4.3) daran abmühen, das Leben komplett sicher und gewiss zu gestalten, werden aus diesem Blickwinkel nur noch müde belächelt. Schon wenn der populäre psychologische Begriff der Akzeptanz (7 Abschn. 3.2) auf das Ungewisse angewandt wird, geht dies über die ursprüngliche Vorstellung einer  



124

Kapitel 6 · Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz

..      Tab. 6.2  Die sechs kognitiven Dimensionen der Ungewissheitsbegeisterung – als Therapieziel

6

Problem

Ziel

1. „Gewissheit ist absolut notwendig.“

„Ich ziehe Ungewissheit der Gewissheit vor.“

2. „Ungewissheit ist gefährlich.“

„Ungewissheit verspricht Gewinn.“

3. „Ungewissheit ist belastend.“

„Ungewissheit fördert die Gesundheit.“

4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“

„Erst in ungewissen Lagen kann ich wirklich handeln.“

5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“

„Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft im Gegenteil ein gutes Licht auf mich.“

6. „Ungewissheit ist unfair.“

„Ungewissheit bevorteilt mich sogar.“

ausgeprägten Ungewissheitstoleranz hinaus, aber bei den neuen Subjektidealen wird geradezu eine Ungewissheitsbegeisterung als Ziel ausgerufen. Diese lässt sich mittels der sechs Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz versuchsweise in folgende konkrete Therapieziele transferieren (. Tab. 6.2).  

6.2.2

 ngewissheitstoleranz fördern – die kleine U psychotherapeutische Lösung

Auch bei der Psychotherapie geringer Ungewissheitstoleranz geht es darum, einen passenderen Sinn für das Ungewisse zu entwickeln. Ein starres Gewissheitsverlangen ist hier nicht altmodisch und unpassend für eine flüchtige Moderne, sondern führt schlicht zu einer Vulnerabilität für psychische Probleme. Manchmal lassen sich auch Autoren psychotherapeutischer Werke von der gesellschaftlichen Ungewissheitsbegeisterung anstecken, etwa wenn sie Einladungen aussprechen wie diese: „In essence, your focus has been on tolerating the uncertainties of life. This assumes that feeling uncertain isn’t pleasant – that it’s just something that, at best, you can learn to live with. But what if being uncertain can be a pleasant state that you might learn to embrace in certain situations, rather than merely tolerate?“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 159) Letztlich nehmen solche Ungewissheitsumarmungen aber nur wenig Raum in therapeutischen Texten ein – und bestehen gewöhnlich allein aus Erinnerungen daran, wie schön positive Überraschungen, etwa ein Geschenk, sein können. Sie sind nicht zu einer kompletten Grundhaltung der Ungewissheitsbegeisterung ausgearbeitet, sondern ergänzen meist nur den zentralen Ansatz. Ausgangspunkt bleibt letztlich die Überzeugung, dass Menschen im Kern die Gewissheit der Ungewissheit vorziehen, sieht man von einigen Ausnahmesituationen ab (7 Kap. 2). In Bezug auf die Ungewissheitsintoleranz (IU) machen diese Erörterungen darauf aufmerksam, dass sich eine Veränderung implizit auf den alten, „toughen“ Toleranzbegriff beschränkt (7 Abschn. 3.2) – im besten Falle kann, bei ausgeprägter Ungewissheitstoleranz, die allgegenwärtige Ungewissheit immerhin weniger nörgelnd ertragen werden.  



125 6.2 · Die große und die kleine Ungewissheitstoleranz – was soll …

6

Verglichen mit der radikalen gesellschaftlichen Ungewissheitsbegeisterung fällt die therapeutische Vorstellung von einer gesunden Ungewissheitstoleranz jedenfalls angenehm nüchtern aus. Michel Dugas, der zentrale Forscher in diesem Bereich, bringt es in einem Interview auf den Punkt: „‚The goal is always the same‘, Dugas says. ‚To get them [die Patienten] to experience uncertainty and learn‚ this isn’t fun, but I can tolerate this.‘“ (Beck 2015). Dieser Vorstellung zufolge sucht auch eine ungewissheitstolerante Person zuerst einmal nach Gewissheit. Gerät sie doch einmal in ungewisse Situationen, dann verschließt sie sich ihnen nicht, sondern bewahrt sich ihre Irritierbarkeit, ohne gleich Alarm zu schlagen. Sie strebt danach, „vorbereitet zu sein auf etwas, auf das man sich nicht vorbereiten kann“ (Bröckling 2017, S. 135), und stellt sich dem Ungewissen mit einer Art heroischer Gelassenheit. Wohl nicht umsonst ist Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) als ein unipolares Konzept entwickelt worden – es beschreibt sehr detailliert eine geringe Ungewissheitstoleranz, beschränkt sich allerdings am anderen Ende des Spektrums darauf, ihre Abwesenheit zu konstatieren und kein positives Ideal einer Ungewissheitsbegeisterung zu formulieren. Eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz taucht hier also einzig als die Abwesenheit einer besonderen Ungewissheitsunverträglichkeit auf  – mehr nicht. Dafür reicht es schon aus, zu begreifen, dass Ungewissheit nicht zwangsläufig gefährlich oder belastend ist, nicht beständig nach Gewissheit zu verlangen, einzusehen, dass man auch in den meisten ungewissen Lagen handlungsfähig bleibt, dass Ungewissheit nichts Unfaires an sich hat, sondern im Gegenteil etwas Übliches ist und dass sie wenig über die ihr ausgesetzten Menschen aussagt. Diese kognitive Grundeinstellung erlaubt es immerhin, vorbereitet zu sein auf etwas, auf das man nicht vorbereitet sein kann. Es lassen sich also aus den sechs Dimensionen etwa folgende Ziele für eine angemessene Ungewissheitstoleranz gewinnen (. Tab. 6.3).  

..      Tab. 6.3  Die sechs kognitiven Dimensionen ausgeprägter Ungewissheitstoleranz – als Therapieziel Problem

Ziel

1. „Gewissheit ist absolut notwendig.“

„Ich hätte gern Gewissheit, kann aber auch mit Ungewissheit leben.“

2. „Ungewissheit ist gefährlich.“

„Ungewissheit ist nicht unbedingt gleich gefährlich, sondern oft neutral.“

3. „Ungewissheit ist belastend.“

„Ungewissheit muss nicht an sich belastend sein, sie wird es erst durch anstrengendes Vergewisserungsverhalten.“

4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“

„Auch in ungewissen Lagen kann man oft noch handeln.“

5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“

„Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, lässt nicht auf meinen Charakter schließen.“

6. „Ungewissheit ist unfair.“

„Alle Menschen sind Ungewissheit ausgesetzt, nicht nur ich.“

126

Kapitel 6 · Therapieziele bei geringer Ungewissheitstoleranz

Diese gedankliche Struktur einer ausgeprägten Ungewissheitstoleranz bildet gleichzeitig das therapeutische Ziel einer kognitiven Verhaltenstherapie. Natürlich müssen nicht in jedem Fall von geringer Ungewissheitstoleranz alle sechs Dimensionen betroffen sein, wie es ja bereits die Ungewissheitsprofile mancher psychischer Störungen angedeutet haben (7 Abschn. 5.3). Es gilt also zunächst in einer sensiblen Exploration (7 Kap. 8) die individuell tatsächlich vorhandenen Facetten geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig zu machen, bevor die individuellen Therapieziele näher bestimmt werden können.  



Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz – als Therapieziel

6

Toleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der angewandten Überzeugung, dass (a) das Ungewisse gelegentlich Teil der Realität ist und dass es (b) oft gar nicht möglich und (c) zwar oft wünschenswert, aber nicht absolut zwingend nötig ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) nicht unbedingt schlimme Folgen hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt (harmlos, nicht belas­ tender als klare Situationen, Handlungsfähigkeit bleibt erhalten, kein Einfluss auf die personale Bewertung). Außerdem (f ) ist es nicht ungerecht, wenn man wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt ist, sondern ein unausrottbarer Bestandteil des menschlichen Lebens.

Literatur Beck J (2015) How uncertainty fuels anxiety. An inability to live with life’s unknowns can lead to worry and distress. The Atlantic 3. https://www.­theatlantic.­com/health/archive/2015/03/how-­uncer­ tainty-­fuels-anxiety/388066/ Zugegriffen am 19.02.2019 Böhle F (2013) Handlungsfähigkeit mit Ungewissheit – Neue Herausforderungen und Ansätze für den Umgang mit Ungewissheit. Eine Betrachtung aus sozioökonomischer Sicht. In: Jeschke S, Jakobs E-M, Dröge A (Hrsg) Exploring Uncertainty. Ungewissheit und Unsicherheit im interdisziplinären Diskurs. Springer Gabler, Wiesbaden, S 281–294 Bröckling U (2017) Resilienz: Belastbar, flexibel, widerstandsfähig. In: Bröckling U (Hrsg) Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 113–139 Dalbert C, Radant M (2010) Ungewissheitstoleranz bei Lehrkräften. Journal für LehrerInnenbildung 10:53–57 Fergus TA, Valentiner DP (2011) Intolerance of uncertainty moderates the relationship between catastrophic health appraisals and health anxiety. Cogn Res Ther 35:560–565 Hempel L (2012) Gefühl und Selbstführung. Seneca und die Technologie der inneren Sicherheit. In: Metelmann J, Beyes T (Hrsg) Die Macht der Gefühle Emotionen in Management, Organisation und Kultur. Berlin University Press, Berlin, S 191–204 Klein S (2015) Alles Zufall. Die Kraft, die unser Leben bestimmt. Fischer, Frankfurt am Main Lantermann E-D, Döring-Seipel E, Eierdanz F, Gerhold L (2009) Selbstsorge in unsicheren Zeiten: Resignieren oder Gestalten. Beltz, Weinheim Rapgay L, Bystritsky A, Dafter RE, Spearman M (2011) New strategies for combining mindfulness with integrative cognitive behavioral therapy for the treatment of generalized anxiety disorder. Ration-­ Emot Cogn Behav Ther 29:92–119 Robichaud M, Dugas MJ (2015) The generalized anxiety disorder workbook: a comprehensive CBT guide for coping with uncertainty, worry, and fear. New Harbinger, Oakland Taleb NN (2013) Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. Knaus, München

127

Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber Ungewissheit und die therapeutische Beziehung 7.1

 ngewissheit, zwischenmenschlicher Umgang U und die kognitive Verhaltenstherapie – 129

7.2

 oll ich oder soll ich nicht? Ungewissheiten zu S Therapiebeginn – 131

7.2.1

 ngewissheiten in Bezug auf die eigenen U Probleme – 131 Ungewissheiten bezüglich des Beginns einer Psychotherapie – 133

7.2.2

7.3

 orauf habe ich mich da nur eingelassen? W Ungewissheiten im Laufe einer Psychotherapie – 133

7.3.1

 ie besonderen Ungewissheiten der kognitiven D Umstrukturierung – 136

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_7

7

7.4

 ie Rigidität des Gewissheitsverlangens und D wie man ihr in der therapeutischen Interaktion begegnen kann – 137

7.5

Ambivalente Veränderungsmotivation bezüglich der eigenen geringen Ungewissheitstoleranz – 138 Literatur – 139

129 7.1 · Ungewissheit, zwischenmenschlicher Umgang und die …

7

Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz bringen besondere Herausforderungen für eine Psychotherapie mit sich. Ihr extrem hohes und starres Gewissheitsverlangen kann sich natürlich auch auf die Therapie und den Therapeuten oder die Therapeutin richten, denn Ungewissheit ist ein inhärenter Bestandteil jeglicher Psychotherapie. Dies Ungewisse in der Psychotherapie löst ungewissheitstypisches Vergewisserungsverhalten aus, und die eigentümliche Starre des Gewissheitsverlangens birgt das Risiko einer geringen Zugänglichkeit für korrigierende Erfahrungen innerhalb der Psychotherapie. Die wichtigsten interaktiven Probleme, mit denen eine geringe Ungewissheitstoleranz konfrontiert, werden angesprochen und spezifische Lösungen für eine bessere Gestaltung der therapeutischen Beziehung vorgeschlagen.

Bisher liegen zwar nur sehr wenige Überlegungen und keine Studien bezüglich der Auswirkungen geringer Ungewissheitsintoleranz auf die therapeutische Beziehung und die therapeutische Interaktion vor, trotzdem lässt sich aus den raren Hinweisen jetzt schon schließen: Personen, die Ungewissheit nur sehr schwer ertragen können und daher beständig nach Gewissheit streben, bringen ganz besondere Herausforderungen für eine Psychotherapie mit sich. Denn schließlich gehört Ungewissheit zwangsläufig zu jeder Therapie: „Uncertainty is an inherent aspect of psychotherapy“ (Leite und Kuiper 2008, S. 55). Sie durchdringt dabei alle Phasen einer Psychotherapie: Soll ich überhaupt bei meinem Problem eine Therapie beginnen? Welches Psychotherapieverfahren soll ich wählen? Ist gerade diese Therapeutin für mich geeignet? Sind die Übungen wirklich hilfreich, die meine Therapeutin vorschlägt? Wann habe ich mein Ziel eigentlich erreicht und kann mit der Therapie aufhören? Solche ungewissheitsgesättigten Fragen stellen gerade für Klienten mit einem ausgeprägten Gewissheitsverlangen eine große Herausforderung dar. Und Psychotherapeutinnen und -therapeuten sollten sich auf die interaktiven Besonderheiten der Behandlung von Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz gut einstellen können  – allein schon wegen des großen Einflusses einer guten therapeutischen Beziehung auf den Therapieerfolg: Während ihr Einfluss früher, in der ersten Interaktionsbegeisterung, mit 30 Prozent überschätzt wurde, wird ihr heute immerhin noch ein Anteil von 5 bis 12 Prozent am Therapieerfolg zugeschrieben (Lammers 2017). Für Psychotherapeuten ist es daher von großer Bedeutung, sich sensibel der Ungewissheiten und Gewissheiten einer Psychotherapie bewusst zu werden, um sie für Klientinnen und Klienten mit geringer Ungewissheitstoleranz hilfreich gestalten zu können. Wo also lauert das Ungewisse in der Psychotherapie? Mit welchen Reaktionen auf diese Ungewissheiten ist bei Klienten mit geringer Ungewissheitstoleranz zu rechnen? Und welche Möglichkeiten bieten sich den Behandelnden, damit umzugehen? 7.1  Ungewissheit, zwischenmenschlicher Umgang

und die kognitive Verhaltenstherapie

Schon das kausale Zusammenwirken von Dingen in der materiellen Umwelt ist oft schwer vorherzusagen (Wird es morgen regnen?), aber der zwischenmenschliche Umgang strotzt nur so vor Unberechenbarkeiten. Menschen handeln schließlich nur selten

130

7

Kapitel 7 · Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber …

so vorhersehbar wie ein Durstiger, dem ein Glas Wasser gereicht wird. ­Gewöhnlich sind die verwobenen Hintergrundfaktoren so wenig bekannt wie die einer Person oft selbst kaum bewusste Architektur eigener Absichten, die eine Handlung grundieren  – eine Vorhersage ihrer Reaktion ist besonders schwierig. Dem ausgesprochen hohen Grad an Ungewissheit in zwischenmenschlichen Situationen begegnen Menschen in ihrem Zusammenleben häufig mit Standardisierungen, die das Unberechenbare berechenbarer werden lassen – mit Rollen, Gepflogenheiten oder bürokratischen Abläufen. Ein kleines Beispiel hierfür sind vorgefertigte Grußkarten. Sie verbinden den Anspruch, authentisch eigene Gefühle mitzuteilen, mit der Sicherheit, hierfür eine legitime Form zu benutzen, und schaffen so die Gewissheit einer positiven Reaktion: „In diesem Szenario der Steuerung von Risiken und Ungewissheit besteht der Wert gerade von Glückwunschkarten […]. Ihre Greifbarkeit bringt eine Konkretheit und Reduktion von Mehrdeutigkeit in den kommunikativen Austausch“ (West 2018, S. 173). Psychotherapien reduzieren nun wie Grußkarten die ungewisse Komplexität menschlicher Beziehungen durch eine ganze Reihe von Strukturen, durch mehr oder weniger klare Rollenbeziehungen und den bürokratischen Rahmen der Richtlinientherapie – so verwandeln sie einen Teil der zwischenmenschlichen Ungewissheiten in erwartbare Gewissheiten. Besonders die kognitive Verhaltenstherapie bringt durch ihre ausgeprägte Strukturiertheit eine ganze Menge an Gewissheit in die zwischenmenschliche Situation, schon durch ihr Selbstverständnis als eine Art Training in alltäglicher Wissenschaftlichkeit (7 Abschn. 1.3) und die damit verbundene Transparenz: Wissenschaft gilt ihr als erfolgreiches Modell für das Schaffen von wirklichkeitsnahen Bedeutungen und sinnvollem Handeln, erkennbar an Redewendungen wie der vom Menschen als praktischem Alltagswissenschaftler. Als wissenschaftliche Mitarbeiter haben die Ratsuchenden in der Therapie dabei ein Anrecht auf eine bestimmte Behandlung: Jeder Schritt sollte ihm oder ihr angemessen und überzeugend transparent gemacht werden, und jeder Behandlungsschritt, jede Hausaufgabe muss ihm oder ihr genau erklärt werden. Interventionen, deren Zwecke nicht völlig klar sind, werden in der kognitiven Verhaltenstherapie vermieden. Auch die anfängliche Vermittlung des Therapierationals beseitigt Ungewissheiten in Bezug auf das, was die Beratene oder der Patient von der Psychotherapie zu erwarten hat. Ist also bereits jegliche Psychotherapie eine durch bestimmte Strukturen in ihrer Komplexität und Ungewissheit reduzierte zwischenmenschliche Beziehung, so ist der Grad an Gewissheit in einer kognitiven Verhaltenstherapie besonders hoch. Daher ist sie möglicherweise für Personen mit einem besonderen Gewissheitsverlangen und einer geringen Ungewissheitstoleranz eine noch relativ leicht zu beginnende Therapieform. Trotzdem bleiben auch bei den Abläufen einer kognitiven Verhaltenstherapie immer noch genug Ungewissheiten übrig, um bei Personen mit einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) Angstgefühle, ausgeprägtes Sichsorgen und Vergewisserungsverhalten (7 Abschn. 5.1) zu aktivieren. Auch die Abläufe und Interaktionen in der kognitiven Verhaltenstherapie bleiben ein relativ kontingentes Geschehen, das in jedem Moment auch anders hätte verlaufen können und das immer auch zu überraschenden Ergebnissen führen kann.  



131 7.2 · Soll ich oder soll ich nicht? Ungewissheiten zu …

7

Und natürlich steht auch Beraterinnen und Psychotherapeuten eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz gut zu Gesicht. Schließlich stehen sie beständig vor der Aufgabe, die eigenen therapeutischen Pläne den oft unerwarteten und überraschenden Reaktionen ihres Gegenübers entsprechend zu verändern – eine solche überraschende Inkongruenz von Planung und wirklichem Geschehen sollten sie recht gleichmütig hinnehmen können. Auf einen dramatischen und zum Glück seltenen Fall wie den des einflussreichen Verhaltenstherapeuten David Burns ist bereits hingewiesen worden (7 Abschn. 1.3): Eines Vormittags findet Burns, so erzählt er („Coping with uncertainty and helplessness: The woman who decided to commit suicide“, Burns 1980, S. 368), den Brief einer Patientin unter der Tür seines Behandlungszimmers durchgeschoben, der – mit einem hohen Grad an Ungewissheit – darauf hinwies, dass sie möglicherweise vorhatte, sich umzubringen.  

7.2  Soll ich oder soll ich nicht? Ungewissheiten

zu Therapiebeginn

Ungewissheiten zu Beginn eine Psychotherapie sind nichts Ungewöhnliches. Schließlich befinden sich viele Patienten gerade in der Anfangsphase einer Therapie auch ohne eine besondere Intoleranz gegenüber Ungewissheit in einem demoralisierten und verunsicherten Zustand. Die Zeit um einen Therapiebeginn gilt ohnehin als eine „contemplation stage“ (Leite und Kuiper 2008, S. 58), also eine Phase intensiven Nachdenkens über Sinn und Unsinn einer therapeutischen Unterstützung. Viele Fragen, die hier auftauchen, signalisieren bereits einen hohen Grad an Ungewissheit bezüglich des eigenen Zustands: Kann man meine Schwierigkeiten überhaupt schon ein „psychisches Problem“ nennen? Lohnt es sich wirklich, dafür die Mühen einer Psychotherapie auf sich zu nehmen? Blockiere ich damit nicht nur für andere, denen es viel schlechter geht, einen der raren Therapieplätze? Und selbst wenn Menschen sich ein behandlungsbedürftiges Problem eingestanden haben und nun überlegen, etwas dagegen zu tun, warten neue Unklarheiten auf sie: Welche Form der Therapie sollte man wählen? Und bei wem? Wird die Therapie auch gut ausgehen? Eine gleichzeitig vorliegende geringe Ungewissheitstoleranz erschwert nun schon zu Therapiebeginn das notwendige Aushalten dieser Ungewissheiten. Personen mit einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) reagieren bereits in dieser Anfangsphase mit Varianten ihres typischen Vergewisserungsverhaltens, geraten häufiger in Sorge und empfinden Beunruhigung (7 Abschn.  5.1). Sie zaudern oder vermeiden eine Psychotherapie oder stellen auffällig viele Fragen an die Psychotherapeuten, um sich Gewissheit zu verschaffen.  

7.2.1  Ungewissheiten in Bezug auf die eigenen Probleme

Sich der unklaren Gemengelage eigener Probleme zu stellen, sie zu durchdenken und ihnen einen Namen zu geben sind ungewisse Unternehmungen. Schon dies Gewahrwerden, Eingestehen und Benennen psychischer Probleme kann durch eine geringe

132

Kapitel 7 · Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber …

Ungewissheitstoleranz stark behindert werden. Die betroffenen Personen reagieren häufig mit vermeidendem Vergewisserungsverhalten (7 Abschn.  5.1.3.2) auf erste Pro­ blemsignale: „These individuals may avoid becoming aware of any problems or d ­ ifficulties, since increasing awareness of these situations inherently involves increased uncertainty, which can be quite threatening“ (Leite und Kuiper 2008, S. 58). Die Einschätzung des eigenen emotionalen Zustands, der vorliegenden Beschwerden, wird hier vermieden, um ungewissen Fragen aus dem Weg zu gehen (Bin ich denn wirklich krank? Benötige ich wirklich eine Psychotherapie?). Schließlich würde ein solches Eingeständnis bedeuten, dass eine Veränderung nötig ist – mit wieder ungewissem Ausgang. Gerade zu Beginn der Psychotherapie können solche Fragen als annäherndes Vergewisserungsverhalten (7 Abschn.  5.1.3.1) auch dem Psychotherapeuten direkt gestellt werden: „Meinen Sie, mein Problem ist überhaupt groß genug, dass dafür eine Psychotherapie nötig ist? Nehme ich anderen nicht nur den Platz weg?“  



7

Fallbeispiel Jedes Mal gegen Ende einer Psychotherapiesitzung ist es wieder so weit. Den Kalender bereits in der Hand, wirft Frau B. ihrem Psychotherapeuten einen schwer zu deutenden, vielleicht flehentlichen Blick zu und fragt: „Meinen Sie wirklich, das ist noch nötig? Ist mein Problem denn wirklich schwer genug, um die Therapie noch fortzuführen? Nehme ich nicht anderen einen Platz weg, die es vielleicht nötiger haben?“ Alle Versicherungen, dass es gute Gründe gibt, weiterzumachen, nimmt sie mit Erleichterung auf. Jetzt ist ja alles klar … Aber schon in der nächsten Sitzung ist der Vorrat an Gewissheit, den diese Versicherungen mit sich brachten, längst wieder aufgebraucht. Die gleichen Fragen drängen sich wieder auf, gerade wenn die abschließende Terminabsprache die Weiterführung der Psychotherapie bewusst macht. Die erneuten Versicherungen beruhigen sie verlässlich. Sie klappt den Kalender zu – und dann gleich wieder auf: „Der nächste Donnerstag“, fragt sie noch schnell, „das war doch richtig jetzt, oder?“

Intoleranz gegenüber Ungewissheit sorgt für die Gefahr, dass die „contemplation stage“ einer Psychotherapie nie verlassen wird. Unter diesem Zaudern leidet auch die entschiedene und motivierte Mitarbeit. Daher ist es gerade bei geringer Ungewissheitstoleranz verstärkt sinnvoll, von therapeutischer Seite wiederholt auf die Notwendigkeit einer Veränderung aufmerksam zu machen – und so die Therapie- und Veränderungsmotivation des Patienten sowie sein Einlassen auf die Psychotherapie hoch zu halten. So wird auch einem möglichen vorzeitigen Therapieabbruch vorgebeugt: „individuals who are intolerant of uncertainty […] may need to perceive a greater necessity for change, in order to engage in the change process“ (Leite und Kuiper 2008, S. 61). Bei diesen Anfangsungewissheiten einer Psychotherapie handelt es sich zum Teil um objektive Ungewissheiten der Situation, zum großen Teil aber um subjektive Ungewissheiten der Ratsuchenden, bedingt durch deren begrenztes Wissen über psychische Krankheiten. In diesem Fall sollten die ersten Interventionen sich nicht darauf richten, Ungewissheit besser zu tolerieren, sondern durch Fachwissen und Edukation das subjektive Wissen der Betroffenen ergänzen – und ein Mehr an Gewissheit in diesen Fragen gewährleisten. Diese Interventionsrichtung wird auch zu anderen Zeitpunkten einer Psychotherapie bei geringer Ungewissheitstoleranz immer wieder eine Rolle spielen (7 Abschn. 9.4).  

133 7.3 · Worauf habe ich mich da nur eingelassen? …

7

7.2.2  Ungewissheiten bezüglich des Beginns einer Psychotherapie

Eine zweite Gruppe von Ungewissheiten dreht sich nicht um das psychische Problem, sondern um die Psychotherapie, die dagegen zur Hilfe gerufen werden soll – oder auch nicht. Bringt eine Therapie überhaupt etwas? Welches Psychotherapieverfahren passt zu meinen Schwierigkeiten? Und welche konkrete Therapeutin, welcher Therapeut passt zu mir und meinen Beschwerden? Angetrieben von ausgeprägtem Vergewisserungsverhalten, haben sich von geringer Ungewissheitstoleranz Heimgesuchte häufig bereits umgehört über die Wirksamkeit einer Psychotherapie – leider oft mit sehr widersprüchlichem Ergebnis: Die an einer Therapie Interessierten hören im Bekanntenkreis häufig widersprüchliche anekdotische Berichte über die Effektivität einer Psychotherapie. Solche Mehrdeutigkeiten sorgen dafür, dass die von geringer Ungewissheitstoleranz Betroffenen noch länger an die „comtemplation stage“ vor einer eigentlichen Therapie gebunden werden. Diese Fragen sind von besonderer Bedeutung, nicht nur, weil sie den Beginn einer Psychotherapie aufschieben, sondern auch, weil das Vertrauen in die Psychotherapie selbst schon ein ausgesprochen relevanter Wirkfaktor ist. Es beeinflusst über zumindest zwei Faktoren den Therapieerfolg: über das Vertrauen gegenüber dem Verfahren und der Psychotherapie allgemein, aber besonders über das Vertrauen eines Patienten, „dass seine Therapeutin die Expertise und die Fähigkeit hat, ihm zu helfen“ (Lammers 2017, S. 15). Man kann förmlich greifen, wie ein ausgeprägtes Gewissheitsverlangen im Rahmen einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) hier die therapeutische Beziehung beeinträchtigen kann. Vertrauen gilt als eine Möglichkeit, sich trotz aller Ungewissheiten auf eine schwer zu überschauende Lage wie eine Psychotherapie einzulassen. Es enthält ein hilfreiches Paradox: einer unsicheren Situation wider besseres Wissen ein gewisses Maß an Sicherheit zuzuweisen (7 Abschn. 3.3.3). Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz sind dazu nur ausgesprochen begrenzt in der Lage. Daher ist es solchen Klienten gegenüber gerade zu Therapiebeginn besonders sinnvoll, so viel Klarheit und Gewissheit wie nur möglich über die Therapie, deren Verlauf und den möglichen Ausgang zu vermitteln. Besonders gilt dies, weil die Erwartungen an die Effektivität einer Psychotherapie selbst schon wieder eine erfolgreiche Therapie vorhersagen. Die Relevanz einer ausführlichen Information zu Therapiebeginn, für die sich der Therapeut oder die Therapeutin ausreichend Zeit nimmt, kann man also gar nicht überschätzen: „Thus, with individuals who are intolerant of uncertainty, it may be particularly important for clinicians to discuss, at the beginning of therapy, the details of their therapeutic approach, how this approach is expected to help the client, and the findings that support the efficacy of the approach, in order to foster increased motivation and readiness for change in these clients“ (Leite und Kuiper 2008, S. 61).  

7.3  Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

Ungewissheiten im Laufe einer Psychotherapie

Der Wechsel von der „contemplation stage“ zur „action stage“ (Leite und Kuiper 2008, S. 59) einer Psychotherapie bringt neue Ungewissheiten mit sich. Ziele müssen vereinbart, Übungen ohne garantierten Ausgang durchgeführt, die mehr oder weniger klaren Anforderungen der Patientenrolle erfüllt werden. All diese Aspekte sind mit Ungewiss-

134

7

Kapitel 7 · Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber …

heit behaftet. Was genau will ich eigentlich erreichen? Führen mich gerade diese Interventionen dahin, oder erlebe ich unerwartete und unerwünschte Veränderungen? Was genau wird hier von mir als Patient erwartet? Auf diese herausfordernden Ungewissheiten reagieren Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz schnell mit ihren üblichen Strategien  – sie aktivieren ihr typisches Vergewisserungsverhalten, um die therapeutischen Ungewissheiten in Gewissheit zu verwandeln: noch mehr Informationen suchen, noch weitere Personen um Rat fragen, schließlich die ganze Sache einfach sein lassen oder auf die lange Bank schieben. Bei Beginn einer Psychotherapie warten mit der Übernahme der Patientenrolle neue ungewissheitsgeladene Aufgaben auf die Hilfe suchenden Personen: Therapieziele müssen vereinbart, neue Verhaltensweisen in Übungen erprobt werden – dazu kommt noch eine beständige Selbstöffnung, bei der die Reaktion des Gegenübers schnell unberechenbar erscheinen kann. Eine geringe Ungewissheitstoleranz kann all dies erschweren: Es kommt zu Problemen mit der therapeutischen Allianz. Schulenübergreifend ist das Konzept der therapeutischen Allianz oder therapeutischen Arbeitsbeziehung (Bordin 1979) wichtig geworden, das eine gute therapeutische Beziehung durch drei Faktoren modelliert: Übereinstimmung in den Zielen, Übereinstimmung in den therapeutischen Aufgaben sowie Techniken – und eine Beziehung, die auf Vertrauen und Wertschätzung beruht. Auch dies wirkt sich auf den Therapieerfolg aus, denn die Übernahme der Patientenrolle ist fast noch wichtiger als eine gelungene therapeutische Interaktion: „Ungefähr 30 Prozent der Wirksamkeit einer Psychotherapie ist auf die Person des Patienten zurückzuführen […]. Dies ist auf die unterschiedliche Fähigkeit bzw. Bereitschaft des Patienten zurückzuführen, die notwendige Patientenrolle einzunehmen“ (Lammers 2017, S. 48). Eine geringe Ungewissheitstoleranz kann dazu führen, dass eine Person andere Therapieziele als der Therapeut verfolgt: Sie begnügt sich schnell mit dem Ziel, die akute Belastung zu senken, und verzichtet darauf, Hintergrundprobleme anzugehen, die mit neuer Ungewissheit verbunden sind – es besteht die Gefahr, dass die Psychotherapie zu frühzeitig beendet wird: „To illustrate, a client who is intolerant of uncertainty and who is more distressed by her panic attacks than her social anxiety may choose to leave therapy once the distress associated with her panic attacks has subsided; and thus not want to remain in therapy to address the more basic underlying issues relating to her social anxiety“ (Leite und Kuiper 2008, S. 61). Auch therapeutische Aufgaben wie Konfrontationsübungen können bei geringer Ungewissheitstoleranz schnell als überfordernd erlebt werden. Schließlich enthalten sie viele unberechenbare Elemente. Erste Studien sprechen für eine Wechselwirkung von Intoleranz gegenüber Ungewissheit gerade mit Konfrontationsübungen. Eine geringe Ungewissheitstoleranz scheint sich zumindest auf die zwangstypische Exposition mit Reaktionsverhinderung innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie negativ a­ uszuwirken, denn erfolgreiche Konfrontationsübungen setzen schon ein gewisses Maß an Ungewissheitstoleranz voraus. Eine bereits verbesserte Ungewissheitstoleranz scheint hier auch die Wirksamkeit der Konfrontationstherapie zu verbessern (Fergus und Valentiner 2011). Unterschiedliche Ziele oder auch Probleme mit dem Durchführen von Aufgaben werden in der therapeutischen Interaktion oft spürbar durch Beziehungsbrüche, bei denen sich der Patient zurückzieht, abweisend reagiert oder Vorwürfe äußert (Lammers 2017). Treten die beschriebenen Beziehungsbrüche bereits früh in der Psychotherapie gehäuft auf, dann sollten sich Therapeut und Patient explizit gemeinsam die Frage stel-

135 7.3 · Worauf habe ich mich da nur eingelassen? …

7

len, ob weiterhin am zentralen psychischen Problem gearbeitet werden oder ob zuerst die Intoleranz gegenüber Ungewissheit direkt angegangen werden sollte: „It may also be beneficial for the therapist to first address clients’ intolerance of uncertainty so that they are less distressed by the uncertainty associated with the processes of change; and thus less likely to try to avoid uncertainty by using strategies that may impede the change process“ (Leite und Kuiper 2008, S. 62). Insgesamt gilt: Der Therapeut bzw. die Therapeutin muss sich für eine gute Arbeitsbeziehung auf die Erwartungen und auch auf die versteckten Bedürfnisse und Ziele eines Patienten einstellen. Das bedeutet, dass er bzw. sie dem ausgeprägten Gewissheitsverlangen bei geringer Ungewissheitstoleranz anfangs mit dem Bemühen um eine möglichst große therapeutische Klarheit entgegenkommen sollte. Gewissheit kann etwa durch den Expertenstatus geschaffen werden – der Therapeut stellt seine Expertise heraus, betont seine Ausbildung, seine jahrelange Berufserfahrung und bietet ein plausibles Erklärungsmodell der Beschwerden, der sinnvollen Therapieziele und der bevorstehenden Therapieaufgaben. Noch deutlicher als in Beziehungsbrüchen zeigen sich Verunsicherungen durch eine zu große Ungewissheit in der Therapie in Form von typischem Vergewisserungsverhalten (7 Abschn. 5.1.3). 55 Vermeidendes Vergewisserungsverhalten tritt bei Konfrontationsübungen, aber auch bei anderen Übungen auf, die Ungewissheit mit sich bringen. Mit Vermeidung und Verzögerungen bezüglich der Therapieaufgaben ist also zu rechnen. Davon können nicht nur behaviorale Reizkonfrontationen betroffen sein, sondern besonders auch die Auseinandersetzung mit belastenden Kognitionen oder Emotionen im Gespräch: „Clients who are more intolerant of uncertainty may show greater avoidance via behavioral or cognitive responses, in an effort to minimize the uncertainty and negative affect associated with change“ (Leite und Kuiper 2008, S. 61). 55 Annäherndes Vergewisserungsverhalten zeigt sich in der Therapie z. B. in verstärktem Nachfragen, Sichsorgen (7 Abschn. 5.1.1) oder einer ausgeprägten Informationssuche zwischen den Therapiesitzungen, nach der die offen gebliebenen Fragen wieder mit in die nächste Therapiesitzung gebracht werden. In der therapeutischen Interaktion verteilen sich die beiden Seiten des Sichsorgens oft auf die anwesenden Personen, wobei die beruhigende Seite dem Psychotherapeuten zukommen soll – so werden Konfrontationsübungen durch eine beständige Diskussion über die damit verbundenen Ungewissheiten aufgeschoben: Was, wenn die Angst bei der Konfrontationsübung einfach nicht nachlässt? Was, wenn ich bei der kognitiven Auseinandersetzung mit meinen depressiven Gedanken wirklich feststelle, dass ich ein Versager bin? Annäherndes Vergewisserungsverhalten, das in solchen Fragen Form annimmt, kann die Psychotherapie sehr aufhalten.  



Kommt dies Vergewisserungsverhalten im Laufe einer Psychotherapie häufig vor und behindert es die Therapie entscheidend, dann sollte der Therapeut bzw. die Therapeutin weniger dem Verlangen nach Gewissheit hinter den Fragen nachkommen und mögliche Auswirkungen erklären, sondern das Vergewisserungsverhalten selbst als Ausgangspunkt einer Exploration der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) nehmen – im Sinne einer „Problemaktualisierung in der therapeutischen Beziehung“ (Lammers 2017, S.  172). Das zentrale Schema eines Patienten, die geringe Ungewissheitstoleranz, erscheint in der therapeutischen Interaktion direkt aktiviert. Insgesamt ist es in der kog-

136

Kapitel 7 · Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber …

nitiven Verhaltenstherapie weniger üblich, mit einem solchen In-Session-Fokus zu arbeiten wie im folgenden Beispiel bei Vergewisserungsnachfragen zu Beginn einer Reizkonfrontationsübung.

7

55 Klientin (K): „Und wenn bei mir die Angst nicht nach etwa einer Stunde deutlich nachlässt? Was dann?“ 55 Therapeut (T): „Ihnen scheint es nicht zu reichen, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall ist … und dass es auch aus meiner Erfahrung heraus das ist, was so gut wie immer passiert.“ 55 K: „Fast sicher und wahrscheinlich … Das heißt ja, dass es auch anders kommen kann, oder? Ich wäre eben nur gern auf alle Eventualitäten vorbereitet.“ 55 T: „Interessant  – meiner Erfahrung nach reicht fast allen Patienten die Information aus, die ich auch Ihnen gegeben habe. Kommt das eigentlich öfters vor, dass Sie mehr Sicherheit brauchen als andere?“ 55 K: „Hm, wo Sie das ansprechen … Ich höre schon öfters von anderen, dass ich endlich mit diesem Fragen aufhören soll. Mein Freund sagt manchmal im Spaß, ich treibe ihn damit noch in den Wahnsinn.“ 55 T: „Das klingt, als ob Sie mit Ungewissheit nicht so gut leben können und mehr Gewissheit über das, was kommt, brauchen als andere.“ 55 K: „Ja, das kann man vielleicht so sagen.“ 55 T: „Und wenn Sie trotz aller Nachfragen keine absolute Gewissheit kriegen? Also wenn ich Ihnen z. B. gar nicht zufriedenstellend gewiss sagen kann, ob die Angst in der Konfrontationsübung wirklich nachlassen wird? Was passiert dann?“ 55 K: „Hm … Es kommt schon vor, dass ich dann solche ungewissen Dinge einfach vor mir herschiebe … Sie müssen mich da richtig verstehen! Ich will diese Übungen schon machen, wirklich … Aber nicht zu wissen, was dann kommt, nur so ungefähr, das kommt mir doch ganz schön heikel vor. Man muss doch schließlich auf alles gut vorbereitet sein, sonst …“ 55 T: „Sonst?“

7.3.1  Die besonderen Ungewissheiten der kognitiven

Umstrukturierung

Geringe Ungewissheitstoleranz erschwert aber nicht nur Konfrontationsübungen, sondern auch kognitive Veränderungen, wie sie in fast allen Sitzungen einer Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle spielen. Solche kognitiven Umstrukturierungen enthalten schließlich eine versteckte Entscheidung, die wie alle Entscheidungen eine Menge Ungewissheit in sich birgt: Will ich meine bisherige Überzeugung beibehalten oder aufgeben für eine alternative Überzeugung? Welche überraschenden Nebenwirkungen kann eine geänderte Grundüberzeugung mit sich bringen – für meinen Beruf, meine Partnerschaft? Und wird sie überhaupt garantiert gelingen? Wie steht es mit der Eigendynamik kognitiver Veränderung – wandeln sich andere Einstellungen möglicherweise automatisch, aber unerwünscht mit? Es können also ausgeprägte Sorgen bezüglich der Folgen einer Überzeugungsänderung auftreten: „To illustrate, they may ask themselves ‚what if I change my belief that most people are highly critical and thus make myself more vulnerable to being disappo-

137 7.4 · Die Rigidität des Gewissheitsverlangens und wie man ihr …

7

inted and hurt?‘ These individuals may continuously generate such ‚what if ‘ thoughts that identify potential outcomes, in an attempt to reduce the uncertainty associated with changing the belief, and to avoid making a decision that will lead to a negative outcome“ (Leite und Kuiper 2008, S. 61). Bei Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz können daher auch bei der kognitiven Umstrukturierung ein größerer Zeitaufwand und eine größere Menge von Argumenten nötig werden, bis sie sich entscheiden, von einer bisherigen Überzeugung abzulassen. Für die Behandelnden ist es auch hier wichtig, nicht ungeduldig und verärgert zu reagieren und diese Nachfragen nicht als eine unsinnige Störung, sondern als Teil des Problems  – ein Vergewisserungsverhalten im Rahmen einer geringen Ungewissheitstoleranz – anzusehen. Aber nicht nur der inhaltliche Wechsel von kognitiven Überzeugungen ist ungewissheitsbehaftet, sondern ebenso der Prozess der Umstrukturierung selbst – gerade das für die Kognitive Therapie von Aaron T. Beck typische geleitete Entdecken erschafft eine besonders ungewisse Situation. Entdecken ist hier sehr allgemein der Vorgang, durch den ein Patient irgendetwas Wichtiges an seinen Kognitionen herausfindet, ohne vom Therapeuten dazu überredet oder gedrängt zu werden. Inhaltlich kann dabei eine ganze Menge überraschend ans Tageslicht befördert werden: Ein Klient macht sich die übergreifenden Themen seiner automatischen Gedanken bewusst (1); er macht sich durch einen Rückblick in die eigene Lebensgeschichte die Gründe für die dauerhafte Präsenz einer Überzeugung plausibel (2); er deckt bisher verborgene Schlussfolgerungen oder Annahmen im eigenen Denken auf (3); er findet alternative Kognitionen, die er bereits in anderen Situationen anwendet (4); er macht sich die Konsequenzen bestimmter Kognitionen bewusst (5). Dem Therapeuten kommt dabei nur eine Art Hebammenfunktion zu, wenn er zu dieser Selbstentdeckung anleitet – er muss dabei behilflich sein, das bereits im Patienten verborgene Wissen auf die Welt zu bringen. Dazu stellt er vor allem eine Reihe von Fragen, um die Aufmerksamkeit des Klienten auf bestimmte Informationen zu lenken, die diesem noch nicht bewusst sind (Beck 1992; Greenberger und Padesky 1995; Scholz 2001). Man kann sich leicht vorstellen, wie sich ein derart sanft fragendes, sokratisches Vorgehen bei Personen mit einem hohen Gewissheitsverlangen auswirkt: Sie fühlen sich mit dem Hinterfragen ihrer Kognitionen in einem ungewissen Denkraum alleingelassen. Zumindest zu Beginn der Psychotherapie sollte man sie daher nicht zu sehr mit Fragen „grillen“, sondern sich auf direktive Weise klare Kommentare zugestehen und zudem auf die deutlichere, erfahrungsgesättigte Wirkung von Verhaltensexperimenten setzen, um so viel Gewissheit wie möglich anzubieten. Im Fortschreiten der Therapie kann aber gerade das geleitete Entdecken als Auslösebedingung von Ungewissheit eine sehr gute Übungssituation sein, um sich daran zu gewöhnen, das Ungewisse besser auszuhalten. 7.4  Die Rigidität des Gewissheitsverlangens und wie man ihr

in der therapeutischen Interaktion begegnen kann

Bei einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Ungewissheit wünschen die Betroffenen nicht nur dringend Gewissheit, sondern verlangen sie auf eine rigide und imperative Weise – es muss einfach sein! Geringe Ungewissheitstoleranz enthält eben immer auch die Facette eines exzessiven Gewissheitsverlangens (7 Abschn. 2.3.1), ist sogar manch 

138

Kapitel 7 · Das Ungewisse im zwischenmenschlichen Umgang – Intoleranz gegenüber …

mal über dieses definiert – als die „excessive tendency of an individual to consider it unacceptable that a negative event may occur, however small the probability of its occurrence“ (Dugas et al. 2001, S. 551). Selbst bei den besten Absichten kann von diesem rigiden Gewissheitsverlangen nicht abgelassen werden. Es wird als so fordernd erlebt, dass die Betroffenen es trotz hoher Kosten weiterverfolgen müssen. Die Überzeugung, unbedingt Gewissheit zu brauchen, sitzt bei ihnen sozusagen besonders fest. Schon diese Beschreibung deutet an, dass Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz relativ immun sind gegenüber manchen typischen Methoden eines kognitiv-­ verhaltenstherapeutischen Vorgehens. Wozu also eine Abwägung der Vor- und Nachteile eines typischen Vergewisserungsverhaltens oder Sichsorgens (7 Kap. 9), wenn das Phänomen geringer Ungewissheitstoleranz schon dadurch bestimmt ist, dass Betroffene selbst auf deutlich ersichtliche Nachteile nicht reagieren? Hier stellt sich also die He­ rausforderung an die therapeutische Interaktion, die Interventionen durch das interaktive Auftreten wirksamer zu machen. Wie auch bei der Zwangsstörung sollte die geringere Zugänglichkeit für korrigierende Informationen, die rational dargeboten werden, interaktiv auch bei Intoleranz gegenüber Ungewissheit berücksichtigt werden. Letztlich weisen alle Lösungsvorschläge dazu in zwei konträre Richtungen: Selbst Flexibilität zeigen und so ein Modell für das Gegenteil von Rigidität bieten, aber auch die Interventionen möglichst mit hoher Intensität präsentieren, um damit die Rigidität des Gewissheitsverlangens zu durchdringen. Auf der Seite hoher Intensität findet sich z. B. die Beobachtung, dass ein eher sanft fragendes, sokratisches Vorgehen bei kognitiver Rigidität wie von einer Teflonschicht abgleitet. Auch deshalb sollten Therapeutinnen und Berater, wie oben bereits empfohlen, Klienten mit geringer Ungewissheitstoleranz nicht zu sehr mit Fragen „grillen“, sondern sich auf direktive Weise klare Kommentare zugestehen. Ebenso zum Bereich Intensität zählen explizite Aufforderungen an den Patienten, sein Bestes zu geben, nicht zu nachgiebig und tolerant mit dem eigenen Gewissheitsverlangen zu sein. Aufseiten der Flexibilität steht vor allem ein Pluralismus der Interventionen: Therapeutinnen und Berater sollten eine möglichst breite Palette von kognitiven Interventionsmethoden einsetzen, methodisch also selbst nicht rigide, sondern flexibel sein. Funktioniert eine Technik nicht gleich, sollten sie mit dem Ratsuchenden etwas anderes probieren: „Warum gehen wir nicht weiter? Wir können ja später noch einmal darauf zurückkommen.“  

7

7.5  Ambivalente Veränderungsmotivation bezüglich

der eigenen geringen Ungewissheitstoleranz

Selbst wenn einer Person mit geringer Ungewissheitstoleranz die Nachteile ihres strikten Gewissheitsverlangens und der damit verbundenen Verhaltens- und Denkweisen sehr deutlich sein mögen, so bleibt die Veränderungsmotivation, toleranter mit ungewissen Lagen umzugehen, doch verständlicherweise ambivalent. Der Komplex der sechs Facetten geringer Ungewissheitstoleranz (7 Abschn. 2.3.1) ist quasi selbstverstärkend – warum sollte es denn auch sinnvoll sein, das eigene Gewissheitsstreben aufzuweichen, wenn Ungewissheit gefährlich und belastend ist, handlungsunfähig macht sowie ein fragwürdiges Licht auf die eigene Person wirft, kurz: wenn ein lockerer Umgang mit Ungewissheit derart viele Nachteile und Bedrohungen generiert?  

