»Und man siehet die im Lichte«: Theaterraum Buenos Aires ./. Theaterraum Istanbul
 9783839454411

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld
Einleitung
1.1. Zwei Städte: Gegenüberstellung und Nahaufnahme
1.2. »Theaterräume« als Forschungsgegenstand
1.3. Postkoloniale Perspektivierung
1.4. Forschungsdesign
2. Theatergeschichte(n)
Einleitung
2.1. Fern- und Heimweh: Eine Geschichte des argentinischen Theaters
2.2. Bilderverbot und Staatsgewalt: Eine Geschichte des türkischen Theaters
2.3. Resümee
3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro
Einleitung
3.1. Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe
3.2. Der Rückzug des Staats: Kulturpolitische Rahmenbedingungen in Buenos Aires
3.3. Von Stadtteil zu Stadtteil: Der städtische Raum von Buenos Aires
3.4. Kontrast der Ein- und Ausschlüsse: Sozialer Raum in Buenos Aires
4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg
4.1. Erdoğan und die Türkei: Autokratische Entwicklung seit 2010/11
4.2. Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe
4.3. Viertel und Kontinente: Der städtische Raum
4.4. Standortwechsel und Neue Nachbarschaften: Sozialer Raum in Istanbul
4.5. Erdoğan & Atatürk: Autokratie und Kulturpolitik
5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen
Einleitung
5.1. Wem gehört die Bühne? (De)Zentralisierung in Buenos Aires und Istanbul
5.2. Die im Dunkeln sieht man nicht: (Un)Sichtbarkeit in Istanbul und Buenos Aires
5.3. Leben und leben lassen: (Il)Liberalisierung in Buenos Aires und Istanbul
5.4. Conclusio
Epilog
Anhang
GesprächpartnerInnen
Adressen der ausgewählten Theater
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Juliane Zellner »Und man siehet die im Lichte«

Theater  | Band 138

Juliane Zellner verfolgt als Theaterwissenschaftlerin, Stadtforscherin und freischaffende Kulturmanagerin wissenschaftliche und künstlerische Projekte an der Schnittstelle zwischen Stadt und Kunst. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Theaterräume, türkisches Theater, temporäre Bühnen im Stadtraum sowie Kulturpolitik.

Juliane Zellner

»Und man siehet die im Lichte« Theaterraum Buenos Aires ./. Theaterraum Istanbul

Vorliegender Band wurde von der HafenCity Universität Hamburg 2019 als Dissertation angenommen. Das Dissertationsprojekt wurde durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld ...................... 11 Zwei Städte: Gegenüberstellung und Nahaufnahme ................................... 14 1.1.1. Comparative Urbanism und Eigenlogik der Städte ............................. 14 1.1.2. Ordinary Cities ............................................................... 16 1.1.3. Istanbul/Buenos Aires: Annäherungen .........................................18 1.2. »Theaterräume« als Forschungsgegenstand ........................................ 20 1.2.1. Theater- und Stadtforschung ................................................ 20 1.2.2. Theaterbereiche ............................................................. 23 1.2.3. Theaterraum ................................................................ 24 1.2.4. Stadt- und Sozialraum ....................................................... 26 1.3. Postkoloniale Perspektivierung ..................................................... 29 1.3.1. Postcolonial Theories: Dekonstruktion und Nachwirken kolonialer Muster ..... 29 1.3.2. Wissensproduktion .......................................................... 32 1.3.3. Europäischer Kulturimport und Hybridität .................................... 34 1.3.4. Verflechtungsgeschichte..................................................... 36 1.4. Forschungsdesign ................................................................. 37 1.4.1. Selbst- und Fremdpositionierung............................................. 38 1.4.2. Feldforschung ................................................................ 41 1.4.3. Auswahl der Theater ......................................................... 42 1.4.4. Aufbau der Arbeit, Themenfelder und methodisches Vorgehen ................ 45

1. 1.1.

2. Theatergeschichte(n).............................................................. 53 2.1. Fern- und Heimweh: Eine Geschichte des argentinischen Theaters ................... 55 2.1.1. Besitznahme und Unabhängigkeit: Theater vor und nach der Kolonialzeit ..... 55 2.1.2. Autokratie und Widerstand im 20. Jh.: Kulturpaläste und das Theater der Hinterhöfe ............................................................... 61 2.1.3. Post-Autokratie und der Ausverkauf Argentiniens: Theater-Frühling ab 1983... 68 2.1.4. (Neo)Liberalisierung und die Wirtschaftskrise 2001: Boom der Off-Theater..... 69 2.2. Bilderverbot und Staatsgewalt: Eine Geschichte des türkischen Theaters ............ 72 2.2.1. Luxus oder Subversion: Theater im Osmanischen Reich....................... 72 2.2.2. Theater und Propaganda: Atatürk und die Gründung des Nationalstaats ....... 77

2.2.3. Putsch und kulturelle Eiszeit: Das Jahr 1980 und seine Nachwirkungen ........ 80 2.2.4. Post-Autokratie und Demokratisierung ....................................... 83 2.3. Resümee ........................................................................... 85 3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro ................................. 89 3.1. Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe ......................................... 91 3.1.1. Kunst und Institution: Staatliches Theater in Buenos Aires .................... 96 3.1.2. Kunst und Unternehmerschaft: Kommerzielles Theater in Buenos Aires ...... 100 3.1.3. Kunst und Idealismus: Off-Theater in Buenos Aires .......................... 105 3.1.4. Kunst und Nachbarschaft: Teatro Comunitario................................ 114 3.1.5. Resümee: Kulturmanagement und Experimentierfreude....................... 115 3.2. Der Rückzug des Staats: Kulturpolitische Rahmenbedingungen in Buenos Aires ...... 118 3.2.1. Sanierung eines Leerstands: Complejo Teatral de Buenos Aires .............. 120 3.2.2. Sanfte (Be)Steuerung: Kommerzielles Theater ............................... 124 3.2.3. Stolz des Laissez-Faire: Off-Theater......................................... 124 3.2.4. Resümee: Eine Art friedlicher Koexistenz ................................... 129 3.3. Von Stadtteil zu Stadtteil: Der städtische Raum von Buenos Aires .................... 131 3.3.1. La Capital Federal gestern und heute: Stadtentwicklung und -struktur ........ 131 3.3.2. Das kleine Stadtzentrum: Microcentro ...................................... 137 3.3.3. Eine Insel vor der Stadt: Puerto Madero ..................................... 150 3.3.4. Dezentrale Ballung der Off-Theater: Immer wieder Abasto .................... 151 3.3.5. Theater und der arme Süden: La Boca ...................................... 160 3.3.6. Wohntürme ohne Theater: Villa Lugano ...................................... 164 3.3.7. Resümee: Versorgung und Lücke ............................................ 165 3.4. Kontrast der Ein- und Ausschlüsse: Sozialer Raum in Buenos Aires.................. 168 3.4.1. Herkunft, Identifikation und Segregation: Allgemeine sozialräumliche Entwicklung ................................................................... 168 3.4.2. Ein Viertel wie Tag und Nacht: Microcentro ...................................172 3.4.3. Richtung Westen: Off-Theater und Teatro Comunitario ........................174 3.4.4. Theaterfreie Zonen: Puerto Madero, Villa Lugano, La Cava.....................179 3.4.5. Resümee: Die Undurchlässigkeit der sozialen Räume von Buenos Aires ...... 184 4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg ......................... 187 4.1. Erdoğan und die Türkei: Autokratische Entwicklung seit 2010/11 .................... 187 4.1.1. Erste Begegnungen, erste Schritte: Forschungsreise 2010/11 ................. 188 4.1.2. (Kultur)politische Wendepunkte nach 2012 .................................... 191 4.1.3. Zuspitzung nach Gezi 2013 .................................................. 193 4.1.4. Aufbruchsstimmung und Resignation: Auswirkungen und Veränderungen seit 2014.................................................................... 194 4.2. Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe ....................................... 194 4.2.1. Dramaturgie der Institutionen: Staatliches Theater in Istanbul ............... 195

4.2.2. Markt der Unterhaltung: Kommerzielles Theater in Istanbul .................. 199 4.2.3. Unabhängigkeit und Einzelgängertum: Off-Theater in Istanbul ............... 205 4.2.4. Resümee: Subversion, Pragmatismus und Kulturpolitik .......................215 4.3. Viertel und Kontinente: Der städtische Raum ........................................216 4.3.1. Stadt der Meere und der Enge: Stadtentwicklung und -struktur ............... 217 4.3.2. Alte und neue Macht: Beyoğlu .............................................. 223 4.3.3. Am Scheideweg der Gentrifizierung: Şişhane ................................ 227 4.3.4. Zwischen neuer Geschäftigkeit und Europa-Nostalgie: Şişli .................. 230 4.3.5. Historische Macht und Tourismus: Fatih ..................................... 234 4.3.6. Asien oder die Große Freiheit: Kadıköy ...................................... 237 4.3.7. Streuung und Dezentralisierung: Andere Stadtteile .......................... 239 4.3.8. Resümee: Verschwinden und Neu-Verteilung ................................ 244 4.4. Standortwechsel und Neue Nachbarschaften: Sozialer Raum in Istanbul............. 247 4.4.1. Islam und Türkentum: Sozialräumliche Entwicklung ......................... 247 4.4.2. Aufsuchende Arbeit und Pragmatische Willkür: Staatliches Theater .......... 250 4.4.3. Kültür, Kommerz und Kontrolle: Kommerzielles Theater ...................... 254 4.4.4. Treffpunkte der Subversion: Off-Theater .................................... 256 4.4.5. Resümee: Verdrängung oder Assimilation ................................... 262 4.5. Erdoğan & Atatürk: Autokratie und Kulturpolitik ................................... 264 5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen .................................. 269 5.1. Wem gehört die Bühne? (De)Zentralisierung in Buenos Aires und Istanbul............ 270 5.1.1. Kultur für alle oder Spiele für das Volk? ...................................... 271 5.1.2. Theater und der Standort: Broadway und Off-Broadway ...................... 271 5.1.3. Die große Theaterwanderung: Migrationsbewegungen in Istanbul ............ 274 5.1.4. Hinter den Fassaden: Steuerung und Zentrifugalkräfte ....................... 275 5.2. Die im Dunkeln sieht man nicht: (Un)Sichtbarkeit in Istanbul und Buenos Aires ...... 276 5.2.1. Theater im städt. Schaufenster: Sichtbarkeit in Buenos Aires ................ 277 5.2.2. Von der Bildfläche verschwunden? Unsichtbarkeit in Istanbul ................ 278 5.2.3. Klandestinität. Marketingtool oder Tarnkappe? .............................. 279 5.2.4. Einlass und Kontrolle: (Un)Sichtbarkeit und Zugänglichkeit ................... 280 5.3. Leben und leben lassen: (Il)Liberalisierung in Buenos Aires und Istanbul ............ 281 5.3.1. Verschiebung der Kräfteverhältnisse: Osmose in Buenos Aires ............... 282 5.3.2. Spaltung der Kräfteverhältnisse: Polarisierung in Istanbul .................... 284 5.3.3. Identifikation des Publikums I.: Mobilisierung in Istanbul ..................... 286 5.3.4. Identifikation des Publikums II: Selbstvergewisserung in Buenos Aires ....... 288 5.3.5. Reproduktion der Machtverhältnisse: (Il)Liberalisierung und Postkolonialität ...291 5.4. Conclusio ......................................................................... 294 Epilog .................................................................................. 297

Anhang ................................................................................. 305 GesprächpartnerInnen .................................................................. 305 Adressen der ausgewählten Theater ..................................................... 308 Abbildungsverzeichnis .................................................................. 312 Literaturverzeichnis..................................................................... 314

Danksagung       In erster Linie gilt mein Dank meiner Familie. Als Wegbereiterin für geistigen Freiraum, als ständiges Korrektiv und moralischen Rückhalt. Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle meinem Mann und meiner Mutter aussprechen. Der wesentlichste Dank richtet sich an all meine Gesprächs- und InterviewpartnerInnen, die mir mit ihrer zeitlichen und offenen Zugewandtheit nicht nur einen Einblick in ihre Arbeit und ihr Leben, sondern darüber hinaus einen einzigartigen Zugang zu diesen beiden Städten ermöglichten. Prof. Dr. Alexa Färber, meiner Doktormutter, danke ich für die Betreuung, das Vertrauen und die Unterstützung, die Arbeit in diesem Rahmen entstehen zu lassen. Prof. Dr. Katrin Wildner danke ich für ihren schnellen und substantiellen Beitrag als Zweitbetreuerin. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für die finanzielle Förderung durch ein Promotionsstipendium und die Möglichkeit des vielseitigen interdisziplinären Austauschs auf Tagungen und Seminaren. Mein größter Dank allerdings gilt meinen zwei geistigen BegleiterInnen auf dem Weg zum vorliegenden Buch. Meinen LotsInnen Jonas Zipf und Michaela Rotsch. Ohne die vielen Gespräche und Hinweise, die Strukturierungen und Wegbahnungen, die Inspiration und Motivation wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen.   Herkese binlerce teşekkürler & Muchas gracias a todos!

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

– Frühjahr 2010. Im PACT Zollverein Essen sehe ich im Rahmen eines Festivals die Inszenierung »Promethiade« der Istanbuler Theaterregisseurin Sahika Tekand. Sie gilt als eine führende Vertreterin zeitgenössischer türkischer Theaterkultur. Das, was ich sehe, lässt sich jedoch mit den im Studium der Theaterwissenschaft eingeübten Mustern der Wahrnehmung und Interpretation kaum erkennen. Ich weiß nicht, was mir fehlt – ich weiß nur, dass ich die Inszenierung nicht als das lesen kann, was sie ist: Offensichtlich ist sie ein Ausdruck der Verhältnisse, aus denen heraus sie entstanden ist. Verhältnisse, die ich nicht kenne. Wie geht es den ZuschauerInnen um mich herum? Warum haben die FestivalmacherInnen die Produktion eingeladen? Woher nehmen die KritikerInnen die Gewissheit, sie als Ausdruck türkischer Kultur per se und pars pro toto einzuordnen? –   Eine Erinnerung, die hängen blieb: Nach dem Theaterbesuch kehre ich mit der Einsicht zurück, dass sich die thematischen Anspielungen und mögliche Codes der Aufführung, sowie der lokal-spezifische Subtext für »Außenstehende« als nicht lesbar erweisen. Die Annäherung und Erschließung in Form einer Aufführungs- bzw. Inszenierungsanalyse erscheinen unzureichend, das Gesehene entlang wahrnehmungsspezifischer Aspekte einzuordnen nicht möglich.1 Stattdessen stelle ich mir unmittelbar nach dem Theaterbesuch Fragen zur Kontextualisierung des Gesehenen: Für welche Räumlichkeiten wurde diese Inszenierung entwickelt? Für die gro-

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In der Theaterwissenschaft wird eine Aufführung entlang bestimmter Parameter in Hinblick auf ihre szenische Umsetzung untersucht. Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme unterscheidet hierfür die Begriffe der »Inszenierung« und der »Aufführung«, wie folgt: Während »Inszenierung« sich auf ein bestimmtes theatrales Kunstwerk bezieht, bezeichnet der Begriff der »Aufführung« das einmalige Ereignis, in dem eine Inszenierung dem Publikum vorgeführt wird. Im Rahmen einer Inszenierungsanalyse wird die szenische Umsetzung eines dramatischen Texts untersucht, indem verschiedene Aspekte wie Bühnenbild, Kostüme, Text, Musik, Beleuchtung etc. (vgl. Fragenkatalog Patrice Pavis 1988) in den Blick genommen werden. Ziel ist es, den »Metatext der Inszenierung« offenzulegen. Bei einer Aufführungsanalyse steht darüber hinaus »die Interaktion zwischen dem theatralen Ereignis und den anwesenden Zuschauern« im Fokus (Balme 2003: 82).

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ße Bühne eines Stadttheaters, für eine Studiobühne, als Gastspiel fürs Ausland? Existiert in Istanbul ein Stadttheater? An welches Publikum richtet sich die Inszenierung mit welchem Anspruch? An ein Bildungsbürgertum oder ein mit Subversion liebäugelndes Freie-Szene-Publikum? Wer macht dieses Theater? Welche Menschen, welche Biografien und Motivationen verbergen sich dahinter? Unter welchen Voraussetzungen wird gearbeitet? Mit staatlicher Förderung? Unter staatlicher Einflussnahme? Oder ganz ohne staatliche Anteilnahme? Um ein Verständnis für das Theater einer Stadt zu entwickeln, muss es, so die Leitthese dieser Dissertation, in seiner kontextuellen Verfasstheit analysiert werden: als soziales Ereignis für die Mitwirkenden und das Publikum; als Publikumskunst, welcher die TheatergängerInnen frönen, indem sie ins Theater gehen, indem sich mehr oder weniger austauschende Theatergemeinden bilden, gebunden an bestimmte Orte in der Stadt, beheimatet in spezifischen Architekturen, organisiert als Betriebe, gestaltet und mitverantwortet von einer Vielzahl an Personen wie BühnentechnikerInnen, SchauspielerInnen, DramaturgInnen, KostümbildnerInnen, Verwaltungsangestellten, KulturpolitikerInnen etc. Immer erwächst das Theater einer Stadt aus den vorherrschenden gesellschaftlichen, politischen, biografischen, sozial- und stadträumlichen Verhältnissen. Im Rahmen der theaterwissenschaftlichen Forschung in Deutschland findet die stadtspezifische Betrachtung von Theater zum einen im Rückblick in der Theatergeschichte Beachtung: etwa der Einfluss der Amphitheaterarchitektur auf die Gesellschafts- und Demokratievorstellung des antiken Athens etc. (vgl. Brauneck 2012), die Theaterhäuser im elisabethanischen London, welche von professionellen Kompanien bespielt wurden, die sich wie Aktiengesellschaften organisierten (vgl. Simhandl 2007: 76), oder die venezianischen Theaterbetriebe im 18. Jahrhundert, die in ihrer Logenarchitektur auf das zu dieser Zeit vorherrschende Versammlungsverbot in privaten Räumen reagierten und dem Publikum über Stunden einen »privaten« Rückzugsraum zum Pflegen sozialer Kontakte boten (vgl. Sauter 2005: 256). Zum anderen rückt die Institution Theater in ihrer je spezifischen städtischen Verortung, seit Ende der 2000er Jahre in den Fokus der Theaterforschung (vgl. Theater Freiburg [Goebbels/Mackert/Mundel 2011]), Theater Greifswald [Wiek 2015]).2 Jedoch fehlt eine wissenschaftliche Betrachtung zum Theater in Städten außerhalb Deutschlands oder gar Europas.

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Denn spätestens seitdem Stadttheater wie das Theater Freiburg sich offensiv als Bestandteil einer Stadtgesellschaft verorten und sich dieser mit neuen Angeboten des Outreach und Engagement, etwa mit Stadtraumbespielungen oder Bürgerbühnen, öffnen, kommt die deutschsprachige Theaterwissenschaft nicht mehr umhin, sich auch mit Faktoren außerhalb der Bühnenpraxis im engeren Sinn zu beschäftigen.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Das Forschungsdesiderat der vorliegenden Studie bezieht sich auf das Theater in Istanbul, das bis heute in der deutschen und internationalen Forschung kaum Rezeption erfährt und das auch innerhalb der Türkei bisher nur rudimentär hinsichtlich der oben genannten Aspekte und den damit einhergehenden Fragestellungen untersucht wurde.3 Zur analytischen Betrachtung dieser Aspekte wird der Referenzrahmen zu einer weiteren außereuropäischen Stadt aufgespannt, deren Rahmenbedingungen ebenso unerforscht sind: Auf der vermuteten Grundlage struktureller und atmosphärischer Ähnlichkeiten stellt vorliegende Studie die Theater in Istanbul und Buenos Aires einander gegenüber. Ziel und Anliegen dieser Forschungsarbeit ist es, die stadtspezifische Verfasstheit des Theaters in Istanbul und in Buenos Aires zu untersuchen und näher zu bestimmen, welche Rolle Theater in der jeweiligen Stadtgesellschaft einnimmt. Daraus erwächst die Notwendigkeit, die theaterwissenschaftliche um eine transdisziplinär4 stadtforschende Perspektive zu erweitern und kulturpolitische, stadt- und sozialräumliche Entwicklungen und Gegebenheiten in die Untersuchung miteinzubeziehen. Ein weiteres Anliegen fußt auf der Annahme, dass sich durch eben diese Untersuchung nicht nur in Hinblick auf die Verfasstheit des Theaters in Istanbul und Buenos Aires ein Erkenntnisgewinn ergibt, sondern darüber hinaus in Hinblick auf die beiden Städte/Stadtgesellschaften. Theater fungiert dabei als Brennglas, das entlang folgender Fragestellungen eine bestimmte Perspektive auf gesellschaftliche, räumliche und politische Strukturen und Prozesse öffnet: Was lässt sich anhand der Standorte der Spielstätten im Stadtraum, ihrer Architektur und ihrer spezifischen Raumnutzung, über das Verständnis von Theater innerhalb dieser Gesellschaften, und darüber hinaus über die jeweilige Stadtgesellschaft aussagen? Lassen sich bestimmte stadt- und sozialräumliche Entwicklungen in diesen Städten mit Blick auf das Theater spezifizieren? Welche Bereiche von Theater werden (kultur)politisch gefördert, welche Motivationen seitens der jeweiligen Regierung offenbaren sich dabei? Aus welchen gesellschaftlichen Schichten stammen TheatermacherInnen und Publika? Und inwieweit repräsentieren sie und ihre Anliegen

3

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Ähnlich der deutschen Theaterwissenschaft existiert auch im Rahmen vergleichbarer Forschungszweige bzw. Studiengänge in Argentinien oder der Türkei kaum eine wissenschaftliche Untersuchung zur Bedeutung des Theaters innerhalb der jeweiligen Stadtgesellschaft. Ansätze dazu finden sich im Bereich der Soziologie (vgl. z.B. in der Türkei, die Studien der Soziologinnen Asu Aksoy (2009; 2012), Ayca Ince (2009; 2017) oder Cansu Karagül (2014); in Argentinien, die Studien der SoziologInnen Ruben Bayardo (1999), Romina Sanchez (2014) oder Alejandro Rozenholc (2015). Unter einer »transdisziplinären« Vorgehensweise verstehe ich eine über strenge Definitionsgrenzen einzelner Disziplinen hinweggehende bzw. hinausweisende, stets an den Erfordernissen des Forschungsgegenstands orientierte Verwendung von Ansätzen, Begriffen und Methoden unterschiedlicher Disziplinen.

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

eine homogene, eine auf Vielfalt ausgerichtete oder aber die Segregation pflegende Gesellschaft? »Theater« und »Stadt« werden dabei zugleich Gegenstand und Instrumentarium der Forschung. Im Zuge dessen bedarf es zunächst der Klärung folgender Fragestellungen: Welches methodische Vorgehen ist notwendig, um die Verfasstheit des Theaters einer Stadt zu bestimmen? Welche spezifischen Erkenntnisse lassen sich anhand der Engführung von Theater(Wissenschaft) und Stadt(Forschung), anhand der Gegenüberstellung der Theaterräume zweier Städte schließlich gewinnen? Im Verlauf des vorliegenden Kapitel 1 gehe ich zunächst auf die Wahl der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul ein; anschließend erfolgt vor dem Hintergrund der Theater- und Stadtforschung eine Klärung von Begrifflichkeiten wie »Theaterraum«, »Stadt- und Sozialraum«. Des Weiteren wird eine historische Perspektivierung des Forschungsgegenstands mit Blick auf den postkolonialistischen Diskurs vorgenommen, bevor der letzte Teil des Kapitels meine Positionierung als Forscherin, den Aufbau der Arbeit und die angewandten Methoden skizziert. Das im Titel verwendete Brecht-Zitat verdeutlicht dabei Vorgehensweise und Zielstellung meiner Studie5 : Auf den folgenden Seiten geht es um die Sichtbarmachung zweier Theaterräume, die sich den Perspektiven der europäischen Theaterwissenschaft bisher entziehen. Ihre enge Betrachtung im Kontext der Stadtgesellschaften von Istanbul und Buenos Aires ermöglicht einen Perspektivwechsel und lässt sie in einem anderen, bisher nicht wahrgenommenen, neuen Licht erscheinen.

1.1.

Zwei Städte: Gegenüberstellung und Nahaufnahme

Buenos Aires und Istanbul: Die Wahl der beiden Städte wird zunächst vor dem Hintergrund vergleichender Ansätze in der Stadtforschung beleuchtet, bevor sich im Anschluss konkretisiert, auf welchen Kriterien die Wahl eben dieser beiden Städte fußt.

1.1.1.

Comparative Urbanism und Eigenlogik der Städte

Die Wahl zweier Städte erfolgt in Anlehnung an den Ansatz des »Comparative Urbanism« der Geografin Jennifer Robinson. Diese geht davon aus, dass ähnliche 5

Hier der vollständige Vers des Zitats aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper: »Denn die einen sind im Dunkeln/Und die andern sind im Licht/Und man siehet die im Lichte/Die im Dunkeln sieht man nicht« (Brecht [1928] 2014). Zum Ende des vorliegenden einführenden Kapitels werde ich noch einmal etwas ausführlicher auf Wahl und mögliche Bedeutungen des Zitats eingehen.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Phänomene an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten auftreten können, auch wenn sie sich auf den ersten Blick in ihrer Ausprägung aufgrund der spezifischen lokalen Eigenheiten stark unterscheiden. Um diese urbanen Phänomene greifbar zu machen und ihre Verfasstheit zu verstehen, schlägt Robinson als Methode eine vergleichende Betrachtung von zwei Städten vor (vgl. Robinson 2011). Dabei stehen nicht die Ähnlichkeiten und Differenzen dieser zwei Städte im Vordergrund. Ziel ist es stattdessen, durch einen relationalen Vergleich Fragen gegenüber der jeweils anderen Stadt aufzuwerfen, ganz nach dem Ansatz »Thinking cities through elsewhere« (Robinson 2016: 14). Indem er die städteübergreifenden Vergleiche auf einzelne urbane Phänomene beschränkt, unterscheidet sich Robinsons Ansatz von anderen komparatistischen Konzepten der Stadtforschung. Als prominentes Beispiel ist hier das von der Soziologin Martina Löw initiierte Forschungsprojekt zur »Eigenlogik der Städte« zu nennen.6 Löw geht in Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitus-Theorie davon aus, dass jede Stadt durch ihr eigene Bewegungsmuster, Lebensgefühle, Temporalitäten und Dynamiken bestimmt ist. Um diese »Eigenlogik« zu erfassen, benötigt es laut Löw die Untersuchung von »Praktiken der Abgrenzung und des In-BeziehungSetzens zu anderen Städten auf lokaler, nationaler und globaler Ebene« (Löw 2010: 97). Sowohl Löw als auch Robinson gehen davon aus, dass trotz Globalisierung und einer damit einhergehenden, oftmals prophezeiten Einebnung lokaler Unterschiede, jede Stadt/jeder städtische Kontext durch spezifische lokale Eigenheiten bestimmt ist. Während Löws komparatistischer Ansatz das Ziel verfolgt, jede Stadt in ihrer Gesamtheit, sozusagen als homogenes Konstrukt, unter dem Vorzeichen einer sie bestimmenden »Eigenlogik« beschreiben zu können, konzentriert sich Robinson auf die Ausdifferenzierung eines einzelnen Phänomens und lässt eine Meta-Beschreibung der jeweiligen städtischen Gesamtheit außen vor. Gerade deshalb steht der Ansatz Robinsons Pate für dieses Forschungsvorhaben, in welchem eben nicht die städtische Gesamtheit, sondern die Theater einer Stadt im Fokus der Untersuchung stehen. Ziel ist es, diese in ihrer lokal-spezifischen Verfasstheit und städtischen Kontextualisierung zu verstehen und greifbar zu machen: Die Forschung in zwei Städten ermöglicht dabei nicht nur die Entwicklung ortsspezifischer Fragestellungen, sondern öffnet darüber hinaus einen kritisch-reflexiven Spiegel, der ein In-Frage-Stellen der jeweils anderen Situation ermöglicht. Allerdings operiert vorliegende Studie weniger im Sinne eines 1:1-Ver-

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Durchgeführt zwischen 2008 und 2014 an der TU Darmstadt, zunächst als LOEWE-Schwerpunkt, dann parallel als DFG-Forschungsprojekt.

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

gleichs einzelner urbaner Phänomene, wie ihn Robinson verfolgt, als vielmehr im Sinne eines losen Ab-gleichs zwischen einzelnen Aspekten zweier Theaterräume.7

1.1.2.

Ordinary Cities

Das Konzept der »Ordinary Cities« basiert auf der postkolonialen Kritik, dass die Stadtforschung lange Zeit von einer Dichotomie westlicher8 vs. nicht-westlicher Städte und damit verbunden den Attribuierungen »modern« versus »in Entwicklung« dominiert wurde. Maßgebliche Stadttheorien bezogen sich ausschließlich auf Betrachtungen »westlicher«, »moderner« Städte (u.a. Georg Simmel [1903] (2006), Henri Lefebvre [1968] (2016), Kevin Lynch 1975). Bis heute werden Städte in Kategorien eingeteilt, die Aussagen zu ihrer Position im globalen Bedeutungsgefüge treffen. So ist New York eine Global City, Detroit eine Shrinking City, Kapstadt eine Non-Western City oder Mumbai eine Megacity. Diese Art des Labeling entsteht oftmals aus einer mittels Stadtmarketing selbst attribuierten Zugehörigkeit zum Westen oder aber resultierend aus den globalpolitisch konventionalisierten Kennziffern eines anzustrebenden wirtschaftlichen sowie demografischen Wachstums einer Stadt. Robinson kritisiert diese Kategorisierung und die damit einhergehende Hierarchisierung von Städten. Denn diese Art der Forschung (und des Marketings) fokussiere nur bestimmte Städte, sozusagen als Vertreterinnen ihrer Kategorie, und untersuche/vergleiche diese dann innerhalb der jeweiligen »Rubrik« überwiegend aufgrund ihrer Einordnung als global, marginalisiert, modern etc. Städte würden quasi durch einen Filter betrachtet, wodurch sich eine limitierte Sicht auf die Stadt und damit die eigentliche Bandbreite städtischer Phänomene in den unterschiedlichsten Städten ergäbe, so Robinson (vgl. Robinson 2006).9 7

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Die postkoloniale Theaterforschung nutzte in ihren Anfängen (1980er, 90er Jahre) bewusst den komparatistischen Ansatz, um auf diese Weise ihre Fragestellungen zu entwickeln u.a. in Afrika (vgl. Fiebach 1986), in Asien (vgl. Fischer-Lichte et al. 1990) oder in den ehemaligen britischen Kolonien (vgl. Balme 1994), wie der Theaterwissenschaftler Christoper Balme schreibt (vgl. Balme 2005: 249). Da sich die postkoloniale Theaterforschung jedoch überwiegend am Bühnengeschehens ausrichtet und zudem Argentinien wie auch die Türkei bisher nicht in diesem Kontext behandelt wurden, wird nicht weiter auf diesen Forschungszweig der Theaterwissenschaft Bezug genommen. »Die Kategorie des ›Westens‹ entstand erst aus der Idee eines übergreifenden transatlantischen Zivilisationsmodells […] Es ist eine Kategorie für jene christlich geprägte Wertegemeinschaft, die zunächst als Abendland gegen den muslimischen Orient, nach 1945 gegen der atheistischen Kommunismus sowjetischer Prägung, dann gegen den Islam abgegrenzt wurde; sie findet sich als dominante Denkfigur nicht vor den 1890er Jahren« (Osterhammel 2009: 143 zit.n. Bonnett 2004: 14ff.). So waren über Jahre Forschungsfelder wie das der Gentrifizierung von Stadtvierteln oftmals in Städten des globalen »Nordens« angesiedelt, vgl. Andrej Holm (2006) »Die Restrukturie-

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Die Wahl der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul orientiert sich an eben diesem Konzept der Ordinary Cities: Es handelt sich um zwei Metropolen, die in den letzten Jahrzehnten durch einen immensen Bevölkerungszuwachs geprägt waren und die derzeit zu den zwanzig größten Städten der Welt zählen (Stand 2018).10 Oftmals werden sie daher in der Kategorie »Megacity«11 geführt, einer Kategorie, in welcher die betroffenen Städte meist mit Chaos assoziiert werden: Moloche, bestimmt von Armut, Umweltverschmutzung, Verkehrsüberlastung, Wohnungsnot, fehlender Infrastruktur oder Informalität.12 Wie sehr sich allerdings eine derartig generalisierende und gleichmachende Kategorisierung in Bezug auf die Städte Istanbul und Buenos Aires verflüssigt, beweist bereits der oberflächliche Blick auf deren zentrale Eigenschaften als nationale und internationale Kulturmetropolen: Beide Städte zeigen sich sowohl als dem Westen zugewandte Kulturmetropolen als auch »abonniert« auf eine politisch geförderte kulturelle Unabhängigkeit vom Westen; beide Städte scheinen zwar eingebunden in die Kultur ihres jeweiligen Landes und damit Teil und Ausdruck desselben, doch zugleich wirken sie wie separate Inseln innerhalb Argentiniens bzw. der Türkei. Buenos Aires wie Istanbul sind die kulturellen Hochburgen, die kosmopolitischen Zentren ihrer Länder, die nationale wie internationale Einflüsse absorbieren. Geografisch liegt Buenos Aires fernab von allen als westlich bezeichneten Städten, doch kulturell gesehen, wird es durch eine hohe Zahl europäischer MigrantInnen bzw. ihrer NachfahrInnen oft dem Westen zugerechnet. Istanbul dagegen, das zwar geografisch zumindest teilweise Europa zuzuordnen ist, wird eher selten als »westliche Stadt« geführt. Wie man es dreht und wendet, auch darin erscheinen diese beiden Städte ähnlich: Sie entziehen sich immer wieder jeglichen in der Stadtforschung oder anderen Diszi-

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rung des Raums«; Frank Eckardt (2018) »Gentrifizierung: Forschung und Politik zu städtischen Verdrängungsprozessen«, während Themen wie »informelle Wohnstrukturen« überwiegend in Verbindung mit Regionen des globalen »Südens« auftauchten, vgl. Alfredo Brillembourg et al. (2005) »Informal City: Caracas Case«; Marie Huchzermeier (2011) »Cities with Slums«. Vgl. https://www.worldatlas.com/citypops.htm; Zugriff 13.01.2019. Megacities sind rasant anwachsende städtische Agglomerationen, die mit über 10 Mio. EinwohnerInnen nichts mehr mit einer herkömmlichen Großstadt gemein haben. Laut StadttheoretikerInnen wie Edward W. Soja bezieht sich der Begriff »Megacity« auf folgendes: »The enormous population size of the world’s largest urban agglomerations, and their increasingly discontinous, fragmented, polycentric, and almost kaleidoscopic socio-spatial structure« (Soja in Schwendtker 2006: 11). Dieser Kategorisierung, welche eine Generalisierung von Städten nach bestimmten Eigenschaften impliziert und dabei den heterogenen und individuellen Charakter der einzelnen Städte untergräbt, wird in dieser Untersuchung kein Raum gegeben: Mir geht es nicht um die Diskussion zur Valenz des Begriffs, weder um die Anwendung noch um die Widerlegung dieser Kategorie. Dennoch bestätigt diese verwendete Klammer meine Vermutung einer grundsätzlichen Ähnlichkeit beider Städte.

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

plinen rezipierten Städte-Labelings, wie sie Jennifer Robinson in ihrem Buch »Ordinary Cities« (2006) kritisiert.

1.1.3.

Istanbul/Buenos Aires: Annäherungen

Zusammen mit Robinsons Konzeptionen basiert die Wahl der Städte Buenos Aires und Istanbul maßgeblich auf Rechercheerfahrungen, persönlichen Begegnungen und ersten Erkenntnissen der Verfasserin bezüglich des Theaters in diesen Städten: Im Herbst 2010 bin ich für eine Forschungsreise in Istanbul, um mehr über das Theater in dieser Stadt zu erfahren. Damals gelingt es mir, erste Annäherungen zum Theater und seiner gesellschaftlichen Position in Istanbul zu formulieren.13 Mein Anliegen ist es, in diese Stadt zurückzukehren, meine damaligen Forschungsergebnisse in Anbetracht des gegenwärtigen Forschungsvorhabens zu rekapitulieren, zu ergänzen und mit Hilfe von theoretischen und methodischen Ansätzen aus dem Bereich der Stadtforschung neu zu bewerten. Die Grundlage für die Wahl der zweiten Stadt bildet ein innerer Dialog, eine Art stetigen gedanklichen Gegenüberstellens, bei dem ich meine Erfahrungen und Assoziationen zu Istanbul mit Erzählungen über eine neue Stadt – Buenos Aires – in Beziehung setze: Ich will zu einem kurzen Exkurs ausholen: 2012 lerne ich in London die deutsche Schriftstellerin Edit Aron14 kennen, die 1935, noch vor Kriegsbeginn, gemeinsam mit ihrer Mutter nach Buenos Aires emigriert war. In langen Gesprächen schildert mir Aron ihr Leben in und mit dieser Stadt: ihre anfänglichen Jugendjahre, langjährige Abwesenheiten in Europa voller Heimweh, ihr späteres dortiges Leben als Erwachsene, bevor sie Argentinien dann erneut verließ. Ich lerne Buenos Aires durch Arons Erzählungen und einige der Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Aronschen Familienalbum kennen: der Schulunterricht bei dem ebenfalls emigrierten Stefan Zweig an der Pestalozzi-Schule (der deutschen Schule in Buenos Aires); das gesellschaftliche Leben, das sich für Aron insbesondere durch die freundschaftliche Verbindung zur Familie Alemann, Herausgeberin des Argentinischen Tageblatts, ergeben hatte; die europäischen und amerikanischen Filme in den Kinos, die laut Aron im fernen Argentinien »kulturelle Heimat« suggerierten; die großen Theaterhäuser auf den Fotos im Hintergrund, die Aron mit Theatern in Paris vergleicht; Begegnungen mit dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges und dessen

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Die Ergebnisse der damaligen Forschung liegen unter dem Titel »Theaterszene Istanbul« (2013) vor. Edith Aron, Jg. 1923, verfasste mehrere Bände von Kurzgeschichten, wie z. B »Die Zeit in den Koffern« (1989) und übersetzte Werke lateinamerikanischer Autoren wie »Das Handbuch der phantastischen Zoologie« von Jorge Borges (1964) oder »Das besetzte Haus« von Julio Cortázar (1963) vom Spanischen ins Deutsche.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

fantastischer Gedankenwelt – ein Autor, den Aaron als Erste ins Deutsche übersetzte. Aron schwankt in ihrem Erzählen zwischen Nostalgie, warmen Gefühlen für »ihre« Stadt und dem dort verbrachten Lebensabschnitt, aber auch einer Skepsis gegenüber einem Land, das in ihren Augen jubelnd PopulistInnen folgte und zu PräsidentInnen kürte; ein Land, das laut Aron opportunistisch erst jüdischen EmigrantInnen, später dann NationalsozialistInnen Zuflucht bot. Arons nostalgische Ausführungen zum Lebensgefühl in Buenos Aires Mitte des vergangenen Jahrhunderts lassen an ein Istanbul denken, wie ich es aus Orhan Pamuks biografisch geprägtem Roman »Istanbul« kenne: Sowohl Aron als auch der türkische Schriftsteller Pamuk zeichnen das Bild einer kosmopolitischen Stadt, deren wohlhabende BewohnerInnen sich mit einem europäischen Lebensstil identifizieren, der sich in den Gebäuden, Institutionen, Gewohnheiten der Menschen dieser Städte widerspiegelt. Das kosmopolitische Flair beider Städte ist jedoch Mitte des 20. Jahrhunderts im Verschwinden begriffen; als Ursachen stellen sowohl Aron als auch Pamuk nicht zuletzt die Forcierung eines Nationalismus dar, wie er in der Türkei unter Staatschef Kemal Atatürk (1921-38) bzw. in Argentinien unter Staatspräsident Juan Perón (1946-55) propagiert wurde. Die Assoziation zwischen den Erzählungen Edith Arons und Orhan Pamuks bildet einen ersten Anhaltspunkt, der mich 2012 zu einer Reise nach Buenos Aires veranlasst. Ziel war es zu prüfen, ob die intuitiv vermuteten Ähnlichkeiten zwischen Buenos Aires und Istanbul sich möglicherweise auch im Bereich des Theaters abzeichnen. Wie schon auf meiner ersten Forschungsreise nach Istanbul, sind es auch jetzt nicht die Inszenierungen, die im Fokus meines Interesses stehen. Vielmehr ist es das Theater in seiner stadtspezifischen Verfasstheit. Die Aufführungen, die ich in Buenos Aires besuche, sind überwiegend aus dem Bereich des Off-Theaters. Gespielt wird in Wohnungen und Hinterzimmern, in improvisierten, teils temporär genutzten Räumlichkeiten. Die Vorstellungen sind sehr gut besucht und meist ausverkauft. Nach einer Weile kenne ich die meisten der Anwesenden – ein »Kreis« von Menschen, dessen Konstellation sich je nach Theater etwas verändert. In Unterhaltungen, die ich in dieser Zeit mit Theaterschaffenden vor Ort führe, finden immer wieder zwei Aspekte Erwähnung, die mir bereits in Istanbul begegneten: zum einen, die als zentral empfundenen Einflüsse europäischer Theaterkultur und zum anderen, ein spezifisches Verhältnis zwischen autokratischer Staatlichkeit und Theaterschaffenden. Dazu einige Schlaglichter: _Pablo Silva, Theaterproduzent aus Buenos Aires, bezeichnet das argentinische Theater als »Import« der europäischen EinwandererInnen (Interview mit P. Silva am 13.12.2012). _Yavuz Pekman, Professor für Dramaturgie an der Istanbul Universität sagt in unserem Gespräch im September 2010: »The traditional Islamic theatre was avoided since the 20th century […] For the process of westernization Atatürk imported the whole tradition of western theatre. Atatürk animated the writers to write plays

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like in Europe. The writers had to learn how to write plays. There‘s no dramatic tradition, no dramatic structures. They had to learn all of this« (Interview mit Y. Pekman am 18.09.2010). _Nico Schneider, Schauspieler aus Buenos Aires, gibt an, dass die Herrschaft der Militärjunta (1976-83) das argentinische Theater sehr geprägt habe, teils bis heute seien die Nachwirkungen dieser Schreckensjahre im Theater zu spüren (Gespräch mit N. Schneider am 15.10.2012). Schneiders Aussage erinnert mich an ein Gespräch, das ich 2010 mit dem Theatermacher Ufuk Altunkaya in Istanbul führe: _Altunkaya spricht darin über die Auswirkungen des Militärputschs von 1980 auf das Theater und die Nachwehen dieser Schreckensherrschaft, die bis heute das kulturelle Leben der Türkei prägten (Interview mit U. Altunkaya am 23.09.2010, zit.n. Zellner 2013: 33). Immer wieder ähneln sich die Schilderungen meiner GesprächspartnerInnen. Die in ihren Zitaten anklingenden theatergeschichtlichen Analogien verdichten sich zur zentralen Grundlage für Wahl und Gegenüberstellung der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul. In beiden Städten und Ländern erscheinen die Theater inmitten zweier Spannungsfelder: eines starken Einflusses (»Imports«) europäischer Kultur15 sowie gegenwärtiger bzw. vergangener autokratischer Strukturen.

1.2.

»Theaterräume« als Forschungsgegenstand

Wie bereits einführend formuliert, ist das Theater in seiner stadtspezifischen Verfasstheit nur zu verstehen, indem die verantwortlichen GestalterInnen und OrganisatorInnen, die Publika ebenso wie die stadt- und sozialräumliche Einbettung und die kulturpolitischen Rahmenbedingungen in die Betrachtung einbezogen werden. Im Folgenden wird erläutert, inwieweit die Verfasstheit von Theater in Theater- und Stadtforschung Eingang findet, bevor im Anschluss die zentralen Begriffe dieser Studie geklärt werden.

1.2.1.

Theater- und Stadtforschung

Durch eine Betrachtung der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul anhand einer gedanklichen Gegenüberstellung wird es möglich, neue Perspektiven für die Theaterforschung zu eröffnen, die die Verfasstheit von Theater in seinen stadt-

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Insbesondere die Verwendung des Begriffs »europäischer Kulturimport« verlangt im weiteren Verlauf der Studie eine Ausleuchtung im Sinne eines postkolonialen Diskurses, der darüber hinaus auch in Bezug auf die Rolle der Verfasserin als europäische Forscherin von Bedeutung sein wird.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

und sozialräumlichen Strukturen sichtbar werden lassen.16 Doch hält weder die Forschungsliteratur der Theaterwissenschaft, noch die einer kontextualisierenden Stadtforschung für das avisierte Forschungsvorhaben wissenschaftliche »Vorbilder« bereit. Obgleich in der deutschen Theaterwissenschaft17 seit Mitte der 2000er Jahre zunehmend stadträumliche und betriebliche Aspekte Eingang in die wissenschaftliche Untersuchung finden, liegt der Schwerpunkt der Disziplin neben der Theatergeschichte18 weiterhin auf der Analyse von Aufführungen und Inszenierungen sowie der damit einhergehenden Theoriebildung.19 Die Theaterwissenschaft reklamiert dabei zwar einen methodischen Kanon für sich, bei näherer Betrachtung besteht dieser allerdings fast ausschließlich in Anleihen aus anderen Disziplinen, insbesondere aus der kunsthistorischen und literaturwissenschaftlichen Praxis zur Analyse von Theateraufführungen und -inszenierungen. Um die stadtgesellschaftliche Bedeutung eines bestimmten Theaters zu erfassen, wird auf soziologische Methoden beispielsweise im Rahmen von Publikumsbefragungen oder Interviews zurückgegriffen (vgl. McKinnie 2007; Mc Auley 2010; Hänzi 2014).20 16

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Die Recherche hinsichtlich vergleichender wissenschaftlicher Studien zu Buenos Aires und Istanbul blieb ergebnislos; zu beiden Städten tauchen lediglich vereinzelt Beiträge in Sammelbänden oder Zeitschriften auf (vgl. Lees/Shin/López Morales (2017) »Global Gentrification«; Belting/Buddensieg (2009) »The Global Art World«; Arbeitsbuch II, Theater der Zeit, zum Festival Theater der Welt (1999), letzteres u.a. mit Beiträgen zu gezeigten Produktionen aus der Türkei und Argentinien). In keinem dieser Werke wird jedoch eine explizit vergleichende Betrachtung angestrebt. Die Theaterwissenschaft gründete sich in den 1920er Jahren unter Federführung des Literaturhistorikers Max Herrmann. Die neu erschaffene Disziplin verstand ihre Aufgabe darin, im Gegensatz zur Literaturwissenschaft nicht allein den dramatischen Text, sondern zugleich seine theatrale Umsetzung zu studieren (vgl. Balme 2003: 13). Dieses Anliegen fußte sicherlich nicht zuletzt auf einer Entwicklung, die schon ein halbes Jahrhundert früher eingesetzt hatte: einer zunehmenden Stilisierung des Theaters als Kunsttempel, in dessen Mittelpunkt die Inszenierung als Theaterkunstwerk stand (vgl. Sauter 2005: 256f.). Mit Hilfe theatergeschichtlicher Quellen z.B. über Theatergebäude, Inspizientenbücher, Bühnenfotos, Szenenbilder, Plakate etc. wird eine geschichtliche Rekonstruktion vorgenommen, welche das Theater einer bestimmten Zeit in seiner epochentypischen Ausprägung zeigt. Weiterhin werden Periodisierungen vorgenommen, welche Auskunft zum zeitlichen und örtlichen Auftreten bestimmter Theaterformen und dramatischer Gattungen geben (vgl. Balme 2003: 31ff.). Erst in jüngerer Zeit beginnt die deutschsprachige Theaterwissenschaft den Fokus auf Kulturmanagement oder Kulturpolitik zu lenken und beschäftigt sich in diesem Kontext etwa mit betrieblichen Fragen der Finanzierung und Rechtsform, des Personal- und Ensemblekörpers, des Spielbetriebs oder Marketings unterschiedlicher Theaterformen (vgl. Gerber/Kotte/Schappach (2012) »Bühne und Büro«; Fülle (2015) »Freies Theater«; Schmidt (2017) »Theater, Krise und Reform«). Im angelsächsischen Raum finden sich vereinzelt seit den 1970er Jahren Studien, welche die stadt- und sozialräumliche Rolle von Theaterinstitutionen in den Fokus rücken, jedoch ohne dabei ein bestimmtes methodisches Vorgehen kenntlich zu machen (vgl. Henderson (1973)

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Ähnlich der Theaterforschung kann auch die Stadtforschung auf keine eigenen theoretischen und methodischen Grundlagen zurückgreifen; dies liegt daran, dass es sich bei der Stadtforschung nicht um eine Disziplin, sondern um ein inter- bzw. transdisziplinäres Forschungsfeld handelt – bezogen auf die kulturwissenschaftliche Stadtforschung fußt dieses auf Disziplinen wie der Ethnologie, Geografie oder Soziologie –, das sich ausschließlich am paradigmatischen Gegenstand der Stadt und nicht entlang einer disziplinären Grenze ausrichtet. Die methodischen und theoretischen Anleihen entsprechen jeweils den konkreten Erfordernissen eines spezifischen Forschungsgegenstands. »Theater« spielt im Bereich der Stadtforschung nur eine Nebenrolle, tritt höchstens selten, am Rande auf der wissenschaftlichen Bühne auf: So etwa in architekturgeschichtlichen Studien zu Theaterbauten in unterschiedlichen Epochen und kulturellen Traditionen, etwa zur Bedeutung kultureller Repräsentationsbauten im Rahmen der großen Stadtumbauten und -erweiterungen im Europa des späten 17. Jahrhunderts (vgl. Hennings et al. 2015), in einem Artikel zum National Theatre in London, das als strategisches Tool in der Stadtentwicklung der 1960er Jahre wirkte (vgl. McKinnie 2010) oder als eines der vielen Angebote, welche zum besonderen Flair einer Kulturmetropole wie Berlin beitragen (vgl. Grésillon 2003).21 Im Kanon der stadtethnologischen und -soziologischen Forschung existieren weiterhin Betrachtungen von Zielgruppen und Außendarstellungen von Theatern oder Theatergruppen sowie Forschung zu entsprechenden Communities und Szenebildungen, wie beispielsweise die Studien zu »Stadt und Theater« von Martina Löw, Silke Steets und Sergej Stoetzer an der TU Darmstadt, 2011 bis 13, welche sich u.a. mit der Imagewirkung des Darmstädter Staatstheaters beschäftigen, darunter jedoch nur wenige, die sich auch mit der Binnenperspektive der verantwortlichen KünstlerInnen bzw. ManagerInnen (TheatermacherInnen) befassen.22

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»The History of New York Playhouses: a 250 Year Journey from Bowling Green to Times Square«; Carlson (1989/93) »Places of Performance«; van den Berg (1991) »The Geometry of Culture: Urban Space and Theatre Buildings in Twentieth Century Berlin«). Anstatt Theater bevorzugt die Stadtforschung oft andere Kulturinstitutionen wie Museen für Moderne Kunst oder Opern-/Konzerthäuser. Als populärstes Beispiel fungiert hier wahrscheinlich das Guggenheim-Museum in Bilbao und der mittlerweile populärwissenschaftlich verwendete »Bilbao-Effekt« (vgl. Vicari Haddock 2010: 62). Der Fokus dieser Studien liegt meist auf einer als ikonisch verstandenen Architektur für Kulturinstitutionen und deren Bedeutung als wirtschaftstreibende Standortfaktoren und Imagetools für die jeweilige Stadt (vgl. Landry 2008). Einen weiteren Versuch dazu unternahm beispielsweise die Vorlesungsreihe zu »Zeitgenössische Hamburger Theaterlandschaften« an der Universität Hamburg (2015): Dabei geben u.a. VertreterInnen der städtischen Bühnen, Privattheater und Off-Theater einen Einblick in die verschiedenen Theaterbetriebe und die lokalen Bedingungen.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

1.2.2.

Theaterbereiche

Zur Realisierung des Forschungsvorhabens ist die Einbeziehung von drei so bezeichneten »Theaterbereichen« notwendig: das staatliche Theater, das kommerzielle Theater und das Off-Theater. »Staatliches Theater« meint die öffentlich finanzierten Staatstheater und städtischen Theater23 , »kommerzielles Theater« auf Gewinnerzielung ausgerichtete, privat geführte Theater, und »Off-Theater«24 privat geführte Theater ohne kommerzielles Interesse. Alle drei Bereiche unterscheiden sich maßgeblich aufgrund der spezifischen Art der Betriebs- und Produktionsweise, der Finanzierung und der Ticketpreise, der Lage und der Architektur, des Programms, der Öffentlichkeitsarbeit oder des Publikums. Inhaltliche Abgrenzungen scheinen nicht immer eindeutig. So stehen auch bei öffentlich geförderten Theatern durchaus kommerzielle Kassenschlager und manchmal sogar Produktionen aus der Off-Szene im Spielplan; ebenso programmieren kommerzielle Theater Publikumserfolge der Off-Theater. Vorüberlegungen bestanden zunächst darin, die Recherche auch auf weitere soziale Praktiken rund um die Theater in Buenos Aires und Istanbul auszuweiten und dafür eine Wortschöpfung wie »performative Praxis« zu finden, jedoch würde

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Ich verwende in der deutschen Übersetzung bewusst nicht den Begriff »Stadttheater«, sondern »städtisches Theater«. Dies hängt damit zusammen, dass der Begriff »Stadttheater« in der deutschsprachigen Fachlandschaft als Synonym verwendet wird, das nicht nur die Rechtsform und Finanzierungsweise dieses Theaters bezeichnet, sondern längst auch für eine künstlerische Betriebsform (wesentlich: ein festes Ensemble mit Repertoirespielbetrieb) und damit einhergehende Ästhetik steht (wesentlich: Autoren-, Regie-, und illusionistisches Theater). Im Folgenden wird von städtischem Theater (kommunal getragenes Theater) und Staatstheater (staatlich getragenes Theater) gesprochen; für beide Institutionen gemeinsam wird der Begriff »staatliche Theater« oder »öffentlich geförderte Theater« verwendet. In Deutschland entsprächen den städtisch und staatlich finanzierten Theatern i.d.R. die Rechtsformen eines Amtes, Eigenbetriebs oder Regiebetriebs, z.B. in Form von städtischen Bühnen, Landestheatern oder Staatstheatern; zunehmend begründen sich aber auch staatlich finanzierte privatrechtliche Betriebsformen, etwa Stiftungen, (g)GmbHs oder eingetragene Vereine, zuletzt sogar vereinzelt erste Genossenschaften. Das »Off« bezieht sich auf Off-Broadway; gemeint war ursprünglich der Broadway in New York. In Buenos Aires gilt die Avenida Corrientes als der argentinische Broadway; in Istanbul bezeichnen einige der Theaterschaffenden die Istiklal Caddesi als ihren Broadway. Das »Off« bezieht sich daher im Falle von Buenos Aires auf Off-Corrientes, im Falle von Istanbul auf Off-Istiklal. In Deutschland wird Off-Theater meist unter dem Begriff »Freie Szene« geführt. Ein Begriff, der die ideologische Spezifik des deutschsprachigen Theaterdiskurses verdeutlicht. Zuerst im Umfeld der Theaterarbeit des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder gegen Ende der 1960er Jahre auftauchend, intendierten beide Worte spätestens seit Ende der 1970er Jahre eine eindeutige »Abgrenzung von den Institutionen und künstlerischen Formen des hochkulturellen Stadt- und Staatstheaters« (Fülle 2016: 180).

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

dies nicht nur den Umfang dieser Arbeit sprengen, sondern zudem auch von der Verfasstheit des Theaters als eigentlichem Forschungsgegenstand wegführen.25 Im jeweiligen Sprachgebrauch findet sich folgende Unterscheidung: In Buenos Aires spricht man von den drei Circuitos: dem Circuito de Teatros Oficiales (die staatlichen Theater), dem Circuito de Teatros Independientes (den Unabhängigen Theatern/Off-Theatern) und dem Circuito de Teatros Comerciales (kommerziellen Theatern). Circuito bedeutet auf Deutsch »Zirkel« oder »Kreis« und schließt nicht nur Spielstätten, sondern auch Studios, Gruppen oder einem Circuito angehörige einzelne Personen mit ein. Die öffentlich geförderten Theater in der Türkei nennen sich Odenekli Tiyatrolar (ödenekler = bezuschusst, bewilligt, bereitgestellt), das ist das Devlet Tiyatrosu (Staatstheater) sowie das Şehir Tiyatrosu (städtisches Theater). Zusätzlich besteht die Rubrik der sog. Özel Tiyatrolar (özel = privat), die alle privat geführten Theater einschließt, unabhängig von den oben erwähnten unterschiedlichen Formen der Produktion, Finanzierung, Ästhetik etc. Innerhalb der Özel Tiyatrolar finden sich zwei Unterkategorien: zum einen die an Gewinn orientierten Privattheater (im Folgenden als kommerzielle Theater bezeichnet), welche sich selbst als Özel Tiyatrolar bezeichnen; zum anderen die sog. Bağımsız Tiyatrolar (Bağımsız = unabhängig). Bağımsız Tiyatrolar (im Folgenden als Off-Theater bezeichnet) sind nicht auf Profit ausgelegte, privat geführte Theater, deren Hauptcharakteristika laut ihrer BetreiberInnen kritische Inhalte der Produktionen sowie fehlende finanzielle Einnahmen sind.

1.2.3.

Theaterraum

Des Weiteren ist ein Begriff erforderlich, der sich auf die Gesamtheit des »Theaters« in einer Stadt bezieht und damit als Überbegriff für alle sich in einer Stadt befindenden Theater/Theaterbereiche fungiert. Die Überlegungen dazu begleiten das Forschungsvorhaben von Beginn an: In der Theatergeschichte findet sich zwar der Begriff des »Theaterwesens«, der Bühnengeschehen, Theaterarchitektur sowie Verwaltung und Organisation des Theaters umfasst (vgl. Brauneck 1996), jedoch jeglichen »städtischen« Bezug vernachlässigt und damit ungeeignet für den gewählten Forschungszusammenhang bleibt. Über lange Zeit führte mein Forschungsvorhaben im Arbeitstitel den Begriff der »Theaterszene«. Jedoch ist diese Bezeichnung, welche im deutschsprachigen Kontext eng mit der sich in den späten 1970er Jahren entwickelnden Freien Szene

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Diese Vorüberlegungen waren durch Studienaufenthalte in England geprägt: Im Studiengang »Performance Studies«, der als Äquivalent zur deutschen Theaterwissenschaft angeboten wird, versteht man unter »theatre« eine Gesamtheit performativer Praxis. So werden etwa auch religiöse Rituale (Artaud [1938] (2012) oder Fußballspiele (Schechner 1988) erforscht.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

verknüpft ist, stets ideologisch behaftet: »Szene« (ursprünglich vom griech. »skene«, dem Ort der Handlung, der Schaubühne) bezieht sich seit den 1970er Jahren stets auf ein »›Milieu‹ […] und dessen Strukturen und künstlerische Formen in Abgrenzung von den Institutionen und künstlerischen Formen des hochkulturellen Stadt- und Staatstheaters«, schreibt der Dramaturg Henning Fülle (2016: 180). Auch mit Blick auf stadtspezifische kultur- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu »Szenen« erscheint der Begriff ungeeignet: So beschreibt etwa die Stadtethnologin Anja Schwanhäußer »Szenen« als »fluide soziale Formationen«, welche sich nur temporär an bestimmten Orten in der Stadt zusammenfinden (vgl. Schwanhäußer 2010a). »Szenen« werden hierbei zwar weniger als »Gegenmodell« zu Mainstream und Hochkultur verstanden, jedoch »verlaufen [auch sie] quer zu den angestammten gesellschaftlichen Ordnungssystemen und zeichnen sich eher dadurch aus, welche Räume und Kulturen sie miteinander verknüpfen, als dadurch, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind,« so Schwanhäußer (2010b: 305). Über die Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Theaterszene« und seinen beiden Extensionen in Richtung des Bühnenraums (»Skene«) oder des sozialen Milieus bzw. sozialen Raums (»Szenen«), wird klar, dass auch dieser Begriff die hier angestrebte Forschung verfehlt, die sich auf Theater weder als »Abgrenzung« noch als »Gegenmodell« zu Theater als Mainstream oder als Hochkultur bezieht. Vielmehr konzentriert sie sich vor allem auf die Theater und ihre Spielstätten, welche über längere Zeiträume an einer Stelle in der Stadt verortet und gerade nicht fluid in ihrem Charakter sind. Entsprechend meiner Fokussierung der stadt- und sozialräumlichen Kontexte der Theater begann ich damit, mich alternativ zum engen Szene-Begriff mit dem weiter gefassten, abstrakteren Begriff des Raums zu beschäftigen. Angesichts der Fülle der Begriffsverwendungen und Rezeptionsgeschichten26 unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen erscheint eine normative begriffliche Definition und Operationalisierung für meine Zwecke allerdings kaum zielführend. Statt den Rahmen meiner stark vom empirischen Gegenstand der Theater in Istanbul und Buenos Aires ausgehenden Arbeit zu sprengen, verschaffte ich mir eine Übersicht über die auf stadt- und sozialräumliche Phänomene angewandte Forschung der ab den 1970er Jahren an Wirkmacht gewinnenden Raumsoziologie. Deren Diskussion des Raumbegriffs zeigte die (Inter)Subjektivität und Historizität der Begriffsgenese: In ihrer Rezeption sticht insbesondere der französische Philosoph Henri Lefebvre hervor, der von einer je subjektiven, gesellschaftlich geprägten und kontextbezogenen Wahrnehmung und Konstruktion von Räumlichkeit und 26

Eine Querschnittsdarstellung der Begriffsgeschichte bieten etwa die Übersichtsbände von Markus Schroer »Räume, Orte, Grenzen« (2006) oder von Jörg Dünne und Stephan Günzel »Raumtheorie« (2006).

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

deren Begrifflichkeit ausgeht; Lefebvre spricht in diesem Zusammenhang von der »Produktion von Raum« (vgl. Lefebvre 1991). Angesichts dieser konstruktivistischen Öffnung sowohl der Begriffsgeschichte, als auch des vom Begriff bezeichneten Konstrukts selbst, wird offensichtlich, wie sich erkenntnistheoretisch mit dem Begriff arbeiten lässt: Indem begriffliche Neubildungen die assoziative Weite und Abstraktion des Raumbegriffs nutzen, zeigen sich vorher nicht sichtbare Kontextualisierungen27 . Resultierend aus meiner Beschäftigung mit dem Raumbegriff entwickelte sich die Idee, zwei der zentralen Begriffe der Theater- und Stadtforschung zu verknüpfen: Theater und Raum werden zu Theaterraum zusammengefasst. Theaterraum bezeichnet dabei kein enges Verständnis, etwa im Sinne einer alleinigen Betrachtung des Zuschauer- oder Bühnenraums. Vielmehr beschreibt die Begriffsschöpfung einerseits als Containerbegriff die Gesamtheit aller Theater der Bereiche kommerzielles Theater, staatliches Theater und Off-Theater, die ich als die in Buenos Aires und Istanbul wesentlichen drei Sub-Bereiche anhand ihrer finanziellen und betrieblichen Bedingungen kategorisieren konnte, sowie andererseits die Gesamtheit dieser Theater einer Stadt in ihrer institutionellen, betrieblichen, architektonischen, kulturpolitischen, stadt- und sozialräumlichen Ausprägung und Erscheinung. »Raum« bedeutet hier also Kontext, Verhältnis, Bedingtheit; »Theater-Raum« den Zusammenhang zwischen beidem: Der Abstraktionsgrad dieses neuen Begriffs umfasst den Anspruch, die Gesamtheit der drei Theaterbereiche unter ihm zu subsumieren und dabei gleichzeitig zu betonen, dass diese Forschungsstudie sich den einzelnen Theatern durch die Brille ihrer kontextuellen, insbesondere ihrer stadt- und sozialräumlichen Bedingtheiten, nähert. Theater lässt sich unter der Überschrift dieses Begriffs nicht außerhalb seiner räumlichen Kontexte, Stadt nicht ohne seine Theater betrachten und beschreiben.

1.2.4.

Stadt- und Sozialraum

»(Social) space is a (social) product« schreibt der französische Philosoph Henri Lefebvre bereits 1974 (Lefebvre 1991: 26). Physisch-materieller Raum und sozialer Raum sind sozial konstruiert, sind untrennbar miteinander verbunden, gehen ineinander über und bedingen sich gegenseitig (vgl. Schroer 2007: 38ff.). Vorliegender Studie liegt statt einer triadischen Raumvorstellung28 , wie sie erstmals bei Lefebvre vor27

28

So ist eines der frühesten und bekanntesten Beispiele für eine entsprechende, erkenntnisbildende Begriffsneuschöpfung Albert Einsteins »Raumzeit«; ein aktuelleres, besonders stark rezipiertes und angewandtes Beispiel wäre etwa der Begriff des »Öffentlichen Raums« (vgl. Schroer 2006: 43). Lefebvre unterscheidet im Sinne einer triadischen Raumvorstellung zwischen einem wahrgenommenen, einem konzipierten, und einem gelebten Raum (vgl. Lefebvre 1991: 33ff.), auch als physischer, mentaler und sozialer Raum bezeichnet (vgl. Rolshoven 2012: 164). Diese Drei-

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

gestellt wird, eine binäre Raumauffassung zugrunde, wie sie u.a. der französische Soziologe Pierre Bourdieu vertritt. Bourdieu geht von einer Zweiteilung in einen physischen Raum und sozialen Raum aus, deren Strukturen in einer Wechselwirkung zueinanderstehen (vgl. Bourdieu 1998: 18). Laut Bourdieu setzt sich der soziale Raum aus einzelnen Feldern zusammen: »diese Felder, wie etwa das politische, das wissenschaftliche, das universitäre, das journalistische oder das wirtschaftliche Feld, die über ihre je eigenen Funktionsgesetze verfügen, sind nicht nur ›Kraftfelder‹, sondern auch ›Kampffelder‹, auf denen um Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird« (Bourdieu 1985: 74, zit.n. Schroer 2006: 85). Der physische Raum ist hingegen nach Bourdieu, ein angeeigneter, sozial konstruierter Raum (ebd.: 87). »Tatsächlich bringt sich der Sozialraum im physischen Raum zur Geltung, jedoch immer auf mehr oder weniger verwischte Art und Weise«, schreibt Bourdieu (1998: 19).29 Bezugnehmend auf Bourdieus binäres Konzept eines sich einander einschreibenden physischen und sozialen Raums bemerkt der Soziologe Markus Schroer: »Der Ausgangspunkt bei Bourdieu ist […], dass sich soziale Verhältnisse in den physischen Raum einschreiben. Und dies ermöglicht es Bourdieu, aus den räumlichen Strukturen die sozialen regelrecht herauslesen zu können« (Schroer 2006: 89). Stets seien daher, so Schroer weiter, »spezifischen Räumen soziale Strukturen eingeschrieben; sie erzählen gleichsam von den Machtverhältnissen, die durch sie zum Ausdruck kommen« (ebd.).30 Ein eindrückliches Beispiel für diesen reziproken Zusammenhang zwischen sozialem und physischem Raum bietet Bourdieu angesichts der Theater in Paris: »Die im physischen Raum objektivierten großen sozialen Gegensätze […] tendieren dazu, […] im Denken und Reden […] selbst zu Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung […] zu gerinnen […]. Solcherart ist der Gegensatz rive gauche/rive

29 30

teilung greift beispielsweise die Kulturanthropologin Johanna Rolshoven auf: Laut ihr konstituiert sich Raum »durch das Ineinandergreifen einer Dreiheit, die zum Ersten das räumliche Erleben erfasst, zum Zweiten den gesellschaftlichen und durch Ungleichheit strukturierten Raum, der über Repräsentationen auf das menschliche Handeln im Raum und die Raumvorstellung wirkt, und zum Dritten mit der physisch-räumlichen Umwelt als gebauter Raumhandlung interagiert« (Rolshoven 2012: 163). In diesem Kontext ist auch Bourdieus bekannter Satz zu verstehen: »Es ist der Habitus, der das Habitat macht« (Bourdieu 1991: 25). Dieser Ansatz findet sich in neueren wissenschaftlichen Arbeiten u.a. bei der Soziologin Silke Steets, welche »die gebaute Umwelt als Ausdruck und Verkörperung sozialen Sinns« begreift (vgl. Steets 2011: 134). Laut Steets müssen Gebäude als gebunden an einen lokalen Kontext und als symbolisch, das heißt als Ausdruck u.a. für vorherrschende Hierarchien, Lebensweisen oder ein »nach außen kommuniziertes Selbstverständnis« verstanden und interpretiert werden (ebd.).

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droite, also zwischen linkem und rechtem Seineufer, der bei statistischen Analysen und kartographischen Darstellungen der Publika (bei Theatern) […] zum Ausdruck kommt, auch im Denken potentieller Besucher bzw. Zuschauer wirksam, wirkt aber auch bei den Schriftstellern, Malern und Kritikern in Gestalt der Opposition zwischen experimentellem Theater und bürgerlichem (Boulevard) Theater, eine Opposition, die ja selbst als Wahrnehmungs- und Bewertungsschema fungiert« (Bourdieu 1998: 20f.). Dieses Beispiel zeigt die gegenseitige Bedingtheit von sozialem und physischem Raum. Das eine ist Ausdruck des anderen: Die sozialräumliche Wahrnehmung schlägt sich auf den physischen Raum nieder und lässt sich an diesem ablesen und umgekehrt. Ohne Bau und Betrieb experimenteller Theater kein experimentierfreudiges Milieu, Publikum um es herum und vice versa etc. Ausgehend von dieser binären, stets reziprok und dynamisch ineinander verschränkten31 Sichtweise auf den Raum wird in vorliegender Studie zwischen »Stadtraum«32 und »Sozialraum«33 unterschieden. Stadtraum bezieht sich dabei auf den städtebaulichen Kontext, dazu zählen einzelne (Theater-)Architekturen sowie bauliche Infrastrukturen. Der »Sozialraum« befasst sich hingegen mit den vorherrschenden u.a. ökonomisch und politisch geprägten, sozialen Verhältnissen. Dabei werden folgende Fragen auftauchen: Wie wird der Raum von wem genutzt? Wie wird er von wem wahrgenommen? Wo konstituieren sich gesellschaftlich verursachte Barrieren? Wo öffnen sich Räume und wie entsteht in ihnen gelebte Öffentlichkeit? In Hinblick auf Theater wird in der Rubrik sozialer Raum neben der unmittelbaren Nachbarschaft der Spielstätten vor allem auch eine Betrachtung des Publikums und der jeweiligen TheatermacherInnen einbezogen. Obgleich physischer und sozialer Raum als Wechselwirkung oder wie es Bourdieu auch formuliert, als »Zusammenspiel« (Bourdieu 1998: 19) und damit als »in sich greifend« zu verstehen sind, werden sie im Anspruch auf eine analytische Annäherung an den Forschungsgegenstand sowie zugunsten der Les- und Darstellbarkeit getrennt voneinander geführt.

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Im Gegensatz zu der begrifflichen Dreiteilung von Lefebvre konstruiert Bourdieu den konstruktivistischen Anteil der Raum-Wahrnehmung als dynamisch zwischen den beiden Grundkategorien Sozialer und Physischer Raum entstehendes Medium, mithin also nicht als eigenständige dritte Kategorie. Stadtraum wird gleichbedeutend verwendet wie städtischer Raum. Sozialraum wird gleichbedeutend verwendet wie sozialer Raum.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

1.3.

Postkoloniale Perspektivierung

Eine Betrachtung der Theaterräume in Buenos Aires und Istanbul ist ohne nähere Durchleuchtung der (Kolonial)Geschichte Argentiniens und der Türkei kaum vorstellbar. Wenn – wie die vorliegende Arbeit es postuliert – Theater immer auch Stadt ist, bzw. aus dieser heraus verstanden werden will, dann ist Theatergeschichte immer auch Stadtgeschichte. Stadtgeschichte wiederum ist immer auch politische Geschichte des Staates, im Falle Argentiniens und der Türkei wesentlich Kolonialgeschichte. Als theoretische Grundlage der vorliegenden Studie beziehe ich im Folgenden die sogenannten Postcolonials ein:

1.3.1.

Postcolonial Theories: Dekonstruktion und Nachwirken kolonialer Muster

Ziel der »Postcolonial Studies«34 ist es, den Prozess der Kolonisierung/Dekolonisierung und dessen Langzeitfolgen für die Kolonisierten wie KolonisatorInnen kritisch zu untersuchen, sowie bis dahin etablierte dichotomische Denk- und Beziehungsmuster zu dekonstruieren (vgl. Conrad/Randeria 2002: 24). Über Jahrhunderte war die Weltsicht der Menschen in Europa, aber auch außerhalb durch die Konstruktion einer klaren Dichotomie von »Zentrum« (= Europa) versus »Peripherie«, »zivilisierter« versus »unzivilisierter«, »fortschrittlicher« versus »zurückgebliebener« Welt bestimmt: Die Kolonien wurden als »Gegenbild« zu Europa verstanden (vgl. Herlinghaus/Walter 1997: 243). Eine Legitimation der europäischen Kolonisation fand statt, indem europäische Mächte wie Spanien, Frankreich oder Großbritannien von der notwendigen Zivilisierung und Missionierung der als unzivilisiert geltenden »Barbaren« ausgingen.35 Dass diese Rolle wie selbst34

35

Der Begriff des »Postkolonialen« wurde in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich ausgelegt, nicht zuletzt aufgrund der Vorsilbe »post«, die eine zeitliche Beschränkung suggerieren könnte. Vorliegende Arbeit bezieht »postkolonial« weder auf einen territorial noch zeitlich begrenzten Raum; vielmehr ist der Begriff als Ausgangspunkt einer anzusetzenden Perspektive zu verstehen. »Postkolonial« bricht, wie Stuart Hall schreibt, mit der »InnenAußen-Dichotomie des Kolonialsystems« und betrachtet »die ›Kolonisierung‹ als Teil eines im Wesentlichen transnationalen und transkulturellen ›globalen‹ Prozesses neu«. Damit, so Hall, wird »eine Dezentrierung, eine Diaspora-Erfahrung oder ein von ›Globalität‹ geprägtes Umschreiben der früheren imperialen großen Erzählungen mit der Nation als Zentrum« bewirkt (Hall 2002: 227). Neben anderen (vgl. Osterhammel 1995; Kerner 2012) ist es der Soziologe Michel Foucault, der im Rahmen seiner Theorie der Wissensarchäologie an verschiedenen Stellen u.a. in »Ordnung der Dinge« [1966] (2008) und »Archäologie des Wissens« [1969] (2007), darauf hinweist, wie die europäischen Kolonialmächte entsprechende Dichotomien als Machtdispositive konstruieren, die letztlich dann auch von den unterdrückten »Völkern« der kolonialisierten Erdteile ange-, übernommen und internalisiert werden.

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verständlich Europa zufiel, leitete sich aus dessen selbst-konstruierter Überlegenheit ab, die u.a. ihre Grundlage in den im 17. Jahrhundert aufkommenden Rassentheorien36 fand (vgl. Kerner 2012: 28). Nicht zuletzt durch die seit der europäischen Aufklärung (wieder)entdeckte Tradierung von Wissen erreichte Europa einen Grad von Macht zur Übernahme von Territorien ebenso wie die fortwirkende Legitimation seines Machtanspruchs (vgl. Dhawan/Varela 2005: 24). Die dichotomischen Denkmuster fanden sich auch in dem Konstrukt »Orient« und »Okzident« wieder. Dazu schreiben die beiden Postcolonial-Forscherinnen Maria Varela und Nikita Dhawan bezugnehmend auf die Arbeit des Literaturtheoretikers Edward Said (Orientalism 1978; vgl. Kap. 1.3.2), wie folgt: »Die Macht der Konstruktion ist dabei Effekt einer realen, materiellen Herrschaft des Westens über den Osten – ein Prozess, der schließlich nicht nur dazu führte, dass die Kultur des Orients als Abweichung und minderwertig gegenüber dem Okzident erachtet wurde, sondern auch dafür verantwortlich zeichnet, dass der Orient als monolithisch und zeitlos erscheint.[…] Der Okzident erscheint dagegen, schon allein weil ihm eine aktive Geschichte zugeschrieben wird, als ›normal‹, ›reif‹ und ›dynamisch‹« (Dhawan/Varela 2015: 102). Buenos Aires und Istanbul – beide Städte finden sich in Gegenden der Welt, die außerhalb des sog. Zentrums Europa liegen, jedoch auf verschiedene Art und Weise über die letzten Jahrhunderte immer wieder mit Europa verbunden waren und dabei zumindest teilweise der konkreten Einflussnahme einer oder mehrerer europäischer Mächte ausgesetzt waren.37 Argentiniens Verflechtung mit Europa begann durch die »Entdeckung« und folgende Kolonisierung durch die SpanierInnen. Im Vergleich zu anderen Regionen, z.B. Afrika oder dem Nahen Osten, wurde die amerikanische Peripherie von den EuropäerInnen nicht unbedingt als »Gegenbild« zu sich selbst wahrgenommen, sondern vielmehr als »Europe’s Extension«, wie der argentinische Literatur36

37

Die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner schreibt dazu, wie folgt: »Weiße bzw. Europäer wurden in erster Linie mit geistigen Fähigkeiten assoziiert, Asiaten wurde oftmals die Betriebsamkeit abgesprochen, Schwarze wurden meist auf ihre Körperlichkeit reduziert […]. Auf diese Weise konnte argumentiert werden, die koloniale Arbeitsteilung entspreche den unterschiedlichen menschlichen ›Naturen‹ und koloniale Disziplinierungspraktiken dienten den zu Disziplinierenden« (Kerner 2012: 28). Von Anfang an spielte die im beschriebenen Machtverhältnis angenommene Peripherie eine wesentliche Rolle für das Zentrum, ihre Bedeutung als soziales und politisches Ventil und kulturelle Projektionsfläche wirkte dabei ganz und gar nicht peripher: So setzten etwa die Konquistadoren in den eroberten Gebieten »auf die Erfüllung von vorbürgerlichen Träumen der Macht, des Reichtums und des sozialen Aufstiegs«, während im westlichen Europa langsam die bürgerliche Moderne einzusetzen begann und Spanien seine zentrale Stellung im europäischen Machtverhältnis einzubüßen drohte, wie es in einem Essay von Herman Herlinghaus und Monika Walter heißt (Herlinghaus/Walter 1997: 245).