139 Literatur

7

Kein Wunder also, dass auch die anfängliche Veränderungsmotivation von Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz häufig ausgesprochen zwiespältig ausfällt. Sie sind sich zwar, wenn sie eine Psychotherapie anstreben, der negativen Auswirkungen ihres Gewissheitsstrebens und der damit verbundenen Anstrengungen und Blockaden durchaus bewusst, befürchten aber zumindest unausgesprochen häufig, dass seine Veränderung sie verwundbarer für die Gefahren hinter dem Ungewissen machen wird. Getrieben von dieser Sorge, können sie z. B. verabredete Therapieübungen verschleppen – aus der paradoxen Angst heraus, diese könnten zu gut wirken und durch ein geringeres Streben nach Gewissheit die bedrohliche Ungewissheit in ihrem Leben erhöhen. Widersprüchliche Motivationen verlangen eine besonders gründliche the­rapeutische Allianzbildung: „The therapeutic alliance and engagement are particularly important for disorders where there is ambivalence about treatment“ (Egan et al. 2014, S. 122). Hier wird die ausführliche Konzeptvermittlung von Intoleranz gegenüber Ungewissheit mit ihren sechs Bausteinen besonders wichtig: Sie verdeutlicht, dass bei einem ungewissheitsfreundlicheren Lebensstil noch lange nicht mit den bisher befürchteten Auswirkungen zu rechnen ist  – Ungewissheit ist nicht zwangsläufig gefährlich oder belastend. Es hilft der Therapie, die Veränderungsziele nicht allein auf die Facette eines übertriebenen Gewissheitsverlangens zu reduzieren (7 Kap. 6).  

Literatur Beck AT (1992) Kognitive Therapie der Depression. PVU, Weinheim Bordin ES (1979) The generalizability of the psychoanalytic concept of the working alliance. Psychother Theory Res Pract 16:252–260 Burns DD (1980) Feeling good. The new mood therapy. Signet, New York Dugas MJ, Gosselin P, Ladouceur R (2001) Intolerance of uncertainty and worry: investigating narrow specificity in a nonclinical sample. Cogn Ther Res 25:551–558 Egan SJ, Wade TD, Shafran R, Antony MM (2014) Cognitive-behavioral treatment of perfectionism. Guilford, New York Fergus TA, Valentiner DP (2011) Intolerance of uncertainty moderates the relationship between catastrophic health appraisals and health anxiety. Cogn Res Ther 35:560–565 Greenberger D, Padesky CA (1995) Mind over mood. Guilford, New York Lammers C-H (2017) Therapeutische Beziehung und Gesprächsführung. Beltz, Weinheim Leite C, Kuiper NA (2008) Client uncertainty and the process of change in psychotherapy: the impact of individual differences in self-concept clarity and intolerance of uncertainty. J Contemp Psychother 38:55–64 Scholz W-U (2001) Weiterentwicklungen in der Kognitiven Verhaltenstherapie. Pfeiffer, Stuttgart West E (2018) Authentizität in kommerziellen Glückwünschen. Die Grußkarte als Gefühlsware. In: Illouz E (Hrsg) Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Suhrkamp, Berlin, S 171–200

141

Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen 8.1

 ber die Notwendigkeit des geduldigen Ü Nachfragens – 143

8.2

 ie Exploration typischer Episoden geringer D Ungewissheitstoleranz und das individuelle Ungewissheitsprofil – 145

8.3

 as ABC der geringen D Ungewissheitstoleranz – 146

8.3.1 8.3.2

 ie Vermittlung des ABCs – 147 D Das A geringer Ungewissheitstoleranz: Situationen, in denen man nicht weiß, was kommt – 150 Das C geringer Ungewissheitstoleranz: Emotionen, Vergewisserungsverhalten und kognitive Prozesse explorieren – 154 Ziel-C: die situativen Ziele bei geringer Ungewissheitstoleranz erfragen – 157 Das B geringer Ungewissheitstoleranz: die belastenden Kognitionen ermitteln – 158 Beispiel für eine komplette Exploration einer Ungewissheitsepisode – 163 Zusätzliche Metakognitionen explorieren – 165

8.3.3

8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_8

8

8.4

 eringe Ungewissheitstoleranz – fehlende G Kompetenz oder mangelnde Ressource? – 166

8.5

 as am Ende steht: eine Fallkonzeption des W spezifischen Ungewissheitsprofils – 167 Literatur – 168

143 8.1 · Über die Notwendigkeit des geduldigen Nachfragens

8

Geringe Ungewissheitstoleranz bildet im konkreten Fall schnell ein unübersichtliches Durcheinander. Bei ihren sechs kognitiven Dimensionen und den komplexen Verbindungen, die diese mit psychischen Diagnosen unterhalten können, ist die Bedeutung einer ausführlichen, sensiblen Exploration der individuellen Ungewissheitsprofile daher kaum zu überschätzen. Welche Lebensbereiche sind von der Intoleranz gegenüber Ungewissheit betroffen? Welche konkreten Umstände aktivieren sie? Welche ihrer Dimensionen zeigen sich in den konkreten Gedanken und Grundannahmen? Zu welchen Emotionen und Handlungen führt gerade dieser eine ungewissheitsempfindliche Blick auf die Welt? Und welche konkreten Veränderungen wünscht sich gerade dieser Betroffene dabei? Jeder Therapeut, jede Therapeutin steht vor der anspruchsvollen Aufgabe, alle nötigen Informationen geschickt zu erheben, um diese Fragen gründlich zu beantworten. In diesem Kapitel werden daher ausführlich die einzelnen Aspekte vorgestellt, die zur Exploration jedes spezifischen Ungewissheitsprofils gehören.

Intoleranz gegenüber Ungewissheit zeigt nicht immer das gleiche Gesicht. Sie hat unterschiedliche Facetten (7 Abschn. 2.3.1), schlägt sich auch in sehr individuellem Vergewisserungsverhalten (7 Abschn. 5.1.3) nieder und bildet einen Baustein verschiedenster psychischer Diagnosen (7 Abschn. 5.3). Und auch innerhalb derselben Diagnose können die Ungewissheitsprofile individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Daher ist die Bedeutung einer ausführlichen Exploration des individuellen Ungewissheitsprofils kaum zu überschätzen. Welche Lebensbereiche sind von einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit betroffen? Welche konkreten Umstände lösen sie in diesen Lebensbereichen aus? Welche kognitiven Facetten der Intoleranz zeigen sich? Zu welchen Emotionen, Vergewisserungshandlungen und welchen gedanklichen Prozessen führt gerade dieser etwas wunde Blick auf die Ungewissheiten der Welt? Und welche konkreten Veränderungen wünscht sich gerade dieser Klient als Therapieziele (7 Kap. 6)? Jeder Therapeut, jede Therapeutin steht vor der anspruchsvollen Aufgabe, alle nötigen Informationen sensibel und geschickt zu erheben, um diese Fragen gründlich zu beantworten. In diesem Kapitel werden daher ausführlich die einzelnen Aspekte vorgestellt, die zur Exploration des spezifischen Ungewissheitsprofils eines Klienten gehören.  







8.1  Über die Notwendigkeit des geduldigen Nachfragens

Gerade in der veränderungsbegeisterten kognitiven Verhaltenstherapie ist die Exploration gegenüber der Intervention in den letzten Jahrzehnten immer etwas übersehen worden – manchmal derart gründlich, dass sich einflussreiche Neuerer schon in den 1990er-Jahren genötigt fühlten, eine Lanze für das geduldige Explorieren zu brechen: „Weil praktisch orientierte Schriften zur kognitiven Therapie typischerweise den umstrukturierenden Aspekt des Veränderungsprozesses betonen und die explorative Phase vernachlässigen, werden wir versuchen, dies Ungleichgewicht zu beseitigen“ (Safran und Segal 1990, S. 102, Übers. d. Autors). Ein solch ausführlicher Explorationsprozess ist manchmal zeitraubend, aber ausgesprochen lohnend, und er lohnt sich besonders dort, wo verschiedene Überzeugungen wie die sechs Facetten geringer Ungewissheitstoleranz eine zentrale Rolle spielen. Gerade solche „hot cognitions“ (Beck und Weishaar 1989, S. 29), also mit intensiven Gefühlen

144

8

Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

verbundene Gedanken, werden schließlich für Therapeuten überhaupt erst wirklich zugänglich, wenn ein Patient sehr anschaulich erneut in die erlebte Episode eintauchen kann. Konkretheit und Spezifität gelten daher als die zentralen Prinzipien, auf die bei einer kognitiven Exploration geachtet werden sollte. Es ist deshalb sinnvoll, jede kognitive Episode, der man sich in der Therapie näher widmet, mit vielen kontextuellen sinnlichen Details anzureichern. Dazu kann der Therapeut den Patienten auffordern, einfach langsamer zu werden und in Ruhe durch die eigene Beschreibung zu schlendern  – beide halten während dieser langsamen Schilderung häufiger inne und forschen nach Gefühlen, Gedanken und anderen Eindrücken. Eine solche Explorationstechnik sorgt für die nötige De-Automatisierung des gewohnten Wahrnehmungsprozesses und wendet sich minutiös kleinen Details zu. Vielleicht wird es die Neurowissenschaft einmal möglich machen, das scheinbar natürliche Erstzugangsrecht einer Person zum eigenen Innenleben zu umgehen, und es kommt in Therapien vermehrt zu Szenen, wie sie der Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger amüsiert fantasiert: „wenn ich sage: ‚Ich merke gerade, wie sehr ich meine Frau liebe, weil ich eifersüchtig bin!‘ Und der neurowissenschaftliche Experte der Zukunft sagt: ‚Tut mir leid, aber mit Liebe hat das nun wirklich nichts zu tun. Nach der neurophänomenologischen Taxonomie der Weltgesundheitsorganisation ist das einfach eine bürgerlich-neurotische Verlustangst‘“ (Metzinger 2006, S. 28). Bis dahin gilt aber das unhintergehbare Primat der Erste-Person-Perspektive gegenüber der DrittePerson-­Perspektive – man wird eben fragen müssen. Bei der Introspektion richtet der Einzelne absichtlich seine konzentrierte Aufmerksamkeit auf sein Innenleben. In Alltag und Therapie wird sie dabei gewöhnlich ganz umstandslos als ein Hineinschauen in den eigenen Geist mit einer Art innerem Auge gedacht: „Was geht Ihnen dazu gerade durch den Kopf? Schauen Sie einmal genau hin.“ Noch Adrian Wells betont diese Wahrnehmungsähnlichkeit: „Gedanken und Überzeugungen werden gewöhnlich direkt erlebt wie Sinneswahrnehmungen, wie ein Mensch das Geräusch einer tickenden Uhr hört oder Schneeflocken auf ein Dach fallen sieht“ (Wells 2011, S. 23). Möglicherweise trügt aber dieser Eindruck intuitiver Unmittelbarkeit: Gedanken oder Gefühle werden zwar unmittelbar erlebt, aber dies bewusste Erleben ist ein zutiefst komplexes und zusammengesetztes, auch kulturell geprägtes Phänomen (z. B. Rosenthal 2006). Eine gekonnte Exploration verlangt also nicht nur Geduld und Sensibilität, sondern zudem ein geschicktes Ausbalancieren zwischen dem Heraufbeschwören einer emotionalen Szene und einer behutsamen Distanzierung von genau diesem Erleben. Gerade die therapeutische Situation ist zum Glück dadurch gekennzeichnet, dass sie beides zugleich erlaubt: das emotionale Aufgewühltsein im Erleben einer belastenden Situation und parallel dazu eine Möglichkeit, die dabei auftretenden Kognitionen mit einem gewissen Abstand zu berichten und zu prüfen. In diesem Equilibrium von emotionalem Erleben und Distanz liegt einer der interaktiven Reize gerade kognitiver Therapien. Bei einem komplexen Phänomen wie der Intoleranz gegenüber Ungewissheit einer ausführlichen individuellen Exploration ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen – dafür sprechen eine ganze Reihe guter Gründe: Zunächst ist das Phäno­ men Ungewissheitstoleranz vielfältig und besitzt verschiedene kognitive Facetten (7 Abschn.  2.3.1); außerdem ist ihr Verständnis in der Psychotherapie aktuell noch deutlich im Fluss, und weitere Forschung zur Ungewissheitstoleranz wird immer wie 

145 8.2 · Die Exploration typischer Episoden geringer …

8

der eingefordert; nicht zuletzt scheint geringe Ungewissheitstoleranz bei derart vielen psychischen Störungen eine wichtige ursächliche Rolle zu spielen (7 Abschn. 5.3), dass es sich lohnt, ein besonders wachsames Auge auf diese Verbindungen zu haben; und schließlich hilft eine ausführliche Exploration vielen Patienten dabei, ihre geringe Ungewissheitstoleranz und deren negative Seiten gründlicher zu durchdringen und so überhaupt erst die begrifflichen Grundlagen für deren Bewusstwerdung zu erlangen sowie die anfangs möglicherweise bestehende Ambivalenz der Veränderungsmotivation zu überwinden (7 Abschn. 7.5). Gründe genug also, sich den individuellen Verästelungen der Intoleranz gegenüber Ungewissheit umfänglich zu widmen.  



8.2  Die Exploration typischer Episoden geringer

Ungewissheitstoleranz und das individuelle Ungewissheitsprofil

Geringe Ungewissheitstoleranz wird sichtbar als eine Gruppe von emotionalen, kognitiven und Verhaltensreaktionen in einer ungewissen Situation. Im Kern wird Intoleranz gegenüber Ungewissheit dabei aber als ein kognitives Phänomen modelliert – sie gilt als eine Persönlichkeitseigenschaft, „a fundamental personality disposition to be highly intolerant of uncertainty“ (Kuiper et al. 2014, S. 546), die in Form automatischer Gedanken und Grundüberzeugungen ans Tageslicht kommt. Es handelt sich um verzerrte Überzeugungen hinsichtlich der Notwendigkeit von Gewissheit, verbunden mit der Unfähigkeit, mit Ambiguität, Neuheit und Unvorhersehbarkeiten angemessen umzugehen (7 Abschn. 2.3). Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz spüren das Ungewisse bereits in normalen Situationen auf, die von Personen ohne diese Unverträglichkeit gar nicht als besonders unbestimmt registriert werden. Auf eine solche übersensible Identifikation von Auslösesituationen folgt ein individuelles Muster von Überzeugungen: Betroffene bewerten solche Situationen z. B. als Gefahr oder als handlungshemmend und reagieren darauf häufig mit Angstgefühlen oder exzessivemn Sichsorgen. Zentrale Aufgabe der Exploration ist es, eine Reihe von Ungewissheitsepisoden, typische Beispiele für das individuelle Ungewissheitsprofil, zu erfragen – die zentralen Kognitionen, ihre auslösenden Umstände und die emotionalen, kognitiven und Verhaltensfolgen. Aus diesen konkreten Ungewissheitsepisoden lässt sich schließlich das individuelle Ungewissheitsprofil kondensieren, das auch als überblickshafte Fallkonzeption dient.  

Aspekte eines individuellen Ungewissheitsprofils



Am Ende der Exploration sollten zumindest vorläufige Antworten auf folgende Fragen vorliegen: 1. Auslösende Umstände 55 Welche Lebensbereiche sind durch eine geringe Ungewissheitstoleranz geprägt? 55 Welche Situationen in diesen Lebensbereichen sind typische Auslöser einer solchen Intoleranz gegenüber Ungewissheit?

146

Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

2. Kognitionen 55 Welche der sechs kognitiven Facetten kommen vor? 55 Welche nicht? 3. Verhalten, Kognitionen oder Emotionen 55 Welche Gefühle löst eine ungewisse Situation und deren Bewertung aus? 55 Kommt es zu typischem Vergewisserungsverhalten (vermeidend oder annähernd?) infolge der Intoleranzüberzeugungen? Zu welchem konkret? 55 Kommt es gedanklich vermehrt zu einem Sichsorgen oder verwandten kognitiven Prozessen? 4. Die Beziehung zu anderen Problemen 55 Gibt es eine Verbindung zwischen der Intoleranz gegenüber Ungewissheit und einer oder mehreren psychischen Störungen (z. B. Generalisierte Angststörung, Zwangsstörung)? 55 Gibt es eine Verbindung zwischen der geringen Ungewissheitstoleranz und anderen Problemen, die keinen Störungswert haben (z. B. Stress, chronische Überlastung, Beziehungsschwierigkeiten)?

8 8.3  Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

Ungewissheitsepisoden, ihre Auslöser, die an ihr beteiligten Grundüberzeugungen und ihre Folgen lassen sich sehr gut in das klassische ABC kognitiver Therapien einfügen. Das ABC-Schema gilt als einflussreichstes Erbstück der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) für die gesamte kognitive Verhaltenstherapie, wo es inzwischen überall in der einen oder anderen Gestalt die zentrale Analyseeinheit bildet (David et al. 2005). Demnach folgen auf die aktivierenden Ereignisse oder Auslöser (A) eine Reihe von Kognitionen (B), die wiederum emotionale, behaviorale und neuerdings auch kognitive Konsequenzen (C) nach sich ziehen (. Tab. 8.1). Damit ist es anschaulicher Ausdruck des kognitiven Störungsmodells, das – kurz gesagt – behauptet, dass verzerrtes oder dysfunktionales Denken, welches Stimmung und Verhalten des Patienten beeinflusst, ein gemeinsames Merkmal aller psychischen Probleme ist. Eine realistische Neubewertung und Modifikation des Denkens durch die Therapie führt daher zu einer Verbesserung der Stimmung und einem veränderten Verhalten (Dobson und Dozios 2001; Beck 1999).  

..      Tab. 8.1  Das ABC-Modell A

Auslöser (activating event, adversity)

B

Bedeutungen, Befürchtungen, Bewertungen (beliefs)

C

Konsequenzen (consequences): – emotionales C – behaviorales C – kognitives C

147 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

8

..      Tab. 8.2  Beispiel einer Ungewissheitsepisode A

Auslöser (activating event, adversity)

Situativ: Wahrnehmen, dass der erwachsene Sohn nicht zur üblichen Zeit von der Arbeit kommt Gedanklich: „Was, wenn ihm nun etwas passiert ist?“

B

Bedeutungen, Befürchtungen, Bewertungen (beliefs)

Ungewissheitskognitionen: –U  ngewissheit bedeutet Gefahr („Er könnte einen Unfall gehabt haben. Deswegen ist er noch nicht da … vielleicht auch noch auf der Autobahn“) – I ch brauche unbedingt Gewissheit („Ich muss unbedingt wissen, was mit ihm los ist“) –U  ngewissheit ist belastend, unerträglich („Ich halte diese Ungewissheit einfach nicht mehr aus“) – Ungewissheit paralysiert mich („Was soll ich nur machen?“) – F ehlt: Ungewissheit ist unfair (Dimension 6), Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich (Dimension 5)

C

Konsequenzen (consequences)

– Emotionales C: Angst –B  ehaviorales C: Annäherndes Vergewisserungsverhalten (anrufen, häufig aus dem Fenster sehen) –K  ognitives C: Sichsorgen (wiederholtes Durchspielen aller möglichen Szenarien für die Verspätung des Sohns)

Eine komplette Ungewissheitsepisode besteht nun aus allen Elementen des ABCs: der allgemeinen Problemsituation mit ihren besonders problemrelevanten Aspekten (A), den belastenden Kognitionen (B) und den emotionalen, kognitiven und behavioralen Reaktionen (C). Nach einer gelungenen Exploration sind also alle Felder des ABCs mehr oder weniger ausführlich besetzt (. Tab.  8.2)  – die ersten Interventionen, das ­Hinterfragen und Umstrukturieren belastender Kognitionen können beginnen. Und aus einer Reihe solche Ungewissheitsepisoden lässt sich schließlich überblickshaft das Ungewissheitsprofil eines Klienten kondensieren.  

8.3.1  Die Vermittlung des ABCs

Bei Therapie und Beratung bezüglich geringer Ungewissheitstoleranz und ihrer Folgen ist es sinnvoll, das ABC gleich zu Beginn einzuführen – es fördert allgemein das Verständnis eines Patienten für das Konzept und die damit verbundenen Kognitionen, ebenso ermöglicht es einen konkreten Einblick in die Details der eigenen kognitiven Vulnerabilität. Um das ABC zu vermitteln, bieten sich prinzipiell zwei Wege an: von einem eigenen Erlebnis des Patienten oder von einem allgemeinen Beispiel aus. Beim ersten Weg erfragt der Therapeut die Elemente des ABCs, angefangen z. B. mit einer belastenden Emotion, einem Vergewisserungsverhalten oder dem kognitiven C des Sichsorgens. 55 T: „Können Sie irgendeinen Moment in den letzten Tagen erinnern, wo Sie bei sich dieses ausgeprägte Sichsorgen bemerkt haben, von dem Sie beim letzten Mal gesprochen haben? Können Sie mir ein bisschen mehr darüber erzählen?“

148

Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

Noch näher am aktuellen therapeutischen Geschehen ist es, wenn eine direkt in der Sitzung auftretende Situation zur Vermittlung des Modells ausgewählt wird – also ein In-Session-Fokus (Safran und Segal 1990). Einen In-Session-Fokus zu nutzen ist in der kognitiven Verhaltenstherapie noch immer nicht sehr verbreitet: Selbst bei erfahreneren Therapeutinnen und Therapeuten machen in einer Untersuchung die Sprecherzüge, welche sich auf die Therapie selbst beziehen, nur durchschnittlich 4,3 Prozent einer Sitzung aus. Und nur in knapp einer Sitzung pro Therapie nimmt eine solche „in vivo work“ (Kanter et al. 2005, S. 370) einen bedeutsamen Teil der Therapiestunde ein. Dabei kommt es beileibe nicht selten zu Ungewissheitserleben in der Psychotherapie selbst (7 Kap.  7), also zu einer „Problemaktualisierung in der therapeutischen Beziehung“ (Lammers 2017, S. 172): Erscheint z. B. ein Klient in ängstlicher Stimmung in der Sitzung oder verfällt er überraschend in Schweigen, bietet sich eine gute Gelegenheit dazu. Da es in diesem frühen Therapiemoment noch nicht um eine vertiefte Exploration einer Problemsituation geht, sondern die Modellvermittlung den Mittelpunkt bildet, reichen sehr allgemeine Fragen aus.  

8

55 T: „Können Sie sich erinnern, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, als Sie gerade aufgehört haben, mit mir zu reden?“ 55 K: „Hmmm … Ich habe wohl angezweifelt, dass meine Probleme es überhaupt wert sind, eine Psychotherapie anzufangen.“ 55 T: „Sie dachten also: ‚Ich sitze hier wegen so nichtiger Sachen‘? Oder eher: ‚Kann der mir überhaupt helfen?‘ So in etwa? Und wie haben Sie sich dabei gefühlt?“

Nachdem die verschiedenen Erfahrungselemente erfragt sind, kommt der kniffligste Moment in der Modellvermittlung: das Herausstellen der Rolle der Kognitionen zwischen Situation und Emotion und, daran anknüpfend, die nähere Vorstellung des ABCs. 55 T: „Können Sie mir jetzt nach dem Beispiel den Zusammenhang zwischen Gedanken und Gefühlen in Ihren eigenen Worten erklären?“ 55 K: „Na ja, es scheint, dass meine Gedanken einen Einfluss darauf haben, wie ich mich fühle.“ 55 T: „Genau diesen Zusammenhang versucht man in der Therapie mit einem sehr bekannten Modell zu beschreiben. Es nennt sich ABC-Modell. Ich schreibe es Ihnen einmal an.“ (Schreibt das Beispiel in ein ABC an der Tafel.) „Sehen Sie, jeder Buchstabe steht für etwas …“

Für die zweite Variante – eine Vermittlung des ABCs durch allgemeine, mehr oder weniger originelle Beispiele  – liegt eine ganze Reihe von Vorschlägen vor. Der Anfang kann mit einer prägnanten Formulierung des kognitiven Grundgedankens gemacht werden, etwa „Man fühlt sich so, wie man denkt“. 55 T: „Sehen Sie, die Grundvorstellung psychischer Probleme in der kognitiven Therapie ist ganz einfach – man kann sagen: Die Brille durch die wir die Welt sehen, bestimmt, wie es uns geht … Ich würde Ihnen die Rolle der Gedanken für unsere Gefühle gern an einem Beispiel noch anschaulicher machen.“

149 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

8

Darauf folgt das Beispiel – immer mit einem ähnlichen Prozedere der Vermittlung: Ein und dieselbe Situation wird mit unterschiedlichen Gedanken versehen, aus denen sich anschaulich meist sehr verschiedene Gefühle und Verhaltenstendenzen ergeben. 55 T: „Sie sind in einem Einkaufszentrum und sehen plötzlich eine ganze Reihe von Menschen Richtung Ausgang laufen. Sie könnten nun denken: ‚O nein, es muss eine Bombendrohung gegeben haben, einen Angriff von Terroristen!‘ Wie würden Sie sich dann fühlen? Wie verhalten?“

Der Therapeut hat natürlich die Möglichkeit, das Beispiel komplett edukativ zu vermitteln, indem er die Situation heraufbeschwört, die verschiedenen Gedankenvarianten vorspricht und die zugehörigen Gefühle benennt – damit wird aber ein wertvoller erster Einblick in die Eignung eines Klienten für eine kognitive Therapie, dessen Fähigkeit, interne Prozesse wie Gedanken und Gefühle zu benennen und zuzuordnen, verschenkt. Informativer (und lebhafter) ist ein Vorgehen, bei dem der Therapeut nur in die Situation einführt und darauf einen Gedankenstrom anschaulich vorspricht – die Aufgabe, diesem ein Gefühl und ein Verhalten zuzuordnen, überlässt er aber dem Patienten. Es lohnt sich dabei, die verschiedenen inneren Monologe ausführlich auszuschmücken und nicht nur wenige karge Gedanken zu intonieren, um die Identifikation mit der Szene zu erleichtern. Abschließend wird auch hier das ABC, möglichst an einer Tafel, vorgestellt, und die verschiedenen Varianten des Beispiels werden eingefügt (. Tab. 8.3).  

..      Tab. 8.3  Allgemeine Beispiele zur Vermittlung des ABC-Schemas A (aktivierendes Ereignis)

B (Bewertungen, Befürchtungen, Gedanken)

C (emotionale und behaviorale Konsequenzen)

Auf einer langen, einsamen Wanderung in Kanada gerät man in eine Bärenfalle

a) G  edanken an lebensbedrohliche Gefahren, daran, dass man verhungert ohne Hilfe, dass ein Bär auftaucht

a) Angst, blinder Aktionismus

b) Gedanken an die Kette eigener Unglücke, von denen dies nur eins ist

b) Resignation, keine Handlung

c) G  edanken an die Personen, die einem diese Lage eingebrockt haben

c) Wut, impulsives Handeln

a) G  edanken an eine Bombendrohung

a) Angst, Flucht

b) G  edanke an Sonderangebote auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum

b) Neugier, Annäherung

Wahrnehmen, wie im Einkaufszentrum eine Reihe von Leuten zum Ausgang stürmt (Wilhelm und Steketee 2006)

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

8.3.2  Das A geringer Ungewissheitstoleranz: Situationen,

in denen man nicht weiß, was kommt

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Personen mit ausgeprägter Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) sind besonders sensibel gegenüber dem Ungewissen. Geringe Ungewissheitstoleranz wirkt wie ein beständig aktivierter Filter, „through which the worried individual views and responds to the world“ (Koerner und Dugas 2008, S. 620). Durch diese Sensibilität für das Ungewisse wird also die Aufmerksamkeit für ungewisse Umstände so geschärft, dass oft sogar schon relativ neutrale Stimuli als beladen mit Ungewissheit erscheinen (Carleton 2012; Carleton et  al. 2012)  – die ganze Alltagswelt scheint voller Ungewissheiten zu sein. Trotzdem gibt es natürlich subjektiv besonders aktive Zonen des Ungewissen und in ihnen individuell unterschiedliche situative Hotspots, die es nun ausfindig zu machen gilt. Auf den ersten Blick wirkt das Erfragen auslösender Umstände bei geringer Ungewissheitstoleranz völlig unproblematisch – entlang von Fragen wie „Was genau ist geschehen?“, „Was genau haben Sie wahrgenommen?“, „In welcher Situation haben Sie sich solche Sorgen gemacht und so oft bei anderen nachgefragt, um sich Gewissheit zu verschaffen?“ Aber jede Situation besteht aus vielfältigen, sinnlich wahrnehmbaren, mehr oder weniger bedeutungsvollen Aspekten. In einer Problemsituation finden sich häufig emotional sehr verstörende Aspekte neben völlig indifferenten: Ein schöner, einsamer Waldweg unter schattigen Buchen an einem warmen Sommertag … irgendwo in der Ferne bellt ein Hund … aber da ist auch die Abwesenheit eines Telefons, mit dem man bei einem Herzinfarkt schnell Hilfe rufen könnte. Diese Hotspots einer Situation, die ungewissheitsrelevanten Aspekte der Umstände, die eng mit belastenden Kognitionen und emotionalen Belastungen verbunden sind, gilt es herauszufinden (Dryden et  al. 2010) – am besten, indem man eine „Was-daran“-Frage nachreicht: „Was genau an dieser Situation war für Sie eigentlich derart brisant/angstauslösend?“ Wenn sich das Auffinden der relevanten Situationselemente als schwierig herausstellt, ist auch folgendes Vorgehen möglich: „Stellen Sie sich die gerade beschriebene Situation vor – welcher Aspekt daran müsste sich in Luft auflösen, damit Ihre Angst davor fast verschwunden wäre?“ (Man kann auch alle Aspekte der Situation auflisten und dann versuchsweise einzelne streichen und dabei die Veränderung des Gefühls oder der Verhaltenstendenz beobachten.) (Dryden 2001). Auch hier bieten sich wieder kleine Zeichen von Ungewissheit oder Vergewisserungsverhalten innerhalb der Therapiesitzung für einen sinnvollen Ausgangspunkt der Exploration an – der In-Session-Fokus. 55 T: „Also … Sie haben ja von den Sorgen um Ihren Sohn während dessen Arbeit berichtet. In welchen Situationen genau treten diese denn auf?“ 55 K: „Ach, eigentlich den ganzen Tag über.“ 55 T: „Und wann sind sie besonders intensiv?“ 55 K: „Mhmm, mal überlegen … Ich weiß eigentlich, wann er gewöhnlich von der Arbeit zurückkommt. Und da er ja direkt in der gleichen Straße wohnt und diesen amerikanischen Oldtimer mit dem lauten Motor fährt, da höre ich natürlich, ob er zurückkommt. Und wenn ich dann um 14 Uhr dieses Geräusch nicht höre … und auch zehn Minuten später noch nicht … dann fangen die Sorgen an.“

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151 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

..      Tab. 8.4  Formen des Unbestimmten Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

Unklarheit



Vagheit

Unwissen

Vielgestaltigkeit



Ambiguität (Mehrdeutigkeit)

Ungewissheit, Risiko (mehrere mögliche Zukünfte)

55 T: „Hmhm. Was daran ist besonders angstauslösend?“ 55 K: „Dass er jetzt eigentlich zurück sein sollte, wenn alles normal läuft, es aber nicht ist. Und dass ich nicht weiß, was ihn aufgehalten haben könnte. Dass ich das einfach nicht weiß, das macht mich rasend.“

Manche Autoren empfehlen auch, direkt nach den Lebensbereichen zu fragen, in denen die geringe Ungewissheitstoleranz auftritt: „In welchen Lebensbereichen können Sie Ungewissheit nur schwer ertragen?“ Lebensnäher ist es aber wohl, diese aus mehreren konkreten Situationsanalysen gemeinsam zu erschließen: „Ist das gerade in dem Bereich eigentlich öfters so?“ Auch andere vorgeschlagene Explorationselemente zu den Lebensbereichen bezahlt man eigentlich zu teuer in der Münze eines Verlusts an Lebensnähe – so bewirkt etwa das Bemühen, die verschiedenen ungewissheitsintoleranten Bereiche in eine Rangreihe zu bringen, wohl eher eine Bürokratisierung des Innenlebens als einen entscheidenden Informationsgewinn. Durchaus sinnvoll für spätere Interventionen (7 Kap. 9) ist es dagegen, Ausnahmebereiche ausfindig zu machen, in denen der Betroffene sehr gut mit Ungewissheit umzugehen versteht. Diese können später als Modell für einen angemessenen Umgang mit Ungewissheiten auch in den ungewissheitsempfindlichen Lebensbereichen dienen. Ist die auslösende Situation für eine Ungewissheitsreaktion einmal derart konkret besprochen, dann ist es für den Therapeuten wichtig, sich darüber klar zu werden, um welche konkrete Form des Unbestimmten es sich eigentlich handelt (. Tab.  8.4, 7 Abschn. 3.1). Auch wenn für die Patientinnen und Patienten diese Unterschiede anfangs keine Rolle spielen mögen, öffnen sie doch wichtige Wege für spätere Interventionen (7 Kap. 9).  







8.3.2.1  Klärung der Zeitebene

Ungewissheit und die Schwierigkeiten mit ihr sind zeitlich klar umrissen: „IU refers explicitly to uncertain future events“ (Rosen et al. 2014, S. 62). Es sind Situationen einer unbestimmten Zukunft, bei denen unklar ist, was passieren wird, oder offen ist, was die Folgen einer eigenen Handlung sein werden: Wie wird das Blutbild beim Arzt ausfallen? Werde ich die Prüfung bestehen? Damit unterscheidet sich Ungewissheit von anderen Formen des Unbestimmten und Unklaren auf der Zeitebene: Natürlich kann man auch unsicher sein über Vergangenes (War mein Vater uneingestanden homosexuell?) oder Gegenwärtiges (Was wird von mir in der aktuellen Situation eigentlich erwartet?). Das Vage, um das es bei der Ungewissheit geht, ist also nur eine Form des Unklaren, wie es dem Klaren und Geordneten,

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

dem Absehbaren und gut Strukturierten gegenübersteht (7 Abschn. 3.1). Mit Ambiguität bezeichnet man z. B. eine andere Form, die sich auf der Zeitebene von der Unbestimmtheit unterscheidet: die Mehrdeutigkeit einer gegenwärtigen Situation. Welche Form von geringer Toleranz gegenüber Unklarheit liegt nun im konkreten Fall vor? Geringe Ungewissheitstoleranz (Zukunft)? Geringe Ambiguitätstoleranz (Gegenwart)? Geringe Fähigkeit, unklare Dinge in der Vergangenheit aushalten zu können (hier gibt es keinen festen Begriff in der Psychologie)? Von der Patientenseite aus scheinen diese Feinheiten zuerst irrelevant – eine unklare Situation in der Gegenwart (Ambiguität) wird hier ohne große Umstände ebenso als Ungewissheit bezeichnet wie eine mehr oder weniger wahrscheinliche Zukunft (Risiko) – oder überhaupt eine unklare Zukunft, bei der nicht einmal mögliche Ausgänge vorstellbar sind (Unwissenheit). Noch eine weitere Unterscheidung ist hier von therapeutischem Wert: Steht die ungewissheitsbeladene Situation konkret bevor, oder handelt es sich eher um „hypothetical problems“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 25)? Werden bei meinem Auto in der Werkstatt, in der es schon steht, gravierende Probleme gefunden (konkret bevorstehendes Problem)? Wenn ich im nächsten Jahr in den Urlaub fliegen sollte, wird dann das Flugzeug abstürzen (hypothetisches Problem)? Beide Gruppen ungewisser Situationen bieten später unterschiedliche therapeutische Ansatzpunkte (7 Kap. 9).  

8



8.3.2.2  Klärung des Unbestimmtheitsgrads

Wie unbestimmt erleben die Betroffenen die konkrete Situation nun genau? Erscheint ihnen die Zukunft völlig vage? Haben sie alternative Ausgänge im Kopf, aber diese erscheinen ihnen alle gleich möglich? Oder können sie Wahrscheinlichkeiten für deren Eintreten schätzen? So meint z. B. Vagheit oder Unwissen, über Gegenwart oder Zukunft gar nichts Näheres zu wissen, Ambiguität und auch Ungewissheit bedeuten hingegen eher Mehrdeutigkeit – also das Vorliegen mehrerer konkurrierender Vorstellungen, was etwas bedeuten könnte. Von Risiko spricht man, wenn sogar Eintretenswahrscheinlichkeiten geschätzt werden können. Alle diese Formen des Unbestimmten haben eins gemeinsam: „you can’t be sure what will happen. Therefore, the outcome of the situation and how you’ll handle it are both uncertain“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 105). Aber oft bietet eine Situation mit einem subjektiv besonders starken Unbestimmtheitsgrad (das Ungewusste oder Vage) therapeutisch noch die Möglichkeit, die Situationsstruktur „upzugraden“, ihr also durch gemeinsames Überlegen mehr Kontur und damit mehr Bewältigungsmöglichkeiten zu geben – ein wichtiger zusätzlicher therapeutischer Ansatzpunkt (7 Abschn. 9.4). Denn der Grad des Unbestimmten liegt oft nicht allein in der objektiven Situation, sondern ebenso in der subjektiven Unwissenheit eines Patienten, die abgebaut werden kann.  

8.3.2.3  Klärung der inhaltlichen Bereiche der Ungewissheit

Es gibt bisher wenig Forschung dazu, welche Lebensbereiche von geringer Ungewissheitstoleranz besonders betroffen sein könnten. Es sind eben Ungewissheiten im „everyday life“ (Koerner und Dugas 2006, S.  212): Im Alltag finden ständig Wahlen oder Entscheidungen statt, die immer mit einem gewissen Grad an Ungewissheit verbunden sind – man weiß einfach nie bis ins letzte Bescheid über alle Handymodelle, die man kaufen könnte, über die Versicherung, die man abschließen sollte, die Wohnung, die man mieten könnte, über das, was morgen passiert. Gerade wegen dieser Offenheit ist

153 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

8

eine konkrete Exploration besonders wichtig, um die im individuellen Fall betroffenen Lebensbereiche zu identifizieren. Wo erträgt jemand Ungewissheit nur sehr schwer? Wo geht er erstaunlich selbstverständlich und unproblematisch mit ihr um? Besondere Aufmerksamkeit verlangt die Beziehung zwischen Ungewissheit und Gefahr: Handelt es sich beim genannten A um eine Gefahrensituation, oder ist das Moment der Ungewissheit zentraler? Grundsätzlich sollte für den Problembereich dieses Buches gelten: „‚uncertain‘ stimuli may be superior to ‚threat‘ stimuli“ (Dugas et al. 2005, S. 68), aber oft ist eine genaue Klärung erst anhand der an die Situation anknüpfenden Kognitionen möglich. Häufig liegen in der beschriebenen Situation auch beide Momente vor – Gefahr und Ungewissheit: Gerade durch die geringe Ungewissheitstoleranz wird das Ungewisse erst mit dem Gefährlichen in Verbindung gebracht. Studienergebnisse bestätigen dies: Insgesamt erleben Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz alle Szenarien als bedrohlicher als eine Vergleichsgruppe, aber ganz besonders die ungewissen Szenarien (Koerner und Dugas 2006). Es lohnt sich, neben den unterschiedlichen Lebensbereichen auch äußere und innere Ungewissheitsauslöser zu unterscheiden: Wie selbstverständlich denken Psychotherapeuten und -therapeutinnen, die über das Thema Ungewissheit schreiben, an eine Ungewissheit, die von den Umständen der äußeren Welt ausgeht – man weiß eben nie genau, wie z. B. andere Personen reagieren werden. In der Antike dachte man dagegen eher an zwei Orte der Ungewissheit: das Außen der ungewissen Lebensumstände und das Innen eigener ungewisser Impulse, Gefühle oder Leidenschaften (Hempel 2012): Wird mir mein Gedächtnis bei der Prüfung einen Streich spielen? Wird mich meine Bequemlichkeit morgen beim Training einfach überwältigen? Zuletzt hängt es sehr von den weiteren Rahmenbedingungen ab, wie Personen Überraschungen empfinden: Im Urlaub beispielsweise sind die meisten Menschen viel stärker als im Alltag bereit, sich auf Unerwartetes einzulassen. Selbst das Verlaufen auf einer Wanderung, das sie zu Hause fluchen ließe, können sie auf Reisen als ein aufregendes Intermezzo verbuchen, das sie sogar in ihren bleibenden Anekdotenschatz aufnehmen. Fallbeispiel Während der Therapie konnte Frau W. ihren Umgang mit Ungewissheit langsam verbessern. Sie machte sich auch weniger Sorgen um einen möglichen Unfall ihres Sohns – allerdings waren ihre Fortschritte nicht kontinuierlich, sodass sie sich nicht sicher sein konnte, dass es nun Tag für Tag besser werden würde. Eigentlich eine durchaus typische und normale Entwicklung in einer erfolgreichen Psychotherapie. Nun aktivierte aber gerade diese „Tagesform“, wie sie es nannte, ihre geringe Ungewissheitstoleranz: Mal war eben ein guter, mal ein schlechter Tag … einfach nicht wirklich absehbar. Und so fing sie an, sich abends darüber Sorgen zu machen, ob der nächste Tag wohl ein guter oder ein schlechter sein würde. Alle möglichen Einflussfaktoren wurden auf die Goldwaage gelegt: War der vergangene Tag eher ein guter oder schlechter gewesen? Dann würde der nächste vielleicht anders ausfallen. Aber ganz sicher war das natürlich auch nicht. Schließlich hatte sie schon oft genug auch mehrere gute Tage hintereinander erlebt. Hatte sie am vergangenen Tag Aufregungen oder Belastungen aushalten müssen? Dann könnte sich das schlecht auf die Tagesform des nächsten Tages auswirken. Oder auch nicht  – schwer zu sagen. Hatte sie gut oder schlecht gegessen? Womöglich

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

spätabends noch? Aber eigentlich wusste sie gar nicht, ob das eine Rolle spielte. Wie gut würde sie nur am nächsten Tag die anstehenden Ungewissheiten aushalten können? Lange lag sie dann wach … Das war wieder einmal schwer zu ertragen: nicht zu wissen, was kommt.

Im Beispiel handelt es sich um eine klassische, auf das Kommende ausgerichtete Ungewissheit. Wie groß würden die Sorgen und Ängste der Patientin um ihren Sohn am nächsten Tag ausfallen? Es geht nicht um eine bloß hypothetische, sondern um eine konkret anstehende Situation, die Schwankungen ihrer bereits vorhandenen geringen Ungewissheitstoleranz und das damit verbundene Vergewisserungsverhalten und Sichsorgen. Der Grad an Ungewissheit ist mittel: Die beiden anstehenden Alternativen sind ihr nur zu gut bekannt, aber nicht deren Wahrscheinlichkeit (sodass kein näheres Risiko zu bestimmen ist): gute oder schlechte Tagesform und damit eine eher hohe oder geringe Ungewissheitstoleranz. Inhaltlich geht es um einen „inneren“ Ungewissheitsauslöser – die Ungewissheit über die Stärke der eigenen Ungewissheitstoleranz am nächsten Tag.

8

8.3.3  Das C geringer Ungewissheitstoleranz: Emotionen,

Vergewisserungsverhalten und kognitive Prozesse explorieren

Klienten suchen für gewöhnlich nicht aufgrund einer besonderen Eigenschaft wie geringer Ungewissheitstoleranz oder Perfektionismus eine Psychotherapie auf („Ich muss unbedingt an meiner geringen Ungewissheitstoleranz arbeiten!“), sondern um sich von quälenden, häufig auftretenden Emotionen zu befreien oder unangenehme Verhaltensweisen zu ändern. In der kognitiven Verhaltenstherapie gelten Emotionen und Verhalten dabei als postkognitive Phänomene, und so stehen sie als „C“ im ABC-Modell, im Sinne von Konsequenzen („consequences“) – den Folgen belastender Gedanken oder Überzeugungen. Für die Ratsuchenden dagegen sind sie die „eigentlichen“ Schwierigkeiten und verdienen allein schon von daher intensive Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt der zu explorierenden Emotionen steht dabei natürlich ihre Qualität: Ist jemand wütend, neidisch, ängstlich, euphorisch, traurig? Neben der Qualität des Gefühls werden häufig dessen Stärke und Dauer als wichtig angesehen – und ­entsprechend erfragt. Stärke- und Belastungsgrad lassen sich auf Skalen von 0 bis 100 oder 0 bis 10 einschätzen, wobei der Therapeut die höchste Ziffer als stärkste bisher erlebte Gefühlsreaktion bzw. extremste bisher erfahrene Belastung beschreibend vorgeben kann. Die explorativen Fragen ergeben sich wie von selbst: 55 „Können Sie einmal genau beschreiben, wie Sie sich in der Situation gefühlt haben?“ 55 „Wie stark würden Sie Ihre Angst einschätzen, auf einer Skala von 0 bis 10?“ 55 „Wie lange hielt Ihre Angst eigentlich an?“ Was empfinden nun Personen, die sich mit mehr Ungewissheit auseinandersetzen müssen, als sie vertragen? Allgemein kommt es zu „substantial discomfort“ (Leite und Kuiper 2008, S. 55), wenn Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz auf solche unklaren Umstände treffen. Sie erleben Frustration und Stress, wenn z.  B. etwas ohne

155 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

8

Gewissheit entschieden werden muss. Präziser kommt es häufig zu Angstgefühlen (7 Abschn. 5.1.2). Eine allgemein menschliche „fear of the unknown“ (Carleton et al. 2016, S. 58) tritt hier gesteigert auf. Vergegenwärtigt man sich, dass außerdem eine der sechs kognitiven Überzeugungen, die immer wieder mit Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) in Verbindung gebracht werden (7 Abschn. 2.3.1), die Konfrontation mit Ungewissheit als unfair bewertet („Mit derart viel Ungewissheit konfrontiert zu werden ist einfach ungerecht!“), dann sollte bei geringer Ungewissheitstoleranz auch mit Ärgergefühlen und Empörung gerechnet werden. Mehr als die eher mittlere, aber länger anhaltende Angst stehen bei den direkten Folgen geringer Ungewissheitstoleranz allerdings die äußeren wie inneren Bemühungen um erneute Gewissheit im Mittelpunkt  – das Vergewisserungsverhalten und das Sichsorgen. Neben dem Ziel, so erneut Klarheit zu gewinnen, bieten sie auch eine Möglichkeit, intensive Emotionen zu vermeiden bzw. zu verhindern (Becker und Margraf 2016). Die Verhaltensweisen bei geringer Ungewissheitstoleranz – das behaviorale C – sind als Vergewisserungsversuche zu verstehen, mit denen die Ungewissheit einer Lage reduziert werden soll. Wie eine Art „Gewissyphus“ versuchen die Betroffenen so langwierig wie oft vergeblich, durch belastende Verhaltens- oder Denkweisen trotzdem eine  – letztlich unerreichbare  – Gewissheit zu erzielen. Die Vergewisserungsversuche weisen dabei in zwei Richtungen: annäherndes und vermeidendes Vergewisserungsverhalten. Die konkreten Manifestationen des annähernden Vergewisserungsverhaltens sind mannigfaltig. Solches „approach safety behavior“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 118) kann sich z. B. als exzessives Kontrollverhalten zeigen (der Briefkasten, die E-Mails werden beispielsweise immer wieder durchgesehen). Häufig kommt es auch zu einer übertriebenen Informationssuche. Wirklich alle Medizinseiten im Internet werden bei einer vagen Unpässlichkeit nach möglichen Ursachen durchsucht – „intolerance of uncertainty has been linked to the need for a greater number of certainty cues in order to make a decision and greater response latency when making a decision“ (Grad 2011, S. 6). Aufgaben werden nicht delegiert, sondern selbst erledigt, um Gewissheit über deren Ergebnisse zu haben (für eine ausführlichere Aufstellung: 7 Abschn. 5.1.3.1). Zur Gruppe des „avoidant (or escape) safety behavior“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 118) kann alles gehören, was hilft, dem Unklaren komplett aus dem Weg zu gehen, also Verhaltensweisen, die die befürchtete Folge vermeiden oder aufschieben: Verabredungen werden abgesagt, ein neues Restaurant wird nicht besucht, Arztbesuche werden aufgeschoben. Menschen mit großer Intoleranz gegenüber Ungewissheit stürzen sich auch oft in ablenkende Aktivitäten, um sich nicht mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen, die Ungewissheit enthält. Eine interessante Variante des vermeidenden Vergewisserungsverhaltens ist das „partial commitment“ (Robichaud und Dugas 2015, S.  123): Man verpflichtet sich nur halb gegenüber Menschen und Situationen, hält alles immer etwas auf Distanz. Ein weiteres Vermeidungsverhalten ist das schnelle, impulsive Treffen von Entscheidungen ohne viel Überlegen – so vermeiden die Betroffenen, die volle Verantwortung für die Folgen zu haben, wenn etwas schiefgeht. Man schiebt die Auswahl eines Restaurants auf, nimmt dann das nächstbeste, das noch einen Tisch frei hat, und wenn es nicht gut ist, dann liegt es an den Umständen (für eine ausführlichere Aufstellung: 7 Abschn. 5.1.3.2).  







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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

Auch hier ergeben sich die explorativen Fragen wie von selbst: 55 „Können Sie einmal ganz genau beschreiben, wie Sie sich in der Situation verhalten haben?“ 55 „Wie haben Sie versucht, die Ungewissheit in den Griff zu kriegen?“ 55 „Wie haben Sie sich nach Ihrer ersten Reaktion verhalten?“ 55 „Hat sich diese Situation auch langfristig auf Ihr Verhalten ausgewirkt? Haben Sie etwas Besonderes gemacht oder abgesagt?“

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Üblicherweise werden ausschließlich Gefühle und Handlungen in der Exploration des ABCs erfragt, aber verschiedene aktuelle Ansätze dehnen den Bereich von C über die emotionale (z. B. Angst) und behaviorale Komponente (z. B. Aufschieben, Kontrollieren) weiter aus – auf physiologische (muskuläre Anspannung, Kopfschmerzen), interpersonale (anderen Aufgaben abnehmen, sich schnell entschuldigen) und kognitive Konsequenzen. Auch hier sind die explorierenden Fragen offensichtlich: 55 „Wie reagierte Ihr Körper dabei?“ 55 „Was ging Ihnen nach der Situation noch durch den Kopf?“ 55 „Welche Sorgen haben Sie sich danach gemacht?“ Besonders die kognitiven Konsequenzen – das kognitive C – spielen nun bei Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz eine bedeutende Rolle. Sie sind ein wichtiges Verbindungsglied zwischen geringer Ungewissheitstoleranz und psychischen Störungen – als Sichsorgen bei der Generalisierten Angststörung, als Post-Event Processing (PEP) bei der Sozialen Phobie, als mentale Neutralisierung bei der Zwangsstörung, als Grübeln bei der Depression (7 Abschn. 5.3). Auch diese gedanklichen Prozesse gelten bei vorliegender Intoleranz gegenüber Ungewissheit als Versuche, doch noch Gewissheit in einer ungewissen Situation zu erlangen: Es wird schon noch klarer werden, wenn ich nur lange genug drüber nachdenke. Das Sichsorgen scheint dabei besonders eng mit geringer Ungewissheitstoleranz verbunden zu sein (7 Abschn. 5.1.1). Sorgen bestehen gewöhnlich aus zwei Komponenten, die sich über eine lange Zeit abwechseln: an negative Konsequenzen denken – und da­ raufhin problemlösende Gedanken generieren, wie damit fertig zu werden wäre. Typischerweise beginnen sie daher mit einer „Was-wäre-wenn“-Frage: „Worry […] is thought to reduce distress over uncertainty and its associated affects […] and increase, at least the perception of, control over future outcomes“ (Boswell et al. 2013, S. 632). Es ist auch denkbar, dass die ausgemalten Katastrophen mit eher unterbrechenden Gedanken kombiniert auftreten („Ach komm! Jetzt hör endlich auf damit!“).  



Fallbeispiel Herr S. steht unruhig am Fenster. Es regnet. Nicht dass er gleich rausmüsste. Seit er berentet ist, ist er ganz Herr seiner Zeit. Aber er macht sich Sorgen um seinen Keller. Er denkt an den Fleck. Seit etwa einem Jahr bildet sich dort in einer Ecke immer ein kleiner dunkler Fleck, wenn es regnet. Am nächsten Tag ist er dann wieder weg, der Fleck. Was kann das nur sein? Irgendwie Feuchtigkeit, wahrscheinlich nichts Schlimmes, aber wer weiß? Er sollte sich wahrscheinlich einfach nicht darum kümmern, aber das Unklare daran lässt ihn einfach nicht los. Anfangs ist er sofort in den Keller gegangen, wenn es angefangen hat zu regnen, immer wieder, um die Entwicklung des dunklen Flecks zu verfol-

157 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

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gen. Er hat ihn betastet, hat sich hingekniet, um ihn genauer ins Auge zu fassen. Inzwischen macht er genau das Gegenteil: Er vermeidet es, selbst in den Keller zu gehen. Gelegentlich überredet er seine Ehefrau, nachzusehen, die zwar mit den Augen rollt, aber seinem Wunsch doch meistens nachkommt. „Und? Wie ist es unten?“, fragt er dann. „Wie immer.“ Doch egal, was er macht oder lässt, die Sache beschäftigt ihn gedanklich über Stunden. Was, wenn die Grundmauern des Hauses durch eindringendes Wasser beschädigt sind? Er müsste vielleicht doch einmal einen Fachmann bestellen, der sich das ansieht. Aber wenn der nichts findet, weil es gerade nicht regnet? Und wenn letztlich sogar das Haus einstürzt? Er ist ja zum Glück versichert. Aber wenn herauskommt, dass er gegen das Wasser nichts gemacht hat? Dann steht er vielleicht ohne Haus und ohne Geld da. Wird er vielleicht sogar obdachlos? „Ach komm! Jetzt hör endlich auf damit!“ So herrscht er sich dann innerlich oft an. Aber schon nach einer kurzen inneren Stille beginnen die Zweifel erneut.

8.3.4  Ziel-C: die situativen Ziele bei geringer

Ungewissheitstoleranz erfragen

In diesem Schritt der Exploration skizziert der Therapeut mit dem Patienten ein situatives Ziel. Oft wird dieser Schritt als etwas Selbstverständliches ausgelassen, aber bei eher ungewohnten Problemen wie einer geringen Ungewissheitstoleranz und ihren Folgen lohnt es sich schon, für eine bleibende Veränderungsmotivation einen positiven Zielzustand gemeinsam zu konkretisieren: Wie will sich der Klient in einer ungewissen Situation in Zukunft fühlen, verhalten? Wie will er denken? Es geht um die Auswahl eines angemessenen Gefühls, einer realistischen, konstruktiven Handlung und einer passenden gedanklichen Beschäftigung für die analysierte Ungewissheitsepisode (Dryden et al. 2010). Dafür ist genau hier in der konkreten Analyse der richtige Moment: An dieser Stelle der Exploration hat der Klient die Nachteile seines bisherigen Umgangs mit Ungewissheit direkt vor Augen – z. B. zeitraubendes Sichsorgen oder bohrende Angstgefühle – und kann sich so leichter alternative, erwünschtere Reaktionen vorstellen und sie formulieren. Der erste Schritt ist dabei, die Nachteile der aktuellen Reaktionen bewusst zu machen und so nebenbei die Veränderungsmotivation zu stärken – so soll es doch nicht bleiben, oder? Eine Reihe von weiteren Fragen hilft Klienten dabei, das Unangemessene oder Quälende der eigenen Gefühle, Denk- und Verhaltensweisen zu prüfen – und angemessenere Alternativen anzuzielen: 55 „Hat Ihnen Ihr Gefühl/Verhalten eigentlich dabei geholfen, die ungewisse Situation erfolgreich zu meistern? Oder hat es Sie daran gehindert?“ 55 „Was hat Ihre Angst, Ihre Sorgen, Ihr Vergewisserungsverhalten ausgerichtet?“ 55 „Was würde es langfristig für Ihr Leben bedeuten, wenn Sie sich in ähnlichen Situationen weiterhin so fühlen/verhalten?“ 55 „Wie würden Sie gern, wenn alles gut läuft, in Zukunft in solchen Situationen reagieren?“ 55 „Was würden Sie gewinnen/verlieren, wenn Sie Ihr Gefühl/Verhalten/Ihre kognitiven Reaktionen in der Situation auf diese Weise ändern würden?“

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

..      Tab. 8.5  Beispiel für den Rahmen einer Ungewissheitsepisode

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A

Auslöser (activating event, adversity)

Situativ: Der Sohn geht während seiner LKW-Fahrten bei einem Anruf nicht an sein Handy Gedanklich: Ungewissheit, warum er sich nicht meldet („Was ist da nur los?“)

B

Bedeutungen, Befürchtungen, Bewertungen (beliefs)

?

C

Konsequenzen (consequences)

Emotionales C: eine mittelstarke, aber länger anhaltende Angst

Emotionales Ziel-C: leichte Enttäuschung

Behaviorales C: wiederholtes Anrufen, Aufschieben anderer Vorhaben, den Ehemann um Beruhigung ansprechen

Behaviorales Ziel-C: Erledigung der vorgenommenen Aufgaben

Kognitives C: exzessives Sichsorgen

Kognitives Ziel-C: keine Szenarien gedanklich durchspielen

Für viele psychische Probleme ist die angestrebte Veränderung nur eine Selbstverständlichkeit: Die situativen Ziele einer phobischen Reaktion sind Angstreduktion in der Situation und der Wechsel von Vermeidungs- zu Annäherungsverhalten. Aber gerade für unübersichtlichere Phänomene wie die Intoleranz gegenüber Ungewissheit kann die Wichtigkeit von explizit und klar formulierten Veränderungszielen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Oft ist eine alternative Umgangsweise, eine konkrete Vorstellung, wie man mit ungewissen Situationen auf eine andere Weise umgehen sollte, nicht sofort denkbar und griffbereit. Wie soll man es denn sonst machen? Es ist zwar belastend, aber ist es nicht selbstverständlich, sich Sorgen zu machen und ängstlich zu sein? Alles dafür zu tun, sich zu vergewissern? Ist nun auch das Ziel-C geklärt, so hat die Exploration schon große Fortschritte gemacht: Der komplette Rahmen einer Ungewissheitsepisode liegt vor, und es kann mit der Suche nach den Ungewissheit generierenden Kognitionen begonnen werden (. Tab. 8.5).  

8.3.5  Das B geringer Ungewissheitstoleranz: die belastenden

Kognitionen ermitteln

Aufgabe des Therapeuten ist es nun, den Patienten dabei zu unterstützen, seine Gedanken und Überzeugungen innerhalb einer Ungewissheitsepisode ausfindig zu machen und zu verbalisieren. Der Königsweg zu den Gedanken eines Menschen besteht sicherlich darin, dass er selbst seine Kognitionen ausspricht – auf anregende Fragen der Therapeu-

159 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

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tin oder des Therapeuten hin. Vielen Menschen sind ihre Gedankenströme auch spontan und unkompliziert zugänglich, und sie äußern sie differenziert und freimütig. Aber das ist nicht unbedingt selbstverständlich – es ist keineswegs fraglos gegeben, seine eigenen Gedanken zu haben, sich ihrer bewusst zu werden: Die Reproduktion innerer Erlebnisse in der Therapie ist eher ein fluider Konstruktionsprozess, und es ist eine durchaus kunstvolle Aufgabe, Klienten dazu zu verhelfen, die eigenen Gedanken zu lokalisieren. Diese Fragilität und unwillkürliche Flüchtigkeit von Kognitionen wird oft beschrieben: „Automatische Gedanken existieren neben dem offensichtlicheren Gedankenstrom, tauchen spontan auf und basieren nicht auf Nachdenken oder gründlicher Überlegung“ (Beck 1999, S. 77). Zudem findet sich oft ein komplexes Zusammenspiel zwischen dem Bewusstwerden von Kognitionen und ihrem Bericht: Zum einen kann eine Person sich ihrer Gedanken wohl bewusst sein, aber es ist ihr zu peinlich, sie auszusprechen. Sie schließlich doch zu äußern (gegenüber einem akzeptierenden Therapeuten) kann bereits dazu beitragen, die eigenen Gedanken mehr zu akzeptieren, und den Boden für eine Umbewertung bereiten. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass ein Patient sich zwar seiner Konstruktionen im Allgemeinen bewusst ist, sie aber erst im zwischenmenschlichen Austausch der Therapie differenzierter konstruiert und versteht: Gedanken nehmen manchmal erst im Mund konkrete Gestalt an. Schon allein das Beobachten, Aufschreiben oder Aussprechen eigener Kognitionen führt oft zu einer spontanen Einsicht und zu mehr Distanz zum eigenen Denken. Von einem sensiblen, aufmerksamen Therapeutenverhalten hängt also nicht nur ab, welche Kognitionen ein Klient ausspricht, sondern auch, welcher er sich überhaupt bewusst wird oder sogar, welche er „hat“. Daher findet sich häufiger die Empfehlung, beim Erfragen relevanter Kognitionen „gently persistent“ (Beck 2005, S.  212) zu sein: Die befragte Person profitiert sehr davon, wenn man geduldig kurz innehält und nach eventuellen weiteren Kognitionen fragt – z. B., indem man einen bereits geäußerten Gedanken wiederholt und daraufhin fragt: „Was ist Ihnen noch durch den Kopf gegangen? Und was noch?“ Da der Rahmen des ABCs einer Ungewissheitsepisode bereits vorliegt, lässt sich nun etwas genauer nach auftretenden Gedanken fragen, indem die Emotionen, das Verhalten oder das Sichsorgen als Bezugspunkt aufgenommen werden. Dieser Fragetyp ist gezielter und hilft daher, aus den vielen Kognitionen, die einem Menschen in einer Situation durch den Kopf gehen, die „key automatic thoughts“ (Beck 2005, S. 234) zu ermitteln – die Schlüsselgedanken also, die in inhaltlichem Zusammenhang mit der Ungewissheitsepisode stehen: 55 „Was ging Ihnen (in dieser Szene) durch den Kopf?“ 55 „Waren Sie sich irgendwelcher Gedanken bewusst?“ 55 „Welche Gedanken haben Sie daran so sehr geängstigt?“ 55 „Welche Gedanken treiben Sie eigentlich an, sich so zu vergewissern?“ 55 „Welche Gedanken steckten eigentlich dahinter, dass Sie sich solche Sorgen gemacht haben?“ 55 „Können Sie Ihre Angst so beschreiben, als wäre sie ein Gedanke?“

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

8.3.5.1  Wonach suchen? Das kognitive Syndrom geringer

Ungewissheitstoleranz

Mit dem Sammeln solcher automatischen Kognitionen sollte sich eine gründliche Exploration geringer Ungewissheitstoleranz jedoch nicht zufriedengeben. Ihr geht es vor allem darum, das individuelle Profil an Grundüberzeugungen einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit herauszuarbeiten  – das Ungewissheitprofil. Welche von den sechs Facetten geringer Ungewissheitstoleranz bilden also jeweils die individuelle ko­ gnitive Architektur des Problems? Welche der sechs Überzeugungen prinzipiell zentral ist und wie die sechs kognitiven Schemata ineinandergreifen, ist umstritten. Oft wird die Gefahreneinschätzung in den Mittelpunkt gerückt: Wird ein Mensch mit Ungewissheit konfrontiert, nimmt er z. B. nach dem transdiagnostischen Modell geringer Ungewissheitstoleranz (7 Abschn. 2.3.2) zuerst eine Gefahreneinschätzung vor – er stellt sich mögliche negative Konsequenzen vor, spielt in einer mentalen Simulation verschiedene mögliche Zukunftsvarianten durch. Aber diese Gefahrenein- oder -überschätzung reicht nicht aus, um zu Sorgen, Vergewisserungsverhalten und starker Anspannung zu führen. Es muss zumindest noch ein Verlangen nach Gewissheit hinzukommen. Erst dann akzeptieren die Betroffenen die Ungewissheit einer Situation nicht und bemühen sich, diese wieder zu beseitigen und Gewissheit zu schaffen. Und ausgehend von einer allgemein menschlichen Neigung zu Sicherheit und Gewissheit (7 Abschn. 2.2), hat jeder diese „need for predictability“ (Einstein 2014, S. 287) in unterschiedlichem Grad. Es geht also um die individuelle Tiefenstruktur hinter den automatischen Kognitionen. Fast alle kognitiven Ansätze zeichnen sich nämlich durch eine Mehr-Ebenen-­ Vorstellung des Denkens aus: „A basic distinction between surface-level and deep-level cognition often is considered“ (Brown und Beck 2002, S. 233). In dieser kognitiven Architektur drückt sich sozusagen die kognitive Weltbeziehung eines Menschen aus – sie bildet dessen kognitiv-evaluative Landkarte und bestimmt z. B., ob ihm die Welt eher grundsätzlich gefährlich, zurückweisend oder feindlich erscheint oder eher warm, gütig und voller verlockender Möglichkeiten. Sie vermittelt dem Individuum eine Art grundierendes Existenzgefühl. Wie genau gestaltet sich nun die kognitive Architektur, die kognitive Tiefenstruktur geringer Ungewissheitstoleranz, für die es während der Exploration die Augen aufzuhalten gilt? „Researchers have defined IU as a single construct made up of multiple dimensions“ (Einstein 2014, S.  284). In diesem Buch wird ein praktisches Modell mit sechs Überzeugungen vertreten (. Tab. 8.6, 7 Abschn. 2.3.1) – ihre wechselnde Kombination bildet so etwas wie ein spezifisches, individuelles Profil der Schwierigkeiten im Umgang mit Ungewissheit. Dies Profil gilt es zu ermitteln. Modelle, wie die einzelnen Überzeugungen untereinander zusammenhängen können, finden sich an einer anderen Stelle des Buchs (7 Abschn. 2.3.2).  

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Fallbeispiel Wenn ihm dieser dunkle Fleck in der Kellerecke einfällt, dann suchen Herrn S. eine ganze Menge gut bekannter Gedanken heim. Vor allem beschäftigen ihn die möglichen Gefahren, die damit verbunden sein können. Wird es dadurch zu einem großen Schaden an seinem Haus kommen? Kann es womöglich sogar einstürzen? Nicht zu wissen, um was es

161 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

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..      Tab. 8.6  Die sechs Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz Facetten geringer Ungewissheitstoleranz

Beispielkognitionen

1. „Gewissheit ist absolut notwendig.“

„Ich brauche es einfach, dass die Dinge und Personen um mich herum so vorhersagbar sind wie möglich.“ „Ich brauche hundertprozentige Sicherheit.“ „Man kann und sollte sich über eine Sache absolut sicher werden, wenn man sich nur genug anstrengt.“

2. „Ungewissheit ist gefährlich.“

„Vage, schwer zu durchschauende Situationen sind meist auch gefährlich.“

3. „Ungewissheit ist belastend.“

„Ungewissheit ist einfach schrecklich. Ich kann solche Situationen kaum aushalten.“ „Ungewissheit macht das Leben schwer zu ertragen.“

4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“

„Ich kann mich einfach nicht entscheiden, wenn ich unsicher bin.“ „Wenn etwas Unerwartetes passiert, dann werde ich damit nicht fertigwerden.“ „Ich werde einfach überwältigt von unvorhersehbaren Ereignissen.“

5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“

„Sich ungewiss sein bedeutet, dass man schlecht organisiert ist.“

6. „Ungewissheit ist unfair.“

„Es ist einfach ungerecht, im Leben für nichts eine Garantie zu haben.“

sich handelt und wie es damit weitergehen wird, empfindet er auch als sehr belastend. Solche Unklarheiten hält er eben einfach schlecht aus. Er ist eben ein Typ, der Klarheit braucht. Aber nun steht er dieser Sache hilflos gegenüber und weiß nicht weiter. Und ein bisschen schämt er sich auch. Wie steht er denn schließlich da, wenn jemand erfährt, dass er nicht einmal in der Lage ist, diese einfache Sache zu klären, sondern nur grübelnd am Fenster steht. Peinlich, peinlich. Aber etwas an der ganzen Sache macht ihn auch wütend. Warum passiert eigentlich immer ihm dieser unklare Mist! Womit hat er das eigentlich verdient? Man muss sich doch nur mal die Nachbarn ansehen – die haben bestimmt nicht mit so vielen ungewissen Situationen zu kämpfen.

8.3.5.2  Die kognitive Tiefenstruktur geringer

Ungewissheitstoleranz erfragen

Es kommt bei solchen kognitiven Explorationen gar nicht so selten vor, dass die Grundüberzeugungen offener zutage treten, als man anfangs denkt. Unsicherheitsbezogene Grundüberzeugungen tauchen dann bereits bei den einfachen Explorationsfragen (z. B. „Was ging Ihnen da durch den Kopf?“, „Was daran hat Sie so ärgerlich gemacht?“) quasi mühelos auf. Manchen Personen fällt der Zugang zum eigenen Innenleben dabei beson-

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

ders leicht: Nicht alle Menschen sind eben „kognitive Geizhälse“ (Björgvinsson und Hart 2009, S. 228), Pragmatiker, die immer handelnd auf die Außenwelt orientiert sind und nur in Ausnahmesituationen die Aufmerksamkeit nach innen wenden. Viele Menschen gehen bereits mit einer ausgeprägten psychischen Geneigtheit in eine Psychotherapie. Eine solche „psychological mindedness“ (Boylan 2006, S. 1) zeichnet jene Personen aus, die bereits von sich aus ein ausgeprägtes Interesse für das Bewusstwerden des eigenen Innenlebens und das Erfassen der Zusammenhänge von Gedanken, Gefühlen und Verhalten besitzen. Über die eigenen Grundüberzeugungen haben sie längst ausführlich nachgedacht. Aber prinzipiell gelten Grundüberzeugungen schon eher als verborgene Implikationen hinter den direkt geäußerten Gedanken: Sie sind dem Bewusstsein zwar nicht komplett unzugänglich, liegen aber nur selten offen, und ihr Aussprechen verlangt geschickt und sensibel gestellte Fragen. Hier wird von den verschiedenen Modellen möglicher Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Kognitionen der Ungewissheitsintoleranz (7 Abschn.  2.3.2) aus rein praktischen Gründen das Modell der Rational-­Emotiven Verhaltenstherapie benutzt – dort liegen bereits konkrete Explorationsfragen vor. Die sechs Überzeugungen geringer Ungewissheitstoleranz sortieren sich dort auf folgende Weise (. Tab. 8.7) – hier bereits kombiniert mit typischen Explorationsfragen, mittels deren der Therapeut bzw. die Therapeutin zu ihnen hinführen kann. Für die REVT besteht der Kern psychischer Probleme in den rigiden kognitiven Forderungen – bei der geringen Ungewissheitstoleranz also im Gewissheitsverlangen und im Gerechtigkeitsverlangen („Ungewissheit ist unfair“, Überzeugung 6), daher steht die Su 

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..      Tab. 8.7  Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz – mit Explorationsfragen Grundüberzeugungen (ausführliche Darstellung 7 Abschn. 2.3.2)

Absolutistische Forderung (DEM): „Ich muss bei den Dingen, die ich tue, absolute Gewissheit haben. Ich brauche unbedingt Gewissheit.“

Katastrophisieren (AWF): „Wie furchtbar, wenn ich keine Gewissheit habe. Dann passiert etwas Gefährliches!“

Frustrationsintoleranz (FI): „Es ist extrem belastend, ja letztlich nicht auszuhalten, wenn ich bei etwas im Ungewissen bleibe.“

Pauschales Abwerten (GE): „Keine Gewissheiten schaffen zu können zeigt, dass ich ein schwacher, unorganisierter, unfähiger Mensch bin.“

Standardfragen

„Welche Lebensregel könnte dem zugrunde liegen? Welcher absoluten Forderung scheint dies zu folgen?“

„Wie bewerten Sie das Ereignis? Wie gefährlich/ schlimm wäre das für Sie?“

„Wie gut können Sie das eigentlich aushalten? Wie belastend ist das für Sie?“

„Was sagt das über Sie selbst (oder andere beteiligte Personen) aus? Was würden Sie in dem Fall über sich denken?“



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163 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

che nach solchen Forderungen natürlich im Mittelpunkt. Die obigen Fragen können dabei selbstverständlich auch variiert werden: 55 „Könnte es sein, dass Sie in dieser Situation einer unbewussten Regel folgen, die lautet: …?“ 55 „Von welchem Befehl lassen Sie sich in dem Moment unter Druck setzen?“ 55 „Welcher inneren Norm folgen Sie in diesem Moment?“ Schwieriger ist es schon, fragend zu prüfen, ob dieses Verlangen nach Gewissheit oder Gerechtigkeit auch wirklich die Starre einer Forderung besitzt und nicht bloß ein zwar dringender, aber prinzipiell doch flexibler Wunsch ist, der notfalls durchaus, wenn auch ungern, an die Realität angepasst werden kann. Mit einer Reihe von Fragen lässt sich dieser Unterschied explorieren: 55 „Das klingt, als hätten Sie dabei eigentlich gar keine Wahl, als ‚müssten‘ Sie einfach … Stimmt das so?“ 55 „Das klingt ja nicht nur wie ein innerer Wunsch, sondern fast wie ein Befehl … Könnte man das so sagen?“ Manchmal lohnt es sich hier, abzuwarten, bis die belastenden Folgen des Gewissheitsverlangens exploriert worden sind, um dann nach der Starre dieses Verlangens zu fragen. 55 T: „Wie leicht würde es Ihnen eigentlich fallen, auf dieses Verlangen nach Gewissheit zu verzichten, wo Sie doch derart deutliche Nachteile dadurch haben?“ 55 K: „Ehrlich gesagt? Das ginge gar nicht.“ 55 T: „Sie müssen also sozusagen Gewissheit erreichen?“ 55 K: „Kann man so sagen …“

8.3.6  Beispiel für eine komplette Exploration

einer Ungewissheitsepisode

Am Beispiel einer Zwangsstörung lässt sich der gesamte Explorationsprozess einer Episode geringer Ungewissheitstoleranz noch einmal zusammenfassend aufzeigen (. Tab. 8.8).  

..      Tab. 8.8  Die komplette Exploration einer Ungewissheitsepisode Explorationsbereich

Typische Frage

Beispielantwort

Problembestimmung

T: „Welches Problem (von denen, die Sie zu Anfang der Therapie genannt haben) möchten Sie gern heute näher besprechen?“

K: „Ich glaube, am besten wäre, mit einem konkreten Fall der Kontrollzwänge anzufangen, z. B. wenn ich die Kaffeemaschine kontrolliere.“

T: „Was ist das genau für eine Situation, in der Sie die Kaffeemaschine kontrollieren?“

K: „Immer wenn ich die Wohnung verlassen will, kommt es dazu.“ (Fortsetzung)

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

..      Tab. 8.8 (Fortsetzung) Explorationsbereich

Typische Frage

Beispielantwort

Exploration C

T: „Können Sie einmal ganz genau beschreiben, wie Sie sich in der Situation mit der Kaffeemaschine fühlen?“

K: „Ich bin ziemlich ängstlich.“

T: „Können Sie die Stärke der Angst einmal zwischen 0 und 10 einschätzen?“

K: „So 7, würde ich mal sagen.“

T: „Können Sie einmal ganz genau beschreiben, wie Sie sich in der Situation verhalten?“

K: „Na, ich gehe erst Richtung Tür, dann zögere ich, drehe schließlich um und fange an, die Maschine sehr genau zu untersuchen, ob sie auch wirklich aus ist. Schließlich ziehe ich den Stecker noch raus.“

T: „Wo merkten Sie die Angst in Ihrem Körper?“

K: „Körperlich? Hm, ich bin ziemlich verspannt, und manchmal zittere ich auch etwas.“

Exploration A

T: „Was hätten andere Beobachter von der Situation mitbekommen können?“

K: „Na, so ähnlich, wie ich’s gerade schon gesagt hatte … Ich zögere, man sieht, wie die Stirn in Falten geht beim krampfhaften Erinnern, dann das Zurückgehen …“

Relevantes situationales A

T: „Was an der Situation macht Ihnen besonders Angst?“

K: „Dass ich mich schon an der Tür nicht mehr erinnern kann, ob ich die Kaffeemaschine ausgeschaltet habe.“

Relevantes inferentielles A

T: „Was daran wäre das Schlimmste?“

K: „Dass ich sie aus Versehen angelassen haben könnte.“

Exploration Ziel-C

T: „Fanden Sie Ihr Gefühl/Ihr Verhalten in der Situation eigentlich angemessen?“

K: „Nein, Quatsch, ich weiß ja, dass ich völlig übertrieben reagiere.“

T: „Was möchten Sie fühlen, wenn Sie in Zukunft in diese oder eine ähnliche Situation kommen?“

K: „Schön wäre es, wenn ich wenigstens nur noch unruhig, aber nicht mehr so wahnsinnig ängstlich wäre.“

T: „Was möchten Sie tun, wenn Sie in Zukunft in diese oder eine ähnliche Situation kommen?“

K: „Ich will wie jeder andere einfach rausgehen können, ohne die blöde Kaffeemaschine nachzusehen.“

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165 8.3 · Das ABC der geringen Ungewissheitstoleranz

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..      Tab. 8.8 (Fortsetzung) Explorationsbereich

Typische Frage

Beispielantwort

Vermittlung der Verbindung B–C

T: „Aber natürlich hat nicht die Situation direkt zu Ihren belastenden Gefühlen geführt, sondern …?“

K: „Schon klar, wie in dem Modell aus der letzten Sitzung – die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gegangen sind.“

Exploration B unkonditional

T: „Was ging Ihnen durch den Kopf? Waren Sie sich irgendwelcher Gedanken bewusst?“

K. „Wenn ich nicht nachsehe, dann habe ich sie vielleicht wirklich angelassen. Man weiß ja, wie schnell dann ein Feuer ausbrechen kann. Nachher brennt die ganze Bude ab, vielleicht stirbt sogar jemand.“

Konditional „vom C aus“

T: „Welcher Gedanke hat Sie noch ängstlich gemacht?“

K: „Dass ich dann allein für diese ganze Katastrophe verantwortlich wäre.“

T: „Welche Gedanken haben Sie noch dazu gebracht, lieber noch einmal kontrollieren zu gehen?“

K: „So was wie: Wenn du unsicher bist, ob du sie ausgemacht hast, dann solltest du lieber noch einmal nachsehen gehen – sicher ist sicher.“

Exploration der Tiefenstruktur, Gewissheitsverlangen

T: „Und wenn Sie die ganzen Nachteile sehen, dies lange Kontrollieren …, können Sie sich dann vom Wunsch nach Gewissheit losmachen?“

K: „Nein, völlig unmöglich … Es ist wie ein innerer Zwang. Ich muss einfach Klarheit haben!“

Exploration der Tiefenstruktur, Aussage über die eigene Person

T: „Was sagt dieser tägliche Kampf mit der Kaffeemaschine eigentlich über Sie selbst aus?“

K (langes Schweigen, später stille Tränen): „Dass ich … dass ich … Nicht mal das kleinste Risiko halte ich aus! Ich bin total unfähig!“

8.3.7  Zusätzliche Metakognitionen explorieren

Metakognitionen bezeichnen kognitive Schemata, die das Denken steuern, kontrollieren und bewerten – sie lassen sich selbst wieder wie Überzeugungen formulieren. Bei geringer Ungewissheitstoleranz sind besonders solche Metakognitionen interessant, welche die Intoleranz gegenüber Ungewissheit mit dem Sichsorgen (oder ähnlichen kognitiven Prozessen) und äquivalentem Vergewisserungsverhalten verbinden. Sie lassen sich noch, wie alle Metakognitionen, in positive Annahmen über das Sichsorgen (z. B. „Sorge ist gleich Vorsorge“) und negative Annahmen darüber („Ich kann diese Sorgen einfach nicht kontrollieren“) unterscheiden (Becker und Margraf 2016).

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

Haben sich in der bisherigen Exploration einer Ungewissheitsepisode Formen des Sichsorgens (7 Abschn. 5.1.1), von Post-Event Processing (PEP) (7 Abschn. 5.3.4) oder des Grübelns finden lassen (als kognitives C), dann ist es lohnend, nach zusätzlich vorhandenen, vor allem positiven Metakognitionen zu fahnden, die dem Patienten diese Varianten des Sichsorgens als ein sinnvolles Bewältigungsverhalten andrehen wollen. Denn gerade Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz (IU) halten sehr viel von Sorgen als einer erfolgversprechenden Bewältigungsstrategie – „it has been shown that people with high levels of IU tend to hold more positive beliefs about worry and believe worrying to be more useful than do people with more moderate levels“ (Grad 2011, S. 7). Die Metakognition „Wenn ich nur lange genug über eine Unklarheit nachdenke, dann wird sich Gewissheit einstellen“ spielt hier sicherlich eine besonders wichtige Rolle. Durch sie wird das Durchspielen möglicher Ausgänge einer ungewissen Situation als sinnvoll bewertet, weil es vor dem Schlimmsten schützen hilft. Aber auch andere positive Metakognitionen verbinden eine geringe Ungewissheitstoleranz mit ausgeprägtem Sichsorgen: Sichsorgen hilft, die anstehenden Probleme effektiver zu lösen; es beruhigt und dämpft die emotionale Reaktion auf mögliche zukünftige Ereignisse; es nimmt direkt – quasi magisch – Einfluss auf den Lauf der Ereignisse und repräsentiert eine positive Charaktereigenschaft: Man zeigt auf diese Weise seine guten Absichten und kümmert sich um die Probleme. Gerade diese letzte Metakognition hat sich in einer Studie in Kombination mit geringer Ungewissheitstoleranz als besonders guter Vorhersagefaktor des Sichsorgens herausgestellt (Koerner und Dugas 2006). Explorativ lassen sich Metakognitionen durch folgende Fragen, die jeweils einen Bezug zu den Formen des Sorgens aufweisen, besonders gut aufspüren (natürlich kann das Sichsorgen dabei durch jeden anderen im Einzelfall vorliegenden kognitiven Prozess ersetzt werden): 55 „Das klingt so, als sei es irgendwie gut, sich diese möglichen Gefahren in einer ungewissen Lage vorzustellen – welchen Vorteil haben diese Sorgen für Sie? Was geht Ihnen dazu durch den Kopf?“ 55 „Das hört sich so an, als seien diese Sorgen aber schon wichtig – was ist so wichtig an ihnen?“ 55 „Welchen Sinn hat dieses Besorgtsein/Grübeln für Sie?“ 55 „Warum denken Sie so intensiv über diese Sache nach?“ 55 „Was ist eigentlich für Sie das Sinnvolle an diesen Sorgen?“  

8



8.4  Geringe Ungewissheitstoleranz – fehlende Kompetenz

oder mangelnde Ressource?

Bis hierher wurde Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) stillschweigend wie eine stabile Eigenschaft behandelt. Ungewissheitstoleranz gilt dabei sozusagen als eine robuste und unstörbare Kompetenz – man kann sie schulen, und durch einen häufigen Umgang mit ungewissen Umständen verbessert sie sich letztlich. Aber dass die Akzeptanz

167 8.5 · Was am Ende steht: eine Fallkonzeption des ...

8

von Ungewissheit nicht immer gleich ist, sondern auch von den jeweiligen Umständen abhängt, lässt sich schon am bereits erwähnten Urlaubsbeispiel erkennen: Im Urlaub sind Menschen gewöhnlich viel stärker als im Alltag bereit, sich auf Unerwartetes einzulassen. Ungewissheitstoleranz kann also auch strapaziert und sogar überstrapaziert werden, sie verbraucht sich, wenn immer wieder auf sie zurückgegriffen werden muss. Man kann sie auch als – vielleicht knappe – Ressource ansehen. Befindet sich eine Person z. B. lange in einer prekären Lebenssituation (7 Abschn. 4.2.2), in der täglich besonders viele ungewisse Situationen auftreten (Wie geht es weiter? Reicht das Geld diesen Monat? Wird mein Zeitvertrag verlängert?), dann verbraucht sich möglicherweise mit den Monaten auch die größte Ungewissheitstoleranz. Bei einer eigentlich ausgeprägten Ungewissheitstoleranz, die sich jedoch erschöpft hat, lässt sich vielleicht am besten von einer sekundären Intoleranz gegenüber Ungewissheit sprechen – eine ganz normal ausgeprägte primäre Ungewissheitstoleranz hat sich sekundär einfach „verbraucht“. Primäre und sekundäre Intoleranz gegenüber Ungewissheit sind leicht auseinanderzuhalten, wenn nach der Dauer ihres Vorliegens gefragt wird: „Ist es Ihnen eigentlich immer schon schwergefallen, mit ungewissen Situationen zurechtzukommen? Oder erst seit der Sache mit den Zeitverträgen?“ An den konkret geäußerten Kognitionen, aber auch an den weiteren Umständen lässt sich erkennen, ob einer Person eine geringe Ungewissheitstoleranz eher als Eigenschaft zukommt oder ob sie Ungewissheit eigentlich einigermaßen aushalten kann, aber durch länger währende ungewisse Umstände derart überfordert worden ist, dass einfach alle Reserven an Ungewissheitstoleranz aufgebraucht sind („Ich kann einfach nicht mehr … Und schon wieder eine ungewisse Situation!“). Die Unterscheidung Ressource/Kompetenz fällt, grob gesagt, auch mit derjenigen zwischen Trait-Ungewissheitstoleranz und State-Ungewissheitstoleranz zusammen. Liegt „nur“ eine sekundäre geringe Ungewissheitstoleranz vor, dann sind die therapeutischen Interventionen natürlich ganz andere als die im nächsten Kapitel (7 Kap.  9) für eine primäre Intoleranz gegenüber Ungewissheit vorgestellten: Hier geht es darum, Regenerationsmöglichkeiten – sichere und gewissere Lebensumstände in diesem Fall – zu schaffen, sodass die Ressource Ungewissheitstoleranz sozusagen wieder „nachwachsen“ kann. Die zentrale Leitfrage der Therapie ist in diesem Fall: Wie kann im Leben des Patienten ausreichend Gewissheit hergestellt werden, sodass er in Zukunft wieder bereit ist, Ungewissheit wie früher zu tolerieren?  