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

wissenschaftler Walter D. Mignolo (2000: 128) schreibt. Gerade Argentinien wurde aufgrund einer hohen Zahl an europäischen MigrantInnen oftmals als »weiße Siedlungskolonie« bezeichnet und seit dem frühen 20. Jahrhundert sogar manchmal der Kategorie des »Westens«38 zugerechnet (vgl. Osterhammel 2009: 191). Diese auch von argentinischer Seite angestrebte Verwestlichung, die im Zuge der »argentinischen Theatergeschichte« näher erläutert wird, (vgl. Kap. 2.1) bedeutete dabei »nicht allein die selektive Übernahme europäischer und nordamerikanischer Kulturelemente, sondern im ehrgeizigsten Fall viel mehr: Anerkennung als Bestandteil der ›zivilisierten Welt‹«, so der Historiker Jürgen Osterhammel (2009: 144). Die Türkei war im Gegensatz zu Argentinien zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte eine Kolonie, stattdessen bildete sie das Kerngebiet des Osmanischen Reichs (1299-1918), dessen Herrscher selbst im Rahmen weitreichender Expansionen kolonisierten, bspw. Belgrad im Jahr 1521 oder Bagdad im Jahr 1534 (vgl. Kreiser 2010: 54). Das Osmanische Reich, das dem Konstrukt des Orients zugerechnet wird, wurde aufgrund der Eroberungen bis vor die Tore Wiens (1683) über lange Zeit nicht nur als unzivilisiertes »Gegenbild«, sondern als Feindbild eines christlichen Europas betrachtet. Erst im 19. Jahrhundert gelangte das Osmanische Reich aufgrund militärischer Unterlegenheit und wirtschaftlicher Not in die Abhängigkeit Europas (vgl. Kap. 2.2), im Zuge derer sich bei den OsmanInnen ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Europa einstellte (vgl. Ipsiroglu 2008: 206; Boyar 2007: 20f.; Mert 2005: 323). Die Historikerin Ebru Boyar beschreibt es als einen »inferiority complex towards the West«, der u.a. in der Verwestlichung und Säkularisierung des Landes unter Republikgründer Kemal Atatürk mündete, siehe dazu »Neuschreibung der türkischen Geschichte« (vgl. Kap. 2.2) (vgl. Boyar 2007: 20f.). Sämtliche VertreterInnen des postkolonialen Diskurses gehen davon aus, dass die beschriebenen Muster bis in die heutige Zeit fortwirken: Eine Grundannahme postkolonialer Theoriebildung besteht darin, dass eine Internalisierung der Überlegenheit Europas gegenüber der außer-europäischen Welt nicht nur in den Köpfen der Menschen innerhalb Europas, sondern ebenso in denen der Menschen außerhalb der europäischen Grenzen stattgefunden hat (vgl. Spivak 1999; Hall 2002; Kerner 2012). In Anlehnung an Foucault (1978) könnten die daraus resultierenden Denk- und Handlungsmuster als Machtdispositive bezeichnet werden, welche sich

38

»Die Kategorie des Westens entstand erst aus der Idee eines übergreifenden transatlantischen Zivilisationsmodells […] Es ist eine Kategorie für jene christlich geprägte Wertegemeinschaft, die zunächst als Abendland gegen den muslimischen Orient, nach 1945 gegen den atheistischen Kommunismus sowjetischer Prägung, dann gegen den Islam abgegrenzt wurde; sie findet sich als dominante Denkfigur nicht vor den 1890er Jahren« (Osterhammel 2009: 143 zit.n. Bonnett 2014: 14ff.).

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reziprok zwischen KolonisatorInnen und Kolonisierten, Mutterland und ehemaliger Kolonie etablierten und eine Weltsicht prägten, die bis heute tiefe Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat und in die Zukunft fortwirken wird, wie der britische Soziologe Stuart Hall schreibt (vgl. Hall 2002: 226). Die hier vorgenommene postkoloniale Perspektivierung des Forschungsanliegens wird durch die Einführung dreier Konstrukte konkretisiert, die die Studie im weiteren Verlauf weniger im Sinne einer praktischen Anwendung, als eher im Sinne eines ständigen gedanklichen Korrektivs begleiten: Im Folgenden werden hierzu nacheinander die Konstrukte »Wissensproduktion«, »Europäischer Kulturimport/Hybridität« und »Verflechtungsgeschichte« eingeführt.

1.3.2.

Wissensproduktion

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war das akademische Wissen über den Prozess der Kolonisation durch die Perspektive des »Westens« geprägt. Erst mit Werken wie »Die Verdammten dieser Erde« (1961) von Frantz Fanon oder »Orientalism« (1978) von Edward Said begann sich dieser einseitige Blick langsam zu weiten. Beide Autoren stammten nicht aus dem »Westen«, studierten jedoch an europäischen oder amerikanischen Universitäten und lehrten später dort.39 Obgleich sich dieser, in den 1960er und 70er Jahren noch neue, kritische Denkansatz spätestens in den 1990er Jahren zunehmend in den Kulturwissenschaften zu etablieren begann (u.a. Hall/Mehlem/Kovisto 1994, Spivak 1999, Bhaba 2000), war (und ist!) die institutionalisierte Wissensproduktion durch die westliche Welt dominiert. Diese Problematik zeichnet, laut den beiden Herausgeberinnen des Bandes »Stadtforschung in Lateinamerika« (2013) Anne Huffschmid und Katrin Wildner, auch die Wissensproduktion auf dem Gebiet der Metropolenforschung aus: »Darin fungiert der globale ›Norden‹, also der nordamerikanisch und westeuropäisch dominierte Wissenschaftsbetrieb, als zentrale Produktionsstätte von Theorien und Konzeptionen, der globale ›Süden‹ dient hingegen primär als empirisches Feld« (Huffschmid/Wildner 2013: 17).40

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Während der auf Martinique geborene Fanon Europa in seinem ausbeuterischen Verhältnis zu den Kolonien zu demaskieren versucht und zum Kampf gegen die weißen KolonisatorInnen aufruft, ist Saids »Orientalism« eine wissenschaftliche Analyse des über Jahrhunderte produzierten Orient-Okzident-Dualismus. Said untersucht und entblößt die Mechanismen, mit Hilfe derer das Bild des Orients durch EuropäerInnen konstruiert und aufrechterhalten wurde (und wird). Indem der Band »Stadtforschung in Lateinamerika« (2013) ausschließlich lateinamerikanische StadtforscherInnen versammelt, wird der Versuch unternommen »Städte vom globalen ›Süden‹ her zu denken« und im Sinne der Postcolonial Studies »neue Wissensgeografien« zu etablieren (Huffschmid/Wildner 2013: 17).

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Im Bereich der Theaterforschung zeigt sich diese Problematik der Wissensproduktion beispielsweise in der Bedeutung, die der europäischen Theatergeschichte und -theorie im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung in Ländern wie Argentinien und der Türkei zukommt (vgl. Kap. 2). Dazu folgende Schlaglichter: _Juan Baio, der an der UNA (Universidad Nacional de las Artes) in Buenos Aires »Theater« studierte, erzählt mit Begeisterung, dass alle theoretischen Texte, die er zu Theater kenne, aus Europa stammten; in Argentinien gäbe es dazu kaum etwas. Argentinisches Theater sei weder intellektuell, noch schreibe darüber irgendjemand intellektuell (Gespräch mit Juan Baio am 25.06.2014). _Yavuz Pekman, Professor für Dramaturgie an der Istanbul Universität, erklärt, dass sich in der Türkei die theoretische Auseinandersetzung mit Theater überwiegend mit dem europäischen Theater beschäftige. Dort gäbe es besseres Theater, quasi das Original, so Pekman. Das europäische Theater wirkte scheinbar als eine Vorbildfunktion in der Türkei. Erst in den letzten zehn Jahren, so Yavuz Pekman, ließe sich langsam ein zunehmendes Forschungsinteresse an der türkisch-osmanischen, aber auch türkischen Theatergeschichte erkennen (Gespräch mit Y. Pekman am 28.09.2010). Umgekehrt findet jedoch weder Geschichte noch Gegenwart des argentinischen oder türkischen Theaters in der deutschen oder englischsprachigen Forschungsliteratur viel Beachtung. Es existieren vereinzelt Artikel oder Bücher zur »Theatergeschichte« dieser beiden Länder (vgl. Ausführungen dazu Kap. 2) sowie einige Rezensionen zu Gastspielen türkischer Theatergruppen und Beiträge zur gegenwärtigen Situation des Theaters in der Türkei oder in Argentinien, so in der Zeitschrift »Theater der Zeit«41 . Diese bis heute anhaltende Fokussierung auf Europa im Bereich der Theaterforschung kann als Nachwirken der soeben genannten »tiefen Spuren der Kolonisation« gedeutet werden (vgl. Hall 2002: 226). Auch wenn vorliegende Studie nicht umhinkann, der »Wissensproduktion« des globalen »Nordens« zugerechnet zu werden, versucht sie dennoch, dieser Problematik zu begegnen: Zum einen, indem durch die Wahl der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul, auf die postkoloniale Kritik an der über Jahrzehnte in der Stadtforschung gängigen, verengenden Sicht auf Städte reagiert wird (vgl. Ordinary Cities): Durch die Gegenüberstellung zweier Städte, einen gleichsam entstehenden »inneren Dialog« zwischen ihnen, soll deren sonst immer wieder stattfindender Rückbezug auf den deutschen/europäischen Kontext vermieden werden. Zum anderen, indem das Theater zweier Städte untersucht wird, deren Gesellschaft durch ähnliche Erfahrungen geprägt scheint: durch eine autokratische Vergangenheit ebenso wie durch ein »postkoloniales Spannungsfeld«.42 Kaum denkbar, wie 41 42

Vgl. Arbeitsbuch II/1999; Heft 06/2002; Heft 01/2008. Europa, insbesondere Deutschland, wird, wie sich in den Interviews zeigt, auch bei den TheatermacherInnen und WissenschaftlerInnen in den beiden Ländern bis heute als Referenzsys-

33

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sonst den grundlegenden Wahrnehmungs- und Denkmustern entflohen werden könnte, die die Perspektive einer europäischen Forschungsarbeit und deren Rezeption präformieren: Auf die subjektive Rolle der Forscherin und Verfasserin wird diesbezüglich im folgenden Abschnitt zur »Selbst- und Fremdpositionierung« (vgl. Kap. 1.4.1) noch einmal explizit Bezug genommen.

1.3.3.

Europäischer Kulturimport und Hybridität

Der Begriff eines »Kulturimports« (und die damit verbundene Annahme, »Theater sei ähnlich einem Produkt aus Europa importiert worden«) wurde von TheatermacherInnen in Buenos Aires und Istanbul so oft verwendet, dass ich ihn näher beleuchten möchte. Bereits bei der Betrachtung der argentinischen und türkischen Theatergeschichte (vgl. Kap. 2) wird deutlich, dass es geradezu unmöglich ist, Anfang oder Ende eines kulturellen »Import/Export-Verhältnisses« zu beschreiben. Analytisch lassen sich die beiden Theatergeschichten trotz all ihrer Autonomisierungstendenzen vielmehr als zunehmend interdependente, dynamisch-reziproke Entwicklungen aufbereiten. Neben Ansätzen zur Kritik »kulturimperialistischer Diskurse«43 , die von einer Übernahme und Reproduktion einer angenommenen »westlichen« Einheitskultur und einer Auslöschung des lokal Vorhandenen ausgehen, erscheinen im Sinne der

43

tem genutzt. Da sich dieselben TheatermacherInnen allerdings gleichzeitig immer wieder darum bemüht zeigen, einen eigenständigen, unabhängigen Theaterdiskurs zu führen, wird im weiteren Verlauf immer wieder von einem »postkolonialen Spannungsfeld« gesprochen. Der »kulturimperialistische Diskurs« geht davon aus, dass durch die historische und gegenwärtige Verbreitung »westlicher« Kultur – gemeint sind kulturelle Praktiken und Güter – in den »peripheren« Regionen der Welt eine Verdrängung oder gar Auslöschung der lokalen und ursprünglichen Kultur stattfindet. Resultat sei eine globale, durch den Westen geprägte Einheitskultur, die vom Rest der Welt internalisiert wird. Als Beispiele für diese gegenwärtige Verbreitung westlicher Kultur werden die weltweit zu findenden Modern Art Museen (vgl. Guggenheim Museen), Biennalen ebenso wie die Filialen von McDonalds oder Starbucks genannt. Kultur wirkt dabei als eine Art geopolitisches Instrument, durch das der Westen seine Vormacht in möglichst vielen Regionen der Welt demonstriert und aufrechterhält. Dieser Ansatz degradiert die Peripherie zu einem passiven Konsumenten des Zentrums und vermittelt dabei den Anschein, dass Kultur ein direkt übertragbares System sei, das einer Gesellschaft aufoktroyiert werden könnte (vgl. Randeria/Eckert 2009: 22). Indem sich die WissenschaftlerInnen Randeria und Eckert in ihrem Sammelband »Vom Imperialismus zum Imperium« (2009) auf die Ergebnisse verschiedener Forschungen berufen, stellen sie entgegen der kulturimperialistischen Annahme fest, dass »die Begegnung mit einer fremden Kulturform [der der Kolonisierenden] nicht notwendigerweise die Übernahme ihrer ursprünglichen Bedeutung impliziert. Denn ihre Bedeutung ist nicht vom Sender [Kolonisierenden] vorgegeben, sondern hängt immer von handelnden Subjekten als Rezipienten [Kolonisierten] ab« (Liebes/Katz 1990, zit.n. ebd.: 23). Folglich kann auch keine globale Einheitskultur entstehen.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

hier verfolgten Forschungsarbeit daher die ebenfalls im Kontext der Postcolonial Studies verwendeten Begriffe »Hybrid« und »Hybridität von Kultur« passender:44 Ein Hybrid bezeichnet das Aufeinandertreffen zweier Dinge unterschiedlicher Herkunft. Dabei kann es zu einer Mischform ähnlich einer Amalgamierung kommen, aber auch zu einer Mischform, die darauf beruht, dass sich zwei Dinge in ihrem gemeinsamen Wirken abwechseln oder aber parallel zueinander bestehen.45 In ihrer Studie »Soziologie der Städte« bezeichnet Martina Löw die von Eric Swyngedouw geprägte Dialektik von Lokalem und Globalem als Hybrid, da globale und lokale Prozesse parallel und simultan zueinander verlaufen, so dass es weder das rein Globale noch das rein Lokale gibt (vgl. Löw 2008: 137). In den Postcolonial Studies findet seit den frühen 1990er Jahren, ausgehend vom Begriff des Hybrids, das durch den Literaturwissenschaftler Homi K. Bhaba entwickelte Konzept der kulturellen Hybridität in kolonialen Konstellationen große Beachtung. In seinem Hauptwerk »Die Verortung der Kultur« (2000) betrachtet Bhaba Hybridität dabei nicht nur als Vermischung, Kreuzung oder Wechselwirkung, sondern vielmehr als einen Prozess der Aushandlung von Differenz. Dabei produziert die Aushandlung einen sog. »dritten Raum«, eine Ambivalenz, ein Dazwischen. Dieser dritte Raum, der sich innerhalb des kolonialen Machtgefüges zwischen MachthaberInnen und Untergebenen konstituiert, ermöglicht laut Bhaba eine Destabilisierung der kolonialen Macht. Die Soziologin Ina Kerner geht sogar noch weiter, indem sie schreibt, dass »aus der Ambivalenz des Dritten Raumes Handlungsfähigkeit und damit Subversionspotential entsteht« (Kerner 2012: 129).

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In der Theaterwissenschaft findet sich neben der »Hybridität« u.a. der Begriff der »Fusion« (vgl. Fischer-Lichte u.a. 1990), welcher sich insbesondere auf die Verbindung von traditionellem Theater und westlicher Theaterästhetik im asiatischen Raum bezieht, darüber hinaus prägte der Theaterwissenschaftler Christopher Balme den Begriff des »Theatersynkretismus«, der sich an den Auffassungen des Begriffs in den Religionswissenschaften, den Literaturwissenschaften oder der Kulturanthropologie orientiert und sich mit ästhetischen Mischformen in ehemaligen britischen Kolonien beschäftigt (vgl. Balme 1994). Da sich diese Begriffe in der theaterwissenschaftlichen Forschung ausschließlich auf das Bühnengeschehen beziehen, wird nicht ausführlicher Bezug auf sie genommen. Etymologisch leitet sich »Hybrid« vom lateinischen Begriff hybrida (Bastard, Mischling) ab. Referenzbeispiele aus verschiedenen Disziplinen zeigen folgende Verwendung des Begriffs: In der Physik besteht ein Hybridmotor aus verschiedenen Antriebstechniken, die parallel oder abwechselnd wirken. Hingegen in der Botanik bezeichnet Hybrid die Kreuzung zweier unterschiedlicher Arten von Pflanzen. SozialwissenschaftlerInnen widmen sich der migrantischen Hybridität, indem beispielsweise die verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Verortungen im Leben von MigrantInnen genauer untersucht werden (vgl. SchölzeStubenrecht 1999: 1890).

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1.3.4.

Verflechtungsgeschichte

Der Forschungsansatz der »Verflechtungsgeschichte«, auch bekannt als »Entangled History« oder »Histoire Croisée«, wird im deutschsprachigen Raum seit den 1990er Jahren u.a. von der Anthropologin Shalini Randeria vertreten. Laut Randeria ist »die moderne Geschichte als ein Ensemble von Verflechtungen aufzufassen« (Randeria/Conrad 2002: 17), in dem die Geschichte eines Landes, einer Nation oder Europas nicht separat vom Rest der Welt betrachtet werden kann, wie es lange Zeit in der Geschichtsforschung praktiziert wurde. Dabei verfolgt die Theorie der »Entangled History« u.a. mittels multiperspektivischer Geschichtsschreibung das Ziel, das dichotomische Denken in Kategorien wie »europäische Welt«/»außereuropäische Welt«46 aufzuheben und dieses stattdessen relational in den Blick zu nehmen und die Verwobenheit zwischen beiden »Welten« offenzulegen (vgl. ebd.: 17ff.). Geschichte ist demzufolge als dynamisch und reziprok zu verstehen. Vorliegende Studie verfolgt nicht das Ziel einer konsequenten Umsetzung des Konzepts der »Verflechtungsgeschichte« in Hinblick auf die Geschichte Argentiniens, der Türkei und Europas. Dies würde eine andere Schwerpunktsetzung erfordern. Stattdessen führt die Beschäftigung mit dem Ansatz der Verflechtungsgeschichte zunächst zu dem Anspruch seitens der Verfasserin, den Aspekt einer Multiperspektivität in der argentinischen und türkischen Theatergeschichte (vgl. Kap. 2) abzubilden. Doch auch wenn es eines der Ziele der »Verflechtungsgeschichte« ist, eine alternative Geschichte der Anderen, der Ausgebeuteten nicht nur zu schreiben, sondern vor allem auch aus der Perspektive der Anderen zu verfassen, fehlen meist schlicht die Quellen: So wurde in der Geschichtsschreibung die Perspektive der kolonialisierten Volksgemeinschaften über Jahrhunderte durchweg vernachlässigt, das Vorhandensein einer prä-kolonialen Geschichte meist sogar geleugnet (vgl. Kerner 2012: 27f.). In Argentinien ist in Bezug auf die Theatergeschichte feststellbar, dass diese Perspektive nicht nur fehlt, sondern weiterhin auch »Lücken« hinsichtlich einer Theatergeschichte der indigenen Bevölkerung im Allgemeinen bestehen. Lücken, die sowohl die Zeit vor Ankunft der spanischen KonquistadorInnen auf dem Gebiet des heutigen Argentiniens betreffen, als auch die Zeit nach der einsetzenden Kolonialisierung des Landes und der späteren Unabhängigkeit von Spanien (vgl. Kap. 2.1).

46

Die Begriffsverwendung orientiert sich an einer Definition von Shalini Randeria und Sebastian Conrad (2002): »Die Begriffe ›europäisch‹ und ›außereuropäisch‹ werden hier nicht als vorgängig bestehende Einheiten verstanden, sondern signalisieren diskursive Abgrenzungen, die als Ergebnis einer ›geteilten Geschichte‹ entstanden und im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch festgeschrieben wurden« (Conrad/Randeria 2002: 11).

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Im Gegensatz dazu wird die Forschung in der Türkei dadurch erschwert, dass obzwar eine osmanische Geschichtsschreibung besteht, Republikgründer Kemal Atatürk im Rahmen seiner Verwestlichungspolitik (seit 1923) nicht nur die arabische Schrift durch die lateinische ersetzen ließ, sondern einen Bruch mit der osmanischen Kultur anstrebte (vgl. Kap. 2. 2) (vgl. Steinbach 2012: 30). Er verfolgte das Ziel, anstatt der bisherigen osmanischen Geschichte eine neue türkische Nationalgeschichte verfassen zu lassen. Hintergrund dafür war, dass Atatürk das in Europa, aber teils auch in der Türkei selbst vorherrschende Bild der »unzivilisierten« TürkInnen durch ein neues Bild der zivilisierten, fortschrittlichen TürkInnen ersetzen wollte (vgl. Boyar 2007: 20). In der Folge wurde nur ein Bruchteil der osmanischen Zeugnisse ins Türkische übersetzt.47 Die bis heute existierende Sprachbarriere könnte ein Grund dafür sein, warum weder in der türkischen, noch in der internationalen Forschung dem Theater im osmanischen Reich viel Beachtung zukommt. Neben dem Anspruch, die aufgeführten kritischen Hinweise bzgl. einer multiperspektivischen oder transnationalen Theatergeschichtsschreibung aufzugreifen, erscheint es daher im Rahmen vorliegender Studie auch als entscheidend, die vorhandene Geschichtsschreibung kritisch bezüglich etwaiger Auslassungen oder Hervorhebungen zu reflektieren.

1.4.

Forschungsdesign

In vorliegender Forschungsarbeit werden die Theaterräume in Buenos Aires und Istanbul als Resultat biografischer, betrieblicher, (kultur)politischer, stadt- und sozialräumlicher Bedingtheiten untersucht, um davon ausgehend die Rolle des Theaters in der jeweiligen Stadtgesellschaft näher zu bestimmen. Die zugrunde liegende Forschungshypothese lautet, dass sich durch die Betrachtung des Theaterraums ein bestimmter Blickwinkel auf die jeweilige Stadt generiert, durch den ein wesentlicher Erkenntnisgewinn in Hinblick auf Zusammenhänge und Vorgänge in Gesellschaft, Stadtraum und Politik der beiden Städte entsteht. Die Konstitution eines dafür geeigneten Forschungsdesigns wird im Folgenden thematisiert: Beginnend mit einer Reflexion zur Selbst- und Fremdpositionierung werden im Anschluss daran das methodische Vorgehen, die Auswahl der Theater und schließlich der Aufbau der Arbeit erläutert.

47

Das an der Istanbul Universität angesiedelte Projekt OtürkDijital nimmt sich dieser Problematik an. Es ist eine Online-Datenbank, welche Veröffentlichungen und Zeitdokumente aus dem Osmanischen Reich sowohl im Original als auch in der türkischen Umschrift archiviert und der Öffentlichkeit zugänglich macht (vgl. www.oturkdijital.com; Zugriff am 18.12.2018).

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1.4.1.

Selbst- und Fremdpositionierung

In den Begegnungen mit Theaterschaffenden sowohl in Buenos Aires als auch in Istanbul steht immer wieder die Frage im Raum: Warum forsche ich als Deutsche überhaupt zum Theater in Buenos Aires/Istanbul?48 Einige der Theaterschaffenden erklären mir sogar mit einem Augenzwinkern, dass doch der wahre Grund für mein Interesse am Theater dieser Städte wohl darin bestünde, dass ich als verdeckter Scout für ein europäisches Festival tätig und auf der Suche nach Produktionen sei.49 Sobald ich im Gespräch erwähne, dass ich aus Deutschland komme, nehmen nahezu alle meine GesprächspartnerInnen in irgendeiner Art und Weise Bezug zu Europa. Ob Gastspiele in Europa thematisiert werden oder die historische Verknüpfung des eigenen Theaters mit Europa: In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Begriff des bereits erwähnten »Kulturimports«. Ich beeinflusse das Gespräch nicht nur dahingehend, dass ich anhand von bestimmten Fragen einen Rahmen vorgebe, sondern darüber hinaus einfach durch meine Person selbst, in diesem Fall durch meine europäische Herkunft. Der Europäische Ethnologe Wolfgang Kaschuba beschreibt die Feldforschung als ein »Stück interaktiver und interkultureller Forschung: die praktische Erfahrung nämlich, dass wir als Forscher selbst ein Bestandteil des Feldes sind, und dass wir in diesem Feld schon allein durch unsere Anwesenheit etwas bewegen und verändern. Denn sobald wir ›da sind‹, ist nichts mehr ganz so, wie es vorher war – auch wenn wir es gern ›authentisch‹ sehen möchten« (Kaschuba 2003: 200). Die ethnographische Forschung sieht sich mit dem Phänomen des »Othering« konfrontiert, der »kulturellen Distanzierung und Verfremdung des Anderen«, welche sich allein aus der Beobachtung und Beschreibung des Gegenübers ergibt, wie Kaschuba schreibt (ebd.: 198).

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Oft vernehme ich die Selbstbezichtigung, dass das argentinische respektive türkische Theater im Vergleich zum europäischen Theater doch grundsätzlich minderwertig und damit kein lohnender Forschungsgegenstand sein könne. Das oft in diesem Zusammenhang gefallene Wort »besser« bezieht sich auf Nachfrage meist darauf, dass in Europa mehr Ressourcen zur Verfügung stünden und somit mehr auf den Bühnen gezeigt werden könne. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass unter dem Begriff »Theater« ausschließlich Inszenierungen, Stücke und TheaterautorInnen verstanden werden. Auf meine Erklärung gegenüber GesprächspartnerInnen, dass sich mein Interesse auf die Strukturen des jeweiligen Theaterraums beziehen, wird gerade in der Türkei des Öfteren mit erneutem Unverständnis reagiert. Während ich in Buenos Aires das Gefühl habe, die TheatermacherInnen sind stolz auf diese Strukturen – die betrieblichen, teils kollektiv organisierten Formen, aus denen eine Vielzahl von unterschiedlichen Spielstätten und Theaterformen resultiert – habe ich in Istanbul eher den Eindruck, Theaterschaffende stellen sich erklärend, ja fast entschuldigend, vor ihr Theater. »No comparison to Germany« ist eine der häufigsten Aussagen.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Auch in der sozialwissenschaftlich informierten Theaterwissenschaft findet sich dieser epistemologische Einwand, der jede geisteswissenschaftliche Forschung betrifft: Analog zu Werner Heisenbergs »Unschärferelation« hatte die soziologische Systemtheorie die Unmöglichkeit postuliert, ein System vom Standpunkt einer Beobachtung innerhalb dieses Systems beschreiben zu können, und genau aus diesem Grund die sogenannte »Beobachtung zweiter Ordnung« eingeführt – eine Denkweise, die innerhalb der Theaterpraxis von DramaturgInnen und RegisseurInnen im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Attraktivität gewonnen hat. Laut des Soziologen Niklas Luhmann geht es dabei darum, sich mit seiner/ihrer Forschung als (Sozial)ForscherIn selbst zum Gegenstand der eigenen Forschung zu machen, insbesondere um auf diesem Weg subjektive »Blind Spots« in der Forschung zu vermeiden (Luhmann 1984, 1992, 1997).50 Da sich der Untersuchungsgegenstand nicht – wie etwa in den Naturwissenschaften – im Labor künstlich von allen anderen ihn bestimmenden Faktoren abtrennen lässt, muss die FeldforscherIn die Reflexion seiner/ihrer eigenen Person als Bestandteil der Analyse einbauen. Kaschuba formuliert dieses »methodologische Mitbedenken«, wie er es nennt, jedoch nicht als Schwäche der Feldforschung, sondern verweist vielmehr auf einen Erkenntnisgewinn, der sich darin verbirgt (vgl. Kaschuba 2003: 200). Ganz ähnlich argumentiert die Ethnologin Anja Schwanhäußer, indem sie schreibt: »Wie die Szene auf mich als Forscherin reagiert und welchen Platz und welche Rolle sie mir zuweist, sagt etwas über die Beschaffenheit der Szene selbst aus« (Schwanhäußer 2010: 24).

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In der maßgeblich von Niklas Luhmann ausgehenden soziologischen Systemtheorie wird eine derartige »Beobachtung der Beobachtung« bzw. des Beobachters/der Beobachterin als »Beobachtung zweiter Ordnung« beschrieben, die auf dem Weg einer kritischen Selbstreflexion und -überprüfung nach einer Neubestimmung des methodischen Vorgehens zu einem sog. »Re-Entry« in die eigene Forschungsarbeit führen soll. Die dergestalt beschriebene Reflexionsschleife versteht Luhmann idealiter als ständigen auf einer parallelen Metaebene ab- und mitlaufenden Prozess (vgl. Luhmann 1987; 1992; 1997). Zur Veranschaulichung seien hier zwei Beispiele gegeben, die dem Luhmann-Lexikon entstammen, das 2005 von dem Sozialwissenschaftler Detlef Krause herausgegeben wurde: »Beispiel 1: Ein weiterer Beobachter beobachtet den Beobachter erster Ordnung wie er zu dieser Bezeichnung gekommen ist. Er beobachtet den Beobachter erster Ordnung auf einer sich im All rotierenden Kugel und sagt: aus seiner Perspektive würde ich die Erde wohl auch als Scheibe interpretieren, aber sie ist rund und die Sonne dreht sich um sie. Beispiel 2: Der Beobachter erster Ordnung beobachtet seine vorangegangene Beobachtung (Reflexion) und stellt fest, dass seine Reduktion der komplexen Welt so nicht ganz korrekt war« (Krause 2005: 129f.).

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

Im Kontext der Reflexion meiner eigenen Rolle als Forscherin sticht insbesondere meine Herkunft, meine Rolle als europäische Forscherin hervor.51 Für mich stellen sich in diesem Zusammenhang Fragen, beispielsweise, ob ich als chilenische oder syrische Forscherin in ähnlichem Maße von meinen InterviewpartnerInnen auf die Tatsache verwiesen worden wäre, dass Theater in Buenos Aires oder Istanbul maßgeblich durch die europäische Theatertradition beeinflusst sei. Oder ob man mich jemals für einen versteckten Festivalscout aus Chile oder Syrien halten würde? Wie würden sich meine GesprächspartnerInnen in einem solchen Fall präsentieren? Was würden sie betonen, was weggelassen? Welche Rückschlüsse lassen sich für mich aus diesen Reaktionen ziehen? Umgekehrt muss auch ich mir die Frage stellen, wie ich mich aufgrund meiner Herkunft verhalte? Ist mir nicht bereits während meiner ersten Forschungsreise in Istanbul aufgefallen, mit welchen teils klischierten Bildern vom islamischen Theater im Kopf ich meine Reise damals angetreten habe?52 Vor dem Hintergrund der hier aufgemachten Selbst- und Fremdpositionierung greife ich in bewusster stilistischer Betonung immer wieder die Ich-Perspektive auf – eine erzählerische Perspektivierung, die meine Position innerhalb des Forschungsfeldes markiert und transparent im Sinne einer analytischen Distanz vom Forschungsgegenstand scheidet. Einer Ethnologin bzw. einem Ethnologen mag diese Festlegung als selbstverständlich und nicht weiter erwähnenswert erscheinen. Doch obgleich auch die Geisteswissenschaft letztlich nichts anderes als Narra51

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Ein weiterer zu beleuchtender Aspekt wäre in diesem Kontext meine Rolle als Forscherin in Hinblick auf das Gender-Verhältnis innerhalb der Theaterräume der beiden Städte. Obgleich auffällig war, dass in beiden Städten in allen drei Theaterbereichen die leitenden Funktionen meist Männer innehatten, ließen sich bis auf den Bereich der staatlichen Theater nur selten tradierte Rollenbilder wahrnehmen; vielmehr schien insbesondere im Off-Theaterbereich ein kollektives Arbeiten auf Augenhöhe unabhängig von Geschlechterrollen zu überwiegen. Obgleich ich während meiner Recherche vor Ort bei Interviewanfragen, bei Interviews, oder Theaterbesuchen, beobachtete, inwiefern sich meine Rolle als Frau entscheidend in Hinblick auf diese bestimmten Situationen auswirkte, ließ sich nichts Eindeutiges feststellen. Der Genderaspekt wird daher im Rahmen dieser Studie nicht ausdrücklich thematisiert, weder in Hinblick auf mich, als weibliche Forschungsperson, noch bezüglich der AkteurInnen der Theaterräume. Eines der ersten Interviews führe ich 2010 mit der türkischen Regisseurin Emre Koyuncuoğlu, die nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland arbeitet. Koyuncuoğlu gibt an, dass die Arbeit in den beiden Ländern sehr unterschiedlich von statten geht. In manchen Punkten sei das Arbeiten in Deutschland »freier«; andererseits ärgere sie jedoch, dass sie in Deutschland überwiegend für Projekte angefragt werde, in denen die Perspektive einer muslimischen Frau befragt wird. Sie selbst spüre jedoch keinerlei Nähe zum Islam. Ihr Resümee: »Europe always wants to see the other.« Während des Zuhörens fühle ich mich ertappt: Hatte doch auch meine Reise mit der naiven Suche nach einem Klischee vom muslimischen Theater oder zumindest einem »anderen« Theater begonnen (Interview mit E. Koyuncuoğlu am 30.09.2010).

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

tion53 betreibt, bemüht man sich gerade in der Theaterwissenschaft, den Anspruch der Wissenschaftlichkeit durch die dritte Person zu wahren.

1.4.2.

Feldforschung

Die Feldforschung wird auf jeweils sechs Monate angelegt und findet in Buenos Aires in den Jahren 2014 und 2016, in Istanbul in den Jahren 2014 und 2015 statt. In Istanbul werden zudem vereinzelt Beobachtungen und Informationen miteinbezogen, welche im Zuge, der eingangs genannten Forschungsreise im Jahr 2010, entstanden. Ich kartiere54 , gehe und fahre von Spielstätte zu Spielstätte. Ich bewege mich in die Theater hinein, wohne Führungen bei, werde zur Gesprächspartnerin der TheatermacherInnen, die von sich, von ihren Arbeitsabläufen, von Organisationsprozessen innerhalb der Spielstätten erzählen. Ich werde zur Beobachterin dieser Situationen, zur Beobachterin des Publikums, zur Beobachterin der räumlichen Bedingtheiten. Ich will das Theater über die Perspektiven der Personen vor Ort kennenlernen, die vor und hinter den Kulissen das Theater in der jeweiligen Stadt gestalten. Verschiedene Erst- oder besser gesagt, Einstiegskontakte ermöglichen mir einen vielseitigen Einblick in die Theaterwelt von Buenos Aires und Istanbul. Fast jeder Kontakt führt zu mindestens einem weiteren Gesprächspartner/einer weiteren Gesprächspartnerin. Bisweilen überschneiden sich die Empfehlungen und Vermittlungen von Personen, die es zu befragen gilt. Doch manchmal ist es auch nur ein einzelner Hinweis oder eine kurz vor der Verabschiedung überreichte Telefonnummer von jemandem, der oder die vielleicht von Interesse für mich sein könnte. Zu Beginn der Recherche treffe ich für erste Gespräche fast täglich ein bis zwei Personen – SchauspielerInnen, RegisseurInnen, InhaberInnen von Off-Theatern, TheaterproduzentInnen, vereinzelt Personen aus dem akademischen Feld, die sich

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Betrachtet durch die Brille der seit den späten 1980er Jahren aus den Geschichts- sowie Literaturwissenschaften hervorgehenden und mittlerweile innerhalb verschiedener Geisteswissenschaften etablierten »Narrative Studies« bzw. Narrationstheorien, stellen sich im Prinzip sämtliche semantischen und syntaktischen Systeme als Narrationen dar, von der Supermarkt-Quittung bis zum Gesetzestext (vgl. Bruner 1990). Die Grundlagen der den Narrationen inhärenten sprachlichen Systematik bilden demnach darunter bzw. dahinter liegende Narrative (mit Foucault gesprochen: »Dispositive« [vgl. Foucault 2008]; mit Francois Lyotard gesprochen: »Große Erzählungen« [vgl. Lyotard 1994]), die sich auf dem Weg poststrukturalistischer Erforschung (etwa der Methode der Dekonstruktion nach Jacques Derrida [vgl. Derrida 1992]) offenlegen lassen (vgl. Bruner 1990; Ricoeur 1988). Kartieren bezieht sich in vorliegender Studie auf die Aufzeichnung der Standorte der Theaterspielstätten im Stadtraum.

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

wissenschaftlich mit der Rolle der Theaterpraxis in diesen Städten auseinandersetzen. Dieses Vorgehen mündet in einem Sammelsurium an Informationen, das nochmals ergänzt wird durch unzählige informelle Gespräche, die ich vor oder nach einer Vorstellung selbst führe oder denen ich als Zuhörerin beiwohne. Diese unterfüttern meine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, sie reihen sich neben die Aussagen und kognitiven Sichtweisen meiner GesprächspartnerInnen. Erst nach und nach werden diese Gespräche gezielt durch leitfadenorientierte, ethnografische Interviews abgelöst (vgl. Erläuterung Kap. 1.4.4 »Hinter den Kulissen«). Nähere Ausführungen zum methodischen Vorgehen finden sich im Rahmen des »Aufbaus der Arbeit« (vgl. Kap. 1.4.4) entlang der jeweiligen Kapitel und Themenschwerpunkte. Im Folgenden wird nun die Auswahl der Theater erläutert, die im weiteren Verlauf der Studie wie Fixpunkte auftauchen, auch wenn sich der auf sie angelegte Blickwinkel in den verschiedenen thematischen Abschnitten verändert.

1.4.3.

Auswahl der Theater

Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, werden in Buenos Aires wie auch in Istanbul drei Theaterbereiche in die Untersuchung einbezogen: das staatliche Theater, das kommerzielle Theater und das Off-Theater. Repräsentativ für den jeweiligen Bereich werden einzelne Theater(-institutionen) ausgewählt. Im Bereich der öffentlich geförderten und damit staatlichen Theater werden sowohl das städtische Theater als auch das Staatstheater von Buenos Aires und Istanbul einbezogen. Die anderen beiden Bereiche, Off-Theater und kommerzielles Theater, sind breiter aufgestellt. Hier gilt es, auf Basis der Theateranzahl in Form eines repräsentativen Querschnitts und im Sinne einer qualitativ signifikanten Stichprobe einige der Theater exemplarisch herauszugreifen. In beiden Städten ist es nur bedingt möglich, auf eine Auflistung von Theatern zurückgreifen, weshalb es zunächst herauszufinden gilt, wie viele Theater (OffTheater und kommerzielle Theater) in der jeweiligen Stadt existieren. Allein schon die Notwendigkeit eines solchen »Findungsprozesses« kann als Hinweis auf die jeweilige gesellschaftliche Bedeutung des Theaterbereichs in Buenos Aires und Istanbul gedeutet werden (vgl. Kap. 3, 4 und 5). Off-Theater In Buenos Aires wird von Theaterschaffenden vor Ort mehrmals die Zahl von 300 Off-Theatern genannt; in Istanbul will sich keiner auf eine bestimmte Zahl festlegen. Die Recherche beginnt online in sozialen Netzwerken – viele der Off-Theater, in Buenos Aires ebenso wie in Istanbul, sind nicht im Besitz einer eigenen Website,

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Ankündigungen und Informationen werden ausschließlich über soziale Netzwerke verbreitet. In Buenos Aires existieren neben einem privat geführte Online-Portal www.alternativateatral.ar, welches die Veranstaltungen aller drei Circuitos auflistet, Auflistungen privat geführter Theaternetzwerke55 ebenso wie Verzeichnisse staatlicher Förderinstitutionen (vgl. Instituto Nacional del Teatro oder Proteatro in Buenos Aires56 ). In Istanbul ist 2014 kurzzeitig die Webseite www.özeltiyatrolar.tr online, welche angibt, alle privaten Theater Istanbuls aufzulisten (80 Theater). Die Liste stellt sich jedoch zum einen in Abgleich mit einer eigenen angefertigten Liste57 als unvollständig heraus, zum anderen enthält sie neben Off-Theatern, die ebenfalls privat geführten kommerziellen Spielstätten. 2015 ist diese Webseite bereits wieder aus dem Netz genommen. Stichprobenhaft überprüfe ich per Telefon und durch Besuche vor Ort einen Großteil der Theater, deren Existenz auf eine Online-Recherche in sozialen Netzwerken und auf verschiedenen Webseiten etwa von Stadtportalen zurückgeht. Dabei ist festzustellen, dass insbesondere in Buenos Aires auch Probenräume oder einmal genutzte Veranstaltungsräume im Verzeichnis der Spielstätten geführt werden. Ob abseits der vermerkten Theater eine mögliche Dunkelziffer existiert, kann nur vermutet werden. 55

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Die Asociación Argentina Del Teatro Independiente (ARTEI), die sich als Interessensvertretung der Off-Theater versteht, nennt auf ihrer Website 60 Off-Theater; das Netzwerk ESCENA – eine Plattform für rechtliche und finanzielle Fragen hinsichtlich der Situation der Off-Theater – zählt nochmals 20 Spielstätten auf. Alle auf diesen beiden Seiten vermerkten Off-Theater finde ich bei meinen Besuchen vor Ort. Bei den besagten städtischen und staatlichen Webseiten handelt es sich um folgende: inteatro.gob.ar (INT), www.buenosaires.gob.ar/proteatro (Proteatro) und https://www.sinca. gob.ar/ (SINCA); Zugriff 17.04.2018. Die beiden ersten Institutionen werden im weiteren Verlauf noch ausführlicher Erwähnung finden; auf letztere wird an dieser Stelle kurz eingegangen. SINCA (= Sistema Información Cultural de Argentina) ist eine Informationswebseite des Ministerio de Cultura de la Présidencia de la Nación (des argentinischen Kulturministeriums), auf der sich umfassende Statistiken und Karten zu den kulturellen Aktivitäten in Argentinien finden. Die Daten dienen laut Website dazu, ein Verständnis der kulturellen Aktivitäten im Land zu vermitteln, darauf aufbauend die öffentlichen Dienstleistungen auszubauen und die Kulturwirtschaft zu fördern. Auf der Karte, die über 200 Theater in Buenos Aires aufzeigt, sind manche der Theater, die ich besucht habe, nicht verzeichnet; bei einer stichprobenhaften Überprüfung der angezeigten Theater fällt auf, dass sich hinter einigen ausgewiesenen Theaterspielstätten oftmals Namen von Personen verbergen, die an den angegebenen Adressen nicht mehr zu finden sind. Viele der Statistiken von SINCA betreffen nur die Provinz und nicht Buenos Aires (www.sinca.gob.ar; Zugriff 25.10.2018). Diese Liste orientiert sich an Nennungen von Off-Spielstätten in den geführten Gesprächen und an einer informellen Auflistung von Off-Theatern im Rahmen einer Veranstaltung zu den Existenzproblemen des Off-Theaters (vgl.​ »Bağımsız Tiyatronun Var Olma Sorunu« am 7. Mai 2015). Sie listet 18 Off-Theater mit festem Spielort.

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Laut meinen Recherchen existieren in Buenos Aires ca. 150 Off-Theater (Stand 2016), in Istanbul ca. 26 Off-Theater (Stand 2015), wobei diese Zahl durch permanente Schließungen und Wiedereröffnungen allein innerhalb der Forschungsdauer nicht konstant bleibt. Exemplarisch wähle ich fünf Off-Theater, die in Buenos Aires ausgehend von den 150 Off-Theatern, drei Prozent, in Istanbul immerhin knapp 25 Prozent repräsentieren. Diese fünf Theater sind aus einem Pool von je 15 Off-Theatern entsprechend der Räumlichkeiten, des Programms und der Produktionsstrukturen ausgewählt und scheinen trotz all ihrer Ähnlichkeiten in ihrer Unterschiedlichkeit einen repräsentativen Überblick über die anderen ihrer »Kohorte« zu bieten. Entscheidend waren für die weitere Auswahl folgende Kriterien: Die Theater müssen eine feste Spielstätte vorweisen und dürfen nicht nur als Gruppe existieren, denn nur so können Aspekte wie Lage oder Räumlichkeiten genauer betrachtet werden. Eine Spielstätte wiederum darf nicht nur Veranstaltungsort für Gastproduktionen sein, sondern muss von den TheaterinhaberInnen selbst bespielt/genutzt werden. Die Off-Theater müssen zum Zeitpunkt der Recherche mindestens drei Jahre existieren. Des Weiteren sind Aspekte wie die Lage der Theater, der berufliche Hintergrund der InhaberInnen und ihre Intention, ein Theater zu gründen, sowie die Zuschauerkapazität der einzelnen Theater für die Auswahl entscheidend. Die gewählten Off-Theater stehen stellvertretend für ihren Bereich: Sie unterscheiden sich nicht immer in allen Punkten, ergeben jedoch durch eine ausgewogene Verteilung zentraler Merkmale und Faktoren, wie die Lage in unterschiedlichen Stadtvierteln, unterschiedliche Mitarbeiteranzahl/Größe der Gruppe, differierende Spielpläne/künstlerische Ausrichtungen, unterschiedliche Rechtsformen/Finanzierungsarten einen übersichtsbildenden Querschnitt. In Buenos Aires werden folgende fünf Theater ausgewählt: Das El Camarín de Las Musas (seit 2001), das El Elefante (seit 2002), das Teatro del Abasto (seit 2002), das El Kafka (seit 2003) und der Club de Teatro Defensores de Bravard (seit 2008). Darüber hinaus wird das sog. Teatro Comunitario einbezogen. Dabei handelt es sich um ein Nachbarschaftstheater, das aufgrund seines sozialen und integrativen Charakters im Kreise der Off-Theaterschaffenden nicht als »Off-Theater«, sondern »nur« als Amateurtheater Erwähnung findet. Im Kontext dieser Arbeit wird das Teatro Comunitario jedoch als Spielart des Off-Theaters verstanden und in die Untersuchung mitaufgenommen, da es mir als relevant für das Verständnis des Theaterraums von Buenos Aires erscheint. In Istanbul werden folgende fünf Theater in die Studie einbezogen: Das Kumbaracı50 (seit 2008), das Şermola Performans (seit 2008), das Ikincikat (seit 2010), das Mekan Artı (seit 2010) und das Moda Sahnesi (seit 2013). Mit Ikincikat, Mekan Artı und Kumbaracı50 entscheide ich mich bewusst für drei Theater, die ich bereits

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

2010 kennenlernte, da ich auf diese Weise die Möglichkeit habe, Veränderungen an bestimmten Theatern und ihren Spielstätten genauer zu beleuchten. Moda Sahnesi und Şermola Performans kommen neu hinzu. Kommerzielles Theater Im Bereich der kommerziellen Theater existieren in Buenos Aires 25 Theaterhäuser. Diese sind auf der Webseite der Asociación Argentina de Empresarios Teatrales (AADET) genannt, einem Verbund für alle kommerziellen Theater.58 Ebenso wie im Bereich der Off-Theater ist bei der Wahl der Theater aus dem kommerziellen Sektor entscheidend, dass diese nicht nur Gastspielhäuser sind, sondern auch selbst produzieren und zudem bereits seit mehr als drei Jahren existieren. Anhand einer Kategorisierung entlang dreier Aspekte – der Zuschauerkapazität, der räumlichen Größe der Theaterhäuser sowie der Höhe der Eintrittspreise – werden ein kleineres, ein mittleres und ein großes kommerzielles Theater ausgewählt: das Teatro Picadero, das Teatro Apolo und das Paseo la Plaza. In Istanbul entpuppen sich die in Buenos Aires angesetzten Kriterien für die Auswahl kommerzieller Theaterhäuser als hinfällig: Der kommerzielle Theatersektor ist anders aufgebaut. In den letzten 10 bis 15 Jahren haben unzählige Kulturzentren und Shopping Malls eröffnet, die ausgestattet mit einer Bühne als Veranstaltungsorte für Theater nutzbar sind (vgl. Ince 2017). Im Vorbeigehen auf der Straße, in der Metro oder innerhalb von Shopping Malls fallen mir zwar immer wieder Ankündigungen von Theatershows auf, doch handelt es sich dabei um keine kommerziellen Theater mit eigenen Spielstätten, sondern ausschließlich um Gruppen, welche auf den eben genannten Bühnen in Shopping Malls oder in sog. KültürMerkezis (Kulturzentren) kommerzielles Theater zeigen. Um diese Entwicklung in der Wahl abzubilden, werden in diesem Fall Kompanien ohne feste Spielstätte einbezogen. Wie sich deren Auswahl gestaltet, wird hier noch nicht vorweggenommen und erst in Kapitel 4 näher erläutert.

1.4.4.

Aufbau der Arbeit, Themenfelder und methodisches Vorgehen

Nach den in Kapitel 1 dargelegten theoretisch-konzeptionellen Bezügen, den Ausführungen zu Theater- und Stadtforschung ebenso wie zu Begriffsdefinitionen, thematischen Schwerpunktsetzungen und methodischem Vorgehen, beginnt Kapitel 2 mit einem Rückblick in die Theatergeschichte: Dabei wird nach einem kurzen Exkurs zur Quellenlage, die Entwicklung und damit die So-Gewordenheit des Theaters in Argentinien und der Türkei skizziert, teils auch rekonstruiert; dies ist nicht nur für das Verständnis des gegenwärtigen Theaters in der betroffenen Gesellschaft, sondern insbesondere auch vor dem Hintergrund der in beiden Städ58

www.aadet.org.ar/; Zugriff 13.5.2016.

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ten ausgemachten Spannungsfelder »Autokratie« und »Postkolonialimus« unerlässlich. Entsprechend der verwendeten Definition von »Theater« nimmt die Theatergeschichte nur am Rande auf die Bühnenpraxis Bezug und widmet sich stattdessen der Entwicklung der drei genannten Theaterbereiche – staatliche Theater, kommerzielle Theater und Off-Theater – und ihrer Verwobenheit mit der politischen und gesellschaftlichen Geschichte des Landes. Das methodische Vorgehen lehnt sich dabei an die in der Theaterwissenschaft übliche Geschichtsschreibung (vgl. Fn. 18) an, welche Geschichte hauptsächlich im Lichte eines Verständnisses der heutigen Theaterpraxis schreibt: Dabei werden nur diejenigen Epochen und performative Praktiken beleuchtet, die für das Verständnis der heutigen Theaterpraxis relevant erscheinen und die die genealogische So-Gewordenheit dieser Praktiken im Hier und Jetzt erklären. Obwohl sich meine Arbeit weder darum bemüht, einzelne Artefakte in entsprechender Detailgenauigkeit zu betrachten, noch daraus epochenbeschreibende Ableitungen zu treffen, so folgt sie im genannten Zusammenhang doch der Logik des theaterwissenschaftlich-historistischen Denkens. Die zwei darauffolgenden Kapitel 3 und 4 widmen sich jeweils dem Theaterraum einer der beiden Städte. Die Untersuchung der Theaterräume erfolgt dabei im Sinne einer Bestandsaufnahme: Vor dem Hintergrund des weiter oben eingeführten postkolonialen Diskurses versuche ich während meiner Recherche stets, meine eigene Perspektive als Forscherin einerseits kritisch zu reflektieren und mich andererseits mit gedanklichen Verknüpfungen, theoretischen Kontextualisierungen oder ersten analytischen Einordnungen und Interpretationen zurückzuhalten. Um die Unmittelbarkeit der Begegnungen und Beobachtungen in beiden Kapiteln entsprechend stilistisch zu unterstreichen, ist als Erzählzeit die Präsensform gewählt. Mein Vorgehen und meine teils erzählerische Beschreibung in diesen Kapiteln folgt dabei nicht dem Anspruch einer – wie auch immer gearteten – Vollständigkeit: Dabei wird z.B. das architektonische Detail eines Theaters nicht einer architektursoziologischen oder -historischen Analyse unterzogen, vielmehr wird es als Resonanzobjekt eines »streifenden Blicks« in die Forschung aufgenommen, die letztlich darauf zielt, die Konstitution (= Verfasstheit) von Theaterraum darzulegen. Die Annäherung an den Untersuchungsgegenstand erfolgt über ethnografische Methoden im Rahmen der Feldforschung. An vereinzelten Stellen wird sie zum vertiefenden Verständnis durch Rückblicke in die Entwicklungsgeschichte der beiden gewählten Städte ergänzt: Beide Kapitel (3 und 4) befassen sich jedoch stets mit dem zum Zeitpunkt der Feldforschung vorgefundenen Zustand der einzelnen Theater in den Bereichen staatliches, kommerzielles sowie Off-Theater beider Städte. Die jeweilige Unterteilung dieser beiden Kapitel richtet sich entlang von vier Themenfeldern aus:

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe Theater sind Institutionen, Unternehmen, private Initiativen, Kollektive etc.: Wer verantwortet/wer gestaltet das Theater einer Stadt? Welche betrieblichen Formen werden dafür gewählt? In diesem Abschnitt werden zunächst einzelne TheatermacherInnen, ihre beruflichen Werdegänge, ihre Funktion und ihre Beweggründe für die jeweilige Arbeit am Theater vorgestellt, bevor anschließend auf die an einzelnen Theatern vorherrschenden betrieblichen Strukturen, Arbeitsweisen und Ausbildungsstrukturen eingegangen wird. Dieser Abschnitt gleicht einem »Kennenlernen« der TheatermacherInnen, weshalb nicht nur die TheatermacherInnen und Theaterbetriebe porträtiert, sondern auch die Interviewsituationen in diesem Abschnitt skizziert werden. Methodisches Vorgehen: Der Abschnitt »Hinter den Kulissen« basiert maßgeblich auf den durch meine InterviewpartnerInnen getätigten Aussagen im Rahmen von leitfadenorientierten, ethnografischen Interviews. Die GesprächspartnerInnen sind VertreterInnen der exemplarisch gewählten Theater (vgl. Kap. 1.4.3). Der Leitfaden, der sich auf Punkte wie den biografischen Hintergrund, die Finanzierung des Theaters und des Lebensunterhalts oder die Produktionsbedingungen und Arbeitsweisen bezieht, dient dabei einer Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit der Interviews; die ethnografische Form ermöglicht die Flexibilität und Offenheit, um je nach GesprächspartnerIn individuelle Ausführungen aufzunehmen (vgl. Flick 2012: 141f.). Die Interviewsprache ist Englisch.59 Neben den Informationen aus den Interviews fließen in diesen Abschnitt meine eigene Beobachtung und Wahrnehmung hinsichtlich der GesprächspartnerInnen, der jeweiligen Gesprächssituation und der Abläufe innerhalb der Theater ein. Stilistisch ist der Abschnitt weitgehend durch deskriptive Passagen geprägt (etwa biografische Details, Aussagen der InterviepartnerInnen, Skizzierung der Interviewsituation etc.). Kulturpolitische Rahmenbedingungen Das Theater in einer Stadt ist maßgeblich durch die vorherrschenden kulturpolitischen Rahmenbedingungen geprägt. Es ist zu klären: Wie sieht der aktuelle kulturpolitische Kontext aus? Wie fördert der Staat? Welche rechtlichen Rahmenbe59

Alle GesprächspartnerInnen sowohl in Buenos Aires als auch in Istanbul sprechen Englisch. Da meine Türkischkenntnisse nur rudimentär sind, erachte ich das Englische zum einen aufgrund einer präzisen Verständigung in Istanbul, aber auch in Hinblick auf eine Vergleichbarkeit zu den in Buenos Aires geführten Gesprächen als dritte, gleichsam neutrale Sprache für sinnvoll. Vereinzelt sprechen InterviewpartnerInnen Deutsch und wechseln in ihren Antworten zwischen Deutsch und Englisch; die Aussagen werden dann jeweils im Original beibehalten.

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dingungen existieren? Wie gehen die TheatermacherInnen in den Bereichen des staatlichen und kommerziellen Theaters ebenso wie des Off-Theaters damit um? Methodisches Vorgehen: Habe ich zu anfangs noch vermutet, dass auch der Austausch mit KulturpolitikerInnen oder anderen EntscheidungsträgerInnen aus dem Kultursektor hilfreich sein könnte, entpuppt sich diese Annahme als nichtig: In beiden Städten kontaktiere ich kulturpolitische SprecherInnen der Fraktionen, die KulturamtsleiterInnen der jeweiligen Stadt sowie TheaterreferentInnen im jeweiligen Ministerium. Die Anfragen, schriftlich und persönlich vor Ort, werden nur in wenigen Fällen beantwortet; meist erfolgt die Aufforderung, die Fragen schriftlich zu formulieren, persönliche Interviews werden durchweg abgelehnt. Die schriftliche Resonanz, die ich erhalte, verrät kaum Detailkenntnisse, Fragen bleiben unbeantwortet, die Antworten sind aussagelos und zu floskelhaft, um diese inhaltlich einzubauen. In Folge dessen entschließe ich mich, den Fokus auf die TheatermacherInnen, ihre Lage innerhalb der kulturpolitischen Situation durch ihre Perspektive zu spiegeln. Die Materialgrundlage bildet neben Informationen aus den geführten Interviews, eine Online-Recherche sowie eine Vor-Ort-Recherche in Bezug auf Datenmaterial, Fördertöpfe, Zeitungsinterviews etc. Stadtraum und Architektur Neben einem kurzen Rückblick in die Entwicklungsgeschichte der beiden gewählten Städte, gibt dieser Abschnitt Einblick in die stadträumliche Kontextualisierung der Theater: ihre geografische und strukturelle Verteilung über die Stadt, ihre städtebauliche Einbettung ebenso wie ihre architektonische Gestalt. Dieser Abschnitt zeichnet meinen Weg durch die Stadt, in die einzelnen Stadtteile, entlang der verschiedenen Theaterspielstätten nach und soll nebenbei auch dazu dienen, eine gewisse geografische Orientierung innerhalb der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul zu vermitteln. Methodisches Vorgehen: Im Zuge der angefertigten, systematischen Auflistungen der Theater, die Aufschluss über die Zahl der Spielstätten in der jeweiligen Stadt geben sollen, lege ich eine Kartierung derselbigen an. In Istanbul wird die Kartierung, dank meiner vorangehenden Forschungsarbeit, um eine zeitliche Komponente ergänzt, indem ich die Veränderungen – Schließungen, Neueröffnungen, Umzüge insbesondere der Off-Theater zwischen 2010 und 2015 – in meine Untersuchung aufnehme. Ziel dieser, in beiden Städten durchgeführten Kartierungen ist es, die stadträumliche Struktur im Zusammenhang mit der Lokalisierung der Theater zu erforschen.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Es lässt sich nicht nur nachvollziehen, in welchen Stadtteilen von Buenos Aires und Istanbul Theaterspielstätten lokalisiert sind, sondern auch, um welchen Bereich von Theater – öffentliche Institutionen, kommerzielle Theater, Off-Theater,– es sich jeweils handelt. Indem ich Nachforschungen zur räumlichen Lage der Theater in Buenos Aires und Istanbul durchführe, rückt fast automatisch das äußere architektonische Erscheinungsbild selbiger in den Fokus. Einige der Theater sind auf den ersten Blick als solche erkennbar, andere wiederum lassen sich erst auf den zweiten Blick als solche identifizieren. Mir begegnen prunkvolle Theatergebäude ebenso wie Spielstätten, teils versteckt in Shopping Malls, in Wohnhäusern oder ehemaligen Werkstätten. Dabei steht weniger eine architekturhistorische Herangehensweise im Vordergrund, als vielmehr eine Einordnung der jeweiligen räumlichen Lage bzw. Gebäude-Architektur in den Kontext des durch sie ausgedrückten Kulturverständnisses. Während viele Tage meiner Aufenthalte im Zuge der Kartierungen durch gezielte Wege durch die Stadt bestimmt sind – z.B. wenn ich, ausgestattet mit Stadtkarte oder Handynavigation vor Augen, eine Spielstätte ausfindig machen will – sind andere Tage durch ein zielloses Spazieren durch verschiedene Stadtviertel und ihre Straßen geprägt (vgl. Wahrnehmungsspaziergänge): Ich will mir die Stadt erlaufen, sie entdecken, ein Gefühl für ihre Dimension bekommen. Ich will nicht nur Punkte in der Stadt anvisieren, sondern mich in der Stadt treiben lassen, um ein spontanes Gefühl für ihren Rhythmus, ihre Atmosphäre und die Diversität ihrer Stadtteile zu bekommen. Nach den ersten ziellosen Spaziergängen fokussiere ich mich auf die Gegenden in der Stadt, in denen sich die gewählten Theater befinden und wähle bewusst verschiedene Tageszeiten (früh am Morgen, am Mittag, am Abend, bei Nacht), um zu sehen, wie sich das Leben auf den Straßen im Laufe des Tages verändert. In Form eines Feldforschungstagebuches halte ich meine Beobachtungen fest. Des Weiteren legen meine GesprächspartnerInnen im Rahmen der Interviews, eine Mental Map60 des Theaterraums ihrer Stadt in Hinblick auf folgende Frage an: Welche Orte, welche Bereiche der Stadt sind für Sie und Ihre Arbeit als TheatermacherInnen von Bedeutung? Dabei will ich herausfinden, welche Stadtteile und 60

»Mental Maps dienen dazu, kollektive Raumorientierungen und -kodierungen sozialer Gruppen sichtbar zu machen« schreibt der Ethnologe Wolfgang Kaschuba (2006: 211). Die Anfertigung von sog. Mental Maps, auch kognitive Karten genannt, als ethnologische Methode, geht auf den Stadtplaner Kevin Lynch zurück, der in den 1950er Jahren versuchte, anhand von Gestaltmerkmalen eine Stadt zu erfassen. Lynch schreibt: »Every citizen has had long associations with some parts of his city, and his image is soaked in memories and meanings. Moving elements in a city, and in particular the people and their activities, are as important as the stationary physical parts. We are not simply observers of this spectacle, but are ourselves a part of it, on the stage with other participants« (Lynch 1975: 1f.).

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welche Orte/Spielstätten Eingang in diese symbolischen Karten und damit in die räumliche Visualisierung der Stadt finden. Ließe sich anhand dessen eine Aussage zur Bedeutung bestimmter Orte treffen? Stechen bestimmte Orte hervor, da sie möglicherweise vielen TheatermacherInnen einen Proben- und Aufführungsort anbieten? Gelten andere Orte wiederum aufgrund ihres Veranstaltungsprogramms als inspirierend und werden deshalb von vielen aufgesucht? Welche Unterschiede weisen die Karten entsprechend dem Arbeitsumfeld der jeweiligen Personen auf? Inwieweit unterscheiden sie sich von den systematisch angelegten Kartierungen. Sozialer Raum Lässt sich anhand der sozialräumlichen Einbettung der Theater und dem Blick auf ihre Publika etwas über die soziale Funktion von Theater in der jeweiligen Stadt aussagen? Dieser Abschnitt bezieht sowohl die umliegenden Nachbarschaften der Spielstätten als auch die jeweiligen Publika in die Betrachtung mit ein. Es ist zu klären: In welchen Gegenden der Stadt existiert Theater, in welchen nicht? Welche Publika werden von welchen Theaterformen erreicht? Wie wird das beispielsweise kommunikations- und marketingtechnisch forciert? Wie lassen sich die jeweiligen ZuschauerInnen der einzelnen Theater charakterisieren? Methodisches Vorgehen: Die sozialräumliche Betrachtung fußt auf allen bereits genannten Methoden, sie greift auf Informationen aus den Interviews zurück ebenso wie auf die Ergebnisse der Kartierungen, der Wahrnehmungsspaziergänge und der Mental Maps. Weiterhin werden Notizen eingebunden, die im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung zu den jeweiligen Publika der einzelnen Theater entstanden: Als Zuschauerin von Vorstellungen, Workshops oder Zuschauergesprächen halte ich die zahlreichen Besuche der ausgewählten Theater im Rahmen von Beobachtungsprotokollen fest.   Kapitel 3 und Kapitel 4 stehen in ihrer Struktur nicht vollständig analog zueinander. Abschnitte haben unterschiedliche Längen, unterschiedliche Gewichtungen, die sich aus dem jeweils lokal-spezifischen Kontext ergeben. So erscheinen die aktuellen kulturpolitischen Rahmenbedingungen in Istanbul derart brisant, dominant und erläuterungsbedürftig, dass sie das Kapitel 4 rahmen, gleichzeitig in es einführen und es abschließen; in Buenos Aires hingegen rückt der Abschnitt zu den »Kulturpolitischen Rahmenbedingungen« an die zweite Stelle im Kapitel, da, wie sich zeigen wird, die Rolle der (Kultur)Politik einen weit geringeren Einfluss ausübt als in Istanbul. Innerhalb der vier genannten Themenfelder gliedert sich die Darstellung entlang der drei Theaterbereiche: Staatliche und kommerzielle Theater sowie Off-Theater.

1. Vom Theater zur Stadt. Ein transdisziplinäres Forschungsfeld

Durch die unterschiedliche Schwerpunktsetzung der einzelnen Abschnitte bei sich gleichzeitig wiederholender Betrachtung derselben Untersuchungsgegenstände, wenn auch unter anderem thematischem Fokus, werden sich für die Leserin bzw. den Leser an einzelnen Stellen gedankliche Querverbindungen zwischen den Themenfeldern ergeben. In Kapitel 5 gehe ich auf die Gegenüberstellung beider Städte und ihrer Theaterräume ein und komme damit schließlich auf die eingangs formulierte Forschungshypothese zurück: Kann die vorliegende Forschungsarbeit tatsächlich – wie ursprünglich vermutet – durch die Einbeziehung biografischer, betrieblicher, (kultur)politischer, stadt- und sozialräumlicher Bedingtheiten die jeweils stadtspezifische Verfasstheit der Theaterräume sowie deren gesellschaftliche Funktion und Wirkung herausarbeiten? Inwiefern ist es gelungen, anhand der Beschreibung der Theaterräume durch ihre städtischen Kontexte (vgl. Kap. 3 und 4) einen spezifischen Erkenntnisgewinn bzgl. der beiden Stadtgesellschaften zu erzielen? Worin besteht dieser? Die Studie schließt mit einem Epilog ab, der die Möglichkeiten praktischer Anwendungen und theoretischer Übertragbarkeit diskutiert sowie einen Ausblick auf weiterführende Forschungsdesiderate enthält. Auf der Grundlage der im zurückliegenden Kapitel diskutierten postkolonialen Verflechtungen stellen sich dabei insbesondere Fragen nach den Verantwortlichkeiten eines Forschungsprojekts wie des vorliegenden: Welche praktischen Notwendigkeiten ergeben sich hier und vor Ort in den Feldern der Theaterarbeit, Kulturpolitik und Wissenschaft?   Kommen wir zum Ende des einführenden Kapitels noch einmal auf den Titel meiner Studie zurück. Die gewählte Überschrift hebt die wesentlichen Spannungsverhältnisse hervor, die meinen Forschungsgegenstand charakterisieren: Als Zitat aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper stellt es selbst einen »Kulturexport bzw. -import« dar, immerhin handelt es sich bei Brecht um einen sowohl in Argentinien, als auch in der Türkei viel rezipierten europäischen Autor (vgl. Kap. 2), und spielt somit mit der Erwartungshaltung einer eurozentrischen Theatergeschichte, die sich stets auf die Bühnenkunst fokussiert und dabei die kulturellen Verhältnisse rund um die Bühne aus dem Auge lässt. Seine Zeile »Und man siehet die im Lichte« verweist folglich gleichzeitig auf die künstlerisch wahrgenommene Sichtbarkeit der Theaterräume in Istanbul und Buenos Aires, als auch – im mitschwingenden zweiten Teil des Verses »Die im Dunkel sieht man nicht« – auf deren autokratisch bedingte Unsichtbarkeit. Um die dortigen Theater überhaupt wahrnehmen zu können, so die zentrale These meiner Arbeit, muss ich sie in ein anderes Licht rücken, als das der Bühnen und ihrer Schein-Werfer: Ich rücke sie in das Licht ihrer kontextuellen Bedingtheiten und Entwicklungsfaktoren, das Theater ins Licht der Stadt, die Stadt ins Licht des Theaters.

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2. Theatergeschichte(n)

Um meine Recherche der gegenwärtigen Verfasstheit der Theaterräume widmen zu können, beschäftige ich mich zunächst mit der Geschichte der Theaterräume in Buenos Aires und Istanbul: Ziel ist es die Entwicklung des Theaters allgemein und im Besonderen der einzelnen Theaterbereiche beider Städte aus ihrer Geschichte und damit ihrer So-Gewordenheit heraus zu verstehen. Im Sinne eines rekapitulierenden Erzählens vom Ende her – also vom gegenwärtigen Zustand retrospektiv zurückschauend – wird im vorliegenden Kapitel nicht nur eine Geschichte des argentinischen und türkischen Theaters erzählt, sondern zugleich durch die Perspektive des Theaters die Geschichte Argentiniens und der Türkei. Vorangestellt sei ein kurzer Überblick der Forschungsliteratur, die der im Kapitel erzählten Theatergeschichte der beiden Länder zugrunde liegt: Soweit vorhanden werden im Folgenden nationale wie internationale Studien gleichermaßen miteinbezogen und die dabei offensichtlich werdenden Lücken in der (Theater)Geschichtsschreibung sowohl Argentiniens als auch der Türkei aufgegriffen. Die Beschäftigung mit der argentinischen Theatergeschichte zeigt, dass ein Großteil der Forschungsliteratur, national ebenso wie international, überwiegend aus den Fachbereichen der Lateinamerikastudien, der Literaturwissenschaft und der Soziologie stammt und damit nicht explizit im theatertheoretischen Feld verwurzelt ist.1 Bei vielen Werken zur älteren oder jüngeren Geschichte des argentinischen Theaters handelt es sich lediglich um chronologische Auflistungen von Aufführungen oder um Anthologien von Theaterstücken, die entweder in voller Länge oder in Form kurzer Synopsen abgedruckt sind (vgl. Seibel 2012; Geirola/Proano

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So etwa die »Historia del Teatro Argentino I« Bd. I (2006) und Bd. II (2010), ein Hauptwerk der argentinischen Theatergeschichte, das von der argentinischen Soziologin Beatriz Seibel, eine der profiliertesten nationalen ForscherInnen im Feld der argentinischen Theatergeschichte, verfasst wurde. Oder die »Antologia de teatro latinoamericano (1950-2007)« der beiden SprachwissenschaflterInnen Lola Proano und Gustavo Geirola (2010). In der internationalen Literatur wurden Bücher zum Theater in Lateinamerika u.a. von der deutschen Literaturwissenschaftlerin und Romanistin Heidrun Adler (1991) oder der aus den USA stammenden Romanistin Judith A. Weiss (1993) veröffentlicht.

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2010; Gerado 1992). Bis auf wenige Ausnahmen werden unter dem Begriff »Theater« überwiegend Dramentexte und ihre jeweiligen AutorInnen behandelt: Sozialoder gar stadträumlichen Betrachtungen von Theatern fehlen weitgehend (vgl. Dubatti 2014; Pelletieri 1994, 2010; Seibel 2006, 2010).2 Die deutsche und argentinische Sekundärliteratur unterscheidet sich in ihren Inhalten nicht maßgeblich, bis auf die Tatsache, dass es im Deutschen keine umfangreiche Publikation zur argentinischen Theatergeschichte gibt und sich lediglich vereinzelt Kapitel als Part des lateinamerikanischen Theaters oder des »Welttheaters« finden (vgl. Adler 1991; Fiebach 2016). Die Ergebnisse meiner Literaturrecherche zur türkischen Theatergeschichte spiegeln politische Entwicklungen innerhalb der Türkei wider, auf die ich im zweiten Abschnitt des vorliegenden Kapitels (vgl. Kap. 2.2) näher eingehen werde. Vorwegnehmen möchte ich die Beobachtungen, dass sich zum einen nur vereinzelt Überblickswerke zur osmanischen/türkischen Theatergeschichte finden (vgl. Metin 1964, 1987);3 dass sich jedoch zum anderen auf dem Lehrplan der Institute für Dramaturgie an türkischen Universitäten oftmals eine verstärkte Schwerpunktsetzung auf europäische Theatergeschichte und -theorie feststellen lässt.4 Ein Grund hierfür könnte der bereits erwähnte von Republikgründer Atatürk angestrebte Bruch mit der osmanischen Kultur und forcierte Verwestlichungsprozess des Landes seit 1923 sein. Die internationale Aufarbeitung der türkischen/osmanischen Theatergeschichte nehme ich als rudimentär wahr; sie beschränkt sich auf einige wenige Werke, wie etwa eine mehrbändige Veröffentlichung der österreichischen Theaterwissenschaftler Michael Hüttler und Hans Ernst Weidinger zum Kulturtransfer zwischen Osmanischem Reich und Europa (2016) oder der bereits erwähnten Studie der deutsch-türkischen Theaterwissenschaftlerin Melike Alpargin (2013).5

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Ausnahmen sind bspw. eine Studie zur Bewegung des Teatro Comunitario, herausgegeben u.a. von der Soziologin Romina Sanchez. Darin wird neben den Inszenierungen auch die politische und soziale Bedeutung dieses »Nachbarschaftstheaters« untersucht. Als weitere Ausnahme sei eine Monographie des Soziologen Ruben Bayardo zur Geschichte des Off-Theaters in der Stadt Buenos Aires von seinen Anfängen 1929 bis Ende der 1990er Jahre angeführt: »El Teatro ›Off Corrientes‹: ¿Una alternativa estetico-cultural?« (Bayardo 1999). And Metin, studierter Jurist und späterer Professor für Theatergeschichte an der Universität in Ankara, befasste sich als einer der ersten bereits in den 1960er Jahren mit der türkischen Theatergeschichte. So z.B. Prof. Dr. Özdemir Nutku, der sich insbesondere mit deutschem Theater und dem Autor Berthold Brecht befasst oder Prof. Dr. Sevda Şener, eine der bekanntesten türkischen Theaterwissenschaftsprofessorinnen, die u.a. zur Geschichte des Welttheaters forscht. Alpargin ergründet in ihrer Promotion die Verhältnisse des Osmanischen Theaters anhand einer Vielzahl einzelner Zitate und Zeitzeugen-Interviews, die vom osmanischen Türkisch ins Deutsche übersetzt sind (Alpargin 2013).

2. Theatergeschichte(n)

Letztlich fällt sowohl in Hinblick auf die argentinische als auch die türkische Theatergeschichte der letzten 30 Jahre eine begrenzte wissenschaftliche Aufarbeitung auf, weshalb ich in beiden Fällen fast ausschließlich auf Interviewaussagen von ZeitzeugInnen zurückgreife.

2.1.

Fern- und Heimweh: Eine Geschichte des argentinischen Theaters

»Theatre was imported from Europe. It wasn’t established by the Indios, the »puebles originarios«, as we say today. It was the imperials, who brought the theatre. Later, […] the theatre of the porteños was built by the immigrants coming from different cultures in Europe. In Buenos Aires, we took the best from every theatre, from German theatre, from Italian, from Spanish […]« (Interview mit R. Szuchmacher am 25.08.2014). Die Geschichte des argentinischen Theaters ist eng verknüpft mit der Kolonisation des Landes im 16. Jahrhundert durch die SpanierInnen und die im 19. Jahrhundert einsetzende Immigration hunderttausender MigrantInnen aus Europa. Doch ob, wie vorliegendes Zitat besagt, vorher tatsächlich keine indigene Theaterkultur bestand, das bleibt zum Zeitpunkt der Publikation vorliegender Studie vor dem Hintergrund fehlender Quellen eine offene Forschungsfrage. Das Anliegen des vorliegenden Abschnitts besteht darin, zu klären, unter welchen Umständen sich die verschiedenen Bereiche des kommerziellen, staatlichen und Off-Theaters zu bestimmten Zeitpunkten in der Geschichte entwickeln konnten, wer diese Theater auf Grundlage welcher Motivation gründete und im Kontext welcher Regierungsepoche sie jeweils gefördert oder gar zensiert wurden. Wie im nachfolgenden Abschnitt zur türkischen Geschichte bildet die Darstellung differenzierende Verweise der Reflexion und Weiterführung im Sinne einer besseren, zusammenhängenden Lesbarkeit in Form von Fußnoten ab.

2.1.1.

Besitznahme und Unabhängigkeit: Theater vor und nach der Kolonialzeit

Ab 1502 legten die Schiffe der SpanierInnen am Ufer des Rio de la Plata an. Damit begann die Geschichte der spanischen ErobererInnen auf dem Gebiet des heutigen Argentiniens. Um das Land zu kolonialisieren, wurde auf dem sumpfigen Gebiet eine Stadt errichtet: Buenos Aires; die Stadt der »guten Lüfte« – ein Name, der mit Blick auf die Lage am braunen Gewässer selbstironisch anmutet. Über die indige-

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ne Bevölkerung, welche das Gebiet um das spätere Buenos Aires vor Ankunft der SpanierInnen besiedelt hatte, finden sich kaum Informationen.6 Nach der Gründung durch die spanischen KolonisatorInnen 1536 bildete Buenos Aires über zwei Jahrhunderte einen Außenposten im spanischen Weltreich, einen Umschlagplatz für SklavInnen, ein Schmugglerparadies fernab der spanischen Kolonialbehörde, die im tausende Kilometer entfernten Lima residierte (vgl. König 2006).7 In meiner Literaturrecherche zum Theater in diesen Jahrhunderten stieß ich ausschließlich auf Informationen, welche den gesamten lateinamerikanischen Kontinent betrafen: Die spanischen Konquistadoren setzten bei ihrer Ankunft auf eine Auslöschung der kulturellen Identität der UreinwohnerInnen und damit auch ihrer Theaterformen8 , um so ihr eigenes Herrschaftssystem zu etablieren. Antriebskraft und Auftrag zugleich war die Missionierung zum christlichen Glauben (vgl. Fiebach 2015: 218f.).9 Aufgrund der fehlenden Geschichtsschreibung seitens der Indigenen finden sich kaum Quellen, die Auskunft darüber geben, ob trotz der Unterdrückung durch

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In einigen wissenschaftlichen Abhandlungen wurde lediglich darauf hingewiesen, dass ein erster Versuch der Kolonisierung durch die SpanierInnen zu Beginn des 16. Jahrhunderts an den Übergriffen der indigenen Bevölkerung scheiterte. Wie es den SpanierInnen letztlich gelang, den Widerstand der Indigenen bei der zweiten Grundsteinlegung 1580 zu brechen, oder, ob überhaupt erneuter Widerstand vorhanden war, wurde in der Literatur nicht weiter behandelt (vgl. Werz 2002; König 2006; Seibel 2006). Buenos Aires und ebenso die umliegenden Provinzen wurden zwischen 1536 und 1776 verwaltungstechnisch dem spanischen Vizekönigreich Peru zugeteilt. Im Vergleich zu Regionen in Peru oder Mexiko bot das Gebiet des heutigen Argentiniens keine bemerkenswerten Bodenschätze, wodurch der Fokus der Eroberer eher auf den nördlichen Regionen Lateinamerikas lag. Lima bildete die Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru, zu dem bis 1776 auch Argentinien zählte (vgl. König 2006). In der der heutigen Forschung geht man davon aus, dass es sich bei den Theaterformen der indigenen Völker um ein nicht textbasiertes Theater handelte, das mit Mitteln des Tanzes, prächtiger Kostüme und Masken weltliche und sakrale Themen szenisch darstellte (vgl. Fiebach 2015: 219f. oder Seibel 2006: 15). Im Zuge dieser Missionierung wurden einige der vorhandenen szenischen Darstellungen der vormodernen Kulturen radikal umfunktioniert und gar als Mittel der Missionierung eingesetzt. Die Missionare hatten in den Darstellungen Parallelen zu den in Europa bekannten, groß angelegten Theaterformen der christlichen Passions-, oder Osterfestspiele erkannt, in denen der Bevölkerung über Bilder und Darstellung beispielsweise die Leidensgeschichte Jesu vermittelt wird. »Man deutete indianische Feste zu christlichen Feiertagen um, besetzte sie mit christlichen Symbolen und biblischen Erzählungen und versetzte (verschmolz) Aspekte des religiösen Theaters Europas mit indianischen Choreographien und Kostümierungen, ausgeführt von IndianerInnen unter strenger Zensur der Texte durch die Mönche«, schreibt der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach (2015: 220). Das Missionarstheater bestand auf argentinischem Gebiet bis zur Vertreibung der Jesuiten Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Seibel 2006: 33).