8.5  Was am Ende steht: eine Fallkonzeption

des spezifischen Ungewissheitsprofils

Mit der detaillierten Analyse einiger Ungewissheitsepisoden haben sich Patient und Therapeut einen Überblick darüber verschafft, welches individuelle Ungewissheits­ profil vorliegt. Zum Abschluss lohnt es sich, diese Episoden zu einer Fallskizze zu verschmelzen, die sich ebenfalls unkompliziert als ABC-Schema notieren lässt (. Tab. 8.9).  

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Kapitel 8 · Exploration – das individuelle Profil geringer Ungewissheitstoleranz ausfindig machen

..      Tab. 8.9  Fallskizze eines Ungewissheitsprofils A

Auslöser (activating event, adversity)

Ungewissheit in Alltagssituationen Lebensbereiche: Gesundheit des Sohns, mögliche Krankheiten in der Familie

B

Bedeutungen, Befürchtungen, Bewertungen (beliefs)

Intensiv: „Ungewissheit ist gefährlich.“ „Ich muss unbedingt Gewissheit erlangen.“ Weniger intensiv, aber vorhanden: „Ungewissheit ist belastend/unerträglich.“ Metakognitionen: „Dass ich mir Sorgen mache, zeigt mich als gute Mutter.“ „Irgendwie haben meine Sorgen Einfluss darauf, dass es meinem Sohn gut geht.“ „Ich kann meine Sorgen gar nicht kontrollieren.“ (Negative Metakognition)

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C

Konsequenzen (consequences)

Emotionales C: Angst

Emotionales Ziel-C: nur leichte Sorge

Behaviorales C: Kontrollverhalten, (den Sohn bei der Arbeit anrufen, oft aus dem Fenster sehen, horchen)

Behaviorales Ziel-C: den eigenen Aufgaben nachgehen können

Kognitives C: ausgeprägtes Sichsorgen

Kognitives Ziel-C: nur gelegentliche Gedanken an das mögliche, aber ungewisse Ereignis

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171

Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen bei geringer Ungewissheitstoleranz 9.1

 as Phänomen geringer Ungewissheitstoleranz D anschaulich machen, für das Problematische daran sensibilisieren – 175

9.2

I nterventionen für die sechs kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz – 177

9.2.1

 ewissheitsverlangen (Dimension 1): „Gewissheit ist G absolut notwendig“ – 179 Die Bedrohlichkeit des Ungewissen (Dimension 2): „Ungewissheit ist gefährlich“ – 188 Das Anstrengende des Ungewissen (Dimension 3): „Ungewissheit ist belastend“ – 193 Paralyse durch Ungewissheit (Dimension 4): „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ – 195 Das Abwertende des Ungewissen (Dimension 5): „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“ – 203 Gerechtigkeitsverlangen (Dimension 6): „Ungewissheit ist einfach unfair“ – 210

9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5

9.2.6

9.3

 etakognitionen verändern – Vermittler zwiM schen geringer Ungewissheitstoleranz und Sichsorgen – 212

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_9

9

9.4

 en Grad des Unklaren einer Sache richtig D einschätzen – die Situationsstruktur „upgraden“ – 215

9.4.1 9.4.2

 on Unwissenheit zu Ungewissheit „upgraden“ – 216 V Von Ungewissheit zu Risiko „upgraden“ – 218

9.5

 ngewissheitstoleranz als Ressource U wiederaufbauen – 221 Literatur – 222

173 Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen …

9

Die therapeutische Behandlung geringer Ungewissheitstoleranz steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber erste Studien sprechen bereits für gute Erfolge durch eine kognitiv-­ verhaltenstherapeutische Behandlung. Die vorgestellten Interventionen richten sich vor allem auf die sechs als zentral angesehenen Dimensionen der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) wie das starre Gewissheitsverlangen und die Überzeugung, dass Ungewissheit gefährlich ist und handlungsunfähig macht. Wie kann das Gewissheitsverlangen flexibler gestaltet werden? Wie lässt sich die übertriebene Verbindung von Ungewissheit mit Gefahr differenzierter gestalten? Das Kapitel bietet kein Manual, sondern eine Instrumententasche therapeutischer Methoden, aus der sich je nach individuellem Ungewissheitsprofil Interventionen maßgeschneidert auswählen lassen.

Ungewissheiten lauern überall, schon im Alltag kommt an allen Ecken und Enden Unklares auf den Menschen zu, in das hinein sie handeln müssen  – und auch hier gilt wieder: Man weiß nie genau, wie die Sache ausgeht. Mit der flüchtigen Moderne (Bauman 2008) hat das Ungewisse, mit dem der Einzelne konfrontiert wird, in den letzten Jahrzehnten außerdem noch zugenommen (7 Abschn.  4.2). Alle Zeitgenossen stehen vor einer komplizierten Herausforderung: Wie ist ein Leben in angemessener Sicherheit trotz einer ungewissen Welt möglich? Eine ausgeprägte Ungewissheitskompetenz wird für alle Zeitgenossen zu einer relevanten Schlüsselkompetenz. Schon ohne eine geringe Ungewissheitstoleranz steht man also vor der Aufgabe, ein geschicktes „Sicherheitsmanagement“ (Hempel 2012, S. 194) betreiben zu müssen – auf die häufigen Unvorhersehbarkeiten und Ungewissheiten vorbereitet zu sein, ohne dabei vor Sorge durchzudrehen und das eigentliche Leben aus dem Blick zu verlieren. Es geht darum, Ungewissheit zu domestizieren, sie also nicht abzuschaffen, aber so mit ihr umzugehen, dass ein möglicher Schaden in Grenzen bleibt, und den verbleibenden Rest gleichzeitig besser tolerieren zu lernen. In diesem Sinn sind die im Folgenden vorgestellten Interventionen also auch eine „Technologie der inneren Sicherheit“ (Hempel 2012, S. 191) für jedermann – Methoden, sein Glück selbst im Ungewissen verfolgen zu können. Trifft eine solche zunehmend ungewisse Lebenslage auch noch auf eine individuelle Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU), auf verzerrte Überzeugungen bezüglich der Bedrohlichkeit von Ungewissheit oder der Notwendigkeit von Gewissheit, dann können die daraus hervorgehenden Belastungen gravierend sein. Eine ausgeprägte Intoleranz gegenüber Ungewissheit hat nach dem hier vorgestellten Modell sechs Dimensionen (7 Abschn.  2.3.1) und steht mit ganz unterschiedlichen psychischen Diagnosen in Verbindung (7 Abschn. 5.3). Es gibt also genügend Gründe, eine geringe Ungewissheitstoleranz nicht nur ausführlich zu explorieren (7 Kap. 8), sondern ebenso zu einem eigenständigen Gegenstand verhaltenstherapeutischer Interventionen zu machen (7 Abschn. 7.1), gerade weil geringe Ungewissheitstoleranz ein transdiagnostischer Faktor hinter vielen psychischen Problemen zu sein scheint. Manche Psychotherapieforscher empfehlen bereits, die Erhebung und Veränderung von Intoleranz gegenüber Ungewissheit zu einer festen Komponente zumindest aller Angsttherapien zu machen (Carleton 2012), raten also, „that the client’s general desire for predictability becomes a target in treatment“ (Einstein 2014, S. 286). Inzwischen liegt auch ein verhaltenstherapeutisches Selbsthilfeprogramm auf Englisch vor (Robichaud und Dugas 2015), und erste Studien zeigen, dass dadurch  









174

9

Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

z­ umindest die Angststärke bei Angststörungen deutlich gesenkt werden kann (Buhr und Dugas 2009). In einer Studie hat dieses Behandlungsprogramm bei der Generalisierten Angststörung sogar einen größeren Therapieerfolg erreicht als eine traditionelle kognitive Verhaltenstherapie: 77 Prozent der Behandelten zeigten signifikante Verbesserungen, und natürlich ging auch, wie erwartet, die Intoleranz gegenüber Ungewissheit selbst signifikant zurück (Ladouceur et al. 2000). Bei einer weiteren Studie wurde ein zwölf Sitzungen umfassendes KVT-Gruppenprogramm für Patienten mit Generalisierter Angststörung durchgeführt, bei dem eine Sitzung den Fokus auf geringe Ungewissheitstoleranz richtete. Sowohl die Ungewissheitsintoleranz als auch das Sichsorgen nahmen durch das Programm signifikant ab. Hier war bereits ein sehr eingeschränkter Fokus auf die Intoleranz gegenüber Ungewissheit innerhalb eines Behandlungsprogramms erfolgreich (Torbit und Laposa 2016). Erste Hinweise auf einen ähnlichen Therapieerfolg gibt es inzwischen auch für die Soziale Phobie: „Longitudinal research on IU and GAD has consistently demonstrated that changes in IU predict changes in pathology […]; moreover, there is now evidence that changes in IU are also associated with changes in social anxiety symptoms“ (Carleton 2012, S. 942). Ermutigende Ergebnisse – allerdings ist der Effekt einer Therapie speziell für die geringe Ungewissheitstoleranz jenseits dieser Diagnosen bisher kaum untersucht worden (Boswell et al. 2013). Wie erwirbt man sie also, die Lizenz zum guten Umgang mit dem Ungewissen? Die folgenden Interventionen konzentrieren sich vor allem auf die sechs inzwischen ausführlich vorgestellten Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz (7 Abschn. 2.3.1), die sich wiederholt auch empirisch als deren kognitive Architektur herausgestellt haben. Je nach dem explorierten individuellen Ungewissheitsprofil eines Patienten (7 Kap. 8) lassen sich für die einzelnen kognitiven Dimensionen die entsprechenden Behandlungsmodule aus diesem Kapitel verwenden, die jeweils eine ganze Palette möglicher kognitiver und behavioraler Interventionen beinhalten. Alle folgen dabei der grundlegenden Leitlinie, nicht die konkrete subjektive Ungewissheit zu beseitigen („Wird der Rückflug aus meinem Urlaub wirklich zu vereinbarten Zeit stattfinden?“, „Wie wird sich meine Multiple Sklerose in den nächsten Jahren entwickeln?“), sondern die Überzeugung zu ändern, welche die mit der jeweiligen Frage verbundenen Ungewissheitsfolgen schwerer als nötig macht: „Immer wenn ich bei etwas nicht sicher bin, wird etwas Schlimmes passieren.“ Aber diese sechs Ungewissheitsdimensionen sind nicht die einzigen therapeutischen Zielpunkte im Umgang mit Ungewissheit, die häufig in der Psychotherapie auftauchen. Daher beschäftigen sich einige Abschnitte mit weiteren Problemen aus dem Dunstkreis von Ungewissheit und stellen hierfür Interventionen bereit. Hier geht es auch darum, nicht nur mehr Ungewissheitstoleranz aufzubauen, sondern ebenso den Grad der erlebten Ungewissheit zu verkleinern, wo möglich – also nicht Ungewissheitstoleranz, sondern mehr Gewissheit herzustellen (7 Abschn. 9.4). Dieses Kapitel versteht sich als eine Art therapeutischer Versuchsballon bei der Behandlung eines Problems, das allgegenwärtig ist, aber gerade erst am Anfang seiner klinischen Erforschung steht. Aufgrund dessen stellt es weniger ein festes Manual für die Behandlung der Intoleranz gegenüber Ungewissheit dar, sondern eher einen Instrumentenkasten, aus dem sich Therapeuten und Berater alles Notwendige herausnehmen können  – für das individuelle Ungewissheitsprofil eines bei ihnen Rat und Hilfe ­suchenden Patienten.  





175 9.1 · Das Phänomen geringer Ungewissheitstoleranz …

9

9.1  Das Phänomen geringer Ungewissheitstoleranz

anschaulich machen, für das Problematische daran sensibilisieren

Menschen, die Probleme mit geringer Ungewissheitstoleranz haben, suchen natürlich für gewöhnlich nicht explizit deswegen die Hilfe einer Psychotherapie („Wissen Sie, ich denke, ich muss vor allem an meiner geringen Ungewissheitstoleranz arbeiten“). Sie leiden vielmehr unter ausgeprägten Ängsten, Zwängen und anderen Beschwerden, die sie gern loswerden möchten. Vielleicht belastet sie auch das eigene umfangreiche Vergewisserungsverhalten und die damit verbundene Anstrengung, oder sie erleben ihr ausgeprägtes Sichsorgen als quälend. Wahrscheinlich ist ihnen das Konzept einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit völlig unbekannt – es ist ja selbst in der Psychotherapie bisher nur wenig verbreitet. Erste Aufgabe einer Psychotherapie ist es also, die Ratsuchenden mit geringer Ungewissheitstoleranz und deren Auswirkungen bekannt zu machen. Selbst wenn dem Psychotherapeuten oder der Beraterin sehr schnell klar ist, wie eng die geschilderten Beschwerden mit einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit verwoben sind: Zunächst ist es ihre Aufgabe, sie dem Klienten oder der Klientin als Hintergrund der expliziten Pro­ bleme anschaulich zu vermitteln. Erst muss die Sensibilität für das Problematische einer geringen Ungewissheitstoleranz, für ihre Nachteile geweckt werden: dass sie oft viel Zeit und Anstrengung bei Aufgaben kostet, dass sie zu langwierigen Ängsten führen kann. Therapeuten müssen also erst einmal Problembewusstsein wecken. In einer sensiblen Gesprächsführung lässt sich das konkrete Aufzeigen erster Nachteile geringer Ungewissheitstoleranz mit einer Einführung des Begriffs am besten verbinden. 55 T: „Wenn Sie so Ihre Sorgen um Ihren Sohn erzählen, wenn der seinen LKW fährt, dann wird einem schon sehr deutlich, dass Ihnen seine Sicherheit sehr viel bedeutet, nicht wahr?“ 55 K: „Ja, natürlich. Ich weiß schon, und das ist mir auch etwas peinlich – er ist ja längst erwachsen und lebt sein eigenes Leben. Aber trotzdem soll ihm natürlich nichts passieren. Und was so auf den Straßen alles Gefährliches passieren kann, das hört man ja täglich in den Medien.“ 55 T: „Aber Sie wissen auch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er einen schlimmen Unfall hat, sehr gering ist, oder?“ 55 K (lacht): „Ja, klar! Das sagt er mir ja auch ständig. Aber irgendwie … Allein, dass es jeden Tag trotzdem möglich ist, dass es gerade ihn erwischt. Das macht mich richtig fertig.“ 55 T: „Also gar nicht die Gefahr selbst ist es, die Sie belastet, sondern … die Ungewissheit. Kann man das so sagen?“ 55 K: „Ja! Ja! Genau! Das hätte ich jetzt gar nicht so sagen können. Aber jetzt, wo Sie das so formulieren … Genau, die Ungewissheit. Dass ich einfach nicht genau weiß, ob er in Sicherheit ist.“ 55 T: „Und diese Ungewissheit treibt Sie dann zu diesen ganzen Sachen an – dazu, so oft am Fenster zu schauen, ob Ihr Sohn schon von der Arbeit zurück ist, ihn anzurufen, sich eigentlich stundenlang diese ganzen Sorgen zu machen?“ [Bewusstmachen der Nachteile]

176

Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 K: „Ja, schon. Ich kann oft auch nicht richtig schlafen, wenn er früh morgens zur Schicht fährt. Oder mich auch über den Tag auf andere Dinge konzentrieren.“ [Weitere Nachteile] 55 T: „Und wenn Sie das sehen, diese ganzen lästigen, einschränkenden Sachen, dann lassen Sie aber davon ab und locker, oder?“ [Vermittlung der Starre des Gewissheitsverlangens] 55 K: „Nein, das kriege ich einfach nicht hin! Selbst wenn ich’s wollte. Und was wäre ich denn auch für eine Mutter, wenn mir ganz egal wäre, was mit ihm passiert?“ 55 T: „Also ungefähr so? Sich um wichtige Personen sorgen, das hat auch sein Gutes, aber die Nachteile sind schon ganz schön groß, die daraus entstehen, dass Sie diese Ungewissheit, ob Ihr Sohn auch in Sicherheit ist, einfach nicht aushalten. Immer wieder versuchen Sie, sich hier wieder Gewissheit zu verschaffen, aber es klappt einfach nicht. Aber komisch, irgendwas daran scheint doch übertrieben. Schließlich wissen doch andere auch nicht immer über ihre Liebsten Bescheid und machen sich trotzdem nicht derart verrückt. Trifft es das so ungefähr?“ [Konzeptvermittlung] 55 K: „Ziemlich genau sogar …“ 55 T: „In der Psychologie spricht man hier übrigens von einer geringen Ungewissheitstoleranz. Manche Menschen ertragen Ungewissheiten einfach etwas schlechter als andere und strengen sich dann ziemlich an, um sich wieder Klarheit zu verschaffen. Aber daraus entstehen manchmal große Belastungen.“

9

Eine ausführliche edukative Vermittlung ist aufgrund der Unbekanntheit des Konzepts ebenfalls sehr sinnvoll. Sobald bei der Exploration deutlich wird, dass eine geringe Ungewissheitstoleranz eine tragende Rolle bei den zu behandelnden Problemen spielt, kann dieses Thema durch eine kurze oder ausführliche Edukation auch für den Patienten sichtbar gemacht und vorstrukturiert werden – als eine Hintergrundvariable, die die von ihm oder ihr beschriebenen Beschwerden antreibt. Dabei bietet sich z. B. die Treibstoff-Metapher an: Intoleranz gegenüber Ungewissheit ist der Treibstoff für die „engine of worry“ (Robichaud und Dugas 2006, S. 292) – das Sichsorgen und die anderen Vergewisserungshandlungen. Neben dieser Treibstoff-Analogie hat sich auch die Allergie-Analogie bewährt (Robichaud und Dugas 2015), wie sie in den im Kasten vorgestellten Edukationsmodulen ausgesponnen wird.

Edukationsmodule für geringe Ungewissheitstoleranz Die folgenden Absätze können als Bausteine einer Edukation individuell zusammengestellt oder variiert werden: 55 „Man kann sich Intoleranz gegenüber Ungewissheit wie eine Allergie vorstellen. Wenn Sie eine Pollenallergie haben, dann reicht schon eine winzige Menge Pollen in der Luft, um eine heftige Reaktion auszulösen. Genau das Gleiche passiert bei der beschriebenen geringen Ungewissheitstoleranz: Schon eine kleine Menge an Ungewissheit in einer Situation reicht für eine heftige und intensive Reaktion aus. Wenn Sie eine Allergie bezüglich Ungewissheit haben, dann reagieren Sie mit Sorgen und oft auch mit bestimmten Verhaltensreaktionen, die man Vergewisserungsverhalten nennt, wenn Sie in eine unvorhersehbare, neue oder widersprüchliche Situation geraten.“ 55 „Intoleranz gegenüber Ungewissheit ähnelt einer allergischen Reaktion. Sind Sie gegen Pollen oder Hausstaub allergisch, dann reicht schon der kleinste

177 9.2 · Interventionen für die sechs kognitiven Dimensionen …

55

55

55

55

9

Kontakt mit diesen Allergenen für eine allergische Reaktion, die vielleicht Niesen, geschwollene Augen oder Unbehagen beinhaltet. Bei geringer Ungewissheitstoleranz ist es ähnlich. Schon die kleinste Prise Ungewissheit reicht aus, um Angst, einen höheren Puls, Benommenheit oder auch Kontrollverhalten und Vermeidung auszulösen.“ „Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit Ungewissheit umzugehen, ebenso wie bei einer Allergie: die Allergene zu reduzieren oder die Toleranz ihnen gegenüber zu erhöhen. Bei der ersten Möglichkeit vermeidet man Situationen, deren Ausgang ungewiss ist, erfindet Ausreden, um ihnen aus dem Weg zu gehen, sucht immer weiter nach Informationen, um die Ungewissheit vielleicht doch noch zu reduzieren, sucht Absicherung bei anderen oder kontrolliert Dinge übertrieben oft. Diese Anstrengungen sind allerdings oft vergeblich, da man im Leben der Ungewissheit nicht grundsätzlich entkommen kann. Daher lohnt es sich, auf die zweite Möglichkeit zu setzen.“ „Personen mit einer ausgeprägten Ungewissheitstoleranz haben diese Allergie sozusagen nicht: Sie können sich auf offene, unstrukturierte Situationen mit ungewissem Ausgang gut einstellen, interpretieren diese eher als Herausforderung und nicht als Bedrohung, ja suchen solche Umstände sogar eher auf, als dass sie diese vermeiden. Sie zeigen keine abwehrende Haltung gegen neuartige oder unsichere Situationen. Und kommen damit ganz gut zurecht.“ „Was steckt nun hinter einer solchen Unverträglichkeit gegenüber Ungewissheit? In der Psychologie nimmt man an, dass dahinter bestimmte Einstellungen stehen, die das Ungewisse besonders heikel und negativ erscheinen lassen. Es sind Überzeugungen wie ‚Ungewissheit ist gefährlich‘, ‚ist anstrengend und nur schwer zu ertragen‘, ‚macht einen handlungsunfähig‘ und Ähnliches. Ich würde gern näher mit Ihnen untersuchen, ob auch bei Ihnen manche dieser Gedanken eine Rolle spielen.“ „Denn eigentlich ist das Ungewisse ja Teil des normalen Lebens, man kann es gar nicht komplett vermeiden. Das Leben besteht eben aus ‚HandlungsWiderfahrnis-­Gemischen‘ (Marquard 1986, S. 129), hat einmal ein Philosoph geschrieben. Danach sind wir als Menschen eben im Alltag immer dem Ungewissen oder Zufällen ausgesetzt – das beginnt schon mit der Geburt, die sich keiner aussucht. Und es gehört eben einfach zum Menschenleben, mit diesen Ungewissheiten zurechtkommen zu können, ohne davon überwältigt zu werden.“

9.2  Interventionen für die sechs kognitiven Dimensionen

geringer Ungewissheitstoleranz

Kognitive Umstrukturierung legt, gerade bei Angststörungen, gewöhnlich ihren Schwerpunkt auf die Gefahrenüberschätzung: Die Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr wird auf die eine oder andere Weise mit den Patientinnen und Patienten in der Therapie neu kalkuliert – und fällt nun deutlich geringer aus. Andere kognitive Schemata wie die Intoleranz gegenüber Ungewissheit werden dabei bis heute häufig übersehen: „For instance, a clinician may use exposure in the treatment of an anxiety disorder, but may overlook uncertainty as an important part of the rationale and target for the

178

9

Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

intervention. This clinician may instead emphasize increased ability to cope, reduced expectations of catastrophic outcomes, or habituation“ (Einstein 2014, S. 286). In der mangelnden Berücksichtigung von Faktoren wie der geringen Ungewissheitstoleranz liegt möglicherweise ein Grund für die hinter den Erwartungen zurückbleibenden Therapieerfolge in der kognitiven Verhaltenstherapie: Allein die Neukalkulation der Gefahren wirkt sich nicht entscheidend auf die Reduzierung von Sorgen und Ängsten aus, denn Patienten berichten, dass sie nur mit den Sorgen aufhören konnten, wenn eine Gefahr komplett beseitigt werden konnte. Aber dies gelingt in der Therapie nur sehr selten (Koerner und Dugas 2006). An einige Grundprinzipien kognitiver Umstrukturierung sei vorweg kurz erinnert: Die Interventionen bei geringer Ungewissheitstoleranz, die im Folgenden vorgestellt werden, basieren auf einem mehrdimensionalen Verständnis davon, wann eine Überzeugung als angemessen angesehen werden kann: „Die Kognitionen und die ihnen zugrunde liegenden Annahmen werden auf ihre Logik, ihre Gültigkeit und Angemessenheit hin diskutiert und überprüft und ebenso im Hinblick auf ihren Wert für die Entwicklung positiven Verhaltens im Gegensatz zur Aufrechterhaltung pathologischen Verhaltens“ (Beck 1992, S. 34). Es wird also eine Prüfung der eigenen Kognitionen an drei Kriterien vermittelt  – neben eine empirische Prüfung der Wirklichkeitsentsprechung („Gültigkeit“) und eine logische Prüfung der Herleitung einer Überzeugung tritt vor allem eine hedonistische Prüfung der Kognitionen („Wert für die Entwicklung positiven Verhaltens“): Wie hilfreich oder schädlich sind sie? Gerade diese letzte, hedonistische Prüfung von Kognitionen hat in postmodernen Zeiten immer mehr an Gewicht gewonnen, während eine reine Prüfung der Wirklichkeitsentsprechung („Stimmt Ihr Gedanke eigentlich mit der Wirklichkeit überein?“) heute ein klein wenig verstaubt klingt. Eine hedonistische (oder auch instrumentelle) Prüfung einer Überzeugung bedeutet, zu überprüfen, ob sie in der gegenwärtigen Lage eines Menschen Sinn macht oder, alltagssprachlich ausgedrückt, ob sie „etwas bringt“. Es geht also um deren lebenspraktischen Wert: Fördert oder behindert die Kognition das Erreichen von wichtigen Zielen? Bringt die Beschäftigung mit diesem Gedanken wirklich weiter? Oder hält sie womöglich von Wichtigem ab? Ergeben sich Vor- oder Nachteile daraus, so zu denken? Oft wird geraten, die gesamte kognitive Umstrukturierung mit einer hedonistischen Prüfung einer Kognition zu beginnen: „die Konkretheit, die beim Skizzieren der pragmatischen Konsequenzen durch das Beibehalten einer irrationalen Überzeugung beteiligt ist, ist ein effektiverer Weg, Veränderung anzustoßen“ (Dryden und Neenan 1996, S. 105, Übers. v. Autor). Zudem verliert eine Kognition, die deutlich mehr Nach- als Vorteile aufweist, wie von selbst ein gutes Stück ihrer Attraktivität für den Denkenden – warum einer Überzeugung weiter folgen, die derart wenig Sinn macht? Aber gerade im Modell von Aaron T.  Beck zeichnen sich die negativen kognitiven Schemata bei psychischen Störungen zudem durch eine besondere Undifferenziertheit aus. Er geht davon aus, dass es im menschlichen Geist ein reiferes und ein primitiveres System gibt. Meist dominieren im Erwachsenenleben die reifen Schemata, aber in Träumen, Fantasien und in Phasen psychischer Störung treten die primitiven hervor. Patienten neigen also dazu, „ihre Erfahrungen in relativ primitiver Art zu strukturieren“ (Beck 1992, S. 45). Das lässt sich dann meist in drei bis vier Worten ausdrücken: „Ich bin schlecht“, „Ich bin verletzbar“ oder „Die Welt ist gefährlich“. Reife Kognitionen sind dagegen in der Regel differenzierter formuliert: „Im Kern bin ich ein relativ guter Mensch“, „Ich bin ziem-

179 9.2 · Interventionen für die sechs kognitiven Dimensionen …

9

..      Tab. 9.1  Die sechs kognitiven Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz Kognitive Dimension

Beispielkognition

1. „Gewissheit ist absolut notwendig.“

„Ich muss einfach Gewissheit haben, egal wie!“

2. „Ungewissheit ist gefährlich.“

„Vage, schwer zu durchschauende Situationen sind gefährlich.“

3. „Ungewissheit ist belastend.“

„Mein Verstand kommt einfach nicht zur Ruhe, wenn ich nicht weiß, was morgen sein wird.“

4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig.“

„Ich werde einfach überwältigt von unvorhersehbaren Ereignissen.“

5. „Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich.“

„Andere kriegen es viel besser hin, ein gewisses und sicheres Leben zu führen.“

6. „Ungewissheit ist unfair.“

„Es ist einfach ungerecht, im Leben für nichts eine Garantie zu haben.“

lich kompetent bei den Dingen, die ich angehe“. Dysfunktionale Kognitionen sind in ihrer Komplexität gegenüber einer als differenziert gedachten Wirklichkeit also zu stark reduziert – und Ziel der Therapie ist es auch, sie wieder in differenziertere Aussagen umzugestalten. Auch die sechs Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz haben etwas von der Radikalität solcher knappen, holzschnittartigen Aussagen (. Tab. 9.1). Sie lassen sich auch zu einem zusammenhängenden Aussagekomplex geringer Ungewissheitstoleranz zusammenfügen.  

Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem hat es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung), wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

Im Folgenden werden die einzelnen Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz, ihr „set of negative beliefs“ (Buhr und Dugas 2009, S. 216), einzeln aufgegriffen und Interventionen dazu vorgestellt. 9.2.1  Gewissheitsverlangen (Dimension 1): „Gewissheit

ist absolut notwendig“

Nicht nur im Modell der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) stehen imperative Kognitionen oder absolutistische Forderungen im Mittelpunkt. Insgesamt drehen sich die meisten Interventionen bei geringer Ungewissheitstoleranz um diese „beliefs ab-

180

Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

out the necessity of being certain“ (OCCWG 1997, S. 678). Dabei sind die Erwartungen an Gewissheit sehr hoch, was sich in konkreten Gedanken wie „I always want to know what the future has in store for me“ (Einstein 2014, S. 286) ausdrückt – es handelt sich bei geringer Ungewissheitstoleranz eben nicht nur um einen Gewissheitswunsch, sondern um ein Gewissheitsverlangen: Es wäre nicht nur schön, mehr Gewissheit zu haben, sondern es muss einfach sein. Von einer Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) darf also nur gesprochen werden, wenn die betroffene Person nicht lockerlassen kann und ihrem extrem hohen und starren Gewissheitsbedürfnis nachstrebt, egal welche negativen Folgen sich am Handlungshorizont schon erkennen lassen: Die Gewissheitsansprüche werden als so fordernd erlebt, dass sie von den Betroffenen trotz hoher Kosten weiterverfolgt werden. Es geht beim Gewissheitsverlangen um den folgenden (fett gedruckten) Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz. Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz

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Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

Die Betonung einer solchen tyrannischen Selbst- oder Weltbeziehung ist ein ­wichtiges Erbstück der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) für aktuelle Störungsmodelle (7 Abschn. 2.3.2). Ihr zufolge geschieht eine solche Erstarrung von Wünschen regelmäßig im menschlichen Leben: Beständig sagen sich Menschen, was passieren muss, wie jemand sein sollte oder was auf keinen Fall sein darf – eine seltsame Mischung von Erwartungen und Wünschen, die so verbissen und verfestigt sind, dass ihre ausbleibende Erfüllung starke Emotionen erzeugt. Ein dringendes Wollen wird nun dort problematisch, wo Wünsche wie Naturgesetze klingen, in der Welt allerdings nicht hundertprozentig erfüllt werden, sondern regelmäßig scheitern: „Ich muss unbedingt diese Prüfung bestehen oder diese Stelle bekommen!“, „Du musst dich mir gegenüber unbedingt immer fair verhalten!“ Solchen fordernden Gedanken fehlt natürlich trotz ihrer absoluten Formulierung sowohl die Zwangsläufigkeit von Naturgesetzen als auch die institutionell einklagbare Macht staatlicher Gesetze, und so werden sie zu Risikofaktoren großer Enttäuschungen. Gesünder ist es, die eigenen dringenden Wünsche mit etwas lockererer Hand zu halten, also auf eine Weise, bei der Wünsche und ihre Erfüllung nicht unklar verschmelzen, sondern trennscharf auseinandergehalten werden können. Das Erreichen großer Gewissheit wird dabei zwar weiterhin angestrebt, aber eher als Präferenz und nicht als Forderung: „Go desire – but don’t insist.“ (Ellis 2001, S. 103). Hiermit ist das Lernziel einer ausgeprägteren Ungewissheitstoleranz bereits mit formuliert: „accepting the goal of living with uncertainty“ (Fergus und Valentiner 2011, S. 564). Vielleicht wäre Gewissheit immer noch wünschenswert, aber auch in einem Leben mit Ungewissheit lässt es sich einrichten. Das beschriebene hohe und starre Gewissheitsverlangen lässt sich nun auf verschiedene Weise therapeutisch infrage stellen.  

181 9.2 · Interventionen für die sechs kognitiven Dimensionen …

9

zz 1. Ist Gewissheit überhaupt immer erreichbar?

Hinter der imperativen Gewissheitsforderung bleibt eine dafür notwendige Vorannahme zumeist unausgesprochen: Absolute Gewissheit ist erreichbar – nur deshalb kann ich überhaupt nach ihr verlangen. Daher ist es ein wichtiger Lernschritt, Patientinnen und Patienten anschaulich zu vermitteln, in wie vielen Lebensbereichen absolute Gewissheit gar nicht zu erreichen ist. Meist wird dieser Lernschritt edukativ vorgetragen. Es gibt in vielen Lebensbereichen keine absolute Gewissheit, also muss sich jeder Mensch wohl oder übel mit der Ungewissheit im Leben einrichten.

55 T: „Wenn Sie in ein Flugzeug steigen, können Sie da eigentlich hundertprozentige Gewissheit herstellen, dass es zu keinem Unglück kommt?“ 55 K: „Nein, natürlich nicht.“ 55 T: „Die Fluggesellschaften haben übrigens einmal gedacht, sie könnten in Zukunft mit absoluter Gewissheit Abstürze ausschließen. Ein amerikanischer Transportminister hat einmal gesagt: ‚Unser einziges Ziel für den Flugverkehr kann es sein, dass wir gar keine Unfälle mehr haben.‘ Schön, nicht?“ 55 K: „Genau!“ 55 T: „Besonders nach den Anschlägen vom 11. September 2001 klingt diese Forderung heute aber doch wie eine Parole aus einer fernen Epoche, nicht wahr? Tatsächlich hat die Flugbranche inzwischen die Hoffnung auf restlose Sicherheit aufgegeben. Nüchtern kalkuliert man heute bei der Lufthansa mit 25 ‚Totalverlusten‘ im gesamten weltweiten Luftverkehr jährlich. Ein solches Wort für einen Unfall, bei dem die Maschine und das Leben aller Insassen zerstört werden, klingt erst einmal schlimm. Das dahinter stehende Denken jedoch ist vernünftig. Wir können gegen unvorhersehbare Gefahren nur dann etwas unternehmen, wenn wir auch mit ihnen rechnen. Wenn die Dinge allzu glatt gehen, erwarten wir kein Risiko mehr, und die Aufmerksamkeit wird eingelullt (Klein 2015).“ 55 K: „Irgendwie schrecklich …“ 55 T: „Na ja, aber der Grundgedanke stimmt für viele Alltagssituationen, auch wenn die ungewissen Gefahren viel geringer sind – es lohnt sich, zu akzeptieren, dass Gewissheit oft gar nicht zu erreichen ist. Man fährt besser damit, nicht den Kopf in den Sand zu stecken.“

Es gibt also in vielen Fällen keine erreichbare Gewissheit – daher ist anstrengendes Vergewisserungsverhalten, das sie garantieren möchte, zum Scheitern verurteilt. Eine solche Edukation lässt sich dadurch vertiefen, dass dem Klienten eine Übung aufgegeben wird: sich mehrere Dinge aufzuschreiben, bei denen es keine totale Gewissheit zu erlangen gibt, sodass ein absolutes Gewissheitsverlangen hier schon prinzipiell unerfüllbar ist (das Wetter in der nächsten Woche, keine Erkältung im folgenden Winter etc.). Das Leitziel ist hier in der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie und in der Akzeptanzund Commitment-Therapie (ACT) identisch. Auch die ACT strebt nach „acceptance of the presence of uncertainty, followed by a conscious decision to put one’s efforts on meaningful participation, as opposed to trying to combat the uncertainty“ (Alschuler und Beier 2015, S. 157). Und auch sie geht hier vor allem edukativ vor: Gemeinsam wird sich bewusst gemacht, dass das Leben voller wichtiger und unwichtiger ungewisser Ereignisse ist – sie gehören einfach dazu: Krankheiten, Trennungen, finanzielle Schwierigkeiten, verbunden mit den dabei auftretenden negativen Gefühlen. Daher ist es fundamental wichtig für jeden Menschen, solche Ereignisse akzeptierend als Teil des Lebens

182

Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

zu nehmen, um flexibel mit ihnen umgehen zu können: „This fundamental tenet of ACT captures the essence of the problem for those struggling with a strong Need for Predictability“ (Einstein 2014, S. 294). Mehrere Übungen bringen Patienten die Unvermeidbarkeit des Ungewissen im Alltag ebenso näher wie die bisher unbemerkte Häufigkeit seiner Präsenz. kÜbung 1: Die Ungewissheiten des Alltags

Suchen Sie im Alltag nach Dingen, bei denen Gewissheit einfach nicht garantiert werden kann. Dabei kann es sich um Definitionen handeln, die oft ausgesprochen mehrdeutig sind (Was ist männlich? Was ist Kunst? Was ist Liebe?), aber auch um zukünftige Ereignisse (Wie gesund werde ich im nächsten Jahr bleiben? Wie wird das Fußballspiel am Wochenende ausgehen?). kÜbung 2: Achtsam innere Ungewissheiten wahrnehmen

Die Unvermeidlichkeit des Ungewissen bezieht sich nicht nur auf das Eintreten äußerer Ereignisse – auch innere Regungen kommen oft genug unverhofft. Menschen sind sozusagen durchwirkt mit Ungewissheiten, die sich ebenso wenig komplett beseitigen lassen wie äußere Ungewissheiten (7 Abschn. 2.4), etwa „Wird mir mein Gedächtnis bei der Prüfung einen Streich spielen?“ Die Aufmerksamkeit des Übenden richtet sich hier für eine Weile nach innen, auf den Fluss der Gedanken, Gefühle oder Impulse. Schon die ständig wie aus dem Nichts auftauchenden Facetten des eigenen Erlebens, die ebenso schnell wieder verschwinden können, machen erfahrbar, dass Ungewissheit unvermeidlich ist und auch an vielen Stellen ohne große Umstände hingenommen werden kann. Diese Übung kann ganz informell durchgeführt werden, sich aber auch an einem Achtsamkeitsprotokoll orientieren (Rapgay et al. 2011). Abschließend wird hier wie nach jeder Aufgabe das Ergebnis in eine angemessene Überzeugung übersetzt: „Ungewissheit lässt sich in vielen Lebensbereichen trotz aller Anstrengungen nicht komplett beseitigen … Besser, ich lebe mit der unvermeidlichen Ungewissheit, als nach dem Unmöglichen zu streben.“  

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zz 2. Ist es „normal“, nach absoluter Gewissheit zu streben?

Bei dieser Frage kognitiver Umstrukturierung handelt es sich um die soziale Variante einer empirischen Prüfung: Ist es normal, starr nach einem sehr hohen Maß an Gewissheit zu streben? Machen es andere also genauso? An der physischen Realität ist die Grundannahme, unbedingt Gewissheit haben zu müssen, schon gescheitert  – oft ist hundertprozentige Gewissheit gar nicht erreichbar. Aber ist es wenigstens üblich, nach ihr zu streben? Machen sich andere auch eine derartige Mühe? Umfragen sind ein sinnvolles verhaltenstherapeutisches Instrument, um zu erfahren, wie Menschen im Durchschnitt mit Ungewissheit umgehen. Auch edukativ kann man den Patienten darauf aufmerksam machen, dass es in der Welt längst nicht überall üblich ist, sich über alles Gewissheit zu verschaffen, bevor man handelt: „Wissen Sie, lange hatte man in der Soziologie bei der Vorstellung unserer Welt als einer Wissensgesellschaft angenommen, dass man gar nicht genug Wissen haben kann. Inzwischen sehen viele Fachleute die scheinbar unendliche Flut an Wissen kritischer. Es gibt neuerdings die Vorstellung einer eigentlich gesunden und nötigen ‚vernünftigen Ignoranz‘, die daran erinnert, dass Wissen (und damit Gewissheit)

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ja kein Selbstzweck ist, sondern nur dem Erreichen anderer Ziele dient. Außerdem ist der Gewinn von weiterem Wissen oft mit dem Einsatz von Kraft, Zeit, Aufmerksamkeit und Geld verbunden (Wehling 2015). Nichtwissen und ein Rest Ungewissheit gelten hier als sinnvoll, wenn die Kosten für zusätzliches Wissen höher sind als sein Nutzen. Dann ist jedes weitere Vergewisserungsverhalten unvernünftig geworden. Wenn man an eine Weggabelung kommt, aber über beide Wege nichts weiß, lohnt es sich ja nicht, wieder umzukehren, noch eine bessere Karte der Gegend zu bestellen und so lange zu warten, bis sie geliefert wird. Hier ist es im Gegenteil rationaler, die Ungewissheit nicht mehr weiter zu reduzieren, sondern einfach das Los entscheiden zu lassen und ­weiterzugehen.“ kÜbung 3: Umfrage zum üblichen Umgang mit Ungewissheiten

Fragen Sie eine Reihe von Personen aus Ihrem Bekannten-, Kollegen- oder Familienkreis, wie viele von ihnen wirklich sicher sind, z. B. die Haustür abgeschlossen zu haben, wenn sie die Wohnung verlassen, und welche Mühe sie sich machen, um diesbezüglich absolute Klarheit zu gewinnen. Bei dieser Übung sollen Patienten vorab eine Einschätzung geben, was sie als Antworten erwarten. Oft sind sie dann im Nachhinein überrascht, wie viele ihrer Freunde und Freundinnen nicht ganz sicher sind, sich aber über die verbliebene Ungewissheit keine Gedanken machen (Einstein 2014). Eine ähnliche Frage wäre, wie sehr jemand gewiss ist, bei einer Vorlesung das Wichtigste behalten zu haben (und welche Mühe man sich dafür gemacht hat): Mitstudierende sollen nach einer Stunde sagen, wie viel Material der letzten Stunde sie glauben erinnern zu können. Ein Verhaltensexperiment wird daraus, wenn die Patienten vorab einschätzen sollen, wie das Ergebnis der Umfrage ausfällt. Die abschließende angemessene Überzeugung könnte so lauten: „Es ist völlig normal, sich nicht vollkommen gewiss über alles zu sein. Andere Menschen leben mit der Ungewissheit und kommen trotzdem gut zurecht.“ zz 3. Bringt es mehr Vor- oder Nachteile, nach absoluter Gewissheit zu streben?

Eine hedonistische Prüfung der geringen Ungewissheitstoleranz ist sicherlich die auch für die Ratsuchenden zugänglichste Prüfung ihrer Grundüberzeugungen. Bringt das verbissene Streben nach Gewissheit wirklich weiter? Oder hält es womöglich von Wichtigem ab? Ergeben sich Vor- oder Nachteile aus der Überzeugung, dass unbedingt Gewissheit geschaffen werden muss? Oft wird geraten, der Anschaulichkeit halber die gesamte kognitive Umstrukturierung mit einer hedonistischen Prüfung einer Kognition zu beginnen. Die typischen Grundfragen hierzu sind einfach zu stellen: 55 „Was sind die Folgen, wenn Sie immer ‚Ich muss Gewissheit haben‘ zu sich sagen? Wie fühlen Sie sich da? Wie wirkt sich das auf Ihr Verhalten aus?“ 55 „‚Ungewissheit darf es einfach nicht geben in meinem Leben‘ – wie weit werden Sie mit so einem Gedanken kommen?“ 55 „Welche Folgen hätte es für einen Freund, wenn er nach einer solchen imperativen Überzeugung leben müsste?“ 55 „Sind die Kosten Ihres Gewissheitsstrebens nicht viel höher als der Nutzen – selbst dort, wo Gewissheit erreichbar wäre?“

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

Die Abwägung von Vor- und Nachteilen lohnt sich besonders in Bereichen oder bei Fragen, wo Gewissheit schon an sich nicht erreichbar scheint – so sind oft Gegenstände des Gewissheitsverlangens schon inhärent unklar (Wie kann ich wissen, ob ich nicht homosexuell bin?). Es lohnt sich hier, die Abwägung der Vor- und Nachteile parallel auch für eine alternative Umgangsweise (sich mit der Frage nicht ausführlich zu beschäftigen) durchzuführen und abschließend beide zu vergleichen. Natürlich gelten ähnliche Bedingungen für Ungewissheitstoleranz gegenüber inneren Dingen: Wird man wirklich am nächsten Tag in der Prüfung den gelernten Stoff abrufen können? Liebt man Partner oder Partnerin auch „wirklich“? Die erste und natürlichste hedonistische Prüfung ist sicherlich ein sanftes, interessiertes Fragen nach den Vor- und Nachteilen des eigenen Gewissheitsstrebens.