2. Theatergeschichte(n)

die KolonisatorInnen eine unabhängige indigene Theaterkultur fortwirken konnte.10 Eine weitere Erklärung für diese Lücke in der Geschichtsschreibung könnte das mangelnde Verständnis der spanischen Kolonialherren gegenüber den Theaterformen der Indigenen sein: Die theatralen Praktiken der Indigenen wurden von ihnen nicht als »Theater«11 (an-)erkannt. Über ein Fortleben der indigenen Theatertradition kann folglich nur spekuliert werden. Doch auch zum Theater der KolonisatorInnen und ihrer Nachkommen ist wenig bekannt: Zum einen spielten sich theatrale Aktivitäten hinter verschlossenen Türen in den Universitäten ab und richteten sich damit nicht an die Öffentlichkeit. Zum anderen wurden anscheinend spanische Tourneegruppen eingeladen, die auf städtischen Plätzen und in Sälen spielten (vgl. Weiss 1993: 129). Eigene Kompanien wurden erst nach und nach vor Ort aufgebaut (vgl. Fiebach 2015: 221).12 Diese Form von Theater richtete sich überwiegend an die herrschende Schicht und »dürfte […] bis zum 18. Jahrhundert dieselbe gesellschaftsstabilisierende Funktion wie in Spanien erfüllt haben, indem es den Wertekodex der herrschenden adeligen Oberschicht in immer neuen Variationen auf die Bühne brachte« (ebd.: 222). Der älteste schriftliche Nachweis eines Theaters in Buenos Aires findet sich in einem Beleg zur Errichtung des ersten Theatergebäudes der Stadt Ende des 18. Jahrhunderts, das Teatro de la Ranchería (vgl. Ulanovsky et al. 2012). Dieses Theater wurde 1783 zu einem Zeitpunkt errichtet, als Buenos Aires nach einer Neuformierung des spanischen Imperiums 1776 Verwaltungshauptsitz des neu gegründeten Vizekönigreichs La Plata (bestehend aus dem späteren Bolivien, Uruguay, Paraguay und Argentinien)und zudem offiziell anerkanntes Handelszentrum wurde. Damit erlangte die Stadt neben einer wirtschaftlichen, erstmals auch eine politische und repräsentative Bedeutung; möglicherweise stellte dies einen Anlass für den Bau des Theaters dar. Eine Zäsur in der Geschichte von Buenos Aires bildete die Auflösung des spanischen Kolonialimperiums: 1810, im Zuge der Mairevolution, ließ die kreolische13 10

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Es finden sich lediglich einige wenige Informationen, beispielsweise zu den Stammesriten und Zeremonien der im fernen Hinterland Argentiniens lebenden Stämme der Selk-Nams, welche im 19. Jahrhundert ausgelöscht wurden (vgl. Seibel 2006: 16). Was die Kolonialherren unter »Theater« verstanden, ist aus heutiger Sicht nicht zu belegen und bleibt spekulativ. Als wesentlicher Unterschied zur zeitgleichen theatergeschichtlichen Entwicklung in Europa kann jedoch die auch weiterhin ohne Textvorlagen ablaufende performative Praxis angenommen werden. Eigene Stücke nach europäischem Muster wurden zwar entwickelt, doch selten gezeigt (vgl. Fiebach 2015: 221f.). Kreolisch meint die in Argentinien geborenen Nachkommen europäischer EinwandererInnen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stammten die KreolInnen in Argentinien überwiegend von den spanischen KolonisatorInnen ab. Erst im Laufe der Einwanderungswellen aus ganz Europa begann sich der Begriff »Kreole« oder »Kreolin« auch auf die Nachkommen anderer europäischer Länder zu beziehen. Weiterhin existiert noch die Bezeichnung »MestizInnen«.

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Bevölkerung an der Plaza de Mayo, dem Stadtzentrum von Buenos Aires, die Unabhängigkeit ausrufen.14 Die Befreiung aus der spanischen Kolonialherrschaft bedeutete für Argentinien ebenso wie für die umliegenden Territorien eine Neuordnung des lateinamerikanischen Kontinents, die mit einer Auslotung der Machtansprüche und der physischen Grenzen zwischen den einzelnen Provinzen einherging.15 Der Prozess bis zur Gründung der Republik Argentinien dauerte mehrere Jahrzehnte. Erst 1853 wurde ein argentinischer Nationalstaat gegründet. Die endgültige politische Abkehr von Spanien 1816 ging mit kulturellen Brüchen einher. Die Orientierung an Europa blieb zwar bestehen, doch die iberische Dramatik und Spielweise wurden insbesondere durch Stücke der französischen Klassik und Aufklärung ersetzt. Auch wenn sich die Theaterkultur dadurch vor allem inhaltlich wandelte, veränderte sich doch nicht ihre Zielgruppe: eine elitäre, gebildete Schicht europäischer Abstammung, eingeschlossen KreolInnen und MestizInnen. Diese Schicht dominierte nicht nur als BesucherInnen die Theaterhäuser, sondern bestimmte zudem die Orte, an denen Theater errichtet wurden, und vor allem auch die Stoffe, die auf der Bühne gezeigt werden durften (vgl. Weiss 1993: 128).

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Damit sind die Kinder/Nachkommen eines europäischen und eines indigenen Elternteils gemeint. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich das Verhältnis zum spanischen Mutterland verändert: Ideale der Freiheit wie sie in der Unabhängigkeitserklärung der nordamerikanischen Staaten sowie der Französischen Revolution in Erscheinung traten, beeinflussten die Bevölkerung in den spanischen Kolonien. Zudem war das spanische Mutterland durch heftige innen-, wie außenpolitische Kämpfe erschüttert, die sich auch in den Kolonien in Übersee bemerkbar machten.Seit 1797 konnte Spanien wirtschaftlich die nötigen Im-, und Exporte des lateinamerikanischen Kontinents nicht mehr kompensieren und musste seinen Kolonien daher das Recht auf Handel mit anderen Ländern genehmigen. 1806 landeten englische Truppen in Buenos Aires, um die Stadt und die Provinz einzunehmen; die erfolgreiche Verteidigung übernahm ausschließlich die kreolische Bevölkerung von Buenos Aires, wodurch sich bei jener erstmals ein lokales Selbstbewusstsein unabhängig von Spanien formierte. Die KreolInnen bildeten die gesellschaftlich dominierende Schicht in der Stadt, die spanischen Beamten, als Kolonialbehörde eingesetzt für die Verwaltung des Königreichs, spielten hingegen eine relativ unbedeutende Rolle (vgl. König 2006: 213). 1813 spaltete sich Paraguay von Spanien ab; 1815 wurde Bolivien dem Vizekönigreich Peru angegliedert und Uruguay setzte seine Autonomie-Bestrebungen fort. Übrig blieb das Gebiet der sog. Vereinigten Provinzen von La Plata, das ungefähr dem heutigen Argentinien entspricht. Die einzelnen Provinzen erkannten Buenos Aires jedoch nicht als Hauptstadt an. Stattdessen bildeten sich weitere autonome Provinzen und kleine Republiken wie die Republik Tucumán (1819) oder die Republik Entre Ríos (1820). Die einzelnen Provinzregionen wurden oftmals durch die sog. Caudillos (»Anführer/Oberhaupt«) regiert: Autoritär herrschende, institutionell nicht verankerte Personen, deren Macht auf ihrer Anhängerschaft beruhte. Der Typus des Caudillos tritt in der argentinischen Politik bis heute als politische Figur in Erscheinung, wie sich später noch zeigen wird (vgl. Waldmann 1978: 194).

2. Theatergeschichte(n)

Im 19. Jahrhundert wurde von den Staatsgründern der argentinischen Republik ein demografisches sowie wirtschaftliches Wachstum forciert. Ziel war der Ausbau der Agrarwirtschaft, der Industrie und des Handels. Die Maxime der Staatsgründer lautete dementsprechend: »Gobernar es poblar« – »Regieren heißt bevölkern«.16 Die Anwerbung von MigrantInnen fand ausschließlich in Europa statt, da die Politik der noch jungen Nation davon überzeugt war, dass das wirtschaftliche Wachstum, der Fortschritt und die Modernisierung Argentiniens nur durch die Europäisierung und damit Zivilisierung des Landes möglich sein würde (vgl. Werz 2012: 19). Betrug die Bevölkerung Argentiniens zu Beginn des Jahrhunderts gerade mal 500.000 EinwohnerInnen, zählte Argentinien ein Jahrhundert später bereits acht Millionen: Tausende ItalienerInnen, SpanierInnen, PolInnen, Deutsche, BritInnen wanderten im Laufe des 19. Jahrhunderts, insbesondere zwischen 1870 und 1914, mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Argentinien ein (vgl. Werz 2012: 25). In Buenos Aires bildeten sich spanische, italienische, deutsche etc. Communities. Grenzten sich diese zu Beginn durch eine betonte Zurschaustellung mitgebrachter ethnischer Eigenheiten besonders voneinander ab, entwickelte sich diese Selbst-Ethnisierung im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr zu einem ethnischen Schmelztiegel, einem »gesamtgesellschaftlichen Hybrid«, wie es der argentinische Regisseur Raphael Spregelburd in Hinblick auf das argentinische Theater formuliert (Spregelburd 2002: 11).17 Während der argentinische Staat auf der einen Seite eine Einwanderung aus Europa propagierte, wurde auf der anderen Seite die indigene und schwarze Bevölkerung – letztere war durch den Sklavenimport während der Kolonialzeit in die Stadt gelangt – im Zuge von Kriegen und Epidemien zugunsten des europäischen und zivilisierten Anscheins ausgelöscht (vgl. König 2006). Die »weiße« Identität wurde zum identitätsstiftenden Merkmal des Nationalstaats Argentinien, eines künstlichen Konstrukts, das auf einer Vielzahl an Nationalitäten und anderen Zugehörigkeiten fußte.18 Um die nationale »weiße« Identität zu stärken, wurde ein Bild des inneren Feindes generiert. Die Folge: eine vollständige Ausrottung der im lateinamerikanischen Vergleich verhältnismäßig geringen Zahl von Indios (vgl. Osterhammel 2009: 503). Doch nicht nur physisch fand eine Ausrottung statt, auch 16 17

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Der Ausspruch wurde durch den argentinischen Politiker Juan Bautista Alberdo (1810 -84) geprägt (vgl. Werz 2012: 19). Ein Beispiel für diese Form der Selbst-Ethnisierung und die damit einhergehende Folklorisierung eines kulturellen Erbes wäre etwa aus dem Bereich des Theaters der Sainete (vgl. Kap. 2, Fn. 22), welcher durch spanische EinwandererInnen nach Argentinien gelangte und dort zunächst innerhalb der spanischen Community zur Aufführung gebracht wurde, sich nach einigen Jahrzehnten jedoch gesamtgesellschaftlich etabliert hatte. So stammte etwa Ende des 19. Jahrhunderts über 80 Prozent der Stadtbevölkerung von Buenos Aires aus Europa (vgl. Quiano 2008: 211).

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können kaum (schriftlichen) Zeugnisse kultureller Praktiken der indigenen Bevölkerung oder Nachkommen schwarzer SklavInnen, die über lange Zeit in Buenos Aires lebten, ausfindig gemacht werden. Argentinien verstand sich als »weiße Siedlungskolonie« (Osterhammel 2009: 191). Kulturell zeichnete sich dies auf zweierlei Ebenen ab: zum einen durch die europäischen EinwandererInnen, welche die Kultur ihrer jeweiligen Heimatländer auch in Argentinien praktizierten und sich von einer indigenen und kreolischen Bevölkerungsschicht zu distanzieren versuchten. Der peruanische Soziologe Anibal Quiano schreibt dazu: »They [the immigrants] did not immediately enforce the national identity, instead preferring their own European cultural differences, while at the same time explicitly rejecting the identity associated with Latin America‘s heritage and, in particular with the indigenous population« (Quiano 2008: 211).19 Die zweite Ebene betraf die argentinische Oberschicht: Diese, dominiert von einer kreolischen Minderheit, identifizierte sich mit der Zivilisation und Warenwelt Englands und Frankreichs: »Da man Fortschritt mit ›Ausland‹ gleichsetzte, war man grenzenlos bereit, ausländische Waren als Symbole für Modernität zu interpretieren […]«, schreibt der Soziologe Jürgen Osterhammel (2009: 348). Einen europäischen Lebensstil zu pflegen wurde zum Merkmal der Schichtzugehörigkeit. In Buenos Aires wurden in dieser Zeit zahlreiche Theaterhäuser errichtet, meist entworfen in Anlehnung an europäische Theaterarchitekturen, ausgestattet mit sog. Proszeniumsbühnen20 , wie z.B. das Teatro Colón (1852): Gezeigt wurden hier die Gastspiele großer europäischer Kompanien und SolokünstlerInnen.21 Zugleich entwickelte sich in den ärmeren Schichten, insbesondere durch die EinwandererInnen aus Spanien, eine eigene Form des Theaters: Volkstümliche Stücke im Stile

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Auch wenn Argentinien oft als »Verlängerung Europas« betrachtet wurde, war es doch in den Augen der EuropäerInnen ehemalige Kolonie und Peripherie. Daher lehnten viele der EinwandererInnen auch Jahre nach ihrer Ankunft die argentinische Staatsbürgerschaft ab und behielten stolz ihre europäische Ursprungsnationalität (vgl. Osterhammel 2009). Proszenien, die der Architektur- und Kunsttheorie sowie -praxis der Renaissance entstammen, zeichnen sich durch drei grundlegende Merkmale aus: Sie sind illusionistische Guckkastenbühnen, die den Zuschauerraum und die Bühne entlang eines Bühnenportals und oftmals durch eine Orchestra, einen Orchestergraben klar trennen; die optische und akustische Gestaltung des Gesamtraums fokussiert die Blick- und Hörwinkel der ZuschauerInnen auf die Bühne und dort meist auf einen eindeutigen Fluchtpunkt; Seiten- und Hinterbühnen werden der Wahrnehmung des Zuschauers dagegen entzogen (vgl. Hesse/Marx/Förster 2012). Zwei der prominentesten SolistInnen dieser Zeit gastierten in den 1890er und 1900er Jahren regelmäßig in der »Neuen Welt«, dabei immer wieder auch in Buenos Aires. Gemeint sind die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt und der italienische Heldentenor Enrico Caruso (vgl. Ulanovsky et al. 2012).

2. Theatergeschichte(n)

der »Sainete Criollo«22 oder des »Costumbristo«23 wurden auf kleineren Bühnen in der Stadt fernab der großen Theaterhäuser der Eliten gespielt (vgl. Fiebach 2015).24

2.1.2.

Autokratie und Widerstand im 20. Jh.: Kulturpaläste und das Theater der Hinterhöfe

Das Argentinien des 20. Jahrhunderts ist von politischer Instabilität geprägt, die der Politikwissenschaftler Nikolaus Werz in seiner Studie »Argentinien« (2012) als einen »Gegensatz zwischen konservativer Restauration und Formen von Massendemokratie« beschreibt (Werz 2012: 49). Während die Jahre 1912 bis 1930 von »Modernisierung und Demokratisierung« (ebd.) geprägt waren,25 änderte sich dies 1930 durch einen Staatsstreich, in dessen Folge konservative Regime unter wechselnden scheindemokratisch gewählten Präsidenten herrschten.26 Auslöser für diesen Putsch waren der Rückgang der aus-

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Angelehnt an die Sainete, ein ursprünglich aus Spanien stammendes heiteres Volksstück in Form eines Einakters, entwickelte sich in Argentinien die sog. Sainete Criollo, welche mit Elementen des Zirkus und musikalischen Einlagen arbeitet (vgl. Seibel 2006: 81). Criollo bezieht sich auf die in Amerika geborenen SpanierInnen. Die Literaturwissenschaftlerin Heidrun Adler schreibt: »Die sainete criollo verbindet in grotesker Form komische und tragische Elemente, indem es das Leben der Immigranten zuerst spöttisch, später sozialkritisch thematisiert« (Adler 1991: 25). Ähnlich der Sainete stammt auch der Costumbrismo ursprünglich aus Spanien. Der Costumbrismo thematisiert Sitten und Bräuche einer Gesellschaft und widmet sich nicht zuletzt auch ihrer kritischen Darstellung; daraus ergeben sich im argentinischen Costumbrismo Themenfelder wie Alkoholismus, Verlust der Ehre, Ehebruch, Generationskonflikte (vgl. Kohut 2002: 11). So baute sich etwa die italienische Einwanderfamilie Podestá seit den 1880er Jahren ein aus mehreren Spielstätten bestehendes Theaterimperium auf, das sich an die einfachen EinwandererInnen richtete (vgl. Seibel 2008: 332). Als charakteristisch für das Theater der Podestás galt zum einen die Verwendung von Zirkuselementen – die Brüder Podestá hatten eine Ausbildung am Zirkus absolviert – zum anderen die Cocoliche, eine spanische-italienische Mischsprache, die insbesondere von den EinwanderInnen gesprochen wurde (vgl. Weiss 1993: 125). Gut 60 Jahre nach Gründung der argentinischen Republik bahnten sich in den 1910er Jahren die ersten Demokratiebestrebungen an; bis dahin wurde das Land ausschließlich durch die konservativ-liberale Partei der argentinischen Oberschicht, die Partido Autonomista Nacional/Nationale Autonomisten Partei (PAN) regiert. 1916 fanden die ersten freien Wahlen statt. Die Unión Cívica Radical (UCR), die Partei der Mittel- und Arbeiterschicht, gewann diese Wahl und leitete damit einen ersten Machtwechsel ein. Von da an gelangten die Konservativen im gesamten 20. Jahrhundert durch keine freie Wahl mehr an die Macht (vgl. Werz 2012: 25). 1930 war General Uriburu durch einen Putsch ins Amt gelangt; es folgte eine Reihe konservativer Präsidenten, welche alle in unterschiedlichen Funktionen am Putsch von 1930 gegen den damaligen Präsident Hipólito Yrigoyen (1916-22 und 1928-30), welcher der Oppositionspartei UCR angehört hatte, beteiligt waren: Agustín Justo (1932-38) und Roberto Ortiz (1938-42), de-

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ländischen Investitionen während und nach dem Ersten Weltkrieg, die steigende Arbeitslosigkeit der 1920er Jahre und schließlich die Wirtschaftskrise von 1929. In dieser Zeit veränderten sich auch die Spielpläne der großen Theaterhäuser: Hatten die Theaterimpresarios in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihre Unterhaltungsstücke noch mit politischen Anspielungen und Botschaften versehen, verschwanden diese, nachdem die konservative Regierung in den 1930er Jahren die Schließung einiger Theaterhäuser (vgl. El Maipo oder El Nacional) angeordnet hatten. Die Zensur erfolgte über Umwege: Theater wurden aufgrund von Missachtung der Hygiene, der Sicherheitsvorkehrungen oder der Schließstunden geschlossen (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 124). Als Reaktion auf die politische und wirtschaftliche Lage, aber ebenso im Hinblick auf die Lage der Theater, gründete sich 1930 das »Teatro del Pueblo«27 (Theater des Volkes), das im Rückblick als das erste sog. »Teatro Independiente« (Unabhängiges Theater) Argentiniens gilt. »Independiente« (unabhängig) bezog sich dabei auf die Unabhängigkeit von Staatlichkeit, die Unabhängigkeit von kommerziellen TheaterunternehmerInnen, sowie auf die Unabhängigkeit von einzelnen Schauspielstars, den sog. »Grandes Figuras« (vgl. Bayardo 1999). Teil des Teatro Independiente zu sein, bedeutete, jeglichen Kontakt mit dem konventionellen Theater und seiner Regime-Konformität aufzugeben, jedoch damit auch den Verlust einer möglichen Einnahmequelle durch etwaige Rollenangebote aus dem kommerziellen Sektor (vgl. Bayardo 1999: 34). Das Ansinnen des Teatro del Pueblo war: »Un teatro culto, en contacto con el mundo y con temas universalistas« – Ein Theater für alle, das im Austausch mit der Welt und universellen Themen steht (Bayardo 1999: 33). Es sollte ein modernes, kosmopolitisches und intellektuelles Theater sein, das sich an das Volk richtete und es durch einen oftmals didaktischen Stil erzog. Zu diesem Zwecke wurden u.a. im Anschluss an jede Aufführung öffentliche Diskussionen mit den ZuschauerInnen geführt (vgl. Interview mit R. Bayardo am 01.08.2014).28

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ren demokratisch scheinende Wahlen beide durch massiven Wahlbetrug überschattet waren und im Folgenden Ramon Castillo (1942-43) und Pedro Ramírez (1943-44). Die Zeit zwischen 1930 und 1944 ging in die argentinische Geschichte als sogenannte »Década Infame«/»infame Dekade« ein (vgl. Werz 2012: 43). Das Teatro del Pueblo war zum einen ein physischer Ort, der unter der Leitung von Leónida Barletta seine Türen in der Avenida Corrientes öffnete, zum anderen war es der Ausgangspunkt einer ganzen Bewegung. Aufgrund der sozio-politischen Verhältnisse der damaligen Zeit fand mit dem Teatro del Pueblo erstmals eine Emanzipation weg vom bis dahin bestehenden konventionellen argentinischen Theater statt. Die neue Bewegung orientierte sich zwar ähnlich wie das konventionelle Theater an Europa und Amerika, doch handelte es sich hier um zeitgenössische künstlerische Strömungen (vgl. Adler 1991: 26). Gezeigt wurden Stücke der europäischen und amerikanischen Avantgarde (u.a. August Strindberg, Eugene O´Neill, Bernard Shaw), ebenso argentinische Stücke, die oftmals wie z.B. bei Roberto Arlt eine groteske Sozialkritik beinhalteten (vgl. Adler 1991: 7). Auch wenn ei-

2. Theatergeschichte(n)

Das Teatro del Pueblo suchte nach neuen Produktionswegen und revolutionierte die bis dahin in Buenos Aires gängige Bühnenästhetik. Die vierte Wand29 wurde aufgelöst, das Dekor aus bemalten Kartons erstellt, die in verschiedenen Inszenierungen immer wieder zum Einsatz kamen. Diese Art von Theater basierte nicht wie zum Beispiel das Teatro Colón auf Repräsentation, sondern stellte vielmehr ein Kollektivprojekt der Beteiligten dar, das auf möglichst simple und kostengünstige Art und Weise mit performativen Mitteln experimentierte und durch diese mit dem Publikum in Austausch trat. Viele der mitwirkenden SchauspielerInnen, AutorInnen und RegisseurInnen waren aufgrund der Wirtschaftskrise von 1929 arbeitslos – das Geld für große Produktionen fehlte. Das Teatro Pueblo war ein gemeinsames Projekt, an dem sich jeder Teilnehmende zugleich künstlerisch, technisch, organisatorisch etc. beteiligte. Keiner verdiente seinen Lebensunterhalt mit der Arbeit am Theater, dafür waren die Einnahmen zu gering (vgl. Bayardo 1999: 32). Parallel zum Teatro Independiente und den bereits über ein Jahrhundert existierenden privaten Unterhaltungstheatern, entwickelte sich ebenfalls in den 1930er Jahren ein staatlich gefördertes Theater. Schon im Jahr 1924 war auf Zuspruch des damaligen Präsidenten Marcelo Alvear (1922-28) das erste nationale Konservatorium für Musik und Schauspiel eröffnet worden. 1933 beschloss der amtierende Präsident, Militärgeneral Agustín Pedro Justo (1932-38), der nationalen Theaterkompanie eine Spielstätte zur Verfügung zu stellen: Das 1921 privat gegründete, mittlerweile insolvente Teatro Cervantes wurde per Gesetz zum argentinischen Staatstheater (vgl. Seibel 2011: 25). Der Spielplan des Teatro Cervantes wurde unter Kontrolle der vom Staat eingesetzten Comisión Nacional de Cultura (nationale Kulturkommission) entwickelt (vgl. ebd.). Interessant ist die Beobachtung, dass sich die Staatsführung zu einem Zeitpunkt dem Aufbau eines Nationaltheaters widmete, als das oppositionelle Teatro Independiente entstand. Das öffentlich geförderte

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ne detaillierte Betrachtung der ästhetischen Formen der einzelnen Theaterbereiche ebenso wie der Dramentexte nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, möchte ich dennoch an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich insbesondere die Komödienform der Groteske wie ein roter Faden durch die argentinische Theaterliteratur zieht. Begründen ließe sich ihr Auftreten mit der Permanenz der autokratischen Regime und der damit verbundenen vorherrschenden Zensur: Durch Mittel der komödiantischen Verzerrung und Persiflage von Macht und deren Mechanismen ermöglicht die Groteske eine auf den ersten Blick unverdächtige Darstellung der Wirklichkeit, die erst bei näherer Betrachtung ihr subversives Potential offenbart und auf diesem Weg eine drohende Zensur geschickt umgeht. Die sog. »Vierte Wand« bezeichnet einen in der Theorie des naturalistischen Theaters Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Gedanken: Der bis heute in Theaterwissenschaft und -praxis gebräuchliche Begriff bringt das Ideal einer psychologisch-realistischen WeltSimulation im Rahmen einer in sich geschlossenen Bühne auf den Punkt. Das TheaterSpielen soll so realitätsnah werden, als ob es kein Publikum mehr gäbe (vgl. Roselt 2005: 262).

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Theater bildete damit einen staatlich kontrollierbaren Gegenpol zum immer populärer werdenden, privat organisierten Teatro Independiente. Auch die Eröffnung des ersten städtischen Theaters 1944 unter dem Militärregime von Präsident Pedro Pablo Ramírez lässt sich vermutlich als Reaktion der damaligen konservativen Regierung auf das Teatro Independiente verstehen. Im Jahr 1946 hatte nach drei Jahren Militärherrschaft erstmals wieder eine demokratische Wahl in Argentinien stattgefunden: Als Sieger ging Juan Perón (194655) hervor. Ein Präsident, der während seiner Amtszeit kultische Verehrung genoss und bis heute im Land als Ikone gefeiert wird (vgl. Werz 2003: 51).30 Obgleich demokratisch gewählt, begann auch Perón, ähnlich wie viele der autokratischen Präsidenten vor ihm, einen Feldzug gegen das Teatro Independiente, da er meinte, in ihm einen Keim für eine mögliche Oppositionsbewegung zu erkennen. Auf seine Veranlassung hin durften die Gruppen des Teatro Independiente keine städtischen Säle für Aufführungen mieten, Spielpläne wurden abgeändert und viele SchauspielerInnen mit einem Berufsverbot belegt (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 124). Von nun an wurden die Aufführungen des Teatro Independiente in kleinen, meist improvisierten Räumlichkeiten, oftmals in Wohngegenden, gezeigt: »Es wird chic, in einem Kleinbürgerviertel, in einem Kellerraum oder einer Garage den neusten O’Neill, Shaw oder Sartre zu sehen«, schreibt die Romanistin Heidrun Adler (1991: 29). Während Perón auf der einen Seite das Teatro Independiente unterdrückte, förderte er auf der anderen Seite das staatliche Theater: Dieses konzentrierte sich auf nationale argentinische Dramatik, die sich mit sozialen Themen und der Stärkung der argentinischen Identität beschäftigte. Die Ausrichtung der Spielpläne spiegelte dabei die Förderung des argentinischen Nationalismus wider, welchen Perón während seiner Präsidentschaft auf populistische31 Art und Weise zu etablieren versuchte und welcher in dieser Form bis dato nicht existiert hatte (vgl. Pelletieri 2010: 13ff.). Weiterhin könnte Peróns Förderung eines staatlichen Theaters als 30

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Bis heute wirkt der nach ihm benannte Perónismus in die argentinische Politik hinein. Parteien und PolitikerInnen beziehen sich auf den Perónismus oder bezeichnen sich selbst als Perónisten, vgl. die Präsidenten Carlos Menem (1989-1999) oder Néstor Kirchner (2003-2007). Dabei stehen Name und Marke Peróns, ebenso wie der seiner zweiten Frau Evita, im Vordergrund, eine einheitliche ideologische Linie oder gar eine Definition des Perónismus, bleibt oft aus. Mit der Partei der Peronisten, Partido Peronista, erreichte Perón die Massen und stellte damit von 1946 an die zweite große Massenpartei neben der bereits genannten UCR. Der anhaltende Erfolg dieses nationalpopulistischen Regimes lässt sich u.a. darin begründen, dass es nicht als repräsentativ für eine gesellschaftliche Schicht verstanden wurde, sondern auf der »Integration breiter Bevölkerungsschichten unter einer politischen Führerfigur« beruhte (vgl. Werz 2003: 45ff.). »Populistisch« ist in vorliegender Arbeit wie folgt definiert: »Populistisch nennt man die Versuche von Teilen der herrschenden politischen Elite, das unaufgeklärte Bewusstsein des ›kleinen Mannes‹ zum Zwecke der Machterhaltung zu missbrauchen« (Drechsler et al. 1992: 647).

2. Theatergeschichte(n)

Teil der durch ihn initiierten »sozialstaatlichen Politik«32 verstanden werden: ein öffentlich gefördertes Theater als staatlicher Service für das Volk. Im Hinblick auf die politischen Repressionen gegen das Teatro Independiente ist aber vielmehr anzunehmen, dass vor allem ein staatlich konform agierendes Theater als Gegenpol zum oppositionell empfundenen Teatro Independiente etabliert werden sollte. Die Theaterschaffenden des Teatro Independiente organisierten sich in dieser Zeit der fortwährenden Repressionen neu: Seit den 1960er Jahren entwickelten sich sog. Theaterwerkstätten, die nicht öffentlich zugänglich waren. Im Kollektiv wurde mit bestimmten szenischen Ausdrucksmöglichkeiten, wie mit denen des Volkstheaters, des Dokumentartheaters ebenso wie der amerikanischen Avantgarde, experimentiert (vgl. Adler 1991: 30). Die Form der »Werkstatt«, eine Experimentierstube, ermöglichte den Beteiligten mehr Freiheit im Vergleich zu den der Öffentlichkeit zugänglichen Spielstätten.33 Militärdiktatur (1976-83) Obwohl seit den 1930er Jahren immer wieder diktatorische Regime an die Macht gelangt waren, breitete sich mit der Regierungsübernahme durch die Militärjunta 1976 nochmals ein weitaus restriktiveres Klima im Land aus. Bis 1984 wurde Argentinien durch die Schreckensherrschaft einer Militärjunta regiert, innerhalb derer sich verschiedene Generäle ablösten. Dabei wurde radikal gegen jegliche Form der Opposition vorgegangen; zahlreiche Menschen wurden gefoltert und verschwanden. Es wurde nicht nur »Handlung, sondern schon Haltung bestraft«, wie es die Literaturwissenschaftlerin Heidrun Adler beschreibt (Adler 1991: 34).

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Perón setzte sich für eine Änderung der Sozialstruktur innerhalb Argentiniens ein, wodurch zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen insbesondere für die einfachen ArbeiterInnen auf dem Land und in der Industrie bewirkt wurden, wie beispielsweise die Einführung einer Arbeitergewerkschaft, die Verstaatlichung des Bildungswesens oder des öffentlichen Transportsystems (vgl. Plotkin 2003). Beeinflusst waren die Theaterschaffenden der Off-Szene von surrealistischem und absurdem Theater, ebenso wie durch das Brechtsche Theater und die zu diesem Zeitpunkt in den USA aufkommenden »Happenings«; vgl. hierzu die Arbeit am 1958 gegründeten Instituto di Tella in Buenos Aires, einem Institut zur Förderung der Künste und Sozialwissenschaften, das mit der Diversität eben dieser szenischen Ausdrucksmöglichkeiten experimentierte (vgl. Adler 1991: 32). Zeitgleich etablierte sich in Argentinien ebenso wie in anderen Ländern Lateinamerikas ein sog. »Nuevo Teatro Popular«, welches auf die gesellschaftspolitische Rolle von Theater bedacht war, um mit selbigem, wie es Fiebach (2015) bezugnehmend auf die britische Theaterwissenschaftlerin Judith Weiss (1993) formuliert, »gesellschaftliche Mechanismen, nicht zuletzt den Klassencharakter sozioökonomischer Verhältnisse, zu sezieren und Theater fest in den Prozess sozialer Veränderungen einzubauen« (Fiebach 2015: 450). In seinen Strukturen setzte die neue Bewegung auf Kollektivität: Die kollektive Schöpfung, die sog. »Creacíon Colectiva«, in der die SchauspielerInnen kollektiv Text und Aufführung erarbeiten (vgl. ebd.).

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Viele der Theaterschaffenden standen auf einer schwarzen Liste, wurden verfolgt oder befanden sich im Exil. Das konventionelle Theater existierte als öffentliches Angebot weiter. Das Teatro Independiente bestand überwiegend als literarische Aktivität der Stück-AutorInnen fort; zu Aufführungen kam es nur noch selten: AutorInnen umschrieben die Wirklichkeit in einer metaphorischen Sprache und veröffentlichten unter Pseudonymen. Nur die »informierten« RezipientInnen verstanden die Metaphern und wurde so zu KomplizInnen der Kritik am System (vgl. Pellitieri 1994: 133). Darüber hinaus nahm die Zahl der privat angebotenen Schauspielklassen in dieser Zeit zu. Diese Klassen fungierten, wie es der argentinische Soziologe Ruben Bayardo beschreibt, teilweise als Treffpunkt für RegimekritikerInnen, jedoch vielmehr als eine Art gruppendynamisches psychotherapeutisches Angebot zur gemeinsamen Bewältigung kollektiver, durch die Militärjunta ausgelöster Traumata für die Leute (vgl. Bayardo 1997: 37). Während es bereits seit 1977 zu den ersten Protestbewegungen gegen das Regime kam (vgl. z.B. die Madres de la Plaza de Mayo34 ), formierte sich der offensive Protest im Theater und damit auf der Bühne erst 1981: das »Teatro Abierto« (dt. offenes Theater). Dabei handelte es sich um einen Zusammenschluss von TheatermacherInnen, die sich gegen das Regime stellten und deren Ziel ein »offenes Theater für eine geschlossene Gesellschaft« war (Adler 1991: 33). Von 1981 bis 1984 gestaltete das Teatro Abierto in regelmäßigen Abständen an verschiedenen Orten – teils sogar in Theaterhäusern – in der Stadt für jedermann offen zugängliche Veranstaltungen. Die Militärjunta stellte sich nicht offen gegen das Teatro Abierto, jedoch wird ein Brandanschlag auf das Teatro Picadero, einer Spielstätte des Teatro Abierto, der Militärregierung zugeschrieben und damit indirekt als Reaktion gewertet (vgl. Bayardo 1997). Die Inszenierungen des Teatro Abierto waren schlicht gehalten: wenige bis gar keine Bühnenumbauten, kaum Requisiten, der Umbau erfolgte immer vor Publikum, es traten nur wenige Figuren auf. Zum einen lag das an den fehlenden Ressourcen – man war auf Spenden und die niedrigen Einnahmen aus dem Ticketverkauf angewiesen – zum anderen sollte das Theater durch seinen Inhalt überzeugen und nicht durch eine aufwendige Ausstattung. Pro Abend wurden drei Einakter gezeigt, die sich mit dem damaligen Alltag der ArgentinierInnen in der Militärdiktatur auseinandersetzten. In grotesken und allegorischen Bildern wurden Themen wie beispielsweise Macht und Unterdrückung im System ebenso wie das ungeklärte Verschwinden von Personen behandelt (vgl. Adler 1991: 33ff.).

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Die »Madres de la Plaza de Mayo«, die »Mütter der Verschwunden« (der Desaparecidos), ziehen seit 1977 bis heute wöchentlich einmal stumm, mit weißem Kopftuch bedeckt um den zentralen Plaza de Mayo, um so ihren Protest gegen das frühere Regime und die bis heute fehlende strafrechtliche Aufarbeitung zum Ausdruck zu bringen.

2. Theatergeschichte(n)

In der Literatur heißt es des Öfteren, dass das Teatro Abierto keine ästhetischen Besonderheiten hervorbrachte (vgl. Bayardo 1999; Adler 1991). Jedoch stellt sich die Frage, ob nicht die Reduzierung der theatralen Mittel auf das Wesentliche auch eine Art der ästhetischen Besonderheit darstellte. Sicher ist jedoch, dass das Ziel des Teatro Abierto keine ästhetische Reform des damaligen Theaters war, ebenso wenig wie ein Auflehnen gegen das konventionelle Theater oder gar ein gewollter Anschluss an die aktuellen Strömungen im Rest der Welt; Ziel war es vielmehr, künstlerisch auf das vorherrschende politische System zu reagieren und sich dagegen aufzulehnen. 1983 endete die Diktatur. Trotz des Versammlungsverbots hatten sich große Massenproteste formiert, die schließlich die Militärjunta aus dem Amt treiben konnten. Während die Zeit des Teatro Abierto damit endete, weil der innere Feind, gegen den es sich aufzulehnen galt, verschwunden war, entwickelte sich aus einer gegen Ende der Diktatur im Stadtteil La Boca (Buenos Aires) stattfindenden Theaterveranstaltung eine landesweite, bis heute existierende Bewegung, das sog. »Teatro Comunitario«35 : 1983 hatte der aus Uruguay stammende und in Buenos Aires lebende Theatermacher Adhemar Bianchi (*1945) gemeinsam mit den BewohnerInnen des Viertels Catalinas Sur im Arbeiterstadtteil La Boca eine Inszenierung entwickelt, welche entgegen dem damaligen Versammlungsverbot auf einem öffentlichen Platz in La Boca gezeigt wurde und schließlich zu einem Straßenfest mit Musik-, Tanz- und Theaterelementen mutierte (vgl. Interview mit Edith Scher am 23.07.2014). Nach Ende der Diktatur setzte Bianchi seine Arbeit in La Boca fort und gründete die Gruppe Catalinas Sur. Im Fortlauf der Arbeit werde ich nochmal ausführlicher auf das Teatro Comunitario in seiner heutigen Form und vor allem in Abgrenzung zum Teatro Independiente zu sprechen kommen.

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Aus der wissenschaftlichen Literatur übernehme ich die Begriffsverwendung »Movimiento« (Bewegung) für das Teatro Comunitario (vgl. Scher 2010, Proano 2013 oder Sanchez et.al. 2014). Als Teatro Comunitario werden Theatergruppen bezeichnet, die sich aus den BewohnerInnen eines Stadtviertels generieren, um gemeinsam Stücke zu erarbeiten. Im Vordergrund steht das soziale Miteinander, das Zusammenkommen der NachbarInnen, das einen kreativen Prozess ermöglicht, ebenso wie die inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweils aktuellen Problemen der BewohnerInnen. Vorbild war und ist der brasilianische Theatermacher Augusto Boal und seine Theorie des »Theater der Unterdrückten«. Mit seinen Theorien erfuhr Boal (1931-2009) ab Mitte der 1970er Jahre auch in Europa und den USA eine starke Rezeption. Sein Konzept geht von zwei Grundsätzen aus: Der Zuschauer als passives Wesen und Objekt soll zum Aktivisten der Handlung werden. Das Theater soll sich nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern ebenso mit der Zukunft und deren Möglichkeiten. Als »unsichtbares Theater« kann und soll es sich virusartig ausbreiten und eine soziale Bewegung verursachen, die die bestehenden politischen Verhältnisse kippt (vgl. Boal 1990).

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2.1.3.

Post-Autokratie und der Ausverkauf Argentiniens: Theater-Frühling ab 1983

Mit dem Ende der Diktatur 1983 schlug Argentinien den Weg Richtung Demokratie ein. Der erste demokratisch gewählte Präsident Raúl Alfonsín (1983-89; Unión Cívica Radical) leitete juristische Verfahren gegen die Militärs der Diktatur ein und begann mit der Aufarbeitung der Verbrechen.36 Viele AutorInnen und TheatermacherInnen kehrten aus dem Exil zurück. Rubén Szuchmacher (* 1951), Autor, Regisseur und Schauspieler beschreibt die Jahre nach 1983 wie folgt: »Es war eine Zeit der Erholung von den Schrecken der Diktatur, die Erleichterung der Menschen war zu spüren. Endlich nicht mehr den uns ständig umgebenden Tod zu spüren, linderte die Schmerzen, die uns widerfahren waren« (vgl. Interview mit R. Szuchmacher am 24.08.2014).37 Im Theater, insbesondere im Teatro Independiente, aber auch in den staatlichen Theatern beschäftigten sich die TheatermacherInnen mit der Aufarbeitung der Diktatur. An den öffentlich geförderten Theatern wurden bewusst Stücke und AutorInnen gewählt, welche die Rückkehr zur Demokratie symbolisch unterstrichen.38 Im Teatro Independiente hingegen wurden die traumatischen Ereignisse während der Militärdiktatur konkret thematisiert wie zum Beispiel das Verschwinden von tausenden Menschen, den sog. »Desaparecidos« (Verschwundenen) (vgl. Tahna 1999: 214).39 1989 trat Präsident Alfonsín wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage des Landes und den daraus resultierenden Massenprotesten zurück. Sein Nachfolger Carlos Menem40 (1989-99; Peronistische Partei) setzte auf eine neoliberale Wirt-

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Damit war Alfonsín der erste Präsident eines lateinamerikanischen Landes, der diesen Schritt wagte. In anderen Ländern wie Chile oder Bolivien, die eine ähnliche Geschichte bezüglich Diktaturen erlebt hatten, erfolgte bis heute keine konsequente Auseinandersetzung mit dieser Zeit der Schreckensherrschaft (Werz 2012: 37). Das Interview fand teilweise auf Deutsch statt. 1984 wurde beispielweise am Teatro San Martín »Galileo Galilei« von Bertholt Brecht oder am Teatro Cervantes »El Campo« von der aus dem Exil zurückgekehrten argentinischen Autorin Griselda Gambaro gezeigt (Interview mit R. Szuchmacher am 25. Aug. 2014) Ein Beispiel hierfür ist »Cinco Puerta« vom Teatro Libre unter Leitung von Omar Pachecho oder »Paso de dos« von Eduardo Pavlovsky (vgl. Tahna 1999: 214). Carlos Menem stammt aus der Partei der Perónisten. Mit populistischen Ansprachen trat er in die Fußstapfen seines Parteivaters Perón. Menem präsentierte sich in seinem Wahlkampf mit Symbolen wie dem Poncho und Slogans wie »Siganme«/»Folgt mir«. Statt Sozialstaatlichkeit, auf die u.a. Perón in seinem Regierungsprogramm gesetzt hatte, ermöglichte Menem in seiner Amtszeit umfassende Privatisierungsmaßnahmen staatlichen Eigentums (vgl. Werz 2003: 55).

2. Theatergeschichte(n)

schaftspolitik. Er privatisierte staatliches Eigentum und leitete den »Ausverkauf« Argentiniens ein (vgl. Werz 2012: 40).41 Der kurzweilige Wohlstand, der sich daraus für die argentinische Bevölkerung ergab, löste auch bei TheatermacherInnen des Teatro Independiente den Wunsch aus, finanziell von diesem Zustand zu profitieren. Rubén Szuchmacher, Inhaber des El Kafka, beschrieb die damalige Situation so: »At these days [1990er Jahre] Argentina officially had money, the exchange rate was one peso to one dollar. People wanted to be part of the prosperity of the country and that’s why actors of the independent theatres protested. In order to save its face the state passed a law, ley 24800, which states the public support of independent theatres, the INT [Instituto Nacional de Teatro]. I’m not sure if the country had more money in 1997 than now. But we lived in a kind of illusion« (Interview mit R. Szuchmacher am 25.08.2014). Mit dem sogenannten »Ley 24800« verabschiedete die argentinische Regierung 1997 ein Gesetz, das eine staatliche Förderung des Teatro Independiente vorsah. Noch im selben Jahr wurde für die Organisation der Vergabe vom argentinischen Staat das INT (Instituto Nacional de Teatro) gegründet. Nur zwei Jahre später beschloss die Stadtregierung von Buenos Aires die Förderinstitution Proteatro zu etablieren. Mit der staatlichen Förderung wollte die Regierung gewissermaßen das Gesicht wahren. Täuschte sie dem Volk auf diese Weise doch eine florierende Wirtschaft und einen wachsenden Reichtum vor. In Wahrheit zögerte die Regierung unter Carlos Menem den sich bereits in den 1980er Jahren ankündigenden Staatsbankrott durch Einnahmen hinaus, die sie durch umfangreiche Privatisierungen staatlicher Betriebe und Institutionen in den 1990er Jahren erzielten. Eine nachhaltige Lösung zur Regeneration der argentinischen Wirtschaft blieb jedoch aus (vgl. Werz 2012: 40).

2.1.4.

(Neo)Liberalisierung und die Wirtschaftskrise 2001: Boom der Off-Theater

2001 – Menem war bereits 1999 aufgrund des öffentlichen Drucks zurückgetreten – stand Argentinien nach Jahren der wirtschaftlichen Rezession vor dem Staatsbankrott. Der Staat konnte seine Schulden nicht mehr begleichen und erklärte sich für zahlungsunfähig: Alle Bankguthaben wurden eingefroren. Infolge kam es zu Massenprotesten seitens der Bevölkerung. Drei Präsidenten gelangten innerhalb eines 41

Im Zuge dessen wurden das öffentliche Verkehrsnetz oder die Stromversorgung ebenso privatisiert wie staatseigene Ländereien. KäuferInnen entstammten der reichen argentinischen Elite oder kamen aus dem Ausland (vgl. Werz 2012: 40).

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Jahres ins Amt. Erst unter Staatspräsident Néstor Kirchner (2002-08), der den Auswirkungen der Wirtschaftskrise mit einer Umschuldung begegnete und damit die Rückzahlungen Argentiniens an seine Gläubiger massiv reduzierte, gelangte wieder etwas Stabilität in das Land.42 Doch die soziale Ungleichheit hatte sich für große Teile der Bevölkerung verschärft: Armut war nicht mehr nur ein Problem der Unterschicht, sondern erreichte auch große Teile der Mittelschicht, die sich, laut dem Soziologen Peter Waldmann, mit dem sozialen Abstieg konfrontiert sahen (Waldmann 2010: 127).43 Die Wirtschaftskrise von 2001 stellte eine Zäsur in der argentinischen Geschichte dar, die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachte und sich auf alle Theaterbereiche in Buenos Aires auswirkte: Der Betrieb der öffentlichen Theater stagnierte, wie Alberto Ligaluppi, Generaldirektor des städtischen »Complejo Teatral de Buenos Aires«, im Interview berichtet. Das Theater sei auf »Sparflamme« weitergeführt, Gehälter nur noch teilweise gezahlt worden. Dank der günstigen Tickets wären jedoch weiterhin ZuschauerInnen gekommen. Die Leute wollten ins Theater gehen, wollten eine Ablenkung vom Elend des Alltags, so Ligaluppi (vgl. Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Viel drastischer noch als die öffentlichen Institutionen hatte die Krise die kommerziellen Theater getroffen, von denen viele laut Sebastian Blutrach, Inhaber des kommerziellen Teatro Picadero, vor dem Aus gestanden hätten. Die Kaufkraft der ZuschauerInnen fehlte, die Gagen der SchauspielerInnen konnten nicht mehr gezahlt werden, viele der kommerziellen Theater wären in dieser Zeit Konkurs gegangen, so auch das Teatro Picadero unter Blutrachs Vorgänger (vgl. Interview mit S. Blutrach am 20.03.2016). In dieser Zeit der wirtschaftlichen Not setzte ein Boom der Off-Theater ein: Bedingt durch die Wirtschaftskrise, von der nicht nur die öffentlichen und kommerziellen Theater, sondern auch Film und Fernsehen betroffen waren, begannen 42

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Nestór Kirchner gehörte einem Flügel der gespaltenen Peronisten-Partei an. Ähnlich wie Perón und Menem setzte auch Kirchners Politik auf Populismus. Im Vergleich zu Menem setzte sich Kirchner allerdings wieder gegen die soziale Ungleichheit ein und propagierte seine Nähe zu den einfachen trabajadores (ArbeiterInnen). Kirchner wurde 2007 durch seine Ehefrau Christina (2008-15) im Präsidentschaftsamt abgelöst. Fernandez de Kirchner setzte den politischen Kurs ihres Mannes fort und profitierte in ihrer Amtszeit nicht zuletzt durch die post mortem ansteigende Beliebtheit und Ikonisierung ihres toten Mannes als Landesvater. Néstor Kirchner verstarb 2010, vgl. etwa die Darstellung im Dokumentarfilm »Néstor Kirchner, la película«, der 2012 landesweit in den argentinischen Kinos ausgestrahlt wurde. Waldmann schreibt in diesem Zusammenhang von den »neuen Armen […] einer sehr heterogenen, sozialen Mischung aus Lehrern, Rentnern, öffentlichen Angestellten, Kleinunternehmern und cuenta propistas (Handwerkern, die meist schwarzarbeiten)« (Waldmann 2010: 127). Im Jahr 2001/02 galten 40 % der argentinischen Bevölkerung als von Armut betroffen, schreiben die argentinischen SoziologInnen Gabriel Kessler und Maria Di Virgilio (vgl. Kessler/Virgilio 2008: 96).

2. Theatergeschichte(n)

viele der nun arbeitslosen SchauspielerInnen und RegisseurInnen über eine alternative Beschäftigung nachzudenken. Oftmals folgte daraus die Entscheidung ein eigenes kleines Theater zu eröffnen, so Norma Montenegro, Inhaberin des Teatro del Abasto, das infolge der Krise 2002 eröffnet hatte (vgl. Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014). Existierten nach Aussage einiger meiner InterviewpartnerInnen bis Ende der 1980er/90er Jahre nur knapp 20 Off-Theater in Buenos Aires, begann ihre Zahl seit der Wirtschaftskrise stetig zu steigen: »From 2001 on, a multitude of small theatres was popping up everywhere in the city. There was no money to make theatre, so they made it everywhere, some of them just temporarily, some others stayed just for a while or still exist«, so der argentinische Schauspieler und Regisseur Nico Schneider (Interview mit N. Schneider am 20.07.2014). Die finanziellen Möglichkeiten waren begrenzt, Bühnen wurden dort implementiert, wo sich etwas Raum bot, im Zimmer einer Privatwohnung ebenso wie in leer stehenden Gebäuden. Als Beispiel wurde in diesem Zusammenhang einige Male Timbre 4 genannt. 2001 hatte der Regisseur Claudio Tolcachir einen Teil seines eigenen Wohnhauses im Stadtteil Boedo als Spielstätte umfunktioniert, um vor Ort arbeiten zu können. ZuschauerInnen läuteten bei der Klingel Vier (Timbre 4), um Einlass zu erhalten. Timbre 4 ist bis heute im selben Haus beheimatet, wurde jedoch mit den Jahren immer weiter ausgebaut. Der Name Timbre 4 blieb als Referenz an die Anfänge des Theaters bestehen. Die Umnutzung des eigenen Wohnraums stellte scheinbar eine gängige Praxis auch in anderen Bereichen dar, wie die beiden argentinischen SoziologInnen Gabriel Kessler und Maria Di Virgilio in einem Artikel zu den sozialen Folgen der Wirtschaftskrise von 2001 schreiben: »Oftmals werden im Haus oder im Wohnumfeld Änderungen vorgenommen, um kleine produktive Räume, wie zum Beispiel Werkstätten oder kleine Geschäfte, ausbauen zu können« (Kessler/Virgilio 2008: 102f.). Doch nicht nur die Zahl der Off-Theater wuchs in den Jahren nach der Wirtschaftskrise um ein Vielfaches, auch der Kreis der Theaterschaffenden selbst. Personen aus theaterfernen Berufen, teils in der Krise arbeitslos geworden, begannen bei oft ebenfalls arbeitslosen SchauspielerInnen Unterricht zu nehmen und gemeinsam Produktionen zu entwickeln, so der Soziologe Ruben Bayardo. Jeder/jede, der/die sich für Theater interessierte und sich engagierte, konnte teilnehmen. Während sich dadurch für die professionellen SchauspielerInnen eine Einnahmequelle auftat, bot dieses Angebot für alle anderen Mitwirkenden die Möglichkeit sozialer Teilhabe inmitten einer krisenhaften Zeit: kreative Beschäftigung, die Beständigkeit regelmäßiger Treffen, sowie das Gefühl einer stabilen Gemeinschaft in einer unsicheren Welt (vgl. Interview mit R. Bayardo am 01.08.2014). Und noch eine weitere Gruppe begann in diesen Jahren zu wachsen: Im Zuge der Wirtschaftskrise gründeten sich in verschiedenen Stadtteilen von Buenos Aires weitere Gruppen, die dem bereits an anderer Stelle erwähnten Teatro Comunita-

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rio (T. C.) zugerechnet werden können u.a. in Boedo (2001), Villa Urquiza (2002), Floresta (2002) oder Villa Crespo (2006). Edith Scher, Leiterin des T. C. im Stadteil Villa Crespo, erklärt das so: »After the crises many people felt lost, they were looking for community« (Interview mit E. Scher am 23.07.2014). Das gemeinsame Credo dieser Gruppen: »Un Teatro de la comunidad y un teatro para la comunidad« – ein Theater von der Gemeinschaft, ein Theater für die Gemeinschaft (Scher 2010: 7).

2.2.

Bilderverbot und Staatsgewalt: Eine Geschichte des türkischen Theaters

Noch tiefgreifender als in Argentinien scheint die Theatergeschichte der Türkei von Hin- und Abwendungsprozessen zu Europa bestimmt. Insbesondere der radikale politische Kurs- und Systemwechsel der Atatürk- und nun wiederum der ErdoganJahre verdient in diesem Zusammenhang eine nähere und kritische Betrachtung: Die Darstellung historischer Entwicklungslinien und -traditionen wurde und wird im Rahmen dieser Regierungsperioden nahezu komplett rekontextualisiert und umgewertet. Vor dem Hintergrund postkolonialer Forschungsansprüche beweist allein dieser Umstand, wie wichtig neue Versuche einer Verzahnung von Theaterund politischer sowie überhaupt der Zusammenhangsdarstellung türkischer Geschichte grundsätzlich und für meine Arbeit sind.

2.2.1.

Luxus oder Subversion: Theater im Osmanischen Reich

Die heutige Türkei bildet das Kerngebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs (1299-1918), eines Vielvölkerstaats, der zeitweilig von Bagdad im Osten bis zum Balkan im Westen reichte. Die Mehrheit der Bevölkerung ebenso wie die Machtelite des Reichs war islamisch-sunnitisch, die »andersgläubigen« Minderheiten – u.a. GriechInnen, ArmenierInnen, Juden/Jüdinnen – wurden toleriert, jedoch erhielten sie nicht die gleichen Rechte und traten in der Öffentlichkeit kaum auf.44 In der osmanischen Kultur existierten performative Formen wie das Spiel mit Puppen oder Schatten, ebenso wie das Erzählen von Geschichten auf öffentlichen Plätzen (vgl. And 1964; Hüttler/Weidinger 2013-16). Ein Theater, wie es sich seit der Antike in Europa entwickelt hatte, fand sich aufgrund des im Islam vorherrschenden Abbildungsverbots jedoch nicht: Der tragische Held der Antike, wie ihn 44

Zur Unterstützung dieser Aussage lassen sich verschiedene Darstellungen der osmanischen Geschichte bemühen (vgl. u.a. Matuz, 2010; Douglas 2018). Bei näherer Betrachtung der Geschichte einzelner Ethnien bzw. einzelner Herrschaftsepochen lassen sich zwar Unterschiede und Differenzierungen ablesen; die getätigte Aussage zum Binnenverhältnis der türkischstämmigen und islamischen Bevölkerung gegenüber anderen Ethnien bleibt davon aber unberührt.

2. Theatergeschichte(n)

Aristoteles in seiner »Poetik« zeichnet (vgl. Aristoteles 2006), mit dem sich die Zuschauerin bzw. der Zuschauer während der Aufführung identifizieren sollte, war im Islam verboten (vgl. Raddatz 2008: 14ff.). Meine Literaturrecherche ergibt jedoch, dass diese Form von Theater durchaus im privaten Rahmen zur Aufführung gebracht wurde: Zum einen finden sich Anhaltspunkte dafür, dass beispielsweise in den christlichen Gemeinden der ArmenierInnen eine eigene Theaterkultur im Privaten praktiziert wurde (vgl. And 1964). Ähnlich wie bei den performativen Formen der indigenen Völker in Argentinien liegen jedoch keine genaueren Ausführungen vor, die Aufschluss über die Theaterpraxis von entsprechenden Minderheiten erlauben würden. Zum anderen fanden ebenfalls im Privaten und damit unter Ausschluss der Öffentlichkeit Vorstellungen am Hofe des osmanischen Sultans statt; dabei handelte es sich je nach Präferenz des herrschenden Sultans um Tourneegruppen unterschiedlicher europäischer Länder (vgl. And 1964). Die Leidenschaft für europäisches Theater ging bei einigen Sultanen sogar so weit, dass sie sich Hoftheater nach europäischem Vorbild in ihren Palastanlagen errichten ließen.45 Das »Theaterverbot« traf nach Wahrnehmung der Sultane auf sie selbst als Oberhaupt des sunnitischen Islams und damit als »Herrscher über die Normalsterblichen« nicht zu (vgl. Ibric 2006). Theater im europäischen Sinne fand demnach immer hinter verschlossenen Türen statt, entweder in den Privaträumen christlicher Minderheiten oder am Hofe des Sultans. Damit war es lediglich für einen kleinen Teil der Bevölkerung zugängig. Eine Veränderung trat erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein: Nach militärischen und wirtschaftlichen Niederlagen, die die europäischen Mächte dem Sultanat versetzt hatten, leitete Sultan Abdülmecid I. (1839-1861) die sog. Tanzimat-Zeit (18391876)46 ein, welche zu Reformen u.a. im Bildungswesen, in der Verwaltung und

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Sultan Abdülmecid I. (1839-1861) ließ sich im Jahre 1858 ein Hoftheater nach westlichem Vorbild in die Nähe des Dolmabahçe Palastes bauen; Sultan Abdülhamit II. (1876-1909) ließ ein Theater direkt in seine Residenz, den Yildiz Palast integrieren (vgl. And 1964: 75). In letzterem zeigte beispielsweise die Kompanie des italienischen Theatermachers Ernesto Rossi 1889 die Inszenierungen »Othello« und »Kaufmann von Venedig« (vgl. ebd.). »Tanzimat« bedeutet Neuordnung; gemeint ist damit die Neuordnung des Osmanischen Reichs, das seit Ende des 18. Jahrhunderts durch militärische und wirtschaftliche Niederschläge gebeutelt war: Das Osmanische Reich galt als Militärstaat, der weder in eine Agrarwirtschaft noch in den Aufbau von Industrie investiert hatte. Der Wohlstand der Osmanen basierte über Jahrhunderte auf stetiger Expansion und damit erobertem Reichtum. Ende des 18. Jahrhunderts erfolgten die ersten militärischen Niederlagen und Gebietsverluste an die zu diesem Zeitpunkt militärisch überlegenen europäischen Mächte. Nicht zuletzt aufgrund von Krediten geriet das Osmanische Reich, zu dieser Zeit von den EuropäerInnen polemisch als »kranker Mann am Bosporus« bezeichnet, wirtschaftlich in die Abhängigkeit europäischer Mächte wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland (vgl. Buhbe 1996).

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im Rechtssystem führte, und zudem eine Liberalisierung und Öffnung des Reichs nach sich zog.47 Im Zuge der Liberalisierung wurden den Minderheiten im Osmanischen Reich erstmals Rechte zugestanden, die sie ihren muslimischen MitbürgerInnen gleichstellten (Reform aus dem Jahr 1856). In Folge eröffnete sich die Möglichkeit, dass ArmenierInnen, LevantinerInnen oder GriechInnen ihre Kultur in der Öffentlichkeit praktizieren konnten (vgl. Karal 2014); vor allem ArmenierInnen in Istanbul nutzten diese neu gewonnene Freiheit und eröffneten in der Hauptstadt einige Theaterhäuser, in denen Produktionen bald nicht nur auf Armenisch, sondern auch auf Türkisch gezeigt wurden.48 Die im Tanzimat veranlasste Öffnung bedeutete u.a. eine kulturelle Öffnung in Richtung Europa: Neben städtebaulichen und architektonischen Anlehnungen an Europa (vgl. z.B. den Bau des Dolmabahçe Palasts), begann insbesondere eine wohlhabende Schicht Gefallen an einem westlichen Lebensstil zu finden: Man orientierte sich an der europäischen Mode; Industrie- wie Prestigeprodukte aus Europa gelangten in das Osmanische Reich. Theater, Caféhäuser und Restaurants mit europäischer Kulinarik eröffneten, Gymnasien wie das Galataseray wurden gegründet, in denen SchülerInnen ihre Ausbildung auf Französisch genossen. Die breite Bevölkerung schloss sich diesem Wandel jedoch nur bedingt an (vgl. Kurt 1989; Köse 2006). Mit der Theaterpraxis begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine kulturelle Aktivität herauszubilden, die für die meisten Menschen im Osmanischen Reich vollkommen neu war. Laut Zeitzeugenberichten osmanischer TheatergängerInnen, die sich in einer Studie der deutsch-türkischen Theaterwissenschaftlerin Melike Alpargin (2013) wiederfinden, verfolgte man in Istanbul in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Idealvorstellungen eines westlichen Theaters, dem das osmanische Theater aufgrund fehlender Tradition und mangelnder Tradierung nur in Maßen genügen konnte. Die Aufführungen fanden auf extra errichteten Bühnen in Gasthäusern, Sälen oder Privaträumen statt. Der Spielbetrieb hatte sich den Bedingungen vor Ort anzupassen. Resultat waren viele Provisorien, insbesondere im Bereich der Bühnen- und Zuschauerräume, aber auch bei der Ausbildung von SchauspielerInnen und RegisseurInnen. Es gab überwiegend Tourneegruppen, die innerhalb der Stadt von einer Spielstätte zur nächsten zogen. Für die »theaterunerfahrenen« ZuschauerInnen wurden Benimmregeln herausgegeben, die das Essen 47

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Zudem wurden ein Sozialversicherungssystem eingeführt, sowie ein Zeitungswesen, das das erste Organ zur freien öffentlichen Meinungsäußerung darstellte. Beide Neuerungen bedeuteten ein Zugeständnis von ähnlichen Rechten an Muslime/Muslima wie NichtMuslime/Nicht-Muslima (vgl. Seufert 2004: 70). Bekanntheit erlangte hier vor allem ein Armenier namens Gülü Agop, welcher die erste türkisch-armenische Theaterkompanie gründete, die auf Türkisch produzierte und sich an ein gemischtes Publikum richtete (vgl. And 1964).

2. Theatergeschichte(n)

und Pfeifen im Theater verboten und das »richtige Verhalten« einer Zuschauerin bzw. eines Zuschauers erklärten (vgl. Alpargin 2013). Gezeigt wurden überwiegend europäische Stücke; erst langsam begann sich eine osmanische Dramatik zu entwickeln (vgl. Gürün 2009).49 Europa wurde durch seine wirtschaftliche und militärische Überlegenheit als Erfolgsmodell wahrgenommen, an dem es sich auch kulturell zu orientieren galt. Um die Wende zum 20. Jahrhundert erstarkten im Osmanischen Reich die nationalistischen, pan-türkischen Kräfte. Durch eine weitere Verfassungsänderung (1908) wurde eine parlamentarische Monarchie eingeführt und der Sultan endgültig entmachtet. Es folgte die Machtübernahme durch die Jön Türkler (= Jungtürken), einer politischen Gruppierung, die sich selbst als Partei der Einheit und des Fortschritts bezeichnete. Diese pan-türkische Bewegung unter der Führung der Generäle Mehmed Talaat, Ahmed Cemal und Ismail Enver, orientierte sich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts an der Idee des europäischen Nationalstaats: Analog sollte sich entgegen der kulturellen, ethnischen und religiösen Vielfalt des Osmanischen Reichs ein pan-türkischer Staat formieren, der als konstitutionelle Monarchie geführt wurde (vgl. Tibi 1998: 18f.). Die ethnischen Minderheiten, insbesondere ArmenierInnen, wurden von den Jungtürken oftmals als die Schuldigen für den Machtverlust der OsmanInnen bezeichnet und in Folge zu Opfern einer radikalen Ausrottungspolitik.50 Jegliche Form von kultureller oder ethnischer Andersartigkeit und damit jegliche Form von Pluralität wurde von staatlicher Seite unterbunden (vgl. GriechInnen-Verfolgung, Kurden-Kämpfe etc.). In Folge verschwanden die performativen Praktiken wie beispielsweise die der ArmenierInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aus

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Ähnlich wie in Argentinien zu Beginn des 19. Jahrhunderts handelte es sich auch bei den osmanischen Stücken zu Beginn um Adaptionen europäischer Stücke. Man vertrat die Meinung, dass es den türkischen SchriftstellerInnen nur durch den Akt des Adaptierens möglich war, irgendwann eigene Stücke zu verfassen: Nur die lang erprobte Theatertradition Europas böte die Möglichkeit, ein hochwertiges türkisches Theater entstehen zu lassen (vgl. Gürün 2009). In der Regierungszeit von Sultan Abdülhamid II. (1876-1909) wurden allerdings sowohl die europäischen als auch die osmanischen Stücke durch eine zunehmende Zensur bestimmt. Begriffe wie »Vaterland«, »Freiheit« oder »Streik« waren etwa im Theater verboten (vgl. And 1964). Bevorzugt wurde europäische Dramatik gespielt, die sich ausschließlich auf europäische Probleme bezog, nicht aber als Kritik am Osmanischen Herrscher verstanden werden konnte. Stücke wie »Macbeth« von William Shakespeare oder »Don Carlos« von Friedrich Schiller wurden ebenfalls verboten, da jegliche Assoziationen zwischen den darin vorkommenden Königsmorden und der Familie des Sultans vermieden werden sollte (vgl. ebd.). Den ArmenierInnen wurde beispielsweise eine Verbindung zu den RussInnen vorgeworfen, was Auslöser für den Genozid an ca. einer Million ArmenierInnen war (1915) (vgl. Barth 2006). Ein Völkermord, der bis heute in der Türkei über alle öffentlichen Instanzen hinweg geleugnet wird.

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der Öffentlichkeit. Die Jungtürken selbst propagierten ein nationales, türkisches Theater, das als politisches Instrument das Ideal eines pan-türkischen Staats verkündete. Wenn auch die Qualität der Stücke eher gering gewesen sei wie es bei dem türkischen Theaterhistoriker And Metin (1987) heißt, so erreichte dieses Theater im Vergleich zu den europäischen Stücken durch seine thematische Volksbezogenheit und Aktualität doch sehr viele ZuschauerInnen. Statt illusionistischer Inszenierungen überwogen offene und direkte Formen der einfachen Rezitation von Texten oder anderen Inhalten. Auch dieser Aspekt könnte dazu beigetragen haben, dass sich nun mehr Menschen für Aufführungsbesuche interessierten: Indem Inhalte überwiegend vorgetragen und weniger szenisch dargestellt wurden, erkannten die Leute möglicherweise eine Parallele zu der ihnen vertrauten Tradition des Geschichtenerzählens.51 Das europäische Theater blieb jedoch Vorbild. So erfolgte beispielsweise 1914 die Grundsteinlegung für das erste Istanbuler Schauspielkonservatorium, das Darülbedayi durch den Franzosen André Antoine, eine Schlüsselfigur des naturalistischen Theaters in Frankreich.52 Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive stellte sich mir die Frage, warum sich türkische TheatermacherInnen zu diesem Zeitpunkt vor allem für das europäische Illusionstheater des 19. Jahrhunderts interessierten, obwohl doch in Europa bereits Avantgardebewegungen wie Futuristen, Dadaisten oder Surrealisten mit ihrer Kunst die bürgerlichen Werte und die damit verbundene traditionelle Kunstauffassung versuchten zu sprengen (vgl. Zellner 2013: 22f.). Eine Antwort darauf finde ich bei der deutsch-türkischen Theaterwissenschaftlerin Zehra Ipsiroglu (2008), die das türkische Interesse für das Illusionstheater so erklärt: »Die türkischen Intellektuellen standen vor der Aufgabe, aufzubauen und nicht zu zerstören. […] Das Illusionstheater, die letzte Phase einer alten Tradition im Westen, war für das türkische Theater, dem die Probleme des technischen Zeitalters noch fremd waren, ein Ansatzpunkt« (Ipsiroglu 2008: 207f.; vgl. ebd.). Gemessen am Maßstab 51

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Als früheste und bedeutsamste performative Tradition des osmanischen Kulturkreises beschreiben verschiedene AutorInnen übereinstimmend das lebendige Erzählen von Geschichten. Durch das Bilderverbot des Islam konnte sich diese Tradition im Vergleich zu Theatertraditionen anderer Kulturkreise vergleichsweise lange entwickeln, stand doch die aktivierte Imagination der ZuhörerInnen im Gegensatz zur Illustration stärker visuell geprägter performativer Traditionen im Vordergrund. (vgl. u.a. Hüttler/Weidinger, Hans Ernst 2013-16; Metin 1964). André Antoine, Gründer des Théâtre Libre in Paris und Schlüsselfigur des naturalistischen Theaters in Frankreich wurde 1914 von Istanbuls damaligem Bürgermeister Cemil Pascha nach Istanbul eingeladen, um dort den Grundstein für ein Theater nach europäischem Vorbild zu legen. Antoine wird auf der Webseite des städtischen Theaters in Istanbul (vgl. https:// sehirtiyatrolari.ibb.istanbul/; 23.10.2018) als Gründer des städtischen Theaters in Istanbul genannt, sein Aufenthalt in Istanbul betrug allerdings nicht einmal zwei Monate (17. Juni 1914 bis 4. August 1914) (vgl. Metin 1987: 166).

2. Theatergeschichte(n)

der Entwicklung des mittel- und nordeuropäischen Theaters musste es den TürkInnen so vorkommen, als hätte ihre eigene Theatergeschichte gerade erst begonnen: Nach der Lockerung des islamischen Bilderverbots galt es, eine technische und künstlerische Tradition aufzuholen, die nach dem zeitgleichen Urteil vieler Avantgarde-KünstlerInnen in Europa längst an ihre Grenzen stieß.

2.2.2.

Theater und Propaganda: Atatürk und die Gründung des Nationalstaats

Das Osmanische Reich, das im Ersten Weltkrieg mit den Deutschen kooperiert hatte, zählte zu den Verlierern des Ersten Weltkrieges und musste den Verlust eines Großteils seiner Gebiete hinnehmen. Nachdem das ehemalige Imperium bereits auf dem Papier durch die Besatzungsmächte Großbritannien und Frankreich »zerstückelt« worden war, formierte sich 1919 unter Führung des osmanischen Generals Mustafa Kemal (später Atatürk = »Vater der Türken«) nationaler Widerstand. Nach und nach wurden Gebiete zurückerobert und unter Vorsitz Kemal Atatürks eine vom Inland bestimmte und schließlich vom Ausland akzeptierte Ersatzregierung etabliert, die mit den Besatzungsmächten über die Autonomie des Gebiets der Türkei verhandelte (vgl. Seufert 2004).53 Die Gründung der Türkei als Nationalstaat bedeutete für die Bevölkerung nicht nur einen politischen, sondern auch einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Die neue Staatsideologie basierte auf dem, nach Mustafa Kemal Atatürk benannten, sog. Kemalismus.54 Im Zuge der kemalistischen Reformpolitik wandelte sich die Türkei von einem stark religiös geprägten zu einem offiziell laizistischen Land. »Die Kleidung, das tägliche Leben, das Bildungswesen und das Rechtssystem wurden nach europäischem Vorbild gestaltet«, wie der Historiker Udo Steinbach schreibt (Steinbach 2012: 30); jedwede religiösen Instanzen im Land u.a. Koranschulen wurden aufgelöst (vgl. ebd.). Es kam zu einer strikten Trennung von Staat und Religion, wodurch der Islam weitgehend aus dem öffentlichen Leben verschwand. Offiziell rückte an die Stelle

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Atatürk gründete die türkische Republik, deren Grenzen schließlich im Friedensvertrag von Lausanne (1923) anerkannt und festgehalten wurden. Voraussetzung dafür war u.a. die Abdankung des letzten osmanischen Sultans, Murat VI., der sich 1922 ins Exil begeben hatte. Der Beginn dieses neuen Staates »Türkei« lässt die Ära der osmanischen Sultane sowie des osmanischen Kalifats enden. Bis dahin galt der osmanische Sultan automatisch als Inhaber des Kalifats und damit als Oberhaupt der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams. Durch diese Abdankung gab nicht nur der Sultan seine Position auf, zugleich verlor die Stadt Istanbul ihre Bedeutung als religiöses Zentrum der MuslimInnen (vgl. Buhbe 1996). Als Kemalismus wird die von Mustafa Kemal Atatürk eingeführte Politik und die von ihm propagierte Staatsideologie bezeichnet, welche sich u.a. maßgeblich auf Laizismus und Nationalismus stützt.

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des Islams ein stark propagierter türkischer Nationalismus, der dem Volk als eine Art Ersatzreligion dienen sollte. Identitätsstiftend war nicht länger die Religionszugehörigkeit, sondern die Nationalität. Atatürk stieß einen Verwestlichungs- und Modernisierungsprozess des Landes an, der mit der osmanischen Tradition brechen sollte: Während die Türkei nach dem Vorbild Europas den Weg der Moderne beschreiten sollte – fortschrittlich, zukunftsgewandt und demokratisch –symbolisierte das Osmanische Reich im neuen türkischen Nationalnarrativ ein rückwärtsgewandtes Imperium im Schatten Europas.55 Dass die Geschichte der Modernisierung bereits zu Zeiten der OsmanInnen im Tanzimat begonnen hatte, wurde bewusst ignoriert (vgl. Seufert 2004: 68). Im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen nach westlichem Vorbild56 propagierte Staatspräsident Atatürk u.a. ein nationales türkisches Theater, das seiner politischen Ideologie entsprach. Die osmanische Tradition des Puppen- oder Schattenspiels gehörte ebenso der Vergangenheit an wie das Theater der armenischen Minderheit, die im Pogrom von 1915/16 fast ausgelöscht wurde. Nun galt es, ein türkisches Theater aufzubauen: unter Einbeziehung europäischer Klassiker eine türkische Nationaldramatik zu konstruieren – ein neues Theater, das als Instrument zur Erziehung des Volkes in Richtung des modernen kemalistischen Staates dienen sollte (vgl. Interview mit Yavuz Pekman am 29.09.2010; vgl. Zellner 2013: 26). Teilweise ähnelten die Inhalte der Inszenierungen dem Parteiprogramm Atatürks. Beispielsweise wurde die von Atatürk propagierte gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frau auf der Bühne thematisiert. Im Zuge dessen wurden auch erstmals Frauen als Schauspielerinnen zugelassen. Stücke, die nicht der kemalistischen Ideologie, sondern beispielsweise dem Kommunismus nahestanden, wie die des Dichters Nâzim Hikmet, wurden zensiert (vgl. ebd.). Dieser Vorgang erinnert an den Wunsch Peróns, in Argentinien eine nationale Dramatik gemäß seiner Parteiideologie zu formen: Beide, Atatürk und Perón, ließen Stücke, deren Inhalt an sozialistisches Gedankengut erinnerten, zensieren. Neben den ideologisch akzeptierten Inhalten wurden unter Atatürk europäische Stücke von der Antike bis ins 20. Jahrhundert gezeigt, da auf diese Weise der von den Kemalisten gewünschte »Europäisierungsprozess« der Türkei auf kultureller Ebene vorangetrieben wurde.

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Anzunehmen ist, dass Atatürk, indem er die Türkei nach dem Vorbild eines europäischen Nationalstaats gestaltete, den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs signalisierte, dass das Land nicht den für den Westen so fremden »orientalischen« Weg gehen werde und das osmanische Erbe fortsetzen werde, sondern sich durch Reformen und Modernisierung zukünftig ideologisch an Europa orientiere. Atatürk erreichte damit für die Türkei im Vergleich zu Ländern wie Syrien, den Libanon oder den Irak eine größere politische Unabhängigkeit von den Siegermächten. Im Zuge dessen wurde u.a. die Scharia, das islamische Gesetz, durch eine neue, am europäischen Rechtssystem orientierte Gesetzgebung ersetzt (vgl. Kreiser 2008).

2. Theatergeschichte(n)

Um den Inszenierungsstil und die betriebliche Organisation der Theater zu »europäisieren«, wurden europäische TheatermacherInnen in die Türkei eingeladen, sowie türkische Theaterschaffende auf Auslandsreisen nach Europa geschickt (vgl. ebd.).57 Atatürk vertrat die Auffassung, dass ein türkischer Nationalstaat, der nach dem Vorbild europäischer Nationalstaaten gegründet wurde, auch ein nationales Theater wie in den europäischen Staaten benötigte: Von nun an wurde Theater kulturpolitisch durch den türkischen Staat gefördert, da es als Symbol westlicher Zivilisation und zugleich als Vermittlungsinstrument kemalistischer Ideologie verstanden wurde (vgl. ebd.). Entscheidend scheint jedoch weiterhin, dass Theatersäle einen sozialen Raum darstellten, der einen Ort der Zusammenkunft für die neue kemalistische Elite bildete: ein Ort, an dem Männer und Frauen sich gemeinsam aufhielten; ein Ort, der einen westlichen Lebensstil repräsentierte, welcher für Atatürk und seine AnhängerInnen als essenziell galt, um die Türkei in die Moderne zu führen. Das Theater könnte als »kemalistische Ablöse« der Moscheen verstanden werden, die bis dahin als soziale Versammlungsorte fungierten, jedoch von Atatürk oftmals geschlossen oder anderen Funktionen zugeführt wurden, vgl. etwa Umnutzung der Hagia Sofia zum Museum (vgl. Weibel 2004: 17). Im gesamten Land wurden in den folgenden Jahrzehnten staatliche Schauspielkonservatorien eröffnet und staatliche Theaterhäuser errichtet, teils städtisch getragen, teils vom Staat.58 Ähnlich einem Monopol wurde Theater durch den Staat dominiert. Indem Theater nun als staatliche Institution in Erscheinung trat, die einen besonderen Stellenwert in der modernen türkischen Gesellschaft einnahm, gewann auch die Position der SchauspielerInnen an Prestige. Die Schauspielausbildung erfolgte an staatlichen Konservatorien. Ein erfolgreicher Abschluss ebnete den Weg 57

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In diesem Zusammenhang ist der Theaterpraktiker und -theoretiker Muhsin Ertrugul zu nennen, der bis heute als einer der Gründerväter des türkischen Theaters gilt und ab 1927 Leiter des Konservatoriums Darülbedayi war. Auf Grundlage ausgiebiger Reisen nach Frankreich, Deutschland und Russland und dem Studium der dortigen Theaterkultur begann Ertrugul nach seiner Rückkehr, das türkische Theater nach europäischem Vorbild zu reformieren. So führte er den Repertoirebetrieb am Darülbedayi ein oder lehrte seinen Studierenden die Schauspieltheorie des Russen Konstantin Stanislawski (vgl. Cevik 2000; Stewart 1954, zit.n. Zellner 2013: 27). Das Schauspielkonservatorium Darülbedayi wurde 1931 zum ersten Sehir Tiyatrosu (städtischen Theater) von Istanbul, fortan finanziert aus der öffentlichen Hand (vgl. And 1964). Für den Aufbau des ersten Devlet Tiyatrosu (Staatstheater) in Ankara (geg. 1949) wurde der Deutsche Carl Ebert engagiert, der in Deutschland bereits über mehrere Jahre das Staatstheater in Darmstadt sowie die Oper in Berlin geleitet hatte. Parallel zu den Eröffnungen der Theaterhäuser hatte die Regierung in den 1950er Jahren in Ankara ein weiteres Konservatorium eingerichtet (vgl. And 1964).

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in die städtischen Theater oder die Staatstheater, welche in verschiedenen Städten der Türkei eröffnet wurden. Bei meiner Recherche Mitte der 2010er Jahre finden sich keine Informationen darüber, ob in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Form von Theater existierte, die nicht dem von Atatürk verordneten Theater entsprach.59 Erklären ließe sich dieses »Fehlen« so: Die säkularen Kreise begrüßten Atatürks Reformen; die Opposition zu Atatürks Modernisierungsmaßnahmen im Land gehörte überwiegend dem islamisch-religiösen Lager an, das bis dahin kaum in Verbindung mit Theater stand, weshalb es eher unwahrscheinlich ist, dass sich eine subversive türkische Theaterkultur fernab des staatlich regulierten Theaters gebildet hätte. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass die Reformen seit Republikgründung und der damit verbundene Rückgang des Islam im öffentlichen Leben zu einer Welle der Akzeptanz des Theaters in der Bevölkerung führten. Erst in den 1950er Jahre gründeten sich private Theater, die als kommerzielle Unterhaltungstheater unbehelligt vom Staat existierten; zu Beginn der 1960er Jahre folgten die ersten politischen Theatergruppen, die sich als unabhängig vom Staat positionierten und als Vorläufer der heutigen Off-Theater verstanden werden (vgl. Interview mit G. Erkal am 08.11.2010 und Interview mit Ö. Erzurumlu am 08.11.2010).

2.2.3.

Putsch und kulturelle Eiszeit: Das Jahr 1980 und seine Nachwirkungen

Knapp 40 Jahre nach Republikgründung, am 27. März 1960, putschte das Militär in der Türkei. Grund dafür war eine miserable wirtschaftliche Lage, die nationale Unruhen und Massenproteste auslöste: Eine durch die Politik geforderte und gewaltvoll durchgesetzte Industrialisierung hatte ohne sozialpolitische Einbeziehung des Volkes stattgefunden (vgl. Durugönül 1995). Als Resultat des Putschs wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die erstmals eine Gewaltenteilung vorsah und bis dahin nicht vorhandene »Grundrechte und Grundfreiheiten« (Ates 2001: 16) garantierte, die sich auch im Bereich des Theaters bemerkbar machten (vgl. Zellner 2013: 28). Es gründeten sich politische Theatergruppen, die sich selbst meist links verorteten und sich kritisch mit den sozialen Missständen in Stadt und Land auseinandersetzten.60 59

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Ich finde keine Information, ob Stücke zur Aufführung gebracht wurden, jedoch existieren Nachweise zu Dramen in Textform, so etwa zu Dramentexten des sozialistischen Dramatikers Nâzim Hikmet, welche durch die Regierung zensiert wurden und es daher gar nicht zur Aufführung schafften (vgl. Interview mit Yavuz Pekman am 28.09.2010). Die zwei bedeutendsten Kompanien dieser Zeit sind Ankara Sanat Tiyatrosu – AST (gegründet 1963 unter der Leitung von Asaf Ciyiltepe) und Dostlar Tiyatrosu (gegründet 1968 unter der Leitung von Genco Erkal) (vgl. And 1987).

2. Theatergeschichte(n)

Im Rahmen einer vorangehenden Forschungsarbeit zu türkischem Theater habe ich 2010 den Leiter des 1968 gegründeten politischen Theaters Dostlar Tiyatrosu Genco Erkal interviewt. Erkal beschreibt die Situation in den 1960er Jahren so: »There was a military coup in 1960. For me it was the most progressive one. It brought a new constitution, which enabled us, the artists, the theatre people, the cinema people etc. to read and produce what was offended before, for instance Marxism. In every corner there was a new theatre. No big theatre houses, but small studios. It was a garage or something turned into a theatre […]. Brecht became translated. Turkish playwrights were copying Brecht, they were influenced by his thinking about epical and dialectical theatre« (Interview mit G. Erkal am 8.09.2010, zit.n. Zellner 2013: 30). Die politischen Theaterkompanien wie Dostlar Tiyatrosu erhielten großen Zuspruch in der türkischen Bevölkerung, so Erkal. Insbesondere StudentInnen, ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen hätten sich nun für Theater interessiert, da die auf der Bühne verhandelten Themen ihrer Lebenswirklichkeit entsprochen hätten (vgl. Interview mit G. Erkal am 08.11.2010). Ähnlich wie in Buenos Aires nahm auch in Istanbul u.a. Brechts episches Theater eine Art Vorbildfunktion ein – ein Theater, das durch den Einsatz von Verfremdungseffekten61 auf Reflexion und Erkenntnisgewinn bei den ZuschauerInnen setzte (vgl. ebd.). Im Zuge dessen stellt sich mir bereits 2010 die Frage, ob der von Erkal betonte Erfolg der politischen Gruppen in der Bevölkerung nicht nur mit deren inhaltlicher, sondern auch mit deren formaler Anlehnung an das epische Theater zusammenhängt: Das epische Theater steht im Kontrast zur aristotelischen Dramatik62 die auf die Einfühlung und Identifikation der Zuschauer mit den Figuren setzt und nach deren Vorbild die türkische Dramatik bis dahin gebaut war. Stattdessen erinnerte das epische Theater eher an die osmanische Tradition des Geschichtenerzählens und war damit für türkische ZuschauerInnen viel anschlussfähiger, als es die

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Das in der Brecht’schen Theatertheorie »Verfremdungseffekt« (oft: »V-Effekt«) getaufte Stilbzw. Inszenierungsmittel bezeichnet einen formalen Bruch im dramatischen Geschehen, das den illusionistischen und narrativen Fortgang einer Erzählung so kontrastreich unterbricht, dass dem Zuschauer/der Zuschauerin eine Kommentarebene zur Inszenierung verdeutlicht werden kann. Ein berühmtes Beispiel wären die dramaturgischen Brüche der britischen Komikergruppe Monty Phyton’s, die beispielsweise ihre Fernsehserie »Flying Circus« immer wieder mit dem Running Gag »And now: Something completely different!« rhythmisiert (vgl. Szondi 1985). Die aristotelische Theatertheorie bot die wesentlichen Grundlagen dramaturgischen Arbeitens in Europa von der Antike bis in die Neuzeit: so u.a. die Maxime der illusionistischen Produktion einer dargestellten Bühnenwelt (»Mimesis«) oder die Grundstruktur Exposition – Durchführung – Höhepunkt – Abklang eines dramatischen (komödiantischen oder tragischen) Spannungsbogens (»Poetik«) (vgl. Aristoteles 2006).

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bis dahin bekannte Dramatik je sein konnte. Obgleich zu diesem Zeitpunkt, das religiös motivierte Theaterverbot längst Geschichte war, lösten die epische Form und Brechts Technik der Verfremdung möglicherweise die frühere Skepsis der ZuschauerInnen, sich mit dem tragischen Helden auf der Bühne zu identifizieren, nachträglich auf. Parallel zu diesem Boom des politischen Theaters der kleinen Kompanien eröffnete Ende der 1960er Jahre im neu erbauten Atatürk-Kültür-Merkezi (Atatürk Kulturzentrum) das erste staatliche Theater Istanbuls. Diese vergleichsweise späte Eröffnung eines staatlichen Theaters in der Kulturmetropole Istanbul könnte zum einen damit zusammenhängen, dass man die neue Hauptstadt Ankara gegenüber Istanbul in ihrem kulturellen Angebot bevorzugte, indem man in Ankara bereits Mitte der 1940er Jahre ein Staatstheater eröffnete. Zum anderen könnte es sich um eine mit Buenos Aires vergleichbare Situation handeln: Die Popularität von Theater stieg in den 1960er Jahren durch die neu gegründeten, politisch meist links ausgerichteten Kompanien an. Die Aufführungen dieser Gruppen waren jedoch für den Staat nicht kontrollierbar. Daher könnte die Eröffnung des staatlichen Theaters als Reaktion der damaligen Regierung verstanden werden, ein kulturelles Angebot mit regierungskonformen Spielplänen zu schaffen, das durch günstige Preise ein breites Publikum anziehen sollte. 1971 hatte das türkische Militär ein weiteres Mal geputscht, doch im Vergleich zum darauffolgenden Militärcoup von 1980 fielen die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung gering aus. Der dritte Staatsstreich der türkischen Geschichte fand schließlich am 12. September 1980 statt und erschütterte das Land heftiger als je zuvor. Das Militär wollte den Massenprotesten, den Kämpfen zwischen linken und rechten Gruppierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte ein Ende setzen und die öffentliche Ordnung wiederherstellen (vgl. Durugönül 1995). Die nun anbrechende Zeit war gezeichnet von Verfolgungen, Folterungen und Massenhinrichtungen. Gesellschaftliche Organisationen wie Vereine oder Gewerkschaften wurden aufgelöst und verboten (vgl. Seufert 2004). Die Ära des »freien« politischen Theaters war zu Ende. In der Türkei entstand »ein Klima weitgehender Entpolitisierung und eine intellektuelle Leere«, schreibt der Soziologe Günter Seufert (Seufert 1997: 90, zit.n. Zellner 2013: 31). Der Theatermacher und Zeitzeuge Genco Erkal äußert sich über diese Zeit im Interview, wie folgt: »They [gemeint sind die Putschisten] brought up a generation of young people, who were so afraid. Their fathers, bigger brothers were in jail and executed. And everybody threw away his books, for example Nâzim Hikmet’s books. They burned the books on the Bosporus or in the mountains; masses of people were put in jail and were executed because of their political intention. It was something like the Nazi-Regime. But afterwards a new generation arose which isn’t interested at all in the social problems of the country. They just want to be famous and rich in the

2. Theatergeschichte(n)

quickest way« (Interview mit G. Erkal, am 08.11.2010, in Teilen zit.n. Zellner 2013: 32). Den Putsch »überlebten« nur die Theater, deren Spielplan politisch unauffällig gestaltet war, so der Theaterwissenschaftler Ufuk Altunkaya (Interview mit U. Altunkaya am 18.12.2015). »Unauffällig« bedeutete in diesem Zusammenhang Boulevardtheater und billige Komödien. Das Militärregime war bis 1983 an der Macht. 1982 wurde unter dieser Militärregierung eine neue, bis heute gültige Verfassung verabschiedet. Erst 1983 wurden wieder freie Wahlen ausgerufen, aus denen die konservativ-religiöse Anavatan Partisi (AnaP), die sog. Mutterlandspartei, als Siegerin hervorging. Doch noch Jahre nach dem Putsch war das Land durch die Nachwirkungen der Militärregierung geprägt. Sinnbildlich stand dafür der Initiator und Hauptverantwortliche des Putschs, Kenan Evren, bis 1989 Staatspräsident der Türkei.

2.2.4.

Post-Autokratie und Demokratisierung

Es dauerte bis zum Ende der 1980er Jahre, bis sich neben den regierungskonformen, öffentlichen Theatern und den kommerziell ausgerichteten Privattheatern wieder eine neue Bewegung im Theater bemerkbar machte, welcher der Staat liberal gegenüberstand: die sog. Bağımsız Tiyatros (bağımsız = unabhängig), ein »neues«, unabhängiges Theater. Einige AbsolventInnen der Universitäten und Konservatorien gründeten freie selbstorganisierte Theatergruppen, etwa das Bilsac Tiyatrosu unter der Leitung von Nihal Koldas (1986), das Studio Oyuncular unter der Leitung von Sahika Tekand (1988) oder das Kumpanya unter der Leitung von Kerem Kurdoğlu und Naz Erayda (1990). Diese Gruppen verstanden Theater nicht als politisches Sprachrohr ihrer Ideen, stattdessen wollten sie sowohl thematisch als auch künstlerisch etwas Neues schaffen. Kerem Kurdoğlu beschreibt die damalige Zeit und die Anfänge ihrer Arbeit wie folgt: »We didn’t want to produce a political theatre like it was in Turkey before 1980. Because political theatre is an instrument, which convinces the masses of the ›right‹ solution. We wanted to do something different. We had problems, we asked many questions, we wanted to share our problems and our questions with the audience. We see the spectators as our equals not as: we are the artists looking up to educate the masses. And we also thought the traditional ways of theatre were very boring. We needed something else, more dynamic, more up to date, new in every sense, surprising. None of the previous categories offered that, so we had to invent something new. This new generation after the military coup did not import everything from the West. We were influenced by some of them, like Barba, Grotowski or Brook, we heard of them, but we couldn’t see them. We were inspired by them, but we invented our ›new‹ category. You can name it independent, new political

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or just new theatre« (Interview mit Kerem Kurdoğlu am 10.11.2010, zit.n. Zellner 2013: 42). Das »neue« Theater war inspiriert durch die Arbeit der europäischen Avantgardisten Jerzy Grotowski, Eugeno Barba und Peter Brook.63 Sie lösten sich radikal von den konventionellen, öffentlichen und privaten Theatern der damaligen Zeit und irritierten damit die ZuschauerInnen und ihre Sehgewohnheiten. Gruppen wie Kumpanya nutzten beispielsweise in Referenz zu Brooks »empty space«64 anstelle der klassischen Guckkastenbühne leere Räume als Bühne und fanden dadurch nicht nur neue Spielorte, sondern auch neue Formen der Inszenierung, die u.a. eine unmittelbare Nähe zu den ZuschauerInnen implizierte (vgl. Erayda 2002). Diese Unmittelbarkeit zwischen ZuschauerIn und SchauspielerIn war nicht nur im ästhetischen Sinn »neu« für die damalige Türkei, symbolisch könnte die Zugewandtheit, die Direktheit und die damit geschaffene Intimität zwischen ZuschauerInnen und SchauspielerInnen als Mittel verstanden werden, um die durch den Militärputsch geschaffene »Eiszeit« und Angst innerhalb der Gesellschaft aufzubrechen. Trotz der ästhetischen, inhaltlichen und strukturellen Abkehr von den öffentlichen Theaterinstitutionen wollten diese Gruppen letztlich das konventionelle Theater reformieren; ein Wunsch, der sich jedoch nicht realisieren ließ. Obgleich in den 1990er Jahren am städtischen Theater Istanbuls eine Experimentalbühne eröffnet wurde und einzelne Inszenierungen wie z.B. von Kumpanya, Eingang in den Spielplan fanden, konnten sich die neuen »freien« Gruppen nicht zuletzt aufgrund von Zuschauerprotesten nicht im staatlichen Theater etablieren. Kerem Kurdoğlu beschreibt etwa die Reaktion auf ihre Inszenierung »Everest my Lord« im städtischen Theater von Istanbul so: »After 15 Min. the audience started to shout. Only half of the audience stayed till the end. Journalists were writing, the audience are spending the money for nothing. After this article, a different audience came. And we changed in this way the audience of the Municipal Theatre« (Interview mit K. Kurdoğlu am 10.11.2010). 63

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Diese drei Regisseure, Theatermacher- und theoretiker, bezogen sich mehrfach auf die Arbeiten der jeweils anderen: Sowohl der Pole Jerzy Grotowksi (1933-1999), als auch der Italiener Eugenio Barba (*1936) und der Brite Peter Brook (*1924) propagierten in Anlehnung an ostasiatische Theatertraditionen eine radikale Reduktion der theatralen Mittel, insbesondere im wechselseitigen Bezug des Körpers zum Raum (vgl. Lehmann 2005). Angelehnt an Oskar Schlemmers Vorstellungen eines tryadischen Balletts, Rudolf von Labans Tanznotationen und Jerzy Grotowskis Konzept eines »Theaters der Armen« entwickelte Brook ab den späten 1960er Jahren sein zentrales Paradigma des leeren Raums: Eine zentrales Element der Theaterrezeption besteht für ihn im anti-illusionistischen Erlebnis der Dreidimensionalität des Bühnenraums. In seinem Werk »Der leere Raum« schreibt Brook »Man kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen, ein Mensch bewegt sich darin und ein anderer schaut ihm dabei zu, das ist alles, was zur Theaterhandlung nötig ist« (Brook 1985: 1).

2. Theatergeschichte(n)

Obwohl die Produktion von Kumpanya nicht nur bestimmte ZuschauerInnen vergraulte, sondern auch ein neues Publikum in das städtische Theater lockte, ließ sich das städtische Theater auf keine weitere Zusammenarbeit ein (vgl. ebd.). Seit Ende der 1990er Jahre formierte sich in Istanbul eine Vielzahl an OffTheatergruppen, die seit den 2000er Jahren zunehmend begannen eigene Spielstätten zu eröffnen.65 Ebenfalls in den 2000er Jahren liegen die Anfänge einer weiteren Entwicklung: nämlich einem staatlich geförderten Ausbau sog. KültürMerkezis als Veranstaltungsorte für kommerzielle Theatergruppen.66 Auf die Konstituierung dieser Theater und Veranstaltungsorte, ebenso wie die der öffentlich geförderten Theater, werde ich in Kapitel 4 näher eingehen.

2.3.

Resümee

Der Rückblick in die Geschichte offenbart und kontextualisiert die zunächst nur assoziativ vermuteten Ähnlichkeiten meiner Forschungsfelder Buenos Aires und Istanbul: Zum einen die Einflüsse der europäischen Theaterkultur, zum anderen das Verhältnis zwischen geschichtlich wiederkehrender autokratischer Staatlichkeit und Theaterschaffenden. Deutlich wird, dass sowohl in Argentinien als auch in der Türkei performative Formen und Traditionen existierten, lange bevor sich dort eine Theaterpraxis in Anlehnung an das europäische und nordamerikanische (»westliche«) Theater entwickelte. Diese lokalen »Theatertraditionen« kamen im Verlauf verschiedener Kolonisierungs- und Dekolonisierungsperioden nach und nach in immer intensivere Berührung mit westlicher Kultur, wurden von ihr beeinflusst und zu großen Teilen abgelöst oder wie in Argentinien sogar nahezu ausgelöscht.

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Seit Mitte der 90er Jahre entwickelten sich viele neue Gruppen in Istanbul. Die bekannteren Kompanien sind: Tiyatro Oyunevi unter der Leitung Mahir Günsirays (seit 1996), Sokak Tiyatrosu unter der Leitung Mustafa Avkirans (seit 1997), Krek Tiyatro unter der Leitung Berkun Oyas (seit 1999), das Pera Tiyatro unter der Leitung der Regisseurin Nesrin Kazankayas (seit 2000), Altıdan Sonra Tiyatro bestehend aus zwölf gleichgestellten Mitgliedern (seit 2000), Boyali Kus unter der Leitung Jale Karabekirs (seit 2000), DOT unter der Leitung Murat Daltabans (seit 2005), VeDST unter der Leitung von Yesim Özgur Sülan (seit 2002), das Artı Tiyatro unter der Leitung von Ufuk Tan Altunkaya (seit 2007) oder Sifir Nokta Iki Tiyatro unter der Leitung von Emre Eyüp Uçaray (seit 2010). Die Kompanien, welche sich in den 2000er Jahren zusammenschlossen, werden innerhalb der Istanbuler Theaterszene oft als jüngere, als »Zweite Generation«, bezeichnet, da sie auf die eben beschriebene erste Generation der unabhängigen Theater, der Bağımsız Tiyatros, folgte. Der Begriff »Kültür-Merkezi«, der übersetzt »Kulturzentrum« bedeutet, findet für verschiedene Institutionen und Vereine Verwendung; im Kontext vorliegender Studie bezieht er sich jedoch, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf staatlich geförderte Kulturzentren.

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

Im Falle Argentiniens ist die Geschichte des Theaters eng mit der spanischen Kolonisierung und den aus Europa kommenden MigrantInnen verbunden, welche die Kultur Argentiniens bis heute prägen. Sowohl für die spanischen KolonisatorInnen als auch für die im 19. und 20. Jahrhundert aus Europa ankommenden MigrantInnen bedeutete Theater eine nostalgische Reminiszenz, ein Stück Heimat in Argentinien, und zugleich die Möglichkeit, die neue Heimat zu »europäisieren«. Im Osmanischen Reich war die Ausgangslage eine andere. Ein Theater, wie es in Europa zu finden war, galt lange Zeit als unvereinbar mit dem Islam und blieb daher dem Hof oder den christlichen Minderheiten vorbehalten und fand unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit in privaten Räumen statt. Erst im Rahmen des wachsenden Austauschs mit Europa im 19. Jahrhundert und schließlich durch die Modernisierungsmaßnahmen Atatürks ab 1923 gelangte Theater in die öffentliche Wahrnehmung. Obwohl sich Theaterschaffende in Argentinien und der Türkei im Laufe der Geschichte an europäischen Theatertraditionen ebenso wie an neu aufkommenden, zeitgenössischen Strömungen aus Europa und den USA orientierten, entstand zugleich auch der Wunsch nach Emanzipation, der Wunsch, ein »eigenes« Theater zu konstituieren und damit auch eine eigene Formensprache zu entwickeln. Ausgehend von diesem Wunsch bildeten sich zwar in beiden Ländern Theaterformen, die von den in und aus Europa bekannten teilweise abwichen, sich jedoch nie vollkommen von ihnen lösten und sich so zu hybriden Formen entwickelten. Diese Hybridität, die zu verstehen ist als Zustand der Vermischung, Kreuzung oder Wechselwirkung von Kulturen, steht im Kontrast zu der von TheatermacherInnen und -wissenschaftlerInnen in den Interviews getätigten Aussage, bei dem jeweiligen Theater handle es sich um einen europäischen »Import« – eine Aussage, die wiederum als Nachwirkung eines Bewusstseins der Überlegenheit Europas interpretiert werden kann, das über lange Zeit reziprok auf beiden Seiten, in Europa sowie in Argentinien und der Türkei, gepflegt wurde (und wird). Neben dem Spannungsverhältnis zwischen »lokaler« und »westlicher« Kultur offenbart sich ein zweites wiederkehrendes Prinzip der Theatergeschichte beider Länder und Städte: ein sich in regelmäßigen Abständen abwechselndes Verhältnis zwischen Usurpation und Unterdrückung von Theater und TheatermacherInnen einerseits, sowie deren sich immer wieder neu konstituierende Unabhängigkeit andererseits. Sowohl das argentinische als auch das türkische Theater wurzeln in den jeweils vorherrschenden politischen Verhältnissen: entweder, indem es innerhalb eigens durch die Regierung geschaffener Strukturen im Sinne der jeweils herrschenden MachthaberInnen agierte, wie das unter der Kontrolle der Regierung stehende öffentlich geförderte Theater – oder, indem es sich gleichsam ex negativo eben genau gegen jene Verhältnisse auflehnte, wie z.B. das Teatro Abierto in Buenos Aires oder das Dostlar Tiyatrosu in Istanbul.

2. Theatergeschichte(n)

In beiden Ländern legte die Entwicklung zur Demokratie einen weiten Weg zurück, gepflastert mit scheindemokratischen Wahlen, mehreren Militärputschen und Regimewechseln. Erst in den 1980er Jahren begann sowohl in Argentinien als auch in der Türkei eine nun fast 35 Jahre anhaltende demokratische Episode.67 Seit Ende der 1980er Jahre scheinen sich die Theaterräume in den kulturellen Hochburgen beider Länder, in Buenos Aires und Istanbul, neu zu formieren. Dabei fällt in beiden Städten insbesondere die hohe Zahl der sich seit den 2000er Jahren gründenden Off-Theater auf, welche in Buenos Aires u.a. als Resultat einer Krise, nämlich der Wirtschaftskrise, in Istanbul dagegen als Zeichen der politischen Entspannung gedeutet werden kann. Der Rückblick in die Theatergeschichte der beiden Länder, die Erläuterung der geschichtlichen Bedingtheiten und Entwicklungen der jeweiligen Stadt und ihrem Theater, bildet die Grundlage für ein Verständnis der So-Gewordenheit des gegenwärtigen Theaters in den Städten Buenos Aires und Istanbul. In den folgenden beiden Kapiteln gilt es zu untersuchen: Welche kulturpolitischen Rahmenbedingungen wirken sich in dieser Zeit auf die Konstitution des jeweiligen Theaterraums aus? Wer sind die TheatermacherInnen, welche das Theater in diesen Städten gestalten? Welche Motivationen haben sie, welche Anliegen verfolgen sie mit ihrer jeweiligen Arbeit? In welchen stadt- und sozialräumlichen Kontext sind ihre Theater gebettet? Welche Rückschlüsse lassen sich ausgehend von geografischer Lage, architektonischem Erscheinungsbild und beobachteten Publika auf den gesellschaftlichen Stellenwert der einzelnen Theaterbereiche in diesen Städten ziehen?

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In Argentinien setzte diese nach der Militärdiktatur (1976-1984) ein; in der Türkei fanden zwei Jahre nach dem Militärputsch (1980) die ersten demokratischen Wahlen statt.

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3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

»Buenos Aires is the Capital of Theatre« – diese Aussage fehlt in fast keinem Gespräch, das ich führe, ob nun mit VertreterInnen1 der staatlichen, kommerziellen oder Off-Theater. Keine andere Stadt besitze mehr Theater, diese Aussage wird mit Stolz von vielen hier zum Ausdruck gebracht. Zum Zeitpunkt meiner Recherche (2014/2016)2 existieren in Buenos Aires über 180 Theater; in einigen Gesprächen war sogar von fast 300 die Rede. Die meisten dieser Theater sind Off-Theater, kleine Spielstätten mit einer Kapazität von 30 bis maximal 200 Plätzen. Hinzukommen die öffentlichen Theater, der städtische Complejo Teatral de Buenos Aires, das Staatstheater und das städtische Opernhaus, das Teatro Colón, sowie ca. 25 kommerzielle Theaterhäuser. Darüber hinaus existieren zehn Gruppen des Teatro Comunitario. Buenos Aires, die sog. Capital Federal de Buenos Aires, die Hauptstadt Argentiniens, zählt drei Millionen EinwohnerInnen, weitere zehn Millionen Menschen leben in den Vorstädten, dem sog. Conurbano. Gemeinsam bilden sie die seit den 1930er Jahren existierende sog. Gran Capital Federal de Buenos Aires, die Metropolregion Buenos Aires.3 Als Metropolregion wird Buenos Aires als eine der größten Städte der Welt gelistet und oftmals als sog. Megacity bezeichnet (vgl. Thimmel 2004; Schwendtker 2006; Bonger 2016).4 Während meines ersten Aufenthalts (von Juni bis September 2014) frage ich argentinische Bekannte und TheatermacherInnen, wie sie es empfinden, in einer Megacity, einer Stadt von solch einer Größe, zu 1

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Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werden die einzelnen GesprächspartnerInnen vorgestellt, im dritten und vierten Abschnitt folgt eine stadt- und sozialräumliche Kontextualisierung der von ihnen verantworteten Theaterbetriebe. Die Grundlage für die vorliegende Bestandsaufnahme bildet eine Reihe von Feldforschungsaufenthalten in Buenos Aires in den Jahren 2014 (Juni bis September) und 2016 (März und April). Die Capital Federal wird auch unter dem Namen »Ciudad Autónoma de Buenos Aires«, kurz CABA, geführt (im Deutschen »Unabhängige Stadt Buenos Aires«). Diese Bezeichnung erfolgt in Abgrenzung zur Provincia de Buenos Aires, der Provinz Buenos Aires, welche die CABA umgibt, jedoch mit La Plata eine eigene Provinzhauptstadt besitzt. Vgl. www.bpb.de/internationales/weltweit/megastaedte/64748/megastaedte; Zugriff 13.12. 2018.

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

leben. Alle schauen mich verwundert an: Megacity? Buenos Aires sei keine Megacity, war die einstimmige Antwort. Mexico City oder Sao Paulo, aber nicht Buenos Aires. Die Größe der Stadt relativiert sich offensichtlich in der Vorstellung der Menschen: Es besteht eine klare Trennung zwischen der Capital Federal (3 Mio.) und den Vorstädten im Conurbano (10 Mio.). Es wird danach unterschieden, ob jemand BewohnerIn der Capital Federal ist oder jemand aus dem Conurbano stammt. Ist jemand StädterIn oder PendlerIn oder gar ProvinzlerIn. In Abgrenzung zu den in der sog. Provinz und in den Vorstädten lebenden Personen, nennen sich die EinwohnerInnen von Buenos Aires stolz Porteños und Porteñas (= die am Hafen Lebenden). Bis auf kleine geografische »Schlenker« fokussiert sich meine Recherche auf den Theaterraum der Capital Federal.5 Im Fokus stehen die Theater, deren Auswahl in Kapitel 1 erläutert wurde. Das vorliegende Kapitel legt diese Recherche im Sinne einer möglichst (noch) nicht theoretisch kontextualisierenden6 oder analytisch interpretierenden Bestandsaufnahme dar, ohne dabei das Gesamtziel der Studie aus dem Auge zu verlieren, nämlich: Die reziproke Betrachtung von Theater durch Stadt und Stadt durch Theater in der Absicht, aus dieser Perspektivenverschränkung spezifische Erkenntnisse zu gewinnen. Folgende Bestandsaufnahme betrachtet die einzelnen Theater in Buenos Aires im Kontext aller Aspekte, die meine Definition des Theaterraums umfasst: Sie bezieht sich auf die drei Theaterbereiche des staatlichen, kommerziellen und OffTheaters, deren MacherInnen und ihre Publika, deren sozialräumliche Einbettungen und stadträumliche Ausprägungen sowie deren kulturpolitische Steuerung. Entlang der vier eingeführten Themenfelder – »Hinter den Kulissen«, kulturpolitische Rahmenbedingungen, Stadtraum/Architektur, sozialer Raum – führe ich die Leserin bzw. den Leser nun durch Buenos Aires und den Theaterraum dieser Stadt.

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Zu Beginn meiner Recherche ging ich davon aus, auch den Conurbano in den Untersuchungsprozess miteinzubeziehen. Ich besuchte Quilmes, San Miguel oder Lomas de Zamora; Orte, die außerhalb der Capital Federal liegen und zur Metropolregion Buenos Aires zählen. Die Untersuchung der Theaterräume dieser Orte erschien mir angesichts der schieren Menge und Größe des Conurbano und der äußerst geringen Anzahl der dort vorhandenen Theater im Rahmen einer qualitativen Forschung als weder mach- noch fruchtbar. Im Gegensatz zu Buenos Aires war eine entsprechende Untersuchung der Metropolregion Istanbul u.a. dadurch darstellbar, dass auch in den äußeren Stadtteilen/Provinzen die dortigen staatlichen Theater dezentrale Angebote vorhalten. Ausnahmen bilden sich ad hoc aufdrängende, aber im weiteren Verlauf nicht wieder erscheinende Diskursbezüge, die im Rahmen des vorliegenden Kapitels ausschließlich in Fußnoten behandelt werden.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

3.1.

Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe

Immer wieder höre ich von SchauspielerInnen, RegisseurInnen und AutorInnen, dass die Theatercommunity7 in Buenos Aires mehr als 30.000 Personen umfasse. Diese von vielen gefühlte, wenn auch nicht überprüfte Zahl untermauert eine Aussage des Regisseurs Rubén Szuchmacher, Inhaber des Off-Theaters El Kafka: »Here in Buenos Aires everyone is going to acting classes. Not everyone, but everyone of middle class. People do theatre but without an artistic objective. There is no thought about art. It’s a little market with its own economy« (Interview mit R. Szuchmacher am 24.08.2014). In Newslettern von Theatern, in sozialen Medien, oder auch als Aushang an Laternenpfeilern wird für private Kurse geworben. Die Preise der Kurse richten sich nach dem Renommee der LehrerInnen. Der Markt scheint riesig. Obzwar staatliche Ausbildungsinstitute wie die Escuela Metropolitana de Arte Dramático (EMAD) oder Universitäten wie die Universidad des Artes (UNA) als Studiengänge Szenisches Schreiben, Dramaturgie oder Schauspiel anbieten, ist der Besuch von privaten Schauspielklassen weit populärer und genießt je nach Lehrperson einen besseren Ruf als die Universität. Privater Schauspielunterricht bildet den üblichen Ausbildungsweg für alle Personen, die als SchauspielerInnen arbeiten wollen, egal, ob an den kommerziellen und öffentlichen Theaterhäusern oder an den Off-Theatern der Stadt. Die privaten Kurse werden fast in allen Off-Theatern angeboten, die auf diese Weise neben dem Spielbetrieb als kleine Ausbildungsstätten fungieren. Man beginnt auf »Level 1« und kann dann über Jahre das eigene Level steigern. Jede/r könne zu jedem Zeitpunkt im Leben SchauspielerIn werden, höre ich immer wieder von verschiedenen Seiten. Durch die Teilnahme an den privaten

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Der Begriff der »Theatercommunity« begegnete mir während meiner Interviews ebenso wie in informell geführten Gesprächen mit TheatermacherInnen in Buenos Aires und Istanbul. Dabei unterschied sich die Begriffsverwendung nicht nur zwischen den GesprächspartnerInnen, sondern bisweilen auch bei ein und demselben oder derselben GesprächspartnerIn. So bezog sich Theatercommunity teils auf die drei untersuchten Theaterbereiche (staatliche, kommerzielle oder Off-Theater) gemeinsam, teils nur auf einen der drei Bereiche, teils wurden ZuschauerInnen einer Vorstellung mit in die sog. Theatercommunity miteinbezogen, teils SchülerInnen von Schauspielklassen. Ausgehend davon ließ sich keine eindeutige Begriffsdefinition ableiten, stattdessen ließ sich die konstruktivistische Eigenschaft dieser Begrifflichkeit in Hinblick auf die Zugehörigkeit ebenso wie die Dynamik der In- und Exklusionsgrenzen feststellen, die von der subjektiven Wahrnehmung der einzelnen GesprächspartnerInnen abhängig war. Aufgrund meines Ansatzes einer summarischen Betrachtung erschien eine Betrachtung auf der Ebene der einzelnen GesprächspartnerInnen nicht als zielführend.

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Abb. 1

Schauspielkursen werden die Mitwirkenden zu SchauspielerInnen und damit Teil der besagten Theatercommunity.8 Nach abgeschlossener Ausbildung bieten einige der ehemaligen SchülerInnen selbst ebenfalls Schauspielunterricht an. Man könnte von einem Schneeballsystem sprechen: Immer mehr ausgebildete SchauspielerInnen bilden ihrerseits wieder SchauspielerInnen aus. Innerhalb dieser riesigen Theatercommunity lässt sich zwischen zwei Gruppen unterscheiden: Die einen, und das ist der Großteil der Personen im Off-Bereich, sind neben ihrer Teilnahme an Schauspielklassen und ihren Auftritten in Produktionen an Off-Theatern in einem »theaterfernen« Berufsfeld tätig. So teilt der Schauspieler und Regisseur Walter Jakob mit:

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Die Kurse finden ein oder zweimal für zwei bis drei Stunden pro Woche statt. Folglich kann die Ausbildung zum Schauspieler oder zur Schauspielerin neben einem Studium oder einem Beruf absolviert werden. Spezielle Regiekurse existieren selten; ab und an bietet Rubén Szuchmacher, selbst u.a. als Regisseur tätig, einen Kurs an; doch in der Regel besuchen die meisten der RegisseurInnen ebenfalls Schauspielklassen (vgl. Interview mit den Schauspiellehrern R. Szuchmacher am 25.08.2104, L. Rodriguez am 12.09.2014 und M. Feldman am 28.07.2014).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

»It’s very common to have two lifes. Most of people doing theatre have another job, they rehearse very early in the morning or by night. Currently I work with an actor who is electrician, another is professor at university and again another is architect. All of them have many plays. But acting is not a hobby. They have two jobs« (Interview mit W. Jakob am 24.07.2014). Um die Verbindung von zwei Berufen zu gewährleisten, finden die Proben ebenso wie die Schauspielklassen meist am Morgen, am Abend oder an den Wochenenden statt. Einer anfänglichen Bemerkung meinerseits, dass die Arbeit am Theater dann wohl eher einer Freizeitbeschäftigung gleichkomme, wird von allen Seiten widersprochen, vielmehr werden oftmals die anderen beruflichen Tätigkeiten als Nebenbeschäftigung gewertet, die absolviert werden müssen, um Theater machen zu können.9 Eine zweite Gruppe bilden diejenigen, die Vollzeit in Theater, Film oder Fernsehen arbeiten: Dazu zählen fast alle SchauspielerInnen und RegisseurInnen an den staatlichen und kommerziellen Theatern, ebenso wie die meisten der InhaberInnen von Off-Theatern und einige der SchauspielerInnen sowie RegisseurInnen an Off-Theatern. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Theaters in Argentinien hat gezeigt, dass die Gründung des Teatro Independiente (1929) als eine Art Gegenentwurf zu dem in dieser Zeit bestehenden Unterhaltungs- und Boulevardtheater gedacht war: Unabhängigkeit von Staatlichkeit, von kommerziellen TheaterunternehmerInnen, ebenso wie von einzelnen Schauspielstars, lautete die Maxime des Teatro Independiente (vgl. Kap. 2.1). Die damit ausgemachte Trennlinie zum staatlichen und kommerziellen Theater setzt sich in der Gegenwart anscheinend nicht mehr konsequent fort: Immer wieder zeigt sich während der Interviews ebenso wie beim

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Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die seit einigen Jahren laufenden wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskussionen rund um die Begriffe der Arbeit und des Prekariats im Kreativbereich (vgl. etwa Holm/Lobo 2006; Goehler/Dittmer 2006; Boltanski/Chiapello 2016): In welchem Verhältnis stehen Kreativität und Erwerbsarbeit? Zählt Arbeit im Kreativsektor auch als Arbeit, wenn sie nicht dem Lebensunterhalt dient? Arbeiten die Kreativen, um kreativ sein zu können oder sind sie kreativ, um zu arbeiten? Für den weiteren Verlauf meiner Betrachtung insbesondere der Off-TheatermacherInnen in Buenos Aires und Istanbul bringt dieser Diskurs durchaus relevante Fragestellungen mit sich; für den Verlauf meiner Argumentation insgesamt – im Sinne meiner Hypothese eines spezifischen Erkenntnisgewinns bzgl. einer Stadtgesellschaft durch die Betrachtung ihrer Theaterräume – erscheint er allerdings nicht als zentral: Zu fragwürdig bleibt die Übertragbarkeit des angedeuteten europäischen Diskurses auf die argentinische oder türkische Situation; zu spekulativ die Annahme, dass sich dieser originär in der Kreativwirtschaft geltende Aspekt pars pro toto auf die Stadtgesellschaft übertragen ließe. Letztlich bilden diese Fragestellungen einen Nebenstrang meiner Arbeit – einen Nebenstrang, der mir allerdings als verbleibendes Forschungsdesiderat im Rahmen einer weiterführenden Arbeit attraktiv erscheint.

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Studieren der Spielpläne, dass RegisseurInnen – überwiegend handelt es sich um Männer – und auch SchauspielerInnen teils abwechselnd an Off-Theatern, an staatlichen Theatern und an kommerziellen Theatern arbeiten.10 Dies sei eine Erscheinung der letzten 15 Jahre, so der argentinische Theaterproduzent Andres Lifschitz: Seit der Wirtschaftskrise 2001 fehle das Geld, um internationale Regiestars aus Europa und den USA an die kommerziellen Theater der Stadt zu binden, wie es vor der Krise üblich gewesen sei. Stattdessen besannen sich die »Empresarios«, so Lifschitz, auf die Qualität der eigenen Leute und ließen RegisseurInnen inszenieren, deren Namen bereits aus dem Circuito des Teatro Independiente bekannt seien (vgl. Interview mit A. Lifschitz am 06.08.2014).11 Ähnlich den kommerziellen Theatern greifen auch die staatlichen Theater auf RegisseurInnen und SchauspielerInnen aus dem Teatro Independiente zurück. In den geführten Gesprächen wird dieser »Seitenwechsel« aus dem OffTheaterbereich immer wieder kontrovers diskutiert. Die einen TheatermacherInnen sprechen sich für ein Engagement an den kommerziellen und staatlichen Theatern aus, da sie die dort vorhandenen Ressourcen wertschätzen: Finanzielle Mittel, etwa Einnahmen oder Produktionsbudgets, bezahlte Arbeitskraft in Form

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So entwickelt etwa Daniel Veronese, groß geworden in der Off-Szene von Buenos Aires, Inszenierungen an den kommerziellen Theaterhäusern wie dem Teatro Picadero oder dem Multiteatro und inszeniert zeitgleich an Off-Theatern wie dem Espacio Callejón in Abasto. Seine Stücke – Veronese ist auch als Autor tätig – werden zudem an verschiedenen Off-Theatern zur Aufführung gebracht. Der Regisseur Javier Daulte, ebenfalls groß geworden in der Off-Szene von Buenos Aires, inszeniert mehrere Auftragsarbeiten pro Jahr für kommerzielle Theater und widmet sich dann wieder der Arbeit an eigenen Texten und Inszenierungen, die im Rahmen der Off-Szene gezeigt werden: beispielsweise »Las Personitas« im Espacio Callejón, einem Off-Theater. Als weitere Beispiele können die Regisseure Ciro Zorzoli oder Nelson Valente genannt werden: Beide inszenieren sowohl an kommerziellen Theatern als auch an Off-Theatern, darüber hinaus arbeitet Zorzoli auch als Regisseur für das städtische Theater. In sehr seltenen Fällen werden Stücke der Teatros Independientes von Teatros Comerciales übernommen, wie im Falle von »La omisión de la familia Coleman« des Regisseurs Claudio Tolcachir am Paseo la Plaza. Die Inszenierung wurde acht Jahre am Timbre 4, Tolchachirs eigenem, kleinem Theater, einem Teatro Independiente, gezeigt, ging dann auf Welttournee und wurde schließlich nach ihrer Rückkehr in das Repertoire des Paseo la Plaza aufgenommen und dort zwischen 2013 und 2017 meist wöchentlich gezeigt. Auf der Website des Paseo la Plaza wird »La omisión de la familia Coleman« als Erfolgsstück aus der Off-Szene angekündigt, welches nun seit mehr als 12 Jahren in Buenos Aires zu sehen ist und in mehr als 22 Ländern gastierte. In der Spielzeit 2014 wird zudem erstmals eine Off-Theaterproduktion von einem kommerziellen Theater programmiert: »La omisión de la familia Coleman« von Regisseur Claudio Tolcachir (siehe auch Kap. 3, Fn. 10). Innerhalb der Aussagen einiger GesprächspartnerInnen glaube ich, Respekt für Tolcachir zu erkennen, der sein Stück an der »Corrientes« durchgesetzt hatte; andere wiederum beklagen, dass durch diesen Seitenwechsel die Glaubwürdigkeit der Off-Theater auf dem Spiel stehe.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

von TechnikerInnen oder HandwerkerInnen, größere Bühnen mit besserer technischer Ausstattung. Manche geben sogar an, durch ihr Engagement insbesondere an den staatlichen Theatern eine Reformierung dieser Institutionen anstoßen zu wollen. Andere TheatermacherInnen wiederum kritisieren einen Seitenwechsel als Auslieferung an den Kommerz und halten an der Ursprungsmaxime des Teatro Independiente fest. Ähnlich kontrovers verhält es sich mit der Arbeit der RegisseurInnen, welche im Ausland tätig sind, obgleich es sich hierbei nur um einen sehr kleinen Kreis an Theaterschaffenden handelt, z.B. RegisseurInnen wie Mariano Pensotti, Federico Léon, Lola Arias oder Raphael Spregelburd. Im Gespräch mit Spregelburd erfahre ich, dass für ihn das Zeigen einer Produktion im Ausland schlicht Einnahmen bedeute, um die Arbeit im Inland zu finanzieren (vgl. Interview mit R. Spregelburd am 11.08.2014). Folglich nutzen einige RegisseurInnen die Möglichkeit einer Koproduktion und damit einer Finanzierung aus dem Ausland, um ihre Produktionen realisieren und den eigenen Lebensunterhalt finanzieren zu können.12 Neben dem finanziellen Aspekt eröffnet eine Produktion, beispielsweise als Beitrag auf einem europäischen Festival, ebenso wie ein Engagement an einem Theater im Ausland, jedoch auch berufliche Chancen in Argentinien selbst, wie der Produzent Pablo Silva erklärt. Der »Auslandserfolg« steigere das Renommee im Inland (vgl. Interview mit P. Silva am 14.09.2014). Der Vorwurf, der in diesem Zusammenhang immer wieder laut wird, betrifft die Bühnenästhetik und lautet, dass die im Ausland tätigen RegisseurInnen eine europäische Ästhetik adaptieren, um auf internationale Theaterfestivals geladen zu werden. So bringt etwa der Regisseur und Schauspieler Walter Jakob Folgendes zum Ausdruck: »The Argentinian theatre is different from the European. You in Europe are based on the postdramatic aspects, we in Buenos Aires prefer realistic theatre such as Ibsen or Tschechov. In Europe I saw performances by Lola Arias and Mariano Pensotti [argentinische RegisseurInnen], they apply aesthetics in their performances,

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Einige argentinische RegisseurInnen wie Lola Arias oder Mariano Pensotti arbeiten mittlerweile überwiegend im Ausland. So zeigte der argentinische Regisseur Mariano Pensotti seine Inszenierung »Cineastas« beispielsweise auf Kampnagel in Hamburg, auf dem Internationalen Performing Arts Festival in Amsterdam, am Mousontourm in Frankfurt oder am Zürcher Theater Spektakel; »Cineastas« ist sogar eine Koproduktion von Kunstenfestivaldesarts, Wiener Festwochen, HAU (Hebbel Am Ufer), Holland Festival, Theaterformen, Festival de Automme Paris und Complejo Teatral de Buenos Aires. Die argentinische Regisseurin Lola Aria inszenierte beispielsweise 2009 »Familienbande« an den Kammerspielen in München; es folgte 2010 »That Enemy within« am HAU in Berlin, 2012 »Melancolía y Manifestaciones« im Rahmen der Wiener Festwochen, 2013 »The art of making money« am Theater Bremen, 2015 »The art of arriving« ebenfalls am Theater in Bremen.

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which are quite established for an European audience, but they do not work for an Argentinian spectator« (Interview mit W. Jakob am 24.07.2014). Entsprechende, die Bühnenästhetik betreffende Diskussionen unter den TheatermacherInnen möchte ich nicht bewerten, führe sie hier dennoch an, da sie das Binnenverhältnis innerhalb des Off-Theaterbereichs charakterisieren: Trotz eines insgesamt solidarischen Grundtons streiten die TheatermacherInnen untereinander durchaus über Kriterien des Erfolgs und Misserfolgs; dabei wird insbesondere um das Bild des argentinischen Theaters gerungen, das Einzelne im Ausland vertreten. Im Folgenden gebe ich Einblicke in Begegnungen mit den LeiterInnen von staatlichen und kommerziellen Theatern ebenso wie mit InhaberInnen von OffTheatern und der Leiterin eines Teatro Comunitario. Das Augenmerk liegt dabei zunächst auf ihren biografischen Werdegängen, ihren Beweggründen, aber auch auf den Zwängen und Beschränkungen, denen sie im Zuge ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Dies wird ergänzt um Informationen zum Theaterbetrieb, zur Programmgestaltung und zur Finanzierung in den jeweiligen von den InterviewpartnerInnen verantworteten Theatern. Die Skizzierung der Begegnung und der Interviewsituation verfolgt das Ziel, einen Eindruck davon zu vermitteln, in welchem Arbeitsumfeld, die einzelnen GesprächspartnerInnen agieren. Die folgenden Porträts spiegeln also die Innenperspektive der Theater und ihrer MacherInnen »Hinter den Kulissen«; ihre räumliche Lage spielt dabei (noch) keine Rolle, auf sie wird im späteren Abschnitt zum städtischen Raum eingegangen.

3.1.1.

Kunst und Institution: Staatliches Theater in Buenos Aires

Während sich im Bereich der Off-Theater vor Ort relativ schnell ein Kontakt aus einem anderen ergibt – meistens sind die jeweiligen InhaberInnen bei allen Vorstellungen anwesend und zeigen sich ansprechbar – erhalte ich von den öffentlichen Institutionen über Wochen keine Antwort. Das Staatstheater, das Teatro Cervantes, befindet sich zum Zeitpunkt meiner Aufenthalte in einer Umbruchsphase; die zuständige Behörde, das Secretaría de Cultura de la Nación, hat einen Leitungswechsel beschlossen. Der Regisseur Alejandro Tantanian, bisher bekannt durch seine Arbeiten an Off-Theatern, wird neuer künstlerischer Leiter des Staatstheaters. Keine/r der MitarbeiterInnen will sich äußern – zu ungewiss sei noch, was kommt. In Gesprächen mit Bekannten aus dem Off-Theaterbereich lässt sich Euphorie vernehmen, da sie die Hoffnung hegen, dass das staatliche Theater vom Konservatismus befreit und eine neue Ära eingeleitet wird. Möglicherweise steckt in dieser Euphorie auch die Hoffnung, durch Tantanian, einen Mann aus ihrer Mitte, selbst Zugang zu dieser Bühne zu erhalten.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Die Kontaktaufnahme mit dem städtischen Theater scheitert zunächst daran, dass der Portier nur Personen mit Termin in den Verwaltungstrakt des Hauses vorlassen will. Beim Interview mit Rubén Szumacher, Mitinhaber des Off-Theaters El Kafka, stellt sich zufällig heraus, dass er gemeinsam mit Alberto Ligaluppi, dem amtierenden Generaldirektor des städtisch geförderten Complejo Teatral de Buenos Aires (CTBA), das Festival International de Buenos Aires (das Internationale Theaterfestival der Stadt Buenos Aires) geleitet hat. Ein Anruf macht das Treffen mit Ligaluppi möglich. El Jefe und der Komplex: Alberto Ligaluppi//Complejo Teatral de Buenos Aires Das Gespräch mit Alberto Ligaluppi13 findet im Teatro San Martín, der Hauptspielstätte des CTBA, statt. Wurde ich vormals abgewiesen, geleitet mich der Portier nun fast ehrfurchtsvoll zu seinem »jefe« (Boss), wie er ihn nennt. Über Aufzüge und lange Gänge werde ich in den Verwaltungstrakt geführt, passiere eine Reihe von Büros, bis ich ins Vorzimmer des Generaldirektors gelange. Nach kurzer Wartezeit geleitet mich Ligaluppi selbst in ein elegant ausgestattetes Bürozimmer mit einem riesigen Schreibtisch. Von der Sekretärin wird Kaffee gebracht; das Gespräch beginnt: Einführend erfahre ich einige biografische Details: Ligaluppi (*1956) studierte Architektur und Bildende Kunst in Argentinien und den USA. Nachdem er einige Jahre als Künstler und Kulturmanager in den USA gearbeitet hatte, kehrte er 1992 nach Buenos Aires zurück, ließ sein künstlerisches Schaffen hinter sich und fokussierte sich auf eine Laufbahn als Kulturmanager. Bevor er 2009 gemeinsam mit dem Regisseur Rubén Szuchmacher eine Ausgabe des Festival International de Buenos Aires (FIBA) (vgl. Kap. 4, Fn. 50) übernahm, stand er verschiedenen Theaterfestivals u.a. in der argentinischen Stadt Córdoba vor. Seit 2010 fungiert er als Generaldirektor des CTBA. Mit Alberto Ligaluppi sitzt mir ein routinierter Interviewpartner gegenüber, der präzise bei hohem Gesprächstempo den Betrieb des CTBA erläutert: Das städtische Theater entpuppt sich während des Gesprächs als riesiger Komplex, dessen strukturelle Dimension mir im Vorfeld nicht bewusst gewesen ist: fünf Spielstätten in verschiedenen Stadtvierteln, laut Ligaluppi zusammengefasst durch politische Willkür und geprägt von der Knappheit finanzieller Mittel. Der CTBA untersteht dem Ministerio de Cultura de Buenos Aires (Kulturministerium von Buenos Aires), dieses zeichnet für die Finanzierung verantwortlich, ebenso wie für die Besetzung des Generaldirektors, der die administrative Gesamtleitung trägt, derzeit Ligaluppi. Jede Spielstätte verfügt über eine eigene Direktorin bzw. einen

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Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Alberto Ligaluppi, Generaldirektor des CTBA, am 26.08.2014.

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eigenen Direktor, verantwortlich für die Abläufe im jeweiligen Haus. Zum Theaterbetrieb selbst macht Ligaluppi folgende Angaben: »The main intention of the Municipal theatre is artistic. The artistic impulses come from the Teatro Independiente. We take them from there, afterwards they go commercial. Comercial theatres prefer directors, who already worked for us, they seem more professional« (Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Wie sich dem Spielplan entnehmen lässt, stehen pro Jahr 25 Produktionen im Sprechtheater, drei zusätzliche im Tanz- und Puppentheater auf dem Spielplan (vgl. Programmheft Spielzeit 2014).14 Der CTBA ist ein Mehrspartenbetrieb. Laut Ligaluppi werden die Produktionen im Bereich des Sprechtheaters bis auf wenige Gastspiele am Haus produziert. Zu diesem Zweck bewerben sich RegisseurInnen oder Gruppen mit ausgearbeiteten Konzepten. Der CTBA erhalte jährlich ca. 700 dieser Konzeptanträge. Eine Kommission aus drei Personen, darunter einer der fünf Theaterdirektoren des CTBA, ein/e TheaterkritikerIn und Ligaluppi, wählt daraus 25 Konzepte für die fünf städtischen Theater aus. Einmal ausgewählt, diskutieren VertreterInnen des CTBA gemeinsam mit dem ausgewählten Regisseur, welche SchauspielerInnen für die jeweiligen Projekte engagiert werden. Der Produktionsprozess findet dann in Zusammenarbeit mit den vom CTBA fest angestellten TechnikerInnen, den Bühnen- und KostümbildnerInnen vor Ort statt. SchauspielerInnen und RegisseurInnen werden für die Projekte je sechs Monate unter Vertrag genommen. Jedes der fünf Theater des CTBA folgt einer eigenen Ausrichtung. So wird im Teatro Sarmiento beispielsweise meist Tanz gezeigt, im San Martín hingegen überwiegend Sprechtheater, ab und an auch internationale Koproduktionen oder Gastspiele (vgl. Spielzeitheft 2014). Während am Teatro Cervantes, dem Staatstheater, ausschließlich argentinische Dramatik zu sehen ist, setze man am städtischen Theater auf eine Mischung aus europäischer und argentinischer Dramatik, so Ligaluppi. Das Programm, aber auch die Spielzeiten variieren je nach Spielstätte. Im Teatro San Martín laufen von Mittwoch bis Sonntag Vorstellungen. Auf den anderen Bühnen wird hingegen teils nur an zwei oder drei Abenden pro Woche eine Aufführung gezeigt (vgl. Programmheft Spielzeit 2014). Ligaluppi begründet das mit der knappen finanziellen Situation des Hauses: Vorstellungen fallen aus, das feste

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Diese Information bezieht sich auf das Spielzeitheft 2014. Da während meines Aufenthalts 2016 aufgrund einer erneuten Renovierung keine Veranstaltungen stattfinden, beziehe ich die Spielzeit 2016 nicht mit ein. Den Angaben auf der Webseite bezüglich der Jahre 2017 und 2018 ist zu entnehmen, dass keine grundlegenden Veränderungen in Hinblick auf die Anzahl der Produktionen oder die Vorstellungszeiten stattgefunden hat (vgl. https://complejoteatral.gob.ar/; Zugriff 22.12.2018).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Schauspielensemble wurde, ebenso wie am Staatstheater, bereits vor Jahren aufgelöst; anstelle des Repertoirebetriebs spielt man jetzt im Semi-Stagione-Betrieb15 . Ungewöhnlich ist weniger das Vorgehen, die künstlerische Besetzung nur temporär zu engagieren – durchaus sind mir ähnliche Konstellationen aufgrund von Einsparungen aus Europa bekannt –, als vielmehr die Tatsache, dass der CTBA trotz dieser Einsparungen anscheinend 400 Personen in Festanstellung und 200 weitere in Teilzeit beschäftigt.16 Viele davon seien in der Verwaltung des CTBA tätig, einige in den Werkstätten, erklärt Ligaluppi. Seine MitarbeiterInnen sind Angestellte der Stadt Buenos Aires und daher wie die meisten Verwaltungsangestellten in Buenos Aires unkündbar (vgl. Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Nach Beendigung unseres Gesprächs weist Ligaluppi einen Mitarbeiter an, mich durch die verschiedenen Abteilungen zu führen, er selbst sei mit den DirektorInnen der fünf Spielstätten zum Lunch verabredet. Mir werden einzelne AbteilungsleiterInnen vorgestellt, die Atmosphäre wirkt sehr formal; sobald man erfährt, ich sei ein Gast Ligaluppis aus dem Ausland, werde ich, wie schon zu anfangs vom Portier, fast ehrfurchtsvoll behandelt. Bei meinem Weg durch die Abteilungen der Verwaltung vermittelt sich eine Atmosphäre von Hierarchie, die sich nicht zuletzt räumlich in der Anordnung der Büros zu spiegeln scheint: Ligaluppis Büro befindet sich im obersten Stockwerk, nun dringen wir immer weiter in die tiefer gelegenen Stockwerke vor. Während wir durch den Verwaltungstrakt laufen, deutet kaum etwas auf die Tatsache hin, dass wir uns doch eigentlich in einem Theater bewegen: Die Ausstattung der Räumlichkeiten ebenso wie die Menschen, die in ihren Büros sitzen, erinnern an eine Behörde. Einige der MitarbeiterInnen spreche ich auf ihre Arbeit an. Ich will mehr über ihre Hintergründe und Gründe erfahren, warum sie sich für eine Anstellung am CTBA entschieden hätten und wie ihre Tätigkeit aussehe. Keine/r von den Angesprochenen beginnt von »Theater« zu sprechen. Vielmehr verweisen alle auf den Schreibtisch, auf Tabellen, auf Anträge bezüglich des Stromanschlusses, auf Vertragsabschlüsse. Keine/r der Angestellten scheint in künstlerische Vorgänge involviert zu sein. Erst als wir zur Probebühne gelangen, zeigt sich das künstlerische »Personal« – RegisseurInnen und SchauspielerInnen, überwiegend bekannt aus der Off-Szene, angestellt für sechs Monate am CTBA um eine neue Produktion zu entwickeln.

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Der Semi-Stagione-Betrieb ist eine Mischform aus Repertoirebetrieb und En-suite-Betrieb. Während der Repertoirebetrieb täglich ein anderes Stück zeigen und bei seiner Auswahl auf ein Repertoire an Stücken zurückgreifen kann, werden im En-suite-Betrieb die Stücke als »Aufführungs-Block« gezeigt und dann aus dem Programm genommen. Der Semi-StagioneBetrieb zeigt Produktionen nicht in der gesamten Spielzeit, sondern immer nur blockweise verteilt über die Spielzeit. Das Teatro Cervantes, das Staatstheater, beschäftigt ebenfalls kein festes Ensemble (vgl. https://www.teatrocervantes.gob.ar; Zugriff 05.03.2018)

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3.1.2.

Kunst und Unternehmerschaft: Kommerzielles Theater in Buenos Aires

Im Gegensatz zu den staatlichen Theatern handelt es sich bei den kommerziellen Theatern um Unternehmen, die ein gewinnorientiertes Interesse verfolgen. Im Folgenden stelle ich die InhaberInnen/VertreterInnen dreier Theaterhäuser und die jeweiligen Theaterbetriebe vor. Dabei stehen folgende Fragen im Fokus: Wer sind die TheaterinhaberInnen? Wie werden die jeweiligen Unternehmen geführt? Wie werden diese Theater organisiert? Bestehen abseits unternehmerischer, weitere Interessen an der Führung eines kommerziellen Theaters? Die Kontaktaufnahme gestaltet sich ähnlich schwierig wie bei den staatlichen Theatern: Nicht immer ist auf den Webseiten ersichtlich, bei wem welche Verantwortung liegt. Oft existiert nur eine Kontaktadresse, um Tickets zu erwerben. Während in den Off-Theatern auch diese Mails bezüglich Ticketanfragen meist von den InhaberInnen selbst entgegengenommen werden, existieren in den kommerziellen Theatern fest angestellte Kassenkräfte, die mit meiner Anfrage oft nichts anzufangen wissen. Wird die Anfrage doch weitergeleitet, stagniert es in der nächsten Stufe, im Sekretariat der jeweiligen TheaterleiterInnen. Kontakte ergeben sich meist erst, wenn ich persönlich das jeweilige Theater aufsuche. Ein weiterer Aspekt, der die Kontaktaufnahme erschwert, ist folgender: Im Gegensatz zu den InhaberInnen der Off-Theater, aber auch dem Leiter des städtischen Theaters, halten sich die »Empresarios« (= UnternehmerInnen), wie die InhaberInnen der kommerziellen Theater in Buenos Aires genannt werden, oft nicht in der Stadt auf, da sie Theaterhäuser in mehreren Städten besitzen und nur eine Verwaltung im jeweiligen Theater in Buenos Aires einsetzen (vgl. Interview mit R. Bisogno am 29.02.2016; Interview mit A. Lifschitz am 06.08.2014). Impresario und Familienunternehmen: Roberto Bisogno//Teatro Apolo Im Falle des Teatro Apolo verabrede ich nach persönlicher Vorsprache am Theater ein Interview mit Roberto Bisogno, dem künstlerischen Leiter des Hauses.17 Bisogno, ein Herr um die 60 Jahre, am Tag des Interviews in eleganter Freizeitkleidung, vertritt Isabel Majdalani, die als Generaldirektorin des Hauses fungiert, jedoch zum Zeitpunkt des Gesprächs außerhalb von Buenos Aires weilt. Vor seinem Amtsantritt als künstlerischer Leiter am Teatro Apolo arbeitete Bisogno als Produzent für verschiedene Kulturinstitutionen in der Capital Federal und im Conurbano. Ein Publikum zu unterhalten, einzunehmen, zu begeistern, dieser Wunsch habe ihn zum Theater geführt. Die Kunst der Unterhaltung sei für ihn das, was im Theater zähle. 17

Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Roberto Bisogno, künstlerischer Leiter des Teatro Apolo, am 29.03.2016.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Majdelani hingegen ist ausgebildete Bildhauerin und arbeitet seit 2005 als freiberufliche Produzentin. Seit 2009 ist das Teatro Apolo, das Bisogno als Familienbetrieb beschreibt, in Besitz von Artenor S. A., einer sog. »Sociedad Anónima« (nach deutschem Rechtsverständnis eine GmbH), der neben Isabela Majdalani noch ihre drei Kinder Gonzalo, Natalia und Florencia Almada angehören. An den Wänden im Foyer des Theaters hängen in Öl gemalte Porträts der einzelnen Mitglieder der Familie Majdalani/Almada, die von dort wie die Angehörigen einer Adelsdynastie wohlwollend und zugleich stolz herabblicken. Bisogno deutet auf die jeweiligen Porträts, als er von den unterschiedlichen Funktionen erzählt, welche die drei Kinder im Teatro Apolo übernehmen: Natalia Almada zeichnet als Kommunikationsdesignerin für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich, Gonzalo Almada wirkt bei einigen Stücken am Teatro Apolo selbst als Schauspieler mit und ist für die Verwaltung des Theaters zuständig, Florencia Almada hilft im Leitungsteam mit. Insgesamt beschäftigt das Teatro Apolo 14 Personen. Diese seien in der Verwaltung und Organisation des Theaters tätig. Die SchauspielerInnen und RegisseurInnen werden laut Bisogno für jede Produktion separat unter Vertrag genommen. Alle Produktionen werden am Haus entwickelt und nach Fertigstellung mindestens ein Jahr gezeigt. Vorstellungen finden von Donnerstag bis Samstag statt; Freitag und Samstag werden sogar zwei pro Abend programmiert. Als kommerzielles Theaterunternehmen ist das Teatro Apolo auf Gewinn ausgerichtet. Folglich würde programmiert, was der Markt verlange: ein breit gefächertes Angebot aus nationalen und internationalen Familienshows, Komödien und Musicals. Wichtig seien vor allem die Stars. Lieber inszeniere man Stücke mit weniger Besetzung, doch dafür mit berühmter Starbesetzung. Auf Gewinn bedacht »im Kopf«, jedoch mit Leidenschaft fürs Theater »im Herzen«, so formuliert Bisogno die Philosophie des Hauses. Der Betrieb finanziert sich über den Verkauf von Tickets; das jährliche Gesamtvolumen beträgt umgerechnet ca. 250.000 Euro. Das Geld für den Kauf ebenso wie die Sanierung des Theaters stamme aus dem Privatvermögen der Familie Majdalani/Almada. Es sei ein lang gehegter Traum der Familie, ein eigenes Theater zu besitzen: ein Traum, an dessen Finanzierung der Ehemann von Isabela Majdalani nicht unbeteiligt gewesen sei, so Bisogno. Das Teatro Apolo, ein Traditionshaus, entsprach, laut Bisogno, genau dem, was die Familie Majdlani/Almada gesucht habe. Obwohl sich zwar eine erste Erwähnung des Teatro Apolo im Jahre 1892 findet, klingt die Bezeichnung des Theaters als Traditionshaus in meinen Ohren doch etwas merkwürdig: Mehrmals in seiner Geschichte abgerissen, befindet sich das Theater heute, etwas glanzlos im hinteren Trakt einer Einkaufspassage. Um auch die betriebliche Situation hinter den Kulissen des Theaters besser einschätzen zu können, bitte ich Bisogno zum Abschluss unseres Gesprächs um eine kurze Führung durch die Räume seines Theaters. Sowohl der Backstage-Bereich als auch die Büros erscheinen funktional in einem wirtschaftlichen Sinne: Ganz offensichtlich

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wird hier mit möglichst sparsamen Mitteln an einem möglichst effizienten Bühnenergebnis gearbeitet. Intransparenz einer Firma: Grupo la Plaza//Paseo la Plaza Im Gegensatz zum Familienbetrieb des Teatro Apolo handelt es sich bei dem Paseo la Plaza um eine intransparente Unternehmensstruktur: Über Wochen und Monate versuche ich, Kontakt mit den InhaberInnen oder der Leitung des Paseo la Plaza aufzunehmen. Von den MitarbeiterInnen vor Ort erhalte ich anstelle eines Namens oder einer Kontaktinformation immer nur die Antwort, EigentümerIn sei El Grupo la Plaza, jegliche Information dazu finde sich auf der Webseite des Paseo la Plaza. Laut Webseite handelt es sich bei der El Grupo la Plaza um eine der größten argentinischen Produktionsfirmen, die sowohl selbst Stücke produziert, als auch fertige Produktionen veranstaltet.18 Weder durch die Informationen auf der Webseite, noch durch eine Medienrecherche oder die MitarbeiterInnen vor Ort kann ich in Erfahrung bringen, wer hinter dieser »Gruppe« steht oder welche Rechtsform die »Gruppe« innehält. Eine Online-Recherche ergibt, dass in Buenos Aires eine weitere Grupo la Plaza existiert, die größte Eigentümerin von Transportmitteln in Argentinien ist, so etwa der Mehrzahl der Colectivos in Buenos Aires. Diese Grupo la Plaza gelangte über die Privatisierungen durch Präsident Menem in den 1990er Jahren zu ihrem Reichtum (vgl. Cabot 2012). Ob eine Verbindung zwischen den beiden »Grupos la Plaza« besteht, bleibt ungewiss. Wenn ich auch niemanden von der »Grupo la Plaza« antreffe, so begegne ich doch vor Ort, am Theater, einigen der Angestellten, deren Zugehörigkeit zum Paseo la Plaza aufgrund der einheitlichen Kleidungsuniform und der Namensschilder erkennbar ist. Es scheint ein sehr junges Team zu sein, die meisten von ihnen schätze ich auf unter 30 Jahre. Wie die Angestellten eines Hotels stehen sie bereit, um die Wünsche der BesucherInnen aufzunehmen. Meiner Bitte nach einer Führung durch den riesigen Gebäudekomplex des Paseo la Plaza19 kommt schließlich eine Mitarbeiterin nach; zumindest lässt sich so die Philosophie des Hauses erkennen: »Eine Oase« und ein »Allround-Package«, das eine Auszeit vom Alltag ermögliche, das will das Paseo la Plaza für seine BesucherInnen sein. Amanda Rodriguez, die seit drei Jahren im Paseo la Plaza arbeitet, betont immer wieder, wie hochwertig alles sei: das Programm, die angebotene Kulinarik, ebenso wie Logistik und infrastrukturelle Anbindung. Man müsse sich um nichts kümmern, könne einfach nur genießen, so ihre Worte (Gespräch mit A. Rodriguez am 04.04.2016).

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https://www.paseolaplaza.com.ar/; Zugriff 15.11.2018. Lage und Architektur des Gebäudes werden im folgenden Abschnitt zum Stadtraum der Theater betrachtet.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Interessant ist, dass in dem Gespräch immer wieder die geografische Nähe des Paseo la Plaza zu Theatern wie dem städtischen Teatro San Martín und dem Staatstheater Teatro Cervantes betont wird, andere kommerzielle Theaterhäuser hingegen keine Erwähnung finden. Ungeklärt bleibt, ob das damit zusammenhängt, dass die Mitarbeiterin die anderen kommerziellen Theater als »Konkurrenz« versteht und daher ausklammern will, oder ob sie das Paseo la Plaza als Institution versteht, der sie eine ähnliche Bedeutung wie den staatlichen Theaterinstitutionen beimisst. Das Programm des Paseo la Plaza ähnelt dem der staatlichen Theater kaum – zum Ende unseres Gesprächs lädt mich Rodriguez zu einer der nächsten Vorstellungen ein: Bei den Produktionen, teils Eigenproduktionen, teils eingekaufte Produktionen, handelt es sich ausschließlich um große Shows mit Starbesetzung, etwa ein Musical in Anlehnung an die Disney-Produktion von »Aladin«. Pro Abend finden mehrere Vorstellungen hintereinander statt (vgl. Spielzeit 2014 und Spielzeit 2016).20 Das Feuer des Teatro Abierto: Sebastian Blutrach//Teatro Picadero Das dritte kommerzielle Theater, mit welchem ich mich im Zuge meiner Recherche beschäftige, ist das Teatro Picadero. Dieses Theater nimmt eine Sonderstellung unter den kommerziellen Theaterhäusern aufgrund seiner Geschichte ein: 1981 brannte das Teatro Picadero, das damals dem regimekritischen und dissidentischen Teatro Abierto als Spielstätte diente, ab. Jeglicher Versuch einer Wiedereröffnung scheiterte aus wirtschaftlichen Gründen, bis 2009 der Theaterproduzent Sebastian Blutrach das Gebäude erwarb und seitdem als Inhaber und Leiter des Teatro Picadero fungiert. Blutrach studierte an der Universidad de Buenos Aires Bewegungswissenschaft und arbeitet nach eigener Aussage bereits seit Jahren als Theaterproduzent an verschiedenen kommerziellen Theatern. Noch am Tag, als ich meine Interviewfrage per Mail stelle, erhalte ich eine Antwort mit Terminvorschlag.21 Im Unterschied zu den anderen Theaterhäusern wirkt die Atmosphäre im Teatro Picadero persönlicher, zum einen durch die räumliche Dimension – das Theater ist kleiner als die anderen kommerziellen Theaterhäuser – zum anderen aber auch durch den sehr herzlichen Kontakt, wie ich ihn zwischen den MitarbeiterInnen wahrnehme. Sebastian Blutrach, um die 45 Jahre, am Tag des Gesprächs in legerer Alltagskleidung, scheint durchweg mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigt. Während unseres Gesprächs, das in Verbindung mit einer Führung durch das Theater stattfindet, führt Blutrach zwei Telefonate, kommentiert Vorgänge bei den Aufbauten, als wir die Bühne passieren, wechselt er

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https://www.paseolaplaza.com.ar/; Zugriff 30.12.2016. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Sebastian Blutrach, Inhaber des Teatro Picadero, am 20.03.2016.

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einige schnelle Sätze mit MitarbeiterInnen, denen wir im Foyer und im Büro begegnen. Das Verhältnis zwischen Chef und MitarbeiterInnen scheint auf Augenhöhe stattzufinden. Man arbeite an einem »gemeinsamen Projekt«, so Blutrach. Ihm sei wichtig, dass sich die MitarbeiterInnen mit dem Teatro Picadero identifizieren, denn nur so könne man wiederum die ZuschauerInnen begeistern. Manche der MitarbeiterInnen besuchten private Schauspielklassen, einige spielten sogar hin und wieder in einem der Off-Theater, doch das sei nicht entscheidend für ihre Tätigkeit am Teatro Picadero. Auf der Bühne stünden KünstlerInnen, für das Drumherum seien Leute mit einem kühlen Blick gefragt: TechnikerInnen, Service- und Kassenkräfte, BuchhalterInnen etc. In den kurzen Gesprächen, die ich mit einigen der zwölf MitarbeiterInnen führe, vermittelt sich der Eindruck eines eingespielten Teams. Ailin Campos, Produzentin am El Picadero, sagt: Gäste seien sowohl die KünstlerInnen als auch die ZuschauerInnen; ihre Aufgabe sei es, den Rahmen für beide zu gestalten (Gespräch mit A. Campos am 20.03.2016). Blutrach scheint das Alltagsgeschäft im Theater selbst zu regeln, während meiner vier Besuche ist er immer als Ansprechpartner vor Ort. Er sei im Theater aufgewachsen, die Eltern seien bereits stolze BesitzerInnen eines Theaterhauses gewesen. Das Teatro Picadero erschien ihm perfekt, um das umzusetzen, was ihm vorschwebte: Ein Theater, das sich sowohl räumlich als auch inhaltlich zwischen den Off-Theatern und den kommerziellen Theatern bewege. Mit seinen 300 Plätzen liegt die Zuschauerkapazität oberhalb der Off-Theater und zugleich unterhalb der meisten kommerziellen Theater. Im Programm setzt er überwiegend auf zeitgenössische Stücke, inszeniert u.a. von RegisseurInnen aus der Off-Theaterszene, besetzt mit SchauspielerInnen aus Film und Fernsehen. Sechs Wochen werde geprobt, bevor ein Stück Premiere hat. Das Teatro Picadero zeigt überwiegend Produktionen, die am Haus entwickelt werden. Die Produktionen werden dann an andere Theater außerhalb von Buenos Aires verkauft, sodass ein Teil der Produktionskosten gedeckt wird. Jede Produktion kostet umgerechnet zwischen 30 und 55 Tausend Euro. Zusätzlich trägt das ebenfalls im Haus gelegene Restaurant zur Deckung der Kosten bei, ebenso wie die Vermietung der Räumlichkeiten an Firmen, die hier Kundenevents oder Feiern ausrichten. Erst ganz zu Ende unseres Gesprächs bringt Blutrach seine tiefste Überzeugung zum Ausdruck: Auch wenn er vor allem kommerzielles Theater produziere, so gehe es ihm doch um gesellschaftliche Relevanz und qualitativ hochwertige Umsetzungen seiner Produktionen, nicht um billige Unterhaltung. Natürlich dürfe er dabei die Einnahmen nie aus den Augen verlieren, so Blutrach. Theater sei für ihn Kunst und unternehmerisches Denken zugleich.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

3.1.3.

Kunst und Idealismus: Off-Theater in Buenos Aires

In Buenos Aires erscheint die Off-Szene wie eine riesige Community: Jeder spricht über jeden, äußert sich wohlwollend über den einen oder die andere, kritisch über andere, setzt sich ins Verhältnis zu allen. »There is no company, we don’t have that in Argentina. Instead, you have a wider group of people, that know each other and sometimes some people meet for a project. I compare it often with the New York Jazz scene of the 60s« (Interview mit W. Jakob am 24.07.2014). Im Weiteren werden die TheatermacherInnen der Off-Theater vorgestellt, repräsentiert durch die InhaberInnen der fünf ausgewählten Off-Theater. Nach ergänzenden Informationen über die einzelnen Begegnungen folgt die Thematisierung des Theaterbetriebs der Off-Theater. Die Verteidigung der künstl. Freiheit: Matías Feldman//Club de Defensores de Bravard Für ein erstes Interview sind Matías Feldman (*1977), Inhaber des Club de Defensores de Bravard (El Bravard), und ich um 19 Uhr am El Bravard verabredet.22 Etwas verspätet erreicht Feldman auf seinem Fahrrad das Theater, 40 Minuten nach dem geplanten Gesprächstermin. Eine halbe Stunde können wir reden und dann noch einmal in der folgenden Woche mit etwas mehr Zeit. Gerade sei alles etwas viel, so Feldman: Untertags gebe er einen Kurs für Dramatisches Schreiben an der Universidad des Artes (UNA) und Schauspielklassen am Bravard, derzeit zudem einen Workshop im Rahmen von »Panorama Sur«23 ; für den Abend seien ab 20 Uhr die Proben für seine eigenen Arbeiten als Regisseur angesetzt. Wir setzen uns in die kleine Küche des El Bravard. Es herrscht ein Kommen und Gehen, in der Spüle türmen sich die Tassen, die Atmosphäre erinnert an das Leben in einer Wohngemeinschaft; durchwegs wird Feldman herzlich begrüßt und an die sogleich beginnende Probe erinnert. Matías Feldman studierte Musik an der Hochschule in Avellaneda (Buenos Aires) und besuchte nebenher private Schauspielkurse bei Mauricio Kartún, einem der führenden Dramatiker und Regisseure Argentiniens. Seit Beginn der 2000er

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Als Informationsbasis dienen nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, die Interviews mit Matías Feldman, Inhaber des Off-Theaters El Bravard, am 28.07.2014 sowie am 03.08.2014. Panorama Sur ist eine Akademie für Theater und lateinamerikanische Dramatik, die jedes Jahr über zwei Wochen in Buenos Aires stattfindet. Panorama Sur wurde durch die Siemens Stiftung 2011 ins Leben gerufen und wird seitdem durch selbige finanziert (vgl. http://panorama-sur.com.ar/; Zugriff 13.07.2018).