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55 T: „Also … Sie haben ja von den Sorgen um Ihren Sohn während dessen Arbeit berichtet. In welchen Situationen treten diese Sorgen auf?“ 55 K: „Ach, eigentlich den ganz Tag über.“ 55 T: „Und wann sind besonders intensiv?“ 55 K: „Mhm, mal überlegen … Ich weiß eigentlich, wann er gewöhnlich von der Arbeit zurückkommt. Und da er ja direkt in der gleichen Straße wohnt und diesen amerikanischen Oldtimer mit dem lauten Motor fährt, da höre ich natürlich, ob er zurückkommt. Und wenn ich dann um 14 Uhr dieses Geräusch nicht höre und auch zehn Minuten später noch nicht, dann fangen die Sorgen an.“ 55 T: „Hmhm. Was daran ist besonders angstauslösend?“ 55 K: „Dass er jetzt eigentlich zurück sein sollte, wenn alles normal läuft, es aber nicht ist. Und dass ich nicht weiß, was ihn aufgehalten haben könnte. Dass ich das einfach nicht weiß, das macht mich rasend. Ich muss einfach Gewissheit haben …“ 55 T: „‚Ich muss einfach Gewissheit haben!‘ Diese Überzeugung von Ihnen ist uns nun ja schon sehr oft begegnet. Wenn Sie ihr in der Situation so richtig ihren Lauf lassen – was sind die Folgen?“ 55 K: „Na ja, das läuft ja meistens so: Ich gehe immer wieder zum Fenster und sehe nach, ob er nicht doch schon angekommen ist. Ich spüre immer, dass ich ihn eigentlich anrufen will, und oft mache ich das dann auch. Ich bin total abgelenkt und vergesse sogar manchmal, mit dem Hund rauszugehen. Ich frage meinen Mann, warum unser Sohn wohl noch nicht zurück ist. So etwas.“ 55 T: „Und? Beruhigt Sie das denn?“ 55 K (überlegt): „Na ja, manchmal ein bisschen. Wenn mein Mann sagt, dass er sicher nur länger arbeiten muss oder im Stau steht, bin ich erleichtert. Aber nicht lange. Und dass ich so gespannt bin auf meinen Sohn, das hilft auch irgendwie … Immerhin kann ich so von nichts überrascht werden.“ 55 T: „Und die Nachteile?“ 55 K: „Dafür muss ich nicht erst überlegen: Mein Mann ist genervt, wenn ich ihn schon wieder frage; mein Sohn ist erst recht genervt, wenn ich ihn schon wieder anrufe. Meine eigentlichen Aufgaben bleiben liegen … Und was will ich eigentlich so oft am Fenster? Das hilft ja eigentlich gar nicht. Was für ein Quatsch! Manchmal schäme ich mich richtig vor mir selbst. Ich bin doch echt nicht mehr ganz normal!“ 55 T: „Klingt nach einer ganzen Menge mehr Nachteilen als Vorteilen.“ 55 K: „Ja, stimmt schon.“

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55 T: „Es gäbe also eine ganze Menge für Sie zu gewinnen, wenn Sie nicht mehr derart nach Gewissheit streben würden: Sie könnten sich selbst endlich wieder normal fühlen und den eigentlich wichtigen Dingen nachkommen. Und Ihre Liebsten würden Sie auch wieder als einen ernst zu nehmenden Menschen erleben.“

Die klassische Methode hedonistischer Prüfung ist aber ein Abwägen von Vor- und Nachteilen des Gewissheitsstrebens anhand einer Liste: Dabei werden eher allgemein, über mehrere Ungewissheitssituationen hinweg, die Vor- und Nachteile des eigenen Gewissheitsstrebens nebeneinander aufgelistet und dann verglichen – gelegentlich auch in Form eines Vier-Felder-Schemas: positive/negative Konsequenzen, wenn das rigide Gewissheitsstreben beibehalten wird, Gewinne/Kosten, wenn es durch eine tolerantere Haltung ersetzt wird (s. auch . Tab. 9.2). „Wir haben ja inzwischen einige Ihrer Ungewissheitsituationen detailliert untersucht … Lassen Sie uns einmal zusammentragen, welche Vor- und Nachteile dabei aufgefallen sind.“ Eine alternative Möglichkeit ist eine Skizze, wie die Zukunft ausfallen würde, wenn der Klient oder die Klientin Ungewissheit leichter ertragen könnte: „Bitte schreiben Sie als Hausaufgabe einmal ausführlich auf, wie Ihr Leben aussehen würde, wenn Sie Ungewissheit besser aushalten könnten. Was wäre anders? Und auf welche Weise?“ Durch diese allgemeinere Perspektive fallen neben der offensichtlichen Angst und der Anstrengung des Vergewisserungsverhaltens die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche und ein gewisser Freiheitsverlust stärker als Nachteile ins Auge. Eine solche Liste kann gut bereits früh in einer Therapie oder Beratung zusammengestellt werden, um Klienten und Klientinnen zur Veränderung des Gewissheitsstrebens zu motivieren – die Bereitschaft, von ihm abzulassen, wird so erhöht oder überhaupt erst geweckt. Oft sind Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz durchaus überrascht zu sehen, dass ihr Beharren auf absoluter Gewissheit möglicherweise mehr Nach- als Vorteile hat.  

..      Tab. 9.2  Verzicht auf absolutes Gewissheitsstreben: Vor- und Nachteile Vorteile

Nachteile

Nicht mehr so viel anstrengendes Vergewisserungsverhalten.

Vielleicht von etwas Negativem überrascht werden (ist aber unwahrscheinlich).

Nicht mehr so viele Nachfragen bei anderen – andere werden daher weniger ärgerlich auf mich.

Etwas weniger Gewissheit erlangen, weil man weniger danach strebt (aber der Unterschied ist gewöhnlich nicht wirklich groß).

Sich nicht mehr wie unter Zwang fühlen, sondern selbstbestimmter.



Weniger Hilflosigkeitsgefühle, wenn man trotz aller Bemühungen die Ungewissheit nicht komplett beseitigen kann.



Sich wieder „normal“ fühlen.



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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

Die aufgelisteten Nachteile des ausgeprägten Gewissheitsverlangens überwiegen gewöhnlich die Vorteile deutlich, und dies sollte abschließend klar angesprochen werden. Zusätzlich lohnt es sich, die Validität der einzelnen Vorteile des Gewissheitsstrebens näher zu prüfen.

55 T: „Wie wichtig sind die Vorteile eigentlich, die Sie nun aufgelistet haben?“ 55 K: „Na ja, sie sind eigentlich gar nicht so wichtig, denn es ist ja so extrem unwahrscheinlich, dass sie überhaupt eintreffen.“

Auch hier bieten sich wieder kleine Zeichen von Ungewissheit oder Vergewisserungsverhalten innerhalb der Therapiesitzung (In-Session-Fokus) als ein sinnvoller Ausgangspunkt an, um einem Patienten die Nachteile des Gewissheitsverlangens zu verdeutlichen (ähnlich Vandenberghe 2007).

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55 K (schaut auf den Kalender im Handy): „Also, am nächsten Donnerstag haben wir jetzt gesagt, oder? Wegen des nächsten Termins, meine ich …“ 55 T: „Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass Sie mich nach jeder Sitzung noch zweimal fragen, wann der nächste Termin denn nun genau ist?“ 55 K: „Ach! Wirklich? Na, sicher ist sicher … Ach so! Jetzt verstehe ich …“ 55 T: „Sicher, das ist eine Kleinigkeit, aber wissen Sie, wie das auf mich wirkt? Sie bringen mich damit jedes Mal in eine kleine Klemme – wenn ich Ihnen einfach die Vergewisserung in Bezug auf den Termin gebe, verstärke ich ja eigentlich das problematische Verhalten, an dem wir arbeiten, und mache etwas Schlechtes für Sie. Wenn ich das aber nicht mache, dann bin ich Ihnen gegenüber unhöflich. Wohl fühle ich mich nicht, wenn Sie mich so fragen …“ 55 K: „Na ja, das finde ich aber jetzt doch übertrieben von Ihnen, wenn ich das mal sagen darf … Andere Leute antworten doch auch immer ganz unkompliziert auf meine Fragen. Gut, vielleicht stelle ich solche Fragen ein bisschen häufiger als andere.“ 55 T: „Aber was meinen Sie, wie andere sich fühlen, wenn Sie sie immer wieder mit ähnlichen Fragen traktieren – auch wenn sie es vielleicht nicht aussprechen?“ 55 K: „Hm … Sie meinen, ich gehe damit auch anderen auf die Nerven?“ 55 T: „Kann ich nicht sagen, ich kenne Ihre Leute ja gar nicht näher. Was denken Sie? Und wie geht es Ihnen selbst mit jemandem, der bei Ihnen immer wieder nachfragt?“

zz 4. Ist es immer gleich wichtig, absolute Gewissheit zu erlangen? Ist es in jedem Fall erstrebenswert, Gewissheit zu erlangen?

Zum einen gilt es hier, die Betroffenen auf Lebensbereiche aufmerksam zu machen, in denen es für sie selbst gar nicht wünschenswert ist, vorab Gewissheit zu haben. Einen Film, von dem man jede Szene schon vorher kennt, sieht sich niemand mehr gebannt an. Und ein Geschenk, das schon bekannt ist, ist keine schöne Überraschung mehr. Das Leben wäre möglicherweise langweilig ohne diese Ungewissheiten: „Wenn ich morgens schon wüsste, wie mein Tag genau aussieht, käme ich mir ansatzweise tot vor. Zufälligkeit ist unabdingbar für das wahre Leben“ (Taleb 2013, S. 115). kÜbung 4: Liste der schönen Ungewissheiten

Machen Sie eine Liste von fünf Dingen, bei denen es schade wäre, sie bereits vorher zu kennen (z. B. Geburtstagsgeschenk).

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Aber auch außerhalb dieser Ausnahmen erwünschter Ungewissheit finden sich bei Patientinnen und Patienten oft Inkonsistenzen darin, wie gut sie in verschiedenen Lebensbereichen mit Ungewissheit zurechtkommen. Hier lohnen sich Fragen nach den Ausnahmen größerer Ungewissheitstoleranz: „Gibt es in anderen Lebensbereichen Ungewissheiten, mit denen Sie ganz gut leben können? Wie stellen Sie das an? Können Sie das übertragen?“ kÜbung 5: Wie wichtig ist Gewissheit?

Dies ist der Einsatzbereich von Kontinuumstechniken: An einem langen Strich auf einem Blatt oder einer Tafel wird an den Endpunkten „Gewissheit ist extrem wichtig“ und „Gewissheit ist nicht so wichtig“ eingetragen. Daraufhin erwägen Patient und Therapeut Aspekte, bei denen es wichtig ist, sich sehr sicher zu sein (der eigene Name und die Adresse, der eigene Verdienst, der Name des Partners). Dann werden Punkte ergänzt, bei denen Gewissheit nicht so wichtig ist (Geburtstag eines Kollegen, ein B ­ uchtitel, der Name eines Filmschauspielers). Man kann diese Aufgabe auch als Umfrage durchführen, wenn dem Patienten alles sehr wichtig zu sein scheint: Bei welchen Dingen ist anderen Menschen Gewissheit sehr wichtig, bei welchen weniger? Abschließend entwickelt man mit dem Patienten gemeinsam eine alternative, angemessene Überzeugung für diesen Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz – das Gewissheitsverlangen also. Das alternative kognitive Schema könnte in etwa klingen wie (fett gedruckt) folgt. Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz Ungewissheitstoleranz besteht aus der Überzeugung, dass (a) gar nicht für alle Situationen Gewissheit zu erreichen ist und dass es (b) also gar nicht möglich und (c) manchmal zwar wünschenswert, aber nicht zwingend notwendig ist, einer zukünftigen Entwicklung (d) gewiss zu sein.

Zur Vertiefung der nun schon rational gestützten alternativen Überzeugung eines flexiblen Gewissheitswunsches bieten sich eine ganze Reihe von Übungen an, um das mögliche Leben mit Ungewissheit einüben zu lassen. kÜbung 6: Ungewissheit besser aushalten

Bei diesen Übungen gilt es achtzugeben, dass wirklich die Ungewissheitstoleranz steigt – und nicht bloß durch die Wiederholung ähnlicher ungewisser Situationen die Ungewissheit sinkt, also die Gewissheit zunimmt. Schließlich entsteht Gewissheit vor allem dort, wo man etwas „wie immer“ macht, also Gewohnheiten und Routinen entwickelt hat (Dalbert und Radant 2010). Im Alltag kann man das Bewusstsein für eine Übung unter Ungewissheit z. B. dadurch erhöhen, dass man dem Klienten eine Karte mit einem Fragezeichen mitgibt und von Fragezeichen-Übungen spricht (Keefer et al. 2017). 55 In einen Film gehen, über den man nichts weiß. 55 In einem unbekannten Geschäft einkaufen. 55 In einem Restaurant etwas bestellen, das man noch nicht probiert hat. 55 Wenn man eine Flasche Wein für eine Party mitbringen soll, diese kaufen, ohne groß nach Rat zu fragen.

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 Eine E-Mail abschicken, ohne sie auf Fehler zu korrigieren. 55 Ohne Einkaufsliste in den Supermarkt gehen. 55 Mit Freunden ausgehen und diese alleine Pläne dafür machen lassen. 55 Die Kinder nicht auf dem Smartphone anrufen, wenn sie bei Freunden sind. 55 Wichtige Aufgaben an andere delegieren, ohne diese beständig deswegen zu kontrollieren. 55 Flexibilitätsübungen sind ebenfalls immer auch Übungen im Aushalten von Ungewissheit (Bischof und Gönner 2009): die Zähne mit der nicht dominanten Hand bürsten, etwas anderes zum Frühstück essen, eine andere Zeitung lesen als üblich. Die Erfahrungen bei den Übungen werden anschließend ausgewertet: die aufgetretenen Gefühle und Gedanken, die Ergebnisse. Gerade auch, wenn etwas schiefgegangen ist, lohnen sich Fragen nach dem spontanen Bewältigungsverhalten: Sind die Übenden letztlich trotzdem mit der ungewissen Situation fertiggeworden? kÜbung 7: Achtsamkeit

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Achtsamkeitsübungen können ebenfalls einen anderen Umgang mit dem Gewissheitsverlangen vertiefen helfen. Die Übenden erleben, wie das eigene Gewissheitsverlangen plötzlich aufsteigt, wie sich daraus schnell Sorgen entwickeln, wie sie beginnen, sich unwohl zu fühlen. Aber sie reagieren in der Achtsamkeitsübung darauf eben nicht mit Vergewisserungsverhalten, sondern beobachten diese Eindrücke aufmerksam und neutral für eine Weile weiter. Die Einsicht, wie sehr dies Verlangen das Wohlbefinden stört, motiviert oft dazu, sich akzeptierend davon zu lösen: Klienten werden sich bewusster, wie unnötig das Gewissheitsverlangen ist, dass Ungewissheit doch ein Teil des normalen Lebens ist, dass sie ihr Gewissheitsverlangen auch einfach loslassen und die Ungewissheit annehmen können. Sie erleben dann vielleicht, wie das Gewissheitsverlangen wie Wolken davonzieht, wenn der Griff gelockert wird. Jenseits des Gewissheitsverlangens drehen sich alle anderen Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz, so könnte man sagen, um die befürchteten Folgen der Auseinandersetzung mit Ungewissheit – letztlich wirken sie wie „Gründe“, warum der Ungewissheit unbedingt aus dem Weg gegangen werden sollte (7 Abschn. 2.3.2).  

9.2.2  Die Bedrohlichkeit des Ungewissen (Dimension 2):

„Ungewissheit ist gefährlich“

Diese Dimension geringer Ungewissheitstoleranz kreist um die Überzeugung, dass unerwartete Ereignisse etwas Negatives mit sich bringen und deswegen vermieden werden sollten. Dabei geht es insbesondere um einen speziellen Aspekt dieser Negativität: nämlich die potenzielle Gefährlichkeit ungewisser Situationen. Manche Forscher definieren Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) geradezu über diesen Aspekt – „the belief that uncertainty, newness, and change are intolerable because they are potentially dangerous“ (OCCWG 1997, S. 669). Und auch empirisch finden sich Indizien für die enge

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Verbindung von geringer Ungewissheitstoleranz und einer übertriebenen Gefahreneinschätzung: „Empirical studies observed that individuals who are intolerant of uncertainty will perceive more sources of danger in their daily life and have more reactions of hypervigilance when they are faced with uncertain or ambiguous situations“ (Vander Haegen et al. 2016, S. 3). Dabei kann das Bedrohliche oder Negative, das sich im Möglichkeitshorizont geringer Ungewissheitstoleranz breitmacht, wie schon an den Beispielen zu sehen war, sehr weit streuen – von einem lebensbedrohlichen Unfall des Sohns bis zu einem verdorbenen Abend im Restaurant oder einem Zu-spät-Kommen bei einem Arzttermin. Sobald einer oder mehrere solcher negativen Ausgänge zum Horizont der Möglichkeiten einer ungewissen Situation gehören, beginnen sie bei Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz diesen auch gleich zu dominieren. Es scheint den Betroffenen so, als ziehe diese Möglichkeit ihre Aufmerksamkeit fast magisch an, als ginge es nur noch um deren Eintreten oder dessen Verhinderung. Während ungewissheitsintolerante Personen also ungewisse Situationen oft als Bedrohung, als Ankündigung von etwas Negativem bewerten, das es zu vermeiden gilt, schätzen Ungewissheitstolerante ungewisse Situationen eher als sogar aufzusuchende Herausforderungen ein. Schon für Personen ohne eine besonders geringe ­Ungewissheitstoleranz gilt aber: Je weniger überschaubar und vorhersagbar eine Situation erscheint, als desto bedrohlicher wird sie auch erlebt. In weniger ungewissen Situationen schlägt dieses Muster dann um, der Herausforderungscharakter überwiegt – und der Eindruck von Gefährdung und Überforderung tritt in den Hintergrund. Ein Nebeneinander von bedrohlichen und herausfordernden Aspekten findet sich dagegen im Bereich mittlerer Unsicherheit, wo lähmende Gefühle der Angst und Hilflosigkeit in ähnlicher Ausprägung vorkommen (Lantermann et al. 2009). Aus dem Komplex geringer Ungewissheitstoleranz handelt es sich hier um die folgende (fett gedruckte) Facette. Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt, und (b), dass es möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

Gewöhnlich wird der therapeutische Umgang mit Bedrohungen oder möglichen negativen Ausgängen unter dem Stichwort einer angemessenen oder übertriebenen Gefahreneinschätzung konzeptualisiert: Menschen stellen sich in einer Situation negative mögliche Konsequenzen vor, spielen in einer mentalen Simulation verschiedene Zukunftsvarianten durch und schätzen dabei deren Eintretenswahrscheinlichkeit und die der möglichen Folgen sowie die eigene Bewältigungsfähigkeit ein. Emotionales Arousal kommt auf, wenn die subjektiven Wahrscheinlichkeiten negativer Ereignisse und deren Folgen hoch erscheinen, die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten dagegen gering (oder schwer einzuschätzen).

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

Entsprechend sind typische Fragen zur Umstrukturierung vorliegender Gefahrenüberschätzungen in der kognitiven Verhaltenstherapie: 55 „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die angenommenen Situationen wirklich eintreten?“ 55 „Wie wahrscheinlich kommt es überhaupt zu den von Ihnen befürchteten Folgen?“ 55 „Und wie fallen Ihre Bewältigungsmöglichkeiten eigentlich wirklich aus?“ Dies sind auch beim Umgang mit geringer Ungewissheitstoleranz wichtige Aspekte, die in einem anderen Unterkapitel berührt werden (7 Abschn. 9.4.2). Aber diese Daumenpeilungen der Wahrscheinlichkeit negativer Ausgänge scheinen die hier vorgestellte Dimension nicht im Kern zu treffen: Schließlich sind ungewisse Situationen ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass den Ausgangsalternativen keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können – sie sind möglich, aber ihre Wahrscheinlichkeit ist nicht wirklich zu bestimmen. Bestimmt jemand sie trotzdem, dann verwandelt er ungewisse Situationen eigentlich in riskante Situationen (7 Abschn. 3.2.1). Hier geht es um einen anderen Aspekt: Allein schon die Möglichkeit einer Gefahr, egal wie unwahrscheinlich, wird bei geringer Ungewissheitstoleranz nur schwer ertragen und dominiert dann schnell den Horizont des Möglichen. Die Betroffenen denken nur noch an diese eine Möglichkeit (Hat der LKW des Sohns womöglich einen Unfall?). Es ist also nicht nur so, dass Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr unbedingt überschätzen, daher geht es auch in den Interventionen weniger darum, eine solche Gefahrenüberschätzung zu korrigieren. Vielmehr geht es zuerst darum, einer Person mit einem auf Gefahr eingeschränkten Möglichkeitshorizont wieder den gesamten Möglichkeitsraum eines ungewissen Ausgangs zugänglich zu machen. Man folgt dabei der Maxime: „Ja, das ist schon möglich, aber was ist eigentlich noch alles möglich?“ Zunächst lohnt sich aber eine edukative Einleitung.  



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kEdukation: Die ursprüngliche Bedeutung des Zufalls

„Ja, es stimmt, ein bedrohlicher Ausgang ist bei einer ungewissen Situation durchaus möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Um aber dadurch nicht so beeinträchtigt zu werden, lohnt es sich, sich die ursprüngliche Bedeutung von Begriffen wie ‚Risiko‘ oder ‚Zufall‘ in Erinnerung zu rufen. Ursprünglich war ‚Risiko‘ nicht nur ein Begriff für Gefahr, sondern konnte gleichermaßen ‚Glück‘ wie ‚Unglück‘ bedeuten. Im Englischen wird heute noch deutlich, dass der Zufall auch freundliche Züge haben kann – ‚chance‘ bedeutet dort auch ‚Möglichkeit‘ oder sogar ‚Glück‘. Es muss also, wenn ein Ausgang ungewiss ist, nicht immer etwas Schlimmes passieren. Nehmen Sie nur eins von vielen Beispielen: Viagra war ursprünglich ein verunglücktes Herzmittel – dass es noch eine andere Wirkung hatte, fiel den Forschern auf, als die männlichen Versuchspersonen ihr Medikament gar nicht mehr absetzen wollten. Und überhaupt: ‚Alle Erfindungen gehören dem Zufall an‘, meinte der berühmte Naturforscher, Mathematiker und Autor Lichtenberg, ‚sonst könnten sich vernünftige Leute hinsetzen und Entdeckungen machen, so wie man Briefe schreibt‘ (Klein 2015). Um nicht nur auf einen negativen Ausgang zu schielen und beängstigt zu sein, sondern die ganze Bandbreite der Möglichkeiten im Auge zu behalten, möchte ich Ihnen eine Übung vorschlagen.“

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kÜbung 8: All-Case-Szenario

Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz verengen ihren Blick schnell auf nur einen und besonders gefährlichen Ausgang. Um den Blick wieder zu öffnen, lohnt sich eine Variante der bekannten Szenario-Übungen. Sie kann bewirken, dass man nicht immer nur an eine mögliche Katastrophe denkt. Sie hilft, das Ungewisse anders einzuschätzen, weil sie einen zwingt, auch andere Ausgänge im Kopf zu haben, nicht nur den schlimmsten. Sie macht also keine Wahrscheinlichkeitsvorhersagen, sondern entwirft mögliche Zukünfte. Therapeut und Patient verfahren dabei so: Aus dem Spektrum guter bis schlechter Ausgänge entwickeln sie zusammen mindestens drei Szenarien: Eins mit einem sehr guten Ausgang (Best-Case-Szenario), eins mit einem typischen Ausgang (Trend-Szenario) und eins mit einem ungünstigen Ausgang („Worst-Case-Szenario“).

55 T: „Sie sind also wie gefesselt von dem möglichen gefährlichen Ausgang der LKW-Schicht bei Ihrem Sohn. Eigentlich denken Sie immer nur an diesen einen Ausgang …“ 55 K: „… dass er einen schweren Unfall hat, ja … Dann sehe ich ihn schwer verletzt im Straßengraben liegen.“ 55 T: „Und das, obwohl Tag für Tag eigentlich etwas anderes passiert …“ 55 K: „Genau. Er hatte ja noch nie einen größeren Unfall in den ganzen Jahren. Und wenn, dann ist man in dem großen LKW wahrscheinlich auch ziemlich sicher.“ 55 T: „Um Ihnen zu helfen, sich aus den Fesseln dieses einen schlimmen Ausgangs und der damit verbundenen Angst zu befreien, möchte ich mit Ihnen andere mögliche Ausgänge überlegen, die Sie sich dann ebenfalls täglich vorstellen sollen. Was ist eigentlich der typische Ausgang?“ 55 K: „Na, dass er ganz unversehrt und ohne Unfall nach Hause kommt, vielleicht mal eine Stunde zu spät.“ 55 T: „Okay, das ist der typische Ausgang. Einen besonders schlechten stellen Sie sich ja immer schon vor … Können Sie sich auch einen besonders guten vorstellen? Quasi das Gegenstück?“ 55 K (stutzt): „Äh …. Na, vielleicht, dass er nach der Schicht ankommt und erzählt, er habe überraschend eine Gehaltserhöhung bekommen (lacht). Dann braucht er mich vielleicht auch nicht mehr am Monatsende anzupumpen …“ (stockt etwas peinlich berührt) 55 T: „Okay, nehmen wir einfach diese drei Ausgänge: den gefährlichen, den typischen und den guten. Ich möchte Sie bitten, sich immer, wenn Ihnen der gefährliche durch den Kopf geht, auch die beiden anderen vorzustellen. Schließlich sind die ja auch möglich.“

Oft sind die befürchteten Katastrophen, um die sich das Bedrohliche einer ungewissen Situation dreht, aber gar nicht so dramatisch wie ein schwerer Unfall – manchmal geht es auch nur um das Verpassen eines Arzttermins. Bei solchen weit weniger schrecklichen Konkretisierungen der Überzeugung „Ungewissheit ist gefährlich“ bietet sich noch eine weitere Intervention an. Ausgangspunkt ist hier die impulsive Übertreibung des Schrecklichen eines negativen Ausgangs und deren Korrektur. In der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) spricht man bei solchen kognitiven Übertreibungsprozessen vom Awfulizing  – eine Wortschöpfung, die sich nur schwer übersetzen lässt – etwa mit „Alles-entsetzlich-machen“ (Ellis 1997, S. 172) oder Verschrecklichen: Anders als beim Katastrophisieren geht es dabei nicht um das Herauf-

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

beschwören eines Reigens katastrophaler Folgen, um Sorgenketten („Der kleine Fleck auf der Haut ist sicher Hautkrebs, es wird zu sehr schmerzhaften Behandlungen kommen, die aber letztlich alle vergeblich sein werden – schließlich werde ich kläglich dahinsiechen und sterben“). Ein Ausruf wie „Oh, how awful!“ – „Mein Gott, wie schrecklich!“ – trifft das Konzept genauer (Schwartz 2012; Spitzer 2013): Es ist eben schrecklich, entsetzlich, wirklich schlimm … den Arzttermin zu verpassen. Mein Gott, wie peinlich! Hilfreich wäre dagegen ein „non awfulizing belief “ (Dryden 2003, S. 10) – eine realistische Bewertung, wie schlimm ein Sachverhalt wirklich ist. Sie verneint, dass jeder schlechte, unerwünschte Sachverhalt zu hundert Prozent schlimm ist: „Das ist schon schlecht, was passiert ist, aber es ist keinesfalls entsetzlich.“ Dies gilt es hier dem Klienten nahezubringen.

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55 T: „Herr W., mal angenommen, trotz aller handlungsmäßigen Geschicklichkeit schaffen Sie es einfach nicht zu Ihrem Arzttermin. Und aus irgendeinem Grund wissen Sie auch, was nun die Sprechstundenhilfe über Sie denkt: ‚Wieder so ein rücksichtsloser Typ, der seinen Termin nicht einmal höflicherweise absagt! Unmöglich!‘ Wie wäre das für Sie?“ 55 K: „Das wäre mir unglaublich peinlich. Schlimm!“ 55 T: „Schlimm? Was passiert eigentlich, wenn Sie diese Möglichkeit so bewerten … als etwas wirklich Schlimmes?“ 55 K: „Na ja, das macht schon einen enormen Druck auf mich, dass es so ausgehen könnte.“ 55 T: „Aber wie schlimm ist die Sache wirklich? Das würde ich gern noch einmal mit Ihnen prüfen. Schlimm sind doch eigentlich Sachen, die gravierende Folgen haben, also vielleicht lebensbedrohlich sind oder den Lebensspielraum stark einschränken. Ein schwerer Unfall vielleicht. Ist das hier der Fall? Also: den Termin verpassen und so bewertet werden – ist das lebensbedrohlich?“ 55 K (zunächst stumm wegen der Selbstverständlichkeit der Antwort): „… natürlich nicht.“ 55 T: „Und schränkt es Ihren Lebensspielraum stark ein?“ 55 K: „Auch nicht. Höchstens traue ich mich nur nie mehr zu diesem Arzt vor Scham.“ 55 T: „Okay, wenn der beschriebene Ausgang also eigentlich nicht wirklich ‚schlimm‘ zu nennen ist, welche Bewertung passt dann besser?“ 55 K: „Unangenehm … peinlich eben, aber nicht ‚schlimm‘. Das sind ganz andere Sachen.“ 55 T: „Ist der mögliche Ausgang der ungewissen Situation dann eigentlich noch wirklich gefährlich? Wenn es keinen wirklich schlimmen Ausgang gibt?“ 55 K: „Mhm, eigentlich nicht.“

Abschließend entwickeln Therapeut und Patient wieder gemeinsam eine alternative, funktionale Überzeugung für diese Dimension geringer Ungewissheitstoleranz. Das alternative kognitive Schema zur Gefährlichkeit von Ungewissheit könnte in etwa klingen wie folgt. Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz Ungewissheitstoleranz besteht aus der Überzeugung, dass in ungewissen Situationen schlechte, aber auch gute und neutrale Ausgänge möglich sind und dass selbst die schlechten Ausgänge oft gar nicht wirklich so schlimm sind, dass man sie unbedingt verhindern müsste.

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9.2.3  Das Anstrengende des Ungewissen (Dimension 3):

„Ungewissheit ist belastend“

Hier geht es um Überzeugungen, die ungewisse Lagen zwar nicht als gefährlich, aber als belastend beurteilen, wobei die vorgestellten Belastungen sich individuell unterscheiden können: „Uncertainty makes me vulnerable, unhappy, or sad“ (Einstein 2014, S. 285). Wenn schon konkret vielleicht keine Bedrohung, so werden hier ungewisse Situationen allgemein als eine Zumutung bewertet – etwas, das Kraft kostet, belastend ist, vielleicht derart belastend, dass man es einfach nicht mehr aushalten kann. Ungewissheit, so diese Überzeugung, führt zu Stress und Frustrationserfahrungen (Buhr und Dugas 2002). Es geht um den folgenden (fett gedruckten) Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz. Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

Ist Ungewissheit immer eine Belastung oder Anstrengung? Auch hier lohnt es sich, die Betroffenen gleich zu Anfang daran zu erinnern, dass es auch angenehme Ungewissheiten gibt  – „finding twenty dollars in an old pair of jeans, unwrapping presents, or meeting someone new“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 159). Ungewissheit muss also nicht zwangsläufig mit Belastung verbunden sein. Noch wichtiger ist es natürlich, Klienten zu vermitteln, dass eher die eigene Intoleranz gegenüber Ungewissheit und die damit verbundenen Versuche, sich wieder Gewissheit zu verschaffen – das Kontrollverhalten und Sichsorgen – die eigentlichen Quellen der Belastung sind, nicht die Ungewissheit an sich.

55 K: „Dass ich einfach nicht weiß, ob mein Sohn auf seiner LKW-Fahrt einen Unfall hat oder gesund nach Hause kommt, das belastet mich wirklich sehr. Ich finde diese Ungewissheit wirklich oft genug unerträglich …“ 55 T: „‚Die Ungewissheit ist wirklich eine Belastung für mich‘ – so ungefähr?“ 55 K: „Ja! Natürlich!“ 55 T: „Was daran genau ist eigentlich so anstrengend für Sie?“ 55 K (etwas genervt): „Na, wie schon oft gesagt: dass ich immer wieder daran denke, wie es ihm geht, dass ich immer wieder aus dem Fenster sehen, ob er jetzt nach Hause kommt, dass ich mich dazu zwingen muss, mich auf andere Sachen zu konzentrieren.“ 55 T: „Benehmen sich eigentlich andere Leute genauso, die ja auch nicht sagen können, ob ihre erwachsenen Kinder gesund von der Arbeit heimkommen? Wie passt das zu dem Grundgedanken der Therapie, den wir ja schon oft besprochen haben: ‚Es ist nicht die Sache selbst, sondern immer auch die Brille, durch die wir sie sehen‘?“ 55 K: „Nein, nein … Ah, jetzt verstehe ich! Die Ungewissheit ist es gar nicht, die mich so belastet. Sonst müsste es denen ja genauso gehen.“

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 T: „Sondern?“ 55 K: „Na ja, ich halte die Ungewissheit eben schlechter aus als die.“ 55 T: „Man könnte ja sogar sagen, dass es gerade so Gedanken sind wie ‚Die Ungewissheit ist so belastend, die halte ich kaum aus‘, die dafür sorgen, dass die Situation für Sie belastender ist als für andere. Nicht wahr?“

Möglicherweise steckt aber noch etwas anderes hinter der IU-Kognition „Ungewissheit ist belastend“ – nämlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Ungewissen nicht nur anstrengend, sondern zu anstrengend/belastend ist, eigentlich nicht auszuhalten. In der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) gelten solche Überzeugungen als Beispiel einer „frustration intolerance“ (David et al. 2005, S. 181) oder, anschaulicher, der Ich-kann-es-nichtaushalten-Krankheit („I can’t stand it“). Ungewissheit ist danach derart unerträglich, dass es völlig unmöglich wird, dem Leben mit Ungewissheit auch nur das geringste Quantum Freude abzugewinnen: „Das ertrage ich so einfach nicht mehr! Ich halt’s nicht mehr aus!“ Bei einer hohen Frustrationstoleranz (7 Abschn.  3.2.1) dagegen gibt eine Person zwar zu, dass ein Lebensumstand hart ist, aber verneint gleichzeitig dessen Unerträglichkeit. Sie macht sich vielmehr klar, dass es sich lohnt, diese Lebensumstände trotzdem auszuhalten (Dryden 2003). Eine solche hohe Frustrationstoleranz nimmt Gestalt an in Kognitionen wie „Es ist schon hart, aber nicht das Ende der Welt“ oder „Ich kann letztlich schon vieles aushalten. Und oft lohnt es sich“. Eine ähnliche Grundeinstellung gilt es hier nun gegenüber der Ungewissheit zu erreichen. Dabei lohnt es sich, in der kognitiven Umstrukturierung von zwei Tatsachen auszugehen: Kognitionen geringer Frustrationstoleranz sind empirisch falsch, weil die Fähigkeit, Unbehagen auszuhalten, nicht in angemessener Beziehung zu der wirklichen Unannehmlichkeit des aversiven Ereignisses steht. Sie sind zudem nicht hilfreich, weil sie einen kurzfristigen Hedonismus fördern, der jede Unannehmlichkeit vermeidet – und die Betroffenen dabei um das Erreichen langfristigerer Ziele bringt.  

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55 T: „Sie sagen immer wieder ‚Ich halt’s einfach nicht mehr aus!‘ Mal provokativ gefragt: Wenn das wortwörtlich stimmen würde, was müsste dann passieren?“ 55 K: „Ähm, na ja – dass man stirbt?“ 55 T: „Genau, wenn man etwas körperlich wirklich nicht mehr aushält, dann stirbt man. Wenn man etwas psychisch nicht mehr aushält, dann wird man vielleicht verrückt. Und? Wie oft sind Sie schon an der Ungewissheit um Ihren Sohn gestorben?“ 55 K (schweigt) 55 T: „Genau. Zum Glück noch nie. Wozu führt eigentlich dieser Gedanke ‚Ich halt es nicht mehr aus! Ich halt es nicht mehr aus!‘ in der Situation zu Hause?“ 55 K: „Dann greife ich meistens zum Telefon und rufe meinen Sohn doch an … obwohl ich mir fest vorgenommen habe, das auf keinen Fall mehr zu tun.“ 55 T: „Und dann?“ 55 K: „Na ja, wenn er rangeht, dann bin ich erst mal erleichtert. Macht er aber leider nicht immer – und wenn nicht, mache ich mir nur noch mehr Sorgen.“ 55 T: „Und gibt es sonst noch Folgen?“ 55 K: „Mein Sohn wird wieder wütend auf mich. Ich selbst schäme mich fürs Anrufen und fühle mich irgendwie klein. Und beim nächsten Mal fällt es mir dann noch schwerer mit der Ungewissheit.“ 55 T: „Wenn der Gedanke ‚Ich halte es nicht mehr aus!‘ also irgendwie nicht stimmt, übertrieben ist und auch eigentlich gar nicht hilft … was wäre denn dann hilfreicher und richtiger?“

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Abschließend entwickeln Therapeut und Klient wieder gemeinsam eine alternative, funktionale Überzeugung für diesen Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz. Das alternative kognitive Schema zur starken Belastung durch Ungewissheit könnte in etwa klingen wie folgt. Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz Ungewissheitstoleranz besteht aus der Überzeugung, dass auch ungewisse Situationen nicht zwangsläufig belastend sein müssen – oft ist es mehr die geringe Ungewissheitstoleranz als die Ungewissheit selbst – und dass Ungewissheit manchmal zwar schon hart, aber ganz bestimmt nicht unaushaltbar ist.

9.2.4  Paralyse durch Ungewissheit (Dimension 4):

„Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“

Ungewissheit raubt die eigene Handlungsfähigkeit – so lässt sich der Kern dieser Dimension geringer Ungewissheitstoleranz fassen. Die Betroffenen sind überzeugt, wie gelähmt zu sein, wenn sie unter Ungewissheit handeln müssen (Einstein 2014). Diese Dimension geringer Ungewissheitstoleranz hat besonders gravierende Auswirkungen, denn sie vermittelt zwischen einer ungewissen Situation und anschließenden Angstgefühlen: Kennt eine Person Handlungsoptionen, die geeignet und gleichzeitig verfügbar erscheinen, die eigenen Lebensumstände in gewünschter Weise zu beeinflussen, fühlt sie sich auch von einer ungewissen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit eher herausgefordert. Umgekehrt lösen Zweifel an den eigenen Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten mehr oder weniger starke Bedrohungsgefühle aus (Lantermann et al. 2009; Sookman et al. 2001). Sich mit diesem Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz therapeutisch auseinanderzusetzen ist also essenziell. Es geht um folgenden Aspekt in der kognitiven Architektur geringer Ungewissheitstoleranz. Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

Die Beziehung zwischen Handeln und Ungewissheit ist dabei vertrackt: Einerseits sorgt Ungewissheit wie beschrieben für ein Zurückschrecken vor dem Handeln; andererseits beginnt Handeln im eigentlichen Sinn erst dort, wo gerade noch nicht alles klar und gewiss ist – erst die Offenheit einer Situation, ihre Ungewissheit, sorgt für Handlungsfreiheit. Handeln ist schließlich mehr als Verhalten – ein Richter, der einen Fall nach den geltenden Paragrafen entscheidet, und jemand, der aus purer Gewohnheit tut, was er eben immer tut, handeln noch nicht. Häufig hat der Begriff des Handelns einen leicht ehrenvollen Strahlenkranz um sich: Es zeichnet Menschen aus, gerade in nicht komplett

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

bestimmten Situationen (oder sogar gegen als unsinnig angesehene Regeln) Verantwortung zu übernehmen und so von ihrer Handlungsfreiheit Gebrauch zu machen (7 Abschn. 2.3.1). Neben diesem Aspekt der Handlungsmöglichkeit auch und gerade in unbestimmten Situationen spielt natürlich auch der Aspekt der Handlungsfähigkeit eine wichtige Rolle, wenn es ums Handeln geht: die Überzeugung, eine Handlung auch erfolgreich umsetzen zu können. Beide Aspekte können sich lähmend auswirken: nicht wissen, wie man auf eine Situation reagieren soll, um das eigene Ziel zu erreichen, oder überzeugt sein, es nicht erfolgreich umsetzen zu können. Und so finden sich auch beide Aspekte bei geringer Ungewissheitstoleranz. An konkreten Aussagen lassen sie sich gut unterscheiden: 55 Handlungsmöglichkeit: „Wenn die Lage ungewiss ist (also die Folgen einer Entscheidung oder Handlung zwar bekannt, aber nicht wirklich zu berechnen sind), dann bin ich wie gelähmt.“ 55 Handlungsfähigkeit: „Wenn ich nicht wirklich ganz sicher bin in Bezug auf eine Sache, dann mache ich bestimmt einen Fehler (und Fehler wären schlimm, dürfen nicht passieren).“  

Fallbeispiel

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Auf die Frage, warum er es eigentlich so lange aufgeschoben habe, zum Arzt zu fahren, es sei doch eine reine Routineuntersuchung und sogar nicht ganz unwichtig für ihn, muss Herr W. selbst erst einmal überlegen. Ja, warum eigentlich? Nun, er war noch nie bei diesem Arzt, und die Praxis liegt in einem Viertel, das er nicht gut kennt. Was, wenn er einen Termin verabredet, aber dann dort keinen Parkplatz findet? Schließlich kennt er die Situation mit den Parkplätzen dort einfach nicht genau: Ist dort viel Betrieb? Kann man am Straßenrand parken? Gibt es dort vielleicht nur Anwohnerparkplätze? Ist ein Parkhaus in der Nähe? Und wenn ja, hat es an diesem Tag überhaupt geöffnet? Und wie teuer ist es dort? „Wissen Sie, wenn ich anfange, darüber nachzudenken, dann fühle ich mich so … hilflos, wie gelähmt. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Mit so etwas werde ich einfach nicht fertig.“ Die ungewissen Alternativen überschwemmen Herrn  W. schnell, wenn er anfängt, darüber nachzudenken. Alles ist so unklar … Er sieht einfach keine Möglichkeit mehr zu handeln. Wenn es doch nur klare Vorgaben geben würde, was er tun muss! Er fühlt sich komplett paralysiert.

Oft steht wie im Beispiel die Handlungsmöglichkeit im Mittelpunkt – Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz nutzen nicht souverän gestaltend die H ­ andlungsspielräume, wie sie gerade Ungewissheit auch bietet, sondern wünschen sich eigentlich, sich einfach nur nach klaren Regeln „verhalten“ zu dürfen. Einige Interventionen setzen genau dort an und bieten verschiedene Strategien, um sich auch in ungewissen Situationen wieder handlungsfähiger zu fühlen. zz 1. So ziemlich auf alles gefasst sein

Hier richten sich die Interventionen auf eine Schließung der Ungewissheitslücke durch ein möglichst breites Repertoire aus Wissen und Routinen (Kosinar 2018). Ungewissheit im eigentlichen Sinn heißt nicht, in Blaue hinein handeln zu müssen. Sie ist schließlich definiert als Kenntnis der möglichen Folgen ohne Kenntnis ihrer Wahrscheinlichkeit, an-

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ders als etwa bei Unwissenheit oder Risiko (7 Abschn. 3.2.1). Hier gilt es also, interaktiv mit dem Patienten die begrenzte Zahl an Ereignisalternativen herauszuarbeiten und zu klären, wie es bei den wichtigsten um seine Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten steht. Es geht also darum, die möglichen Folgen einer Handlung konkret zu bestimmen und mit dem Patienten durchzugehen, was er dabei tun könnte. Ist er wirklich handlungsunfähig? Oder fällt ihm doch zu jeder möglichen Folge eine Handlungsmöglichkeit ein?  