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Jahre inszeniert Matías Feldman: zuerst im Apartment seines Onkels, dessen Wohnung aufgrund eines Krankenhausaufenthalts leer stand, später dann in verschiedenen Spielstätten in Buenos Aires. 2008 eröffnet er gemeinsam mit einem Bildenden Künstler und einem Musiker den Club de Defensores de Bravard (El Bravard). Der Name des Theaters sei an die Namen argentinischer Fußballklubs angelehnt, die sich oft selbst als »Club de Defensores« (Verteidiger) bezeichnen, so Feldman. Er, oder besser gesagt das El Bravard, sei auch ein »Defensor«; das Spielfeld sei die Theaterlandschaft von Buenos Aires, denn hier gelte es, Theater als Kunstform zu behaupten, zu verteidigen und neu zu erfinden. Nicht zuletzt aufgrund dieser durchaus politischen Überzeugung habe Feldman sich für ein eigenes Theater entschieden. Er finanziere es, indem er u.a. Schauspielklassen anbiete. Nur mit eigenen Räumlichkeiten sei es möglich, zu proben und zu inszenieren, wann immer er wolle und vor allem an ein und demselben Ort. Das Dilemma in Buenos Aires sei nämlich, dass Proben- und Aufführungsort niemals identisch sei. Sein Ziel: Die »Übernahme« einer öffentlichen Institution, um endlich auch auf großen Bühnen arbeiten zu können und damit seine künstlerische Entwicklung voranzubringen: »We, the bourgeoisie, mostly middle class, make theatre and produce cultural material, but not with the money of the country. That’s a neoliberal way. We should not support these capitalists. We have the big state and the municipal theatres, we should overtake them« (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). Bevor ich Näheres erfahren kann, klopfen schon die SchauspielerInnen an die Tür: Seit 20 Minuten warten sie bereits auf den Probenbeginn. Das Interview ist beendet, die folgenden zwei Stunden nehme ich als Beobachterin an den Proben teil. Mehrmals pro Woche probt die Gruppe von vier SchauspielerInnen für ca. zwei Stunden. Die SchauspielerInnen sind zwischen 30 und 45 Jahren alt. Feldman arbeitet bei den meisten seiner Inszenierungen mit einer ähnlichen Besetzung; die SchauspielerInnen kennt er über die Kurse, die er am El Bravard anbietet oder noch aus seiner eigenen Ausbildung. Derzeit befassen sie sich mit einer Studie zum »Espectador« (dem Zuschauer): Feldman hat sich dazu entschlossen, über zwei Jahre mit verschiedenen Aspekten des Theaters wie Sprache, ZuschauerIn, Bühne zu experimentieren und diese dann als sog. »Try-outs« im Abstand von ca. sechs Monaten an einigen Nachmittagen dem Publikum zu präsentieren.24 Nach der Probe unterhalte ich mich mit Walter Jakob, einem der Schauspieler: Er schätze sehr, dass bei Feldman die Proben im Vordergrund stünden und nicht die Aufführung. Sie wollten Grenzen des Theatralen erkunden. 24

Zusätzlich gibt es jeden zweiten Freitag im Monat einen sog. »Cyclo« (eine Art Werkschau) im Club de Bravard, in dem die StudentInnen von Feldman oder StudentInnen der UNA (Universidad Nacional des Artes) aktuelle Arbeiten vorstellen können.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

»I have two apartments, in one I’m living, the other one I’m renting. Apart from that I did a commercial [Werbeclip] and I act in some movies. Now I have a very small part in a TV-series. That’s how I afford to work at theatre« (Interview mit W. Jakob am 24.07.2014). Jakob besitzt kein eigenes Theater. Zu hoch sei ihm das Risiko und die Investition, er sei nur Schauspieler. Am nächsten Morgen müsse er früh aufstehen, um zu drehen. Wir beenden das Gespräch. Macherin zwischen Ironie und Herzlichkeit: Norma Montenegro//Teatro del Abasto Ich könne täglich ab 16 Uhr vorbeikommen, da öffne sie die Türen für die ersten Probedurchläufe, antwortet Norma Montenegro, Inhaberin des Teatro del Abasto, auf die Interviewanfrage.25 Montenegro, eine Frau um die 50 Jahre, divenhaft in ihrer Erscheinung, gekleidet in ein extravagantes buntes Kleid, ist die einzige Inhaberin eines Off-Theaters, die ich im Zuge meiner Recherche interviewe.26 Nach eigener Aussage absolvierte Montenegro ursprünglich eine Ausbildung in einem Tanzstudio, bevor sie sich im Zuge privaten Schauspielunterrichts dem Theater zuwandte. 2002 entschloss sie sich, ein eigenes Theater zu eröffnen, das Teatro del Abasto, finanziert überwiegend durch ihr Privatvermögen: »I cannot finance the theatre by tickets. But some people finance their girlfriends and I finance my theatre«. Endlich Theater so zu machen, wie sie es wollte, das sei ihr Wunsch gewesen. In den 1990er Jahren sei das Theater noch viel mehr als heute von Männern dominiert gewesen, dem habe sie etwas entgegensetzen wollen. Nach dieser Aussage Montenegros erwarte ich einen großen Anteil von Frauen, die als Regisseurinnen an ihrem Theater mitwirken, doch stattdessen stoße ich auf mehr regieführende Männer als an den anderen Off-Theatern (vgl. Spielzeit 2014 und 2015). In den ersten zehn Jahren nach der Eröffnung habe sie noch viele Stücke selbst inszeniert, seit 2010 fördere sie jedoch insbesondere die sog. »Actor-DramaturgiaArbeitsweise«27 : eine Stück- und Inszenierungsentwicklung, die von der Gruppe

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Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Norma Montenegro, Inhaberin des Off-Theaters Teatro del Abasto, am 19.08.2014. Ohne explizit eine Statistik angelegt zu haben, vermittelt sich der Eindruck, dass die meisten der Off-Theater von Männern geleitet werden. Bei Montenegro handelt es sich nicht um die einzige Frau, die ich als Leiterin eines Theaters kennenlerne, doch um eine unter wenigen. Außer Norma Montenegro lerne ich nur noch Roxana Grinstein, Leiterin des Off-Theater El Pórton de Sánchez und Liliana Moreno, Mit-Inhaberin des Teatro Pan y Arte kennen. Die »Actor-Dramaturgia-Arbeitsweise« wird in anderen Gesprächen u.a. von Regisseur und Schauspieler Walter Jakob auch als »Teatro Cooperativo« bezeichnet (Interview mit W. Jakob am 24.07.2014). Interessant dabei ist die Beobachtung, dass trotz der bewussten Aufgabe der »klassischen« Rollen in den Programmankündigungen weiterhin die einzelnen Funktio-

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ausgeht. Bei dieser Methode hat einer die Idee für ein Stück, dessen Text dann gemeinschaftlich erarbeitet wird. Für jede Produktion finde sich zudem eine neue Gruppe, doch bei ihr flössen die Fäden zusammen, sie kenne alle Details der einzelnen Inszenierungen, ob logistischer oder künstlerischer Natur. Ihr sei es wichtig, den Überblick zu haben, nur so könne sie gewährleisten, dass ca. acht Vorstellungen pro Woche gezeigt werden, Freitag und Samstag zwei Stücke pro Abend. Zum Ende unseres Interviews treffen die ersten Gäste für die Abendvorstellung ein. Norma Montenegro positioniert sich wie eine Gastgeberin nahe dem Eingang, kaum eine Besucherin oder ein Besucher scheint sie nicht zu kennen. Jede/r wird persönlich begrüßt. Unser Gespräch ist beendet; der Theaterabend beginnt. Theater in Transition: Lisandro Rodriguez//El Elefante Lisandro Rodriguez (*1980), Inhaber des Elefante Club de Teatro (El Elefante), lernte ich bereits vor meiner Feldforschung im Februar 2014 in Berlin im Rahmen der Berlinale kennen, zu der er für seine Rolle in einem prämierten argentinischen Kinofilm eingeladen worden war. Neben seiner Arbeit als Schauspieler arbeitet er als Regisseur und Inhaber eines eigenen Theaters, des El Elefante. In Buenos Aires angekommen, stellt Rodriguez einen der ersten Kontakte dar, an die ich anknüpfen kann. Im August 2014 findet ein Interview mit Rodriguez in Buenos Aires, im Foyer des El Elefante statt.28 Das Foyer ist zugleich eine Küche mit Ausschank für die TheaterbesucherInnen, die, laut Rodriguez, zudem auch als private Küche genutzt wird. Im oberen Stockwerk hört man seine Lebensgefährtin Möbel schieben. Sie bekämen bald ein Baby, da müsse noch einiges neu arrangiert werden. Bisher dienten die Wohnräume auch als Besprechungsräume. Die meisten der SchauspielerInnen, mit denen er arbeitet, seien auch Freunde, daher ziehe man weder räumlich noch sozial Grenzen zwischen Leben und Arbeit, so Rodriguez. Doch mit Kind würde sich das wahrscheinlich etwas ändern. Mit der Einnahme aus der Tätigkeit als Schauspieler für Film und Fernsehen finanziere er u.a. sein Theater. Ursprünglich studierte Rodriguez in den 2000er Jahren Wirtschaftswissenschaften an der Universität in Buenos Aires, im Anschluss Szenisches Schreiben an der Universität in Buenos Aires. Parallel dazu nahm er an verschiedenen privaten Schauspielkursen teil u.a. bei dem Theatermacher Agustín Alezzo, den Rodriguez als »Größe der Szene« bezeichnet. 2004 entschloss er sich, selbst Stücke umsetzen zu wollen; zu diesem Zweck implementierte er in seinem

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nen wie RegisseurIn, AutorIn, SchauspielerIn etc. aufgeführt werden und nicht als »Creacion Colectiva« gekennzeichnet werden. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Lisandro Rodriguez, Inhaber des Off-Theaters El Elefante, am 25.08.2014.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

damaligen Apartment ein »Theater«, das El Elefante. Jedes Mal, wenn Rodriguez umzog, zog die Spielstätte des El Elefante mit und wurde in die neue häusliche Situation integriert.29 Das El Elefante zeigt weit weniger Vorstellungen als beispielsweise das Teatro del Abasto (vgl. Spielzeit 2014 und 2015). Zum Zeitpunkt des Interviews führt Rodriguez lediglich ein Stück im Programm: »Mujer Puerca«, das er gemeinsam mit einem befreundeten Autor entwickelt hat. Die wöchentlichen Vorstellungen laufen bereits seit drei Jahren. Ein Stück entwickle sich über die Jahre und sei nicht mit der Premiere abgeschlossen, teils veränderten sich jetzt noch Szenen an »Mujer Puerca«, so Rodriguez. Neben den Vorstellungen werden die Räumlichkeiten des El Elefante für Proben und Unterricht genutzt; ähnlich wie viele andere InhaberInnen von Off-Theatern bietet Rodriguez Schauspielklassen an. Vor dem Hintergrund seiner Familiengründung müsse er allerdings in der nächsten Zukunft zusehen, in welchem Verhältnis zeitlicher Aufwand und künstlerischer sowie wirtschaftlicher Ertrag stehen. Zum Abschied wünsche ich Rodriguez und seiner Frau alles Gute für die anstehende Geburt. El Maestro und La Cooperativa: Rubén Szuchmacher//El Kafka Der Espacio El Kafka bildet eine Besonderheit, da dieses Theater als sog. Cooperativa30 geführt wird: Dabei handelt es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von Personen mit gleichen Rechten und Pflichten, die im Falle des El Kafka zu gleichen Anteilen für die Leitung, Organisation, Programmierung und Finanzierung des Theaters verantwortlich sind. Obwohl die Cooperativa acht Mitglieder zählt, SchauspielerInnen und RegisseurInnen, ist das El Kafka im Kreis der Theaterschaffenden von Buenos Aires meist als Theater von Regisseur, Autor und Schauspieler Rubén Szuchmacher bekannt, weshalb ich mich dazu entschließe, ihn stellvertretend als »Inhaber« vorzustellen.31 29

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Wie schon in Kapitel 2.1. zur Theatergeschichte ausgeführt, bot sich diese räumliche Integration von Arbeits- und Wohnraum aufgrund einer sich verschärfenden finanziellen Situation in der Folge der Wirtschaftskrise 2001 vielen TheatermacherInnen in Buenos Aires an. Ein Umstand, der die Notwendigkeit einer nahen Betrachtung des jeweiligen spezifischen Kontextes geradezu untermauert: Während europäische Avantgarde-Bewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Nähe, gar das Verschmelzen der Grenzen zwischen Leben und Arbeit aus künstlerischen Gründen idealisieren und einfordern, ist dieser spezifische Aspekt in Buenos Aires allein auf wirtschaftliche Notwendigkeiten zurückzuführen. Eine Cooperativa ist am ehesten mit der hiesigen Rechtsform einer Genossenschaft vergleichbar. Deren Besonderheit besteht in einem gleichberechtigten Rechtsverhältnis der verschiedenen AnteilseignerInnen untereinander. Ein einzelner Anteil kostet i.d.R. nicht viel, berechtigt aber trotzdem zur egalitären Mitbestimmung: Ganz unabhängig davon, wie viele Anteile eine natürliche oder juristische Person hält, sie besitzt immer (nur) eine Stimme. Mitglieder der Cooperativa: Moira Lopez Bustingorri, Marina Grodz, Pehuén Gutierrez, Lucas Orchessi, Graciela Schuster, Rubén Szuchmacher und Paula Travnik.

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Zeitlich ist es etwas schwierig, ein Gespräch zu terminieren, da Rubén Szuchmacher an einem Stück für ein Theater in Montevideo arbeitet und daher zwischen Buenos Aires und der uruguayischen Hauptstadt pendelt. Zum ersten Interviewtermin im El Kafka trifft Szuchmacher eine Stunde zu spät ein, da er im Stau feststeckte. Aufgrund von Zeitnot verabreden wie uns erneut für die darauffolgende Woche bei ihm zu Hause, einige Wohnblöcke vom Theater entfernt. Das Interview32 findet im Bibliothekszimmer statt, einem von oben bis unten mit Büchern und elegantem Mobiliar gefüllten Raum. Ich nehme die Wohnung als Kontrast zu den teils sehr roh und funktional gehaltenen Räumlichkeiten des El Kafka wahr, die eher auf improvisierten Charme setzen. Von verschiedenen Seiten ist mir Rubén Szuchmacher (* 1951) im Vorfeld des Interviews als einer der Maestros (Meister) der argentinischen Theaterszene genannt worden. Im Vergleich zu den bereits vorgestellten TheaterinhaberInnen entstammt Szuchmacher einer älteren Generation an TheatermacherInnen: Als Kind liberaler jüdischer Eltern wuchs Szuchmacher als Teil einer progressiven jüdischen Community von Buenos Aires auf.33 Hier begründet sich, laut seiner Aussage, seine Leidenschaft für Theater, denn in den 1960er Jahren betrieb die jüdische Community noch ein eigenes, »sehr respektables« Theater. Sein Studium absolvierte Szuchmacher bei unterschiedlichen Schauspielprofessoren; seit den 1970er Jahren arbeitet er als Schauspieler, Regisseur und Dozent, tourt national und international mit seinen Produktionen. Mit über 40 Jahren eröffnete er 2004 das El Kafka, eigentlich ungewollt, wie er sagt: »I didn’t want to have it. I did a show and I needed a place with two spaces to rehearse and to show it afterwards. A friend recommended this place« (Interview mit R. Szuchmacher am 24.08.2014). Während ich bei den meisten anderen InhaberInnen von Off-Theatern, die ich interviewe, den Eindruck habe, dass sich ihr künstlerisches Schaffen überwiegend auf die eigene Spielstätte konzentriert, scheint es bei Rubén Szuchmacher umgekehrt zu sein: Szuchmacher inszeniert im lateinamerikanischen Ausland und zudem als einziger meiner InterviewpartnerInnen in der argentinischen Provinz. Darüber und über die Leitung von Schauspielklassen finanziere er seinen Lebensunterhalt, das El Kafka bringe ihm nur ab und an etwas Geld ein, so Szuchmacher. Nach einem ca. dreistündigen Gespräch verfüge ich nicht nur über detaillierte Informationen über das El Kafka und Szuchmacher als Person, sondern auch über einige weiterführende Kontakte, etwa den zu Alberto Ligaluppi, mit dem Szuchmacher vormals das FIBA-Festival geleitet hatte.

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Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Rubén Szuchmacher, Mit-Inhaber des Off-Theater El Kafka, am 24.08.2014. Insgesamt handelt es sich bei der jüdischen Gemeinschaft in Buenos Aires um eine der größten und vielfältigsten in der jüdischen Diaspora (vgl. Mirelman 1990).

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Geschäftseifer ohne Kommerz: Emilio Gutiérrez und Daniel Genoud//El Camarín de las Musas Die Inhaber des El Camarín de las Musas (El Camarín), Emilio Gutiérrez und Daniel Genoud, gehören ebenfalls der Generation von Rubén Szuchmacher an. Beide sind in den 1950er Jahren geboren, das El Camarín eröffneten sie ebenfalls mit über 40 Jahren. Ähnlich wie auch Szuchmacher treffe ich sie nur selten an ihrem Theater, beide scheinen durchweg unterwegs zu sein. Das El Camarín ist das einzige Off-Theater, an dem mir Angestellte begegnen. Daraus schließe ich, dass nicht alle Tätigkeiten überwiegend von den Inhabern ausgeführt werden. Auf den vier Bühnen werden pro Woche bis zu 20 unterschiedliche Stücke gezeigt – teils Gastproduktionen, teils Eigenproduktionen. An manchen Tagen wie Freitag und Samstag laufen bis zu sieben Produktionen: Das Abendprogramm beginnt mit einer Vorstellung um 19 Uhr; die letzte Vorstellung der meist einstündigen Inszenierungen fängt um 23 Uhr an. Zusätzlich finden in den verschiedenen Räumen gestaffelt Unterrichtseinheiten verschiedener LehrerInnen statt (vgl. Spielzeit 2014 und 2015).34 Das El Camarín sei eines der angesagtesten Off-Theater der Stadt, vernehme ich immer wieder in Gesprächen mit TheatermacherInnen. Doch nach einigen Besuchen vor Ort, in denen ich einen Einblick in die Abläufe und Programmierung gewinne, frage ich mich, ob dieses Theater denn überhaupt noch ein Off-Theater ist: Die oben genannte Dichte an Aufführungen und der permanente Betrieb vermitteln eher einen Eindruck, wie ich ihn aus den kommerziellen Theatern kenne. Nach einigen Anläufen treffe ich schließlich Emilio Gutiérrez, einen der Inhaber.35 Er erzählt mir die Geschichte des El Camarín: Genoud und er seien Cousins, seien zuvor nicht im Bereich Theater tätig gewesen, hegten jedoch seit jeher eine Leidenschaft für das Theater, wie er es formuliert. Bis 2001 arbeitete Gutiérrez für einen Filmverleih, der jedoch im Zuge der Wirtschaftskrise Konkurs anmeldete. Genoud war für ein Restaurant tätig und nahm nebenbei Schauspielunterricht bei PrivatlehrerInnen. Mit der Eröffnung des El Camarín hätten sie sich schließlich den Traum erfüllt, Kultur und Kulinarik zu verbinden. Während im vorderen Teil des Hauses der Restaurantbetrieb läuft, wird im hinteren Trakt geprobt und performt. Laut Gutiérrez bestreiten sie ihren Lebensunterhalt vor allem durch die Einnahmen aus dem Restaurant. Unter meinen InterviewpartnerInnen aus dem OffTheaterbereich gilt es als eines der Szenerestaurants des Viertels36 , meist sehr gut besucht. Genoud ist als Schauspieler, Regisseur und Autor tätig; Emilio Gutiérrez übernimmt überwiegend die Aufgaben eines Produzenten. Mit inzwischen über 60 34

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Ab dem frühen Nachmittag halten sich Personen auf den Gängen vor den Räumen, in den Räumen auf: Entweder warten sie auf den Beginn einer Vorstellung oder einer Unterrichtseinheit oder haben eines von Beidem gerade verlassen. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Emilio Gutiérrez, Mit-Inhaber des El Camarín, am 02.09.2014. Zur Lage des El Camarín siehe Kapitel 3.3. und 3.4.

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Jahren, würden sie jedoch langsam weniger arbeiten und mehr und mehr Aufgaben abgeben. Ganz zu Ende unseres Dialogs spreche ich Gutiérrez auf meinen Eindruck an, dass das El Camarín auf mich fast wie ein kommerzielles Theater wirke. Gutiérrez lacht: Natürlich habe sich in 20 Jahren Berufserfahrung einiges professionalisiert, doch wenn man die Budgets der einzelnen Produktionen, ihre Ausstattung und die geringen, bisweilen gänzlich ausbleibenden Gehälter für die Mitwirkenden betrachte, sei man weit vom Kommerz entfernt. Die Frage der Professionalisierung: Theaterbetrieb der Off-Theater Einige der Off-Theater und mit ihnen ihre InhaberInnen haben bereits eine langjährige Geschichte: So existieren das Teatro del Abasto (seit 2001), das El Camarín (seit 2001) und das El Kafka (seit 2003) zum Zeitpunkt meiner Recherche seit knapp 15 Jahren. Die betrieblichen Abläufe und Strukturen scheinen etabliert zu sein: Die drei Theater produzieren selbst und zeigen Gastproduktionen; sie wirken »professioneller« in ihrem Betrieb als die beiden anderen hier vorgestellten OffTheater, das El Elefante (seit 2012) und das El Bravard (seit 2008), die zum einen improvisierter in ihrer Organisation scheinen, zum anderen aber keinen »Theaterbetrieb« mit regelmäßigen Vorstellungen gewährleisten wollen, sondern einen offenen Raum des Experimentierens. Insbesondere im El Camarín, aber auch im Teatro del Abasto und im El Kafka fällt die besonders hohe »Dichte« an Theatervorstellungen (pro Abend und pro Woche) und das täglich wechselnde Programm auf, das von den kleinen Theatern eine präzise Logistik erfordert. Die Anstrengung ständiger Umbauten, welche eine Programmierung mehrerer Stücke pro Abend mit sich bringt, erscheinen mir als Außenstehende als kaum nachvollziehbar: Die Taktung der Inszenierungen an manchen Off-Theatern bedeutet einen enormen Arbeitsaufwand für alle Beteiligten hinsichtlich der logistischen Organisation und des Zeitdrucks. Obwohl alle meine InterviewpartnerInnen behaupten, das Programm an den Off-Theatern werde vollkommen unabhängig von finanziellen Interessen gestaltet, mag dies hinsichtlich der inhaltlichen Aspekte zutreffen, doch die eben beschriebene Art der »dichten« Programmierung zeigt, wie wichtig die Einnahmen aus dem Ticketverkauf sind. Die Dichte der Aufführungen ermöglicht den einzelnen Theatern eine Risikoverteilung, weil sie nicht auf die Einnahmen eines einzelnen Stücks angewiesen sind. Im Zuge der Interviews hat sich gezeigt, dass die Finanzierung der Off-Theater meist über verschiedene anderweitige berufliche Tätigkeiten ihrer InhaberInnen erfolgt. Öffentliche Fördermittel stehen nur begrenzt zur Verfügung, wie sich im folgenden Abschnitt zu den »Kulturpolitischen Rahmenbedingungen« zeigen wird (vgl. Kap. 3.2). Im Vergleich zu den laufenden Kosten für das Gebäude und den Betrieb sind die Ausgaben für Inszenierungen marginal. So werden etwa Bühnen-

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bilder minimalistisch gehalten, da kein Geld für die Ausstattung zur Verfügung steht. Die Kosten für die Ausstattung einer Inszenierung werden gemeinsam von den Personen getragen, die an einer Inszenierung mitwirken (vgl. Interview mit R. Szuchmacher am 25.08.2014). Viele AutorInnenen inszenieren ihre eigenen Stücke, viele RegisseurInnen schreiben ihre Stücke selbst, so z.B. Matías Feldman oder Lisandro Rodriguez; in einigen Fällen werden Stücke im Kollektiv erarbeitet. Bedingt sei das u.a. durch die finanzielle Situation der Off-Theater, erklärt der Theaterproduzent Pablo Silva. Laut ihm sind aktuelle europäische und amerikanische Stücke fast unbezahlbar für die Off-Theater in Buenos Aires; auch Stücke argentinischer AutorInnen seien teuer, jedoch stellten einige DramatikerInnen ihre Stücke nach der Erstinszenierung für die Zweitaufführung günstig zur Verfügung (vgl. Interview mit P. Silva am 14.09.2014).37 Charakteristisch für den Theaterbetrieb scheint weiterhin, dass die Vorstellungen einer Inszenierung oftmals über Monate, teils sogar Jahre am selben Tag und zur selben Uhrzeit programmiert werden. Die Erklärung hierfür lautet, dass die Off-Theater von der sog. »Boca-en-Boca«-Verbreitung, der Mund-zu-MundPropaganda, leben und damit auf virales Marketing setzen. Ziel ist es, ihre ZuschauerInnen durch die Regelmäßigkeit und die »Langlebigkeit« der Inszenierungen zu binden, so etwa der Inhaber des El Elefante (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 12.09.2014). Aktive Werbung mit Plakaten oder in Zeitungen gibt es kaum. Einige der Theater besitzen eigene Websites wie das El Camarín oder das Teatro del Abasto, andere nur einen Blog wie das El Kafka oder das El Elefante, oder aber nur eine Facebookseite wie der Club de Bravard.38

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Laut dem Regisseur und Autor Rafael Spregelburd liegt ein weiterer Grund dafür, dass AutorInnen und RegisseurInnen identisch sind, in einem künstlerischen Interesse begründet: »Meine Generation [die Generation, die ihre Ausbildung in den 1990er Jahren durchlief] vertrat die Auffassung, dass das Theater eins ist: Schauspielen, Regie führen und die Dramaturgie. Mein Professor Mauricio Kartun hat geschrieben und gewartet, bis andere RegisseurInnen seine Stücke »zerfleischt« haben. Erst als er bei seinen SchülerInnen, uns, gesehen hat, dass beides geht, inszenierte er seine Stücke und wurde darüber zu einem bekannten Autor. Heute sind die Grenzen aufgelöst, es ist üblich, dass RegisseurInnen zugleich die AutorInnen der Stücke sind oder sogar selbst darin spielen. […] Das Klassenverständnis zwischen RegisseurIn und SchauspielerIn, wie es zum Beispiel in Spanien und auch Deutschland existiert, ist dadurch aufgelöst […]« (Interview mit R. Spregelburd am 11.08.2014). El Camarín: www.elcamarindelasmusas.com/; Zugriff 10.04.2018, El Kafka: elfkafkaespacioteatral.blogspot.com; Zugriff 10.04.2018, Teatro del Abasto: www.teatrodelabasto.com/; Zugriff 13.01.2018, El Elefante: https://www.facebook.com/pages/Elefante-Club-de-Teatro/ 710120026054057; Zugriff 13.04.2018, El Bravard: https://www.facebook.com/teatro.defensoresdebravard/; Zugriff 13.04.2018.

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3.1.4.

Kunst und Nachbarschaft: Teatro Comunitario

Ähnlich idealistisch motiviert wie die TheatermacherInnen des Off-Theater scheint das Teatro Comunitario (T. C.): Es stellt einen Gegenentwurf zu den vorgestellten Bereichen dar und zeichnet sich durch eine besondere Struktur und Arbeitsweise in Verbindung mit einem sozial-integrativen Anspruch aus. Der Name ist Programm: Es handelt sich um ein Nachbarschaftstheater, dessen Anfänge in den Jahren der Diktatur der 1980er Jahre liegen, und das nach der Wirtschaftskrise von 2001 einen Boom erlebte. Heute existiert es in zehn Barrios (= Stadtteile) von Buenos Aires. Den einzelnen Gruppen gehören zwischen 50 und 120 Personen an (vgl. Interview mit E. Scher am 23.07.2014). Exemplarisch stelle ich das T. C. in Villa Crespo und seine dortige Leiterin Edith Scher vor. Das Repertoire der Vecinos: Edith Scher//T. C. Villa Crespo Nachdem ich auf die Gruppe durch einen ihrer Straßenauftritte in Villa Crespo aufmerksam geworden bin und ihre Leiterin Edith Scher kontaktiert habe, nehme ich mehrmals an Proben der Gruppe teil. Jeden Samstagnachmittag kommen die 70 Mitwirkenden in ihrem Probenraum in Villa Crespo zusammen: Es wird geredet, Kuchen gegessen; dann, nach etwa einer Stunde, beginnt die Probe. Unter der Anleitung von Edith Scher werden Szenen durchgespielt, Lieder im Kanon erarbeitet, besprochen, wer welches Kostüm mitbringt etc. Edith Scher gründete 2006 mit Mitte 40 die Gruppe in Villa Crespo.39 Als Scher von ihrem Werdegang berichtet, ähnelt zunächst vieles den Lebensläufen anderer TheatermacherInnen aus der Off-Szene: Sie studierte Schauspiel bei verschiedenen renommierten Lehrern, arbeitete als Radioredakteurin und unterrichtet heute u.a. an der Universidad Nacional de las Artes (UNA) in Buenos Aires. Doch 2006 entschloss sich Scher, ein T. C. in ihrem Wohnviertel Villa Crespo zu eröffnen, nachdem sie erste Erfahrungen in einer Murga-Gruppe40 gesammelt hatte, für die sie komponierte und Lieder schrieb. Seitdem arbeitet sie mit den BewohnerInnen dieses Viertels, entwickelt ihre Inszenierungen aus Geschichte und Gegenwart des Viertels, aus Geschichten, Ängsten und Sorgen der NachbarInnen. Die Proben für ein Stück dauern bis zu vier Jahren; das Repertoire des T. C. in Villa Crespo umfasst mittlerweile fünf Produktionen. Ein T. C. zu leiten, bedeute neben einer künstlerischen Ausbildung einen enormen Zeitaufwand: nicht nur für die regelmäßigen Treffen, sondern auch für die auf mehrere Jahre angelegten Projekte. Hinzu kommt, dass es der Fähigkeit bedürfe,

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Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Edith Scher, Leiterin des Teatro Comunitario MateMurga in Villa Crespo, am 23.07.2014. »Murga« ist eine Kunstform, die mit Tanz und Perkussionsinstrumenten arbeitet, und eine der Grundlagen für die Arbeit des Teatro Comunitario darstellt (vgl. Scher 2010).

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eine große Gruppe zu leiten, so wie in Villa Crespo mit 70 oder in La Boca mit mehr als 120 Personen, so Scher. Die einzelnen Mitglieder der Gruppe kämen und gingen während der Jahre, aber es brauche mindestens eine Person, die den Überblick behielte, das Stückerepertoire kenne und wisse, wie neue Mitglieder eingegliedert werden können. Die teilnehmenden Vecinos (NachbarInnen) sind Laien. Viele von ihnen sind in Villa Crespo aufgewachsen und haben dort ihren Lebensmittelpunkt; teils wohnen sie in derselben Straße, manchmal sogar Tür an Tür. Der Altersdurchschnitt der Gruppe liegt bei etwa 50 Jahren. Unter den Mitgliedern sind viele ältere Paare, die gemeinsam seit Jahren bei der Gruppe mitwirken. »Everyone can participate. The capitalism always devides in gender, classes, age, but the community theatre doesn’t have that. We make acting games and people tell their own stories, their experiences. We have different people. Their lives and lifestyles differ; it’s not important for participating in our group. People come together, meet each other« (Interview mit E. Scher am 23.07.2014). Das Teatro Comunitario agiert unabhängig vom Staat. Selbstverwaltet organisieren die Mitwirkenden die Produktion, organisieren Auftritte, treiben Spenden ein etc. Gelegentlich bezuschusst die städtische oder die nationale Regierung den Kauf von Musikinstrumenten. Im Vordergrund ihrer Arbeit steht das soziale Miteinander, das Gemeinschaftsgefühl und darüber die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Identität der BewohnerInnen des Viertels, so Scher.

3.1.5.

Resümee: Kulturmanagement und Experimentierfreude

Aus den Begegnungen und dem Blick hinter die Kulissen vermittelt sich folgender Eindruck: Bei den staatlichen Theatern wie dem städtischen CTBA handelt es sich um große Institutionen, geführt als Verwaltungsapparat mit mehreren hundert MitarbeiterInnen. Betrachten wir den CTBA, fällt auf, dass die meisten der über 400 MitarbeiterInnen in der Verwaltung tätig sind und kaum in Berührung mit der künstlerischen Arbeit am Haus kommen. Geleitet wird der CTBA durch Alberto Ligaluppi, einen Kulturmanager. Die Auswahl des Kulturmanagers Ligaluppi durch das Kulturministerium beweist, dass bei der Besetzung weniger die künstlerischen Aufgaben als vielmehr Finanzen und Management die dominierende Rolle spielten.41 Auf ähnliche berufliche Werdegänge wie den Ligaluppis stoße ich in

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Eine Frage der Balance, die in der Organisationsentwicklung und Besetzung von Kultureinrichtungen weltweit eine tragende Rolle spielt: Zwar spielen Personal- und vor allem Budgetverantwortung in den Augen der Geldgeber und Träger eine relevante Rolle; nichtsdestotrotz legen die Auswahl- und Berufungsverfahren der meisten Kulturinstitutionen in Europa ein Prä auf die künstlerische Leitung und Führung der jeweiligen Einrichtung. Im weltwei-

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den kommerziellen Theatern: Auch hier lauten die Berufsbezeichnungen der LeiterInnen und des leitenden Personals »ProduzentIn« oder »ManagerIn«; auch hier besteht deren vornehmliche Verantwortung im Management eines, im Vergleich zu den staatlichen Theater noch gewinnorientierteren, Unternehmens, und nicht in der Umsetzung einer künstlerischen Vision. Im Gegensatz zu dem verbeamteten und festangestellten Mitarbeiterstab in der Verwaltung der staatlichen Theater handelt es sich bei den kommerziellen Theaterhäusern um »schlanke« Unternehmen mit einem Mitarbeiterstab von 10 bis 14 Personen, was sich auf die gewinnorientierte Ausrichtung zurückführen lässt. Die künstlerische Besetzung (RegisseurInnen, SchauspielerInnen, BühnenbildnerInnen etc.) wird, sowohl an den staatlichen als auch an den kommerziellen Theatern, für jede der Eigenproduktionen neu ausgewählt und temporär engagiert. Ganz anders stellt sich die Situation in den Off-Theatern dar: Hier stehen nicht Verwaltung oder Gewinn im Fokus, sondern das künstlerische Schaffen. Die meisten der InhaberInnen eines Off-Theaters entscheiden sich für die Eröffnung eines Theaters, um unabhängig, nach eigenen Vorstellungen, im Rahmen eines eigenen Zeitplans Konzepte entwickeln und umsetzen zu können. So können sich beispielsweise Probenarbeiten an einer Inszenierung über ein Jahr hinziehen und müssen nicht wie in den kommerziellen Theatern nach sechs Wochen oder wie am städtischen Theater nach sechs Monaten abgeschlossen sein. Insbesondere Off-Theater wie das El Elefante oder das El Bravard wirken wie künstlerisch arbeitende Labore, in denen sich die InhaberInnen gemeinsam mit einem Kreis an SchauspielerInnen in ihrem Schaffen ausprobieren. Darin bestehen im Vergleich zum kommerziellen und staatlichen Theater die herausragenden Merkmale des Off-Theaters: künstlerischer Idealismus und kontinuierliches Zusammenarbeiten beteiligter Personen bzw. Personengruppen – mitunter Kontinuität kollektiver, neben künstlerischen durchaus auch von sozialen Aspekten bestimmten, Arbeitsweisen und die Auflösung hierarchischer Strukturen. Doch diesen »Luxus« kann sich nur leisten, wer das Geld aufbringen kann; Gewinn lässt sich damit nicht erzielen. Stattdessen müssen die meisten der InhaberInnen in ihre Theater investieren. Eine staatliche Förderung existiert, ist jedoch begrenzt und mit Auflagen verbunden (vgl. Kap. 3.2). Die finanzielle Lage ist jedoch nicht als Schwäche der Off-Theater auszulegen. Stattdessen vermittelt sich mir der Eindruck, als würden die Off-Theater ihre Qualität geradezu aus dieser Armut an Mitteln und der damit oftmals verbundenen Improvisation schöpfen. Die Insze-

ten Maßstab bildet dieser an den kulturellen Inhalten orientierte Weg eine Ausnahme (vgl. Menke 2014).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

nierungen der Off-Theater, die Wahl ihrer Stücke ebenso wie ihre Umsetzung auf der Bühne, sind maßgeblich durch ihre finanzielle Lage geprägt.42 Obwohl dem Teatro Independiente fast keine Zuschüsse zur Verfügung stehen, stellt es doch den einzigen der drei Theaterbereiche dar, von dem international wahrgenommene künstlerische Impulse ausgehen. Die Off-Theater scheinen jedoch nicht nur »Labore« und »Experimentierstuben« für ihre MacherInnen zu sein, sondern fungieren in einzelnen Fällen auch als eine Art »Sprungbrett«: Durch das Entwickeln und Zeigen von Produktionen an ihren Theatern können sie sich einen Ruf erarbeiten, um in die finanziell besser gestellten staatlichen und kommerziellen Theater oder zu Film und Fernsehen zu gelangen. Inwieweit hier der finanzielle Aspekt im Vordergrund steht, insbesondere bei einem Engagement an einem der kommerziellen Theater, oder möglicherweise der Wunsch, durch das Inszenieren an einem der öffentlich geförderten Theater deren künstlerische Ausrichtung zu reformieren, hängt von der jeweiligen Person ab. Die staatlichen und kommerziellen Theater wiederum sind auf den »Nachschub« aus den Reihen der Off-Szene angewiesen, da sie auf keine eigenen Ausbildungsstrukturen zurückgreifen können und ihnen seit der Wirtschaftskrise und der anhaltenden Inflation das Geld fehlt, Regiegrößen aus dem Ausland zu engagieren.43 Im Gegensatz zum staatlichen und kommerziellen Theater wie auch zum OffTheater, rückt das Teatro Comunitario von Edith Scher, das soziale Miteinander in den Vordergrund: das Zusammenkommen der NachbarInnen, das einen kreativen Prozess ermöglicht. Das Anliegen des Teatro Comunitario ist ein Dialog mit den ZuschauerInnen, das Verhandeln ihrer Alltagssorgen sowie die Sensibilisierung für

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Eine geradezu programmatische Behauptung, die aus Sicht vieler TheatermacherInnen und KreativarbeiterInnen in Europa und den USA genauso sehr zutrifft wie als Vorurteil bekämpft wird: Die sprichwörtlich aus der Armut an Mitteln resultierende Kreativität und Innovationsfreude wird vielfach im Rahmen des bereits anzitierten kulturwissenschaftlichen Diskurses rund um das Verhältnis zwischen kreativer Arbeit und deren Entlohnung diskutiert (vgl. Holm/Lobo 2006; Goehler/Dittmer 2006; Boltanski/Chiapello 2016). Rückbezogen auf Buenos Aires sei hier beispielhaft ein Gespräch mit dem argentinischen Regisseur Rafael Spregelburd angeführt, dessen Inszenierungen oftmals durch den Einsatz von Videomaterial geprägt sind: »Theatre is independent here. Theatre has learnt to produce without money […]. I replaced set design by video, because it’s cheaper. Friends, moviemakers, I work free for them and they do the videos for me« (Interview mit R. Spregelburd am 11.08.2014). Fast ließe sich von einer gegenseitigen Abhängigkeit der Theaterbereiche untereinander sprechen, der historisch ideologische Barrieren im Sinne einer pragmatischen Durchlässigkeit abbaut: Während die staatlichen und kommerziellen Theater auf den Nachwuchs des Off-Bereichs angewiesen sind, können die TheatermacherInnen des Off-Bereichs oftmals nur überleben, indem sie Engagements im kommerziellen und staatlichen Theater annehmen. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit wird dieser analytische Aspekt der Bewertung des Binnenverhältnisses der Theaterbereiche untereinander noch eine Rolle spielen.

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bestimmte gesellschaftliche Mechanismen. Ein enger Kontakt zu den ZuschauerInnen spielt zwar insbesondere im Off-Theater auch eine gewichtige Rolle, die einzelnen TheatermacherInnen gehen allerdings nicht den Schritt einer partizipativen Einbindung der Bevölkerung des die Spielstätte jeweils umgebenden Viertels. Ihre intrinsische Motivation erscheint stets stärker von inhaltlichen und ästhetischen Motivationen bestimmt als vom sozialpädagogischen und gesellschaftspolitischen Impetus des Teatro Comunitario. Aus der Begegnung mit den TheatermacherInnnen, ihrer Arbeit und deren betrieblichen Konfigurationen erwachsen Fragen nach äußeren Rahmenbedingungen: Unter welchen (kultur)politischen, stadt- und sozialräumlichen Vorzeichen vollziehen sich diese? In welchen städtebaulichen Settings, welchen Gebäuden wird gearbeitet? Wie gestaltet sich die grundsätzliche und die unmittelbare Umgebung? Wie reagiert das umliegende Viertel, wie das Publikum? Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Frage nachgegangen, wie (Kultur)Politik und -verwaltung die Entwicklung der einzelnen Theaterbereiche beeinflussen.

3.2.

Der Rückzug des Staats: Kulturpolitische Rahmenbedingungen in Buenos Aires

Der Rückblick in die Geschichte des argentinischen Theaters hat bereits vor Augen geführt, unter welchen Umständen sich die verschiedenen Theaterbereiche zu bestimmten Zeitpunkten in der Geschichte aufgrund unterschiedlicher Motivationen entwickelten und im Kontext welcher Regierungsepoche sie jeweils gefördert oder gar zensiert wurden (vgl. Kap. 2.1). Doch welche kulturpolitischen Rahmenbedingungen wirken sich derzeit, über 30 Jahre nach dem Ende der letzten Diktatur, prägend auf den Theaterraum von Buenos Aires aus? Wie beeinflussen Politik und Verwaltung die verschiedenen Theaterbereiche, die im vorigen Abschnitt in Einzelporträts und in ihrer Arbeitsweise vorgestellt wurden? Welches kulturpolitische Handeln und Anliegen seitens der Regierung lässt sich daran ablesen? Bevor ich auf die drei Theaterbereiche zurückkomme, seien einleitend einige Beobachtungen hinsichtlich der (kultur)politischen Situation in Buenos Aires im Allgemeinen erwähnt: Aus den Unterhaltungen über die kulturpolitische Lage mit Theaterschaffenden vor Ort gewinne ich den Eindruck, als arbeite die überwiegende Mehrzahl meiner GesprächspartnerInnen in einem demokratischen und rechtssicheren Rahmen, in dem TheatermacherInnen frei und unabhängig agieren können. Betont wird stets die »inhaltliche und ästhetische Freiheit«. Immer wieder wird mir berichtet, wie sehr sich die Situation im Vergleich zu den 1980er Jahren unter der Junta (1976-83) verändert habe. Dieser subjektive Eindruck eines demokratischen und »freien« Landes scheint sich oberflächlich betrachtet einzulösen: Auf den ersten Blick blüht in Buenos Aires die öffentliche Protestkultur. Zum

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Zeitpunkt meiner Aufenthalte finden mehrmals wöchentlich Großdemonstrationen statt;44 auch Theaterschaffende gehen auf die Straße. Nur so könne man sich in Argentinien Gehör verschaffen, erklärt der Inhaber des El Elefante (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014).45 Doch entgegen meiner anfänglichen Wahrnehmung einer ausgeprägten Protestkultur, vorherrschender Meinungsfreiheit oder des demokratischen Wahlrechts, handelt es sich beim argentinischen Staat nur bedingt um eine Demokratie: In der Politikwissenschaft wird das Land gar als »defekte Demokratie«46 geführt: Argentinien kehrte zwar Mitte der 1980er Jahre zur Demokratie und damit in einen Zustand der politischen Freiheit zurück, jedoch setzte bereits in den 1990er Jahren unter Staatspräsident Menem eine erneute Aushöhlung der Demokratie ein, welche u.a. zu Defiziten in der Rechtsstaatlichkeit führte und die Unabhängigkeit der Justiz auflöste. Bis heute ist die Judikative in Argentinien durch Korruption, Klientelismus und ein sehr gewichtiges Vetorecht seitens der Präsidentschaft bestimmt, wodurch weder die Unabhängigkeit noch die Bürgerrechte gewährleistet werden können (vgl. Merkel et al. 2003: 66ff.; Paulus 2013). Während meiner Forschungszeit findet ein politischer Machtwechsel statt: Präsidentin Christina Fernandez de Kirchner (Peronistische Partei), in ihrer Amtszeit (2007-2015) mit zahlreichen Korruptionsvorwürfen konfrontiert, wird durch den Konservativen Mauricio Macri (PRO-Partei), bis dahin Bürgermeister von Buenos Aires, abgelöst. Es ist naheliegend zu fragen, welchen Einfluss dieser Machtwechsel auf die kulturpolitische Lage hat. Jedoch sieht keine bzw. keiner meiner InterviewpartnerInnen darin Konsequenzen positiver oder negativer Art für die eigene Arbeit am Theater. Durchweg wird hingegen das Desinteresse aller politischen Parteien am Theater betont, welches eine umfassende Eigenständigkeit und Eigen-

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Ein Grund für die vielen Massenproteste ist u.a. eine bewusste Entkriminalisierung von sozialen Protesten durch den argentinischen Präsident Nestor Kirchner in dessen Amtszeit (200307), wodurch die Popularität öffentlicher Proteste immens anstieg. Kirchner tätigte entsprechende Aussagen und Beschlüsse kurz nach seinem Amtsantritt 2003. Die politische Lage war aufgrund der Wirtschaftskrise angespannt, vor Kirchner hielten innerhalb eines Jahres drei Präsidenten das Amt inne. Die Proteste in dieser Zeit gingen insbesondere von den ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen aus, die Kirchner zu seiner Wählerschaft zählte (vgl. Pauli 2014). Zuletzt habe man, laut Rodriguez, gegen gesetzliche Vorgaben für Theaterräume protestiert. Auch die staatliche Fördermittelvergabe für Off-Theater geht auf eine öffentliche Protestaktion Ende der 1990er Jahre zurück (vgl. Kap. 2.2.3 INT und Proteatro). Laut PolitikwissenschaftlerInnen wie Wolfgang Merkel und Peter Thiery (2006) spricht man von einer defekten Demokratie, »wenn die Logik der elektoralen Demokratie zwar in relevanten Herrschaftsbereichen wirkungsvoll umgesetzt wird, jedoch andere Teilbereiche der Herrschaftsordnung nach Mustern funktionieren, die den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Kontrolle entgegenlaufen oder sie nicht hinreichend erfüllen« (Merkel et al. 2003: 15).

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verantwortung der TheatermacherInnen erfordere (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014; mit W. Jakob am 24.07.2014 oder mit M. Feldman am 28.07.2014). Vor diesem Hintergrund widme ich mich dem kulturpolitischen Kontext innerhalb der Stadt Buenos Aires: Im Zuge meiner Recherche schreibe ich Ämter an und suche sie persönlich auf. Mein Ziel ist es, Einsicht zu erhalten in Statistiken, Auskünfte über Förder- und Auswahlkriterien sowie über Findungsprozesse. Der Erfolg dieser Vorgehensweise hält sich in Grenzen. Die Auskünfte sind belanglos: Bei der Recherche auf Webseiten, die entweder von der Stadt Buenos Aires47 oder dem Staat Argentinien48 (vgl. Kap. 2.4) betrieben werden, fällt auf, dass meist eine Vielzahl an Daten und Statistiken angeboten wird, welche den Eindruck erweckt, »Kultur« zu systematisieren und über Statistiken zu erfassen. Auf der Webseite der Stadt Buenos Aires taucht dafür z.B. extra eine Rubrik namens »Transparencia« auf. Die Datensammlung wirkt zwar umfänglich und transparent, entpuppt sich jedoch bei näherer Untersuchung als undurchsichtig und lückenhaft: Bei Statistiken finden sich keine Angaben zu den Parametern, welche für die Erhebung genutzt werden; genaue Zahlen bezüglich Budgets und Subventionen werden kaum veröffentlicht. Es vermittelt sich der Eindruck, dass lediglich der Anschein von Transparenz erweckt werden soll. Die fehlende Auskunft und Intransparenz veranlassen mich dazu, die kulturpolitischen Rahmenbedingungen anhand der Anmerkungen meiner GesprächspartnerInnen zu beleuchten.

3.2.1.

Sanierung eines Leerstands: Complejo Teatral de Buenos Aires

»It doesn’t matter, which party, in 60 years no party put one peso in this building [Teatro San Martín]. Peronismo, Derecha, Peronismo, no money. […] They [government] are not interested in what we are doing« (Interview mit A. Ligaluppi, Generaldirektor der CTBA, am 26.08.2014). Der Complejo Teatral de Buenos Aires (CTBA) und das Staatstheater werden von städtischer und nationaler Regierung getragen. Alberto Ligaluppi, Generaldirektor des CTBA, betont im Interview vor allem das mangelnde Verständnis der Politik für öffentliche Theaterinstitutionen und ihren Betrieb. Die Zuschüsse werden laut Ligaluppi seit Jahren nicht erhöht, obwohl massive zusätzliche Ausgaben, etwa für die Renovierung von Gebäuden, anstehen. Stattdessen werden sie durch die fortschreitende Inflation gekürzt, wodurch Einsparungen erzielt werden müssen, die den künstlerischen Betrieb betreffen. Wie bereits im vorangehenden Abschnitt (Kap. 3.1) angesprochen, wurden am CTBA, aber auch am Staatstheater, die festen Schauspielensembles abgewi-

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www.buenosaires.gob.ar/transparencia; Zugriff 17.04.2018. https://www.sinca.gob.ar/; Zugriff 17.04.2018.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

ckelt. Stattdessen werden Produktionen nur noch auftragsweise extern vergeben. Der Repertoirebetrieb wird durch einen Semi-Stagione-Betrieb abgelöst, künstlerisches Personal nur temporär engagiert. Ebenso wurden die hauseigenen Werkstätten nach und nach aufgegeben: Stattdessen sei es mittlerweile üblich, dass Bühnenbilder und Kostüme gegen ein zusätzliches Budget von den jeweils projektweise engagierten RegisseurInnen übernommen werden, so der Generaldirektor des CTBA (vgl. Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Die künstlerische Produktion wird demnach weitgehend ausgelagert; es werden keine langfristigen vertraglichen Bindungen mehr eingegangen. Zum einen erfolgt damit wahrscheinlich tatsächlich eine Kostenersparnis, zum anderen können solche Entscheidungen als vorbeugende Maßnahmen gegen jegliche Form von Kritik des festangestellten Personalkörpers in Hinblick auf weitere Umstrukturierungen und Abwicklungen verstanden werden. Einen weiteren strukturellen Eingriff im Zuge von Einsparungsmaßnahmen bildet hinsichtlich des städtischen Theaters die Zusammenlegung der fünf bis dahin administrativ und programmatisch separat von der Stadt betriebenen Spielstätten: das Teatro San Martín, das Teatro de la Ribera, das Teatro Presidente Alvear, das Teatro Regio und das Teatro Sarmiento zum sog. Complejo Teatral de Buenos Aires (CTBA) im Jahr 2001 (vgl. Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Diese Zusammenlegung, welche in einer zentralen Verwaltung und damit immensen Einsparungen in der Administration resultiert, lässt vermuten, dass das zugunsten der künstlerischen Arbeit geschieht. Jedoch zeigen die Spielpläne der letzten 15 Jahre, dass die städtischen Theaterhäuser seit Beginn der 2000er Jahre sowohl einen Produktionsrückgang um fast zwei Drittel verzeichnen, als auch ihren Spielbetrieb von sechs auf drei oder vier Tage pro Woche reduziert haben.49 Folglich stehen riesige Spielstätten wie das Teatro San Martín mehrere Tage pro Woche leer. Nicht ganz: Ich kann beobachten, und erfahre auf Nachfrage vom Portier, dass die Räumlichkeiten des Teatro San Martín abends üblicherweise auch für private Firmenfeiern oder Galaveranstaltungen vermietet werden. Als ich Alberto Ligaluppi auf meine Beobachtung anspreche, erklärt er: »My main thing is to rebuild the buildings, not the performances. The condition of the buildings is so bad and therefore we need money« (vgl. Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Obgleich das künstlerische Angebot abnimmt und das Gebäude des Teatro San Martín stark renovierungsbedürftig ist, werden die Ticketpreise auf Wunsch des städtischen Trägers nicht erhöht, so Ligaluppi (Interview mit A. Ligaluppi

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Im Staatstheater finden ebenso nur von Donnerstag bis Sonntag Veranstaltungen statt; die Erklärung liegt in diesem Falle darin, dass das Teatro Cervantes die übrigen Tage Gastspiele im gesamten Land zeigt. Als einzigem argentinischem Staatstheater obliegt dem Teatro Cervantes die »Versorgung« des gesamten Landes.

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am 26.08.2014).50 Das Anliegen der Regierung ist es anscheinend, für möglichst viele Menschen einen Theaterbesuch erschwinglich zu machen. Verstand sich die günstige Preispolitik in früheren Jahrzehnten wahrscheinlich als Resultat des Wohlfahrtsgedanken Peróns, auch einer ärmeren, möglicherweise bildungsferneren Schicht den Zugang zu den öffentlichen Theatern zu ermöglichen, könnte sich selbige in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere an eine von Abstiegsängsten getriebene Mittelschicht richten: Der Erwerb günstiger Tickets ermöglicht dieser Schicht weiterhin die Teilhabe am kulturellen Angebot und steht symbolisch für ihre Zugehörigkeit zur Mittelschicht (vgl. Kap. 3.4). Alle Vorstellungen, denen ich in den verschiedenen Spielstätten des CTBA und im Staatstheater beiwohne, sind gut besucht, obgleich kaum Werbemaßnahmen getroffen werden: Weder am CTBA noch am Staatstheater existiert eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Der Spielplan dieser Häuser taucht lediglich auf der eigenen Webseite oder in Medien auf, die eine kostenlose Ankündigung anbieten. Dem entnehme ich, dass die Träger nicht unbedingt »neue« ZuschauerInnen gewinnen wollen, sondern sich als Angebot für BesucherInnen verstehen, die selbstständig, ohne Werbeanreize zu den Vorstellungen kommen. An dieser Stelle sei noch ein Exkurs zu einem Thema eingeflochten, dessen Relevanz für das Verständnis der Kulturpolitik in Buenos Aires nicht zu unterschätzen ist. Während sich die öffentliche Hand nach und nach aus der Förderung der staatlichen Theater zurückzieht, findet ein anderes Format durchaus die Beachtung und finanzielle Unterstützung der städtischen Regierung von Buenos Aires: Das biennal stattfindende, 1997 erstmals ausgerichtete und von der Regierung finanzierte, internationale Theaterfestival, das »Festival Internacional de Buenos Aires«, kurz FIBA.51 50

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Während die Tickets im CTBA zwischen 50 bis 180 Pesos (ca. 3 bis 11 Euro; Stand März 2017) liegen, kostet eine Karte im Teatro Cervantes zwischen 60 und 120 Pesos (ca. 3,50 bis 7 Euro; Stand März 2017). Damit sind die Tickets vergleichsweise günstig: Die Ticketpreise in den fünf untersuchten Off-Theatern, El Elefante, Teatro del Abasto, Club de Bravard, El Kafka und El Camarín, liegen zwischen 150 und 250 Pesos (ca. 9 bis 15 Euro; Stand März 2017). Im Club de Bravard sind bei manchen Veranstaltungen keine Ticketpreise festgelegt, der Eintritt erfolgt auf Spendenbasis. Mit Tickets zwischen 250 und 400 Pesos (ca. 15 bis 30 Euro; Stand März 2017) sind die Preise des Teatro Apolo und des El Picadero mehr als doppelt so hoch als die der Off-Theater und fast dreimal so hoch als die der öffentlich geförderten Theater. Die Tickets des Paseo de Plaza liegen mit Preisen zwischen 450 und 500 Pesos (ca. 30 bis 35 Euro; Stand März 2017) nochmal höher. Das FIBA zählt neben anderen Festivals u.a. für Jazz-Musik, Tango oder Tanz, zu den sog. Festivales de Buenos Aires, die von der Stadt Buenos Aires ausgerichtet werden. Die Festivales de Buenos Aires unterstehen einer Gesamtleitung, die von der städtischen Regierung eingesetzt wird; jedes der Festivals wird von einer separaten künstlerischen Leitung kuratiert. Das Festival International de Buenos Aires (FIBA) wird seit 1997 alle zwei Jahre durch das Ministerio de Cultura de la Ciudad de Buenos Aires (das städtische Kulturministerium) veranstaltet.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Durch die Implementierung des Festivals und weiterer international populärer Kulturformate, etwa der jährlich stattfindenden »La Noche De Los Museos« (Langen Nacht der Museen), verfolgt die Stadt Buenos Aires in den letzten zwei Jahrzehnten einen Ausbau des kulturellen Angebots im Sinne des weltweiten Trends einer »Festivalisierung« (Häußermann/Siebel 1993; Betz et al. 2011; Siebel 2015) von Städten: Die temporär angelegten Formate mit Eventcharakter bilden einen Kontrast zu den festen künstlerischen Betrieben, sind kostengünstiger aufgrund ihrer zeitlichen Begrenztheit, erregen in Hinblick auf Stadtmarketing und Tourismus mehr lokale, nationale wie auch internationale Aufmerksamkeit und befördern durch ein meist international zusammengestelltes Programm das kosmopolitische »Flair« einer Stadt.52

52

Das FIBA zeigt innerhalb von zwei Wochen ein Programm aus nationalen und internationalen Theaterproduktionen (im Jahr 2015 15 nationale, 13 internationale Produktionen). Die nationalen Produktionen entstammen den Off-Theatern ebenso wie den öffentlich geförderten Theatern. Die Auswahl der eingeladenen Produktionen trifft ein durch das Kulturministerium eingesetzter Direktor des Festivals. Die nationalen Produktionen werden für einen Pauschalbetrag von der FIBA eingekauft; das Festival listet sie dafür in seinem Programm, übernimmt den Ticketverkauf und erhält die Einnahmen. Die Eintrittspreise für das Festival liegen zwischen 40 bis 100 Pesos (ca. 3,50 bis 9 Euro; Stand Juli 2014) und sind damit weit günstiger als die regulären Tickets für Produktionen der Off-Theater. Einzelne Projekte aus dem Ausland werden beispielsweise über das Goethe Institut (Deutschland) oder das Instituto Cervantes (Spanien) ko-finanziert. Produktionen aus Europa werden laut Carolina Prieto, Pressesprecherin des Festivals, zudem meist gemeinsam von Theaterfestivals anderer südamerikanischer Städte wie Montevideo oder Santiago de Chile eingeladen, um sich auf diese Weise die Kosten zu teilen. Im Gegensatz zu den öffentlich geförderten Theatern wird das ebenfalls öffentlich subventionierte Festival in den Medien durch TV-Clips und Werbebanner beworben; besondere Präsenz erfährt es dabei im städtischen Fernsehkanal von Buenos Aires, dem Canal de la Ciudad (vgl. Interview mit C. Prieto am 22.08.2014). Zu dem Festival werden neben internationalen auch lokale Produktionen eingeladen. Für die Mitwirkenden bedeutet die Teilnahme an diesem Festival jedoch nicht unbedingt einen finanziellen Nutzen, als vielmehr Aufmerksamkeit für ihre Produktionen oder Spielstätten, insofern sie als Veranstaltungsort für das Festival gebucht werden, so der Inhaber des El Elefante. Lokal stattfindende Festivals in Buenos Aires seien für Theaterschaffende relevant, sobald ein Bezug zum Ausland bestehe. Sei es im Rahmen des groß angelegten internationalen Theaterfestivals FIBA, um für ein internationales Publikum, insbesondere für Festivalscouts sichtbar zu werden, sei es im Rahmen der neben der FIBA in Buenos Aires zahlreichen weiteren existierenden lokalen Festivals wie z.B. des Festival Beckett oder des ESCENA-Festival (vgl. Interview mit Pablo Silva am14.09.2014; Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). Dem lokalen Publikum ermöglicht ein Festival wie die FIBA zugleich, einen Eindruck von Theaterästhetiken außerhalb des Landes zu gewinnen.

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3.2.2.

Sanfte (Be)Steuerung: Kommerzielles Theater

Im Gegensatz zu den staatlichen Theatern befinden sich die kommerziellen Theaterhäuser in privater Hand und werden ausschließlich privat finanziert (vgl. Kap. 3.1).53 Jedoch genießen sie steuerliche Vorteile oder gar Befreiungen: So fallen beispielsweise weder eine Einkommenssteuer auf den Gewinn, noch eine Umsatzsteuer auf Ticketpreise an (vgl. Contarelli 2017). Grund dafür ist offensichtlich eine gezielte und gut organisierte Lobbyarbeit. Seit 1918 sind die kommerziellen Theater in einem Verbund organisiert, der sog. Asociación Argentina de Empresarios Teatrales (AADET), der explizit die Interessen der TheaterbetreiberInnen gegenüber Stadt und Staat vertritt.54 Der AADET pflegt die einzigen Statistiken über BesucherInnenzahlen und Produktionen der Teatros Comerciales, eine quantitative Grundlage für Argumentationen zur Bedeutung der kommerziellen Theater: Die kommerziellen Theaterhäuser bilden den sog. »Broadway« von Buenos Aires, einen Touristenmagnet und Hauptattraktionspunkt für viele BewohnerInnen und BesucherInnen der Stadt. Insgesamt könnte man daher das Verhältnis zwischen Staat und kommerziellen Theatern als liberal beschreiben: Das Maß, in dem der Staat die kommerziellen Theaterhäuser fördert, bemisst sich an ihrer Bedeutung als Standortfaktor für den Tourismus und das Marketing der Stadt, und, eng verbunden damit, an ihrer Bedeutung als mittelständische Unternehmen, die positiv zur städtischen Wirtschaft beitragen.

3.2.3.

Stolz des Laissez-Faire: Off-Theater

»It’s very chaotic here. The state does not really care about us,« ist eine der häufigsten Aussagen, die ich vonseiten der TheatermacherInnen aus der Off-Szene vernehme. Diesen Eindruck kann ich ohne direkten Kontakt zu KulturpolitikerInnen weder bestätigen noch widerlegen. Es fällt zwar auf, dass sich die Stadt Buenos Aires auf ihrer Webseite einer Vielzahl an Theatern, insbesondere auch Off-Theatern, rühmt und diese als Standortfaktor deklariert. Doch was bedeutet das für die OffTheater? Die Off-Theater werden ebenso wie die kommerziellen Theater privat geführt und unterstehen damit nicht wie die öffentlich geförderten Theater dem Staat. Auskünfte über Rechtsformen waren meist unmöglich: In mehreren meiner Interviews erhalte ich die Information, dass einige der Theater als sog. »Asociación civil

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Die kommerziellen Theater befinden sich in privatwirtschaftlichen Rechtsformen, vergleichbar etwa mit GmbHs (vgl. Interview mit Pablo Silva am14.09.2014; mit Sebastian Blutrach am 20.03.2016). www.aadet.org.ar/; Zugriff 25.03.2019.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

sin fines de lucro« (gemeinnützige Vereine) gemeldet sind. Keines der Theater, das ich ausgewählt habe und das ich darüber hinaus während meiner Recherchen kennenlerne, entpuppt sich jedoch als »Asociación civil sin fines de lucro«. Die von mir interviewten InhaberInnen von Off-Theatern erklären, für sie zähle lediglich, ob sie selbst ihre Räumlichkeiten als »Theater« bezeichnen, der Rechtstatus sei dafür irrelevant. Das El Kafka ist das einzige Theater aus meiner Auswahl, dessen Rechtsform eindeutig als Cooperativa benannt ist, jedoch erscheint diese eher als Arbeitsund Organisationsmodell innerhalb der Gruppe nicht als offizieller Rechtsstatus (vgl. Interview mit R. Szuchmacher am 24.08.2014). In Gesprächen mit den TheaterInhaberinnen stellt sich heraus, dass OffTheater, ähnlich wie kommerzielle Theaterhäuser, das Privileg der Steuerbefreiung genießen und keine Abgaben für Straßenreinigung oder Straßenbeleuchtung bezahlen (vgl. Interview mit R. Szuchmacher am 24.08.2014). Dieses Entgegenkommen wirkt zwar einerseits großzügig, doch andererseits fallen die Steuern beim minimalen Gewinn der Off-Theater wahrscheinlich kaum ins Gewicht. Die gesetzlich festgelegte Steuerbefreiung wurde, wie bereits erwähnt, durch die Interessensvertretung der kommerziellen Theater bewirkt (vgl. Contarelli 2017). Dass sich diese Befreiung auch auf die ebenfalls privaten Off-Theater bezieht, ist wahrscheinlich als juristischer Nebeneffekt zu werten und nicht als bewusste Bevorteilung der Off-Theater durch den Staat. Institute der Förderbürokratie: INT und Proteatro Im Unterschied zu den kommerziellen Theatern können sich Off-Theater jedoch um Projektförderungen oder zeitlich begrenzte institutionelle Förderungen bewerben. Die beiden relevanten staatlichen Förderinstrumente sind das argentinienweit operierende Instituto National de Teatro55 (INT) und das speziell für die Fördermit-

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Das INT ist ein seit 1997 vom Staat eingesetztes Institut, das direkt dem Kulturministerium unterstellt und für die Förderung von Theatern auf finanzieller sowie ideeller Ebene zuständig ist. Das Gesamtbudget des INT ist nicht einsehbar. Die Spielstätten und Gruppen können sich ganzjährig für eine Förderung bewerben. Das INT fungiert zudem als Herausgeber von Literatur über argentinisches Theater wie z.B. Werken über die Geschichte des Teatro Cervantes, das Theaterangebot in einer Provinz südlich von Buenos Aires oder Dramentexte von Gegenwartsautoren (vgl. http://inteatro.gob.ar/; Zugriff 18.03.2019). Diese Literatur steht teils zur kostenlosen Abholung im Büro des INT an der Avenida Santa Fé zur Verfügung.

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telvergabe in der Hauptstadt zuständige Proteatro56 (Instituto para la Protección y Fomento de la Actividad Teatral No Oficial de la Ciudad), (vgl. Kap. 2.1.3). Doch wie funktioniert die Auswahl der Theater, die gefördert werden? Nach welchen Kriterien wird hier vorgegangen? Wer sind die JurorInnen? Ich kontaktiere das INT und Proteatro, um etwas zum Auswahlverfahren zu erfahren. In beiden Fällen werde ich jedoch von MitarbeiterInnen auf die jeweiligen Webseiten verwiesen. Neben der Benennung der Jury, zusammengesetzt jeweils hälftig aus externen Fachleuten und MitarbeiterInnen der Stadtverwaltung, sowie umfangreichen Auflistungen von Gesetzestexten, welche die Existenz der beiden Institutionen einzeln und minutiös legitimieren, kann ich den Onlineformularen Kriterien und Vorbedingungen für eine Bewerbung entnehmen: Voraussetzung ist anscheinend ein bereits laufender, regelmäßiger Betrieb des Theaters über mehrere Monate hinweg.57 Folglich müssen die jeweiligen InhaberInnen ihr Theater über einen bestimmten Zeitraum eigenständig finanzieren können. Die Regularien sehen darüber hinaus unzählige räumliche und logistische Bedingungen vor: Auffällig ist, dass die »künstlerische Arbeit« nicht als zu fördernder Posten in den Förderrichtlinien der beiden Institutionen auftaucht. Die Förderung bezieht sich nur auf Materialkosten: Requisiten, Mietkosten, sogar eine Kassenkraft können unter der Rubrik »Ausgaben« berücksichtigt werden, doch für die künstlerische Leistung der SchauspielerInnen, RegisseurInnen etc. ist keine Förderung vorgesehen. Offensichtlich geht der Staat, in diesem Fall repräsentiert durch INT und Proteatro, davon aus, dass die TheatermacherInnen ihre Lebenshaltungskosten selbst

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57

Proteatro existiert seit 1999. Eine Zusage durch Proteatro bedeutet, dass ein Theater für ein bis zwei Jahre mit 50 Prozent seiner Fixkosten (Miete, Strom, Kassenkraft etc.) bezuschusst wird. Proteatro vergibt ausschließlich Fördermittel an Off-Theater, nicht aber an einzelne Personen oder Projekte. Theater wie das El Camarín de las Musas, das El Elefante, das El Kafka und das Teatro de Bravard erhalten Zuschüsse von Proteatro. Exemplarisch führe ich einen Auszug aus dem jährlichen Förderbudget von 2014 an: Nach den Angaben auf der Webseite von Proteatro ergaben sich folgende Förderungssummen: Im Jahr 2014 wurden 380 Gruppen mit Summen zwischen 10. und 30.000 Pesos (ca. 900 und 2700 Euro) gefördert. Mit einem Durchschnitt von 20.000 Pesos bei 380 Gruppen bedeutet das eine Gesamtfördersumme von ca. 8.600.000 (= ca. 780.000 Euro). Zusätzlich wurden 94 Spielstätten mit einer Fördersumme zwischen 30- 97.000 Pesos bedacht. Ausgehend von einem Durchschnitt von 60.000 pro Theater (= ca. 5400 Euro) würde sich bei 94 geförderten Theatern eine Summe von ca. 5.400.000 Pesos (= ca. 490.000 Euro) als Gesamtfördersumme ergeben (Währungsumrechnung Stand Juli 2014). Beim INT bedeutet das eine kontinuierliche Arbeit des Theaters über zwei Jahre; bei Proteatro, dass bereits in den letzten neun Monaten vor der Förderentscheidung an mindestens drei Tagen in der Woche Vorstellungen im jeweiligen Theater stattgefunden haben (vgl. INT: http://inteatro.gob.ar/; Zugriff 18.03.2019 und Proteatro: https://www.buenosaires. gob.ar/cultura/impulsocultural/proteatro; Zugriff 19.03.2019).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

aufbringen, ihre künstlerische Tätigkeit finanzieren, anstatt durch sie finanziert zu werden. Der Soziologe Ruben Bayardo, der zu Off-Theatern in Buenos Aires während der 1990er Jahre forscht, bestätigt, dass für die Subvention eines Theaters oder eines Projekts durch die beiden Institutionen keine inhaltlichen Prämissen bestehen. Es gehe lediglich um die Erfüllung von Regularien und gute Kontakte (vgl. Interview mit R. Bayardo 01.08.2014). Norma Montenegro zum Beispiel stand über einige Jahre der städtischen Förderinstitution Proteatro vor. Ihre Kritik lautet ähnlich: Qualitative Kriterien die künstlerische Arbeit betreffend seien eher sekundär. Als förderrelevant gälte vor allem die betriebliche technische und räumliche Ausstattung der Theater. Das Auswahlverfahren bezeichnet sie als teils undurchsichtig, weshalb sie sich zu einem Rücktritt entschlossen habe (vgl. Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014). Weiterhin erfahre ich von TheatermacherInnen, dass gerade im Falle des INT die Gelder trotz Förderzusagen oft erst über ein Jahr nach Beendigung von Produktionen ausgezahlt werden. Durch die seit bald zwanzig Jahren anhaltende starke Inflation in Argentinien bedeutet die zeitliche Verzögerung der Auszahlung eine tatsächliche Minimierung der Fördersumme. »For our last play we received the money one year later. We payed everything by ourselves, the costumes, the props etc. After we received the money, we changed it in dollars to keep it for our next performance« (Interview mit J. Baio am 25.06.2014). Vor diesem Hintergrund lässt sich vielleicht verstehen, warum die meisten TheatermacherInnen angeben, ohne Budget zu arbeiten. Denn weder geförderten noch nicht-geförderten Produktionen steht während den Proben ein Budget zur Verfügung. Die Lizenz zum Spielen: Rechtliche Vorgaben Ein weiterer entscheidender Aspekt in Hinblick auf staatliche Förderung besteht in der Registrierung der einzelnen Theater beim zuständigen Ministerio de Cultura, welche wiederum die Anerkennung der jeweiligen Spielstätten gemäß ordnungsbehördlicher und veranstaltungsrechtlicher Vorgaben voraussetzt: »We have a problem with the spaces, not with the contents. We have laws regulating to play only in certain spaces. Someone can make the most horrible thing; we are out of regulations. Sometimes it’s a problem to be out of regulations« (Interview mit R. Szuchmacher am 24.08.2014). Der Staat greift folglich nicht inhaltlich ein, sondern wirkt über rechtliche Vorgaben auf die räumliche Situation der Off-Theater ein. Obgleich die Räumlichkeiten

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scheinbar keinen Katalog staatlicher Vorschriften spiegeln, scheinen viele von ihnen zu unterschiedlich, zu improvisiert (vgl. Kap. 3.3). Folgendes finde ich heraus: 2004 ereignete sich in der Diskothek Cromañón während eines ausverkauften Konzerts ein Brand, der 194 Todesopfer forderte. Cromañón wurde zum Auslöser für eine breite Diskussion an mangelnden Regularien hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen in Veranstaltungsräumen und zum Politikum: Der amtierende Bürgermeister von Buenos Aires trat zurück, neue gesetzliche Vorgaben wurden verabschiedet. Cromañón wurde damit zum Wendepunkt für das Teatro Independiente, das nach der Wirtschaftskrise (2001) geradezu explodiert war: Existierten Ende der 1990er Jahre noch knapp 20 Off-Theater in Buenos Aires, stieg die Zahl in den frühen 2000er Jahren auf über 400 an, so die Schätzung einiger meiner GesprächspartnerInnen. Unbeachtet und unbehelligt von staatlicher Seite eröffneten in den unterschiedlichsten räumlichen Situationen Spielstätten. Die neuen Vorgaben legen allerdings fest, dass Theater mit 30 oder 40 Plätzen ab dem Zeitpunkt dieselben Sicherheitsvorkehrungen treffen mussten wie Musikclubs mit mehreren 100 BesucherInnen; Vorgaben, die für viele Off-Theater, die sich in improvisierten Räumlichkeiten niedergelassen hatten, sowohl räumlich als auch finanziell kaum umsetzbar waren. Aufgrund dieser Gesetzesauflage, schätzt der Regisseur und Autor Raphael Spregelburd ein, habe sich die Zahl der Off-Theater zwischen 2006 und 2014 halbiert (Interview mit R. Spregelburd am 11.08.2014). In den folgenden Jahren formiert sich immer wieder Protest aus den Reihen der TheatermacherInnen, organisiert u.a. von den beiden Interessensvertretungen ARTEI (Asociación Argentina Del Teatro Independiente, seit 1998)58 und ESCENA (gegründet 2010)59 . Als eines der Gründungsmitglieder von ESCENA unterstreicht Lisandro Rodriguez seine politische Motivation: »The El Elefante was illegal at that time [gemeint sind die Jahre vor 2010], it was placed in a room of my flat; according to government it was not legally accepted« (Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). Nach langen Verhandlungen wurden die seit »Cromañón« verabschiedeten Vorgaben überarbeitet, die spezifische Situation der Off-Theater, die sich vom Betrieb eines Musikclubs unterscheidet, berücksichtigt. Doch auch weiterhin sind für den offiziellen Betrieb eines Spielorts Vorgaben einzuhalten, die nicht alle Theater erfüllen können. Insbesondere temporäre Spielstätten in Hinterzimmern 58 59

Die seit 1998 existierende Asociación Argentina Del Teatro Independiente zählt heute ca. 60 Off-Theater als Mitglieder (vgl. http://artei-artei.blogspot.com/; 05.03.2019). ESCENA ist ein Zusammenschluss aus ca. 20 Spielstätten, der sich als Plattform für rechtliche oder finanzielle Fragen hinsichtlich der Situation der Off-Theater versteht. ESCENA wurde 2010 gegründet. Im Kontrast zu ARTEI handelt es sich bei den Mitgliedern von ESCENA nur um Spielstätten mit einer Kapazität von bis zu 40 ZuschauerInnen; es sind die kleineren und meist noch weniger etablierteren unter den Off-Theatern, die besonders von den gesetzlichen Regulierungen seit »Cromañón« betroffen waren (vgl.: http://espaciosescenicosautonomos.blogspot.com/; Zugriff 25.03.2019 und Interview mit L. Rodriguez am 12.09.2014).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

oder Wohnräumen von Privatpersonen registrieren sich daher weiterhin nicht.60 Während einige InhaberInnen eine Registrierung scheuen, versuchen andere, wie etwa Matías Feldman, Inhaber des EL Bravard, über Jahre hinweg, die offizielle Registrierung zu erhalten: »We are still in process of legal authorization. We will be forever. That’s the only way. The final authorization is almost impossible to get. So we have a provisional authorization, while we are in the legal process. It’s ›kafkiano‹« (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014).

3.2.4.

Resümee: Eine Art friedlicher Koexistenz

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Staat zieht sich aus der Förderung der staatlichen Theaterinstitutionen seit über zwei Jahrzehnten stetig zurück, was sich u.a. in einer zunehmenden Reduzierung des staatlichen Theaterbetriebs ausdrückt. Die öffentliche Förderung deckt nur noch einen Bruchteil der Kosten, welcher überwiegend in die Verwaltung fließt, sodass ein Theater wie das städtisch getragene Teatro San Martín auf Gelder durch Privatvermietungen angewiesen ist. Diese jedoch werden wiederum nicht für den künstlerischen Betrieb eingesetzt, sondern für den investiven Erhalt des Gebäudes. Die Theatergebäude bestehen nur noch als Hüllen fort und halten so den Anschein einer kulturellen Grundversorgung seitens der Regierung aufrecht. Lediglich die im Vergleich günstigen Eintrittspreise dieser Institutionen erinnern noch an den kulturpolitischen Anspruch vergangener Zeiten, eines »Theaters für alle« (vgl. Kap. 2.1). Die kommerziellen Theaterhäuser sind hingegen nicht auf staatliche Gelder, aber doch auf das Wohlwollen des argentinischen Staates angewiesen, beispielsweise in Hinblick auf ihre zentralen Standorte. Dies gelingt nicht nur durch eine gut organisierte Lobbyarbeit, sondern auch weil sie für die Stadt notwendige, lokal ansässige, Wirtschaftsunternehmen darstellen, welche historisch wie gegenwärtig den Anschluss an Europa und an die USA repräsentieren und das Image der Stadt als kosmopolitische Metropole nähren. In Hinblick auf den Bereich der Off-Theater fällt auf, dass sich Buenos Aires zwar der großen Anzahl an Off-Theatern als Alleinstellungsmerkmal rühmt, jedoch keine nachhaltigen Förderstrukturen entwickelt, welche den Bedürfnissen der Theaterschaffenden und ihrer künstlerischen Arbeit entsprächen. Stattdessen findet eine undurchsichtige Förderung entlang formeller Regularien statt. Anstatt jedoch mehr Transparenz und Verantwortung seitens des Staates zu fordern, nehme ich bei vielen meiner GesprächspartnerInnen eher eine Erleichterung darüber wahr, möglichst »frei« von jeglicher staatlichen Einmischung agieren zu können. 60

Off-Theater werden in Buenos Aires gegen eine Gebühr bei dem städtischen Ministerio de Cultura registriert (vgl. Interview mit den Schauspiellehrern R. Szuchmacher am 25.08.2104, L. Rodriguez am 12.09.2014 und M. Feldman am 28.07.2014).

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Während ich es als Ausdruck des weiter oben bereits erwähnten »Defekts« wahrnehme, dass ich die kulturpolitischen Strukturen aufgrund der mangelnden Transparenz nicht besser zu fassen bekomme, wird dieser Zustand von den Theaterschaffenden vor Ort lediglich als »Chaos« bezeichnet, in und mit dem man sich »arrangiere«. Anscheinend spielt die kollektive Erinnerung an frühere staatliche Eingriffe – etwa während der Junta-Regierung der 1980er Jahre – eine überragende Rolle: Sie erscheint als so traumatisch, dass die aktuelle kulturpolitische Situation subjektiv als vergleichsweise liberal erlebt wird und die meisten TheatermacherInnen sich im Großen und Ganzen mit einer Art friedlicher Koexistenz zufrieden geben. Welche Spuren hinterlassen diese Beobachtungen in der sozial- und stadträumlichen Prägung der Theater? Wie bilden sie sich im sozial- und stadträumlichen Gefüge von Buenos Aires ab? Nehmen wir einen kleinen Umweg, um zum nächsten Abschnitt überzuleiten, der sich dem stadträumlichen Kontext der Theater widmet. So forscht die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid zu Buenos Aires: Anhand von Gedenkstätten und -ritualen, etwa denen der bereits erwähnten »Madres de la Plaza de Majo« (vgl. Kap. 2.1), verdeutlicht sie, wie sich »öffentliche Erinnerung« an den staatlichen Terror der Junta »im städtischen Raum produziert« – bzw. wie diese durch aktive gesellschaftspolitische Einflussnahme verschleiert wird und unsichtbar bleibt (Huffschmid 2015).61 Schon während meiner Recherchen vor Ort lautete meine Vermutung: So ähnlich verhält sich die (Kultur)Politik im Zusammenhang mit den drei Theaterbereichen. Welche Theater präsentieren sich aus welchen Gründen im städtischen Raum auf besonders präsente Weise und welche verschwinden dagegen aus welchen Gründen nahezu in der Unsichtbarkeit? Der folgende Abschnitt beschreibt den Status Quo der Architektur, städtebaulichen Einbettung und Sichtbarkeit der einzelnen Theaterbereiche; in Kapitel 5 wird es dann darum gehen, woran sich kollektive Erinnerung, Sicht-

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Besonders interessant erscheint ihr Forschungsdesign vor dem Hintergrund meiner eigenen Vorgehensweise: Denn in »Risse im Raum« vergleicht Huffschmid die beiden lateinamerikanischen Städte Mexiko-Stadt und Buenos Aires. Sie selbst beschreibt ihr Vorgehen auf folgende Weise: »Mit der Untersuchung von zwei so verschiedenen Stadt- und Erinnerungsszenarien wie Mexiko-Stadt und Buenos Aires ist kein klassischer Städtevergleich intendiert. Rekonstruiert werden vielmehr Genese und Textur kontrastierender urbaner Szenarien und Erinnerungslandschaften, die zugleich Analogien und zudem spezifische Verflechtungen aufweisen […]. Diese werden hier also nicht systematisch verglichen, sondern eher kontrapunktisch zueinander in Bezug gesetzt. Dabei fungiert die Spezifik der jeweils einen städtischen und politischen Konstellation gewissermaßen als Kontrapunkt für die Befragung und Erkundung der jeweils anderen. Es wird also eine gleichsam pendelnde Perspektive installiert, die, so die methodologische Hoffnung, neue Aspekte und Motive freizulegen vermag« (Huffschmid 2015: 26).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

und Unsichtbarkeit der Theater festmacht, welche Motivationen ihr zugrunde liegen.

3.3.

Von Stadtteil zu Stadtteil: Der städtische Raum von Buenos Aires

Im Folgenden richtet sich der Fokus auf die Lokalisierung der Theater/Theaterbereiche im Stadtraum von Buenos Aires: Wo in dieser Stadt befinden sich die staatlichen und die kommerziellen Theater sowie die Off-Theater? Lässt sich anhand der geografischen Verteilung eine Struktur/ein Muster erkennen? Wie sind die Spielstätten in ihre unmittelbare städtebauliche Umgebung eingebettet? In welchen Gebäuden sind sie beheimatet? Was lässt sich anhand ihrer architektonischen Gestalt über ihre stadtgesellschaftliche Bedeutung aussagen? Bevor diesen Fragen nachgegangen wird und zu diesem Zweck eine topografische Zoombewegung auf die Gegenden der Stadt vorgenommen wird, in denen die zu betrachtenden Theater liegen, beginnt vorliegender Abschnitt mit einer kurzen allgemeinen Einführung in die Stadtstruktur und -entwicklung von Buenos Aires. Bei der späteren näheren Betrachtung der Architektur, stadträumlichen Lage und Umgebung der Theater bilden diese allgemeinen Aussagen zur städtischen Struktur und Entwicklung eine Folie, ohne die ein grundlegendes Verständnis der vorgefundenen Bedingungen für die Leserin und den Leser unverständlich blieben.

3.3.1.

La Capital Federal gestern und heute: Stadtentwicklung und -struktur

Sternform, Barrios und Cuadras: Die Stadtstruktur von Buenos Aires Der Blick auf einen Stadtplan von Buenos Aires zeigt eine Stadt, die sich vom Wasser her, das die natürliche Grenze im Osten bildet, ins Landesinnere gen Westen erstreckt. Ihre Vorstädte reihen sich sternförmig um das Stadtgebiet der Capital Federal. Die Capital Federal untergliedert sich in 48 Stadtteile. Ein Großteil dieser Stadtteile zählt jeweils über 100.000 EinwohnerInnen.62 Viele wirken wie separate Städte mit eigenen Zentren, die sich nochmals in eine Vielzahl an Vierteln unterteilen. Im argentinischen Sprachgebrauch findet sich in diesem Zusammenhang der Begriff des »Barrio«. Als Barrio kann sowohl ein Stadtteil als auch ein nicht exakt festgelegtes, sich teils über mehrere Stadtteile erstreckendes Gebiet bezeichnet werden. Der argentinische Soziologe Alejandro Grimson erläutert Barrio, wie folgt: »Es ist ein Modus der Lokalisierung, der Markierung sozialer 62

Einwohnerzahlen: z.B. Villa Crespo (ca. 83.000), Balvanera (ca. 137.000), Almagro (ca. 128.000), Boedo (ca. 45.000) (www.buenosaires.gob.ar/laciudad/barrios; Zugriff 15.03.2019)

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Interaktionen und der sozialen Identifikation. […] Das Barrio wird nicht als reine Verwaltungskategorie verstanden, sondern als soziale, auf den Raum bezogene Kategorie« (Grimson 2013: 81f.).63 Neben den »offiziellen« Barrios (Stadtteilen) existieren daher etliche inoffizielle Barrios – Gegenden, die in der Bevölkerung den Status eines Barrios innehalten (vgl. Kap. 3.4).

Abb. 2

Die architektonische Struktur von Buenos Aires ist durch die präformierten Cuadras (Gebäudeblocks 100 x 100m) bestimmt, welche als Rahmensetzung für die jeweilige Blockbebauung fungieren. Im Kontrast zu den systematisch angelegten, teils endlos erscheinenden Rasterlinien des Straßennetzes ist der Baubestand der einzelnen Cuadras in den meisten Barrios räumlich und stilistisch heterogen: Zweistöckige Gebäude aus Zeiten der Republikgründung befinden sich neben mehrstöckigen Apartmenthäusern im Stil der französischen Moderne oder Hochhaustürmen aus den 1980er Jahren; dazwischen liegende Baulücken werden mit Sonnensegeln überspannt und als Park- oder Sportplätze genutzt. Durch die unterschiedlichen architektonischen Formen und Höhenverhältnisse wird der Blick auf meterhohe, blanke Brandschutzwände freigelegt, die im Argentinischen den poetischen Namen las medianeras tragen und eine der baulichen Charakteristiken der Stadt darstellen. In den zentralen Gegenden der Stadt sind die Gebäudeblocks

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Umgangssprachlich würde man im Deutschen wahrscheinlich am ehesten von einem »Kiez« sprechen, da dieser Begriff ähnlich wie »Barrio« eine sozialräumliche Dimension beinhaltet.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

dicht bebaut, nur einige wenige Cuadras werden durch einzelne frei stehende Gebäude dominiert, die repräsentativ auf diesen Freiflächen thronen.

Abb. 3

Schachbrett und Wachstum: Die Stadtentwicklung von Buenos Aires Wie die meisten Kolonialstädte wurde auch Buenos Aires bei seiner Gründung 1537 schachbrettartig als symmetrisches Rasternetz angelegt. Das Stadtgebiet umfasste in den ersten drei Jahrhunderten nur einen Bruchteil der Fläche der am Flussufer gelegenen heutigen Stadtteile Montserrat, San Telmo und La Boca. Erst durch die Ernennung der Stadt zum Verwaltungshauptsitz des neu gegründeten spanischen Vizekönigreichs Rio de la Plata (1776) und damit verbunden zu einem der offiziellen

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Handelszentren Lateinamerikas erlangte Buenos Aires politische und repräsentative Bedeutung. Im Zuge dessen erfolgte u.a. die Erbauung von Theaterhäusern wie dem Teatro Rancheria (vgl. Kap. 2.1). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach der Unabhängigkeitserklärung vom spanischen Imperium 1810, begann sich die bis dahin flächenmäßig kaum gewachsene Stadt über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus auszudehnen. Durch den Hafen, den Ausbau der Agrarwirtschaft und die Ansiedelung von Industriebetrieben setzte eine Urbanisierung ein:64 Zählte Buenos Aires zu Beginn des 19. Jahrhunderts ca. 50.000 EinwohnerInnen, so waren es 100 Jahre später bereits über eine Million (vgl. Osterhammel 2009: 379).65 Mit demografischem und wirtschaftlichem Wachstum ebenso wie mit zunehmender politischer Bedeutung – 1880 wurde Buenos Aires zur Hauptstadt Argentiniens ernannt – vollzog die Stadt seit Ende des 19. Jahrhunderts einen architektonischen und räumlichen Wandel. Zum einen wurde das historische Zentrum der Kolonialstadt monumental erweitert: Repräsentative Parlamentsgebäude wie etwa der Congreso66 oder der Justizpalast entstanden in Anlehnung an europäische Baustile dieser Zeit. Einige enge Straßen wurden zu sog. Avenidas erweitert, breit angelegten Durchbruchstraßen, die nach dem Pariser Vorbild der Haussmanschen Boulevards entstanden und das symmetrische Straßennetz auflockern sollten (vgl. Bernardi 2004: 343): Von Ost nach West durchziehen sie die Stadt im Abstand von meist vier Cuadras; von Süd nach Nord im Abstand von meist acht oder neun Cuadras. Der Bau der Avenidas und die damit einhergehende Erweiterung einiger Straßenzüge hatten zur Folge, dass gesamte Häuserzeilen niedergerissen wurden u.a. viele der damaligen Theaterhäuser, wie z.B. das Teatro Opera67 (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 124). Eine dieser Avenidas ist die Avenida Rivadavia, die bis heute

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Das argentinische Hinterland diente dabei hauptsächlich als wirtschaftliche Ressource, die Rohstoffe, wie z.B. Weizen wurden meist in Buenos Aires verarbeitet und für den Export aufbereitet. In Folge entwickelten sich die Stadt und Provinz Buenos Aires zu den fortschrittlichsten und reichsten des Landes (vgl. König 2006). Die meisten der neuen StadtbewohnerInnen waren als EinwandererInnen aus Europa auf der Suche nach Arbeit nach Argentinien gekommen. Mit seinem Hafen am Rio de la Plata bildete Buenos Aires das erste Auffangbecken für Neuankömmlinge aus Europa, die sich entweder in der Stadt und ihren zahlreichen Vorstädten niederließen oder ins Landesinnere von Argentinien weiterzogen (vgl. Werz 2012). Der Congreso, der Sitz der Legislative, wirkt als wäre er über eine symbolische Achse, die Avenida de Mayo, mit der Exekutiven, dem Präsidenten im Casa Rosada am Plaza de Mayo, verbunden. »Das »La Ópera« wurde 1872 an der sog. »Corrientes Angosta« (dt. »schmale Corrientes«), errichtet. Im Zuge der Baumaßnahmen zur Verbreiterung der Straße wurde das Theater 1935 abgerissen und 1936 mit Beendigung der Bauarbeiten ebenfalls an selbiger Stelle das neue, im zeitgemäßen Art-Deco-Stil errichtete »Teatro Ópera« wiedereröffnet (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 124).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

wahrscheinlich wichtigste geografische Orientierungsachse innerhalb von Buenos Aires, welche die Stadt in eine Nord- und eine Südhälfte unterteilt: Aufgrund ihrer Bedeutung für die sozialräumliche Entwicklung der Stadt wird sie im folgenden Themenfeld weitere Erwähnung finden (vgl. Kap. 3.4). Zum anderen fand Ende des 19. Jahrhunderts eine räumliche Ausdehnung der Stadt in Richtung Süd, Nord und West statt: Im Süden, nahe des Hafens und dem Fluss Riachuelo, entstanden Industrieanlagen und Wohnraum für die ArbeiterInnen. Bis heute finden sich im Stadtbild zweistöckige Häuser, Gebäudetypen wie der sog. Conventillo68 oder das sog. Casa de Chorizo69 , welche aus dieser Zeit stammen (vgl. die heutigen Stadtteile San Telmo, La Boca, Barracas etc.). Im Norden wurden großzügige Villen nach Pariser Vorbild erbaut, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts langsam durch zahlreiche Apartmentblocks im Stile der französischen Moderne verdrängt wurden (vgl. die heutigen Stadtteile Recoleta oder Belgrano etc.). In den noch wenig bevölkerten, oftmals landwirtschaftlich genutzten Gebieten im Westen der Stadt setzte die Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts durch den Bau von Fabriken, Großmärkten und Wohnvierteln ein. Heute handelt es sich dabei fast ausschließlich um Wohngegenden. Die im 19. Jahrhundert noch zweistöckig erbauten Wohngebäude wurden meist im Zuge der Nachverdichtung im 20. Jahrhundert durch Apartmentblocks ersetzt (vgl. die heutigen Stadtteile Balvanera, Villa Crespo, Boedo etc.) (vgl. Martinez u.a. 1990: 438ff.). Durch den Bau der Eisenbahnlinien begann sich die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts sternförmig auszubreiten. Im Süden und Norden des Zentrums von Buenos Aires wurden in den Stadtteilen Constitución und Retiro zwei Kopfbahnhöfe errichtet, die bis heute zwei der wichtigsten öffentlichen Verkehrsknotenpunkte der Stadt bilden, um sowohl innerhalb von Buenos Aires als auch ins Landesinnere zu reisen. Die Eisenbahn ermöglichte den Menschen Eigenheime in den Vorstädten zu beziehen und zur Arbeit in die Stadt zu pendeln (vgl. Goreli/Silvestri 2010: 302). Innerhalb von Buenos Aires begann der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes entlang der Avenidas, 1913 wurde die erste Subte-Linie (Metro) eingeweiht (vgl. Singh 2013: 175). Heute verlaufen drei der Linien nördlich und eine der Subte-Linien südlich der Avenida Rivadavia. Zwei weitere Subte-Linien verbinden den Norden 68

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Conventillos: »Seit Ende des 19. Jahrhunderts bestanden in Buenos Aires die großen Häuser oder auch flachen Gebäude mit Fluren und Innenhöfen aus einzelnen Zimmern, in denen jeweils eine Familie wohnte. Manche von ihnen teilten Badezimmer und Küche« (Grimson 2013: 89). Dieses ist nach der Chorizo-Wurst benannt, da die Architektur des Gebäudes sich schmal, in die Tiefe des Cuadras zieht. Ausgestattet sind diese meist zweistöckigen Gebäude mit einem zentralen Patio, um welchen die einzelnen Räume angelegt waren. Folglich gibt es nur an der Frontseite zur Straße hin oder in Richtung des Patios Fenster. In den ärmeren Vierteln wie La Boca wurden die einzelnen Zimmer dieses Häusertypus oftmals von einer ganzen Familie bewohnt (vgl. Martinez et al. 1990: 439).

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und den Süden. Das öffentliche Hauptverkehrsmittel bildet abseits der Subte das Colectivo-System (Bussystem). Im frühen 20. Jahrhundert bildeten sich aufgrund des andauernden Zuzugs von MigrantInnen und dem damit einhergehenden Wohnraummangel erstmals sog. Villas Miserias: großflächige, informelle Elendsviertel. Die meisten dieser Siedlungen entstanden im Süden und Süd-Westen der Stadt Buenos Aires (vgl. Caggiano/Segura 2013: 276f.).70 Präsident Juan Perón (1946-55) versuchte diesem Mangel an Wohnraum während seiner Amtszeit durch staatliche Wohnungsbauprogramme zu begegnen (Bernanrdi 2004: 345).71 Die sozialpolitischen und städtebaulichen Anstrengungen, die unter Perón begannen, wurden in den folgenden Jahrzehnten zwar fortgesetzt, etwa in den Stadtteilen Villa Soldati oder Villa Lugano im Südwesten der Stadt, doch konnte der räumlichen Manifestation des Elends nicht entgegenwirkt werden.72 Die staatlich forcierte Urbanisierung dieser beiden Stadtteile, Villa Lugano und Villa Soldati, begann in den 1960er Jahren: In den kommenden 30 Jahren entstanden riesige Wohnanlagen mit Monoblockbebauungen, die nicht nur Wohnraum für über 200.000 BewohnerInnen, sondern auch kulturelle und soziale Angebote bieten sollten. Dazwischen bildeten sich jedoch informelle Siedlungsstrukturen: so befinden sich in Villa Lugano vier der 23 Villa Miserias von Buenos Aires (vgl. De Virgilio et al. 2010: 252ff.). Der Stadtforscher Raul Fernandez Wagner, Professor an Universidad de Sarmiento, der nach eigenen Angaben die Entwicklung von Villa Soldati und Villa Lugano seit Jahrzehnten verfolgt, berichtet in einem Interview davon, dass diese Wohnanlagen nach der Regierungsübernahme durch die Militärjunta (1976) zum Inbegriff der Stadtsäuberung wurden (vgl. Interview mit Wagner am 23.08.2014). Ziel sei es zum damaligen Zeitpunkt gewesen, die Bevölkerung von der Straße zu holen und die Elendsviertel durch »saubere« Alternativen zu ersetzen. Die Militärregierung gab teils noch unfertige Gebäude vorzeitig zum Bezug frei. Die meisten der Wohntürme sind bis heute nicht fertiggestellt. Die Eile im Vorgehen stand, laut

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In Gegenden nördlich der Avenida Rivadavia existierten und existieren zwar auch informelle Siedlungen, siehe zum Beispiel die Villa 31 im Stadtteil Retiro, jedoch nehmen diese vergleichsweise weit weniger Fläche im jeweiligen Stadtteil ein, als in den Gegenden südlich der Avenida Rivadavia. Beispielsweise entstand im Stadtteil Saveedra 1949 das Viertel Juan Perón mit über 400 Wohnungen sowie einer Vielzahl an sanitären und pädagogischen Einrichtungen (vgl. Benvenuto u.a. 2010: 35). »Villa« bedeutet im Deutschen »Kleinstadt« oder »Siedlung«. Der Begriff taucht als feste Bezeichnung für einzelne Stadtviertel auf, die ähnlich wie Kleinstädte angelegt wurden, so etwa die im Text genannten Villa Soldati und Villa Lugano. Die »Villa Miseria« hingegen meint ein »Elendsviertel«. »Miseria«, das Elend, als Attribut der Siedlung: Spricht man von einer Villa, handelt es sich um eine Villa Miseria.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Wagner, im Zusammenhang mit der in Argentinien stattfindenden Fußballweltmeisterschaft von 1978. Den Machthabern sei es wichtig gewesen, der Welt und sich selbst eine saubere, moderne Stadt zu präsentieren (vgl. ebd.). Im Zuge der Weltmeisterschaft wurden in Buenos Aires weitere Großbauprojekte umgesetzt, zu denen auch der Bau der Autobahn oder die Errichtung von Prestigeobjekten wie dem Gebäude für die 1976 neu gegründete Fernsehgesellschaft Argentina Televisora Color im Zentrum von Buenos Aires zählt (vgl. Gorelik/Silvestri 2010: 304f.).73 Nach Ende der Militärherrschaft stand Argentinien kurz vor dem Staatsbankrott. Um die Staatskassen aufzubessern, setzte Präsident Carlos Menem (1989 – 1999) auf neoliberale Wirtschaftspolitik und damit verbunden auf flächendeckende Privatisierung (vgl. Kap. 2.1). Im Zuge dessen wurden von privaten InvestorInnen in den 1990er Jahren einige Großbauprojekte am Rande ebenso wie im Zentrum der Stadt Buenos Aires realisiert: Es entstanden exklusive Country Clubs und sog. »barrios cerrados« (Gated Communities), die über direkte Autobahnzufahrten mit dem Zentrum verbunden waren (vgl. Gorelik/Silvestri 2010: 305f.). Zwei der populärsten Privatisierungsvorgänge der Menem-Ära sind Puerto Madero und das Abasto Shopping Center (vgl. Kap. 3.3.3 und 3.3.4). Im weiteren Verlauf der Darstellung beziehe ich mich auf Beobachtungen der vorgefundenen, gegenwärtigen stadträumlichen Strukturen ebenso wie der architektonischen Gegebenheiten der Spielstätten. Ihre Auswahl und mein Vorgehen folgen den bereits in Kapitel 1.4 erläuterten methodischen Überlegungen.

3.3.2.

Das kleine Stadtzentrum: Microcentro

Wir befinden uns im historischen und politischen Stadtzentrum von Buenos Aires: auf der Plaza de Mayo.74 Die politische Bedeutung des Platzes geht auf die Jahre der Unabhängigkeitsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück: 1810 wurde an der Plaza de Mayo die Unabhängigkeit vom spanischen Mutterland ausgerufen. Heute ist der Platz ein Ort des Volkes und des öffentlichen Protests: Täglich finden eine oder auch mehrere Protestaktionen statt; teils nur auf dem Platz selbst, teils,

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Der Stadthistoriker Adrian Gorelik und die Architektin Graciela Silvestri gehen davon aus, dass diese Prestigeprojekte und damit »das Bild eines modernisierten Landes, dass es, obwohl an der Peripherie gelegen, durchaus mit den Ländern des Zentrums aufnehmen konnte […], einen entscheidender Beitrag zur Konsolidierung der Diktatur geleistet hatte« (Gorelik/Silvestri 2010: 304f.). Der Plaza de Mayo erhielt seinen Namen 1810 in Gedenken an die Mairevolution von 1810. Vormals hieß der Platz nacheinander Plaza de la Victoria, Plaza del Fuerte und schließlich Plaza de Armas (vgl. Benvenuto u.a. 2010: 32).

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im Falle der großen Massendemonstrationen, erstrecken sie sich bis auf die parallel zur Plaza de Mayo verlaufenden vierzehnspurigen Avenida 9 de Julio.75

Abb. 4

Der Platz selbst wird von verschiedenen politischen Gebäuden gesäumt, die unterschiedliche Regierungsepochen und -instanzen repräsentieren: Neben dem ehemaligen Verwaltungssitz der Kolonialbehörde, dem Cabildo76 , der heute als Museum dient, befinden sich hier u.a. der Präsidentenpalast, genannt Casa Rosada (»rosa Haus«; erbaut 1890), und das Rathaus von Buenos Aires (erbaut 1893). Das Gebäudeensemble des Platzes wird ergänzt durch die Kathedrale der Stadt Buenos Aires (erbaut 1863) und die Hauptfiliale der argentinischen Nationalbank (erbaut in den 1930er Jahren), zwei Gebäude, deren Präsenz als symbolischer Verweis auf die Bedeutung der katholischen Kirche und des Kapitals im argentinischen Staat 75

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Die bekannteste Protestaktion ist wahrscheinlich die der Madres de la Plaza de Mayo (vgl. Kap. 2.1). Wie sich vergleichbare soziale und performative Praktiken zu ähnlichen stadträumlichen Umgebungen verhalten, kann man in Kathrin Wildners Studie zum Plaza de Zócalo in Mexiko-Stadt (vgl. Wildner 2003: 159) oder auch in Setha Lows Studie »La Plaza: the politics of public space and culture«, die etwa den Hauptplatz in San José, Costa Rica behandelt (vgl. Low 2000: 239), nachlesen. Der heutige Cabildo stammt aus dem Jahr 1940 und stellt lediglich eine Rekonstruktion des historischen Verwaltungshauptsitzes dar. Die ältesten heute in Buenos Aires existierenden Gebäude stammen aus dem 19. Jahrhundert; als Referenz an die Kolonialzeit sind lediglich das Rasternetz der Straßen oder rekonstruierte Bauten wie der ehemalige Verwaltungshauptsitz der Kolonialbehörde (vgl. Benvenuto u.a. 2010: 32) geblieben.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

interpretiert werden könnten. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich anstelle der Bankfiliale ein Vorläuferbau des heutigen Teatro Colón, der Staatsoper, befunden; das Gebäude fiel jedoch 1888 einem Brandanschlag zum Opfer und wurde daraufhin an anderer Stelle, an der nahe gelegenen Plaza Gral. Lavalle 1908 wiedereröffnet (vgl. Ulanovsky et al. 2012). Repräsentierte die Plaza de Mayo im 19. Jahrhundert ein Zentrum, auf dem sich politische und religiöse Macht »Mauer an Mauer« zur Unterhaltung der Bevölkerung befanden, konzentrieren sich seit dem 20. Jahrhundert an selbiger Stelle Politik, Religion und Kapital.

Abb. 5

Die Plaza de Mayo befindet sich im sog. Microcentro, dem »kleinen Zentrum« von Buenos Aires, eine Gegend innerhalb der beiden Stadtteile Montserrat und Saint Nicolas. In den umliegenden Cuadras (Gebäudeblocks) sind zahlreiche Verwaltungs- und Universitätsgebäude, Hauptsitze von Banken und Firmen, Museen sowie eine Einkaufsmeile angesiedelt. Einige 100 Meter Luftlinie entfernt, beginnt der »Broadway« von Buenos Aires, die Avenida Corrientes:77 Neben den kommerziellen Theaterhäusern finden sich hier die Hauptspielstätte des städtischen Theaters, das Teatro San Martín, und eine weitere Spielstätte des selbigen,

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Wichtig ist anzumerken, dass es sich bei der Avenida Corrientes um eine der Hauptstraßen von Buenos Aires handelt, die sich durch einen großen Teil der Stadt zieht; wenn von der »Corrientes« im Zusammenhang mit Theater gesprochen wird, handelt es sich jedoch meist nur um den Abschnitt der Straße, der im Microcentro von Buenos Aires liegt, nicht um die gesamte Straße.

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das Teatro Presidente Alvear.78 Fußläufig, etwa drei Gebäudeblocks entfernt, liegen das Teatro Cervantes, das argentinische Staatstheater, und das Teatro Colón, das Opernhaus der Stadt Buenos Aires. Diese beiden Theaterhäuser zählen zu den ältesten der Stadt, obgleich sie erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet wurden. Grund hierfür sind die bereits erwähnten städtebaulichen Maßnahmen zur Verbreiterung der Straßen, die dazu führten, dass keines dieser Gebäude die letzten beiden Jahrhunderte überdauerte (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 89ff.), obwohl bereits Ende des 18. Jahrhunderts die ersten großen Theaterbauten in Buenos Aires entstanden (vgl. Kap. 2.2). Das Teatro Colón wird aufgrund seiner Bedeutung für das städtebauliche und kulturgeschichtliche Verständnis des Theaters in Buenos Aires in vorliegendem Abschnitt in die Betrachtung einbezogen. Während sich im architektonischen Gewand der eben genannten historischen Theatergebäude der glanzvolle Flair vergangener Tage spiegelt, zeigen sich die meisten der anderen Theaterhäuser komplett verhüllt: Meterhohe Plakate, die Theatershows ankündigen, säumen die meist funktionale Architektur der Gebäude, die sich entlang der Avenida Corrientes reihen. Von den Plakaten lächeln argentinische Celebrities. Im weiteren Verlauf führe ich den Leser bzw. die Leserin durch die Stadt und stelle nacheinander das Teatro Colón und die bereits in Kapitel 1 benannten Theaterhäuser vor, ihre architektonische Form und bauliche Erscheinung: ein jedes Gebäude Ausdruck und Spiegel des zur Zeit seiner Erbauung vorherrschenden kulturellen Selbstverständnisses.79 78

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Außerhalb des Microcentro ist das städtische Theater mit drei Spielstätten vertreten. Zwei davon sind in den nördlich der Rivadavia gelegenen Stadtteilen Chacarita (ca. acht Kilometer vom Plaza de Mayo entfernt) und Palermo (ca. acht Kilometer vom Plaza de Mayo entfernt) lokalisiert. Die Lage dieser beiden ursprünglich privat gegründeten, heute städtischen Theater lässt sich damit erklären, dass die früheren BetreiberInnen ihr Programm ausschließlich an eine im Norden der Stadt Buenos Aires lebende Mittel- und Oberschicht richteten, die sich einen Theaterbesuch leisten konnten und wollten. Eine weitere städtische Spielstätte, das Teatro de la Ribera befindet sich in La Boca; auf diese Spielstätte werde ich im Laufe der stadträumlichen Betrachtung noch eingehen. Im Falle der staatlichen Theater handelt es sich nicht allein um ein kulturelles Selbstverständnis, vielmehr lassen sich in Anlehnung an den Soziologen Markus Schroer, an den Gebäuden die unterschiedlichen Repräsentationsformen politischer Regime ablesen: »Bis hinein in die Architektur, die Größe und Form der Gebäude, die Art des verwendeten Baumaterials und ihren Standort lassen sich Bezüge zwischen den jeweiligen politischen Regimen und ihren räumlichen Repräsentationen erkennen. Während das gläserne Regierungsgebäude für die Transparenz des demokratischen Modells stehen soll, in dem es nichts zu verbergen gilt, drückt die ebenso uneinsehbare wie uneinnehmbare Betonfestung des Diktators den unbedingten Willen zur dauerhaften Herrschaft aus« (Schroer 2006: 185). Dieses Verständnis von Architektur, das innerhalb des vorliegenden Abschnitts beibehalten wird, ist stark kulturund sozialwissenschaftlich geprägt und wird etwa von der Architektursoziologin Heike De-

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Teatro Colón Das Teatro Colón80 ist das wohl bekannteste und älteste Theater von Buenos Aires. Als eines der wenigen frei stehenden Gebäude und als einziges frei stehendes Theatergebäude der Stadt thront der repräsentative Prachtbau des Theater Colón auf einer einzelnen Cuadra. Während die Rückseite des Theaters der mehrspurigen, viel befahrenen Avenida 9 de Julio zugekehrt ist, erstreckt sich vor der Frontseite des Gebäudes der begrünte Plaza Gral. Lavalle. Dieser unbebaute, bepflanzte Platz unterstreicht nicht nur wirkungsvoll die Architektur des Theaters, indem die Betrachterin das Gebäude vom Platz, aus einigen Meter Entfernung, in seiner glanzvollen Gesamtheit wahrnehmen kann, sondern dient darüber hinaus als Flanierplatz dem Sehen-und-Gesehen-Werden der BesucherInnen vor den Vorstellungen. In seiner Architektur, die auf eklektizistische Weise klassizistische und historistische Stilelemente vereint, erinnert das Teatro Colón an europäische Theaterbauten des späten 18. Jahrhunderts und frühen 19. Jahrhunderts, etwa die Scala in Mailand oder das Nationaltheater in München. Der Prestigebau des Teatro Colón stellt jedoch nicht allein die »Imitation« eines europäischen Theaterbaus und damit europäischen Lebensgefühls in Buenos Aires dar, sondern ist vielmehr Ausdruck des Selbstbewusstseins der Bauherren, die Weltmetropole Buenos Aires mit dem zu dieser Zeit größten Opernhaus Lateinamerikas zu schmücken. Heute fungiert das Teatro Colón als Opern- und Konzerthaus ebenso wie als touristisches Wahrzeichen der Stadt. Neben den Abendveranstaltungen werden untertags Führungen durch das Gebäude angeboten. Der Rundgang durch das Gebäude gleicht einem Schwelgen im Prunk vergangener Zeiten. Die ältere Dame, welche mich durch das Haus führt, verweist voll Stolz auf dekorative Details des Gebäudes, die sich ähnlich im Bau der Opéra Garnier, die im 19. Jahrhundert in Paris erbaut wurde, wiederfinden sollen. Die Innenausstattung des Teatro Colón umfasst eine Proszeniumsbühne (vgl. Kap. 1, Fn. 80), um welche hufeisenförmig

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litz kritisiert: »Zwar wirkt« sich »das Soziale [Anm. d. Verf.: im Falle Schroers die politischen Regime] zweifelsohne auf die Architektur aus; aber zugleich hat die gebaute Gestalt zutiefst eine eigene soziale ›Effektivität‹« (Delitz 2010: 12). Demnach ist Architektur nicht allein als »Spiegel« und »Ausdruck« der Gesellschaft zu verstehen, sondern vielmehr als »faktische und daher auch zu denkende untrennbare Verschränkung von Architektur und Sozialem respektive Gesellschaft: um deren Symbiose. […] Zu denken wäre, dass sich jede Gesellschaft in ihrer Architektur eine expressive, sicht- und greifbare Gestalt schafft, die ihr keineswegs äußerlich oder sekundär ist.,« so Delitz (Delitz 2010: 13). Diese Kritik wird als gedankliche Folie erst in Kapitel 5 wieder eine Rolle für meine Argumentation spielen; im weiteren Verlauf meiner Bestandsaufnahme halte ich mich zunächst an die von Schroer beschriebene näherliegende oberflächlichere Formel eines direkten Abbilds sozialer Strukturen im gebauten Raum. Die Architekten des Gebäudes sind Francesco Tamburini, Vittorio Meano und Julio Dormal (Bernardi 2004: 342).

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sieben pompös mit Ornamenten verzierte, offene Ränge angeordnet sind. Inklusive der Stehplätze und einiger weniger Logen an den Seiten bieten sie Platz für knapp 4.000 Personen. Abb. 6

Adresse: Cerrito 628, San Nicolas

Die Wahl der Bauherren für ein offenes Rangtheater unterstreicht maßgeblich das vorherrschende Klassenverständnis einer liberalen Gesellschaftsordnung und steht im Gegensatz zum Logentheater des Absolutismus. Ebenso wenig orientiert sich der Bau jedoch an den zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa aufkommenden, demokratischen Theaterbauten und Theaterentwürfen, die sich auf antike Amphitheater berufen: In diesen Entwürfen wichen die Ränge, die den ZuschauerInnen oftmals nur eine eingeschränkte Sicht erlaubten, dem Versuch einer demokratischen Sitzordnung mit gleichmäßig ansteigenden Sitzreihen, die allen ZuschauerInnen eine gleich gute Sicht auf die Bühne ermöglichen (vgl. Brauneck 1996). Die Führung durch die prunkvollen Gänge und Säle des Theaters wirkt wie der Aufenthalt in einer anderen Welt, der Lärm der Straße, die in Buenos Aires omnipräsenten Auspuffgase, die Massen an Menschen, sind verschwunden. Der Kontrast bei Verlassen des Theaters durch den Hintereingang könnte daher nicht größer sein: Draußen die vierzehnspurige Avenida 9 de Julio, verstopft vom Verkehrsaufkommen der Rush Hour.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Teatro Cervantes Nur eine Cuadra vom Teatro Colón entfernt, an der Ecke Avenida Cordoba und Avenida Libertad, befindet sich in einem pompösen Eckgebäude das 1921 erbaute Teatro Cervantes, das argentinische Staatstheater.81 Im Vergleich zum Teatro Colón handelt es sich beim Teatro Cervantes um keine frei stehende Architektur und ein dimensional weit kleiner angelegtes Gebäude. Von außen ist lediglich die um die Ecke gehende neo-barocke Fassade des Gebäudes sichtbar; gerahmt wird selbige durch zwei Apartmentblöcke neueren Datums. Doch auch dieses Gebäude erinnert vom äußeren Erscheinungsbild ebenso wie vom Interieur an barocke und neo-barocke Theaterarchitekturen, die ich aus Europa kenne.

Abb. 7

Adresse: Av. Libertad 815, San Nicolas

Das Theater ist nur im Zuge von Veranstaltungen geöffnet, meist abends, an manchen Tagen findet jedoch auch ein öffentlich zugänglicher Bücherflohmarkt, mit Schwerpunkt Theaterliteratur, statt. Mein erster Besuch galt eben diesem Bücherflohmarkt, der mir die Möglichkeit bot, nicht nur den Hauptsaal, sondern auch die beiden kleinen Veranstaltungssäle betreten zu können, die nur selten bespielt werden. Im Inneren des Gebäudes empfängt die Besucherin bereits im Foyer ein prunkvolles, fast schon überladenes Dekor, das einen Kontrast zu den, an diesem Tag, improvisiert aufgestellten, Büchertischen des Flohmarkts bildet. Der Hauptsaal des 81

Die Architekten des Gebäudes sind Fernando Aranda and Emilio Repetto (vgl. www.teatrocervantes.ar; Zugriff 13.12.2018).

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Theaters ist mit Proszeniumsbühne, Parkett und ähnlich wie das Teatro Colón mit offenen Rängen ausgestattet (Kapazität ca. 860 Plätze). Dabei werden die ersten beiden der drei Ränge in Form von etwa ein Meter hohen Zwischenwänden, in Abstand von je vier bis fünf Plätzen unterteilt, und deuten damit eine Logenbauweise an. Neben dem Hauptsaal existieren im Teatro Cervantes zwei weitere Säle, weit kleiner in ihrer Dimension, doch nicht weniger pompös in ihrer Ausstattung: Zum einen das sog. Orestes-Caviglia-Zimmer, das laut einer Informationstafel im Theater bis in die 1990er Jahre als zum Theater gehörige Konditorei fungierte, welche das Publikum in den Pausen verköstigte. Heute wird der mit rötlich goldenen, Ornament bestückten Tapeten ausstaffierte Veranstaltungssaal für Theateraufführungen genutzt (Kapazität ca. 100 Plätze). Zum anderen der sog. Luisa-Vehil-Salon, ein vollkommen in Ornamentik aus Blattgold gehaltener Saal, der sowohl als Salon für Empfänge als auch als Veranstaltungssaal genutzt wird (Kapazität ca. 120 Plätze). Teatro San Martín Einige Cuadras vom Teatro Colón und Teatro Cervantes entfernt, wurde 1961, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den großen Boulevard- und Musicalhäusern an der Avenida Corrientes, das Teatro San Martín eröffnet: Während der Bau des Teatro Colón und der des Teatro Cervantes von privaten InvestorInnen initiiert wurde und erst später in staatlichen Besitz übergingen, ist das Teatro San Martín das erste Theatergebäude, dessen Bau durch die Stadt Buenos Aires in Auftrag gegeben wurde (vgl. Benvenuto et al. 2010: 35).82 Die Architektur des Theaters knüpft an die modernistischen Tendenzen des Internationalen Stils an (vgl. ebd.: 32). Links und rechts wird der Bau von einem jeweils bedeutend niedrigeren Gebäude flankiert, wodurch sich die Architektur des Theaters eindrucksvoll vom übrigen Baubestand der Cuadra abhebt. Die transparente Glasfassade ermöglicht den PassantInnen einen Blick von der Straße ins Innere des Gebäudes: Im ersten Geschoss befindet sich das Foyer zum großen Saal; die mit Steinboden ausgelegte Eingangshalle im Erdgeschoss wirkt wie eine Erweiterung des Trottoirs. Besonders eindrucksvoll ist, wie sich bei Dunkelheit von der gegenüberliegenden Straßenseite das Treiben der TheaterbesucherInnen im Inneren auf den groß angelegten Treppen und den unterschiedlichen Ebenen in dem hell erleuchteten Teatro San Martín mitverfolgen lässt. Die modernistisch anmutende, der Durchlässigkeit und Offenheit verpflichtete Architektur des Teatro San Martín steht im Kontrast zu den prunkvollen Mo82

Die Architekten des Gebäudes sind Mario Roberto Alvarez und Macedonio Ruiz (Bernardi 2004: 118).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Abb. 8

Adresse: Av. Corrientes 1530, Microcentro

numentalarchitekturen des Teatro Colón und des Teatro Cervantes. Während etwa die herrschaftlich wirkende, undurchsichtige Fassade des Teatro Colón noch wie eine Schwelle wirkt, die nur bestimmten BesucherInnen Einlass gewährt, öffnet sich die Architektur des Teatro San Martín durch seine gläserne Außenfassade und lädt förmlich zum Eintreten ein. Im Inneren ist das Teatro San Martín mit drei Theatersälen ausgestattet, wovon der größte über 1.000 ZuschauerInnen fasst. Die Reihen in den drei Sälen sind jeweils aufsteigend, sodass sich das Bühnengeschehen von jedem Zuschauerplatz ohne Einschränkung des Sichtfeldes verfolgen lässt. Neben den Theatersälen verfügt das Teatro San Martín über mehrere kleinen Säle, einen Kinosaal, einen Buchladen und eine Ausstellungsfläche für Kunstausstellungen. Das Gebäude ist tagsüber und bis in den späten Abend frei zugänglich. Lediglich vor den jeweiligen Veranstaltungssälen besteht eine Einlasskontrolle. Teatro Apolo Der Weg führt mich vom Teatro San Martín zu dem nur einige Cuadras entfernt liegenden Teatro Apolo. Auf der Webseite berufen sich die BetreiberInnen des Theaters auf die über 100-jährige Geschichte des Teatro Apolo, doch das heutige Gebäude oder besser gesagt, die durch das Theater genutzten Räumlichkeiten entstammen den 1990er Jahren. Es ist ein funktionalistischer Zuschauersaal mit einer Kapazität von 494 Plätzen. Das Theater ist im hinteren Part einer Einkaufspassage untergebracht, von außen verweisen nur die Plakate auf die Existenz eines

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Abb. 9

Adresse: Av. Corrientes 1372

Theaters. Die »100-jährige Geschichte« bezieht sich auf einen 1892 errichteten Vorläuferbau des Teatro Apolo, der städtischen Baumaßnahmen zur Straßenverbreiterung der Avenida Corrientes zum Opfer fiel. Nach der Schließung des Theaters 1958 formierten sich Proteste im Kreise der Theaterschaffenden. Ein Jahr später wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet (Ley n.°14.800), das Folgendes festlegte: Jedem abgerissenen Theatergebäude muss ein Theaterbau mit ähnlichen Proportionen folgen; das Grundstück darf keinem anderen Zweck zugeführt werden (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 128). Aufgrund dessen finden sich trotz mehrerer Abrisspläne die kommerziellen Theater bis heute entlang der Avenida Corrientes: Denn die Grundstücke und Immobilien der kommerziellen Theaterhäuser, die sich überwiegend an der Avenida Corrientes im Microcentro und damit in einer immobilientechnisch sehr hochpreisigen Gegend befinden, sind für den freien Markt aufgrund der Nutzungsvorschriften nur eingeschränkt von Interesse.83 Die im Gesetz vermerkten »ähnlichen Proportionen« scheinen im Neubau des Teatro Apolo jedoch nur bedingt Berücksichtigung gefunden zu haben: Das Theater befindet sich zwar am selben Platz, jedoch versteckt im hinteren Part der Passage und nicht, wie die Fotos des ursprünglichen Gebäudes zeigen, direkt an der Straße (vgl. ebd.: 91). 83

In diesem Zusammenhang sei nochmals die bereits im Abschnitt »Kulturpolitische Rahmenbedingungen« erwähnte Lobbyarbeit der kommerziellen TheatermacherInnen zu nennen: Das AADET war maßgeblich an der Verabschiedung dieses Gesetzes beteiligt. 2012 wurde ebenfalls auf Betreiben des AADET das 1959 erlassene Gesetz dahingehend verschärft (Ley 4104), dass bei einem Abriss auf demselben Grundstück der Bau eines neuen Gebäudes innerhalb eines Jahres erfolgen muss (vgl. Ulanovsky et al. 2012: 89ff.).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Teatro Picadero

Abb. 10

Adresse : Enrique Santos Discepolo 1857

Für den Besuch des nächsten Theatergebäudes laufe ich einige Cuadras Richtung Westen und biege dann in eine Seitenstraße der Avenida Corrientes. Hier befindet sich das Teatro Picadero, das bereits im Kontext des Teatro Abierto Erwähnung fand (vgl. Kap. 2.1). Dieses Theater ist 1981 durch ein Feuer bis auf die Fassade abgebrannt. Vermutet wird ein von der Militärjunta in Auftrag gegebener Brandanschlag, da das Teatro Picadero der Bewegung des Teatro Abierto84 als Spielstätte diente. Vom heutigen Inhaber des Theaters, Sebastian Blutrach, erhalte ich eine Führung durch das El Picadero. Ich erfahre, dass sich in dem zweistöckigen Gebäude ursprünglich eine Kerzenfabrik befunden hat (Architekt: Benjamín Pedrotti, 1926), an die jedoch heute nur noch die simple, im Stil der Industriearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts gehaltene Fassade, erinnert. Nach dem Brand von 1981 waren mehrere Versuche eines Wiederaufbaus aufgrund der Kosten gescheitert, so Blutrach (Interview mit S. Blutrach am 20.03.2016). Erst 2001 waren der Wiederaufbau und die Sanierung abgeschlossen. Die Architektur und Innenausstattung des Hauses sind funktional gehalten. Neben dem Theatersaal (Kapazität: 290 Plätze) ließ Blutrach, als er das Theater 2011 übernahm, ein Restaurant und eine Bar in das Gebäude integrieren. 84

Eine Theaterbewegung, die sich zur Zeit der Militärdiktatur (1976-83) in Argentinien entwickelte (vgl. Kap. 2.1).

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Paseo la Plaza

Abb. 11

Adresse: Av. Corrientes 1660

Nur drei Cuadras vom El Picadero entfernt, zurück an der Avenida Corrientes, liegt das Paseo la Plaza. Dieses kommerzielle Theater, das Ende der 1980er Jahre eingeweiht wurde, ist auf den Grundmauern einer 1883 eröffneten Markthalle errichtet.85 Diese Markthalle wurde im Zuge der neoliberalen Marktwirtschaft unter Menem (1989-1999) an private InvestorInnen veräußert, durch sie saniert und ihrer neuen Nutzung zugeführt (Eröffnung 1989): Als Reminiszenz an die vormalige Architektur, die abgerissene Markthalle des Mercado Modelo, wurden lediglich die Außenfassade sowie Säulenelemente und einige Mauern der historischen Bausubstanz in das heutige Bauwerk integriert. Das Paseo la Plaza wurde in vielen der Interviews als Inbegriff eines kommerziellen Theaterhauses genannt. Genau genommen handelt es sich jedoch bei dem Paseo la Plaza um kein Theater, und damit um kein monofunktionales Gebäude, sondern vielmehr um ein Gebäudeareal, das Shopping, Gastronomie und Unterhaltungsangebote vereint. Über eine Passage, bestückt mit Werbeplakaten für die Theatervorstellungen, gelange ich ins Innere des Gebäudeblocks. Eine Mitarbeiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit führt mich über das Gelände, das wie eine Einkaufspassage 85

Vgl. https://www.paseolaplaza.com.ar/; Zugriff 13.03.2019.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

unter freiem Himmel wirkt: Auf zwei Ebenen, die über Außen- und Innentreppen miteinander verbunden sind, befinden sich zahlreiche Läden, ein Kino, zwei große Theatersäle (Saal Pablo Neruda mit 520 Plätzen und Saal Pablo Picasso mit 438 Plätzen), eine Freilichtbühne, Cafés und Restaurants, dazwischen mit Kopfsteinpflaster ausgelegte Wege. Eine Besonderheit ist der Baumbestand, erklärt die Mitarbeiterin: Im Paseo la Plaza sind über 100 der verschiedenen Baumarten vertreten, die in der Stadt Buenos Aires zu finden sind. Das La Plaza wolle eine Oase für die BesucherInnen sein. Einige Gäste kämen extra aus den Vororten von Buenos Aires mit dem Auto hierher, für sie sei das La Plaza ein angenehmes Gesamtpaket – inklusive Parkgarage. Die »Oase« ist im Eingangsbereich, der an der verkehrslauten und viel bevölkerten Avenida Corrientes liegt, mit einem Gittertor versehen, das nachts geschlossen wird. Die bauliche Abschirmung zur Straße, das Angebot auf dem Areal und die Atmosphäre im Paseo la Plaza erinnern an die künstliche Welt einer Shopping Mall mit Open-Air-Charakter. Repräsentation oder Werbung: Architektur der staatlichen und kommerziellen Theater Während sich die institutionelle Konstruktion eines Teatro San Martín noch in den 1960er Jahren im Gegensatz zu den früheren repräsentativen staatlichen Theaterbauten im Kontext eines möglichst durchlässigen Kulturzentrums und ganz im Sinne des funktionalistischen und demokratischen Traums der architektonischen Moderne ausnimmt, drücken die kommerziellen Theaterbauten ab den 1990er Jahren den Zeitgeist eines zunehmend privatisierten und kommerzialisierten öffentlichen Raums aus. Indem die meist funktionale Architektur durch meterhohe Plakatierung verhüllt wird und die Außenwände zu Werbeplattformen für die Produktionen des jeweiligen Theaters werden, generiert sich das Prestige eines Theaters und seiner BesucherInnen nicht länger aus einer repräsentativen architektonischen Erscheinung, sondern aus den Werbebannern, die den Auftritt eines bestimmten Celebrities ankündigen. Nicht die Architektur, sondern die Verhüllung selbiger durch Werbeplakate ist als Spiegel des gegenwärtigen Kulturverständnisses zu interpretieren. Im Äußeren wie Inneren spiegelt das Erscheinungsbild der kommerziellen Theater den UnternehmerInnengeist der TheaterinhaberInnen: Der Raum wird maximal genutzt, ob nun von außen als Werbeplattform oder im Inneren durch die Unterbringung einer möglichst hohen ZuschauerInnenanzahl. Den sinnbildlichen Gipfel der Nähe zum Konsumversprechen zeitgenössischer Prägung stellt schließlich das Paseo la Plaza dar: Theater wird zur Ware, Seite an Seite mit Shopping und Gastronomie.

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3.3.3.

Eine Insel vor der Stadt: Puerto Madero

Geografisch liegt Puerto Madero östlich, in unmittelbarer Nähe zum Microcentro, ist jedoch dem Festland als Insel vorgelagert und nur über Brücken mit selbigem verbunden. Dieser Stadtteil findet nicht Eingang in vorliegende Studie, weil er so viele Theater besitzt, sondern weil er kein einziges besitzt. Bei Puerto Madero handelt es sich um die ehemalige Hafenanlage der Stadt, die seit den 1990er Jahren in ein eigenständiges Viertel mit Banken, Geschäften, Restaurants, Kunstsammlungen und Hotels verwandelt wurde (vgl. Gorelik/Silvestri 2010: 317). Die städtebauliche Revitalisierung der ehemaligen Hafenanlage Puerto Madero steht symbolisch als Beispiel für die omnipräsente Privatisierung und den Ausverkauf städtischen Raums in Argentinien seit 1989.

Abb. 12

Nur eine Buslinie des öffentlichen Nahverkehrs fährt einmal pro Stunde nach Puerto Madero: Die Fahrt führt vorbei an den Docks, der historischen Substanz der Hafenanlagen, die sich Seite an Seite mit neuen, teilweise von internationalen Stararchitekten erbauten, überwiegend in vertikal ausgerichteten Bauwerken befindet.86 In städtebaulicher Anordnung und Erscheinungsbild erinnert Puerto 86

Mehrere Hochhaustürme, genannt »Torres de Mirador«, wurden als Apartmenthäuser, durch das Architekturbüro Urgell, Penedo, Fazio entwickelt (vgl. Bernardi 2004: 346). Ein Apartmenthaus, das sog. »Faena Aleph« wurde von dem Architekten Norman Foster entworfen; eine nur für Fußgänger begehbare Hängebrücke von dem Architekten Santiago Calatrava.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Madero an die revitalisierten Hafenviertel zahlreicher anderer Städte, wie z.B. Canary Wharf in London oder der HafenCity in Hamburg. Der ehemalige Hafen wirkt durch seine Architektur und eine vergleichsweise saubere, fast schon »sterile« Erscheinung wie losgelöst vom Rest der Stadt – ein Eindruck, der durch die Lage auf einer Insel nochmals verstärkt wird. Ungefähr ein Drittel der Fläche von Puerto Madero gehört zu einem Naturreservat, dem sog. Reservoir Ecologica. In einer Stadt, die selbst kaum Grünflächen bietet und von einem omnipräsenten Smog überzogen ist, stellt dieses Reservoir eine Besonderheit dar.87 Puerto Madero wirkt als Prestigeprojekt der jüngeren Stadtentwicklung von Buenos Aires: ein Barrio im Besitz globaler InvestorInnen, erbaut für den internationalen Jetset und die Kapitalwirtschaft. Weder auf meinen Wegen durch diesen Stadtteil noch bei einer Online-Recherche finden sich Hinweise auf Theaterspielstätten. In den Interviews höre ich ausschließlich abfällige Kommentare über diese Gegend der Stadt: Das Reservoir sei vielleicht schön, aber es befände sich in Puerto Madero, einem toten Fleck, einer Ausgeburt von Korruption. In den Mental Maps88 meiner GesprächspartnerInnen taucht der Stadtteil nicht einmal auf.

3.3.4.

Dezentrale Ballung der Off-Theater: Immer wieder Abasto

Während sich die staatlichen und kommerziellen Theaterhäuser im Microcentro in fußläufiger Distanz zueinander konzentrieren, liegen die Off-Theater in verschiedenen Stadtteilen: Der Weg führt mit dem Colectivo oder der Subte nach Palermo, Boedo, Balvanera, Almagro, Villa Crespo, San Telmo und immer wieder nach Abasto, dem Barrio mit der derzeit höchsten Dichte an Off-Theatern. Abasto liegt ca. dreizehn Cuadras westlich des »Broadways«, ebenfalls an der Avenida Corrientes innerhalb des Stadtteils Almagro. Es ist keines der 48 offiziellen Barrios der Stadt Buenos Aires, vielmehr handelt es sich dabei um eines der sog. inoffiziellen Barrios. Der Name Abasto bezieht sich auf die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Markthallen des Abasto-Marktes, in denen sich heute ein ShoppingCenter befindet, eines der großen Privatisierungsprojekte der Menem-Ära.89

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88

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Als ehemalige Sumpflandschaft, die von den InvestorInnen der benachbarten Hochhaustürme einer neuen Nutzung zugeführt wurde, wirkt es wie ein zeitgemäßes Pendant zur Schlossanlage von Versailles, die Louis XIV. auf sumpfigem Gelände errichten ließ. Wie in Kapitel 1.4. aufgeführt, legte ich der Erstellung der verwendeten Mental Maps folgende Frage zugrunde: Welche Orte, welche Bereiche der Stadt sind für Sie und Ihre Arbeit als TheatermacherInnen von Bedeutung? Diese »Umwandlung«, durchgeführt durch den neuen Eigentümer George Soros, beschreibt die argentinische Kulturwissenschaftlerin Beatriz Sarlo, wie folgt: »His renovation resulted in a banal shopping centre, hiding, behind the banners of international trademarks, the majestic, three-vaulted ceiling that Soros promised to preserve« (Sarlo 2008: 47).

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In den Straßen hinter diesem Einkaufzentrum, dessen Frontseite sich zur Avenida Corrientes öffnet, beginnt das Theaterviertel Abasto. In den 1990er Jahren war hier erstmals ein Off-Theater lokalisiert: Über elf Jahre war das Teatro Babilonia in einer Lagerhalle des ehemaligen Marktes in Abasto beheimatet (vgl. Interview mit R. Szuchmacher 25.08.2014). 2001 eröffneten hier weitere Off-Theater wie das Teatro del Abasto, das Camarín de las Musas und das El Callejon. Laut der Inhaberin des Teatro del Abasto, waren die günstigen Mieten und die gute Verkehrsanbindung ein Grund dafür,90 damals war jedoch das Viertel noch eine sehr unansehnliche Nachbarschaft, erst im Laufe der 2000er Jahre hat sich das langsam verändert (vgl. Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014).

Abb. 13

Seit den 2000er Jahren setzte ein Gentrifizierungsprozess91 ein: Dieser Aufwertungsprozess wurde angeregt durch das Zusammenspiel aus Shopping Center 90

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Über die Subte Linea B (Metro) entlang der Avenida Corrientes oder die Linea C entlang der Avenida Cordobar sowie zahlreiche Busse (Colectivos = Sammelbusse) ist Abasto verhältnismäßig gut angebunden. Der Begriff »Gentrifizierung« bezieht sich auf einen sozialräumlichen Entwicklungsprozess von städtischem Raum, der mit der allmählichen Verdrängung einkommensschwacher durch einkommensstärkere BewohnerInnen einhergeht. Aus wirtschaftlicher Sicht wird damit eine »Aufwertung« des jeweiligen städtischen Raums erreicht. Gepusht wird dieser Vorgang meist von KünstlerInnen und Kreativen, welche den günstigen Wohn- und Arbeitsraum oder den Leerstand in diesen Gegenden nutzen. Durch ihre Präsenz vollzieht die jeweilige Gegend einen Imagewechsel und weckt damit das Interesse einer wohlhabenderen Bevölkerung für die dortigen Immobilien. Der Begriff Gentrifizierung geht auf die britische Soziologin Ruth

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

und Off-Theatern; zwei »Institutionen«, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Der protzige Konsumtempel Shopping de Abasto an der Avenida Corrientes, in den Seitenstraßen die kleinen, teils improvisierten, umgenutzten und umgebauten Räumlichkeiten der Off-Theater. Heute befindet sich in fast jeder Cuadra von Abasto ein Theater u.a. das El Callejon, das El Elefante, das El Beckett, das El Portón de Sanchez, das El Camarín de las Musas etc. Die Gegend erinnert an ein Wohnviertel: vereinzelt kleine Supermärkte und Cafés, überwiegend jedoch mehrstöckige Wohnhäuser; einen Kontrast bilden die Türme eines umzäunten Barrio Cerrado (geschlossenes Viertel; Gated Community), welche direkt hinter dem Shoppingcenter in den Himmel ragen. Abasto hat sich in den letzten Jahren verändert, die Mieten steigen, man muss auf andere Viertel ausweichen, so Matías Feldman, der sein Theater, den Club de Defensores de Bravard 2009 im benachbarten Villa Crespo eröffnete. Doch selbst dort sei es schwierig: Im Falle des El Bravard habe nur der zunächst desaströse bauliche Zustand des Gebäudes und die damit verbundene billige Miete dazu geführt, dass man sich überhaupt ein eigenes Theater leisten konnte (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). Während sich die öffentlichen Theaterinstitutionen und die kommerziellen Theaterhäuser in Gebäuden befinden, die architektonisch meist als Theater geplant wurden – seit den 1980er Jahren finden auch bei ihnen Umnutzungen von bestehenden Gebäuden statt – dienen den Off-Theatern ehemalige Ladenräume, Werkstätten, Wohnräume sowie ganze Etagen von Apartmentblocks als Spielstätten. »In Buenos Aires, if your aunt dies you go to the cemetery, then you go back and put a theatre in her house. We put theatres everywhere and start to work. After that we look at the regulations etc.« (Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014). Das Erscheinungsbild fast aller Off-Theater, die ich während meiner Forschungsaufenthalte besuche, ist »diskret«, selbst wenn die Theater ein Programm oder Hinweisschild an der Außenfassade des Gebäudes angebracht haben, scheint sich keines der Theater über augenfällige Werbung in den Blick der PassantInnen zu drängen. Bei einigen Theatern verweist eine Bodenplatte auf dem Gehsteig vor dem Gebäude auf die Existenz eines Theaters an diesem Ort (vgl. Abb. 14). Im Folgenden werden die Spielstätten der bereits in Kapitel 1 benannten Off-Theater vorgestellt. Die einbezogenen Off-Theater befinden sich in Abasto, in den Stadtteilen Balvanera und Almagro sowie in dem angrenzenden Stadtteil Villa Crespo.

Glass zurück, die ihn im Rahmen ihrer Studie bezüglich der Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington 1964 erstmals zur Anwendung brachte (vgl. Glass 1964).

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Abb. 14

Abb. 15

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

El Elefante. Club de Teatro (Elefanten-Klub) Das El Elefante befindet sich im Erdgeschoss eines zweistöckigen Gebäudes in Abasto. Der Ladenraum des Hauses bildet das Foyer, das mit einer Küche ausgestattet ist. Vor der Vorstellung kann man hier Getränke und Snacks erwerben. Die Vorstellungen finden in einem Zimmer im hinteren Teil des Hauses statt. Auf der linken Seite des Raumes sind Stühle aufgestellt; die rechte Seite bildet die Bühne.

Abb. 16

Adresse: Guardia Vieja 4257, Almagro

»We have a capacity of 50 seats. We are always trying to enlarge the possibilities, even if the space is small. We want to use the maximum of the space. Sometimes we also work in the entrance area and sometimes we even use the street in front of the El Elefante. We act outside on the street and the audience is sitting inside, here in the entrance area« (Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). Eine Besonderheit dieses Theaters ist seine Geschichte: Als das Theater im März 2012 in Almagro seine Türen öffnet, blickt das El Elefante-Team um Lisandro Rodriguez schon auf zehn Jahre gemeinsame Arbeit zurück. Das erste El Elefante befand sich in einem Zimmer des damaligen Appartements von Rodriguez. Der Umzug in ein geräumigeres Appartement ermöglicht einige Jahre später auch ein größeres Zimmer für das El Elefante. Auch in der derzeitigen Spielstätte gehen Wohn- und Arbeitsbereich ineinander über: Die erste Etage des Hauses wird von Lisandro Rodriguez bewohnt. Die Küche im Erdgeschoss wird sowohl als »Foyer« des Theaters,

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als auch privat genutzt. Die heutigen Räumlichkeiten bieten zudem ausreichend Platz, um neben den Aufführungen auch Schauspielkurse anbieten zu können (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). Club de Defensores de Bravard (Club der Verteidiger von Bravard)

Abb. 17

Adresse: Bravard 1178, Villa Crespo

Ebenfalls in einem Wohnhaus untergebracht ist der Club de Defensores de Bravard (El Bravard). Von außen deutet für die Besucherin nichts auf ein Theater hin: Kein großes Schild, keine Werbung, kein Hinweis verrät die Existenz eines Theaters. Das zweistöckige Haus im Kolonialstil reiht sich unauffällig in die umliegenden Apartmentblöcke ein. An einem kleinen Klingelschild entdecke ich schließlich den Namen »Club de Defensores de Bravard«. Auf mein Klingeln wird nach einem kurzen Moment des Wartens geöffnet. Ich fühle mich wie bei einer klandestinen Begegnung. Im Inneren des Hauses führt eine lange Treppe in den ersten Stock. Ähnlich wie das El Elefante zieht sich auch dieses Gebäude in die Tiefe der Cuadra; Lichtquelle ist eine Art Patio, entlang dessen die Räume angeordnet sind. Neben Toilette, Badezimmer und Küche befinden sich auf der Etage zwei große Zimmer, die bis auf einige Stühle leergeräumt sind. Laut Inhaber Matías Feldman dienen alle Räumlichkeiten als Proben- und Aufführungsräume. Je nach Stück werde die Bühnen-

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

und Zuschauersituation angepasst.92 Als Kasse dient ein Barhocker mit einer Kiste für Spenden. Im Interview erklärt Matías Feldman, dass sich seine Inszenierungen aus der Architektur des Ortes entwickelten. Dabei gäbe es kaum technisches Equipment, keine Beleuchtung, kein Soundsystem. Gearbeitet werde mit und im Vorhandenen. »The place and what I want to produce are interconnected, they are related to each other in a creative sense. I did a play in a little space of Bravard. There was not much light. Audience was really close to the actors. That creates some aesthetics, which resulted out of the production« (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). El Camarín de las Musas (Die Ankleide der Musen)

Abb. 18

Adresse: Mario Bravo 960, Almagro

In einem ähnlichen Gebäudetyp wie das El Bravard, jedoch mit großem Ladenraum im Erdgeschoss, befindet sich das El Camarín de las Musas (El Camarín). Ursprünglich war in den Räumlichkeiten, die mehr als 1.000 Quadratmeter umfassen, eine Möbelfabrik, wie der Inhaber Emilio Gutiérrez beschreibt. Nichts als das Schaufenster eines elegant anmutenden Restaurants ist von außen zu erkennen. Durch das Fenster blickt man in das Gebäudeinnere: eine große Theke, eine Bar mit vielen Spirituosen, eine Vielzahl von Tischen. Nichts verrät von außen, 92

Im Juli 2014 sehe ich die Performance »El Espectador« im Club de Defensores: Die ZuschauerInnen wandeln während der Aufführung durch die verschiedenen Räume auf der Etage; gespielt wird im Flur, in der Küche, ebenso wie auf der Toilette. Stühle zum Sitzen gibt es nicht.

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dass sich hier ein Theater befindet. Erst im Eingangsinneren stoße ich auf einige Plakate und Programmankündigungen. In die Theaterräume gelangt man über einen langen Gang, der bis in den hinteren Teil des Gebäudes führt. Hat man einmal das Restaurant passiert, eröffnet sich ein Theaterkomplex von mehreren Zimmern, umgebaut als Black-Box-Bühnen93 , verteilt auf Erdgeschoss (Kapazität von 64 und 85 Plätzen), Untergeschoss (Kapazität von 50 und 80 Plätzen) und erstes Geschoss, genutzt für Aufführungen und Proben. Von Anfang an war es sein Plan, einen Ort zu erschaffen, an dem sich Gastronomie und Theater vereinen ließe, so der Inhaber des El Camarín (Interview mit E. Gutiérrez am 02.09.2014). Espacio El Kafka (Kafka’s Raum)

Abb. 19

Adresse: Lambaré 866, Almagro

In einer ganz anderen Art von Architektur ist das El Kafka beheimatet: Von der Straße aus wirkt die rostbraun gestrichene Mauer mit dem königsblauen Schiebetor wie der Eingang zu einer Garage. In großen Lettern steht dort geschrieben: El Kafka. Der bzw. dem kundigen TheaterbesucherIn hilft dieser Schriftzug, das Gebäude auszumachen. Unkundigen PassantInnen erschließt sich möglicherweise 93

Die Black-Box-Bühne ist eine Spielart der Raumbühne, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte: »Black Box«, da die Grundtextur des die Bühne und die ZuschauerInnen umgebenden Raums rechteckig und neutral gehalten wird. »Schmucklose, geschlossene Räume, die kaum mehr als hundert Zuschauer fassen, [werden] erst durch szenische Elemente bzw. die jeweilige Nutzung von Akteuren und Zuschauern als Theaterschauplätze definiert,« schreibt der Theaterwissenschaftler Jens Roselt (2005: 264).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

ein kultureller Bezug des Gebäudes aufgrund des Namensbezugs zu dem bekannten Schriftsteller Franz Kafka, doch die Existenz eines Theaters ist nicht eindeutig zu erkennen. Hinter dem Tor befindet sich ein kleiner Innenhof, dahinter ein einstöckiges Gebäude: im Inneren ein Theatercafé im Industriestil und ein Foyer mit zwei Türen, die zu den Black-Box-Bühnen des El Kafka führen. Der größere der beiden Räume ist mit einer fest installierten Zuschauertribüne für 60 Personen ausgestattet, die bis zu 90 Personen aufgestockt werden kann; der kleinere Raum bietet auf einer losen Bestuhlung Platz für 30 ZuschauerInnen. Teatro del Abasto (das Theater von Abasto)

Abb. 20

Adresse: Humahuaca 3549, Almagro

Bereits der Schriftzug Teatro del Abasto an der Außenwand verweist auf die Präsenz eines Theaters an diesem Ort. Das Teatro del Abasto ist in einer ehemaligen Werkstatt untergebracht. Das Foyer, ausgestattet mit einer Bar, einigen Tischen und einer Kasse, begrüßt im neongrünen Anstrich. Unverwechselbarkeit ist das Motto des Theaters, so die Inhaberin Norma Montenegro. Durchquert man das Foyer, gelangt man in eine Black-Box-Bühne mit einer maximalen Zuschauerkapazität von 200 Personen. Laut Montenegro ist der Raum meist jedoch mit 70 Plätzen bestuhlt. Abseits des Foyers und des Bühnenraums existieren nur noch zwei kleine Zimmer, die als Garderobe und zur Lagerung von Requisiten genutzt werden. Ähnlich wie EigentümerInnen anderer Off-Theatern, klagt auch Montenegro über die Platznot: »We don’t have space to keep the things. Logistically it’s complicated, last

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week we had a crush. The scenography was bigger than our possibility« (Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014).

3.3.5.

Theater und der arme Süden: La Boca

Aufmerksam werde ich auf La Boca, da dieses Barrio zwar in jedem Gespräch Erwähnung findet, jedoch diese oft sehr unterschiedlich konnotiert ist: Während die einen La Boca als Inbegriff des armen Südens bezeichnen, als verwahrlost und gefährlich, als irrelevant für eine Arbeit über Theater, beschreiben es andere als divers, interessant, als »Ursprungsort« des Teatro Comunitario oder wie der Leiter des städtischen Complejo Teatral »als Außenstelle«. Abb. 21

La Boca liegt südlich des Microcentro, in direkter Nähe zum Rio de la Plata und zum Fluss Riachuelo. Es gilt historisch als Hafen- und Arbeiterviertel. Bis in die 1970er Jahre waren fast alle Fabriken sowie der Hafen – nicht nur Hauptarbeitgeber, sondern auch Hauptcharakteristikum der gesamten Gegend – geschlossen worden. Bis heute verlor La Boca 40 Prozent seiner Bevölkerung (vgl. Herzer 2015: 208).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Abb. 22

Teatro de la Ribera In den 1960er Jahren wurden von der Stadt die ersten städtebaulichen Aufwertungsmaßnahmen für das zentrumsnahe, jedoch wirtschaftlich schwache La Boca veranlasst: Häuserfassaden eines Straßenzuges wurden von dem argentinischen Künstler Benito Quinquela Martín bunt bemalt, der sog. »Caminito«, das Teatro de la Ribera, das in seiner Fassadengestaltung die bunte Bemalung des Caminito aufnimmt, wurde eröffnet.94 In den 1990er Jahren folgt die Eröffnung der Fundación PROA, eines privaten Kunstmuseums.95 Auffällig ist, dass obgleich kulturelle

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Das Teatro la Ribera ebenso wie das Teatro San Martín an der Avenida Corrientes sind die einzigen Theatergebäude, deren Bau durch die Stadt Buenos Aires initiiert und umgesetzt wurde. Die Spielstätte in La Boca eröffnete ca. 10 Jahre nach dem Teatro San Martín. Damit ist es die einzige städtische Spielstätte südlich der Avenida Rivadavia. Laut Ligaluppi sollte das Teatro de la Ribera der dortigen Bevölkerung eine Form von Teilhabe an den städtischen Kultureinrichtungen ermöglichen (vgl. Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Zudem findet sich in La Boca »La Bombonera«, ein blau-gelber Stadionbau aus den 1940er Jahren, der im In- und Ausland zur Kult-Architektur wurde, da hier die Boca Juniors spielen, einer der erfolgreichsten argentinischen Fußballvereine und Heimatverein von Diego Maradona. Touristenschwärme ziehen nach La Boca, nur um einen Blick auf das Stadion zu erhaschen.

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und touristische Angebote bereitgestellt werden, diese die Bevölkerung des Barrios und ihren Lebensraum scheinbar kaum tangieren.96 Auf meinem Weg zum Teatro de la Ribera begegnen mir immer wieder Polizeipatrouillen, die mich vor bestimmten Straßenzügen warnen.

Abb. 23

Adresse: Av. Don Pedro de Mendoza 1821, La Boca

Das Teatro de la Ribera wirkt zunächst nicht wie ein Theatergebäude, jedoch verweisen ein großer Schriftzug und Plakate im Eingangsbereich auf diese Funktion. Im Inneren wirkt das Gebäude renovierungsbedürftig: Die Innenausstattung ist verschlissen. Es stehen einige Eimer verteilt auf dem Boden, die wahrscheinlich das eindringende Regenwasser auffangen sollen. Laut Ligaluppi fehlt es an Geld für 96

2015 erscheint das Buch »Global Gentrifications« mit einem Artikel der argentinischen Soziologinnen Hilda Herzer, María Mercedes Di Virgilio und Maria Rodriguez zur Gentrifizierung von Stadtvierteln in Buenos Aires, dieser stützt meine Annahme. Di Virgilio beschreibt darin, dass der Auslöser des Gentrifizierungprozesses in Buenos Aires nicht wie in vielen anderen Städten der Wohnraum sei: Häuser werden saniert und die ehemaligen MieterInnen durch wohlhabendere »ersetzt«. Die Aufwertung eines Stadtteils erfolge fast ausschließlich durch die Bereitstellung etwa von kulturellen, kommerziellen oder touristischen Angeboten, die eine wohlhabendere Schicht anziehen (vgl. Di Virgilio 2015: 208). Meiner Beobachtung zu Folge werden diese Angebote jedoch weitgehend durch Personen genutzt, die teils in Reisebussen in das Viertel gelangen und nach Besuch der jeweiligen Touristenattraktion die Gegend auch wieder per Bus verlassen.

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die Renovierung: »There is a chance to receive some money for the renovation of the San Martín at Corrientes, a representative building, but theatres such as the Teatro la Ribera in La Boca are falling apart« (Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014). Teatro Comunitario »Las Catalinas Sur« Ebenfalls in La Boca findet sich die Spielstätte des ersten Teatro Comunitario (T. C.): Es wurde 1983 unter der Leitung von Theatermacher Adhemar Bianchi in La Boca, genauer gesagt in Catalinas Sur gegründet. Bei Catalinas Sur handelt es sich um eine Großwohnsiedlung, die im Laufe der 1960er Jahren im Stadtteil La Boca erbaut wurde und Wohnraum für über 2.000 Personen bietet (vgl. Raspali/Rodriguez/von Lücken 2013: 40). Als ich durch Las Catalinas Sur laufe, komme ich ins Gespräch mit einer dortigen Bewohnerin, die mir versichert: Las Catalinas Sur sei nicht wirklich La Boca. Ihr Barrio sei Catalinas Sur, hier wohnen ganz andere Menschen als sonst in La Boca, hier sei es zudem viel sicherer.97 Allein durch seine modernisierte mehrstöckige Architektur und die gepflegten Grünanlagen bildet das Barrio Catalinas Sur einen Kontrast zu den oft nur zweistöckigen, teils heruntergekommenen Wohnhäusern, die das Erscheinungsbild vieler Straßenzüge in La Boca prägen.

Abb. 24

Adresse: Av. Benito Pérez Galdós 93, La Boca

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Ähnlich wie im Falle des Barrios Abasto wird auch Catalinas Sur folglich als Barrio bezeichnet, obgleich es nicht ein offizielles Barrio ist und innerhalb des Barrios La Boca liegt.

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Das El Galpon, wie sich die Spielstätte des Teatro Comunitario von Catalinas Sur nennt, lässt sich schon aus der Ferne erkennen. An der Außenwand ist ein riesiges Wandgemälde des Künstlers Omar Gasparini angebracht, das einen voll besetzten Zuschauerraum zeigt. Dahinter befindet sich eine ehemalige Lagerhalle, welche zum Proben-, Bühnen- und Gemeinschaftsraum umgestaltet wurde. Der Innenraum bietet Platz für ca. 300 ZuschauerInnen. Während die Spielstätte von Catalinas Sur räumlich sehr groß angelegt und professionell ausgestattet ist, etwa mit einer Lichtanlage, unterhalten die Gruppen des T. C. in den meisten anderen Barrios lediglich improvisierte Probenräume. Die Aufführungen finden z.B. auf öffentlichen Plätzen oder auf der Straße statt.

3.3.6.

Wohntürme ohne Theater: Villa Lugano

Villa Lugano ist einer der beiden Stadtteile, die im Rahmen staatlicher Wohnungsbauprogramme seit den 1960er realisiert wurden. Wie bereits angeführt, waren die meisten der Wohnblöcke noch nicht fertiggestellt, als sie von der argentinischen Regierung kurz vor der Fußballweltmeisterschaft 1978 zum Bezug freigegeben wurden (vgl. Interview mit R. Wagner am 23.08.2014). Die Folge war laut Stadtforscher Raul Wagner eine Verelendung nicht nur der Wohntürme selbst, sondern auch des Außenbereichs, auf dem sich im Laufe der Jahre zunehmend BewohnerInnen in improvisierten Wohnstrukturen ansiedelten (ebd.). Heute befinden sich in Villa Lugano die meisten Villas Miserias der Stadt (vgl. Di Virgilio et.al. 2010: 251). Abb. 25

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Auch nach Villa Lugano gelange ich nicht deshalb, weil sich dort Theater befinden, sondern weil es dort keine zu geben scheint. Weder durch eine OnlineRecherche, noch durch meine GesprächspartnerInnen oder Bekannten, erhalte ich Informationen zu Theater in diesem Stadtteil, weshalb ich die Suche vor Ort ohne Anhaltspunkt beginne. Vom Plaza de los Virreyes, der Endhaltestelle der SubteLinie E führt die Pre-Metro, eine Art Straßenbahn, nach Villa Lugano. Die etwa 20-minütige Fahrt führt vorbei an Wohnblöcken ebenso wie an zweistöckigen Häuserzeilen, einer Autobahnabfahrt, die u.a. zu einem eingezäunten, parkähnlichen Areal führt, das sich als kostenpflichtiger Freizeitpark herausstellt (Parque Iberoamericano). Villa Lugano wird dominiert von riesigen, monolithischen Wohnblöcken, die wie vertikale Slums wirken. In unmittelbarer Nähe dazu ballen sich informelle Hüttenstrukturen zu sog. Villas Miserias. Zweimal fahre ich während meiner Aufenthalte nach Villa Lugano, komme ins Gespräch mit Leuten vor Ort, frage sie nach Theatern. Die Antworten sind durchweg negativ: Von einem Theater in Villa Lugano habe man noch nie gehört, Theater gäbe es nur an der Avenida Corrientes.

3.3.7.

Resümee: Versorgung und Lücke

Im Zuge der angelegten Kartierungen stelle ich fest, dass in einigen Vierteln der Stadt Theater situiert sind, ja sogar verdichtet auftreten, andere Gegenden hingegen, gemessen an der riesenhaften und polyzentrischen Struktur von Buenos Aires, »unterversorgt« scheinen. Beispielhaft für letztere stehen der Stadtteil Puerto Madero, aber auch viele der Stadtteile im Süden und Südwesten der Stadt wie Villa Lugano. Die staatlichen und kommerziellen Theaterhäuser konzentrieren sich auf das Microcentro, das offizielle Zentrum der Stadt Buenos Aires, welches eine große Zahl an politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen absorbiert. Die staatlichen Theater residieren hier repräsentativ in prunkvoll historistischen ArtDeco- oder modernistischen Architekturen. Die kommerziellen Theater hingegen entziehen sich in ihrer Architektur oftmals dem Auge der Betrachterin und hüllen sich stattdessen in fassadenumfassende Werbeplakatierung mit Ankündigungen für die laufenden Produktionen. Jedoch sind beide, staatliche als auch kommerzielle Theaterhäuser, als Theater erkennbar und prägen durch ihr äußeres Erscheinungsbild das Microcentro von Buenos Aires. Im Gegensatz zu den staatlichen und kommerziellen Theatern fügen sich die, weniger auf Dauerhaftigkeit angelegten, Spielstätten der Off-Theater meist unauffällig in die Umgebung ein. Entsprechend den Gegebenheiten werden sog. Raum-

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Abb. 26

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bühnen98 oder Black-Box-Bühnen mit vergleichsweise niedriger Zuschauerkapazität in die Räumlichkeiten integriert und einige Stühle in einen Raum gestellt. Eine Art Zimmertheater entsteht; Inszenierungen greifen bewusst das Spezifische der vorhandenen Räumlichkeiten auf. Teils sind es baulich professionell umgesetzte, aufwendige Bühnen, die in vorhandene Gebäudestrukturen implementiert sind; teils handelt es sich um improvisierte, variabel gestaltbare »Bühnensituationen«. Die räumlichen Bedingungen wirken sich ähnlich den bereits in Kapitel 3.1 angemerkten Produktionsbedingungen maßgeblich auf die Ausstattung und damit Ästhetik der einzelnen Produktionen aus. Weiterhin verteilen sich die Spielstätten der Off-Theater etwas gleichmäßiger im Stadtraum als die der anderen beiden Bereiche. Doch auch hier ist eine Ballung in bestimmten Stadtteilen, insbesondere dem Barrio Abasto, erkennbar. Im Falle des Teatro Comunitario (T. C.) lässt sich von einer Präsenz in bestimmten Gegenden sprechen, jedoch nicht von einer Ballung in einzelnen Vierteln, da die einzelnen Barrios jeweils nur ein T. C. besitzen: So existiert das T. C. von Villa Crespo, das T. C. von Boedo, das T. C. von Floresta etc. Ziel des folgenden Abschnitts zu »Sozialem Raum« ist es, ausgehend von den Ergebnissen der Kartierung die Lage der Theater in Hinblick auf ihre unmittelbare Nachbarschaft und ihre jeweiligen Publika zu untersuchen und näher zu ergründen, warum sich in einigen der Stadtteile Theaterspielstätten finden, in anderen aber nicht? Anknüpfend an meine Forschungshypothese einer näheren Bestimmung der Theater durch ihre städtischen Kontexte (sowie umgekehrt der stadtgesellschaftlichen Entwicklung durch die Betrachtung der Theater) gilt es folglich, im letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels die sozialräumlichen Wechselbeziehungen rund um die einzelnen Theaterbereiche zu untersuchen. Im ersten Schritt wird es darum gehen, zu bestimmen, worin der soziale Raum in Buenos Aires im Allgemeinen, im zweiten dann konkret rund um die Theater, besteht. Erst darauf aufbauend wird sich in Kapitel 5 klären lassen, welche spezifischen Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen Theater- und sozialem Raum bestehen.