55 T: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind Sie sich nicht sicher, ob Sie bei Ihrem Arztbesuch einen Parkplatz in der Nähe der Praxis bekommen – entweder Sie finden einen und kommen pünktlich, oder Sie finden keinen und verpassen schlimmstenfalls Ihren Termin.“ 55 K: „Ja, so könnte man es wohl zusammenfassen.“ 55 T: „Wenn Sie einen Parkplatz finden, ist ja alles gut, aber wenn Sie den Termin wirklich verpassen, weil Sie keinen finden … Was werden Sie dann eigentlich tun?“ 55 K: „Na ja, ich fahre wieder nach Hause und rufe in der Praxis an, entschuldige mich, dass ich den Termin nicht wahrnehmen konnte, und mache einen neuen aus. Vielleicht fahre ich dann beim zweiten Anlauf vorher das Viertel ab und suche nach Parkmöglichkeiten. Oder ich lasse mich von meiner Tochter bringen.“ 55 T: „Aha, interessant. Wenn Sie das so erzählen, wissen Sie ja eigentlich ganz gut, was Sie in jedem Fall tun können. Können Sie dies auch umsetzen?“ 55 K: „Klar, der Anruf wäre mir zwar sehr peinlich, aber ich telefoniere ja schließlich nicht das erste Mal.“ 55 T: „Ich weiß, das ist eine doofe Frage – jetzt haben Sie am Anfang spontan gesagt, Sie wüssten gar nicht, was Sie in dieser Situation machen sollten, und fühlten sich wie gelähmt. Wie sieht dann die Sache jetzt aus?“ 55 K (überlegt kurz): „Eigentlich ganz anders … Ich weiß eigentlich ja, was ich bei jedem Ausgang zu tun habe [Handlungsmöglichkeit], und es ist wirklich simpel umzusetzen [Handlungsfähigkeit].“ 55 T: „Wie würden Sie Ihre Grundüberzeugung ‚In ungewissen Situationen wie dieser bin ich wie gelähmt‘ denn dann umformulieren?“ 55 K: „Na ja … Auch wenn ich den genauen Ausgang einer Sache nicht kenne, weiß ich auch da meistens, was zu tun ist … Vielleicht so.“

Eine Variante, sich auf eine ungewisse Situation handlungsmäßig gut vorzubereiten, besteht darin, „fehlertolerant“ zu handeln: Ein Fußballtrainer, der mit überzähligen Spielern zu einem Spiel anreist, handelt z. B. fehlertolerant, ebenso jemand, der im Auto den Sicherheitsgurt anlegt (Klein 2015). Wer eine solche Fehlertoleranz bei ungewissen Situationen einplant, der schafft auch Handlungsfähigkeit. Das folgende Beispiel enthält eine Gesprächsvariante für die Vermittlung von Handlungsfähigkeit über Fehlertoleranz.

55 T: „Sie sagen, Sie wollen natürlich unbedingt pünktlich in der Praxis sein, aber es gibt ungewisse Schwierigkeiten, weil Sie die Parkplatzsituation dort nicht kennen. Wie können Sie denn absichern, dass Sie Ihr Ziel trotzdem mit großer Wahrscheinlichkeit erreichen?“ 55 K: „Mhm … Ich könnte einfach sehr früh aufbrechen, sodass ich noch eine Stunde Zeit hätte, in Ruhe einen Parkplatz zu suchen; oder ich könnte mich von meiner Tochter bringen lassen, die hat ja auch einen Führerschein. Ich müsste dann nur den Termin mit ihr absprechen. Oder ich fahre einfach schon mal den Weg zum Arzt ein paar Tage vorher ab.“

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 T: „Da fällt Ihnen ja gleich eine Menge ein. Was sagt das eigentlich über Ihre Handlungsfähigkeit in so einer ungewissen Situation aus?“ 55 K: „Na ja, eigentlich weiß ich schon, was zu tun ist.“

zz 2. Sich auf das Unbestimmte einer Situation einstellen

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In einer zweiten Gruppe von Interventionen geht es um das Anerkennen von Ungewissheit als einer eben vorhandenen Bedingung des Handelns (Kosinar 2018). Auch bei der ersten Gruppe von Interventionen (s. oben) besteht die Gefahr, sich in ergebnislosen Schleifen endlosen Abwägens zu verfangen, wenn die Ungewissheit nicht als Teil der Entscheidungsumstände akzeptiert wird. Und das ist auch kein Wunder bei folgendem aktuellen rationalen Entscheidungsideal: Man sollte idealerweise vor einer Entscheidung (a) die Handlungsmöglichkeiten auflisten, (b) die möglichen Folgen dieser Handlungsalternativen identifizieren, (c) die Wahrscheinlichkeit jeder dieser Folgen der entsprechenden Handlung bewerten, (d) die Bedeutung oder den Nutzen jeder dieser Folgen bestimmen und schließlich (e) all diese Werte und Wahrscheinlichkeiten so verrechnen, dass sich ein zu bevorzugender Handlungsverlauf ergibt. So findet sich mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn nicht Gewissheit, die beste Alternative. Das klingt in ungewissen Situationen und besonders bei geringer Ungewissheitstoleranz wie eine Anleitung zum endlosen Grübeln. Hier sind Wahrscheinlichkeiten schließlich nicht gegeben, sondern nur die Ausgangsmöglichkeiten bekannt. Man kann zwar Szenarien entwickeln, aber ihnen keine Wahrscheinlichkeiten zuweisen. In der Entscheidungstheorie finden sich aber auch für diese Bedingungen Lösungen, die diese Unbestimmtheit in das Entscheidungsverhalten einbeziehen, hat man sie nur erst einmal akzeptiert. Bei der Maximin-Regel (Dörsam 2013) z. B. wählt man die Alternative mit dem maximalen Minimum. Das ist die Strategie eines besonders risikoscheuen Entscheidenden. Er beurteilt alle Alternativen nach dem schlechtestmöglichen Ergebnis. Sollte Herr W. also am besten pünktlich den Weg zum Arzt antreten, besser am Tag vorher den Weg bereits abfahren, sich von seiner Tochter fahren lassen oder eine Stunde eher aufbrechen? Das schlechtestmögliche Ergebnis ist wohl, dass es dort einfach keine Parkplätze gibt, was bedeutet, dass er sich am besten fahren lassen sollte – wenn er besonders risikoscheu ist. Bei der Maximax-Regel wird hingegen die Alternative mit dem größten Maximum ausgewählt. Sie spiegelt ein besonders risikofreudiges Verhalten wider. Dieser Regel zufolge sollte Herr W. wohl am besten pünktlich losfahren und auf die ungewisse Chance setzen, dort einen Parkplatz zu finden. Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz liegt die risikoscheue Variante näher. Besonders interessant für eine Entscheidung unter Ungewissheit ist das Laplace-­ Kriterium (Dörsam 2013): Lassen sich bei Ungewissheit keine Wahrscheinlichkeiten angeben, dann gibt es eigentlich keinen Grund für die Annahme, dass einer der Umweltzustände wahrscheinlicher ist als ein anderer. Man kann also für sie die gleiche Wahrscheinlichkeit annehmen. Dies ist in gewisser Weise eine risikoneutrale Entscheidung. Und Herr W.? Würde man ihm so vermitteln, dass es sich lohnt, die Ungewissheit durch eine 50/50-Wahrscheinlichkeit für das Finden eines Parkplatzes zu ersetzen, wie würde er sich entscheiden? Vielleicht wäre dann ein frühzeitiger Aufbruch eine rationale Entscheidung für ihn. Gewöhnlich wird bei solchen Entscheidungssituationen das Laplace-Kriterium präferiert. Ebenso wird empfohlen, subjektive Wahrscheinlichkeiten schätzen zu lassen –

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und so die Entscheidung unter Ungewissheit unter der Hand in eine Entscheidung unter Risiko zu überführen. Außerdem bietet die Kultur ja oft Deutungsrahmen für solche Situationen an, die Unwägbarkeiten absorbieren und Handlungsratschläge beinhalten. So wird die Kontingenz von Situationen reduziert – oft unter dem Begriff dessen, was „normal“ ist. Beides lässt sich bei Entscheidungen unter Ungewissheit gut ­kombinieren. 55 T: „Sie kennen nun die Gegend, in der der Arzt seine Praxis hat, nicht genau. Aber es ist immerhin in Ihrer Nachbarstadt. Da sind Sie doch sicher oft schon gewesen, oder?“ 55 K: „Sicher, ich wohne schließlich schon seit vielen Jahren hier.“ 55 T: „Wie würden Sie denn ungefähr die Wahrscheinlichkeit schätzen, dort keinen Parkplatz zu finden?“ 55 K: „Na ja, das ist so ein Viertel, habe ich gehört, in dem es wirklich fast nur Anwohnerparkplätze gibt. Außerdem stehen die Häuser dort sehr dicht. Mhm, vielleicht ist die Chance, keinen Parkplatz zu kriegen, 70 Prozent?“ 55 T: „Glauben Sie, das ist ziemlich normal, wenn man eine Sache nicht genau kennt, auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen?“ 55 K: „Ja, das ist sicher sogar schon sehr gründlich. Die meisten würden bestimmt einfach gedankenlos losfahren.“ 55 T: „Dann sind Sie also schon ganz schön verantwortlich mit einer solchen Schätzung … Und wenn die Chancen so stehen, also 70 zu 30, was wäre dann eine gute Wahl?“ 55 K: „Hm, die Chance ist zwar nicht gut, aber doch auch nicht zu schlecht. Vielleicht fahre ich am besten früher los, denke ich. Alles andere kommt mir dann doch übervorsichtig vor.“ 55 T: „Würden Sie sagen, dass dies ein gutes, kontrolliertes und auch verantwortliches Entscheidungsverhalten von Ihnen ist – Sie wissen schon: nicht zu viel und nicht zu wenig Information benutzt?“ 55 K: „Ja, das würde ich schon sagen …“ 55 T: „Und was sagt das eigentlich über Ihre Überzeugung aus, nicht handlungsfähig zu sein, wenn etwas Ungewisses ansteht?“ 55 K: „Na ja, anscheinend kann ich ja doch eine halbwegs vernünftige Entscheidung treffen, wenn ich mich an diese Sachen halte.“

zz 3. Wenn es nicht so kommt wie erwartet, denke ich mir dann erst etwas Neues aus

Hier geht es um so etwas wie „situierte Kreativität“ (Kosinar 2018, S. 260) und ein mehr serielles Vorgehen oder Nachdenken: erst einmal die eine Entscheidung treffen und entsprechend handeln. Und wenn sich etwas Unerwartetes ergibt, sich erst dann neu auf diese Situation einstellen. Geringe Ungewissheitstoleranz geht oft einher mit einer einseitigen Konzentration auf Pläne, die für alle möglichen Szenarien schon im Voraus gefasst sein müssen. Hier geht es dagegen um die alternative Strategie, nur lockere Pläne zu fassen, die man, wenn nötig, beim Handeln anpassen kann: Der Handelnde ist aufmerksam für Veränderungen und passt sequenziell neue Informationen in die eigenen Handlungspläne ein. Es geht also um die Entwicklung einer Bereitschaft, die erstellte Planung bei der Durchführung zwar als Grundlage zu nutzen, bei Bedarf aber in professioneller Weise davon abzuweichen. Eine Person, die diese Grundhaltung einer situierten Kreativität besitzt, wird von Taleb (2013, S. 269) auch als „rationaler Flaneur“ bezeichnet: „Der Rationale Flaneur ist

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

ein Mensch, der im Unterschied zum Touristen bei jedem Schritt die Entscheidung fällt, ob er seinen Plan beibehält oder ändert. Er kann also bei seiner Wahrnehmung der Realität neu hinzugekommene Informationen sofort mit verarbeiten […]. Der Flaneur ist nicht der Gefangene eines Plans.“ Eine solche Person verändert mit dem Hinzukommen von neuen Informationen kontinuierlich ihre Pläne oder Ziele und besitzt in ungewissen Situationen die Fähigkeit, von einem Handlungsablauf abzuweichen.

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55 T: „Stellen Sie sich vor, Sie haben sich dafür entschieden, eine Stunde früher zu dieser Praxis zu fahren, um pünktlich Ihrem Arzttermin nachzukommen. Und nun haben Sie schon drei Runden durch die Straßen gedreht, aber immer noch keinen Parkplatz gefunden … und eine halbe Stunde ist nun bereits um. Was können Sie dann tun?“ 55 K: „Vielleicht mache ich einfach weiter so … und habe doch noch Glück.“ 55 T: „Ja, vielleicht. Aber könnten Sie etwas an Ihrem Plan noch spontan umstellen?“ 55 K: „Hm, vielleicht könnte ich in das kostenpflichtige Parkhaus eines Kaufhauses in der Innenstadt fahren und von dort zu Fuß gehen. Wenn ich mich beeile, dann könnte das in einer halben Stunde noch knapp klappen.“ 55 T: „Oder?“ 55 K: „Oder ich parke einfach kurz auf dem Parkplatz eines nahen Supermarkts, stelle die Parkscheibe ein und hoffe, dass der Arzttermin nicht zu lange dauert und die Wagen dort nicht gerade in dieser Zeit kontrolliert werden. Mein Schwager macht das immer so, aber mir ist das eigentlich nicht recht. Aber im Notfall …“ 55 T: „Super, da fallen Ihnen ja gleich mehrere Sachen ein! Was sagen Ihre Überlegungen nun über Ihre Handlungsfähigkeit in ungewissen Situationen aus?“

Solche Diskussionen über Handlungsmöglichkeiten in ungewissen Situationen – und entsprechende Übungen – tragen zu einer „Wird-schon“-Einstellung bei. Sie schaffen einen gewissen Optimismus, dass man auch bei unüberschaubarer Lage ein Mindestmaß an Handlungsinitiative besitzt. Vor allem schaffen sie Vertrauen. Vertrauen stärkt die Handlungsfähigkeit und umgekehrt (7 Abschn. 3.3.3): „Vertrauen überbrückt […] Informations- und Kontrollierbarkeits-Leerstellen und reduziert so Unsicherheit und Komplexität auf ein handhabbares Maß“ (Lantermann et al. 2009, S. 19). Eine letzte Möglichkeit, die eigene Handlungsfähigkeit auch noch in den ungewissesten Situationen zu wahren, besteht darin, dem Zufall die Wahl zu überlassen, wie man handelt. Wenn alles Überlegen nicht hilft, dann ist nichts Irrationales daran, eine Handlungsalternative einfach zufällig auszuwählen. Im Gegenteil: „Gerade dort, wo die größte Unsicherheit herrscht, ist es vernünftig, sich dem Zufall anzuvertrauen. Aus diesem Grund haben auch Schachcomputer Zufallsgeneratoren, die wahllos eine Auswahl unter mehreren Zügen treffen, die dem Programm gleich gut erscheinen“ (Klein 2015, S. 513). Im Alltag schrecken Menschen vor einer solchen Lösung oft zurück, weil sie unvernünftig oder gewagt erscheint – wer will schon die Steuerung des eigenen Lebens an ein paar Würfel oder eine Münze abtreten? Therapeuten können hier ihren handlungsblockierten Klienten vorschlagen, einfach aus dem Bauch heraus zu entscheiden oder aber wirklich Lose zu ziehen. Wichtig ist die Vermittlung, dass es sich hierbei um eine vernünftige Strategie zur Erhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit handelt.  

55 K: „Okay, selbst nach diesen ganzen Überlegungen weiß ich einfach immer noch nicht, was ich machen soll. Kein Umgang mit diesem Arztbesuch scheint sinnvoller als ein anderer. Verflixt.“

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55 T: „Was halten Sie eigentlich von folgendem Gedanken: Wenn nach allem Überlegen nichts von dem, was man tun kann, sich von den anderen Möglichkeiten abhebt, dann sind die Alternativen vielleicht nicht ‚gleich schlecht‘, sondern ‚gleich gut‘. An allen ist was Gutes dran, ob Sie nun einfach pünktlich zum Arzt fahren oder sich von der Tochter bringen lassen. Wählen Sie doch einfach irgendeine Handlung aus.“ 55 K: „Sie meinen, einfach eine Münze werfen? Einfach per Zufall?“ 55 T: „Manche Forscher nehmen an, dass wir Menschen wirklich so etwas wie einen im Gehirn eingebauten Zufallsgenerator besitzen, genau für solche Situationen. Schachcomputer haben ihn zumindest – wirklich nur dafür, einen Zug auszuwählen, wenn einige Züge gleich gut erscheinen. Die können ja nicht einfach aufhören zu spielen. Vielleicht versuchen Sie es einmal mit Ihrem inneren Zufallsgenerator … Was sagt Ihr Bauchgefühl?“ 55 K: „Hmm, weiß nicht … vielleicht …“ 55 T: „Okay, wollen Sie nicht wirklich eine Münze werfen und mal sehen, was rauskommt, wenn Sie es umsetzen? Aber was sagt es über Ihre Handlungsfähigkeit aus, dass Sie die Sache immer noch so angehen können, sozusagen in letzter Instanz?“

Gerade wenn es um die eigene Handlungsfähigkeit, den zweiten Aspekt des Handelns, geht, sind Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz oft „afraid of making mistakes“ (Robichaud und Dugas 2015, S. 154). Sie halten sich nicht für völlig handlungsunfähig, aber es gilt: „Wenn ich nicht wirklich ganz sicher in Bezug auf eine Sache bin, dann mache ich bestimmt einen Fehler (und Fehler wären schlimm, dürfen nicht passieren).“ Daher ist es oft wichtig, auch therapeutisch auf diese Fehlerangst einzugehen. Eine Edukation über andere Perspektiven auf die Rolle von Fehlern im Leben ist hier ein guter erster Ansatz (Spitzer 2016): „Es ist erstaunlich, aber es gibt Menschen, die haben eine ganz andere Einschätzung von Fehlern“ – so können Therapeutinnen oder Berater edukativ ansetzen. „Menschen unterlaufen schließlich täglich Fehler und Pannen: Sie verwählen sich beim Telefonieren, vertippen sich am Computer, lassen versehentlich in der Nacht das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet, vergessen, einem Freund das versprochene Buch mitzubringen, irren sich bei einem Datum und so weiter und so fort. Fehler sind derart allgegenwärtig, dass es, wie ein Aphorismus sagt, gar nicht darum gehen kann, keine zu machen, sondern es gilt vielleicht: ‚Nur dumme Menschen machen immer die gleichen Fehler, gescheite Menschen aber immer neue.‘ Fehler gelten aber nicht nur als eine lästige Unvermeidbarkeit im menschlichen Leben, sondern sie sind sogar ausgesprochen wichtig.“ Edukativ kann man auch darauf hinweisen, wie steinig der Pfad aus Versuch und Irrtum gewesen sein muss, der dem Anbau von Brotgetreide vorausging: vom Urzustand ungenießbarer, hartschaliger Körnerfrüchte bis zu den ertragreichen, stärkehaltigen Getreidesorten, aus denen das heutige Brot besteht. Irrtum ist eine Art Produktivkraft im Leben. Fehler sind also oft produktiv, ihre Folgen halb so schlimm – und zudem sind sie unvermeidlich. Verhaltensübungen veranschaulichen gut die produktive Rolle von Fehlern bei Lernprozessen und ebenso deren Harmlosigkeit. Hier verabreden Therapeuten mit Klienten, bestimmte Dinge nicht über vorgefertigte Instruktionen oder Bedienungsanleitungen zu lernen, sondern durch imitative Lernvorgänge oder Ausprobieren: ein neues Computerprogramm oder -spiel benutzen, ein Küchengerät handhaben. Hier wird die positive Rolle von Fehlern erlebbar: „Okay, dieser Knopf war es also nicht … Mal sehen, wie es mit dem da steht.“ Dabei kann auch erfahren werden, dass ein Lernen über ein

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Versuch-­und-Irrtum-Verfahren gar nicht so plump und willkürlich ist, sondern einer versteckten Vernünftigkeit bedarf: Sucht man die in der Wohnung verlegte Brille oder den verlegten Autoschlüssel, dann geht man durchaus nachdenklich vor. Man sucht nicht an einem Platz zweimal. Jeder Versuch und jeder Irrtum liefern zusätzliche Informationen, von denen jede wertvoller ist als die vorherige – man weiß, was nicht funktioniert oder wo die Brille eben nicht ist. Mit jedem Versuch kommt man dem Gesuchten näher. Oft genügt aber hier auch schon ein kognitiv ausgerichteter Dialog.

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55 T: „Angenommen, Sie haben sich also entschieden (oder ausgelost), eine Stunde vor Ihrem Arzttermin selbst mit dem Wagen loszufahren, aber Sie schaffen es einfach trotzdem nicht, rechtzeitig einen Parkplatz zu finden, um pünktlich zu sein. Was heißt das eigentlich für Sie?“ 55 K: „Ich habe einen Fehler gemacht, es ist ja schließlich meine eigene Verantwortung, pünktlich zu sein.“ 55 T: „Nun gibt es ja Fehler und FEHLER – kleine Alltagsfehler, wie sie jedem passieren, ohne große Folgen, und Fehler, die wirklich nicht passieren sollten, weil sie so gravierende Folgen haben. Wie schlimm wäre denn Ihr Fehler eigentlich?“ 55 K: „Gut … Hätten Sie mich gleich danach gefragt, dann hätte ich wohl spontan ‚schlimm!‘ gesagt, aber wenn Sie die Spannbreite so weit aufmachen, dann ist es wohl eher einer der kleineren Sorte. Niemandem passiert wirklich was Schlimmes dadurch.“ 55 T: „Meinen Sie, das ist ein häufiger Fehler? Zuspätkommen beim Arzt?“ 55 K: „Bestimmt nicht.“ 55 T: „Ehrlich, da kann ich Ihnen aber ganz was anderes erzählen! Hier kommt immer mal jemand zu spät, mehrmals in der Woche, aus ganz alltäglichen Gründen: weil es einen Stau gibt, weil man plötzlich länger arbeiten musste …“ 55 K: „Ach.“ 55 T: „Gäbe es eigentlich etwas aus Ihrem Fehler zu lernen? Oft lernen Menschen ja die wichtigsten Dinge daraus, dass etwas nicht klappt.“ 55 K: „Also klar. Beim nächsten Termin verzichte ich dann bestimmt darauf, mit dem Wagen in dieses Viertel zu fahren.“ 55 T: „Also ungefähr so: ‚Mein Fehler ist einer von der harmlosen Sorte, er passiert auch wirklich vielen anderen Menschen – und etwas für die Zukunft kann ich auch aus ihm lernen.‘ Passt das?“

Über Handlungsfähigkeit in der Psychotherapie vor allem zu reden erscheint doch ziemlich paradox. Hier schlägt die Stunde der Verhaltensübungen, mit denen die Patienten ihre inneren Überzeugungen in Bezug auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten in ungewissen Situationen an der Erfahrung korrigieren können. Einleiten lässt sich die Verabredung von solchen Übungen mit dem Hinweis, dass man sich der eigenen Handlungsfähigkeit in ungewissen Situationen oft erst bewusst wird, wenn man solche nicht vermeidet. 55 T (nach der Vorstellung eines solchen Konzepts): „Ich möchte mit Ihnen nun Übungen besprechen und verabreden, die Ihnen helfen, sich der eigenen Handlungsfähigkeit auch in ungewissen Situationen gewisser zu werden.“

Ein neues Restaurant ausprobieren, ohne große Informationen in einen Kinofilm gehen – eine Liste von solchen Ungewissheitsübungen findet sich weiter oben (7 Abschn. 9.2.1). Vermeidet jemand es z. B., mit dem Auto eine bestimmte Strecke zu fahren, ohne vorher  

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in einem Routenplaner nachzusehen, dann wäre eine Fahrt unter Verzicht auf eine vorherige Planung eine gute Übung. Nach der Übung werden die Erfahrungen des Patienten entlang bestimmter Fragen gemeinsam ausgewertet: 55 Haben die unbestimmten Elemente der Situation zu einem negativen Ausgang geführt? (Hat sich der Klient etwa verfahren?) 55 Wenn es zu einem negativen Ausgang gekommen ist – wie schlimm war dieser wirklich? (War das Verfahren also katastrophal?) 55 Wie hat der Übende diesen negativen Ausgang bewältigt? (War es überwältigend, oder blieb der Betreffende handlungsfähig?) Unterschiedliche Dimensionen der Intoleranz gegenüber Ungewissheit lassen sich anhand der Übungserfahrungen überprüfen: War der Ausgang positiv, lässt sich prüfen, wie gefährlich ungewisse Situationen eigentlich sind (Dimension 2), bei einem negativen Ausgang ist eine Prüfung der Handlungsfähigkeit möglich (Dimension 4). Bei geringer Ungewissheitstoleranz wird eine hohe Frequenz an Übungen empfohlen (Robichaud und Dugas 2015) – anfangs drei Experimente dieser Art pro Woche. Hat der Patient Vertrauen zu den Übungen gefasst, sollte ihre Frequenz noch gesteigert werden. Weiterhin lohnt es sich, die Experimente über möglichst verschiedene Lebensbereiche zu streuen, weil geringe Ungewissheitstoleranz häufig in unterschiedlichen Bereichen vorkommt. Schließlich sollten die Experimente auch zunehmend schwieriger werden: Hat der Klient Angst vor der Ungewissheit einer Reise, dann ist eins der ersten Experimente vielleicht, bei einem Kurztrip erst am Morgen vor der Fahrt den Koffer zu packen. Das nächstschwierigere könne sein, einen kompletten Urlaubstag nicht im Voraus zu planen. Ähnlich ist die Übungsfolge, das Handy zunächst für eine Stunde auszuschalten, später dann für mehrere Stunden. Abschließend entwickeln Therapeut und Patient wieder gemeinsam eine alternative, funktionale Überzeugung für diesen Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz. Das alternative kognitive Schema zur Handlungslähmung in ungewissen Situationen könnte in etwa klingen wie folgt. Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz Ungewissheitstoleranz besteht aus der Überzeugung, dass auch in ungewissen Situationen die eigene Handlungsfähigkeit gewöhnlich erhalten bleibt und dass, selbst wenn es zu Fehlern kommt, diese oft nicht so bedeutsam sind, dass man sie unbedingt verhindern müsste, indem man besser nicht handelt.

9.2.5  Das Abwertende des Ungewissen (Dimension 5):

„Dass ich häufig Ungewissheit erlebe, wirft ein schlechtes Licht auf mich“

Sich ein sicheres und absehbares Leben einrichten zu können kann auch als persönlicher Erfolg bewertet werden  – es gilt also: „Beliefs about uncertainty are also self-­referent.“ Wenn jemand es aber einfach nicht schafft, die Ungewissheit seiner Lage zu beseitigen, dann wirft das ebenso schnell ein schlechtes Licht auf diese Person: „being uncertain means

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that I am not first rate“ (Koerner und Dugas 2008, S. 620). Wenn ich es nicht schaffe, in meinem Leben Klarheit und Gewissheit zu schaffen, sondern im Gegenteil immer wieder in ungewisse Situationen und Lebenslagen gerate, dann muss es doch an mir liegen. Es geht anderen ja auch nicht so. Vielleicht bin ich einfach zu dumm, zu faul, zu schwach und unsicher, um ein gewisses und sicheres Leben einzurichten. Es geht um den folgenden Aspekt in der kognitiven Architektur geringer Ungewissheitstoleranz. Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f ) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

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Der Selbstwert ist also ebenfalls von einer geringen Ungewissheitstoleranz betroffen. Als Selbstwert bezeichnet man eine beurteilende Sicht auf die eigene Person. Der Selbstwert war eine der großen psychotherapeutischen Hoffnungen vor allem der 1980er- und 1990er-Jahre. Die damalige „Selbstwertgefühl-Bewegung […] behauptete, dass sich praktisch sämtliche sozialen und individuellen Probleme auf mangelnde Selbstachtung zurückführen ließen“ (Cabanas 2018, S. 249). Inzwischen ist der Selbstwert wieder – etwas nüchterner – in die nicht eben kurze Reihe von wichtigen Einflussfaktoren eingerückt worden. Ein in diesem Fall gewissheitsabhängiger Selbstwert ist eine Variante eines bedingten oder kontingenten Selbstwerts. Ein bedingter oder kontingenter Selbstwert liegt dann vor, wenn die globale Beurteilung der eigenen Person von bestimmten Umständen in der Welt abhängig gemacht wird. Der Aspekt des bedingten oder erworbenen Selbstwerts steht gewissermaßen für den Ruf, den ein Mensch bei sich selbst erworben hat. Eine mehr oder weniger penible innere „Buchhalter-App“ verrechnet die eigenen Ambitionen und Maßstäbe mit dem Erreichten: Habe ich die eigenen Ansprüche, die Anerkennung durch andere, das erwünschte gewisse und sichere Leben auch wirklich erreicht? Ein solcher bedingter Selbstwert beinhaltet ein Risiko: Die betreffende Person setzt über das Erreichen oder Scheitern an einer konkreten Sache ihr ganzes Selbst aufs Spiel. Das geschieht auch bei einer Untergruppe von Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz: Hier ist es kein leistungs- oder erfolgsabhängiger Selbstwert, wie z. B. bei Perfektionisten (Spitzer 2016), und auch kein anerkennungsabhängiger, sondern die Selbstbewertung hängt von der Fähigkeit ab, Gewissheit im eigenen Leben zu schaffen – Menschen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz bewerten ihre gesamte Person anhand ihres Umgangs mit dem Ungewissen. Das kann auf zwei Wegen geschehen: 1. „Weil ich nicht in der Lage bin, in meinem Leben Gewissheit, Klarheit und Sicherheit zu schaffen, bin ich ein Versager.“ 2. „Weil ich mit der alltäglichen Ungewissheit im Leben nicht umzugehen verstehe, bin ich ein Versager.“

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Fallbeispiel Die Gedanken von Herrn W. schweifen oft weit über die konkreten Sorgen um das, was etwa passieren kann, wenn er zu einem neuen Arzt in einem anderen Viertel fährt, hinaus. Oder über die Sorgen, was seinen kleinen Enkeln passieren kann, wenn sie wild auf seinem Wohnzimmersofa herumspringen. Wie konnte das alles nur so kommen? Und was für eine lächerliche Figur er geworden ist! Früher, als Dachdecker, ist er Risiken eingegangen, gegen die solche Kleinigkeiten ein Witz sind! Und er hat sie immer mutig als Herausforderungen angesehen. Und heute? Da hat er Angst schon vor den kleinsten Ungewissheiten. Was für eine Niete er doch ist! Dabei wollte er immer stark sein und seiner Familie Sicherheit und Klarheit im Leben bieten. Und was ist daraus geworden? Nun muss er seine Tochter fragen, ob sie ihn zu einem Arzt fährt, weil er sich nicht traut! Eine lächerliche Figur! Ein Versager! Und das alles seit diesem Unfall. Wie ein einziger Sturz vom Dach seine ganze Persönlichkeit verändert hat. Heute ist er nur noch ein Wrack. Eigentlich allein nicht lebensfähig.

Ein bedingter Selbstwert gilt als eine von drei Komponenten eines normalen Selbstwerts. Für einflussreiche Forscher ist der moderne Selbstwert also eine Art zusammengesetztes Phänomen: Da ist als erste Komponente die Selbstakzeptanz, eine Art fundamentale Liebe und Wertschätzung für die eigene Person (oder das Gegenteil), die als eher stabile Eigenschaft den basalen Selbstwert bildet. Als zweite Komponente wird ein erworbener bedingter Selbstwert angenommen, eine Selbstwertfacette, die mehr situativ von der eigenen Leistung und Ähnlichem abhängt. Dabei geht es um die berechtigte oder unberechtigte Bewertung eigener Qualitäten. Als letzte Komponente wird das Selbstvertrauen angesehen, das mehr aus der konkreten Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit hervorgeht. Bei einem hohen Maß an Selbstvertrauen hat eine Person den Eindruck, zu angemessenem Handeln imstande zu sein, wenn es darauf ankommt. Die beiden ersten Faktoren gelten als besonders wichtig – sie sind zentral für den Selbstwert (Koivula et al. 2002; Johnson 1998). Bei einem Übergewicht des bedingten Selbstwerts besteht nun ein Risiko für die gesamte Selbstachtung. Mit dem Urteil, wegen einer einzigen Sache komplett nichts wert, ein „Versager“ zu sein, wird ausgesagt, dass dies für alle Bereiche des eigenen Lebens gilt: Man taugt nichts „als Sohn, Bruder, Ehemann, Vater, Freund, Bekannter, Kollege, Kinogänger, Theaterfreund, Tennisspieler, Austernesser“ (Lazarus 1979, S. 79). Die Folge ist ein ausgesprochen instabiler, fluktuierender, empfindlicher Selbstwert, je nach Gang der Ereignisse. Als erstrebenswert gilt dagegen ein langfristig stabiler Selbstwert. Seit den 1990er-­ Jahren hat sich die Forschung zum Selbstwert verstärkt auf diese „stability of self-­ esteem“ (Johnson 1998, S. 103) als Indiz des Gesunden gestürzt – ein solcher stabiler Selbstwert bedeutet, einen positiven Selbstbezug beizubehalten, unabhängig von sozialer Anerkennung, persönlichen Leistungen – oder dem Umgang mit Ungewissheit, dem Ausbleiben von Gewissheit. Letztlich lassen sich hier zwei therapeutische Teilziele unterscheiden: 1. den bisherigen gewissheitsabhängigen Selbstwert hinterfragen und die Selbstbewertung breiter und geschickter aufstellen, 2. die unbedingte Selbstakzeptanz stärken. Der bedingte Selbstwert ist im Kern etwas Relatives, etwas Dynamisches, bei dem die eigenen Erwartungen an Leistung, Anerkennung oder Gewissheit ständig neu mit den

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„herbeigehandelten“ Ergebnissen abgeglichen werden. Durch die Aufmerksamkeit, die das Individuum dabei auf beide Faktoren richten kann, Ambitionen und Handlungsergebnisse, besitzt es einen gewissen Spielraum für die Selbstbewertung – es kann seinen bedingten Selbstwert sozusagen in einem gewissen Rahmen geschickt bewirtschaften: 1. Sind etwa die Ansprüche an Gewissheit zu hoch? 2. Wird der eigene Einfluss auf die herzustellende Gewissheit oder Sicherheit im Leben vielleicht überschätzt? (Das gilt besonders, wenn man die gesellschaftlichen Einflüsse auf unsichere, prekäre Lebenslagen in Erinnerung behält.)

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Menschen überschätzen z. B. insgesamt gern den Einfluss auf die eigenen Erfolge oder Misserfolge, machen sich selbst für Misserfolge verantwortlich – und schließen dann messerscharf: „Ich bin eben einfach ein fauler, undisziplinierter, unfähiger Typ.“ Nicht jeder Mensch hat eine Tendenz zum „Egotismus“ (Flammer 1990, S. 53), also die Neigung, sich selbst nur für Erfolge verantwortlich zu machen, im Falle des Scheiterns aber die Umstände. Denn die Tendenz dazu ist umso größer, je höher der Selbstwert bereits ist. Viele Menschen haben jedoch einen eher niedrigen Selbstwert, „weil sie nicht die glückliche Unverfrorenheit besitzen, Erfolge sich selbst und Mißerfolge anderen oder den Umständen zuzuschreiben“ (Flammer 1990, S. 53). Zuerst gilt es durch eine Untersuchung der Nachteile ein Problembewusstsein für diese eigentümliche Konstitution des Selbstwerts zu wecken. Was bringt sie dem Klienten ein? Vorteile der eigenen Selbstabwertung sind nur selten in Sicht. Die Liste möglicher Nachteile ist dagegen relativ lang. 55 T: „Lassen Sie uns doch einmal anhand Ihrer Beispielsituationen zusammentragen, was Ihnen diese Art des Selbstwerts einbringt, bei der Sie sich nur danach bewerten, ob Sie mit ungewissen Situationen gut fertigwerden und in der Lage sind, Sicherheit und Klarheit in Ihrem Leben zu schaffen. Was bringt Ihnen eine solche Aburteilung Ihrer selbst eigentlich ein? Was sind die Folgen?“ 55 K: „Na ja, wenn mir das mit der Gewissheit nicht so gut gelingt, dann ist es schon ziemlich quälend, so auf mir herumzuhacken … mich so abzuurteilen. Ich fühle mich wirklich mickrig und schwach.“ 55 T: „Wie wirkt sich das denn dann auf die nächsten ungewissen Situationen aus?“ 55 K: „Ah, jetzt verstehe ich … Ich traue mir noch weniger zu.“ 55 T: „Wenn Ihr Sohn mit den kleinen Enkeln da ist, wie wirkt es sich denn da aus, dass Sie sich zum Versager abstempeln?“ 55 K: „Ach ja, das … Früher waren das schöne Nachmittage für mich, aber jetzt sitze ich oft nur schweigsam dabei, während die anderen ihren Spaß haben. Manchmal traue ich mich gar nicht mehr, den anderen in die Augen zu sehen.“ 55 T: „Die Nachteile einer solchen Selbstverurteilung sind schon ganz schön groß, was?“

In einem ähnlich ausgerichteten Verhaltensexperiment kritisiert sich der Klient einen Tag lang streng, an einem anderen geht er eher akzeptierend und motivierend mit sich um – die Folgen werden ebenfalls gemeinsam ausgewertet. Genauso macht das Etikettenspiel auf das Risiko globaler Selbstbewertungen aufmerksam: Dabei schreibt ein Klient fünf positive und fünf negative Aussagen über das eigene Selbst auf („Ich bin ein totaler Versager“, „Ich bin so attraktiv, fast alle Menschen lieben mich“). An einem Tag kommentiert er nun seine Handlungen auf die eine, am nächsten Tag auf die andere Weise, und in der

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nächsten Sitzung wird die emotionale Wirkung solcher Selbstbeurteilungen wieder ausgewertet. Häufig werden dabei übrigens negative Aussagen umstandslos akzeptiert, während positive Selbstbewertungen schon in der Vorstellung als übertrieben korrigiert werden. Das Willkürliche an globalen Bewertungen und ihre drastischen emotionalen Auswirkungen werden bei allen diesen Experimenten deutlich. Noch geläufiger als eine solche hedonistische ist eine realistische Prüfung des gewissheitsabhängigen Selbstwerts  – wird er überhaupt der Komplexität des eigenen Selbsts gerecht? Üblicherweise nicht: Beim bedingten Selbstwert gründet die Bewertung gewöhnlich nur auf einem sehr schmalen Ausschnitt des eigenen Selbsts (etwa dem beruflichen Erfolg, der Anerkennung, der Fähigkeit, Sicherheit und Gewissheit im Leben zu schaffen) und lässt die anderen Aspekte des Selbst unberücksichtigt. Ein realistischer Selbstwert müsste sich dagegen letztlich auf alle Facetten des eigenen Selbsts gründen. Ein derart gründliches Urteil über sich ist prinzipiell gar nicht möglich: Nicht nur gehören unübersehbar viele Aspekte zu einer Person – die Eigenschaften, die einbezogen werden müssten, ändern sich meistens auch noch von Jahr zu Jahr, und ein solcher zeitabhängiger Selbstprozess ist nicht abschließend zu messen. Außerdem müsste jede Handlung oder Eigenschaft eines Menschen für eine globale Beurteilung auch noch mit einem passenden Gewicht versehen werden, um sie mit anderen Aspekten zu vergleichen – aber wer könnte hier objektive Gewichte verteilen (Ellis 2005)? Man kann die verborgene Willkür dieser Selbstbewertung durch anschauliche Beispiele wie das vom Früchtekorb vermitteln, in dem ganz oben eine schimmlige Frucht liegt: „Now what’s the rating of the basket? Is it a good basket or a bad basket? Or is it a basket with good and bad fruit?“ (Bernard 2011, S. 72). 55 T: „Kann man eigentlich ein Ganzes anhand nur eines seiner Teile beurteilen? Die Hässlichkeit der ganzen Welt anhand der Hässlichkeit einer Stadt in ihr? Die Schmackhaftigkeit eines Präsentkorbs anhand derjenigen des angedötschten Pfirsichs obenauf?“ 55 K: „Nein … nicht wirklich …“ 55 T: „Sie sagen also, dass ein Teil nie ein Ganzes definieren kann. Aber wie steht es mit Ihnen selbst? Das ist doch auch ein ziemlich guter Grund, sich selbst nicht als kompletten Versager zu beurteilen, nur weil das mit der Gewissheit nicht klappt … Nicht weil Sie so toll sind, sondern einfach, weil Ihr Selbst zu komplex für eine solche Komplettbewertung ist.“ 55 K: „Sodass es in Ordnung ist, einen Teil des Selbsts zu beurteilen, aber nicht das ganze?“ 55 T: „Genau. Sich schon zu sagen, dass etwas heute nicht so geklappt hat, wie man sich das wünscht, aber auch: Vom eigenen ganzen Selbst ist das nur ein winziger Teil, es fällt kaum ins Gewicht.“

Eine weitere Form der empirischen Prüfung zäumt das Pferd von hinten auf: Viele belastende Kognitionen („Ich bin einfach nicht beziehungsfähig“, „Ich bin ein Versager“) sind ohne eine vorherige Klärung der zentralen Begriffe („nicht beziehungsfähig“, „Versager“) gar nicht an der Wirklichkeit zu prüfen. Hier lohnt es sich, zuerst die zentralen Begriffe gemeinsam zu definieren, bevor man deren Wirklichkeitsentsprechung untersucht.

55 T: „Lassen Sie uns doch einen kurzen Moment innehalten bei Ihrer Selbstabwertung … Was meinen Sie eigentlich genau, wenn Sie sich als Versager bezeichnen? Was genau ist eigentlich ein Versager?“ 55 K: „Äh … einer, dem alles schiefgeht?“

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 T: „Ja, genau, einer, dem wirklich aber auch alles schiefgeht … Und dazu ist er auch an allem selbst schuld, schließlich muss er sich ja von einem Pechvogel unterscheiden lassen … Es sind nicht nur unglückliche Zufälle, die dazu führen. Einverstanden mit der Definition?“ 55 K: „Ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen … So krass trifft das auf mich natürlich nicht zu. Uh, das ist mir aber jetzt peinlich … Ich bin ein ganz schöner Idiot, so ein Pauschalurteil abzugeben und es auch noch zu glauben!“ 55 T: „‚Weil ich in der Therapie ein Pauschalurteil abgegeben habe, bin ich ein Idiot‘ – trifft das denn zu?“ 55 K (lacht): „Nee, natürlich genauso wenig.“ 55 T: „Man kann hier viele Beispiele für solche Urteile über sich angeben. Wie ist es z. B. mit jemandem, der hin und wieder gelogen hat – macht ihn das durch und durch zu einem Lügner?“ 55 K: „Ja, ich verstehe …“

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In einem Umfrageexperiment kann der Klient zudem gebeten werden, zehn Personen aus dem eigenen Umfeld nach ihrer Selbstbewertung zu fragen. Wenn überhaupt jemand auf diese Frage antwortet, dann soll er weiter fragen, nach welchen Kriterien dieoder derjenige die Bewertung vornimmt: Ist der Selbstwert dieser Person ebenfalls fast ausschließlich von einzelnen Faktoren wie der Fähigkeit, Gewissheit zu schaffen, abhängig? Oder fließt dort mehr mit ein? Letztlich lassen sich auch durch einen noch so geschickten Umgang mit den vielfältigen Bedingungen eines kontingenten Selbstwerts nicht alle Schwankungen vermeiden: Die Bewertung bleibt immer empfindlich gegenüber unwägbaren Zufällen. Nicht so eine unbedingte Selbstannahme. Selbstakzeptanz heißt, sich erst einmal nüchtern einzugestehen, dass man der Mensch ist, der man eben ist. Es ist ein realistisches, nicht wertendes Hinnehmen der eigenen Person als Naturtatsache – „One does not complain about water because it is wet or about rocks because they are hard, or about trees because they are green“ (Szentatogai und David 2013, S. 129). Selbstakzeptanz tritt in verschiedenen Varianten mit jeweils eigenem historischem Hintergrund auf. Das kognitive Äquivalent humanistischer Selbstakzeptanz: „Ich akzeptiere mich so, wie ich bin, als einen fehlbaren Menschen wie alle anderen. Und als dieser Mensch bin ich an sich wertvoll, ganz unberührt davon, ob ich etwas erreiche im Leben oder nicht.“

Mit diesem humanistischen oder existenzialistischen Argument gesprochen, kommt dem menschlichen Leben, manchmal auch jeglichem Leben, eine besondere Würde qua Geburt zu – „Being is good“ (Ellis 2005, S. 40). Der Wert des Menschen ist hier eine feste Konstante, die sich nicht mit seinen sich wandelnden Fähigkeiten oder Unfähigkeiten über das Leben hinweg verändert: Menschen haben bleibenden Wert als denkende, bewusste Lebewesen, die in der Lage sind, ihre eigene Zukunft zu gestalten. In einer typischen Intervention bittet die Therapeutin oder der Berater den Klienten, die Abhängigkeit seines Selbstwerts – z. B. davon, Sicherheit und Gewissheit schaffen zu können – zu

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beweisen, und bietet anschließend angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten die allgemeine Würde des Menschen als eine Alternative der Selbstannahme an.