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Die Raumbühne entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zeichnet sich durch ein hohes Maß an Flexibilität und Variabilität des Bühne-ZuschauerInnenverhältnisses aus. Dabei befinden sich Bühne und ZuschauerInnen im selben Raum, ohne Trennung durch ein Bühnenportal, einen Orchestergaben o.Ä. Aus Gründen der Sichtbarkeit wird die Bestuhlung für das Publikum meistens auf einer ansteigenden ZuschauerInnentribüne untergebracht. Der Raum ist meist multifunktional nutzbar (vgl. Roselt 2005: 263f.). Für kleinere Raumbühnen findet in Europa oft der Begriff des Studiotheaters Verwendung.

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3.4.

Kontrast der Ein- und Ausschlüsse: Sozialer Raum in Buenos Aires

Bei Betrachtung der von mir angelegten Kartierung der Theater im Stadtraum von Buenos Aires fällt auf, dass sich die kommerziellen und staatlichen Theater auf das Microcentro konzentrieren; die meisten der Off-Theater und das Teatro Comunitario hingegen überwiegend in den westlich gelegenen Stadtteilen zu finden sind. Im Norden und Süden der Stadt ebenso wie im Stadtteil Puerto Madero finden sich vergleichsweise wenige bis gar keine Spielstätten: Welche Ursachen sind ausschlaggebend für die Ballung oder die Absenz von Spielstätten in bestimmten Gegenden der Stadt? Welche sozialräumlichen Faktoren nehmen Einfluss auf die Entscheidungen der TheatermacherInnen bzgl. der Wahl ihrer Standorte? Um diesen Fragen nachzugehen, ergänze ich im Folgenden die stadträumliche Betrachtungsweise um den Blick auf den »sozialen Raum«. Nach einigen Bemerkungen hinsichtlich der allgemeinen sozialräumlichen Entwicklung von Buenos Aires, die maßgeblich durch drei zu erläuternde Grundkonstanten bestimmt zu sein scheint, liegt das Augenmerk zunächst auf den jeweiligen Nachbarschaften der Theater ebenso wie auf ihren Publika und den Ticketpreisen. Abschließend werden analog zum vorangehenden Abschnitt »Stadtraum und Architektur« die sog. »theaterfreien Zonen« in den Fokus der Untersuchung rücken.

3.4.1.

Herkunft, Identifikation und Segregation: Allgemeine sozialräumliche Entwicklung

Vor Betrachtung der konkreten sozialen Räume rund um die untersuchten Theater ist eine generelle Betrachtung des sozialen Raums in Buenos Aires/Argentinien nötig: Im Sinne einer Zoom-Bewegung vom Großen ins Kleine bildet diese die Grundlage für spätere sozialräumliche Einordnungen im Rahmen der gesamtstädtischen bzw. -gesellschaftlichen Entwicklungen. Folgende drei Aspekte erscheinen mir zentral: Buenos Aires, Stadt der Einwanderung Buenos Aires ist eine Einwandererstadt: Kamen im 19. und frühen 20. Jahrhundert die meisten der MigrantInnen aus Europa, stammen die Einwanderergruppen seit den 1930er Jahren verstärkt aus der argentinischen Provinz und den Nachbarländern Peru, Paraguay oder Bolivien. Letztere werden innerhalb der argentinischen Gesellschaft, insbesondere von der argentinischen Mittel- und Oberschicht, aufgrund ihres oftmals dunkleren Hauttyps abfällig als »cabecitas negras« (schwarze Köpfe) bezeichnet (vgl. Gieler 2003: 45). Dieses ethnische und »rassische« Stigma verwehrt nicht nur Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der argentinischen Gesellschaft, sondern führt zugleich zu einer räumlichen Segregation (vgl. Caggiano/Segura 2013: 275).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Gieler erklärt diese bis heute anhaltende Ablehnung gegenüber den MigrantInnen aus den Nachbarländern, wie folgt: »Zurückzuführen ist dieses Phänomen demnach auf die Angst, dass insbesondere Immigranten aus Lateinamerika die argentinische ›Identität‹ einer ›europäischen‹ Nation zunehmend bedrohen« (Gieler 2003: 45). Trotz der liberalen Einwanderungspolitik – MigrantInnen wurden seit jeher relativ schnell als argentinische StaatsbürgerInnen anerkannt – gibt es folglich klare gesellschaftliche Schichtzugehörigkeiten, die sich u.a. an der Hautfarbe und Herkunft orientieren: Auf der einen Seite die Nachkommen spanischer KolonisatorInnen und europäischer EinwandererInnen; auf der anderen Seite die ArbeitsmigrantInnen aus den armen Provinzen Argentiniens und den wirtschaftlich schlechter gestellten Staaten Lateinamerikas. Weder bei den InhaberInnen der Theater noch im Kreise der Theaterschaffenden allgemein oder im Publikum begegne ich Personen, auf welche das in Argentinien so präsente Stigma »schwarz« zutreffen würde; auch treffe ich im Kreise der Theaterschaffenden auf niemanden, der beispielsweise aus Bolivien oder Paraguay stammt. Stattdessen betont und kommentiert nahezu jeder/jede meiner GesprächspartnerInnen seine europäischen Wurzeln. So gehörten beispielsweise die Großeltern von Rubén Szuchmacher (Inhaber des El Kafka) einer jüdischen Gemeinde im heutigen Polen an und wanderten zu Beginn des 20. Jahrhundert nach Argentinien aus. Die Urgroßeltern von Matías Feldman (Inhaber El Bravard) stammen aus Deutschland und emigrierten Ende des 19. Jahrhundert, ebenso die Urgroßeltern von Nico Schneider (Schauspieler) oder Walter Jakob (Schauspieler). Die Vorfahren von Lisandro Rodriguez (Inhaber des El Elefante) hingegen waren bereits Ende des 18. Jahrhunderts aus Spanien eingewandert; im 18. Jahrhundert hatte es die Vorfahren von Norma Montenegro (Inhaberin des Teatro de Abasto) aus Italien nach Argentinien geführt. Auffällig ist, dass die Vorfahren aller TheatermacherInnen aus Europa stammen und diese ihre Herkunft in den Gesprächen durchweg betonen. Es stellt sich die Frage, ob dieser Aspekt so auch auf die ZuschauerInnen der jeweiligen Theater zutrifft. Zudem begleitet mich während der gesamten Feldforschung der Gedanke, dass die ständig wiederkehrende Thematisierung der europäischen Wurzeln möglicherweise von meiner eigenen Herkunft als forschendem Gegenüber herrührt. Buenos Aires, Stadt der Segregation Im Norden, im Süden oder im Westen – die Himmelsrichtung gibt in Buenos Aires Auskunft über die soziale Herkunft. Die BewohnerInnen des Nordens gelten als wohlhabend, die BewohnerInnen des Südens als »arme Schlucker«, im Westen lebt,

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wie meine GesprächspartnerInnen immer wieder hervorheben, die »Clase Media« (Mittelschicht).99 Die sozial-räumliche Segregation nahm ihren Anfang Ende des 19. Jahrhunderts: Aus Anlass einer Gelbfieberepidemie verließen die wohlhabenden Familien ihre Häuser im damaligen Stadtgebiet südlich der Plaza de Mayo und der Avenida Rivadavia und zogen in den bis dahin noch unbewohnten Norden; die ärmere Bevölkerung verblieb im Süden der Stadt, nahe ihren Arbeitsstellen, dem Hafen und den Industriebetrieben. Die Avenida Rivadavia bildete von nun an eine symbolische Schwelle zwischen dem »reichen Norden« und dem »armen Süden« (vgl. Martinez 1990: 439). Fortan brach eine Familie, sobald sie etwas Wohlstand angehäuft hatte, in Richtung Westen auf, sozialökonomisch eine »Mixtur aus Nord und Süd« (Grimson 2013: 86); zurück blieben die VerliererInnen der Gesellschaft gemeinsam mit den neuankommenden, auf Arbeit hoffenden MigrantInnen.100 Während den europäischen EinwandererInnen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit offenstand, mit zunehmendem Wohlstand in die nördlichen und westlichen Gegenden der Stadt umzusiedeln, erschwert sich aufgrund der bereits erwähnten ethnisch verursachten räumlichen Stigmatisierung der Wegzug für MigrantInnen aus den Nachbarländern Argentiniens. In Folge konzentriert sich im Süden nicht allein die arme Bevölkerung von Buenos Aires, sondern zudem findet sich hier auch die höchste Dichte an MigrantInnen (vgl. Caggiano/Segura 2013: 277). Für die BewohnerInnen des Nordens stellt der arme Süden ein Sperrgebiet dar; die Bevölkerung aus dem Süden wiederum bewegt sich fast ausschließlich zum Arbeiten in den Norden der Stadt, so der argentinische Soziologe Alejandro Grimson

99

Ich behalte diese gewählte Bezeichung bei und übernehme sie insbesondere dann, wenn meine GesprächspartnerInnen sie nutzen. »Clase Media« wird sowohl als Selbstzuschreibung, als auch in Hinblick auf das Publikum verwendet, wobei eine genaue Definition nicht vorgenommen wird. Mir scheint, als wird »Clase Media« als Begriff verwendet, um sich sowohl von einer elitären, als auch einer prekären Schicht abzugrenzen. Eine Besonderheit der argentinischen »Clase Media« ist ihre Konstruktion, die, laut dem argentinischen Soziologen Ezequiel Adamovsky zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den politischen Eliten etabliert wurde und bis heute fortwirkt: LehrerInnen, Fachangestellten oder ProfessorInnen sollten sich aufgrund ihres Status als »Clase Media« von den einfachen ArbeiterInnen distanzieren; damit sollte verhindern werden, dass sich diese im Kampf gegen soziale Missstände gegen die Landeselite verschwören (vgl. Adamovsky 2009). 100 Seit den 1930er Jahren war die Zahl der europäischen EinwandererInnen zurückgegangen, die neuen ArbeiterInnen stammten aus dem Hinterland Argentiniens, darunter NachfahrInnen indigener BewohnerInnen. Nach den BinnenmigrantInnen kamen schließlich die InterkontinentalmigrantInnen nach Buenos Aires: Seit den 1960ern aus den Nachbarländern Bolivien und Chile; etwas später dann aus Paraguay und Peru. Die MigrantInnen arbeiteten in der Industrie und auf dem Bau (vgl. Gieler 2003: 45).

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(vgl. Grimson 2013: 89). Seit der Wirtschaftskrise (2001) und damit der zunehmenden Verarmung großer Teile der im Westen von Buenos Aires lebenden Mittelschicht ist die ausschließliche Verortung der »Armen« im Süden und der »Reichen« im Norden bei näherer Betrachtung wahrscheinlich als obsolet zu betrachten. In vielen der geführten Gespräche vermittelt sich mir der Eindruck, dass die wirtschaftliche Not der Mittelschicht, die im Rahmen der Wirtschaftskrise (vgl. Kap. 2.1) zunahm, den Wunsch nach räumlicher, sozialer und kultureller Abgrenzung zu den »Armen« im Süden sogar noch verstärkt. Die argentinischen SoziologInnen Gabriel Kessler und Mercedes Di Virgilio schreiben dazu, dass eine verarmte Mittelschicht versuche, nicht nur ihre Wohnungen und Häuser in den angestammten Gegenden der Mittelschicht im Westen von Buenos Aires zu behalten, sondern darüber hinaus, Konsumgewohnheiten als Zeichen ihres sozialen Status zu bewahren, um so der Angst vor sozialem Abstieg entgegenzuwirken (vgl. Kessler/Di Virgilio 2008: 111). Zur statusstiftenden Rolle des Theaters in diesem Kontext äußert sich der Regisseur Raphael Spregelburd, wie folgt: »In the last crisis [Wirtschaftskrise von 2001], people of the former middle class have become poor, became lower class. But they don’t want to lose the symbols of belonging to middle class. That’s why people have embraced culture as something so important here. It’s not because they really love it or enjoy it, it’s because they need it to believe that they are still middle class. That’s a fantasy and it works and operates in the creation of the identity of a country. People don’t want to be poor, that’s the biggest fear they have. During the crises of 2001 millions of people went to the theatres. It was cheap. That’s why we have a lot to tell to the middle class, but not to the lower or upper class. We’ve always been a very ironic, humorous society, saying the worst things with a smile« (Interview mit R. Spregelburd am 11.08.2014). Buenos Aires, Stadt der Barrios »Buenos Aires, la Capital Federal, has one huge centre: the Microcentro with the Corrientes and the Plaza de Mayo. But every barrio has as well an own little centre with shops, cafes, dance floors, theatres. They have their own little system working there. Usually people stay in their barrio, to go to Microcentro is too far, too stressful« (Interview mit E. Scher am 23.07.2014).

Diese »polyzentrische« sozial-räumliche Struktur der Stadt, wie sie die Theatermacherin Edith Scher beschreibt, entwickelte sich jedoch erst in den Jahren nach der Diktatur. Während die Militärjunta jegliche Art der Versammlungen unterbunden hatte, nutzte man nun den öffentlichen Raum als Ort der Zusammenkunft. Dabei begann sich die Stadt als Ausdruck der wiedergewonnenen Demokratie und Frei-

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heit des Volkes zunehmend zu dezentralisieren und in den verschiedenen Barrios entwickelte sich ein eigenständiges städtisches Leben (vgl. Goreli/Silvestri 2010: 311). Im Zuge dessen gewann die Zugehörigkeit zu einem Barrio eine Bedeutung, die der Soziologe Grimson als »Modus der Lokalisierung, der Markierung sozialer Interaktionen und der sozialen Identifikation« beschreibt (Grimson 2013: 81). »Die Identifikation mit dem Barrio ist nicht nur klassifikatorische Kategorie, sondern ein Strukturelement für Nachbarschaftsvereine, Sparclubs, Wohnungskooperativen und andere Organisationen«, so Grimson weiter (Grimson 2013: 96).

3.4.2.

Ein Viertel wie Tag und Nacht: Microcentro

Das Microcentro stellt, wie bereits angemerkt, das politische und wirtschaftliche Zentrum der Stadt Buenos Aires dar: Repräsentative Verwaltungs- und Bürogebäude beheimaten Ministerien, Fakultäten der Universidad de Buenos Aires, Banken, Firmensitze etc. Den touristischen Hauptattraktionspunkt des Viertels bildet das historische Zentrum um die Plaza de Mayo: Hier sammeln sich TouristInnengruppen und strömen von dort in die umliegenden Straßen aus. Ebenfalls touristisch, aber auch von Porteños und Porteñas besucht, findet sich einige Cuadras nördlich, die Calle Florida, die größte Einkaufsmeile, an der sich teils exklusive Boutiquen, teils Läden mit Billigware, teils lokale AnbieterInnen, teils internationale Ketten gruppieren. Läuft man die Calle Florida entlang, tönt es von überall her: »Cambio, cambio!« Mit diesen Worten zeigen Wechselstuben, aber auch einzelne Personen auf der Straße, ihre Bereitschaft zum Geldwechseln an.101 Wochentags erlebe ich die Straßen des Microcentro erfüllt vom quirligen Leben: Autos stauen sich auf den Straßen, Menschen eilen entlang des Trottoirs, in fast jeder Cuadra Boutiquen, die Filiale einer Bank, ein kleiner Supermercado (Supermarkt), ein Café, ein Restaurant. Insbesondere zur Mittagszeit scharen sich hier die Angestellten der umliegenden Büros, um eines der Menüangebote wahrzunehmen. Kommt man am späten Abend oder an einem Sonntag sind nur vereinzelt PassantInnen unterwegs, die Bürgersteige der meisten Straßen sind »hochgeklappt«, Cartoneros (KartonsammlerInnen) sammeln die Überreste des Tages auf und laden sie auf ihre riesigen Karren; die Gegend wirkt weitgehend wie ausgestorben.

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Die anhaltende Inflation und die Angst vor der nächsten Wirtschaftskrise lassen den Schwarzhandel boomen; nirgends sonst in der Stadt begegnet mir dieses »Geschäft« so offen und so direkt wie an der Calle Florida: Während in den benachbarten Bankfilialen ein Euro zu 11 Pesos gewechselt wird, versprechen die »Wechsler« auf der Straße und in den Hinterzimmern fast das Doppelte (Stand August 2014).

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Belebendes Geschäft: Kommerzielle Theater Erst bei Erreichen der Avenida Corrientes, dem »Broadway« von Buenos Aires, in der die meisten der kommerziellen Theater lokalisiert sind (vgl. Kap. 3.3), ändert sich das: Vor fast jedem Theater stehen Tag wie Nacht Personen, verkleidet als Werbeträger, die auf bestimmte Veranstaltungen aufmerksam machen. Auch noch gegen 23 Uhr positionieren sich Menschen in Warteschlangen für Spätvorstellungen, sogar am Sonntagmorgen warten schon einige auf Einlass für eine Matinee. Ganze Familien finden sich vor den Theaterhäusern ein: Kinder und Jugendliche mit Eltern und teils Großeltern, die meisten von ihnen tragen schicke, aber legere Freizeitkleidung. Logos von Marco Polo oder Ralph Lauren zeugen von einem gewissen Wohlstand. Begeben sich die einen ins Innere des Theaters, kommen an anderer Stelle schon wieder ZuschauerInnen heraus und schließen sich dem Menschentrubel auf der Avenida Corrientes an. Ein Blick auf den Spielplan verrät eine enge Taktung, an einigen Tagen werden drei Vorstellungen in Folge gezeigt; das »Rein-Raus-Prinzip« scheint folglich organisatorisch beabsichtigt. Einige wirken aufgeregt, als fiebern sie dem Besuch der Show entgegen, ja nehmen es als etwas Besonderes wahr, andere wiederum scheinen routinierte TheatergängerInnen zu sein. Während einer Vorstellung im Teatro Apolo erzählt meine Sitznachbarin, dass sie mit ihrer Nichte jedes Jahr zum Geburtstag aus dem nördlichen Conurbano, der Vorstadt San Miguel, nach Buenos Aires reise, um eine Show zu besuchen. Meine InterviewpartnerInnen aus dem Bereich des kommerziellen Theaters bestätigen, dass sich das Einzugsgebiet der TheaterbesucherInnen nicht allein auf die Capital Federal beschränkt. Weiterhin geben sie einstimmig an, dass ihre ZuschauerInnen wegen der hohen Ticketpreise102 überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht stammen, die Shows sich jedoch inhaltlich an eine möglichst breite Bevölkerungsschicht richten (vgl. Interview mit R. Bisogno am 29.03.2016 und mit S. Blutrach am 20.03.2016). »For some people it’s a dream to go to a show at Avenida Corrientes. They have no money, but they safe every month a little bit, just to visit one of these theatres«, so ein Theaterproduzent (vgl. Interview mit A. Lifschitz am 06.08.2014).

102 Mit Tickets zwischen 250 und 400 Pesos (ca. 15 bis 30 Euro; Stand März 2017) sind die Preise des Teatro Apolo und des El Picadero mehr als doppelt so hoch als die der Off-Theater und fast dreimal so hoch als die der öffentlich geförderten Theater. Die Tickets des Paseo de Plaza liegen mit Preisen zwischen 450 und 500 Pesos (ca. 30 bis 35 Euro; Stand März 2017) nochmal höher. Jedes der kommerziellen Theater hat eine Tageskasse, an der die Tickets erhältlich sind; zudem können die Tickets online, beispielsweise über die Website www.alternativateatra.de reserviert oder über die Website www.plateanet.com erworben werden.

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Treffpunkt der Gediegenheit: Staatliche Theater Obzwar sie geografisch in unmittelbarer Nähe zu den kommerziellen Theaterhäusern liegen, wirkt die Atmosphäre in den staatlichen Theatern geradezu wie ein Kontrast zu jenen: Auf keine der in den staatlichen Theatern stattfindenden Veranstaltungen wird außerhalb der Gebäude hingewiesen. Pro Abend ist eine Vorstellung programmiert. Die BesucherInnen passieren meist unaufgeregt, einzeln oder zu zweit, die Schwelle ins Theater. Die BesucherInnen finden sich teils in Alltagskleidung, teils in legerer Abendkleidung ein; bei Premieren überwiegt elegante Abendgarderobe. Einige von ihnen genehmigen sich noch ein Getränk am Tresen der Bar, in den Foyers herrscht eine »gediegene« Atmosphäre. Der Altersdurchschnitt des Publikums liegt schätzungsweise am Teatro Cervantes bei ca. Mitte 50 und damit etwas höher als der am CTBA, der ca. bei 40 Jahren anzusetzen ist.103 Der Generaldirektor des CTBA berichtet im Interview, dass er während seiner Amtszeit einige Anstrengungen hinsichtlich des Programmangebots, des Engagements zeitgenössischer AutorInnen und junger RegisseurInnen, unternommen habe, um insbesondere ein jüngeres Publikum an sein Haus zu binden. Ein »Theater für alle« solle es sein. Doch trotz der Bemühungen und der vergleichsweise günstigen Preise104 entstammen die BesucherInnen überwiegend der Mittelschicht von Buenos Aires: »We have any kind of profession as audience: engineers, doctors, architects. They are mostly middle class and mostly from Buenos Aires,« so Ligaluppi (Interview mit A. Ligaluppi am 26.08.2014).

3.4.3.

Richtung Westen: Off-Theater und Teatro Comunitario

Die meisten der Off-Theater ebenso wie der überwiegende Teil der Gruppen des Teatro Comunitario sind im Westen von Buenos Aires lokalisiert, dem Teil der Stadt, der, laut dem argentinischen Soziologen Grimson durch eine gesellschaftliche »Mixtur aus Nord und Süd« (vgl. Grimson 2013: 86) und damit aus »Arm und Reich« geprägt ist. Begegnungsorte und Life-Style: Off-Theater Die Off-Theater finden sich in Stadtteilen wie Balvanera, und dabei insbesondere im Barrio Abasto, in Almagro, in Villa Crespo, in Boedo, in Palermo etc. Untertags fällt die Präsenz der Theater in diesen Vierteln kaum auf, sie fügen sich unauffällig in das jeweilige Barrio ein. Im Gegensatz zu den kommerziellen Theatern kündigen

103 Das Ergebnis beruht auf Beobachtungen während jeweils vier Vorstellungsbesuchen. 104 Die Tickets der staatlichen Theater sind sowohl im CTBA (Complejo Teatral de Buenos Aires) als auch im Teatro Cervantes verhältnismäßig günstig. Während die Tickets im CTBA zwischen 50 bis 180 Pesos (ca. 3 bis 11 Euro; Stand März 2017) liegen, kostet eine Karte im Teatro Cervantes zwischen 60 und 120 Pesos (ca. 3,50 bis 7 Euro; Stand März 2017).

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keine Plakate an den Außenwänden die Inszenierungen an, nur manchmal sind kleine Ankündigungstafeln neben der Eingangstür angebracht. Insgesamt wirkt diese Nicht-Präsenz fast, als sei sie Bestandteil einer guerilla-artigen MarketingStrategie.105 Erst gegen Abend, mit Beginn der Vorstellungen, erwachen die Spielorte zum Leben: Es bilden sich Schlangen vor den Theatern, das Trottoir wird zum Aufenthaltsort der TheatergängerInnen. Die meisten der BesucherInnen scheinen sich zu kennen, sie begrüßen sich, sie gruppieren sich, kommen ins Gespräch, selten steht eine Person für sich. Auffällig erscheint die fast schon zur Schau gestellte Lockerheit der Begrüßungen und Gespräche: Auch Zigaretten und Getränke wirkten, als stünde man in der Schlange vor dem Eingang eines Nachtclubs. Vor oder nach einer Vorstellung begegnet man den BesucherInnen je nach räumlicher Kapazität der Spielstätten im hauseigenen Café (z.B. Teatro del Abasto), Restaurant (z.B. El Camarín) oder auf dem Gehweg vor dem Theater (z.B. El Elefante). Das Verweilen vor oder nach einer Vorstellung am Theater scheint für BesucherInnen fast gleichbedeutend mit dem Vorstellungsbesuch selbst zu sein. Ab und an hat es den Anschein, als sei nicht die Aufführung der Grund für das Kommen der BesucherInnen, sondern das soziale Miteinander – das Gespräch, das gemeinsame Trinken, das eben an einer Stelle des Abends durch eine einstündige Aufführung kurz unterbrochen wird. Die Theater präsentieren sich nicht nur als Spielstätten, sondern zudem als Orte der Zusammenkunft für die jeweiligen BesucherInnen: Während die Atmosphären im El Bravard und im El Elefante meist schon wegen der geringeren Zuschauerkapazität intim und aufgrund der Präsenz der SchauspielstudentInnen leger und locker wirken, scheinen andere Theater wie das El Camarín durch das noble Restaurant im vorderen Trakt des Gebäudes und die damit einhergehende professionelle Erscheinung ein älteres, bürgerlicheres, kurzum: saturierteres, gleichwohl immer noch betont alternativ und »szenig« auftretendes Publikum anzuziehen. Im Vergleich zu den kommerziellen Theaterhäusern begegnen mir in den OffTheatern keine Familien; generell scheint der Altersdurchschnitt, obwohl sich Zu-

105 Guerilla-Marketing ist spätestes seit der breitenwirksamen Etablierung von Social Media wie Youtube oder Facebook ab den frühen 2010er Jahren ein in der Betriebswirtschaftslehre gebräuchlicher Begriff: Es handelt sich dabei um ein Marketing, das nicht auf den ersten Blick auf den Absender zurückverweist, sondern auf dem Umweg einer vermeintlich unauffälligen, dafür aber polyvalenten und authentischen Nutzung durch popluläre Multiplikatoren, etwa Sport-Stars oder Jugendbewegungen, auf den Schirm der Wahrnehmung des Empfängers gerät. Als Pioniere dieser Marketingform gelten Hollywood (sog. »Product-Placement« in Blockbuster-Filmen ab den 1980er Jahren) und Nike (die Kampagne rund um den Basketballstar Michael »Air« Jordan). Mittlerweile wird in der Marketing-Theorie meist von »viralem Marketing« gesprochen, da der größte Werbe-Effekt gemäß dem Prinzip einer »Mundzu-Mund-Propaganda« in eigendynamischer Form entsteht (vgl. Blissett/Brünzels 2001; Borries 2012).

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schauerInnen aller Altersstufen im Publikum wiederfinden, etwas niedriger als bei den staatlichen Theatern.106 Laut den InhaberInnen der Off-Theater entstammt ihr Publikum der Mittelschicht von Buenos Aires: »My theatre is for middle class. Intellectuals. I’m not sure if I have to do theatre for the masses. The masses have the TV. It’s not our responsibility to do theatre for everyone« (Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). »All teatro independiente is middle class, us and our audience, too« (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). »We have very different audience, because we have such a wide range of plays. Sometimes we have younger audience, sometimes more old, but usually middle class« (Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014). Allein durch die Ticketpreise wird eine bestimmte Schicht angesprochen, die es sich leisten kann und/oder leisten möchte, ins Theater zu gehen.107 Da laut der interviewten InhaberInnen jeder Theaterbesuch in Buenos Aires mit einem Restaurant-, oder Barbesuch verbunden ist, sind zusätzlich zu den Eintrittspreisen meist noch die Preise für Getränke oder Essen miteinzukalkulieren.108 Doch die Off-Theater richten sich nicht nur an eine Mittelschicht, sondern befinden sich zudem fast ausschließlich in Gegenden der Mittelschicht. Dazu der Inhaber des El Elefante:

106 Bei näherer Betrachtung der ZuschauerInnen im Club de Bravard könnte man meinen, dass das Publikum überwiegend aus StudentInnen der Schauspielklassen besteht, die selbst am El Bravard Unterricht nehmen (vgl. Kap. 4.1). Ein Eindruck, dem Matías Feldman, Inhaber des El Bravard, nicht widersprechen möchte: »The students of my classes follow the productions; sometimes they are even part of the productions shown in the Bravard« (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). Auch Lisandro Rodriguez vom El Elefante gibt an, dass viele seiner SchauspielschülerInnen unter den ZuschauerInnen des El Elefante seien (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). 107 Die Ticketpreise liegen in den fünf Off-Theatern, El Elefante, Teatro del Abasto, Club de Bravard, El Kafka und El Camarín zwischen 150 und 250 Pesos (ca. 9 bis 15 Euro; Stand März 2017). Im El Kafka, im El Camarín und im Teatro del Abasto gibt es bei manchen Vorstellungen Vergünstigungen für RentnerInnen, manchmal auch für StudentInnen. Im Club de Bravard sind bei einzelnen Veranstaltungen keine Ticketpreise festgelegt, der Eintritt erfolgt auf Spendenbasis. 108 So erklärt Norma Montenegro, Inhaberin des Teatro del Abasto: »In Buenos Aires, usually you go to a play, let’s say, at 8.30 pm, then you have dinner afterwards; or you have dinner at 9pm and you go to a performance at 11pm and then again to a bar at 12. Eating, drinking and theatre are always connected« (Interview mit N. Montenegro am 19.08.2014).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

»Teatro Independiente you will only find in areas of middle class. Neither very rich people from the North, nor very poor from the South are interested in theatre. And people doing theatre are usually not very rich and not very poor. We are all middle class doing theatre in our middle-class neighbourhoods for our middle class audience« (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014). Der Schauspieler Walter Jakob bestärkt das nochmals, indem er sagt: »I’m doing theatre for a middle class with intellectual interest. These people only live in certain areas of the city, they live mostly in the West. Of course I try to choose places close to them. It doesn’t make sense to show my performances for example in Avellaneda [der im Süden gelegene Stadtteil gilt als arm und prekär, jedoch mit viel Leerstand], no one would come, no one there is interested in what I’m doing, no one has the money to pay for tickets« (Interview mit W. Jakob am 24.07.2014). Wie bereits an anderer Stelle festgestellt (vgl. Kap. 3.3), findet sich die höchste Dichte von Off-Theatern derzeit in Abasto, weshalb dieses Barrio nochmals in den Fokus der Betrachtung rückt: Noch bis in die 1980er Jahre war das öffentliche Leben in Abasto durch den Betrieb des ansässigen Großmarkts, des Abasto-Marktes, geprägt.109 Nach dessen Schließung Ende der 1980er Jahre wurden die leer stehenden Lagerhallen in den 1990er Jahren zwischen- und umgenutzt. In einer der Lagerhallen fand sich die Spielstätte des bereits erwähnten Teatro Babilonia (vgl. Kap. 3.3). 1999 eröffnete in den ehemaligen Markthallen das Abasto-Shopping-Center; spätestens seit 2001 zogen weitere Off-Theater wie das Teatro del Abasto, das El Callejon, das El Camarín in die Nachbarschaft. In dieser Zeit begann der Aufwertungsprozess von Abasto: Heute ist das Barrio von einer Vielzahl an kleinen Cafés, Bars, Restaurants, Geschäften, Off-Theatern und Supermärkten geprägt – es sei eine Wohngegend der Mittelschicht, wie Lisandro Rodriguez, Inhaber des El Elefante, das Viertel, in dem er lebt und arbeitet, beschreibt (vgl. Interview mit L. Rodriguez am 25.08.2014).110 109 Die ehemalige Markthalle von Abasto bildete von Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Schließung in den 1980er Jahren das Zentrum von Abasto und prägte das öffentliche Leben des Viertels. In den umliegenden Gebäudeblocks waren Lagerhallen, Kühlhäuser und Geschäfte der ZulieferantInnen untergebracht. Durch den Marktbetrieb gelangten täglich HändlerInnen und KundInnen aus verschiedenen Gegenden der Stadt, ja sogar des gesamten Landes, nach Abasto. 110 Als interessant empfinde ich in diesem Zusammenhang, dass sich das Angebot im Einkaufszentrum – beispielsweise die Läden internationaler Marken, ein Multiplexkino, eine McDonald’s-Filiale – diametral zu den lokal, teils familiär geführten Geschäften und Gastronomiebetrieben oder den Off-Theatern der direkten Umgebung außerhalb des Einkaufszentrums verhalten. Eine Beobachtung, die sich auch in der jeweiligen Klientel widerspiegeln: Während die BesucherInnen des Einkaufzentrums oftmals direkt aus der Subte-Station Carlos Gardel und damit von »auswärts«, aus einer anderen Gegend der Stadt, zu kommen scheinen,

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Mit zunehmender Popularität von Abasto wird der Raum rar und die Mieten steigen. Theatermacher wie Matías Feldman, Inhaber des El Bravard, wichen räumlich bereits auf den weiter westlich gelegenen Stadtteil Villa Crespo aus. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Gegend der Mittelschicht, doch derzeit noch weit weniger angesagt als Abasto, so Feldman im Interview (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). Ruhe der Kleinstadt: Teatro Comunitario Gruppen des Teatro Comunitario (T. C.) existieren in Stadtteilen wie Villa Crespo, Almagro, Flores, Boedo, Villa Urquiza etc., die meisten der Stadtteile liegen im Westen von Buenos Aires, nur zwei davon, nämlich in La Boca und Barracas, gehören zum Süden der Stadt. Teils finden sich die Gruppen des T. C. in denselben Stadtteilen wie Off-Theater; und doch scheinen die Spielstätten der Off-Theater und die des T. C. in den jeweiligen Stadtteilen geografisch weitestmöglich voneinander entfernt zu liegen. Bei einem generalisierenden Vergleich der jeweiligen Nachbarschaft und der ZuschauerInnen, fällt Folgendes auf: In den Gegenden, in denen sich Off-Theater ballen, floriert nicht nur tags, sondern auch nachts das Leben: Cafés, Bars, teils Clubs, kleine Läden, die bis spät nachts geöffnet sind. Im Deutschen würde man diese Gegenden, in denen sich das Kultur- und Nachtleben der Stadt konzentriert, als »Szeneviertel« bezeichnen – einige davon sind bereits etabliert wie Palermo, andere wiederum erst im Entstehen wie Almagro. Das großstädtische Flair, die räumliche Nähe zu Bars und Restaurants, die nächtliche Lebendigkeit, die gute Verkehrsanbindung, die vielen Apartmenthäuser, welche Wohnungen für StudentInnen, Bohémians, Singles, aber auch Familien bieten, stehen im Kontrast zu den Gegenden, in denen sich die Gruppen des T. C. verorten: Straßenzüge, die wie eine reine Wohngegend anmuten, oftmals mit einer Siedlung aus Einfamilienhäusern bestückt; nur hin und wieder Gastronomie oder Einzelhandel; des Nachts Leere und Ruhe auf den Straßen; würde ich die sie umgebende Metropole nicht kennen, entstünde in einigen dieser Gegenden fast der Eindruck, sich in einer Kleinstadt aufzuhalten. In kaum einer der Mental Maps111 , welche die VertreterInnen der Off-Theater, der kommerziellen und der staatlichen Theater anfertigen, finden sich Gegenden markiert, in denen ein Teatro Comunitario lokalisiert ist. »Orte ohne Anziehungskraft«, »nicht relevant« für das Theater sind die häufigsten Antworten, wenn ich

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wirken die Gäste/die KundInnen in den Läden außerhalb des Shoppingzentrums oftmals wie AnwohnerInnen. Nochmals sei erwähnt: Wie in Kapitel 1.4. aufgeführt, legte ich bei der Erstellung der verwendeten Mental Maps folgende Frage zugrunde: Welche Orte, welche Bereiche der Stadt sind für Sie und Ihre Arbeit als TheatermacherInnen von Bedeutung?

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

nachfrage.112 Und doch scheint eben dort das Teatro Comunitario zu blühen – »to focus the culture not only in the centre, but in many other places too, such as the own barrio; to reach people, who usually don’t go to theater«, das sei das Ziel des T. C., so Edith Scher, Leiterin des T. C. in Villa Crespo (Interview mit E. Scher am 23.07.2014). Es sei ein »Teatro de vecinos« (dt. »Nachbarschaftstheater«), ein Theater von den Nachbarn für die Nachbarn: Die Mitwirkenden identifizierten sich mit diesem Barrio und seien stolz darauf, dem T. C. ihres Barrios anzugehören, wie Scher erklärt (ebd.). Meine Beobachtungen beruhen weitgehend auf dem T. C. von Villa Crespo, das sich Matemurga nennt: Zur Probe in einer kleinen Lagerhalle (jeden Samstag von 14-18Uhr), richten die TeilnehmerInnen Getränke und Essen auf einem Tisch an. Einige bringen Bekannte mit, einige Ältere haben ihre Enkelkinder dabei. Die Teilnehmenden leben in der direkten Nachbarschaft, oft sogar im selben Straßenzug. Die Atmosphäre erinnert an einen »Nachbarschaftstreff«. Die mehrmals im Jahr stattfindenden nachmittäglichen Aufführungen u.a. auf einer abgesperrten Straße in Villa Crespo, richten sich an Verwandte, FreundInnen, NachbarInnen jeglichen Alters, so Andrea Hanna, die bereits seit über zehn Jahren bei Matemurga mitwirkt.113 Die ZuschauerInnen zahlen keinen Eintritt, jedoch kann man eine Spende geben. Es findet folglich nicht wie an den anderen Theatern eine Selektion durch die Eintrittspreise statt. Obgleich das Konzept des T. C. sich in gleichem Maße an BewohnerInnen der ärmeren Viertel der Stadt richten könnte, finden sich fast alle Gruppen im Westen von Buenos Aires, in Gegenden, die der Mittelschicht zugeschrieben werden (vgl. Grimson 2013). Edith Scher erklärt dazu Folgendes: »As leader of a Teatro Comunitario you have to identify with the neighbourhood in the same way as the participants and neighbours do. At best you live in this neighbourhood. Usually no one, who has the ability to lead such a huge project, lives in one of the marginal areas« (Interview mit E. Scher am 23.07.2014).

3.4.4.

Theaterfreie Zonen: Puerto Madero, Villa Lugano, La Cava

Bisher standen die Gegenden im Fokus, in denen Theater präsent sind, im Folgenden gilt es die sozialräumlichen Strukturen der Stadtteile zu beleuchten, in denen

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Wichtig dabei ist anzumerken, dass es sich hierbei nicht um die marginalisierten »No-goareas« der Stadt wie Villa Lugano oder Villa Soldati handelt, die laut aller interviewten Personen keine Bedeutung für das Theater der Stadt haben. Präsentiert werden Stücke zur Historie und Gegenwart des Barrios, die in gemeinschaftlicher Arbeit entwickelt werden.

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keine Spielstätten existieren: Beispielhaft gehe ich auf Puerto Madero und Villa Lugano ein. Die Leere einer Insel: Puerto Madero Während mir in den meisten Barrios, nicht nur in den ärmeren Vierteln des Südens, sondern auch im reichen Norden der Stadt, auf den Straßen eine ärmere Bevölkerung begegnete, sei es als Cartoneros (Altpapiersammler) oder als campierende Obdachlose, taucht sie in Puerto Madero nicht auf. Im Vergleich zu anderen Stadtteilen wirken die Straßen überaus sauber, leer, ein Eindruck, der sich dadurch verstärkt, dass die wenigen Menschen auf den Straßen durch die immense Höhe der Gebäude fast verloren scheinen. Teilweise fühlt es sich an, als würde man durch eine Modellstadt laufen, die soeben für eine Erstbegehung eröffnet wurde. Dabei wird man durchweg von privaten Sicherheitskräften und Kameras überwacht, die omnipräsent sind. Schilder weisen immer wieder darauf hin, dass man sich auf Privatbesitz bewegt. Obgleich Puerto Madero über die Brücken, die Festland und Insel verbinden, öffentlich zugänglich ist, scheint der Zugang nur bestimmten Personen gewährt.114 Die »Exklusivität« von Puerto Madero basiert auf der Exklusion derjenigen, die das Bild stören könnten, und richtet sich dabei exklusiv an einen Kreis von Personen, die sich das Leben in diesem Stadtteil leisten können. An Letztere sind die überwiegend hochpreisigen Geschäfte und Restaurants am Kai adressiert: Die Gastronomie setzt auf italienische, mexikanische oder asiatische Kulinarik, dazwischen einige wenige internationale Ketten wie Starbucks oder McDonalds. Nach Überqueren des Kais nimmt die Dichte an Geschäften und Restaurants radikal ab, nur vereinzelt finden sich zwischen den Bürotürmen einige Hotels, Galerien und Museen für Moderne Kunst wie das Faena Arts Center oder die Colección de Arte Amalia Lacroze de Fortabat (beide in Privatbesitz115 ). Nur wenige Menschen wohnen in Puerto Madero. Nach offizieller Angabe der Stadt Buenos Aires sind es im Jahr 2010 gerade mal 6.700 BewohnerInnen.116 Anzunehmen ist daher, dass die meisten Personen entweder zur Arbeit in einem der Bü114

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Beispielsweise sind die öffentlichen Proteste, die den Alltag des angrenzenden Microcentros prägen, in Puerto Madero kaum präsent: Indem die Headquarters von Banken und Unternehmen sich nicht länger im Microcentro und damit den Stadtteilen Monteserrat und Saint Nicolas ansiedeln, entziehen sie sich räumlich der Öffentlichkeit. Denn TeilnehmerInnen öffentlicher Proteste, die im Microcentro möglicherweise noch vor den Toren eines Bankgebäudes oder sonstigen Firmenhauptsitzes auf den Straßen und öffentlichen Plätzen stehen, kann in Puerto Madero der Zugang als »Störenfried« sowohl durch die Lage auf der Peninsula, als auch durch den stark begrenzten öffentlichen Raum in Puerto Madero erschwert werden. Vgl. Faena Arts Center: www.faena.com/faena-art-center/; Zugriff 10.12.2018, Colección de Arte Amalia Lacroze de Fortabat: https://www.coleccionfortabat.org.ar/; Zugriff: 10.12.2018. Damit liegt die Bevölkerungsdichte weit unter dem gesamtstädtischen Durchschnitt, der bei ca. 14.000 EinwohnerInnen/km² liegt (vgl. https://www.citypopulation.de/php/argentina-caba-admin_s.php?adm2id=CABA013; Zugriff 22.03.2018).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

rotürme, als TouristInnen in einem der Hotels oder als TagesbesucherInnen nach Puerto Madero kommen. Für Off-Theater gibt es wahrscheinlich zu wenig Publikum vor Ort; zudem sind die Mietpreise zu hoch. Der Inhaber des El Bravard, fasst es hingegen so zusammen: »We can not identify with this place, that’s why we don’t go there« (Interview mit M. Feldman am 28.07.2014). Der einzige Hinweis auf die Präsenz von Theater in diesem Stadtteil findet sich im Jahr 2013, als zur Eröffnung des Internationalen Theaterfestivals der Stadt (FIBA) auf dem Kai von Puerto Madero ein Wasserspektakel der französischen Theaterkompanie Ilotopie stattfindet. Die Veranstaltung dieser Show wird in den Interviews mit Theaterschaffenden oftmals kritisiert: Denn das Festival diene nur als Imagepflege für Puerto Madero als globaler, innovativer und kreativer Ort, dabei gäbe es sonst überhaupt kein Theater in dieser Gegend (vgl. u.a. Interview mit J. Baio am 25.06.2014). No-Go oder Das Leben auf der Straße: Villa Lugano Einige meiner InterviewpartnerInnen frage ich, ob im Süden und Süd-Westen, in Stadtteilen wie Villa Lugano Theaterspielstätten existieren. Einstimmig wird mir erklärt, es handele sich bei Villa Lugano ebenso wie bei Villas Miserias um »Nogo-areas«, Gegenden, die Porteños nicht betreten, da sich dort Gewalt und Armut ballen. Theater gäbe es dort nicht. Von einigen wird mir Verwunderung bezüglich meines Interesses entgegengebracht, von anderen erhalte ich abwertende Kommentare zu diesen Gegenden und ihren BewohnerInnen. Online finde ich den Hinweis auf ein Centro Cultural, eine Art Community Center in Villa Lugano, das ich aufsuchen will, da sich dort möglicherweise Informationen zu Theateraktivitäten in diesem Stadtteil finden. Vor dem Hintergrund der oben genannten Aussagen von GesprächspartnerInnen, präge ich mir den Weg bis zum soeben erwähnten Centro Cultural im Vorfeld ein, um vor Ort weder Handy noch Stadtplan auspacken zu müssen.117 Die Fahrt mit der Pre-Metro dauert ca. 20 Minuten, ich steige bei der Endhaltestelle aus und befinde mich mitten zwischen den in den 1970er Jahren erbauten Wohnblöcken. Die ebenfalls in Villa Lugano existierenden informellen Siedlungen schließen zwar, wie sich Google Earth entnehmen lässt, an diese Wohnanlagen an, sind jedoch mehr als zwei Kilometer

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Mein Vorhaben, mich möglichst unauffällig in die Umgebung einzufügen, scheitert bereits in der Pre-Metro, die von der Endhaltestelle der Subte, nach Villa Lugano fährt: Nicht nur, dass alle Menschen um mich herum ausnahmslos dunklere Hautfarbe haben als ich, fast alle anderen tragen farbenfrohe Kleidung und nicht wie ich, der Unauffälligkeit wegen, dunkle Kleidung. Zudem scheinen sich die meisten der Reisenden zu kennen, sind im Gespräch miteinander. Nach zwei Stationen füllt sich die Pre-Metro mit Schulkindern, ihren Müttern und Kleinkindern. Die Pre-Metro ist mehr als voll besetzt, nach einigen weiteren Stationen liegt eines der Kinder quer über meinem Schoß.

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entfernt. Die Atmosphäre wird dominiert durch die bereits in »Stadtraum und Architektur« beschriebenen monolithischen Wohnblöcke. Diese wirken zwar ähnlich anonym und abweisend wie die Hochhaustürme in Puerto Madero. Im Gegensatz zu Puerto Madero scheint sich jedoch in Villa Lugano ein Großteil des sozialen Lebens auf den Straßen, Gehwegen und Plätzen zwischen den Wohnblocks abzuspielen: Ganze Familien sitzen auf den Straßen, Kinder spielen, auf einem Gehsteig wird gegrillt, vereinzelt finden sich StraßenhändlerInnen, die Essen anbieten. Wie schon im vorangehenden Abschnitt (Kap. 3.3) erwähnt, spreche ich einzelne unter ihnen an und frage danach, wo sich im Viertel ein Theater befindet. Meist werde ich erstaunt angeschaut. Eine der Angesprochenen holt Auskunft bei Freundinnen, die auf einer nahen Bank sitzen, sie diskutieren und kommen zu dem Schluss, ich müsse zur Avenida Corrientes gehen, dort gäbe es Theater. Als ich das Centro Cultural erreiche, ist es geschlossen, Angaben zu Öffnungszeiten finden sich nicht. Ebenso wenig ergeben sich andere Hinweise auf Theateraktivitäten, sei es in Form von Spielstätten oder etwa Laientheatergruppen. Vorliegende Studie erschließt sich den Zugang zu den verschiedenen Gegenden der Stadt über das Theater. Da sich dieser Zugang in Villa Lugano nicht ergibt, beende ich meine Recherche in diesem Stadtteil. Theater und Pädagogik am äußersten Rand: La Cava Jedoch veranlasst es mich dazu, meine Recherche auf andere, als »marginalisiert« geltende Gegenden auszuweiten. Dabei finden sich immer wieder private Initiativen, teils benannt als sog. Centros Culturales (Kulturzentren), in denen u.a. auch theaterpädagogische Kurse angeboten werden.118 Beispielhaft wird hier Creare Vale la Pena (CVLP), ein Centro Cultural, vorgestellt, das am Rande einer der größten Elendssiedlungen von Buenos Aires, La Cava, liegt.119 Der Schwerpunkt vorliegender Studie liegt weder auf einer sozialempirischen Untersuchung einzelner Viertel, noch auf der Betrachtung sozialpädagogisch motivierter Einrichtungen kultureller Bildung und entsprechenden meist privat geführten Initiativen. Dennoch gehört der Blick auf die Centros Culturales – analog zum Teatro Comunitario oder den Kültür-Merkezi in Istanbul (vgl. Kap. 4), in denen kein kommerzielles oder staatliches Theater gespielt wird, zur Vollständigkeit meiner Recherche. Auch verspreche ich mir einen Einblick in die sozialräumliche 118

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Die Größe dieser Zentren ebenso wie die Trägerschaft und das Angebot unterscheiden sich, wie eine stichprobenhafte Untersuchung in den Stadtteilen San Isidro, Avellaneda und Barracas ergibt. La Cava liegt in San Isidro, einer eigentlich wohlhabenden Gegend im Norden von Buenos Aires. Eine Ausnahmeerscheinung bildet daher die Villa La Cava, eine Elendssiedlung, die sich bereits in den 1930er Jahren inmitten von San Isidro bildete und sich im Unterschied zu den meisten anderen Villas in direkter Nähe zu einem Golf- und Jockeyplatz sowie luxuriösen Einfamilienhäusern befindet (vgl. Margulis et.al. 1998: 25).

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

Struktur der Stadtteile, die mir sonst gänzlich verschlossen blieben, so wie es in Villa Lugano der Fall war. Das CVLP ist in einem zweistöckigen, bunt bemalten Gebäude untergebracht. Von Florencia Rivieri, ausgebildete Sozialarbeiterin und langjährige Mitarbeiterin am CVLP, erhalte ich einige Informationen: So etwa, dass das CVLP in den 1990er Jahren durch eine private Initiative unter der Leitung der Tänzerin Ines Sanguinetti gegründet wurde. Die meisten der MitarbeiterInnen sind ehrenamtlich tätig. Das Gebäude wurde damals durch freiwillige HelferInnen selbst erbaut und seitdem immer wieder ausgebaut und erweitert. Während sich im unteren Stockwerk eine kleine Bühne, eine Küche für Kochkurse sowie ein Musikzimmer befinden, ist im ersten Stock des Gebäudes das Büro untergebracht. Im CVLP begegne ich Personen, die dort Workshops besuchen: Müttern, die mit kleinen Kindern an einem Kochkurs teilnehmen, Jugendlichen, die auf einer Bühne Tanzschritte proben, junge Erwachsene, die in einem kleinen Aufnahmestudio Musik einspielen. Gegen Nachmittag erreichen einige Kinder, die hier Nachhilfeunterricht bekommen, das Zentrum. Laut Rivieri kommen verteilt auf alle Kurse und Workshops pro Woche ca. 400 TeilnehmerInnen in das CVLP, sie alle stammen aus La Cava. Für diese Menschen gäbe es ansonsten kein Angebot, es fehle nicht nur an infrastruktureller, sondern ebenso an pädagogischer, kultureller und sozialer Anbindung »There are not many offers around. Inside of the neighbourhood [La Cava] there are some organisations which offer free meal, they’re called comedores. Sometimes there are political, religious or independent organizations like us. We offer facilities and classes for example hiphop, dance, sometimes theatre. Apart from that, there is no offer in La Cava. People living there are coming to us. Mainly Argentinians and Paraguavan people. Bolivian people are very organized by themselves, but no theatre. People from Paraguay are also well organized« (Interview mit F. Rivieri am 31.07.2014). Kulturzentren wie das CVLP richten sich an Personen, die räumlich und sozial ausgeschlossen sind, da sie in einer Villa Miseria leben, da sie sich in einer prekären Lebenssituation befinden, möglicherweise auch aus den, bereits genannten, in der argentinischen Gesellschaft vorherrschenden rassistischen Gründen. Nur selten scheint eine räumliche Begegnung zwischen den sozialen Schichten stattzufinden. Eine Ausnahme bildet daher folgende Veranstaltung: An einem Abend wird im Pórton de Sánchez in Almagro die Tanzperformance »Duramadre« der Gruppe Km29 gezeigt. Schon im Vorfeld wird mir von Bekannten die Besonderheit dieser Performance angekündigt, denn die Gruppe Km29 – der Name steht für einen geografischen Punkt in der Nähe der Route 3, welche die Capital Federal mit der Provinz verbindet – stamme vom Rande der Stadt, dem prekären Vorort Mantanza,

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ca. 36 Kilometer von der Plaza de Mayo entfernt. Bei der Premiere treffe ich einige meiner InterviewpartnerInnen aus der Off-Szene: Einhellig wird »Duramadre« als etwas »Einzigartiges aus einer Villa«120 bezeichnet. Mittlerweile wurde die Performance auf internationalen Theaterfestivals wie dem »Get Lost« in Amsterdam oder dem »Festival Pays de Danses« in Liège gezeigt und zeitweilig in das Programm des städtischen Centro Cultural San Martín aufgenommen. Wie es letztlich zu dieser Erfolgsgeschichte kam, ließ sich im Rahmen der Recherche trotz zahlreicher Nachfragen nicht endgültig klären; vom Aufstieg der Gruppe wird unter den anderen TheatermacherInnen wie von einem Mythos erzählt, dessen Ursprung man nicht kennt.

3.4.5.

Resümee: Die Undurchlässigkeit der sozialen Räume von Buenos Aires

Während sich staatliche und kommerzielle Theater auf das Microcentro und die Avenida Corrientes konzentrieren, finden sich die Spielstätten der Off-Theater sowie das Teatro Comunitario vorwiegend im Westen der Stadt Buenos Aires, in den Wohngegenden der Mittelschicht. Hingegen in den als marginalisiert geltenden Stadtteilen im Süden ebenso wie den als wohlhabend geltenden Stadtteilen im Norden, einschließlich dem revitalisierten Hafengebiet Puerto Madero, ist Theater weitgehend nicht präsent. Durch die Fokussierung auf den sozialräumlichen Kontext, die jeweiligen Viertel, ihre Nachbarschaft und das angesprochene Publikum fallen folgende Zusammenhänge ins Auge: Indem sich die kommerziellen und staatlichen Theaterhäuser an der Avenida Corrientes und den umliegenden Cuadras im Microcentro ballen, verleihen sie dieser Gegend den Status eines Unterhaltungs- und Ausgehviertels. Durch ihre Präsenz und ihr »Einzugsgebiet«, das insbesondere im Falle der kommerziellen Theater über die Grenzen der Capital Federal hinausreicht, gelangt ein Publikum in diese Gegend, das sich möglicherweise ohne einen Theatervorstellungsbesuch nicht im Microcentro aufhalten würde.121 Während der Besuch der staatlichen und kommerziellen Theater als außeralltägliches Ereignis, sowohl für die Mittel- als auch Oberschicht, im Kontext von sozialer Repräsentation (staatliche Theater) oder von Shopping- und Gastronomieerlebnis (kommerzielle Theater) interpretiert werden könnte, orientieren sich die 120 Zur Erinnerung: »Villa« wird im argentinischen Sprachgebrauch meist als Abkürzung für »Villa Miseria« genutzt. 121 Dass sich viele Personen insbesondere aufgrund des Unterhaltungsangebots der Theater in dieser Gegend der Stadt aufhalten, lässt sich am späten Abend oder an den Sonntagen erkennen, wenn der »Broadway« noch belebt ist, andere Straßenzüge der Gegend jedoch schon längst verwaist sind.

3. Theaterraum Buenos Aires. La Capital del Teatro

BesucherInnen der Off-Theater offensichtlich bewusst in Richtung dezentraler, abseits der repräsentativen Orte gelegener, Spielstätten in Stadtteilen wie Almagro, Balvanera, Palermo, Boedo, Abasto. Trotz dieser »Dezentralisierung« fällt eine Konzentrierung an Off-Theatern im Westen der Stadt Buenos Aires auf. Besonders hoch ist die Dichte im Barrio Abasto, dessen Attraktivität auf die günstigen Mieten vergangener Jahre zurückzuführen ist. Im Zuge der Gentrifizierung, die wahrscheinlich teils durch die Off-Theater mit veranlasst wurde, entwickelt sich Abasto seit 2001 zu einer »angesagten« Gegend mit Bars, Cafés, Clubs, Off-Theatern etc. Folge des Aufwertungsprozesses ist, dass in diesem Barrio mittlerweile kaum noch Off-Theater neu eröffnen und stattdessen auf angrenzende Viertel mit günstigeren Mietpreisen ausweichen müssen. Vor dem Hintergrund, dass die Standortwahl der Off-Theater maßgeblich durch die vorherrschenden Mietpreise bestimmt ist, ist es umso interessanter zu beobachten, dass kein Off-Theater im Süden von Buenos Aires lokalisiert ist, einer Gegend, in der sich eine Vielzahl an leer stehenden Fabriken findet und die Preise noch günstiger wären. Als Grund hierfür ist die sozialräumliche Segregation auszumachen, welche nicht nur die Wahl der Wohngegend innerhalb der Stadt Buenos Aires prägt, sondern zudem die Wege und die Richtungen festlegt, auf denen sich nahezu sämtliche BewohnerInnen in der Stadt bewegen. Wie ein weiter oben angeführtes Zitat des argentinischen Soziologen Grimson zeigt, meiden die BewohnerInnen des Nordens den Süden – ein Umstand, der sicherlich äquivalent auf die BewohnerInnen des Westens zutrifft: Selbst wenn Theaterschaffende, die sich selbst zur Mittelschicht zählen, ihre Spielstätten in den Süden verlagerten, würde wahrscheinlich ihr Publikum ausbleiben. Ähnlich wie ein Theaterbesuch, laut dem eingangs zitierten Gespräch mit Regisseur Raphael Spregelburd (vgl. Kap. 3.4.1), zur Selbstvergewisserung der Mittelschicht in Zeiten des sozialen Abstiegs beiträgt, verhält es sich wahrscheinlich mit dem Prestige der Standorte der Off-Theater. Im Gegensatz zu den Spielstätten der Off-Theater verteilt sich das Teatro Comunitario großflächiger auf verschiedene Stadtteile. Es steht repräsentativ für die Dezentralisierung des öffentlichen Lebens und der damit einhergehenden Identifikation der BewohnerInnen mit ihrem jeweiligen Barrio. Doch trotz der größeren »Streuung« des T. C. im Stadtraum von Buenos Aires und damit verbunden dem selbst gesteckten kulturpädagogischen Anspruch, möglichst breite Bevölkerungsschichten zur Partizipation zu ermutigen, sind die meisten der T. C.-Gruppen im Westen von Buenos Aires beheimatet. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die einzelnen Theaterbereiche installieren sich räumlich entsprechend dem »Nutzerverhalten« ihrer Zielgruppen und spiegeln dabei die sozial-räumliche Polarisierung der Stadtgesellschaft von Buenos Aires wider. Jedes Theater hat sein Publikum, Berührungen finden nur in seltenen Fällen statt, wie zum Beispiel bei der Performance »Duramadre« im Portón de San-

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chez. Zugespitzt gesagt, verlässt kein Angehöriger der Mittelschicht seine Gegend, um woanders eine möglicherweise qualitativ besondere Arbeit zu sehen; erst wenn beispielsweise eine Performance wie »Duramadre« nach Almagro gelangt, kommt es zu einer solchen Ausnahme. Die Gespräche mit den TheatermacherInnen zeigen, dass in keinem der Theater der Anspruch herrscht oder gar eine Anstrengung unternommen wird, diese Polarisierung aufzubrechen und damit möglicherweise neue Zuschauergruppen zu gewinnen. Staatliche Theater wie das Teatro San Martín, das bereits in seiner Architektur einen offenen und durchlässigen Kulturtempel für alle darstellen sollte oder das Teatro la Ribera, das im Arbeiterviertel La Boca eröffnet wurde, stehen zwar für den kulturpolitischen Willen zur Öffnung und Zugänglichkeit des staatlichen Theaters, doch gehört dieser der Vergangenheit an. Zum Zeitpunkt meiner Untersuchung unterhält das staatliche Theater weder eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, noch stellt es theaterpädagogische Projekte bereit, die ein neues Publikum binden könnten. Die kommerziellen Theater folgen dem Prinzip des Marktes, wer sich die Ticketpreise leisten kann, der kommt. Die InhaberInnen der Off-Theater verstehen als ihr Publikum ausschließlich die Mittelschicht von Buenos Aires Die sozialräumliche Segregation und damit verbunden die zu Beginn des Abschnitts benannte gesellschaftliche Stigmatisierung in der Stadt macht sich daher nicht allein angesichts fehlender beruflicher Aufstiegschancen oder bei der Suche nach Wohnraum bemerkbar (vgl. Gieler 2003: 45). Sie lässt sich genauso an Präsenz/Nicht-Präsenz des Theaterangebots in der Stadt ablesen: die Gruppe der TheatermacherInnen, ihrer Spielstätten und Arbeitsorte und damit verbunden deren potentiellen ZuschauerInnen, die sich nur in bestimmten Gegenden der Stadt aufhalten.

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

Anders als in der Kapitelstruktur zum Theaterraum in Buenos Aires stelle ich zur Betrachtung des Theaterraums in Istanbul eine einführende und resümierende (kultur)politische Kontextualisierung an Anfang und Ende des Kapitels. Diese erscheint aufgrund der aktuellen Brisanz der gesellschaftlichen und politischen Situation in der Türkei und Istanbul als maßgeblich, um ein grundlegendes Verständnis für die Beschreibung des Theaterraums im Kontext der anderen, im Verlauf des Kapitels angeführten biografischen, betrieblichen, stadt- und sozialräumlichen Aspekte entwickeln zu können. Wie Kapitel 3 stellt auch dieses Kapitel eine Bestandsaufnahme dar, ohne die vorliegenden Beobachtungen theoretisch zu kontextualisieren oder analytisch zu interpretieren; nur wenn es der jeweilige Sinnzusammenhang erfordert, werden entsprechende theoretische Verweise in Form von Fußnoten gegeben. Eine weiterführende Einordnung im Sinne der Forschungshypothese – der Annahme eines spezifischen Erkenntnisgewinns anhand der verschränkten Betrachtung von Theater durch Stadt und Stadt durch Theater – bleibt dem folgenden und abschließenden Kapitel 5 vorbehalten.

4.1.

Erdoğan und die Türkei: Autokratische Entwicklung seit 2010/11

»Die Autokratie ist die neue Normalität« titelt der Freitag, als der türkische Staatspräsident Erdoğan im Juni 2018 in seinem Amt bestätigt wird und im Zuge dessen eine Verfassungsänderung in Kraft tritt, welche die Macht des Staatspräsidenten erheblich ausbaut.1 Der autoritäre Kurs von Recep Tayyip Erdoğan ist bereits seit einigen Jahren immer wieder Gegenstand der internationalen Berichterstattung, 1

Das Verfassungsreferendum fand bereits im April 2017 statt und wurde von der türkischen Bevölkerung mit einer Mehrheit von knapp 52 Prozent angenommen. Erst durch die Wahl 2018 trat es jedoch in Kraft. In der Umsetzung sieht die Verfassungsänderung vor, mehr Macht im Amt des Staatspräsidenten zu bündeln u.a. erlaubt sie ihm das Parlament aufzulösen, Richter zu ernennen oder Streitkräfte zu führen (vgl. der Freitag: https://www.freitag.de/ autoren/the-guardian/die-autokratie-ist-die-neue-normalitaet; 18. Juni 2018).

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etwa im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand der nach dem gescheiterten Putschversuch von Juli 2016 verhängt wird und zu den anschließenden »Säuberungen« führt, welche in zahlreichen Entlassungen und Verhaftungen u.a. von BeamtInnen, JournalistInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen resultieren. Doch trotz dieses gewaltvollen Vorgehens, das jeglicher Rechtsstaatlichkeit entbehrt, genießt die türkische Regierung den Rückhalt in großen Teilen der Bevölkerung. Vor dem Hintergrund ihrer Wahlerfolge betrachtet die türkische Regierung ihr Handeln als demokratisch legitimiert.2 Der Schwerpunkt meiner Studie liegt auf den Ergebnissen, die ich selbst vor Ort im Rahmen meiner Feldforschung bis 2014/15 recherchieren konnte. Darüber hinaus beziehe ich Erfahrungen und Begegnungen eines Forschungsaufenthalts mit ein, der bereits 2010/11 im Rahmen einer vorangehenden Studie (vgl. Kap. 1.1.3) stattgefunden hat. Seit 2016 verfolge ich das Geschehen durch (soziale) Medien und den Austausch mit Theaterschaffenden, von denen inzwischen einige ins Exil geflüchtet sind.3 Noch kurz vor Beginn meines Forschungsvorhabens (2013) lässt sich die Zeit der Autokratie als Teil der türkischen Vergangenheit verorten, die ihren Höhepunkt in dem Militärputsch von 1980 fand;4 seit der Zeit meiner Forschungsaufenthalte (2014/15) wird immer deutlicher, dass sich das Land erneut in Richtung Autokratie bewegt. Dabei stellen sich für mich folgende Fragen, denen in diesem Kapitel nachgegangen wird: Wie wurde der (kultur)politische Wandel eingeleitet? Woran kann man relevante Wendepunkte der (Kultur)Politik bereits vor 2015 festmachen? Welche Hinweise innerhalb der Entwicklung des Theaterraums deuten sich bereits im Zeitraum zwischen 2010 und 2015 an?

4.1.1.

Erste Begegnungen, erste Schritte: Forschungsreise 2010/11

Als ich 2010/11 für eine erste Forschungsreise nach Istanbul komme, liegt der räumliche Schwerpunkt meiner Recherche im Stadtteil Beyoğlu, genauer gesagt der Ge-

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Erdoğan wurde 2018 mit 53 Prozent in seinem Amt als Staatspräsident bestätigt (vgl. der Freitag: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/die-autokratie-ist-die-neue-normalitaet; 18. Juni 2018). In der Politikwissenschaft wird die Türkei ähnlich wie Argentinien als »defekte Demokratie« bezeichnet (vgl. Erläuterung in Kap. 4.2 nach Merkel/Thiery 2006). Eine dieser Austauschmöglichkeiten bietet die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft in Greifswald im Jahr 2017, an der u.a. die Istanbuler TheatermacherInnen Yesim Öszoy Gülan, Ufuk Altunkaya und Mirza Metin teilnehmen. Im Rahmen meines ersten Abstracts 2013 stelle ich u.a. die Hypothese der Vergleichbarkeit der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul auf der Grundlage jüngerer autokratisch geprägter Vergangenheiten heraus: In Buenos Aires meine ich damit die noch spürbaren Wirkungen der Junta-Regierung der 1980er Jahre; in Istanbul ziehe ich eine Analogie zum Militärputsch von 1980.

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gend um den Taksim-Platz und die İstiklâl Caddesi. Beyoğlu gilt zu dieser Zeit als das kulturelle Zentrum der Stadt. »If you look for theatre, you have to go to Beyoğlu. It’s the centre of theatre in Istanbul, İstiklâl Caddesi is our broadway.«, diesen Satz höre ich immer und immer wieder. Interessanterweise bezieht sich der Begriff »Broadway« dabei nicht auf eine Ballung von großen kommerziellen Theaterhäusern wie im Falle von New York oder Buenos Aires, stattdessen handelt es sich in Istanbul um eine Verdichtung von Off-Theatern, also genau genommen den »Off-Broadway«. Entlang der İstiklâl Caddesi, die ausgehend vom südlichen Ende des Taksim-Platzes leicht absteigend bis zum »Tünel«5 verläuft, ebenso wie in ihren Quer- und Seitenstraßen, findet sich in unterschiedlichen Gebäudekontexten eine hohe Dichte an Off-Theatern.6 Ausgehend von meinen Eindrücken in Beyoğlu nehme ich Istanbul als weltoffene Metropole wahr. Als besonders empfinde ich die Mischung aus Mainstream-, Underground-, und hochkulturellem Angebot, das sich zwar in seiner äußeren Erscheinung und räumlichen Präsenz unterscheidet, doch in nächster Nähe zueinander lokalisiert ist: Szenebars, einfache Cafés, schicke Restaurants, Dönerbuden, Clubs, temporäre Verkaufsstände für Maronen oder Sesamringe, Off-Theater, staatliche Bühnen, kommerzielle Spielstätten, Galerien, alternative Kunsträume, Buchläden, Secondhand-Stores, lokale und internationale Markenläden, Hotels oder Jugendherbergen. Zwischen İstiklâl Caddesi und Tarlabaşı Boulevard ist zudem das Rotlichtmilieu angesiedelt. Zu keinem Zeitpunkt des Tages oder der Nacht scheint man hier zu ruhen. Stattdessen wird flaniert, konsumiert und gearbeitet. Diese Gegend offeriert eine Vielfalt, die sich an die unterschiedlichsten KonsumentInnen und RezipientInnen richtet: Einheimische, TouristInnen, Konservative, Liberale, Religiöse, Jüngere wie Ältere, eine ärmere, ebenso wie eine wohlhabendere Bevölkerung scheinen sich hier zu versammeln, um aus dem für sie passenden Angebot zu wählen. 5

6

Der 1875 eröffnete Tünel ist die erste und bis in die 1980er Jahre einzige Untergrundbahn oder besser gesagt Standseilbahn, die im ausgehenden 19. Jahrhundert erbaut wurde, um den steilen Hügelanstieg zwischen dem Ufer des Goldenen Horn und den auf den Hügeln gelegenen Vierteln zu überwinden (vgl. Kreiser 2010; Bohle/Dimog 2014: 102). So hatte das Off-Theater Ikincikat unter Eigenregie ein Apartment an der İstiklâl Caddesi saniert und eine Raumbühne für ca. 30 Personen integriert; ähnlich das DOT Tiyatro, das sich in einem der oberen Stockwerke des sog. Misir Apartman, einer Jugendstilresidenz, befindet (Raumbühne mit einer Zuschauerkapazität von ca. 50 Personen). In einer Seitenstraße der İstiklâl Caddesi steht das Muammer Karaca Tiyatro, ein Theaterbau aus den 1950er Jahren, den das Dostlar Tiyatro von der Stadtteilregierung Beyoğlus mietet. Ebenfalls in einer Seitenstraße der İstiklâl Caddesi stoße ich auf Garajistanbul, ein Off-Theater mit Black-Box-Bühne, das in dem ausgebauten Erdgeschoss eines Apartmentblocks jüngeren Datums residiert. Etwas nördlich des Taksim-Platzes besuche ich Mekan Artı, ein Off-Theater, dessen Inhaber zum Zeitpunkt meiner Recherche 2010 gerade eine alte Autowaschanlage zu einem Black-BoxTheater umgebaut hat und das nun kurz vor einer Premiere steht.

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Das Bild einer kulturell weltoffenen und kosmopolitischen Stadt verstärkt sich für mich, durch Besuche des Istanbul Theater Festivals, das seit 1989 biennal über zwei Wochen nationale und internationale Theaterproduktionen zeigt, oder der spektakulären Ausstellung des türkisch-zyprischen Modeschöpfers Hüseyin Çağlayan im Istanbul Modern, der seine Models mit verschleiertem Ober- und nacktem Unterkörper auf den Laufsteg schickt. Parallel dazu finden zahlreiche Veranstaltungen im Rahmen »Kulturhauptstadt Europa« statt. Neben Essen und Pécs trägt Istanbul im Jahr 2010 diesen Titel. In den damals geführten Gesprächen wird die Verleihung dieses Titels von einigen der TheatermacherInnen als ein Schritt zur baldigen Aufnahme der Türkei in die Europäische Union interpretiert. Die Offenheit, Vielfalt und internationale Strahlkraft Istanbuls, welche sich mir zu diesem Zeitpunkt insbesondere in Beyoğlu vermitteln, betrachten einige meiner damaligen GesprächspartnerInnen als Erfolg der konservativ-islamischen AKP-Regierung und dem seit 2003 amtierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan7 : Denn die AKP habe sich für einen Aufschwung des Landes eingesetzt, indem sie globale InvestorInnen ins Land holte, einen Friedensprozess mit den KurdInnen, insbesondere der militanten kurdischen PKK, anstrengte und die ethnische und kulturelle Pluralität innerhalb der Türkei zu akzeptieren schien.8 Die meisten der Theaterschaffenden fühlen sich von der religiösen Haltung der AKP-Regierung nicht in ihrer Arbeit tangiert. Andere jedoch, am deutlichsten der Theatermacher Genco Erkal, verweisen auf die Gefahr der Re-Islamisierung unter 7

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Nach einer vierjährigen Regierungszeit als Bürgermeister von Istanbul (1994-98) regiert Erdoğan von 2003 bis 2014 das Land als Ministerpräsident. Seit 2014 hält er das Amt des Präsidenten inne. Erdoğan gehört der konservativ-islamischen Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) an. Die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, wurde 2001 u.a. von Recep Tayyip Erdoğan gegründet und wird seitdem durch seine Person dominiert. Seit 2002 ist die AKP an der Regierung beteiligt. Die AKP verbindet religiös-konservative mit nationalistischen Positionen; damit spricht sie vor allem WählerInnen an, die sich durch die kemalistischen Parteien und ihre Politik, die oftmals restriktiv gegen die muslimische Glaubensausübung in der Öffentlichkeit vorgingen, nicht repräsentiert sahen. Die AKP wurde demokratisch von einer Mehrheit der türkischen Bevölkerung gewählt und damit legitimiert. Im Zuge dessen wurden auch die strengen, staatlich auferlegten Restriktionen gegenüber der Ausübung des Islam im öffentlichen Leben gemildert, wodurch insbesondere der religiösen Bevölkerung wieder mehr Teilhabe ermöglicht wurde. So wurden beispielsweise wieder islamische Schulen und Ausbildungsinstitute zugelassen, Moscheen erbaut oder das Kopftuchverbot an Universitäten sowie im öffentlichen Dienst aufgehoben. Weiterhin etablierte die AKP den Islam als legitimen Part des Türkentums. Wurde unter Atatürk verfassungsrechtlich festgelegt, dass Kritik am oder Beleidigung des Türkentums, also am türkischen Staat oder an türkischen Institutionen, ebenso wie am Republikgründer Atatürk, strafrechtlich zu verfolgen sind (Art-301 Strafgesetzbuch), erreichte die AKP-Partei nun eine Gleichsetzung des Islam mit dem Türkentum, wodurch ein Angriff auf den Islam gleichgesetzt wird mit einem Angriff auf das Türkentum und damit als gegen die türkische Verfassung gerichtet gilt (vgl. Krüger 2009).

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dieser Regierung: »There’s an arising Islamisation in the society, which is a great danger, first of all for women […] But when you say that there is a danger becoming a totalitarian Islamic state, then be careful« (Interview mit G. Erkal am 8.11.2010, zit.n. Zellner 2013: 98). Ömer Erzurumlu, Mitinhaber des Off-Theaters Kumbaracı50 erzählt von einem Vorfall, der Erkals Sorge zu bestätigen scheint: 2010 wird die Produktion »Lick but don’t swallow« des türkischen Autors Özen Yula im Kumbaracı50 gezeigt. Das Stück handelt von einem muslimischen Engel, der auf die Erde gesendet wird, um einen schlechten Menschen in einen guten Menschen zu verwandeln. Angekommen auf der Erde, findet sich der Engel im Körper eines Pornostars wieder. Nach der Premiere veranlasst die Stadtteilregierung von Beyoğlu (AKP) die Schließung des Theaters aufgrund eines fehlenden Feuerfluchtwegs. Über Monate bleibt das Theater geschlossen (vgl. Zellner 2013: 53). Erzurumlu beschreibt die Situation wenige Monate nach dem Vorfall so: »Someone was talking about the play in media and afterwards a shit storm started. The conservative people didn’t like the idea of an angel which came down. As long as you bring a Christian angel, it’s okay. But if a Moslem angel comes down and is in a body of pornstar, no, that is something they cannot accept. […]. Kumbaracı50 was shut down from the municipality with the excuse that we didn’t have any fire escapes. We had to work hard and re-opened after weeks« (Interview mit Ö. Erzurumlu am 8.11.2010; vgl. ebd.). Der Vorfall im Kumbaracı50 stellt zum damaligen Zeitpunkt im Bereich der OffTheater einen Einzelfall dar, am städtischen Theater Istanbuls thematisiert der Chefdramaturg, Hilmi Zafir Sahin, zu diesem Zeitpunkt jedoch offen die vorherrschende Zensur an seinem Haus: »Turkish people don’t make a censorship, they start with a censorship. Our theatre is not art, it doesn’t have this mission. We don’t show political topics, not like off-theatres, they often call us old-fashioned. But we don’t want to shock our audience. We want that they like our theatre. We do it for the people of the city« (Interview mit H. Sahin am 24.09.2010; vgl. ebd.: 90).

4.1.2.