55 T: „Gut, Sie haben es wegen der damit verbundenen Ungewissheiten monatelang vor sich hergeschoben, diesen Arzttermin auszumachen und hinter sich zu bringen … Aber wieso macht Sie das komplett wertlos?“ 55 K: „Tja … äh …“ 55 T: „Sehen Sie’s doch mal so: Wenn Sie sich unbedingt bewerten müssen, also fortfahren mit diesem Ego-Spiel, dann rate ich Ihnen wirklich, eine einfache Lösung zu wählen. Definieren Sie sich einfach als gut aufgrund Ihrer bloßen Existenz, Ihrer Lebendigkeit. Sagen Sie sich ganz dogmatisch: ‚Ich bin lebendig – und deswegen bin ich gut … Ich bin so viel wert wie alle anderen auch.‘“ 55 K: „Sie meinen, einfach so? Das klingt ein bisschen komisch …“ 55 T: „Letztlich verfährt unsere Gesellschaft eigentlich auch so. Werden einem Mörder oder einem Menschen mit Behinderung deswegen die Menschenrechte aberkannt?“ 55 K: „Nein, natürlich nicht …“

Zur Vertiefung sind Imaginationsübungen möglich, bei denen sich der Klient eigene Misserfolge vorstellt, die er nun aber mit der neuen humanistischen Selbstbewertung im Alltag so kommentiert: „Gut, da habe ich wirklich Mist gebaut, und ich hätte die Sache mit dem Arzttermin nicht so lange vor mir herschieben sollen. Aber was hat das mit meinem Wert als Mensch zu tun? Der hat sich nicht verändert. Ich bleibe wertvoll, unabhängig davon, ob ich mit Ungewissheit gut oder schlecht umgehen kann.“ Das humanistisch-existenzialistische Argument klingt schnell überzeugend und ist in seinem Pathos auch emotional berührend. Das kognitive Äquivalent von Selbstmitgefühl: „Da ist dir wirklich etwas schlimm schiefgegangen. Komm, mach dir nichts draus und tröste dich darüber hinweg. Da bist du in guter Gesellschaft – wem geht im Leben nicht mal etwas Wichtiges daneben? Konzentriere dich lieber auf das Aktuelle.“

Selbstmitgefühl ist eine Variante unbedingter Selbstannahme, die aktuell einem Boom erlebt. Auch eine Person, die ihren Selbstwert gewöhnlich von ihrer Unfähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen, abhängig macht, kann davon profitieren  – als Alternative zum erfolgsabhängigen Selbstwert. Die drei Facetten des Selbstmitgefühls sind: (1) freundlich zu sich selbst zu sein, auch und gerade bei Misserfolgen oder Schicksalsschlägen; (2) Leid und Schwierigkeiten als eine allgemein menschliche Erfahrung anzusehen; (3) achtsam zu bleiben, also dem Gegenwärtigen zugewandt, aber ohne Bewertung. Kristin Neff, eine Hauptvertreterin dieses Ansatzes, stellt ihre Anschauung erst einmal edukativ vor: „Es gehört zu den Nachteilen des Lebens in unserer Gesellschaft, die großen Wert auf Unabhängigkeit und individuelle Leistung legt, dass wir uns automatisch selbst die Schuld geben, wenn wir unsere Idealvorstellungen nicht verwirklichen können. Wir versuchen die Dinge nicht nur einfach gut zu machen, sondern befinden uns in einem ständigen Vergleichsprozess mit anderen Menschen, den wir möglichst gewinnen wollen“ (Neff 2012, S. 44). Nach einer solchen Vermittlung helfen Perspektivwechsel dabei, eine Haltung des Mitgefühls auch sich selbst gegenüber zu vertiefen.

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 T: „Wie reagieren Sie eigentlich, wenn der Familie, Freunden oder lieben Kollegen etwas schiefgeht oder die sich mit Ungewissheit schwertun?“ 55 K: „Ist doch klar, ich kümmere mich um sie … Ich frage sachte nach, tröste sie vielleicht. Wenn mir was einfällt, gebe ich ihnen auch einen Rat, aber schaue schon, dass ich sie dabei nicht respektlos bedränge.“ 55 T: „Und heimlich denken Sie, was das für Versager sind?“ 55 K: „Quatsch! Ach, jetzt verstehe ich …“ 55 T: „Genau … Warum nicht auch mit sich so ähnlich umgehen? Bei anderen sind Sie schließlich auch ganz natürlich voller Mitgefühl.“

Abschließend entwickeln Therapeut und Klient wieder gemeinsam eine alternative, funktionale Überzeugung für diesen Aspekt geringer Ungewissheitstoleranz. Das alternative kognitive Schema zum gewissheitsabhängigen Selbstwert könnte in etwa klingen wie folgt. Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz

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Ungewissheitstoleranz besteht aus der Überzeugung, dass Probleme mit der Ungewissheit noch lange nichts über den Wert der ganzen Person aussagen. Es gibt so viele andere Fähigkeiten und Unfähigkeiten, von denen dieser noch abhängt, dass sich über ihn eigentlich nie abschließend etwas sagen lässt. Außerdem tangiert der Umgang mit Ungewissheit meinen Wert als Menschen genauso wenig wie jede andere Leistung oder Fähigkeit. Die Würde des Menschen bleibt davon ganz unberührt. Sie ist bei jedem Menschen gleich groß.

9.2.6  Gerechtigkeitsverlangen (Dimension 6): „Ungewissheit ist

einfach unfair“

Nicht immer wird die Verantwortung dafür, Gewissheit zu schaffen oder umgekehrt keiner großen Ungewissheit ausgesetzt zu sein, der eigenen Person zugeschrieben – und die eigene Person beim Verfehlen dieses Ziels dann entsprechend abgestempelt. Für viele Betroffene liegt diese Verantwortung eher bei der umgebenden Welt, und es ist für sie empörend und unverschämt, wenn diese Welt ihrer Verantwortung, für Gewissheit zu sorgen, nicht nachkommt. Sie finden es ärgerlich, derart viel Ungewissheit ertragen müssen. Geringe Ungewissheitstoleranz zeigt sich dann in der Überzeugung, „that being uncertain about the future is unfair“ (Laugesen et al. 2003, S. 56): Es ist einfach ungerecht, keine Garantien im Leben zu erhalten! So sollte es nun wirklich nicht zugehen! An der kognitiven Architektur geringer Ungewissheitstoleranz wird hier also ihr letzter Aspekt herausgestellt. Die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz Intoleranz gegenüber Ungewissheit besteht aus der Überzeugung, dass es (a) für alle Situationen Gewissheit gibt und dass es (b) möglich und (c) absolut zwingend ist, einer zukünftigen Entwicklung gewiss zu sein. Zudem, dass es (d) schlimme Folgen (Gefahr, Belastung, Handlungsunfähigkeit, personale Abwertung) hat, wenn das, was auf einen zukommt, ungewiss bleibt. Außerdem (f) ist es ungerecht, im Leben wiederholt der Ungewissheit ausgesetzt zu sein.

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In gewisser Weise wechselt hier die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz das inhaltliche Register – statt um ein Gewissheitsverlangen geht es nun um ein Gerechtigkeitsverlangen. Der argumentative Weg dahin ist recht kurz: Ich habe ein Anrecht auf Fairness im Leben, und weil dazu gehört, ein Leben voller Gewissheit zu führen, bin ich empört, wenn diese ausbleibt und ich immer wieder mit ungewissen Situationen konfrontiert werde. Vieles ähnelt hier den Überlegungen zum Gewissheitsverlangen (7 Abschn. 9.2.1) – auch hier ist das Problem vor allem die Starrheit der Forderung: Eine Person mit geringer Ungewissheitstoleranz fordert von sich oder der Welt ein großes Maß an Gerechtigkeit (zumindest in dem einen Punkt des Verschontbleibens von Ungewissheiten). Sie begnügt sich nicht damit, sie nur dringend zu wünschen. Sie lässt nicht locker, empört Fairness in diesem Punkt einzufordern. Auch hier zeigt sich also die Facette einer tyrannischen Selbst- oder Weltbeziehung. Doch leider wird ein dringendes Wünschen eben dort problematisch, wo Wünsche wie Naturgesetze klingen, in der Realität allerdings nicht mit deren Hundertprozentigkeit wirken. Gerade die Überzeugung von einer gerechten Welt, welche die Guten belohnt und die Bösen bestraft, wird oft zu den besonders basalen existenziellen Annahmen gezählt (Lerner 1980; Janoff-Bulman 1989, 1992), die zum selbstverständlichen Bestand menschlichen Lebenssinns gehören und häufig erst bei Störungen bewusst werden: Erst bei einer Erschütterung fundamentaler Annahmen fallen diese auf und verlangen von der betroffenen Personen eine Auseinandersetzung. Trotz ihrer holzschnittartigen Vereinfachung gelten solche Annahmen manchmal sogar als nützlich, weil ihre starke Komplexitätsreduktion zur Bewältigung des Alltags beiträgt: Menschen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass ihnen im Alltag nichts zustoßen wird, wenn sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen, und dies Vertrauen erleichtert das Handeln (7 Abschn. 3.3.3). Die Annahme einer gerechten Welt gilt dabei oft als ein Aspekt der umfassenderen Annahme eines allgemeinen Wohlwollens der Welt und ihrer Sinn- und Bedeutungshaftigkeit (Lerner 1980; Janoff-Bulman 1989, 1992). Fairness bezieht sich auf Einstellungen in der Frage, wie das Eintreffen bestimmter Ereignisse verteilt sein sollte („Warum gerade ich?“, „Immer trifft es die Guten!“), und ist daher eng mit Gewissheit verbunden: Ereignisse lassen sich hier durch den moralischen Charakter einer Person vorhersagen – jeder bekommt, was er verdient. In einer gerechten Welt treffen Unglücke eben gute Menschen weniger häufig. Wird diese Annahme erschüttert, dann erscheint die Welt gleich auch insgesamt ungewisser. Auch in der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) gilt das Gerechtigkeitsverlangen als ein typischer Inhalt imperativer Kognitionen vieler Menschen. Die Forderung „Die Welt sollte fair und gerecht sein“ nimmt dabei Gestalt an in Frage- und Ausrufesätzen wie: „Wie konnte sie mir das antun?“, „Warum passiert so etwas immer mir?“, „Er hätte das nicht tun dürfen!“, „Das habe ich nicht verdient!“, „Sie hatten kein Recht, mich zu feuern!“, „Wie können Sie es wagen!“, „Er wird sein Fett schon abbekommen!“ oder „Ich verlange doch wirklich nicht viel!“ Oft gilt die Gerechtigkeitsforderung als ein Schlüsselelement im kognitiven System Heranwachsender: Weil Jugendliche sehr idealistisch sein können, neigen sie zu rigiden Gerechtigkeitsvorstellungen (Walen et al. 1980). Eine solche „demand for fairness and entitlement“ (Harrington 2007, S. 192) ist eng verknüpft mit dem emotionalen Erleben von Ärger oder Empörung über das Ausbleiben der erwarteten Gerechtigkeit. Auch beim Gerechtigkeitsverlangen gilt (wie beim Gewissheitsverlangen): Besser, man hält die eigenen Wünsche mit etwas lockererer Hand, also auf eine Weise, bei der das Wünschen und das Eintreten des Gewünschten nicht unklar miteinander ver 



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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

schmelzen. Bei einer kognitiven Umstrukturierung des Gerechtigkeitsverlangens sollte betont werden, dass es natürlich schön und gut ist, sich eine faire, gerechte Welt zu wünschen, ein Wunsch allein führt schließlich noch nicht zu quälenden Emotionen – erst wenn er zu einer absoluten Forderung wird. Die Forderung nach einer gerechteren Welt lähmt zudem die eigene Handlungsfähigkeit, macht impulsiver und bringt deshalb Nachteile mit sich. Und vor allem: Die Forderung allein macht die Welt nicht gerechter. Die die kognitive Umstrukturierung leitenden Fragen sind: 55 „Wie sieht es mit dem Anrecht auf Fairness im Leben eigentlich aus?“ 55 „Wer hat Ihnen eigentlich eine gerechte Welt versprochen?“ 55 „Und gehört ein hoher Grad an Sicherheit und Gewissheit überhaupt dazu?“

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Eine kognitive Umstrukturierung gegen solche Forderungen an die Welt im Allgemeinen („Die Welt sollte …“) betont vor allem, dass die Welt natürlich nicht so sein muss, wie jemand es sich dringend wünscht. Dies lässt sich edukativ über viele Beispiele anschaulich machen – etwa an der Sinnlosigkeit, an einem heißen Tag zu fordern, dass Schnee fallen soll, weil man gern Ski fahren möchte. Den Patienten dazu zu bringen, überzeugende Gründe für sein Gerechtigkeitsverlangen zu liefern, und daraufhin seine Sprachlosigkeit zu nutzen, ist eine weitere Methode: 55 „Wo ist der Beweis dafür, dass die Welt Ihnen gerechterweise Gewissheit im Leben bieten muss, nur weil Sie es wollen?“ 55 „Wo steht das geschrieben? In welchem Gesetzestext der Welt steht …?“ 55 „Nur weil Sie etwas wollen, heißt das, dass es auch so sein muss?“ 55 „Wieso sollte die Welt ausgerechnet nach Ihrer Pfeife tanzen?“ Auch eine Auflistung der Vor- und Nachteile einer solchen Gerechtigkeitsforderung, verglichen mit einer flexibleren Einstellung, lohnt sich. Dazu nehmen Therapeutinnen und Berater eine Ungewissheitsepisode des Patienten und bieten ihm dann eine absolutistische und eine lockere Wunschformulierung über Fairness an, gefolgt von der Frage: „Wer von den beiden so unterschiedlich denkenden Menschen hat mehr Chancen, solch eine Situation gut zu bestehen und seine Ziele zu erreichen?“ Die aufzubauende Alternativkognition könnte abschließend in etwa lauten wie folgt. Die kognitive Architektur ausgeprägter Ungewissheitstoleranz Ungewissheitstoleranz besteht aus der Überzeugung, dass es in der Welt manchmal gerecht und manchmal ungerecht zugeht und dass auch gute Menschen häufig jung sterben. Und sie mutet jedem auch Ungewissheiten zu. Es ist besser, diese Tatsache zu akzeptieren und sich darauf zu konzentrieren, das eigene Leben trotzdem zu genießen.

9.3  Metakognitionen verändern – Vermittler zwischen geringer

Ungewissheitstoleranz und Sichsorgen

Metakognitionen sind Überzeugungen, die an der Steuerung des Denkens beteiligt sind. Lohnt es sich, über eine Sache länger nachzugrübeln? Ist das Sichsorgen wirklich gar nicht unter Kontrolle zu bringen? Weil solche Überzeugungen die mentalen Verarbei-

213 9.3 · Metakognitionen verändern – Vermittler zwischen geringer …

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tungsaktivitäten steuern, haben sie eine metakognitive Funktion. Man unterscheidet gewöhnlich noch positive Annahmen über mentale Aktivitäten (z.  B. „Sich Sorgen zu machen ist doch normal“) von negativen Annahmen („Das Grübeln kann ich einfach nicht in den Griff kriegen“). Ihre bedeutende Rolle in Bezug auf psychische Probleme hat besonders Adrian Wells ab der Mitte der 1990er-Jahre in seiner Metakognitiven Therapie herausgearbeitet (Fisher und Wells 2009). Geringe Ungewissheitstoleranz und Metakognitionen kommen vor allem beim Sichsorgen zusammen (7 Abschn. 5.1.1): Studien haben belegt, dass Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz mehr positive Metakognitionen besitzen als Personen mit einer ausgeprägten Ungewissheitstoleranz (Grad 2011). Gerade mit positiven Metakognitionen ist also bei geringer Ungewissheitstoleranz zusätzlich zu rechnen, und bei der Exploration von konkreten Ungewissheitsepisoden lohnt es sich, auch nach Metakognitionen zu fragen (7 Abschn. 8.3.7) wie „Wenn ich nur lange genug über eine Unklarheit nachdenke, dann wird sich schon Gewissheit einstellen“. Dabei wird das Durchspielen möglicher Ausgänge als positiv bewertet, weil es vor dem Schlimmsten schützen hilft. Typische positive Metakognitionen bei geringer Ungewissheitstoleranz sind: Sichsorgen hilft, die anstehenden Probleme effektiver zu lösen; es beruhigt und dämpft die emotionale Reaktion auf mögliche zukünftige Ereignisse; es nimmt direkt – quasi magisch  – Einfluss auf den Lauf der Ereignisse und repräsentiert eine positive ­Charaktereigenschaft. Man zeigt auf diese Weise seine guten Absichten und kümmert sich um die Probleme (Koerner und Dugas 2006).  



Fallbeispiel Unbeeinträchtigt von der Tatsache, dass ihr Sohn bereits seit vielen Jahren seine Schichten am Steuer des LKWs unfallfrei absolviert hat, will bei Frau W. die vage Vorstellung, dass sie sich Sorgen um ihren Sohn machen muss, einfach nicht weichen. Man höre doch in den Nachrichten immer wieder von schlimmen Unfällen, also, wer weiß? Allein schon die Möglichkeit, dass es doch passieren könnte, bringt sie auf, auch wenn sie gleichzeitig weiß, dass das eigentlich Quatsch ist. Manchmal hat sie den Eindruck, als dürfe sie gar nicht aufhören, an diese Gefahr zu denken. Nicht so sehr, weil sie dann unvorbereitet davon überrascht werden könnte, sondern weil sie irgendwo in ihrem Hinterkopf annimmt, dass sie ihren Sohn, wenn sie nur immer denkt „Hoffentlich hat er keinen Unfall!“, damit irgendwie beschützt. Einmal erzählt sie, das sei schon immer so gewesen: Vor mehreren Jahrzehnten, zu Beginn ihrer Ehe, habe sie einmal geträumt, wie sie ihren Ehemann aus Versehen überfährt – auf eine ganze banale Weise: Er steht hinter ihrem Wagen, sie setzt zurück und überfährt ihn. Dabei hat er einen ganz bestimmten grünen Pulli an. „Und wissen Sie was?“, erzählt sie verschämt weiter. „Am nächsten Tag habe ich den Pulli weggeschmissen. Und mein Mann hat ihn danach immer wieder gesucht, ‚Wo isser denn?‘ und so … Und ich habe den dann sogar mit gesucht, scheinheilig, weil ich mich nicht getraut habe, ihm davon zu erzählen.“ Warum sie noch denkt, dass diese Sorgen Sinn machen? Was für eine Mutter wäre sie denn, wenn ihr Sohn in Gefahr sei, und sie mache sich keine Gedanken! So empört sich etwas in ihr manchmal. Außerdem ist sie so immer auf alles vorbereitet und kann schnell reagieren, oder?

In der Psychotherapie geringer Ungewissheitstoleranz geht es also häufiger auch um die Veränderung solcher maligner Metakognitionen, sodass wiederholtes Grübeln oder

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

Sichsorgen besser beendet werden kann. Dabei werden bei einer kognitiven Umstrukturierung Metakognitionen nicht anders diskutiert als gewöhnliche realitätsbezogene Kognitionen: Sind die Gedanken realistisch/stimmen sie mit der Wirklichkeit halbwegs überein? Sind sie nützlich oder schädlich?

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55 T: „Mir scheint, das sich in Ihren Schilderungen drei Gedanken zu Ihren Sorgen um den Sohn zeigen: ‚Meine Sorgen beschützen meinen Sohn‘, ‚Dass ich mich sorge, zeigt mich als gute Mutter‘, ‚Sorgen führen dazu, dass ich bei einem Unfall besser vorbereitet bin‘. Etwa so?“ 55 K: „Ja, das trifft’s ganz gut, denke ich.“ 55 T: „Sie kennen das Vorgehen ja nun schon ziemlich gut …“ 55 K: „… die zwei kritischen Fragen.“ 55 T: „Genau. Beschützen Ihre Sorgen denn Ihren Sohn wirklich direkt und bewahren ihn vor einem Unfall … so ein bisschen magisch?“ 55 K: „Nein, nein … Das ist mir selbst ja schon ein bisschen peinlich, dass ich manchmal so abergläubisch bin.“ 55 T: „Bringt es wenigstens etwas, davon überzeugt zu sein?“ 55 K: „Na ja, irgendwie beruhigen tut es mich schon …“ 55 T: „Und die Nachteile?“ 55 K: „Wenn ich eine solche Überzeugung wirklich ernst nehmen würde, dann käme ich ja aus dem Sorgenmachen gar nicht mehr raus! Dann dürfte ich ja nie aufhören, mir über ihn Sorgen zu machen! Schreckliche Vorstellung!“ 55 T: „Also, der Gedanke ist nicht nur falsch, sondern schadet auch mehr, als er nützt, oder? Was wäre denn realistischer und besser zu denken?“ 55 K: „Äh …“ 55 T: „Wie wäre es mit: ‚Ob ich mir um ihn Sorgen mache oder nicht – das macht für seine Sicherheit keinen Unterschied. Und weil die Sorgen doch mehr quälen und einengen als beruhigen, lohnt sich das gar nicht. Besser, ich denke an andere Dinge.‘“ 55 K: „Das klingt schon besser, als mir immer nur zu sagen, dass schon nichts Schlimmes mit ihm sein wird.“

Zur Vertiefung angemessener Metakognitionen bieten sich die inzwischen von vielen Psychotherapien benutzten Zwei-Stuhl-Übung an, die hier die Tatsache ausnutzen, dass Sichsorgen bereits eine Art dialogische Struktur besitzt (7 Abschn. 5.1.1): Sorgen bestehen gewissermaßen aus zwei Komponenten – an negative Konsequenzen denken und problemlösende Gedanken generieren, wie damit fertig zu werden wäre. Typischerweise beginnen sie daher mit einer „Was-wäre-wenn“-Frage. Leider geht bei den Antworten etwas so schief, dass der Sorgenprozess immer weiter angetrieben wird: „Warum ist mein Sohn noch nicht von der Arbeit zurück? Was, wenn er einen Unfall hatte? Ach, komm … Da ist sicher gar nichts Schlimmes passiert. Aber von Unfällen mit LKWs hört man doch immer wieder. Aber warum sollte gerade er betroffen sein? Ich habe da aber so ein komisches Gefühl. Ach, Gefühle können doch täuschen. Ich muss mir aber doch Sorgen machen, ist doch normal für eine Mutter. Jetzt beruhige dich mal …“ In der Zwei-Stuhl-Übung werden nun die Sorgenstimme und die antwortende Stimme auf zwei Stühle verteilt, und der Klientin wird vermittelt, dass gerade diese – beruhigende – Form der Antworten die Sorgen nie verstummen lässt, weil sie nicht auf die unausgesprochenen Metakognitionen eingeht, die die Sorgen antreiben.  

215 9.4 · Den Grad des Unklaren einer Sache richtig einschätzen …

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55 T: „Sie sehen, so geht die ganze Sache nach hinten los … Die Sorgenstimme ist eher noch mehr alarmiert als wirklich beruhigt. Versuchen Sie doch einmal, stattdessen auf die Gedanken hinter den Sorgen einzugehen, die wir herausgearbeitet haben.“ 55 K: „Wie meinen Sie das genau?“ 55 T: „Ich zeige es Ihnen einmal. Bleiben Sie selbst noch für einen Moment auf dem Sorgenstuhl und sprechen für Ihre Sorgenstimme.“ 55 K: „Warum ist mein Sohn noch nicht von der Arbeit zurück? Was, wenn er einen Unfall hatte?“ 55 T: „Das ist sehr unwahrscheinlich, aber doch möglich. Nur: Beschützen ihn eigentlich meine Sorgen davor? Gibt es da irgendeinen magischen Schutz, hier vom Wohnzimmer aus?“ 55 K: „Aber wenn er in Gefahr ist, dann muss ich mir doch Sorgen um ihn machen. Das macht eine Mutter eben!“ 55 T: „Zeigt sich eine gute Mutter wirklich darin, dass sie sich um ihren Sohn wirkungslose Sorgen macht?“ 55 K: „Nein, eigentlich doch durch ganz andere Sachen. Solche Sorgen sind doch irgendwie … hysterisch. Das Gegenteil von sinnvoll.“

In wiederholten Zwei-Stuhl-Übungen kann die Klientin also lernen, andere Antworten auf ihre Sorgen zu finden und sie früher zu beenden. 9.4  Den Grad des Unklaren einer Sache richtig

einschätzen – die Situationsstruktur „upgraden“

Bisher haben sich die vorgestellten Interventionen auf die kognitive Architektur geringer Ungewissheitstoleranz gerichtet – sozusagen das B („beliefs“) im kognitiven ABC einer Ungewissheitsepisode. Aber dies ist nicht die einzige Möglichkeit, Patienten bezüglich ihrer erlebten Belastung durch ungewisse Lagen Erleichterung zu verschaffen. Auch die Einschätzung der Ungewissheit einer konkreten Situation selbst, das A im kognitiven ABC, bietet hierzu einige Interventionsmöglichkeiten. Unwissenheit, Ungewissheit, Risiko – das feine Sensorium der Entscheidungstheorie trennt diese drei Formen der Unbestimmtheit genau (7 Abschn. 3.1.1). In ihr fungiert der Begriff Entscheidung unter Unsicherheit als Oberbegriff für Entscheidungen unter Risiko, unter Ungewissheit und unter Unwissenheit. Bei der ersten Gruppe von Entscheidungen können Umweltzuständen Eintrittswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden, bei der zweiten nicht (Hildt 2013). Bei einer Entscheidung unter Unwissenheit sind nicht einmal die Ausgangsalternativen klar – die Zukunft liegt völlig unklar vor einem. Man kann also sagen, dass die Klarheit einer Situation zunimmt: von Nichtwissen über Ungewissheit bis zum Risiko. Das Wissen um die möglichen Ausgänge bei der Ungewissheit und das zusätzliche Wissen um die Eintretenswahrscheinlichkeiten beim Risiko schafft also mehr Klarheit und erleichtert das Handeln. Menschen in ihrem Alltag, Patienten wie Therapeuten, sind solche Unterscheidungen sicher relativ egal, wenn sie über problematische unklare Situationen reden – das eine wie das andere sind ungewisse Dinge. Alle möglichen Unklarheiten werden hier oft wahllos als „Unsicherheit“ oder „Ungewissheit“ bezeichnet – und ihnen wird mit mehr  

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

oder weniger Toleranz begegnet. Ungewissheitskompetenz bedeutet nun aber nicht nur, eine vorhandene situative Unbestimmtheit besser tolerieren zu können, sondern auch, den höchsten Grad an Bestimmtheit aus einer Situation herauslesen zu können, um mit ihr besser zurechtzukommen. Ungewissheit ist besser als Unwissenheit, Risiko besser als Ungewissheit, Mehrdeutigkeit weniger beunruhigend als Ahnungslosigkeit. Doch oft genug erscheint Menschen eine Situation unklarer, als es sein müsste. Oft haben Menschen noch keine genaue Vorstellung davon, was in einer Situation auf sie zukommen könnte, wie sich z. B. andere verhalten werden – sie leiden an einem eher vagen Gefühl der Bedrohung, an Ahnungslosigkeit. Therapeutische Interventionen richten sich hier darauf, die Strukturiertheit einer Situation, ihren Informationsgehalt „upzugraden“ – und so mehr Orientierung zu schaffen, damit Klienten weniger ängstlich sind und handlungsfähiger werden. Patientinnen und Patienten werden also darin trainiert, die größtmögliche Strukturiertheit aus einer Situation herauszulesen. 9.4.1  Von Unwissenheit zu Ungewissheit „upgraden“

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Unwissenheit bedeutet, dass die Zukunft völlig unklar vor einem liegt. Das ist zum Glück relativ selten der Fall. Die therapeutische Aufgabe ist nun, dieser Zukunft durch die Hinzufügung von möglichen Ausgängen mehr Struktur zu verleihen – Unwissenheit in Ungewissheit zu verwandeln. Es geht also etwa bei einem Münzwurf darum, von „Welche Ausgänge gibt es? Keine Ahnung“ zu „Welche Ausgänge gibt es? Kopf oder Zahl“ zu kommen. Liegt die Unbestimmtheit darin, dass die Zukunft eher unverständlich und vage erscheint, dann sollten therapeutische Interventionen diese in vorstellbare, konkrete Alternativen weiterentwickeln, die handhabbarer erscheinen, selbst wenn ihr Eintreten immer noch ungewiss ist.

55 T: „Was kann eigentlich nun genau passieren, wenn Sie mit dem Wagen zu diesem neuen Arzt ins unbekannte Viertel fahren?“ 55 K: „Ach, ich bin gleich schon so angespannt, das male ich mir gar nicht aus. Nur dass ich es nicht schaffe und das es schlimm ist.“ 55 T: „Lassen Sie es uns mal hier in Ruhe anders machen. Also, Sie können einfach pünktlich zum Termin ankommen …“ 55 K: „Oder ich kann es gar nicht schaffen, weil ich keinen Parkplatz finde.“ 55 T: „Oder Sie könnten zu spät kommen …“ 55 K: „Und dann könnten die mich trotzdem noch drannehmen oder wieder nach Hause schicken.“ 55 T: „Okay, also dreieinhalb alternative Ausgänge. Was denken Sie, wenn Sie die Situation nun auf diese Weise aufgedröselt haben?“ 55 K: „Hm … eigentlich viel übersichtlicher, als ich das sonst immer sehe. Nicht so ein ahnungsloses Chaos.“

Vertiefen lässt sich diese Kompetenz durch die Übung des All-Case-Szenarios, bei der mit dem Patienten verabredet wird, sich eine Woche lang für besonders unklare Situationen jeweils ein paar typische Ausgänge vorzustellen. Dies ist eine Methode des Erarbeitens von Zukunftsalternativen.

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217 9.4 · Den Grad des Unklaren einer Sache richtig einschätzen …

Mit diesem Differenzierungsschritt hat man natürlich erst den Bereich „eigentlicher“ Ungewissheiten betreten. Alle bisher vorgestellten Interventionen können nun angewendet werden. Besonders anschlussfähig sind direkt nach einer solchen Differenzierung Methoden bezüglich der Handlungsfähigkeit trotz Ungewissheit (7 Abschn. 9.2.2). Handlungslähmung, einfach weil die möglichen Ausgänge fehlen, zumindest verschwindet. Eine lohnende Intervention ist auch eine Edukation, die darüber informiert, wie Menschen in Situationen gewöhnlich entscheiden, in denen sie kein Kalkül über die wahrscheinlich beste Lösung anstellen können: Sie nutzen nämlich gewöhnlich in solchen ungewissen Situationen Heuristiken für eine Entscheidung. Gerade wo Wahrscheinlichkeiten unbekannt sind, verlangen gute Entscheidungen Intuition und kluge Faustregeln. Faustregeln oder Heuristiken erlauben es, Entscheidungen schnell zu treffen, ohne viel Informationssuche und doch mit einem recht hohen Maß an Genauigkeit. Werden Faustregeln unbewusst genutzt, dann spricht man von intuitiven Urteilen. In einer Welt bekannter Risiken lohnt sich das statistische Rechnen, in einer ungewissen Welt sind aber solche einfachen, intuitiven Regeln klüger (Gigerenzer 2014). Ein Beispiel für eine solche Heuristik ist das Vorsorgeprinzip. Dabei wählt man bei einer Entscheidung die Alternative, die das schlimmste Ereignis verhindert. Gerade wenn eine Ausgangsalternative mit schwerwiegenden Schäden verbunden ist, ist das Vorsorgeprinzip eine sehr sinnvolle Heuristik: Mögliche schwere Schäden sollten, auch wenn sie unsicher sind, vorbeugend betrachtet und Gegenmaßnahmen eingeplant werden. In gewisser Weise entscheidet man nach dem Prinzip: „Minimiere das schlechteste mögliche Ergebnis“ (Hillerbrand und Schneider 2013, S. 167). Eine andere Heuristik ist das „Satisficing“ (Gigerenzer 2014, S. 197). Dabei gibt man sich mit der ersten Alternative, die einem einfällt und die die eigenen Ansprüche an eine Situation erfüllt, zufrieden. Im ersten Schritt legt man das eigene Anspruchsniveau fest, im zweiten wählt man die erste Alternative, die es erfüllt, und beendet dann die Suche, selbst wenn es noch bessere Lösungen geben könnte. Therapeutisch ist es natürlich auch sinnvoll, je nach Situation mit dem Klienten oder der Klientin nach kulturell bereits vorhandenen Heuristiken zu suchen („Was würden eigentlich andere Leute in einer solchen Situation machen?“).  

55 T: „Ich habe Ihnen ja gerade ein paar Beispiele für eine Heuristik in solchen ungewissen Situationen vorgestellt. Was würden Sie in Ihrer Situation entscheiden, wenn Sie nach dem Prinzip ‚Minimiere das schlechteste mögliche Ergebnis‘ handeln würden?“ 55 K: „Das Schlimmste wäre, den Termin beim Arzt komplett zu verpassen. Das könnte ich am besten verhindern, wenn mich meine Tochter hinfahren würde. Dann müsste ich gar keinen Parkplatz suchen.“ 55 T: „Und was, wenn Sie noch einen anderen Punkt dazunehmen dürften?“ 55 K: „Na ja, das mit meiner Tochter wäre schon sehr umständlich. Sie arbeitet ja auch … Bis wir da einen Termin hätten …“ 55 T: „Also: Gut wäre, möglichst den Termin einzuhalten, es aber auch nicht zu umständlich zu haben – welche Alternative fällt Ihnen da zuerst ein?“ 55 K: „Etwas früher selbst mit dem Wagen fahren.“ 55 T: „Und was würde der Durchschnittsbürger in einem solchen Fall wohl tun?“ 55 K: „Ich habe schon ein paar Leute gefragt … Die meisten würden es genauso machen.“

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

9.4.2  Von Ungewissheit zu Risiko „upgraden“

Der Unterschied zwischen ungewissen und riskanten Situationsstrukturen liegt in der Annahme von Eintrittswahrscheinlichkeiten möglicher Folgen – ein Risiko ist kalkulierbar, Ungewissheit nicht. Wenn den einzelnen Umweltzuständen Eintrittswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können, so spricht man, wie oben erläutert, von einer Entscheidung unter Risiko. Lassen sich hingegen keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen, so handelt es sich um eine Entscheidung unter Ungewissheit. Dabei ist für manche Autoren die Welt der echten Ungewissheit, des „unbekannten Unbekannten“ (Gigerenzer 2014, S. 37), ungleich größer als diejenige des Risikos – man kann also nur relativ selten Eintrittswahrscheinlichkeiten halbwegs bestimmen. Wem soll man vertrauen? Wen heiraten? Was mit dem Leben anfangen? Trotzdem finden sich auch Risiken in vielen Bereichen: Die Regenwahrscheinlichkeit oder das Thromboserisiko lassen sich anhand von beobachteten Häufigkeiten berechnen (7 Abschn. 3.1.1). Mit der Wahrscheinlichkeit wird die ungewisse Zukunft zumindest fiktiv einigermaßen durchschaubar. Man weiß in etwa, was möglich ist und mit welcher Wahrscheinlichkeit es eintreten kann. Aber im Eifer des Gefechts realer Situationen machen sich Menschen häufig eher Sorgen um Möglichkeiten als um Wahrscheinlichkeiten: Ein hungriger Gast, der in einem Restaurant ein halbes Hähnchen bestellt und dann einen leeren Teller bekommt, während seinem Nachbarn ein ganzes serviert wird, dürfte sich ärgern, obwohl er sich sagen könnte, dass sie, statistisch gesehen, beide vor einem halben Hähnchen sitzen. Wenn sich die Speisen in einem Lokal statistisch verteilen, dann beunruhigen oder verärgern den Gast also konkrete mögliche Ausgänge (hier: kein Hähnchen), nicht deren statistisch wahrscheinliche Verteilung (Esposito 2007). Und doch gewinnt eine Person das Gefühl von etwas mehr Kontrolle durch solche Prognosen, und das ermöglicht ihr mehr Handlungsfähigkeit. Aus der Perspektive von Wahrscheinlichkeiten erscheinen bestimmte Handlungen (und auch Sorgen) rationaler als andere. Gerade hier lohnt es sich, eine handlungslähmende Ungewissheit in ein in Wahrscheinlichkeiten denkbares Risiko „upzugraden“. Natürlich geht es in der psychotherapeutischen Anwendung vor allem um die subjektiven Wahrscheinlichkeiten, mit denen ein Patient eine ungewisse Situation in eine besser strukturierte riskante Situation verwandelt. Oft kann durch das Schätzen subjektiver Wahrscheinlichkeiten eine Ungewissheit in ein Risiko verwandelt und auch so behandelt werden, wobei die größere Strukturiertheit zusätzliche Vorteile hat. Denn: Beim Umgang mit Risiken hilft statistisches Denken, die beste, vernünftigste Handlung auszusuchen, nicht nur eine Heuristik. Bei einem Risiko geht es also um einschätzbare Wahrscheinlichkeiten eines guten oder schlechten Ausgangs: Wie stehen meine Chancen auf einen Gewinn? Wie groß sind die Gefahren? Mit welcher Handlung erreiche ich mein Ziel wie wahrscheinlich? Drei Aspekte sind für die therapeutische Transformation von Ungewissheiten in Risiken relevant: 1. die Formulierung von subjektiven Wahrscheinlichkeiten, 2. die Prüfung, wie realistisch diese Wahrscheinlichkeiten sind, und 3. der Aufbau der Bereitschaft, überhaupt ein Risiko einzugehen.  

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zz 1. Die Formulierung subjektiver Wahrscheinlichkeiten

Der Sprung in dieses andere Verhältnis zur Realität ist gewöhnlich auch für Personen mit geringer Ungewissheitstoleranz nicht besonders schwer – er wird nur im Alltag einfach nicht vollzogen, sodass die Situation als stark ungewiss empfunden wird und eine

219 9.4 · Den Grad des Unklaren einer Sache richtig einschätzen …

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Handlung oft ausbleibt. Oft reicht eine kleine Anregung im therapeutischen Gespräch aus, um diesen Sprung zu wagen.

55 T: „Herr W., lassen Sie uns doch mal überlegen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Sie bei den verschiedenen möglichen Handlungen Ihr Ziel, den verabredeten Arzttermin pünktlich einzuhalten, ungefähr erreichen. Fangen wir doch mit dem Umgang an, den Sie aktuell betreiben.“ 55 K: „Na ja, die Wahrscheinlichkeit ist null Prozent. Ich mache ja nicht einmal einen Termin beim Arzt aus, sondern vermeide das Ganze komplett.“ 55 T: „Gut, nehmen wir nun die Option, dass Sie eine Stunde früher losfahren, um einen Puffer für die Parkplatzsuche zu haben. Wie schätzen Sie denn hier die Wahrscheinlichkeit ein?“ 55 K: „Hm, na ja, eine Stunde ist schon eine lange Zeit … und es ist ja letztlich nur die Nachbarstadt und nicht Paris oder irgendein anderer Verkehrsmoloch. Ich würde sagen: 60 Prozent.“ 55 T: „Okay, nehmen wir als Nächstes, dass Sie ein paar Tage vorher den Weg zum Arzt abfahren und dort nach möglichen Parkplätzen schauen, sodass Sie schon vorbereitet sind. Wie wahrscheinlich?“ 55 K: „Ich denke, das ist noch wahrscheinlicher: 70 Prozent.“ 55 T: „Und wenn Ihre Tochter Sie fährt?“ 55 K: „Na ja, das ist ja fast völlig sicher: 95 Prozent. Aber irgendwas Unberechenbares kann ja selbst dann noch passieren.“ 55 T: „Wie sieht die Sache denn nun eigentlich aus?“ 55 K: „Ich bin überrascht … So gesehen sieht das ja viel besser aus, als mein erster Eindruck war. Die Chancen stehen ja überall gar nicht schlecht. Vorher schien das Ganze doch noch so heikel.“ 55 T: „Und was wählen Sie nun aus?“ 55 K: „Eigentlich müsste ich mich ja von meiner Tochter fahren lassen. Aber weil das so ein Stress ist, sich zu verabreden, fahre ich die Gegend wohl vorher einfach mal ab. Das hat ja auch eine gute Quote.“

In diesem idealen Fall löst die Entwicklung subjektiver Wahrscheinlichkeiten nicht nur die Überzeugung „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“ auf, sondern auch die Überzeugung „Ungewissheit ist gefährlich“ – schließlich scheinen alle Handlungsalternativen plötzlich mit günstigen Wahrscheinlichkeiten zum Ziel zu führen. Ist ein Patient nicht in der Lage, selbst Wahrscheinlichkeiten zu benennen, dann sind Umfragen eine Hilfe – z. B. drei Personen aus dem Bekanntenkreis zu bitten, die Wahrscheinlichkeit, pünktlich den Arzt zu erreichen, für jede der Handlungsalternativen zu schätzen. zz 2. Die subjektiven Wahrscheinlichkeiten prüfen

Die Transformation von Ungewissheiten in Risiken ist nicht unproblematisch. So können übertriebene Wahrscheinlichkeiten die Überzeugung „Ungewissheit ist gefährlich“ auch ziemlich getreu in Prozente übersetzen – denn manchmal funktioniert der Umgang mit Risiken eben einfach nicht angemessen: Menschen überschätzen Gefahren schnell. Eine solche Gefahrenüberschätzung spielt vor allem bei den Angststörungen eine bedeutende Rolle. Gerade Personen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz neigen besonders zu Gefahrenüberschätzung: „People who are intolerant of uncertainty misjudge the likelihood of a negative event occurring. They have a tendency to overestimate risks and the negative consequences that may result from the situation“ (Carleton et al. 2016, S. 58).

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

55 T: „Frau M., für wie wahrscheinlich halten Sie eigentlich die Gefahr, dass Ihr Sohn mit seinem LKW bei einem Unfall schwer verletzt wird oder sogar stirbt?“ 55 K: „Schrecklich! Daran will ich gar nicht denken!“ 55 T: „Wie wahrscheinlich …?“ 55 K: „Also … man hört ja immer wieder in den Nachrichten davon … Aber irgendwie weiß ich auch, dass es doch nicht so wahrscheinlich ist …“ 55 T: „Wie wahrscheinlich …?“ 55 K: „10 Prozent?“ 55 T: „Das hieße ja, dass Ihr Sohn an jedem zehnten Arbeitstag so einen Unfall haben müsste.“ 55 K: „Ach so … na ja …“ 55 T: „Wie lange arbeitet er eigentlich schon in dem Beruf?“ 55 K: „Etwa 15 Jahre. Einen schweren Unfall hatte er noch nie.“ 55 T: „Wenn man mal annimmt, dass er 300 Tage im Jahr arbeitet, und das seit 15 Jahren, dann ist die Unfallchance vielleicht 4500 zu 1. Das sind wie viel Prozent?“ 55 K: „Äh …“ 55 T: „Ich glaube, so ungefähr 0,05 Prozent.“ 55 K (schweigt) 55 T: „Mal anders gefragt: Was denken Sie, wie viele LKW-Fahrer sind täglich auf den Straßen im Land unterwegs?“ 55 K: „Total viele … Vielleicht hunderttausend?“ 55 T: „Also, selbst wenn täglich einer davon einen tödlichen Unfall hätte …“ 55 K: „Na ja, täglich hört man dann auch wieder nicht davon …“ 55 T: „… dann wäre das Risiko für Ihren Sohn 1 zu 100.000. Er müsste also hunderttausend Schichten fahren, um einen solchen Unfall zu haben – dazu müsste er etwa dreihundert Jahre arbeiten.“ 55 K: „Hm … Das hört sich jetzt aber doch ziemlich sicher an.“

Wahrscheinlichkeitsdenken ist nicht jedermanns Sache, und es lohnt sich, abzuwägen, ob man als Therapeutin bzw. Therapeut Patienten mit geringer Ungewissheitstoleranz damit wirklich in besserwisserischer Weise auf die Nerven gehen will. Aber gerade bei diesen Klienten sind Wahrscheinlichkeitsberechnungen manchmal hilfreich, wenn sie sich anschaulich vermitteln lassen. Auch hier bietet sich als Alternative häufig eine Umfrage an, etwa indem Klienten Bekannte fragen, wie häufig ihnen ein bestimmtes Ereignis schon passiert ist oder für wie wahrscheinlich sie dessen Eintreten halten. Ähnlich lohnend ist es oft, einen Experten zu fragen, der über bestimmte Wahrscheinlichkeiten genauer Auskunft geben kann. Frau M. könnte sich z. B. an den ADAC wenden, der ihr hier vielleicht weiterhelfen könnte. Weitere Interventionen zur Prüfung und Korrektur einer übertriebenen Gefahreneinschätzung liegen in wünschenswerter Vielfalt in Therapieprogrammen für Angst- und Zwangserkrankungen vor. Weil dieser Aspekt aber bei der Behandlung geringer Ungewissheitstoleranz nur ein Nebenaspekt ist, sei hier nur darauf verwiesen (z. B. Van Oppen und Arntz 1994; Moritz 2010). zz 3. Die Bereitschaft erhöhen, ein Risiko einzugehen

Soll ein realistisch eingeschätztes Risiko in Handlungen übersetzt werden, dann muss auch eine gewisse Risikobereitschaft vorliegen. Aber so denken viele Menschen nicht. Sie

221 9.5 · Ungewissheitstoleranz als Ressource wiederaufbauen

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halten Sicherheit für einen Wert an sich – jedes noch so gut eingeschätzte und geringe Risiko erscheint ihnen zu hoch. Risikobereitschaft ist dagegen die Neigung, attraktive Ziele und Entscheidungsalternativen auch dann zu wählen, wenn damit Gefahren oder mögliche Verluste verbunden sind. Nur so können Chancen auch bei unklarer Lage verfolgt werden. Hier geht es also darum, „in welchem Maß eine Person bereit ist, Risiken zum Erreichen eines bestimmten Zieles für sich in Kauf zu nehmen“ (Hildt 2013, S. 42). Risikoübungen sind hier ein probates Mittel, um besonders risikoscheuen Personen eine größere Risikobereitschaft nahezubringen (Oelkers et al. 2007). Zuerst wird edukativ vermittelt, dass fast alle Handlungen einem gewissen Restrisiko unterliegen, das es auszuhalten gilt. Schließlich werden Übungen mit dem kleinen Risiko eines negativen Ausgangs verabredet: das Auto für eine Weile ohne Parkschein parken; das Licht (oder das Radio) in einem Zimmer anlassen, wenn die Wohnung verlassen wird. Aber natürlich können es auch an den Patienten angepasste individuelle Übungen sein. Oft sieht die Risikobereitschaft anders aus, wenn man sie aus dem Bereich einer möglichen Gefahr in den Bereich eines möglichen Gewinns übersetzt: Eine einprozentige Wahrscheinlichkeit eines negativen Ausgangs aktiviert womöglich die Risikoscheu, aber bei einer einprozentigen Wahrscheinlichkeit, in einem Gewinnspiel mit einem Euro Einsatz 200 Euro zu gewinnen, würden viele Personen das Risiko bereitwillig eingehen. 9.5  Ungewissheitstoleranz als Ressource wiederaufbauen

Auf einen Sonderfall geringer Ungewissheitstoleranz soll zumindest noch aufmerksam gemacht werden, auch wenn es sich dabei nicht um eine primäre Intoleranz gegenüber Ungewissheit – eine Eigenschaft, einen dauerhaften kognitiven Filter – handelt, sondern um den Fall einer sekundären Intoleranz gegenüber Ungewissheit (7 Abschn. 8.4) – eine bloß temporäre Erschöpfung einer an sich ausgeprägten Ungewissheitstoleranz. Langwierige ungewisse und unsichere Lebensumstände können auch die beste Ungewissheitstoleranz aufbrauchen. So kann eine Person durch eine mit Ungewissheiten und Unsicherheiten gespickte prekäre Lebenslage (7 Abschn.  4.2.2) ihr Reservoir an Ungewissheitstoleranz bereits derart ausgeschöpft haben, dass schon kleine erneute Ungewissheiten bei ihr die beschriebene „allergische Reaktion“ einer geringen Ungewissheitstoleranz auslösen. Diesem Aspekt wird therapeutisch am besten entsprochen, indem Ungewissheitstoleranz hier eher als Ressource denn als Kompetenz begriffen wird. Es geht also eher um State-Ungewissheitstoleranz – Ungewissheitstoleranz wird vielleicht durch den häufigen Umgang mit unsicheren Situationen nicht bloß trainiert, sondern verbraucht sich auch, wenn sie pausenlos herausgefordert wird. Eine aufgebrauchte Ungewissheitstoleranzressource lässt sich oft bereits bei der Exploration anhand von Kognitionen wie „Eigentlich halte ich solche kleinen Ungewissheiten ganz gut aus, aber aktuell denke ich dann sofort: ‚Nicht auch noch das! Ich kann einfach nicht mehr!‘“ erkennen (7 Abschn. 8.4). Natürlich sollten sich die Interventionen in diesem Fall nicht auf die gezielte Konfrontation mit noch mehr ungewissen Situationen richten, um die Kompetenz Ungewissheitstoleranz zu vergrößern. Sondern hier geht es gerade darum, der Patientin oder dem Patienten eine Art Atempause in der pausenlosen Konfrontation mit Ungewiss 





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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

heiten und Unsicherheiten zu ermöglichen, so gut dies eben therapeutisch möglich ist, sodass die Betroffenen ihr Reservoir an Ungewissheitstoleranz wieder füllen können. Es geht darum, einige Tage in sicheren Gewohnheiten zu verbringen und Sorgen um prekäre Lebensumstände für eine begrenzte Zeit auszusetzen.

Literatur

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Kapitel 9 · Das Ungewisse besser tolerieren lernen – Interventionen

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225

Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und Ungewissheitsbegeisterung 10.1

 ie Eigenkomplexität des Ungewissen D genießen – Ungewissheit als Genuss? – 228

10.2

 ich dem Ungewissen als Abenteuer S stellen – das Unvorhersehbare als Möglichkeit der Veränderung – 230

10.3

 esonanz für das, was das Ungewisse zu R sagen hat – 231 Literatur – 232

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4_10

10

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Kapitel 10 · Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und …

In den bisherigen Kapiteln wurde eine Psychotherapie vorgestellt, die vor allem darauf abzielt, die sechs Dimensionen geringer Ungewissheitstoleranz zu verändern und damit insgesamt weniger Intoleranz gegenüber Ungewissheit entstehen zu lassen. Aber kann dies das letzte Wort sein, wenn es um den menschlichen Umgang mit dem Ungewissen geht? Hinter allen bisher vorgestellten Haltungen bezüglich des Ungewissen – dem starren Gewissheitsverlangen, einer modernen Ungewissheitsbegeisterung und der nüchternen ausgeprägten Ungewissheitstoleranz – findet sich ein sehr ähnliches Handlungsmodell. Es sieht das Ungewisse immer nur aus dem Blick einer handelnden Zielverwirklichung: entweder als gefährlichen Störfaktor oder als Versprechen auf besonderen Gewinn. Dies Kapitel lotet drei andere Handlungsmodelle daraufhin aus, wie Ungewissheit durch diese alternativen Brillen erscheint. Lässt sich das Ungewisse einfach genießen? Wird gerade hier ein Überschreiten der eigenen Person möglich? Oder ein dialogischer, nicht instrumenteller Umgang mit der Welt?

10

Mit der Steigerung einer anfangs belastend geringen Ungewissheitstoleranz ist zumindest die konkrete therapeutische oder beraterische Arbeit – hoffentlich erfolgreich – abgeschlossen. Das starre Gewissheitsverlangen hat sich in einen flexibleren Wunsch nach Gewissheit verwandelt, der es ermöglicht, im Notfall auch mit dem Ungewissen seinen Frieden zu machen; Ungewissheit erscheint auch nicht mehr zwangsläufig als gefährlich, belastend oder den Selbstwert destabilisierend; zudem existiert ein einigermaßen stabiles Selbstvertrauen, verbunden mit der Überzeugung, dass man in ungewissen Situationen gewöhnlich doch handlungsfähig bleibt; und schließlich erscheinen gelegentliche Ungewissheiten auch nicht mehr als empörende Verstöße gegen die allgemeine Fairness im Leben, sondern als Normalität. Die Psychotherapie der Intoleranz gegenüber Ungewissheit (IU) kommt zu ihrem Ende. Zwischen dem fast schon altmodischen starren Gewissheitsverlangen eines überschaubaren und geregelten Lebens und jubelnder Ungewissheitsbegeisterung bei postmodernen Unsicherheiten ist ein Mittelmaß gefunden, das die Extreme vermeidet und eine halbwegs gesunde Bewältigung ungewisser Lebenslagen verspricht. Aber dieser pragmatische und realistische Kompromiss wird den etwas faden Beigeschmack der Enttäuschung nicht ganz los. Sollte das wirklich schon alles gewesen sein, was sich zum menschlichen Umgang mit dem Ungewissen sagen lässt: Du musst das Ungewisse nicht lieben, aber halte es am besten gut aus? Psychotherapeutische Bemühungen reichen jedenfalls nicht weiter als bis zu diesem gesundheitspraktischen Bestreben, ein dysfunktionales Gewissheitsverlangen in eine größere Ungewissheitstoleranz umzuschmelzen. Über den Umgang mit Ungewissheit scheint alles gesagt. Schon für die philosophische Anthropologie ist der Mensch, wie der Philosoph Hans Blumenberg es nennt, eben ein riskantes Lebewesen (7 Abschn.  1.1)  – weil er nicht in einer Umwelt lebt, deren Merkmale eindeutig bestimmbar sind, „sondern einen zwar beweglichen, aber stets beschränkten Horizont vor sich hat, changiert sein Verhältnis zur Zukunft zwischen radikaler Ungewissheit und dem zwar noch Abwesenden, aber Erwartbaren und Beeinflussbaren“ (Bröckling 2017, S. 82). Die aktuelle ungewissheitsfreundliche Gesellschaft der flüchtigen Moderne verschärft zwar diese Bedingungen, aber verändert sie nicht grundlegend (7 Abschn. 4.2): Auf der einen Seite prämiert ihr Individualismus das robuste, handlungsorientierte Zielerreichen als Lebensglück und Sinn in der modernen Welt, auf der anderen Seite  



227 Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von …

10

schafft sie Sicherheiten ab und ersetzt sie durch Ungewissheiten. Der Einzelne muss handeln, aber unter immer ungewisseren Umständen. Und so entsteht als Subjektideal, das individuell in der Lage sein soll, diesen Riss zu kitten, das Bild einer Person mit hoher Ungewissheitstoleranz, ja vielleicht sogar mit Ungewissheitsbegeisterung. Und für die weniger Glücklichen, denen diese neue Ungewissheitskompetenz abgeht, sind dann ja immerhin die „Experten der Subjektivität“ (Bröckling 2007, S. 41) zur Stelle, Psychotherapeuten und -therapeutinnen, Beraterinnen und Berater, welche die verbliebenen „Gewissyphusse“ in der Fähigkeit trainieren, dem ungewissen Leben ebenfalls mit der gewünschten Flexibilität und Risikobereitschaft zu begegnen  – kein Wunder also, dass die psychologische Forschung plötzlich eine geringe Ungewissheitstoleranz als Eigenschaft entdeckt (7 Abschn. 2.3) und deren krank machende Folgen ausführlich zu untersuchen beginnt (7 Abschn. 5.3). Sind also in diesem Panorama nicht alle Positionen einer Koexistenz mit dem Ungewissen besetzt? Auf der einen Seite ein fast schon altmodisches Gewissheitsverlangen, auf der anderen eine moderne Ungewissheitsbegeisterung … und irgendwo dazwischen eine mehr oder minder ausgeprägte Ungewissheitstoleranz. Wo sollen sich überhaupt noch weiße Flecken für eine alternative Position gegenüber dem Ungewissen jenseits der beschriebenen finden lassen? Einen Ausgangspunkt scheint es dafür aber doch zu geben: Alle beschriebenen Positionen entwerfen die Person, die auf das Ungewisse trifft, als einen Akteur – also jemand, der durch feste Ziele und zielführende Handlungen geprägt ist, jemand, der etwas vorhat, es erreichen will und dabei in ungewisse Gefilde gerät. Ein Akteur mit starkem Gewissheitsverlangen sieht seine Ziele und Handlungen durch die ungewisse Situation stark bedroht, ein mit Ungewissheitsbegeisterung ausgerüsteter Akteur sieht im Gegenteil seine Ziele gerade durch die Ungewissheit gefördert, und ein Akteur mit ausgeprägter Ungewissheitstoleranz positioniert sich dazwischen. Aber sie alle sind ziel- und handlungsorientierte Personen. Ungewissheit wird dort zum Problem, wo das Kontrollierte, Geordnete einer Person, die in der Welt nach ihren Zielen strebt, auf das Unberechenbare, Ungeordnete der Welt trifft. Sie will ihren Kopf durchsetzen, aber die Umstände überraschen sie immer wieder – mit Hindernissen oder Geschenken. Das Problem der Ungewissheit scheint gerade dort schon ein systemisches, wo der Mensch als besonders handlungs- und zielorientiertes Wesen entworfen wird. Das gilt bereits für den Begriff des Risikos (7 Abschn. 3.1.2). Ein Risiko ist stets handlungsbezogen, und gerade diese Handlungsbezogenheit grenzt Risiko und Ungewissheit von der bloßen Gefahr ab – Gefahren gibt es unabhängig vom eigenen Verhalten: Dass ein Haus vom Blitz getroffen werden kann, ist eine Gefahr, aber sich dafür zu entscheiden, trotzdem keinen Blitzableiter zu installieren, ist ein Risiko. Nicht mehr von Gefahren, sondern von Risiken und Ungewissheiten zu sprechen verwandelt schicksalhafte Ereignisse quasi automatisch in aktive Wagnisse (Gigerenzer 2014). Aber sind wir wirklich immer so? Und sollten wir so sein? Möglicherweise ergeben sich andere Blicke auf das Ungewisse, wenn es weniger aus der Perspektive eines solchen Handlungsmodells gesehen wird. Denn diesem wird auch in anderen Zusammenhängen immer wieder eine prinzipielle Distanz zu einem glücklichen Leben bescheinigt: „Die wahren Glücksmomente im Leben gehen meist damit einher, von sich und seinem Ego Abstand zu nehmen“ (Schirach 2014, S.  73). Schon ein mehrfach beschriebenes  





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Kapitel 10 · Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und …

kleines Beispiel lässt hier dahingehend aufhorchen, dass es vielleicht einen bisher unbenannten Spielraum im Umgang mit dem Ungewissen geben könnte: „Selbst eine Reifenpanne, die uns zu Hause nur fluchen ließe, können wir auf Reisen als eine aufregende Erfahrung verbuchen, die wir noch Jahre später gern zum Besten geben“ (Klein 2015, S. 422). Ohne die übliche Zielorientierung des Alltags kann ein ungewisses zufälliges Ereignis eine andere Form als die des Störfaktors annehmen. Ungewissheit ist also als Begriff immer schon in ein bestimmtes Handlungsschema hineingedacht, aber dies ist vielleicht nicht das einzig mögliche Handlungsmodell. Andere Modelle erinnern daran, dass es noch andere Arten des Herangehens an das Ungewisse geben kann, als es in die eigenen Handlungsabsichten einzurechnen, sei es in Form eines Kalküls oder durch kluge Faustregeln. In anderen Handlungsvorstellungen wird aus dem Ungewissen ein Geschehnis mit eigenem Recht. 10.1  Die Eigenkomplexität des Ungewissen

genießen – Ungewissheit als Genuss?

10

Das klamme Gefühl bedrohlicher Ungewissheit entsteht nur dort, wo eine Person mit einer Absicht an eine Situation herantritt, wo sie unter Handlungs- und Ergebnisdruck steht – erst dort wird der erwünschte Ausgang ungewiss. Es könnte etwas Anstrengendes, vielleicht Gefährliches eintreten, zumindest wird der ungewisse Ausgang einer Situation zu einer äußerst lästigen Komplikation, die bewältigt werden muss auf dem Weg zum Ziel – auch das noch! Eine ungewisse Situation ist schließlich komplexer als eine gewisse, denn es muss mit mehreren möglichen Verläufen gerechnet werden, und das stört beim glatten und zügigen Zielerreichen: „Im Prozess der Rationalisierung geht es immer darum, Komplexität zu reduzieren, also die Einheiten des Sozialen auf einige wenige Parameter engzuführen und damit berechenbar und kooperationsfähig zu machen. Komplexität gilt im Grunde als Störfall“ (Reckwitz 2017, S. 85). Kann aber nun eine Person für einen Augenblick innehalten, von den eigenen Absichten absehen und einen Blick auf die ungewisse Situation „an sich“ werfen, dann sieht sie: eine Situation mit einer hohen Eigenkomplexität. Ein solcher Blick auf eine ungewisse Situation mit dem vagen Schillern ihrer verschiedenen Ausgangsmöglichkeiten, auf die sich eine Person mit ihren Handlungen dann selbst wieder einstellen muss, lässt die Situation nun in einem ganz neuen Licht erscheinen: „Eigenkomplexität und innere Dichte machen hier gerade den Reiz der Sache aus; sie sind es, worum es geht“ (Reckwitz 2017, S. 85). Statt komplexe ungewisse Situationen aus einer von Sparsamkeits- und Zielerreichungsbedenken geprägten Perspektive einzuschätzen (Was das alles wieder für Umstände macht! Dabei habe ich doch nur so wenig Zeit! Und dann ist der Ausgang nicht einmal sicher!), bietet dieser andere Blickwinkel Aussicht auf die ganze Vielschichtigkeit solcher Situationen. Es geht also hier darum, zu lernen, die Eigenkomplexität einer ungewissen Lage besonders zu schätzen, sie als einen Genuss zu begreifen, der an Kunstgenuss erinnert. Das Ungewisse ist ein Phänomen mit ganz eigenem Reiz. Nun steht die Person vor ihm mit dem Blick des Kenners im Museum, nicht mehr mit dem des beunruhigten oder begeisterten Bewältigers.

229 10.1 · Die Eigenkomplexität des Ungewissen genießen …

10

In der bildenden Kunst und der Literatur genießen die meisten Menschen den ästhetischen Reiz des Ungewissen längst wie selbstverständlich auf diese Weise. Die Rolle des Unklaren, Unbestimmten in der fantastischen Literatur ist schon erwähnt worden (7 Abschn. 2.1). War das in dem unheimlichen Haus wirklich eine übernatürliche Erscheinung? Oder war der Erzähler bloß überreizt, vielleicht verrückt? Viele Erzählungen gewinnen ihren besonderen ästhetischen Reiz auch durch einen unglaubwürdigen Erzähler. Die Lesenden genießen dieses seltsame Gefühl, dass irgendetwas mit dem Erzählten im Roman nicht stimmt. Hat der Erzähler versteckte Absichten? Ist er so überheblich, dass er die Realität verzerrt? Oder nur schwer von Begriff, sodass ihm Entscheidendes entgeht? Verhindert eine bestimmte Weltanschauung den klaren Blick? Ist er naiv? Ein solcher „unreliable narrator“ (Nünning 1998, S. 11) gibt ein Geschehen unklar wieder, seine Deutungen und Interpretationen machen misstrauisch – und die Lesenden empfinden Genuss bei diesem Spiel um die Wirklichkeit. Wissen sie z. B. bereits, dass es sich bei einem Erzähler um einen arroganten Typen handelt, der die Welt durch den Zerrspiegel seiner eigenen Überheblichkeit sieht, dann lesen sie folgende Stelle gleich ganz anders, auch wenn sie sie nur durch seine Schilderung kennenlernen: „Die Tür öffnete sich, eine Assistentin mit enger Bluse kam herein und legte ein beschriebenes Blatt hin; Bogovic betrachtete es ein paar Sekunden, dann legte er es weg. Ich sah sie an und lächelte, sie sah weg, aber ich bemerkte doch, dass ich ihr gefiel. Sie war rührend schüchtern. Als sie hinausging, lehnte ich mich unauffällig zur Seite, damit sie mich im Gehen streifte, aber sie wich aus. Ich zwinkerte Bogovic zu, er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war er homosexuell“ (Kehlmann 2003, S. 55). Misstrauisch geworden durch das sich wiederholende Stereotyp der scheinbaren Wirkung des Erzählers auf alle Frauen, wagt die Leserin oder der Leser eine andere Deutung der Szene: Sieht die Sekretärin vielleicht nicht aufgrund von Schüchternheit weg, sondern weil der Erzähler sie anwidert? Runzelt Bogovic vielleicht die Stirn, nicht weil er homosexuell, sondern weil er peinlich berührt ist? Aber natürlich sind noch andere Deutungen möglich. Es ist ein fast detektivischer Genuss: Haben die Lesenden einmal die Unzuverlässigkeit des Erzählers durchschaut, erlaubt ihnen dieser Informationsvorsprung, auch die weiteren Aussagen des Erzählers auf diese Zusatzbedeutung hin zu betrachten. Was geschieht da wirklich? Gerade eine komplexe Literatur voller Ungewissheiten verlangt auch einen neuen Typ von Leserinnen und Lesern, die aktiver und selbstständiger sind, als die gewöhnlich vertrauensseligen Konsumenten von Schmökern. Warum also nicht auch im Alltag gelegentlich eine Art ästhetische Haltung zur Ungewissheit entwickeln? Oh, was für eine interessante Ungewissheit erlebe ich da gerade! Dazu ist es zunächst wichtig, für einen Augenblick die ungewisse Situation, in der man sich befindet, nicht als „ein Knappheits- und Ordnungsproblem“ (Reckwitz 2017, S. 86) anzusehen, eine Sichtweise, die sofort verlangt, dass diese Mangel- und Unordnungsperspektive durch ein sehr rationales Herangehen im Sinne der eigenen Ziele und der Effektivität gebannt wird. Warum muss man immer gleich etwas lösen? Warum nicht einfach einen Moment innehalten? Hat man nicht doch oft genug einen Augenblick Zeit, um die schöne Komplexion einer ungewissen Situation zu erfassen? Mit welcher Haltung muss also eine Person an das Ungewisse herantreten, um dessen Eigenkomplexität genießen zu können? Am besten klammert sie zumindest für eine gewisse Zeit ihre Absichten und den eigenen Handlungsdruck ein – und sieht auf das Ungewisse mit dem interessefreien Blick des Kunstbetrachters.  

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Kapitel 10 · Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und …

10.2  Sich dem Ungewissen als Abenteuer stellen – das

Unvorhersehbare als Möglichkeit der Veränderung

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Das sowohl im Gewissheitsverlangen als auch in der Ungewissheitsbegeisterung versteckte Ideal des Einzelnen, das dem eines zielstrebigen Arbeitssubjekts entspricht, orientiert am Maßstab von Nützlichkeit und Effizienz, hangelt sich allein an der Frage entlang: „Was bringt mir eigentlich Gewissheit oder Ungewissheit ein?“ Dies Subjekt hat etwas vor, das nur noch verwirklicht werden soll, aber selbst nicht mehr zur Diskussion steht. Ein weiterer Antipode dieses Subjekts ist der Abenteurer – kein wirklich unbekannter Typus, blüht doch heute das Geschäft mit kontrollierter Unsicherheit: „Abenteuerurlaub, Steilwandklettern, Drogen, Selbsterfahrung“ (Holert 2004, S. 248). Dabei vermischen sich in diesen Angeboten Gewissheit und Ungewissheit auf spezifische Weise  – das Abenteuer will schließlich gesichert sein: „Der Aufbruch ins Ungewisse findet real oder lediglich in der Fantasie als warenförmiges Angebot statt und bettet die Unsicherheit in Berechenbarkeit ein“ (Legnaro 2004, S. 73). Die Figur des Abenteurers erinnert bei aller geschäftsmäßigen Vereinnahmung doch daran, dass einerseits der ängstlich nach Sicherheit und Gewissheit suchende, andererseits der berechnende, geschäftsmäßige Umgang mit Ungewissheit, wie sie im Alltag vorherrschen, nicht die einzigen Möglichkeiten sind, mit Ungewissheit zu leben. Im Kern bricht der Abenteurer nämlich „auf schwebende Chancen und das Ungefähre hin alle Brücken hinter sich [ab]“ (Legnaro 2004, S. 72). Abenteuer als ein prickelndes Erlebnis oder gewagtes Unternehmen lässt sich auf das lateinische Verb „advenire“ zurückführen, was in etwa „herankommen“, oder „sich ereignen“ bedeutet. Es geht dabei also mehr um Erlebnis als um Ergebnis, um die Hoffnung, dass plötzliche Ereignisse den Abenteurer herausreißen aus dem Alltag und den ganzen zugehörigen Absichten, wie es der Philosoph Alain Badiou formuliert: „Ein Ereignis ist für mich etwas, das eine Möglichkeit erscheinen lässt, die unsichtbar oder sogar undenkbar war.“ Das Ereignis erscheint ihm wie ein Vorschlag einer anderen Entwicklung, der ergriffen werden kann oder nicht: „Das einfachste Beispiel ist jenes der Liebe. Sagen wir, Sie verlieben sich. Sie begegnen jemandem. Es passiert, dass sich zwischen Ihnen und dieser Person […] eine […] unerwartete und unvorhersehbare Möglichkeit eröffnet. […] Die Begegnung ist die Öffnung einer Möglichkeit in meinem Leben, die im Voraus nicht kalkulierbar war“ (Badiou und Tarby 2017, S. 17 f.). Der Philosoph Slavoj Žižek sieht es ähnlich, wenn er das Ereignis als den Einbruch des Unvorhergesehenen ins Leben beschreibt – es hat für ihn etwas Wunderbares, nicht nur Störendes oder Gewinnbringendes: „Dies ist ein Ereignis in seiner reinsten und minimalsten Form: etwas Schockierendes, aus den Fugen Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht; etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, ohne erkennbare Gründe“ (Žižek 2014, S. 8). Im Ungewissen, wie es z. B. der Abenteurer im Ereignis sucht, ist eine Möglichkeit enthalten, nicht sich (die eigenen Absichten) zu verlieren oder zu verwirklichen, sondern über sich hinauszukommen. Der Abenteurer genießt am Ungewissen gerade die Möglichkeit, von den eigenen Zielen und zu etwas anderem befreit zu werden.

231 10.3 · Resonanz für das, was das Ungewisse zu sagen hat

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Was muss nun eine Person tun, um dem Ungewissen mit der Bereitschaft eines Abenteurers gegenüber dem Ereignis zu begegnen – mit der Bereitschaft, die eigenen ursprünglichen Absichten durch das Unvorhergesehene überschreiten und überschreiben zu lassen? Dies verlangt, die eigene Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten zu lenken, die ein unvorhergesehenes Ereignis mit sich bringt. Und vor allem: Man sollte das Gegebene, inklusive der eigenen Absichten und Pläne, nicht unbedingt nur als positiv und zu bewahren ansehen, sondern versuchen, „überzeugt zu sein, dass der Stand der Dinge nicht über die wichtigsten Möglichkeiten verfügt“ (Badiou und Tarby 2017, S.  20). Es gilt also, ständig auch das möglicherweise Unzureichende an den eigenen Absichten im Auge zu haben. Und schließlich ist es notwendig, sich auf eine gewisse Treue zu aufscheinenden neuen Möglichkeiten einzuschwören. Man pflegt die Einstellung, dass sich immer etwas anderes als das Gegebene ereignen kann … und hofft sogar darauf. 10.3  Resonanz für das, was das Ungewisse zu sagen hat

Auch ungewisse Situationen im Sinne der eigenen Ziele zu bewältigen oder abzuschöpfen steht für einen instrumentellen Weltbezug, dem es vor allem darum geht, die eigenen Ziele trotz aller Ungewissheiten handelnd verfolgen zu können. Das „wissenschaftlich-­ rationalistische Weltverständnis“ (Rosa 2016, S. 290), das das Ungewisse auf diese Weise zu beherrschen versucht, ist aber vielleicht nur eine stumme Weltbeziehung  – in ihr wird nur der Nutzen maximiert, und Ungewissheiten erscheinen als auszumerzende Störfälle. Die Welt ist hier nur ein Ort unwägbarer Gefahren und ärgerlicher Störungen, bestenfalls ein Ort von riskanten Chancen, die genutzt werden wollen. Die das Ungewisse tolerierende, bewältigende oder bestenfalls ausnutzende Person – sie wird von der ungewissen Situation nicht wirklich „angesprochen“: dazu hat sie gar keine Zeit. In einer Art „Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus“ (Rosa 2016, S. 761) versucht sie schließlich vor allem, die eigenen Vorhaben trotz der Ungewissheiten nicht aus den Augen zu verlieren. Es geht um Bestimmen, Umformen, Erobern – aus der Perspektive von Ressourcenmaximierung und Zielverwirklichung. Warum aber nicht eine ungewissheitsgeladene Situation mit ihrer Dichte an möglichen Ausgängen, ihrem Möglichkeitsreichtum, als eine Situation der Fülle begreifen, nicht im Sinne einer gut gefüllten Brieftasche, die sich auszubeuten lohnt, sondern als einen Ort, an dem das Leben „voller, reicher, tiefer, lohnender, bewundernswerter und in höherem Maß das, was es sein sollte“ (Taylor 2012, S. 18) ist. Ungewissheit ist vielleicht so ein Zustand, der vor Möglichkeiten vibriert, der etwas zu sagen hat – und Resonanz ist eine weitere alternative Beziehung, die eine Person mit ihr eingehen könnte. Oft stößt sie einem zu in der überraschenden Begegnung mit der Natur: „Wenn jemand lange gegangen ist, um an der Biegung des Wegs zu dem ersehnten Anblick zu kommen, empfindet er, wenn ihm das geschenkt wird, eine Vibration der Landschaft, sie wiederholt sich im Körper des Wanderers. Der Einklang zweier Präsenzen, wie zwei Saiten, die zusammenklingen, vibrieren und dabei gegenseitig ihre Vibration anregen, ist wie ein unbestimmter Anstoß“ (Gros 2010, S. 32).

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Kapitel 10 · Die Connaisseure des Ungewissen – jenseits von Gewissheitsverlangen und …

Hier wird also das Ungewisse nicht gemieden, bewältigt oder zum eigenen Vorteil benutzt, sondern als etwas Gegebenes, aber nicht mehr Bedrohliches verstanden, zu dem eine Person in eine „Antwortbeziehung“ (Rosa 2016, S. 317) treten kann. Das Ungewisse ist als Nichtverfügbares, Nichtangeeignetes vorhanden und ermöglicht einen dialogischen Prozess, der zu einer partiellen Anverwandlung führt – zu einem wechselseitigen Antwortverhältnis: Subjekte lassen sich von der Welt berühren, versuchen aber auch, die Welt handelnd zu erreichen, sie zu einem entgegenkommenden Reagieren zu bringen. Erst zusammen ergibt sich daraus die Resonanz als ein anderer Umgang mit dem Ungewissen. Ein solches nicht instrumentelles Weltverhältnis ist responsiv und elastisch, fluid und anschmiegsam. Die Welt erscheint als Folge von verlockenden Möglichkeiten und erregenden Herausforderungen, selbst wenn man noch nicht genau weiß, was kommt: Handeln ist hier weniger Bewältigung als Begegnung, eine Art von wechselseitigem Berührtwerden. Eine passende Lebensstrategie für einen solchen Umgang mit dem Ungewissen ist ziemlich anspruchsvoll: gleichzeitig offen für Anregung von außen, aber doch stabil genug für die „Eigenfrequenz“ (Rosa 2016, S. 191) – anders als der Abenteurer, der gerade verändert werden will, oder der Betrachter, der nicht handelt. Resonanz wird schwierig, wo sich das Subjekt verhärtet oder verschließt und so seinen Draht zur Welt verliert. Es kann sich aber auch übermäßig und restlos zur Welt öffnen und so seine Eigenfrequenz verlieren. Dies ist eine nicht leicht zu verstehende, komplexe Position gegenüber dem Ungewissen: sich weder fortreißen lassen wie in der Hoffnung auf ein Ereignis, noch das Ungewisse nur auf die eine oder andere Weise bewältigen, aber auch keine ästhetische Distanz zu ihm einnehmen. Aus der Perspektive dieser drei alternativen Handlungsmodelle nimmt jedenfalls die Ungewissheit deutlich unterschiedliche Formen an, sei es aus dem Blickwinkel der Kontemplativen, der Abenteurer oder der Resonanten. Sie betrachten sie zurückgelehnt, lassen sich von ihr mitspielen in der Hoffnung darauf, gerade sich selbst verloren zu gehen, oder führen einen komplexen Dialog mit ihr.

Literatur Badiou A, Tarby F (2017) Die Philosophie und das Ereignis. Turia + Kant, Wien Bröckling U (2007) Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Suhrkamp, Frankfurt am Main Bröckling U (2017) Prävention. Die Macht der Vorbeugung. In: Bröckling U (Hrsg) Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 73–112 Gigerenzer G (2014) Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. Btb, München Gros F (2010) Unterwegs. Eine kleine Philosophie des Wanderns. Riemann, München Holert T (2004) Sicherheit. In: Bröckling U, Krasmann S, Lemke T (Hrsg) Glossar der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 244–250 Kehlmann D (2003) Ich und Kaminski. Suhrkamp, Frankfurt am Main Klein S (2015) Alles Zufall. Die Kraft, die unser Leben bestimmt. Fischer, Frankfurt am Main Legnaro A (2004) Erlebnis. In: Bröckling U, Krasmann S, Lemke T (Hrsg) Glossar der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 71–75 Nünning A (Hrsg) (1998) Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Wissenschaftlicher Buchverlag, Trier

233 Literatur

10

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Serviceteil Stichwortverzeichnis – 237

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Spitzer, Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58790-4

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A–G

Stichwortverzeichnis

A

D

ABC-Schema 146, 154, 159, 167, 215 –– Vermittlung des 147, 148 Abenteuer 230 Achtsamkeit 182, 188 ACT (Akzeptanz- und Commitment-Therapie) 181 Action Stage der Therapie 133 Akzeptanz 44, 52–54 –– Erlebnisakzeptanz 53 –– Realitätsakzeptanz 53 –– Selbstakzeptanz 53 Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) 181 Alkoholkonsum 113 All-Case-Szenario 191, 216 Allianz, therapeutische 134 Ambiguität 47, 50, 152 Ambiguitätstoleranz 38, 48, 51, 92, 100, 152 –– geringe 48 Angst 94 Angststörung 89, 101, 112, 120, 174 –– generalisierte 24, 26, 39, 89, 102, 103, 106, 109, 110, 156, 174 –– hypochondrische 108 Anorexie 112, 113 Anthropologie, philosophische 4, 226 Autismus-Spektrum-Störungen 90, 110, 111 Awfulizing 191

Depression 9, 26, 90, 111, 112, 156 Determinismus 49 Diathese-Stress-Modell 100 Drift 84, 85 Dugas, Michel 24, 103, 125

B Bauman, Zygmunt 65, 68 Beck, Aaron T. 9, 10, 101, 111, 137, 178 Belastungsstörung, posttraumatische 109 Berechenbarkeit der Welt 19 Bereitwilligkeit 53 Beziehungsbrüche 134 Beziehung, therapeutische 129, 135 Bindungstheorie 38 Blumenberg, Hans 226 Borkovec, Thomas 91 Bulimie 112 Burnout 84 Burns, David 10

C Chaostheorie 49 Cicero 45 Contemplation Stage der Therapie 131–133

E Egotismus 206 Eigenkomplexität 228 Ellis, Albert 8, 10 Emotionstheorie, kognitive 31 Entdecken, geleitetes 137 Entfremdung 84 Entscheidungstheorie 45, 46 Enttraditionalisierung 67, 69, 74 Ereignis 230 Erzähler, unglaubwürdiger 229 Erziehungsverhalten, inkonsistentes 38 Exploration 121, 126, 143, 144, 150, 153, 157, 163 Exposition mit Reaktionsverhinderung 120

F Faustregeln, kluge 47, 217, 228 Fehler 201 Fehlertoleranz 197 Franklin, Benjamin 67 Frenkel-Brunswik, Else 38, 51 Frustrationstoleranz 51, 53, 54, 194 –– geringe 194

G Gefahr 45, 46, 50, 67, 69, 153, 160, 227 Gefahrensinn 66 Gefahrenüberschätzung 8, 104, 105, 108, 177, 189, 219, 220 Gelassenheit 125 Generalisierte Angststörung 18, 24, 26, 39, 89, 102, 103, 106, 109, 110, 121, 156, 174 Gerechtigkeitsverlangen 29, 94, 108, 162, 211 Gesellschaft 5, 11, 36, 65, 66, 68, 81, 122 Gewissheit 18, 20–22, 44, 66–69, 76, 77, 89, 111, 156, 187 Gewissheitsverlangen 5, 22, 26, 38, 52, 65, 70, 74, 75, 81, 105, 122, 124, 129, 135, 137, 138, 145, 160, 162, 180, 181, 188, 211, 226

238

Stichwortverzeichnis

Gross, Pascal 72 Grübeln 91, 111, 156

H Handlungsfähigkeit 28, 59, 83, 94, 195, 196, 200–202 Handlungsmöglichkeit 196 Handlungsparalyse 28, 36, 59, 83, 94, 108, 109, 195, 217 Hilflosigkeit 59 Hot Cognition 143 Hypervigilanz 110

I Ignoranz, schützende 74, 182 Impulsive Decision Making 98 Informationsgesellschaft 73 In-Session-Fokus 148, 150, 186 Intolerance of Uncertainty Scale 39 Intoleranz 51, 52 –– gegenüber Ungewissheit 3, 6, 7, 9, 21, 23–27, 34–36, 39, 46, 48, 52, 55, 56, 59, 65, 81, 83, 89, 90, 92–95, 99–101, 103–106, 108–114, 120, 123–125, 129, 131, 135–138, 143, 145, 150, 152, 154, 165, 166, 173, 175, 177, 185, 188, 190, 193, 195, 199, 203, 210, 219, 226 –– Allergie-Analogie 176 –– kognitive Architektur 25, 30, 31, 124, 126, 139, 143, 160, 162, 174, 179, 180, 189, 193, 195, 204, 210 –– primäre 167, 221 –– Problembewusstsein wecken 175 –– sekundäre 167, 221 –– Therapieziele bei 121, 124, 126, 134, 143, 157, 158, 179 –– transdiagnostisches Modell 33, 160 –– Treibstoff-Analogie 176 Intuition 217

J Jehovian Demand 27

K Kahnemann, Daniel 20 Kalkül 47, 78, 79, 228 Kognitive Therapie 9, 10, 101, 137, 143 Komorbidität 101, 106 Komplexitätsreduktion 65, 228 Konfliktneigung in der Familie 38 Kontingenz 19

Kontrolle 58–60 Kontrollillusion 58 Kontrollmeinung 58, 92 Kontrollüberzeugung 59 Kontrollverlust 59 Kreativität 80 –– situierte 199 Krebserkrankung 114

L Laplace-Kriterium 198 Lazarus, Richard 31, 33, 100 Lebenslage, prekäre 36, 71, 167, 221 Lifelogging 37 Luhmann, Niklas 65

M Mannheim, Karl 83 Maximax-Regel 198 Maximin-Regel 198 Mehrdeutigkeit 47 Metakognition 93, 94, 165, 212, 213 –– positive 165, 166, 213 Metakognitive Therapie 213 Mittelschicht 71 Moderne 66, 67, 78 –– feste 68, 70 –– flüchtige 69, 70, 85, 122, 173, 226 Motivating Uncertainty 22 Multioptionsgesellschaft 72, 84 Multiple Sklerose (MS) 114 Mussturbation 27

N Neff, Kristin 209 Newton, Isaac 66 Normalized Anxiety 83

O Obsessive Beliefs Questionnaire 39 Option 72, 73, 84

P Panikstörung 90, 101, 103, 109 Partial Commitment 98 Patientenrolle 134 Perfektionismus 8, 84, 92, 104, 154, 204 Phobie, soziale 26, 90, 103, 107–109, 156, 174

239 Stichwortverzeichnis

Pleasure Paradox 22 Post-Event Processing (PEP) 107, 156, 166 Posttraumatische Belastungsstörung 109 Präventionist 74, 76, 123 Problematisierungsformel 75 Prüfung –– empirische 178, 194, 207 –– hedonistische 178, 183–185, 194, 207 –– logische 178 Psychologie, humanistische 53

Q Quantified Self 37

R Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT) 8, 9, 26, 32, 34, 51, 146, 162, 179, 180, 191, 194 Regelorientierung, flexible 38 Resilienz 52, 76, 77, 82, 85, 123 Resonanz 231, 232 REVT. Siehe Rational-Emotive Verhaltenstherapie Risiko 44–47, 50, 79, 152, 197, 215, 216, 218, 227 –– Entscheidung unter 45, 72, 199, 218 Risikoaversion 21, 22, 38, 83, 221 Risikobereitschaft 46, 55, 68, 73, 75, 79, 100, 122, 220 Risikokompetenz 37, 122 Rotter, Julian 59

S Satisficing 217 Schema, kognitives 24, 177 Selbst –– kreatives 78–82, 122, 123 –– resilientes 77, 78, 81–83, 85, 122, 123 –– unternehmerisches 75, 78–82, 122, 123 Selbstakzeptanz 205, 208 Selbstmitgefühl 209 Selbstoptimierung 84 Selbstvertrauen 205 Selbstwert 203, 204 –– geringer 29 –– gewissheitsabhängiger 204, 207 –– kontingenter 204, 205 –– stabiler 205 Sensation Seeking 55, 56, 60 Sicherheit 44, 70, 76, 77 –– Entscheidung unter 45 –– innere 37 Sinn für das Ungewisse 66, 75, 81 Sorgen 3, 7, 25, 34, 91, 92, 95, 102, 106, 108–110, 121, 130, 135, 147, 155, 156, 165, 166, 213

G–U

Sorgenketten 192 Sorgenkultur 3 Sorgenmachen 93, 94, 111 Sorrentino, Richard 54 Soziale Phobie 26, 90, 103, 107–109, 156, 174 Störungsmodell, kognitives 146 Stress 99, 100, 113, 121 Stressmodell, transaktionales 31, 32, 100

T Therapieerfolg 129, 133, 134, 174, 178 Tiefenstruktur, kognitive 160, 162 Toleranz 44, 51, 52 Touristifizierung 75 Transdiagnostik 8, 18, 33, 90, 101, 120, 121, 160 Triade, kognitive 111

U Umstrukturierung, kognitive 120, 136, 177, 178, 183, 212, 214 Unbestimmtheit 4, 44, 51, 173 Ungewissheit 2–4, 10, 18–20, 22, 23, 44, 47, 48, 50, 59, 60, 65, 66, 68, 70, 73, 76, 79, 81, 83, 89, 109, 111, 122, 123, 130, 150–152, 154, 173, 183, 186, 196, 203, 215, 216, 229 –– berufliche 71 –– in der Therapie 131, 133 –– Entscheidung unter 45, 72, 199 –– existenzielle 4, 5, 65, 66 –– Quellen der 123 Ungewissheitsakzeptanz 53 Ungewissheitsbegeisterung 76, 80, 82, 123–125, 226, 227 Ungewissheitsepisode 145, 147, 158, 159, 163, 166, 167, 213 Ungewissheitskompetenz 227 Ungewissheitsorientierung 54, 56, 60, 79, 100 Ungewissheitsprofil 90, 92, 94, 105, 107–109, 126, 143, 145, 147, 160, 167, 174 Ungewissheitstoleranz 3, 9, 37–39, 48, 53–55, 57, 60, 66, 68, 69, 73–76, 79, 80, 83, 100 –– als Kompetenz 166, 221 –– als Ressource 167, 221 –– als Schlüsselkompetenz 122 –– geringe 3, 4, 6, 7, 9, 21, 23, 24, 26, 27, 34–36, 39, 46, 48, 52, 55, 56, 59, 65, 81, 83, 89, 90, 92–95, 99–101, 103–106, 108–114, 120, 123–125, 129, 131, 135–138, 143, 145, 150, 152, 154, 157, 165, 166, 173, 175, 177, 185, 188, 190, 193, 195, 199, 203, 210, 219, 226 –– große 6, 7, 81, 89, 100, 114, 120, 123–125, 173, 187, 192, 195, 203, 210, 212, 227

240

Stichwortverzeichnis

Ungewissheitstoleranzskala 39 Unheimlichkeit 20 Unsicherheit 4, 36, 44, 45, 50, 68, 70 –– Entscheidung unter 45, 72, 215 Unsicherheitsregulation 23, 122 Unwissenheit 45, 152, 197, 215, 216 –– Entscheidung unter 215

V Vagheit 48, 151 Veränderungsmotivation 132, 138, 145, 157 Vergewisserungsverhalten 25, 34, 55, 74, 96, 105, 110, 111, 121, 130, 133, 134, 137, 143, 147, 155, 165, 175 –– annäherndes 96, 97, 132, 135, 155 –– vermeidendes 97, 132, 135, 155 Vermarktlichung 72, 78 Vertrauen 56–58, 60, 133, 200 Vorsorgeprinzip 217

W Wahrscheinlichkeit 46, 47, 84, 218 Wahrscheinlichkeitsdenken 10, 11, 46, 218–220 Wells, Adrian 144, 213 Welt, gerechte, Annahme einer 211 Wissenschaftsideal 10, 11, 130 Wissensexplosion 73

Z Zaudern 84, 98 Zufall 44, 49, 50, 67 Zwangsstörung 18, 24, 26, 39, 103–106, 121, 156, 163 Zwei-Stuhl-Übung 214, 215