(Kultur)politische Wendepunkte nach 2012

Nach meinem Forschungsaufenthalt 2010/11 verfolge ich die Situation in der Türkei über die Medien und den Austausch mit Bekannten in Istanbul: 2012 bezeichnet Ministerpräsident Erdoğan das Programm der staatlichen Theater als sittenlos und plädiert für eine Privatisierung der öffentlichen Institutionen.9 Auslöser ist eine, in 9

Vgl. https://www.welt.de/kultur/article125800565/Erdogan-drangsaliert-das-tuerkische-The ater.html; Zugriff 13.12.2018 oder www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2013/05/47686

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der konservativen Zeitung Zaman erschienene, Rezension zu einer Inszenierung am städtischen Theater in Istanbul, die weitreichende Folgen für die staatlichen Theater hat: Das Stück »La Secreta Obscenidad De Cada Dia« (»Alltägliche obszöne Geheimnisse«) des chilenischen Autors Marco Antonio De La Parra wird darin von Iskender Pala, selbst Bestsellerautor osmanischer Heldenromane, als »obszön« und »unmoralisch« im Sinne der islamischen Religion, bezeichnet. Pala forderte in seinem Artikel die Einstellung öffentlicher Gelder für derartige Produktionen (vgl. Çuhadar 2014). Der Artikel stellt eine Art Wendepunkt für die staatlichen Theaterinstitutionen dar: Bereits wenige Wochen nach seinem Erscheinen wird den künstlerischen EntscheidungsträgerInnen des städtischen Theaters gekündigt, es werden eine Zwangsverwaltung ebenso wie Zensurinstanzen eingesetzt, die die einzelnen Produktionen der öffentlichen Theaterinstitutionen auf ihr sittliches und moralisches Empfinden prüfen (vgl. Interview mit B. Çuhadar am 19.12.2015 und mit B. Erzi am 17.12.2015). Auf die folgende Protestwelle Theaterschaffender geht die türkische Regierung nicht ein, stattdessen wird den am Protest teilnehmenden MitarbeiterInnen der öffentlichen Theater gekündigt oder mit Kündigung gedroht.10 Als eine weitere Reaktion auf Palas Artikel wird das sog. Tüsak-Gesetz (»Kunstinstitutionen der Türkei«) ausgearbeitet: ein Gesetz, das die öffentliche Förderung von Kunst an das sittliche und moralische Empfinden der Öffentlichkeit [gemeint ist das der Regierung und ihrer Anhänger] bindet. Die öffentliche Förderung, ob für die staatlichen Theaterinstitutionen oder für einzelne Projektanträge, etwa seitens der Off-Theater, wird nun von einer durch die türkische Regierung eingesetzten Jury vergeben. Galt es bis dahin, ein »westliches«, kemalistisches Theater an den Staatstheatern zu zeigen, soll sich nun die Auswahl der Stücke und die Inszenierungen am sittlichen und moralischen Empfinden einer islamisch-konservativen Regierung orientieren. Im Bereich der Off-Theater werden seit Verabschiedung des Gesetzes kaum noch Projektförderungen vergeben. »To receive funding, means to censor yourself, if not, you won’t receive one«, sagt Yesim Öszoy Gülan, Inhaberin

10

2/privatisierung-der-tuerkischen-staatstheater-schauspieler-gehen-auf-die-barrikaden/; Zugriff 13.12.2018. Wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, sind die meisten der MitarbeiterInnen der öffentlich geförderten Theater direkt bei der Stadt oder dem Staat als BeamtInnen angestellt und sind damit gegenüber dem Staat Verpflichtungen eingegangen: Durch den Status eines Beamten/einer Beamtin wird dem Angestellten/der Angestellten u.a. eine finanzielle Absicherung durch ein festes, auf Lebenszeit angelegtes Gehalt zugesichert; im Gegenzug besteht dafür gegenüber dem Dienstherren, in vorliegendem Fall der städtischen Regierung Istanbuls oder der türkischen Regierung, absolute Treuepflicht. Die Teilnahme an einem der Proteste ist daher rein rechtlich gesehen ein Entlassungsgrund, wie er auch bei deutschen BeamtInnen eintreten könnte.

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

des Off-Theaters Galata Perform, deren Projekte vormals Förderungen erhielten (Interview mit Y. Gülan am 19.06.2014).

4.1.3.

Zuspitzung nach Gezi 2013

Im Mai und Juni 2013 finden die sog. Gezi-Park-Proteste statt, die aufgrund des brutalen Vorgehens gegen die TeilnehmerInnen durch die türkische Regierung weltweit in den Medien für Aufsehen sorgen: Die türkische Regierung hat beschlossen, die nahe am Taksim-Platz gelegene öffentliche Grünfläche zu bebauen; u.a. soll ein Shopping Center entstehen. Der nun aufkeimende Protest steht nicht allein für den Verlust eines öffentlichen Parks, sondern impliziert die generelle Unzufriedenheit der türkischen Bevölkerung mit der amtierenden Regierung. Erstmals seit über 40 Jahren lehnen sich Personen verschiedener ethnischer, kultureller und vor allem politischer Zugehörigkeiten gegen das Handeln der Regierung auf (vgl. Süreyyya 2013: 81). Aufgrund ihrer Intensität und Symbolkraft werden die Gezi-Park-Proteste (2013) in Istanbul von Vielen als Beginn einer neuen Ära verstanden: Seit Jahrzehnten hat sich bis auf wenige Ausnahmen kein dermaßen breiter Protest aus dem Volk gegen die Regierung formiert; die Menschen schließen sich zu gemeinschaftlichen, öffentlichen Protestaktionen zusammen. Fast alle der Theaterschaffenden, die ich seit 2010 in Istanbul kennenlerne, nehmen an den Protesten teil. Von Ufuk Altunkaya, dem Inhaber des Off-Theaters Mekan Artı, erfahre ich, dass er und sein Team auf der Bühne des Theaters während der Gezi-Park-Proteste kaum Veranstaltungen zeigen und stattdessen die Räumlichkeiten nahe dem Taksim-Platz als Erste-Hilfe-Station für verletzte DemonstrantInnen nutzen. Es herrsche Aufbruchsstimmung, erklärt die Performancekünstlerin Günes Terkol bei einem Telefonat im Herbst 2013, ihre Kunst verlöre für sie an Bedeutung, da das politische Engagement viel bedeutender sei. Sie könne nicht im Atelier sitzen, während alle anderen ein paar Straßen weiter demonstrieren. Andere KünstlerInnen verlagern ihre Arbeit zum Gezi-Park, etwa Erdem Gündüz mit seiner Aktion »Standing Man«11 ; wiederum andere nehmen Gezi-Park zum Sujet ihrer Kunst, etwa die Theatergruppe Ikincikat12 oder der Komponist Fazil Say.13 Gegen die DemonstrantInnen wird seitens der türkischen Regierung gewaltvoll vorgegangen. Mitte Juni 2013 veranlasst sie schließlich die Räumung des Parks.

11 12 13

Erdem Gündüz stand für mehr als acht Stunden auf dem Taksim-Platz, den Blick auf das Atatürk-Kültür-Merkezi gerichtet. Ikincikat: P*rk, 2015-2016, Autor und Regisseur: Sami Berat Marçalı. Fazil Say, Konzerte für Klavier und Orchester, Gezi-Park 1-3.

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4.1.4.

Aufbruchsstimmung und Resignation: Auswirkungen und Veränderungen seit 2014

Als ich im September 2014 erneut nach Istanbul komme, wirkt die Atmosphäre bei den Menschen, auf die ich privat, an der Universität oder im Theater treffe, gespalten: Während die einen in einer Art politischen Aufbruchsstimmung verweilen, scheint sich bei anderen eine Resignation in Hinblick auf die eigene Machtlosigkeit gegenüber den Handlungen der türkischen Regierung einzustellen. Vor diesem Hintergrund findet meine Forschung vor Ort statt. Trotz der Annahme, dass diese (kultur)politischen Entwicklungen unübersehbar in jedem der drei Theaterbereiche ihre Auswirkungen zeigen werden, soll damit keine einseitige Fokussierung erfolgen: Gegenstand des folgenden Abschnittes ist die Untersuchung des Theaterraums Istanbul in Hinblick auf meine Forschungshypothese. Wie im vorangegangenen Kapitel zu Buenos Aires gehe ich dabei zunächst auf die Innensicht der TheatermacherInnen und ihrer Betriebe ein: Welche Biografien finden sich in Istanbul? Wer arbeitet in den einzelnen Theaterbereichen wie und mit wem zusammen? Aus welcher Motivation? Und gegen welche Widerstände? Im folgenden Abschnitt blicken wir auch in Istanbul erst einmal »Hinter die Kulissen«.

4.2.

Hinter den Kulissen: Biografien und Betriebe

Ähnlich wie im Kapitel 3 zu Buenos Aires werde ich im Abschnitt zu »Hinter den Kulissen« die jeweiligen TheatermacherInnen und MitarbeiterInnen der einzelnen Theater vorstellen und unsere Begegnungen skizzieren. Das Augenmerk liegt dabei zunächst auf ihren biografischen Werdegängen, ihren Beweggründen, aber auch auf den Zwängen und Beschränkungen, denen sie im Zuge ihrer Arbeit ausgesetzt sind: Wer sind die Menschen, die das Theater dieser Stadt gestalten und mitverantworten? Welche Werdegänge haben sie durchlaufen? Wie sehen ihre Arbeitsplätze aus? Aufgrund welcher Anliegen haben sie sich für die Arbeit am Theater entschieden? Gerade vor dem Hintergrund der eben dargestellten (kultur)politischen Entwicklungen stellt sich darüber hinaus die Frage, wie die Theaterschaffenden damit umgehen: Arrangieren sie sich? Agieren sie subversiv? Inwieweit sind sie überhaupt davon betroffen? Analog zu »Buenos Aires« beschäftigt sich der Blick »Hinter die Kulissen« mit den einzelnen Theaterbetrieben der staatlichen und kommerziellen Theater ebenso wie der Off-Theater: Wie sind diese aufgebaut? Wie produzieren sie? Wie finanzieren sie sich? Können sie angesichts der kulturpolitischen Wende auch weiterhin überleben?

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

4.2.1.

Dramaturgie der Institutionen: Staatliches Theater in Istanbul

Wie in Buenos Aires unterteilt sich das staatliche Theater in ein städtisches Theater (Şehir Tiyatrosu) und ein Staatstheater (Devlet Tiyatrosu). Beide Institutionen bespielen mehrere Spielstätten in verschiedenen Stadtteilen Istanbuls. Als GesprächspartnerInnen stehen mir in beiden Theaterinstitutionen MitarbeiterInnen aus der Dramaturgieabteilung Rede und Antwort. Städtisches Theater vor der Schließung: Basak Erzi//Şehir Tiyatrosu Bereits 2010 führe ich mit Hilmi Zafir Sahin, dem damaligen Chefdramaturgen des städtischen Theaters, ein Interview, der jedoch aufgrund seiner zwischenzeitlichen, wenn auch nur kurzweiligen Beförderung (2014-2015) zum Direktor des Hauses und der damit einhergehenden Verpflichtungen für kein Gespräch bereitsteht. Seine Assistentin vermittelt den Kontakt zu einer Dramaturgin des Hauses, Basak Erzi. Das Gespräch findet im Hauptsitz des städtischen Theaters statt. Erzis Büro liegt im Bürotrakt auf der vierten Ebene des Gebäudes (nähere Ausführungen zum Gebäude vgl. Kap. 4.3). Es ist ein kleiner Raum, funktional und minimalistisch eingerichtet. Basak Erzi (geb. 1985) studierte Dramaturgie an der Universität Istanbul. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs arbeitet sie seit vier Jahren am Şehir Tiyatrosu. Routiniert antwortet sie auf meine Fragen; dabei geht sie ohne Umschweife auf die politische Lage und die sich damit zunehmend verschlechternde Situation des städtischen Theaters ein. Erzi wirkt ernüchtert und erwartet keine Verbesserungen für die Zukunft, stattdessen hofft sie, dass die Schließung der Institution, an der sie seit ihrer Jugend arbeiten wollte, abgewendet werden kann. Die Würde des Staatstheaters: Günay Ertekin und Duygu Abes//Devlet Tiyatrosu Da ich vom Staatstheater keine Antwort auf meine Interviewanfrage erhalte, beschließe ich, direkt bei der online vermerkten Adresse vorbeizugehen: Die Pförtnerin schickt mich in die dritte Etage. Auf mehrere Ebenen in einem Altbau nahe dem Taksim-Platz verteilen sich die Büros der unterschiedlichen künstlerischen und verwaltungstechnischen Bereiche des Devlet Tiyatrosu. In der dritten Etage erwarten mich bis in die letzte Ecke gefüllte, wenig repräsentative Büroräume: Überall stapeln sich Flyer und Plakate. Wie sich herausstellt, bin ich bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gelandet, welche sich die Etage mit der Dramaturgieabteilung teilt. Ich trage mein Anliegen vor. Die Pressesprecherin des Theaters, Duygu Abes, ist aufgeschlossen, bittet mich jedoch um ein wenig Geduld und bringt mich in ihr Büro. Während ich in diesem Büro auf dem Sofa sitze und türkischen Çay trinke, betreten nacheinander vier ältere, divenhaft erscheinende Damen den Raum: Die Schauspielerinnen des Ensembles sind extravagant gekleidet, stark geschminkt

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und während ihrer gesamten Anwesenheit unentwegt mit einem Ohr am Mobiltelefon. Die Szene mutet wie ein Schaulaufen der Schauspielerinnen an. Ihr Auftreten lässt vermuten, dass sie es als unter ihrer Würde betrachten, in den beengten, wenig eleganten Büroräumen Platz nehmen zu müssen. Meine Anwesenheit findet keinerlei Beachtung. Die Pressesprecherin wird von oben herab behandelt. Nachdem Duygu Abes mich als Wissenschaftlerin aus Deutschland vorstellt, wächst das Interesse etwas und sie legen mir den Besuch ihrer aktuellen Inszenierungen ans Herz. Bevor das Interview beginnt, stößt auf Bitte von Abes noch Günay Ertekin zu uns. Ertekin arbeitet bereits seit über zwölf Jahren als Dramaturgin am Staatstheater; sie hat ihre Arbeit dort direkt nach einem Dramaturgiestudium an der Universität Istanbul aufgenommen. Duygu Abes, die ebenfalls Literatur studiert hat, sagt, Ertekin könne weit mehr zum Betrieb sagen. Sie selbst sei nämlich erst seit Kurzem am Theater angestellt. Ministerium und Management: Theaterbetrieb der öffentlich geförderten Theater Beide Theaterinstitutionen, sowohl das städtische Theater als auch das Staatstheater, unterstehen der Regierung: Das Şehir Tiyatrosu der städtischen Regierung Istanbuls, das Devlet Tiyatrosu dem staatlichen Kulturministerium in Ankara. Die Stadt- oder Landesregierung kommt für die Finanzierung auf und hält die jeweilige Hoheit über alle betrieblichen und künstlerischen Entscheidungen. Mit seinen fast 1.000 MitarbeiterInnen und sieben festen Spielstätten bildet das Istanbuler Şehir Tiyatrosu eine weit größere Institution als das Devlet Tiyatrosu mit ca. 320 Angestellten und einer jährlich je nach Budget wechselnden Anzahl von Spielstätten (zwischen fünf und acht). Die Dramaturginnen der beiden Häuser berichten in den Interviews offen von einer staatlichen Einflussnahme: »Two years ago, we didn’t have censorship. We always kept in line with our productions. […] But now, of course we don’t have alcohol on stage. We don’t put on a play in a bar. Four men sitting in a bar talking about life will not work, they have to sit in a tea house. Directors working for us know these rules« (Interview mit B. Erzi am 17.12. 2015). Laut Basak Erzi findet seit 2012, eine umfassende Überwachung aller Vorgänge am städtischen Theater durch ein externes, von der Stadtregierung bestelltes Management statt: Der künstlerische Direktor (von der Stadtteilregierung eingesetzt) entwirft den Spielplan und legt diesen dann zur Kontrolle dem fachfremden Management vor, um die Finanzierung für einzelne Projekte bewilligt zu bekommen (vgl. Interview mit B. Erzi am 17.12.2015). Obgleich am Devlet Tiyatrosu seit jeher die Auswahl der Stücke und der Besetzung durch das Ministerium für Kultur in Ankara erfolgt und das Istanbuler

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Staatstheater lediglich für die Produktion zuständig ist, bringt Dramaturgin Günay Ertekin Ähnliches zum Ausdruck wie ihre Kollegin am städtischen Theater: »This season [2015] the state theatre starts to auto-censor itself. We try to be good with him [Erdoğan]. He’s a religious person. We try to be conservative because of him, for example we never show paedophilia as a topic. He doesn’t say that he doesn’t like a play, but we know it. We know his thinking. Erdoğan often says this play is not good for our religion. Before, the audience never talked about these religious aspects even not in conservative areas, but now it’s different« (Interview mit G. Ertekin am 17. 12. 2015). Mit Blick auf die Spielpläne der beiden Institutionen fällt auf, dass in einigen Spielstätten regelmäßig türkische Musicals gezeigt werden. Basak Erzi erklärt, dass Musicals ebenso wie ein konventioneller und realistischer Inszenierungsstil mit opulentem Bühnen- und Kostümbild meist allen ZuschauerInnen gefielen und fast durchweg eine Finanzierungsbewilligung durch das Management erhielten. Beschränken sich die Musicals derzeit noch auf einen Teil der Spielstätten, könnte sich dies bald ändern: Da die Budgets der Institutionen nach Angabe der beiden Dramaturginnen immer weiter abnehmen, werden immer weniger Stücke entwickelt, welche dann zwischen den einzelnen Spielstätten hin- und hertouren. Um die zwischen den einzelnen Stadtteilen differierenden Geschmäcker zu treffen, einigt man sich meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, so Erzi (vgl. ebd.). Doch obwohl offenbar auf den öffentlichen Bühnen bereits ausschließlich selbst-zensierte Stücke gezeigt werden, scheint das Ziel der AKP-Regierung nicht nur ein inhaltlich und ästhetisch regierungskonformes Theater zu sein (vgl. Tüsak Gesetz Kap. 4.1), sondern vielmehr die Auflösung dieser Institutionen und ihrer MitarbeiterInnen als Bestandteile der öffentlichen, staatlichen Kulturangebote. Als erste Anzeichen werten die MitarbeiterInnen beider Institutionen die finanziellen Kürzungen. Die Pressesprecherin des Staatstheaters, Duygu Abes erklärt: »This year we notice that we have less money than we’ve ever had before. They give us a smaller budget, fewer plays per season, fewer employees. He [Erdoğan] will cut our finance more and more. Step by step he will close the theatres« (Interview mit D. Abes am 17. 12. 2015). Weder am städtischen Theater noch am Staatstheater sind die Budgets trotz mehrfacher intensiver Nachforschungen und renitenten Nachhakens einsehbar. Mit Blick auf die niedrigen Ticketpreise ist allerdings davon auszugehen, dass diese Einnahmen lediglich einen symbolischen Betrag für die zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanzierten Theaterinstitutionen darstellen. Eine Privatisierung hätte zur Folge, dass bis dahin staatlich getragene Theater zu kommerziellen, gewinnorientierten Bühnen umfunktioniert werden müssten, um einen fortlaufenden Theaterbetrieb gewährleisten zu können. Dies würde eine Neuausrichtung

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nicht nur in inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht bedeuten, sondern vor allem auch eine personelle Umstrukturierung. Der Staat und seine größten Ensembles: SchauspielerInnen der staatlichen Theater Auffällig ist bei beiden Theaterinstitutionen der riesige Stamm an festangestellten SchauspielerInnen: am Şehir Tiyatrosu sind es ca. 300 SchauspielerInnen, am Devlet Tiyatrosu ca. 150 SchauspielerInnen. Auch wenn es sich am staatlichen Theater nur noch um die Hälfte der Ensemblegröße des städtischen Theaters handelt, erstaunt mich die Zahl dennoch. An dieser Stelle denke ich nicht nur an Buenos Aires, dort wurden die Ensembles aufgelöst, sondern beziehe gedanklich auch den deutschsprachigen Raum ein: Das größte Ensemble im deutschsprachigen Raum, das des Wiener Burgtheaters, umfasst ca. 70 festangestellte SchauspielerInnen (Stand Spielzeitheft 2016). Generell werden in die Ensembles der türkischen staatlichen Theater ausschließlich AbsolventInnen der staatlichen Schauspielkonservatorien aufgenommen.14 Diese werden mit ihrer endgültigen Aufnahme ins Ensemble verbeamtet und sind damit Staatsbedienstete, denn ähnlich wie etwa LehrerInnen erfüllen auch die SchauspielerInnen eine wichtige erzieherische Aufgabe für den Staat, so Ertekin (Interview mit G. Ertekin am 17. 12. 2015). Laut dem Dramaturgieprofessor Yavuz Pekman stellen die SchauspielerInnen der staatlichen Theater den Inbegriff einer säkularen, kemalistischen Gesellschaftsschicht dar; und er erläutert weiter, dass sich zu keinem Zeitpunkt Angehörige einer konservativ-religiösen Schicht unter den MitarbeiterInnen staatlicher Theater befunden hätten. Für Letztere sei zum einen der Zugang zu einer Arbeit in den öffentlichen Institutionen erschwert gewesen, zum anderen hätte es wahrscheinlich auch von deren Seite religiöse Vorbehalte gegenüber dem Theater gegeben (vgl. Interview mit Y. Pekman am 28.09.2010). Da jedes Jahr einige jüngere SchauspielerInnen hinzukommen, während die Älteren bleiben, wächst das Ensemble, so Basak Erzi (Interview mit B. Erzi am 17.12.2015). Für jede der Produktionen – 15 Inszenierungen pro Spielzeit am Staatstheater, 35 Inszenierungen am städtischen Theater – wird aus dem Pool an SchauspielerInnen die jeweilige Besetzung ausgewählt. Viele der SchauspielerInnen an den staatlichen Theatern spielen nur in einer oder maximal zwei Inszenierungen pro Jahr mit; einige pausieren immer wieder gesamte Spielzeiten, nehmen in dieser Zeit Rollen bei Film und Fernsehen wahr oder verfolgen eigene Projekte. Durch

14

In der Türkei existiert nur die Ausbildung zum Schauspieler/zur Schauspielerin, jedoch kein Studiengang für Regie. Die meisten der RegisseurInnen, die an öffentlichen Häusern arbeiten, sind vormalige SchauspielerInnen der jeweiligen Theater oder absolvierten einen Regiestudiengang im Ausland.

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ihre Verbeamtung beziehen jedoch alle durchgehend ein Gehalt und sind auf diese Weise finanziell abgesichert. Auf persönlichen Wunsch des Staatspräsidenten Erdoğan werden die Verbeamtungen jedoch derzeit ausgesetzt; alle neuen MitarbeiterInnen werden nur noch über Sub-Unternehmen angestellt und Verträge nur noch auf Zeit bewilligt, so Erzi (ebd.). Darüber hinaus kommt es zu Entlassungen von MitarbeiterInnen, die an Protesten gegen die Regierung teilnehmen. In der Folge werden Stücke abgesetzt. Die Dramaturgin Erzi berichtet von folgendem Vorfall am städtischen Theater: »We had to remove a very popular play from our program, Midsummer Night’s Dream: One of our actors, a famous TV actor, was send away from government, because he was talking critical about politics« (ebd.). Sowohl Ertekin als auch Erzi zeigen sich im Gespräch mit mir insgesamt vertraulich und offen. Angesichts ihrer ungeklärten Zukunft kann ich dennoch gut verstehen, dass mein Nachfragen in beiden Gesprächen nach einer Weile an einen toten Punkt kommt und wünsche ihnen alles Gute.15

4.2.2.

Markt der Unterhaltung: Kommerzielles Theater in Istanbul

Anders als in meiner Untersuchung zum Theaterraum Buenos Aires konzentriere ich mich in Istanbul nicht auf kommerzielle Theaterhäuser, sondern zum einen auf kommerzielle Theatergruppen ohne eigene Spielstätte, zum anderen auf Veranstaltungsorte kommerzieller Theatergruppen. Grund hierfür ist, dass die meisten der kommerziellen Theatergruppen ihre Spielstätte in den letzten Jahren aufgegeben haben und stattdessen in den Veranstaltungssälen von Shopping Malls oder sog. staatlichen Kültür-Merkezis (Kulturzentren)16 auftreten. Kindertheater im Keller: Ibrahim Yakut//Tiyatro Minerva Ich nehme Kontakt zu Ibrahim Yakut auf, der an der Universität Istanbul als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Dramaturgie arbeitet, und, wie ich erfahren habe, Kindertheaterstücke für Aufführungen der Kültür-Merkezis in den Stadtteilen Küçükçekmece, Bahçelievler und Başakşehir realisiert.

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Androhungen der Schließungen beider staatlicher Theater wurden in den vergangenen Jahren bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung vorliegender Arbeit seitens der zuständigen Behörden zwar mehrfach wiederholt, aber bislang nicht vollzogen; es ist davon auszugehen, dass sich der beschriebene Schwebezustand in der Zwischenzeit perpetuiert hat. Der Begriff Kültür-Merkezi (Kulturzentrum) findet im Türkischen für unterschiedliche Institutionen, Vereine oder Gebäude Anwendung. In vorliegender Arbeit bezieht sich KültürMerkezi, wenn nicht anders vermerkt, auf die Kulturzentren, die seit den 2000er Jahren verstärkt durch die Istanbul Büyükşehir Belediyesi (Verwaltung der Metropolregion Istanbul) eröffnet wurden.

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Die Gruppe von Yakut nennt sich Tiyatro Minerva. Vom Taksim-Platz fahre ich ca. eineinhalb Stunden erst mit der Metro, später mit dem Bus und der Straßenbahn, bis zum verabredeten Treffpunkt: dem Probenraum von Tiyatro Minerva im Stadtteil Küçükçekmece.17 Hier treffe ich Ibrahim Yakut, ca. 30 Jahre, und einige SchauspielerInnen seiner Gruppe, alle um die 20 Jahre.18 Ich werde sehr freundlich begrüßt, einer der Schauspieler hat extra für unser Gespräch einen Kuchen gebacken. Bevor das Interview beginnt, werde ich durch die Räumlichkeiten von Tiyatro Minerva im Untergeschoss eines Mehrparteienhauses geführt: Überall stehen kleine Bühnenbilder herum; es gibt eine Malwerkstatt und eine Black-Box-Bühne, ausgestattet mit 60 Plätzen. Zunächst bin ich etwas irritiert: Die Räumlichkeiten erinnern an Off-Theater, wie ich sie aus anderen Gegenden der Stadt kenne; auch Yakut und die anwesenden SchauspielerInnen würden in eines der mir bekannten Off-Theater passen. Yakut erzählt, dass er ursprünglich Dramaturgie an der Universität Istanbul studierte. Sein Schwerpunkt lag auf Bertolt Brecht. Die anderen Anwesenden bewerben sich gerade um einen Studienplatz am Schauspielkonservatorium. Ich möchte wissen, wie es kommt, dass diese Gruppe Kindertheaterstücke in Kültür-Merkezis in Küçükçekmece oder Basakşehir zeigt. Yakut holt aus: 2012 entschließt er sich, in Küçükçekmece, dem Viertel aus dem er stammt, das Tiyatro Minerva zu eröffnen, da zu diesem Zeitpunkt noch keine Off-Theater in diesem Stadtteil existieren. Genau darin habe er das Potential gesehen, nämlich die Menschen dieser Gegend an das Theater heranzuführen und das Tiyatro Minerva zu einem Theatertreffpunkt in Küçükçekmece werden zu lassen. »It’s very easy to play in secular areas such as in Kadıköy or Şişli, but here it’s very hard,« so Yakut. Zum Einstieg inszeniert Yakut »Sezuan’ın İyi İnsanı« (dt. »Der gute Mensch von Sezuan« von Bertolt Brecht). Einige BesucherInnen kommen zur Premiere, die weiteren Vorstellungen bleiben leer. »Religious people want to watch comedies, not Brecht. If you do Brecht, they say, you are a communist. And they want free shows such as in the cultural centre [Kültür-Merkezi], here they had to pay 10 Lira (= ca. 5 Euro; Stand Dez. 2015)«, erklärt Yakut. Der Produktion von Kindertheater widmet sich Yakut aus der finanziellen Not, um die Miete für die Räumlichkeiten bestreiten zu können. Es seien Auftragsarbeiten für Kültür-Merkezis. Diese dominieren nämlich laut Yakut das kulturelle 17

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Küçükçekmece liegt im Westen der Stadt Istanbul und ist ca. 24 km vom Taksim-Platz entfernt. Der Stadtteil ist durch die Ausbreitung Istanbuls in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Allein in Küçükçekmece wohnen über 600.000 EinwohnerInnen. Der Stadtteil wird von der AKP regiert und zählt zu den konservativen Hochburgen der Stadt Istanbul (vgl. http://kucukcekmece.istanbul/icerikler/kucukcekmece/mahalleler/713; Zugriff 13.09.2018). Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Ibrahim Yakut, Inhaber von Tiyatro Minerva, am 13.05.2015.

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Leben der Viertel; in Küçükçekmece gebe es allein drei dieser Zentren. Kinder und Frauen können dort an den Nachmittagen kostenlos Programm wahrnehmen. Zum Programm dieser Kulturzentren äußert sich Yakut so: »Government does propaganda there. Sometimes you can’t do a play in the Cultural Centre because of the Ministry of Culture, which is AKP. In the cultural centres they don’t want to see magic, short skirts, shirts or witches. In Hansel and Gretel, my last play, normally there is a witch, but we have an old man. Witches don’t fit with religion. Actually, they don’t even want to see female actresses on stage. Adults’ plays always include religion« (Interview mit I. Yakut am 13.05.2014). Obgleich es diese Vorgaben für die jeweiligen Stücke zu geben scheint, betont Yakut, dass die jeweiligen Mitwirkenden selbst nicht religiös sein müssten. Zum Ende des Gesprächs bringt Yakut zum Ausdruck, dass sich das Tiyatro Minerva zwar der Gesellschaft in dieser Gegend angeglichen habe, jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben habe, irgendwann an etwas »Ernsthafterem« zu arbeiten. So wie er dächten viele im kommerziellen Theatersektor, doch man sei nun einmal auf die gute Bezahlung in den Kültür-Merkezi angewiesen.19 Programmfüller auf Tour: Hakan Altıner//Tiyatro Kedi Als weiteres Beispiel einer kommerziellen Theatergruppe wähle ich das Tiyatro Kedi. Diese Gruppe besteht bereits seit über 15 Jahren. Online finde ich eine Adresse. Es handelt sich um ein modernes Bürogebäude im zentral gelegenen Stadtteil Şişli, in das ich jedoch aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen keinen Einlass erhalte. Erst nach längerer Überzeugungsarbeit beim Pförtner, der wiederum mehrere Anrufe mit einem Mitarbeiter des Tiyatro Kedi führt, wird schließlich mein Pass einbehalten und ich werde vorgelassen. Der Leiter von Tiyatro Kedi, Hakan Altıner, ein Herr um die 60, empfängt mich persönlich in den Büroräumen der Theatergruppe.20 Er willigt in ein Interview ein, ich bekomme Çay und Baklava serviert und unser Gespräch beginnt. Wie sich herausstellt, arbeitete Altıner über 20 Jahre an öffentlichen Theaterinstitutionen in unterschiedlichen Gegenden in der Türkei, bevor er sich 2001 dazu entschloss, diese Karriere zu beenden und ein eigenes Theater zu eröffnen: Tiyatro Kedi. Er wollte die festen Strukturen der öffentlichen Institutionen verlassen und für das Publikum ein Theater kreieren, das begeistert und unterhält, so Altıner. Das

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Späteren Telefon-Gesprächen mit Yakut, der auch nach 2016 mit Tiyatro Minerva für die Kültür-Merkezis in den Stadtteilen Başakşehir (AKP) und Küçükçekmece (AKP) arbeitet, entnehme ich, dass die meisten der dort gezeigten Inszenierungen den Wert- und Moralvorstellungen der AKP-Regierung entsprechen. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Hakan Altıner, Inhaber von Tiyatro Kedi, am 20.12.2015.

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Repertoire21 des Tiyatro Kedi umfasst europäische Dramen wie Molières »Der Bürger als Edelmann«, aber auch Romanadaptionen von türkischen und europäischen Klassikern wie Gogols »Revisor« oder Filmadaptionen wie »Casablanca«. Altıner führt selbst Regie, die Mitwirkenden variieren von Produktion zu Produktion. Voraussetzung ist, dass alle SchauspielerInnen bekannt aus Film und Fernsehen seien, denn nur so kämen, laut Altıner, die ZuschauerInnen. Die Finanzierung von Tiyatro Kedi – die Gehälter von Hakan Altıner selbst, eines Managers, mehrerer SchaupielerInnen sowie die Produktionskosten etc. – erfolgt ausschließlich über den Ticketverkauf.22 Diese kosten zwischen 56/35Tl (= ca. 18/12 Euro; Stand Dez. 2015) (vgl. Interview mit H. Altıner am 20.12.2015). Bis 2014 hat Tiyatro Kedi noch eine eigene Spielstätte im Stadtteil Şişli betrieben, doch diese war nicht rentabel genug. Istanbul ist zu groß, man muss flexibel sein, zu dem Publikum kommen, denn den ZuschauerInnen selbst sind die Wege oft zu weit, so Altıner. Seitdem tourt Tiyatro Kedi zwischen fünf bis sechs Bühnen pro Monat, meist in Shopping Malls wie in den Trump Towers23 , aber auch in Kültür-Merkezis (Kulturzentren). Letztere seien in den vergangenen zehn Jahren insbesondere durch die Stadtregierung der Metropolregion Istanbul eröffnet worden und in ihrer Programmgestaltung meist sehr konservativ ausgerichtet, erklärt Altıner. »Konservativ« bedeute, wie er erklärt, dass Frauen auf der Bühne beispielsweise auf keinen Fall kurze Kleidung tragen dürfen. Daher habe seine Kompanie, das Tiyatro Kedi, meist nur eine Chance, in diesen Zentren programmiert zu werden, wenn ein »Programmfüller« benötigt werde und dann auch nur, wenn es Stücke aus dem 19. Jahrhundert wären. Es sei wichtig, dass die Stücke nichts mit der Jetztzeit zu tun haben. Ausnahmen bildeten nur die Kültür-Merkezis in den Stadtteilen Kadıköy und Büyükçekmece (beide CHP-regiert), hier gebe es keine inhaltlichen Vorgaben. Wir sind am Ende unseres Gespräches angelangt; auch Çay und Baklava sind aufgebraucht. Nach dem Hinweis Altıners mache ich mich auf den Weg zu den nahe gelegenen Trump Towers. Islam ≠ Islam: Verschwinden und Aufleben kommerziellen religiösen Theaters Sowohl Yakut als auch Altıner erwähnen in den Gesprächen Theatergruppen, welche ihre Produktionen entlang der islamisch-konservativen Werte der Regierung

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Pro Spielzeit produziert das Tiyatro Kedi drei neue Stücke, davon mindestens einen Klassiker. Jedes der Stücke hat eine Probenvorlaufzeit von eineinhalb Monaten. Insgesamt laufen pro Spielzeit fünf Stücke, die abwechselnd gezeigt werden. Pro Stück lägen diese bei durchschnittlich 20.000 TL. = ca. 9.000 Euro; Stand Dez. 2015, so Altıner. Die Spielstätte in den Trump Towers mit 450 Plätzen bespielt das Tiyatro Kedi z.B. ca. viermal pro Woche (Stand 2015).

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ausrichten und sich insbesondere auf die didaktische Vermittlung religiöser Stoffe konzentrieren. Seit 2012 habe sich aufgrund der guten Bezahlung durch die Kültür-Merkezis und einzelne staatliche Projektförderungen ein richtiger Markt entwickelt, wie Yakut im Gespräch erwähnt hatte. Der Schauspieler Candaş Çetinkaya, der in der Inszenierung »Ömer Bin Hattab« der Gruppe Karart Tiyatro mitspielt, bestätigt diese Aussage. Karart Tiyatro zählt zu den Theatergruppen, die von Yakut und Altiner als »religiöse« Gruppen betitelt werden. In der Inszenierung, die ich in einem Kültür-Merkezi im Stadtteil Zeytinburnu (AKP) sehe, geht es um das Leben und Wirken des islamischen Propheten Ömer Bin Hattab. Bis auf ein kurzes Gespräch mit dem mitwirkenden Schauspieler Çetinkaya scheitert jeglicher Versuch einer Kontaktaufnahme mit dem Leiter dieser Gruppe, ob persönlich, per Mail oder per Telefon. Ebenso erfolglos bin ich bei anderen Gruppen mit ähnlichem Profil wie Tiyatro Greyfurt oder Doğu Yakası. Online verfolge ich die Aktivität dieser Gruppen mit. Im Sommer 2016 stelle ich fest, dass die beiden Letzteren, Tiyatro Greyfurt und Doğu Yakası, ihre Auftritte eingestellt haben, die Webseiten inaktiv sind und Einträge in den sozialen Medien wie Facebook nicht weiter aktualisiert wurden. Es existieren keine Statements vonseiten der Kompanien, die das Ende ihrer Tätigkeit anzeigen. Der Istanbuler Theatermacher Ufuk Altunkaya erklärt sich das »Verschwinden« dieser Theaterkompanien durch ihre politische Nähe zur vermeintlich terroristischen Gülen-Bewegung24 (Gespräch mit U. Altunkaya am 13.11.2016). Ob allerdings tatsächlich ein Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und der Gülen-Bewegung besteht, kann von meiner Seite nicht belegt werden. Ebenso unklar ist, ob diese Theatergruppen möglicherweise weiterhin im Untergrund aktiv sind. Während die von meinen GesprächspartnerInnen als religiös-ideologisiert benannten Gruppen verschwunden sind, bestehen solche wie Karart Tiyatro fort und werden durch immer weitere Neugründungen ergänzt: Ihre Produktionen touren zwischen verschiedenen Kültür-Merkezis der Stadt.

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Eine durch den Prediger und Geschäftsmann Fethulla Gülen gegründete soziale und religiöse Bewegung mit mehr als vier Mio. Mitgliedern, die seit den 1980er Jahren insbesondere in der Türkei, aber auch weltweit u.a. durch pädagogische Institutionen vertreten ist. Seit dem vereitelten Putsch vom 15./16. Juli 2016 wird die islamisch konservative Gülen-Bewegung von Staatspräsident Erdoğan als Anstifter des Putschs verurteilt und in der Türkei als terroristische Vereinigung geführt; ihre AnhängerInnen werden verfolgt und inhaftiert (vgl. Dohrn 2017).

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Das kulturpolitische Projekt der Erdoğan-Jahre: Infrastruktur und Theaterangebot der Kültür-Merkezis und Shopping Malls Bereits 2010 spricht der Theatermacher Genco Erkal in einem Interview über das große Infrastruktur-Projekt der AKP-Regierung: »The central government as well as the local municipalities are now undertaking huge cultural infrastructure projects. All around the city they build supermodern, prestigious and multi-functional cultural spaces, where you find theatre, speeches, cinemas, sports etc. […] Therefore they [gemeint ist erneut die türkische Regierung] buy shows according to their point of view. They don’t want to jumble the minds of the people. In the cultural centers they have just their kind of theatre« (Interview mit G. Erkal am 8.11.2010). In jedem der 39 Istanbuler Stadtteile findet sich mittlerweile mindestens eines dieser Kulturzentren. Seit dem Jahr 2000 stieg die Zahl von 13 auf 79 an (vgl. Ince 2017). Doch die türkische Regierung fördert nicht allein den Ausbau, sondern auch die Veranstaltungen in diesen Kulturzentren und damit das kommerzielle Theater, soweit es den Ansprüchen der AKP genügt. Obwohl das kommerzielle Theater Gewinn erzielt, wird es durch die öffentliche Hand gefördert. Denn nicht nur stehen den Gruppen Veranstaltungsräume innerhalb der Kültür-Merkezis zur Verfügung, darüber hinaus können sie sich davon ausgehend um eine staatliche Projektförderung bewerben. Wie sich den Interviews mit Yakut und Altıner entnehmen lässt, treten viele der kommerziellen Theatergruppen in den Kültür-Merkezis auf und richten ihr Programm dementsprechend an den Moral- und Wertvorstellungen der konservativislamischen Regierung aus. Gruppen wie Tiyatro Kedi, die sich nur bedingt daran orientieren, werden nur als sog. »Programmfüller« gebucht und treten daher überwiegend in Veranstaltungssälen von Shopping Malls oder in den Kültür-Merkezis von CHP-regierten Stadtteilen auf.25 In Folge ergibt sich eine Homogenisierung des Spielplans von Kültür-Merkezis sowohl in AKP- als auch CHP-regierten Stadtteilen: Während die einen Gruppen zwischen den AKP-regierten Stadtteilen touren, können andere nur in den CHPregierten Stadtteilen wie Kadıköy oder Beşiktaş auftreten. Bei Betrachten des Programms in Shopping Malls fällt auf, dass sich das Programm nicht unbedingt entlang staatlicher Vorgaben ausrichtet, selbst wenn sich diese in AKP-regierten Stadtteilen befinden: Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen anders gestalten, da die jeweiligen EigentümerInnen der Malls die Zugangs- und Verhaltensregeln für die KonsumentInnen festlegen und über das jeweilige Angebot entscheiden. So finden sich etwa

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https://www.kedi-sahne-sanatlari.com/oyun-programi/; Zugriff 25.09.2018.

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im Zorlu Center oder den Trump Towers Produktionen, die wahrscheinlich aufgrund moralischer Bedenken seitens der Regierung in den staatlichen Kulturzentren nicht gezeigt werden dürften. Beispielhaft hierfür seien die Produktionen der Tanzkompanie Fire of Anatolia, einer der größten kommerziellen Volkstanzkompanien in der Türkei, genannt. Viele Shows der Kompanie, die für das Programm städtischer Kulturzentren gebucht waren, wurden in den letzten Jahren (seit 2013) abgesagt und treten mittlerweile überwiegend in Shopping Malls auf. Die Kostüme sind der Regierung zu knapp, so eine ehemalige Tänzerin von Fire of Anatolia, die nicht genannt werden möchte: Die Regierung möge keinen Tanz, schon gar nicht von Frauen.

4.2.3.

Unabhängigkeit und Einzelgängertum: Off-Theater in Istanbul

Während ich die TheatermacherInnen der Off-Szene von Buenos Aires als riesige, ständig fluktuierende Community wahrnehme, beobachte ich in Istanbul Gegenteiliges: nicht nur wegen der Tatsache, dass hier kaum räumliche Überschneidungen existieren, sondern auch in Hinblick auf das Selbstverständnis und die Zugehörigkeit. Die InhaberInnen der Off-Theater nehmen fast ausschließlich Bezug auf ihre eigene Arbeit, ihre eigene Gruppe und ihre eigene Spielstätte. Andere TheatermacherInnen werden nur auf Nachfrage erwähnt, die eigene Arbeit wird niemals innerhalb der Istanbuler Theaterszene kontextualisiert. Erst im Forschungsprozess vor Ort bemerke ich, dass sich auch in Istanbul die meisten der TheatermacherInnen persönlich kennen, sich austauschen und in unterschiedlichen Konstellationen manchmal sogar miteinander arbeiten. Dennoch erscheint das den meisten meiner GesprächspartnerInnen erst nach mehrmaliger Nachfrage überhaupt erwähnenswert. Damit verfestigt sich der Eindruck, es mit »EinzelgängerInnen« zu tun zu haben. Über die Gründe dieser Zurückhaltung kann ich nur spekulieren: Liegt es daran, dass sich die verschiedenen KünstlerInnen vor dem Hintergrund ihrer diversen ästhetischen, politischen oder ethnisch-religiösen Ausrichtungen bzw. Ausbildungen fremd bleiben? Daran, dass sie sich mir gegenüber als unabhängig von Einflüssen Dritter profilieren wollen; oder auch daran, dass die Zersetzungspolitik der AKP-Administration insofern bereits eine deutliche Wirkung zeigt, dass die KünstlerInnen sich nicht aus der Deckung ihrer Vereinzelung wagen wollen? Im Weiteren werden die TheatermacherInnen der Off-Theater vorgestellt, repräsentiert durch die InhaberInnen der fünf ausgewählten Off-Theater. Nach ergänzenden Informationen über die einzelnen Begegnungen folgt die Thematisierung des Theaterbetriebs der Off-Theater. Dramaturg des Gemeinschaftswerks: Ufuk Altunkaya//Mekan Artı Dem Theatermacher Ufuk Altunkaya begegne ich bereits 2010, als ich versuche, über die Dramaturgieabteilung der Universität Istanbul etwas zu den Off-Theatern

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der Stadt herauszufinden. Altunkaya (geb. 1985) ist zum damaligen Zeitpunkt Dramaturgiestudent und bezeichnet sich als Leiter einer Gruppe, die sich Artı Tiyatro nennt. Die Gruppe ist gerade im Begriff, ein eigenes Off-Theater zu eröffnen: Mekan Artı. Altunkaya lädt mich in die Spielstätte ein.26 Es handelt sich um eine ehemalige Autowaschanlage. Noch viel müsse komplett neu gemacht werden, einiges sei schon geschafft, aber die Miete sei günstig, und das wäre, was zählt, erklärt Altunkaya gleich bei der Begrüßung. Stolz scheint in seiner Stimme mitzuschwingen, der Stolz auf ein eigenes Theater, das unter vereinten Kräften der Gruppe Gestalt annimmt: In allen Ecken wird geschraubt und geschrubbt, werden Regale angebracht, Stuhlreihen installiert. Es gäbe einen harten Kern, aber darüber hinaus sei der gesamte Freundeskreis beim Entstehen dieses Ortes involviert. Ähnlich sei das für die betrieblichen Abläufe und die Produktionen geplant. Er ist zwar der Leiter, und rechtlich der Inhaber, aber die Arbeit eigentlich eher ein Gemeinschaftswerk, so Altunkaya. Ihre Motivation sei, ein kritisches türkisches Theater zu entwickeln, dass sich mit Themen wie der Vertreibung der GriechInnen aus der Türkei (im 20. Jh.) ebenso wie mit der Rolle von Transsexuellen innerhalb der türkischen Gesellschaft beschäftigt. Nur indem man eine eigene Spielstätte betreibe, könne man auch seine Themen vollkommen frei wählen. Im Frühjahr 2015 treffe ich Altunkaya in seinem eben erst eröffneten Café. Eigentlich habe er über das Café das Theater und seinen Lebensunterhalt finanzieren wollen27 , aber vor zwei Monaten wurden ihm die alten Räumlichkeiten von Mekan Artı gekündigt, erzählt Altunkaya. Wenn auch der Ort ein anderer ist, so wirkt es doch, als wäre das soziale Umfeld, der Freundes- und Bekanntenkreis, den mir Altunkaya 2010 in Mekan Artı vorgestellt hatte, von der Spielstätte ins Café mit umgezogen. Die Gespräche kreisen um Produktionen, die entwickelt werden müssten und um Orte zum Proben. Einzig die berufliche Situation der meisten Anwesenden hat sich seit 2010 verändert: Bis auf Altunkaya haben alle ihr Studium abgeschlossen und arbeiten Vollzeit in verschiedenen Berufen, etwa als LehrerInnen. Altunkaya führt als Langzeit26

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Als Informationsbasis dienen nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, die Interviews mit Ufuk Altunkaya, Inhaber des Off-Theaters Mekan Artı, am 14.05.2015 und am 18.12.2015. Er zeigt sich darauf ebenso stolz wie auf die kollektive Instandsetzung des eigenen Theaters. Dass auch die Theaterarbeit eine Leistung darstellt, die sich wirtschaftlich selbst tragen könnte bzw. deren MacherInnen ernähren sollte, kommt ihm genauso wenig in den Sinn wie den meisten meiner GesprächspartnerInnen im Off-Bereich Istanbuls. Die Trennung zwischen Kreativität und Erwerbsarbeit fällt hier noch deutlicher aus als in Buenos Aires; der bereits in Kapitel 3 angerissene diesbezügliche europäische Diskurs (vgl. Holm/Lobo 2006; Goehler/Dittmer 2006; Boltanski/Chiapello 2016) erscheint in noch weiterer Ferne.

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student das Café und übernimmt zudem von Zeit zu Zeit einige kleine Rollen im Fernsehen. Proben und Auftreten können sie daher immer erst frühestens ab 20 Uhr. Einige Monate später, es ist bereits Herbst, schreibt mir Altunkaya, dass eine neue Spielstätte gefunden ist und dass sie – damit war erneut der mir bereits bekannte Kreis an Leuten gemeint – gerade umbauen. Ich sei herzlich zur Neueröffnung von Mekan Artı im Dezember eingeladen. Vom Erlernen der eigenen Sprache: Mirza Metin und Berfin Zenderlioğlu//Şermola Performans Im Anschluss an eine Vorstellung von Şermola Performans lerne ich die beide InhaberInnen von Şermola Performans kennen: Mirza Metin (*1980) und Berfin Zenderlioğlu (*1980), beide KurdInnen aus Istanbul, beide AbsolventInnen der Dramaturgie an der Universität Istanbul.28 »Kurdisch« ist in diesem Fall zu betonen, da es sich bei Şermola Performans um das einzige kurdische Off-Theater in Istanbul handelt.29 Welche Gründe bewegten die InhaberInnen zur Eröffnung eines kurdischen Theaters? Mitte der 1990er Jahren treffen sich Metin und Zenderlioğlu im Mezopotamya Kültür-Merkezi (MKM), einem kurdischen Kulturzentrum, das 1991 von kurdischen Intellektuellen in Beyoğlu eröffnet wurde.30 Bis dahin war die Ausübung der kurdischen Kultur seit Gründung der Republik durch den türkischen Staat verboten31  – ein Theater gab es in dieser Zeit nicht. Als 1991 die kurdische Sprache erstmals wieder offiziell zugelassen wurde, hatte ein Großteil der kurdischen Bevölkerung nicht nur seine Sprache, deren Sprechen unter Strafe gestanden hatte, verlernt, sondern auch jeglichen Bezug zur kurdischen Kultur, so Metin. Im MKM wurden Sprachkurse, Literaturzirkel, Theaterkurse etc. angeboten. Viele kurdische Eltern hätten ihre Kinder in dieses Zentrum gebracht, um ihnen Nähe zur eigenen verloren gegangenen Geschichte und Kultur zu vermitteln. Wir mussten unsere eigene Sprache erst lernen, erzählt Zenderlioğlu. Metin formuliert es so: Der Kurde/die Kurdin gehe selbst wie ein Tourist auf seine Kultur

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Als Informationsbasis dienen nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, die Interviews mit Mirza Metin und Berfin Zenderlioğlu, den InhaberInnen des Off-Theaters Şermola Performans, am 13.04.2015 und am 19.05.2015. In keinem der Gespräche mit anderen TheatermacherInnen wurde die ethnische Herkunft betont. Es handelt sich dabei um keines der staatlich geförderten Kültür-Merkezis (Kulturzentren). Grund dafür war die Nationalisierungspolitik, im Zuge derer seit Gründung der türkischen Republik unter gewaltvollem Vorgehen eine Assimilierung der kurdischen Volksgruppe und in Folge ein Verbot der kurdischen Kultur durchgesetzt worden war (vgl. Weibel 2004:18f.; Dietert 2012: 162).

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zu. Bis heute sitzen viele KurdInnen in ihrem Publikum, die kein Kurdisch verstehen und stattdessen die türkischen Übertitel lesen. Seit 2008 arbeiten Metin und Zenderlioğlu professionell als Gruppe mit wechselnder Besetzung. Beide schreiben, inszenieren und wirken als SchauspielerInnen in den Produktionen mit. Theater sei für sie ein Mittel, um sich mit der kurdischen Geschichte auseinanderzusetzen: Zum einen thematisiert man für ein kurdisches aber ebenso ein türkisches oder internationales Publikum die Situation der kurdischen Bevölkerung im Laufe des letzten Jahrhunderts, wie etwa die Kurdenkriege in den 1980er Jahren. Zum anderen ist das Ziel, ein eigenes kurdisches Theater zu entwickeln, dass beispielsweise an die osmanische Tradition des Geschichtenerzählens und damit des epischen Erzählens anknüpft, so Metin. Nach unserem Gespräch verfolge ich die Entwicklung von Şermola Performans etwas aufmerksamer als die manch anderer Institution/Gruppe. Bereits zu diesem Zeitpunkt ist klar: Angesichts der sich zuspitzenden Lage, nicht zuletzt rund um die kritische Situation der türkischen KurdInnen unter der aktuellen ErdoğanRegierung, stellt sich früher oder später zwangsläufig die Existenzfrage des gemeinsamen Projekts von Metin und Zenderlioğlu.32 Interdisziplinarität nach 18 Uhr: Ömer Erzurumlu//Kumbaracı50 Als ich Ömer Erzurumlu (*1974) 2010 zum ersten Mal begegne, entspricht er so gar nicht meiner Vorstellung eines Off-Theater-Inhabers, sondern vielmehr der eines sehr beschäftigten, fast etwas arrogant wirkenden Geschäftsmanns: Er trägt einen schicken Anzug, seine Haare sind zurückgegelt; er weist mich noch im Begrüßungssatz darauf hin, dass er sich lediglich eine halbe Stunde Zeit nehmen könne, da er im Anschluss noch Termine habe; das Mobiltelefon ist durchweg gezückt.33 Ohne meine Fragen abzuwarten, beginnt er mit einer kurzen Einführung zu Kumbaracı50: Es handle sich um ein Kollektiv, bestehend aus 12 Personen. Er und die anderen 11 Mitglieder haben sich in den 1990er Jahren während des Studiums an der Yildiz Universität in Istanbul kennengelernt. Jeder war für ein anderes Fach eingeschrieben u.a. Architektur, Ingenieurwissenschaft, Grafikdesign und Betriebs-

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2015 hat die türkische Regierung den Friedensprozess mit der PKK, der »Arbeiterpartei Kurdistans« aufgekündigt; zahlreiche PolitikerInnen der pro-kurdischen HDP, der »kurdische Partei der Völker«, wurden inhaftiert; die Situation der kurdischen Zivilbevölkerung vor allem im Osten der Türkei hat sich nicht zuletzt aufgrund von Militärinterventionen seitens der türkischen Regierung dramatisch verschlechtert (vgl. Mihatsch 2018). 2018 verlässt Mirza Metin die Türkei und gründet in Köln mit einer zweiten Spielstätte einen Ableger von Şermola Performans. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Ömer Erzurumlu, Mit-Inhaber des Off-Theaters Kumbaracı50, am 17.12.2015.

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wirtschaftslehre, doch alle besuchten den Theaterclub der Universität.34 Nach Beendigung des Studiums gründeten sie im Jahr 2000 die Gruppe Altıdan Sonra Tiyatro, was so viel bedeute wie »Theater nach sechs Uhr« und sich darauf bezieht, dass man sich erst nach 18 Uhr, also nach Beendigung der Arbeit, dem Theater widmen könne. Hauptberuflich arbeitet Erzurumlu nämlich als Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Bahçeşehir Universität in Istanbul. Das erklärt mir meinen anfänglichen Eindruck.35 Verläuft das Gespräch bis dahin sehr nüchtern, ändert sich das, sobald Erzurumlu auf die Arbeit am Theater zu sprechen kommt: Ab dem Moment beginnt er, leidenschaftlich von der Zusammenarbeit innerhalb des Kollektivs und von dessen Anliegen zu schwärmen. Seit 2008 betreibt die Gruppe eine eigene Spielstätte. Er erzählt, dass jeder an den Produktionen mitwirkt, ob als SchauspielerIn, KostümbildnerIn, RegisseurIn etc; aber auch das Theater selbst, der Betrieb, sei eine gemeinschaftliche Arbeit, nicht nur finanziell, indem alle Mitglieder fünf Prozent ihres Einkommens für den Erhalt von Kumbaracı50 abgeben, sondern auch fachlich: Der Ingenieurwissenschaftler und der Architekt lassen beispielsweise ihr Wissen aus dem Bereich Architektur und Bauingenieurwesen in die bauliche Umgestaltung des Theaters, ebenso wie in die jeweiligen Bühnenbilder einfließen; die Graphikerin ist für Plakate, Webseite und Programmzettel zuständig; er selbst kümmere sich als Betriebswirt um die finanziellen Aspekte des Theaters. Nur ein Mitglied der Gruppe, Yiğit Sertdemir, hat sich nach den Anfängen im Theaterclub für eine Ausbildung am Theaterkonservatorium entschieden. Sertdemir arbeitet heute erfolgreich als Theaterautor und Regisseur. Er schreibt und inszeniert viele der Stücke, die in Kumbaracı50 gezeigt werden. Sie alle vereine der Wunsch, ein Theater zu machen, das sich mit den Problemen ihrer Generation beschäftige, wie etwa dem unaufgeklärten Verschwinden unzähliger Menschen in den 1980er und 90er Jahren. Theater sei ihr Ausdruck, um mit dem, was um sie herum passiere, fertig zu werden, so Erzurumlu. Nach einer halben Stunde ist das Gespräch beendet. Wir verabschieden uns, während erneut Erzurumlus Handy klingelt. Vor der Bürotür warten bereits einige Mitglieder der Gruppe, um mit dem Aufbau der Abendvorstellung zu beginnen.

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Solch ein Theaterclub, den viele Universitäten als Wahlkurs anbieten, steht, wie ich herausfinde, Studierenden aller Fachrichtungen offen: Gemeinsam werden Inszenierungen entwickelt, die sowohl in der Universität als auch in anderen Spielstätten in der gesamten Stadt oder sogar in anderen Städten der Türkei gezeigt werden. Siehe auch oben genannter Aspekt der Trennung von Kreativ-Leistung und Entlohnung.

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Drei Studienabbrecher und der Traum vom eigenen Theater: Heves Tüzün//Ikincikat Mit einigen meiner InterviewpartnerInnen findet ein Erstkontakt per Facebook statt, so auch mit Heves Tüzün (*1985), Schauspielerin und Mitinhaberin des Theaters Ikincikat.36 Im Rahmen der Kontaktaufnahme vor unserem ersten Treffen (21. Dez. 2015), schaue ich mir die Fotos von Tüzün auf dem Facebook-Profil an.37 Mir vermittelt sich dabei der Eindruck, als würde mich bei unserem Interview eine divenhafte Erscheinung erwarten. Anstelle von Proben- und Aufführungsfotos, wie ich sie von den Facebook-Profilen anderer TheatermacherInnen kenne, sehe ich ausschließlich Bilder, welche Frauen in wallenden Ballkleidern zeigen. Die Settings auf Segeljachten und Ballsälen erinnern an einen James-Bond-Film. Laut Bildunterschriften handelt es sich um Familienfeiern und private Partys. Bei unserer ersten Begegnung in Ikincikat erkenne ich Heves Tüzün jedoch zunächst nicht. Das Bild, das sich mir auf Facebook vermittelt hat, passt nicht zu der Person, die nun vor mir steht: unauffällig gekleidet, zurückhaltend in ihrem Auftreten. Mit der Niederschrift dieser Beobachtung geht es nicht darum, auf die Divergenz zwischen »realer« und medialer Erscheinung zu verweisen, sondern vielmehr darum, die Fotos als Indiz für eine soziale Einbettung zu betrachten. Auf ihren sozialen Hintergrund angesprochen, gibt Tüzün an, aus einem wohlhabenden Elternhaus zu stammen, das ihr die Arbeit am Theater ermögliche.38 Das Theater und ihr Elternhaus seien zwei Welten, in denen sie sich unterschiedlich bewege. Ursprünglich studierte Tüzün an der technischen Universität Istanbul, der Yildiz Universität, Metallurgie. Eyüp Emre Uçaray und Sami Berat Marçalı, die beiden anderen Mitbegründer von Ikincikat, hat Tüzün im Theaterclub der Universität kennengelernt – wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um denselben Theaterclub, aus dem zehn Jahre zuvor bereits die Gruppe um Kumbaracı50 hervorging.39 36

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Der erste Eindruck, den ich von meinen InterviewpartnerInnen gewinne, basiert oftmals auf ihren Facebook-Profilen: Eine Vielzahl an Bildern gibt Einblick in vergangene und aktuelle Probenarbeiten oder Aufführungen; die jeweiligen Facebook-Profile wirken wie Werbeplattformen für die jeweiligen Theater; als »Facebook-Freund« kann man teilweise den gesamten Probenprozess bis hin zur Premiere anhand der Bilder mitverfolgen. Das Facebook-Profil ist öffentlich für jeden/jede einsehbar, weshalb ich diese Informationen auch hier miteinbeziehe. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Heves Türzün, Mit-Inhaberin des Off-Theater Ikincikat, am 21.12.2015. Heves Tüzün, ehemaliges Mitglied des Theaterclubs an der Yildiz Universität in Istanbul und gegenwärtig Mit-Inhaberin von Ikincikat beschreibt die Arbeit im Theaterclub so: »If you decide to attend the theatre club of your university, it means you don´t go to class anymore, at least you just absolve the courses you have to, such as my laboratory classes. Instead you focus on theatre: We attended theatre class twice a week. If you miss one week, you cannot continue. If you are part of a production, you need to go to rehearsal every day. University gives us a lot of money for productions, space and it supports us on tours« (Interview mit H. Tüzün

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Im Gegensatz zu den Mitgliedern von Kumbaracı50 haben weder Tüzün noch Uçaray noch Marçalı ihr Studium beendet, stattdessen eröffneten sie 2010 ihr eigenes Theater, Ikincikat. Ziel war es, Themen auf der Bühne zu verhandeln, die in der Türkei kaum in der Öffentlichkeit stehen. Zunächst widmet sich die Gruppe dem britischen In-Yer-Face-Theater, nach etwa drei Jahren beschlossen sie, eigene Stücke zu entwickeln, so etwa P*ark, das sich wie der Name bereits verrät, mit der Besetzung des Gezi-Parks durch DemonstrantInnen auseinandersetzt. Während Marçalı die meisten der Stücke schreibt, führt Uçaray Regie. Tüzün wirkt in vielen der Stücke als Schauspielerin mit und ist für die Produktionsprozesse verantwortlich. Man arbeite meist mit Bekannten zusammen, es seien immer wieder dieselben Leute, man kenne sich mittlerweile, und könne darauf aufbauend die Rollen verteilen, erläutert Tüzün. Finanziell befänden sich alle Beteiligten nach dem Abbruch ihres Studiums noch immer in einem »Übergangsstadium«. Zum Leben reiche die künstlerische Arbeit nicht; dafür hielten private Rücklagen her oder man gehe Nebenjobs nach, die die zeitlichen Spielräume für die Theaterarbeit jedoch wiederum einschränkten.40 Zeit wird auch am Ende unseres Gesprächs zum limitierenden Faktor. Obwohl Tüzün feststellt, dass sie eigentlich längst zum nächsten Termin weiterziehen müsste, nimmt sie sich Zeit und zeigt mir zum Abschluss des Interviews die Räume ihres Theaters.41 Kollektivtheater und Konzertbetrieb im Kino: Onur Ünsal//Moda Sahnesi Im Vorfeld meiner Interviewanfrage 2014 höre ich bereits, dass Moda Sahnesi ähnlich wie Kumbaracı50 von einem Kollektiv geleitet wird. Das Interview führe ich mit Onur Ünsal (geb. 1985), einem der zwölf Mitglieder des Theaters.42 Wir verabreden uns in Moda Sahnesi, das Treffen beginnt mit einer Führung durch die aufwendig designten Räumlichkeiten. Besonders an Moda Sahnesi erscheint mir, dass es sich dabei nicht allein um ein Theater handelt, sondern zugleich um eine seitens meiner InterviewpartnerInnen wiederholt empfohlene und offensichtlich angesagte Konzert-Lokation. Jeden Freitag und Samstag werden in Moda Sahnesi

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am 21.12.2015). Ein Aspekt, der mir zum Zeitpunkt des Interviews zunächst als Randnotiz erscheint, vor dem Hintergrund marginaler staatlicher Förderung von Off-Theater-Projekten allerdings durchaus bemerkenswert ist: Bei der angedeuteten Förderung handelt es sich nach nochmaliger Nachfrage zwar »nur« um dreistellige Beträge zur Unterstützung repräsentativer Zwecke, beispielsweise Gastspielreisen, dennoch bedeuten diese für die KünstlerInnen unter dem Dach der Universität einen gewissen künstlerischen Freiraum, immerhin entscheidet das jeweilige Universitätspräsidium direkt über sie. Siehe auch oben genannter Aspekt der Trennung von Kreativ-Leistung und Entlohnung. Meine Beobachtungen zu Lage und Architektur sind Gegenstand des folgenden Abschnitts zum städt. Raum. Als Informationsbasis dient nachfolgend, wenn nicht anders gekennzeichnet, das Interview mit Onur Ünsal, Mit-Inhaber des Off-Theaters Moda Sahensi am 19.12.2015.

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nach der letzten Vorstellung Konzerte gespielt. Die daraus generierten Einnahmen dienen der Querfinanzierung des Theaterbetriebs.43 Das Gespräch verläuft teils wie ein Werbegespräch, während dem mir alle Vorzüge von Moda Sahnesi angepriesen werden. Voll Stolz erzählt Onur Ünsal vom Umbau des ehemaligen Kinos in Theater- und Konzerträume. Obgleich alle Mitglieder, ausgebildet an einem der staatlichen Konservatorien, für Film und Fernsehen arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt verdienen, stellt das Theater doch ihr aller Herzstück dar, so Ünsal. Jedes der Mitglieder wirke künstlerisch aber auch organisatorisch an den einzelnen Produktionen mit. Bereits vor Gründung von Moda Sahnesi arbeitete die Gruppe in unterschiedlichen Konstellationen zusammen; irgendwann habe man sich dann dazu entschieden, etwas Eigenes zu gründen: ein eigenes Theater mit eigener Schwerpunktsetzung. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt dieser auf Shakespeare: Kemal Aydogan (geb. 1965), ältestes Mitglied des Kollektivs und Regisseur aller von Moda Sahnesi produzierten Stücke, sei passionierter Shakespeare-Regisseur, verrät Ünsal. In der metaphorischen Sprache, mit der Shakespeare der politischen Situation seiner Zeit begegnete, finde man sich wieder. Es gäbe durchaus Parallelen zu der schwierigen aktuellen politischen Situation der Türkei. Von Shakespeare profitiere zudem das Kollektiv, denn durch die meist großen Besetzungslisten der Stücke könne jeder aus der Gruppe mitwirken. Im Gegensatz zu all den anderen TheatermacherInnen aus der Off-Szene haben die Mitglieder von Moda Sahnesi fast alle Ausbildungen am Konservatorium hinter sich.44 Laut Ünsal kehrt das Kollektiv in seiner eigenen Theaterarbeit zwar zu klassischen Stoffen wie denen Shakespeares zurück, doch besteht das Ziel darin, die Konventionalität der staatlichen Konservatorien und Theater hinter sich zu lassen und sich von Neuinterpretation leiten zu lassen. Am Rande der anschließenden Probe unterhalte ich mich mit weiteren Mitgliedern des Kollektivs: Die einzelnen Aussagen entsprechen einander; als Gruppe wirkt das Ensemble gefestigt. Auf meinem Rückweg denke ich über Shakespeares Königsdramen im Zusammenhang mit Recep Tayyip Erdoğan nach.

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Siehe auch oben genannter Aspekt der Trennung von Kreativ-Leistung und Entlohnung: Immerhin denkt diese Gruppe insofern wirtschaftlich, dass sie die Querfinanzierung ihrer Theaterarbeit innerhalb ein und desselben Zweckbetriebs findet: Wenn sich schon das Theater nicht selbst trägt, so doch wenigstens der Gesamtbetrieb durch eine Mischkalkulation im Paket mit Konzerten und Partys. Gerade bei den jüngeren TheatermacherInnen (25 bis 45 Jahre) im Bereich des Off-Theaters fällt auf, dass nur noch wenige eine »klassische« Ausbildung am Konservatorium durchlaufen haben. Stattdessen haben sie einen Background in einem theoretischen Studiengang wie Dramaturgie. Zudem haben sie sich durch die Mitarbeit an schon bestehenden Off-Theatern fortgebildet (vgl. InhaberInnen von Mekan Artı und Şermola Performans) oder einen Theaterclub an der Universität besucht (vgl. InhaberInnen von Kumbaracı50 und Ikincikat). Die Mitglieder von Moda Sahnesi bilden daher eher eine Ausnahme.

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

Aufwendungen und Erträge: Theaterbetrieb der Off-Theater Beim Blick auf die Biografien, fällt auf, dass keiner der InhaberInnen den eigenen Lebensunterhalt ausschließlich über das Theater bestreitet, stattdessen gehen alle Teilzeit – oder Vollzeittätigkeiten nach, um so nicht nur sich selbst, sondern auch die Theater zu finanzieren. Denn die Einnahmemöglichkeiten der Off-Theater sind begrenzt: Aus dem Ticketverkauf generieren sich lediglich geringe Summen, die wiederum mit 20 Prozent besteuert sind, so Erzurumlu von Kumbaracı50 (vgl. Interview mit Ö. Erzurumlu am 17.12.2015). In der Türkei existiert weder eine Form der Gemeinnützigkeit, noch wird der Status der Off-Theater, die keine großen Einnahmen erzielen, anderweitig steuerlich begünstigt, wie alle InterviewpartnerInnen aus dem Off-Bereich betonen (vgl. z.B. Interview mit Ö. Erzurumlu am 17.12.2015; Interview mit U. Altunkaya am 14.05.2015). Neben den Ticketerlösen bildet die Vermietung der Räumlichkeiten an andere Theatergruppen ohne feste Spielstätte eine weitere Einnahmemöglichkeit für die Off-Theater. Diese erfolgen meist nach dem Prinzip 30/70: 30 Prozent geht an das Theater, 70 Prozent an die Gruppe. Die Untersuchung der Spielpläne zeigt: Das Programm der meisten Off-Theater setzt sich aus Eigenproduktionen und Gastproduktionen zusammen, die an mehreren Abenden pro Woche gezeigt werden. Die Eigenproduktionen bilden dabei eine Art Repertoire, auf welches das Theater im jeweiligen Spielplan immer wieder zurückgreift. Jedes Jahr wird mindestens eine neue Inszenierung erarbeitet: Şermola Performans zeigt jede Woche ein Stück aus dem Repertoire; ansonsten stehen die Räumlichkeiten zur Vermietung an Gastkompanien zur Verfügung. Eine ähnliche Vorgehensweise pflegen Mekan Artı und Kumbaracı50. Die Gruppe von Moda Sahnesi nutzt das Theater von Mittwoch bis Sonntag für eigene Aufführungen; Samstag und Sonntag gibt es eine Matinee und eine Soirée. Meist wird ein Stück fünfmal in Folge gespielt und dann zum nächsten gewechselt, um unnötige Umbauarbeiten zu vermeiden. Nur Montag und Dienstag werden die Räumlichkeiten an andere Theaterkompanien vermietet. Moda Sahnesi ist das einzige der Theater, das sich über die Veranstaltung von Konzerten querfinanziert, eine Möglichkeit, die sich jedoch nur aufgrund der Größe der Räumlichkeiten realisieren lässt und einen Einzelfall darstellt. Den größten Kostenfaktor stellt für alle InhaberInnen die Anmietung der Räumlichkeiten dar. Die Produktionskosten werden meist auf minimale Ausgaben beschränkt, die Bühnenbilder und die Kostüme sind selbst erstellt. Funktionen wie Regie, Bühnen- und Kostümbild, Musik, aber auch die Autorschaft der Texte wird meist aus den Reihen der jeweiligen Gruppe übernommen. Ähnlich wie in Buenos Aires sind Tantiemen für AutorInnen kaum finanzierbar, weshalb fast alle Gruppen oder RegisseurInnen sich dazu entscheiden, ihre Stücke selbst zu schreiben. So verfassen Yiğit Sertdemir von Kumbaracı50, Sami Berat Marçalı von Ikincikat, Ufuk Tan Altunkaya von Mekan Artı oder Berfin Zenderlioğlu und

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Mirza Metin von Şermola Performans die meisten der am jeweiligen Theater gezeigten Stücke selbst. Abgesehen davon behandeln viele der Stücke, die in den Off-Theatern aufgeführt werden, Themen, die bis dahin in der türkischen Dramatik nicht auftauchen. Folglich muss man also selbst schreiben. Eine Problematik, die, wie schon erwähnt, insbesondere Şermola Performans, das kurdischen OffTheater, betrifft: Aufgrund der kurdischen Geschichte existieren kaum kurdische Theaterstücke. Genehmigungen und andere Druckmittel: Rechtliche Rahmenbedingungen der Off-Theater Die Off-Theater werden privat geführt und unterstehen damit nicht dem Staat. Um jedoch ein Theater offiziell eröffnen zu können, wird eine Genehmigung der jeweiligen Stadtteilregierung benötigt, die an Regularien geknüpft ist. Diese Regularien sind auch nach mehrmaliger Nachfrage bei verschiedenen Stadtteilregierungen Istanbuls u.a. in Beyoğlu und Fatih, nicht einsehbar. Die InhaberInnen der ausgewählten Theater geben an, dass sie es für intransparent halten, wie Genehmigungen erteilt werden. Ähnlich wie bei anderen oftmals nebenan liegenden Geschäften, Cafés oder Bars wählen viele der InhaberInnen daher den informellen Weg: Sie schließen sich zwar zu einer GmbH zusammen, registrieren sich als solche und zahlen Steuern auf die erzielten Einnahmen,45 melden jedoch ihre Räumlichkeiten nicht als Theater an. Die Regierung toleriere das. Dadurch werden die Theater jedoch angreifbar. Eine fehlende Genehmigung biete der Regierung ein Druckmittel, um einen Ort wie ein Theater jederzeit ohne Vorwarnung schließen zu können (vgl. Interview mit Ö. Erzurumlu am 17.12.2015). Die Angst vor Zensur in Form von Schließungen ist eine ständige Begleiterin ihrer Arbeit, berichten einstimmig alle meine InterviewpartnerInnen. Onur Ünsal, Mit-Inhaber von Moda Sahnesi sagt dazu: »We don’t have a censorship for now, no one came. I guess they [die türkische Regierung] are not so clever to understand what we are trying to show. I mean: They have to think metaphorical […]« (Interview mit O. Ünsal am 19.12.2015). Mirza Metin, Inhaber von Şermola Performans, schätzt hingegen die Reichweite der Off-Theater als zu gering ein, als dass es sich für den Staat lohne, gegen sie vorzugehen. Im Falle des bereits in Kapitel 4.1 erwähnten Kumbaracı50 sei insbesondere das Medienecho für das staatliche Vorgehen verantwortlich gewesen, im Normalfall berichten jedoch die Medien nicht über Inszenierungen in

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»In Turkey it doesn’t matter if you open a bar, a theatre or a supermarket, you always have to pay the same taxes. They [the government] take at least 20 percent of what you earn. If you rent a place, the government wants some extra rent besides. For example: If you pay 5.000 TL rent, the government wants 1.000 extra,« erklärt Ömer Erzurumlu von Kumbaracı50 (Interview mit Ö. Erzurumlu am 17.12.2015).

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Off-Theatern, sondern ausschließlich über Produktionen mit TV- und Kinostars oder die der staatlichen Theater (vgl. Interview mit M. Metin am 13.04.2015)

4.2.4.

Resümee: Subversion, Pragmatismus und Kulturpolitik

In den Gesprächen und Begegnungen wurde deutlich, wie unterschiedlich nicht nur die Motivationen sind, aus denen die einzelnen TheatermacherInnen am Theater arbeiten, eine eigene Gruppe gründeten oder eine eigene Spielstätte eröffneten, sondern auch wie verschieden der Umgang der Einzelnen mit der vorherrschenden (kultur)politischen Situation ausfällt: Etwa der der Dramaturgin des städtischen Theaters, die schon seit ihrer Jugend im Şehir Tiyatrosu Istanbuls arbeiten wollte, um an großen Produktionen des Theaters mitzuwirken und inzwischen, wie die meisten der MitarbeiterInnen, in ihrer Arbeit den Weg der politischen Anpassung wählt, um eine Schließung des Theaters zu vermeiden. Oder der Leiter des kommerziellen Tiyatro Minerva, der sein Theater 2012 mit dem Anspruch eröffnet hatte, im Sinne Brechts Inszenierungen für ein Publikum am Rande der Stadt zu entwickeln, mittlerweile aber aus wirtschaftlicher Not »religionskonforme« Unterhaltungsstücke für das Programm von Kültür-Merkezis entwickelt. In jedem der geführten Gespräche findet sich ein direkter oder indirekter Verweis auf die (kultur)politische (Gesamt)Situation, wodurch deutlich wird, wie omnipräsent deren Einfluss ist. Im Bereich der staatlichen Theater, die der direkten Kontrolle der städtischen sowie der nationalen Regierung unterstehen, lassen sich die Auswirkungen dieser Situation wahrscheinlich am deutlichsten wahrnehmen u.a. in Form von Budgetkürzungen, Selbst-Zensur und personellen Umstrukturierungen. Obgleich die SchauspielerInnen, und wahrscheinlich auch die meisten der MitarbeiterInnen an den staatlichen Theaterinstitutionen, eher einer säkularen Gesellschaftsschicht entstammen, werden die künstlerischen und personellen Entscheidungen mittlerweile weitgehend von VertreterInnen der islamisch-konservativen AKP-Administration getroffen, in Form des am städtischen Theater eingesetzten Managements oder im Falle des Staatstheaters durch das Kulturministerium in Ankara. Im Bereich des kommerziellen Theaters zeigen sich die Folgen der Kulturpolitik hingegen weit weniger deutlich, da es sich eher um eine indirekte Einflussnahme handelt: So betreiben kaum noch Theatergruppen eigene Spielstätten, da die staatlich finanzierten Veranstaltungssäle den Theatergruppen entweder sehr günstig zur Verfügung gestellt oder die Gruppen gegen eine Gage vom jeweiligen Management eingekauft werden. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Inszenierungen dem Moralverständnis der VeranstalterInnen entsprechen. Die Gruppen, die sich gegen diese Form der Anpassung entscheiden, müssen für die Miete einer Bühne in einer Shopping Mall aufkommen und tragen dabei das Verkaufsrisiko.

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Da das Hauptinteresse der TheatermacherInnen in der Gewinnerzielung besteht, versuchen sie sich den neuen vorherrschenden Moralvorstellungen und daraus resultierenden Auswahlkriterien anzupassen. Sowohl im Bereich der staatlichen als auch im Bereich der kommerziellen Theater begegnet mir ein Pragmatismus, der dazu führt, dass die Veranstaltungen den Anforderungen der türkischen Regierung angepasst werden. Einen Kontrast dazu bilden die Off-Theater, deren Eröffnung bzw. deren Betreiben non-kommerzielle oder auch bewusste ideologische Entscheidungen durch die InhaberInnen zugrunde liegen. Alle TheatermacherInnen aus dem Off-Bereich gehen anderweitigen beruflichen Tätigkeiten nach, um unabhängig arbeiten zu können. Der stetige Rollenwechsel eines generalistischen »Jeder/e-macht-alles« scheint die Gruppen als soziale Entitäten innerhalb eines Theaterbetriebs zusammenzuschweißen. Gerade in den Jahren unter der AKP-Regierung bringt das die OffTheater-MacherInnen in eine oppositionelle Rolle zu den BetreiberInnen kommerzieller und staatlicher Theater. Ihr Kapital besteht in ihrer Unangepasstheit und Subversion. Genauso arbeiten sie auch: flexibel, informell, unregelmäßig, oftmals nachts und nebenbei, ohne Absicherung, Netz und doppelten Boden, nicht einmal im sicheren Wissen, ob die nächste Premiere stattfindet. Doch trotz dieser »Unabhängigkeit« können sich auch die Off-Theater mit ihren privaten Spielstätten nicht gänzlich der staatlichen Kontrolle entziehen. Da kaum ein Off-Theater eine rechtliche Genehmigung und damit Daseinsberechtigung mit staatlicher Zustimmung erhält, sind die Theater durchweg der staatlichen Willkür ausgesetzt. Die bisherigen Untersuchungen zur stadtspezifischen Verfasstheit des Theaterraums in Istanbul führen zum Teil sehr nahe an Fragen nach dem Standort und dem architektonischen Raum der Theater, Aspekte der Gebäude und des Städtebaus heran, lassen diese jedoch unberührt. Diese Fragen sind Thema des folgenden Abschnitts: Wie erscheinen die einzelnen Theater architektonisch im Stadtbild? Wo liegen ihre Spielstätten im Bezug zum gesamtstädtischen Raum? Ballen sich die Theaterbereiche innerhalb einzelner Stadtteile?

4.3.

Viertel und Kontinente: Der städtische Raum

Istanbul zählt im Jahr 2015 offiziell 14 Mio. EinwohnerInnen, die inoffizielle Zahl wird jedoch weit höher geschätzt.46 Damit ist es die größte Stadt der Türkei, Europas und des Mittleren Ostens: Eine Megacity, wie sie in verschiedenen internatio-

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http://worldpopulationreview.com/world-cities/istanbul-population/; Zugriff 15.08.2018.

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nalen Artikeln und Broschüren zur Stadt beschrieben wird.47 Während in Buenos Aires kaum jemand etwas mit diesem Begriff anzufangen wusste, greifen viele IstanbulerInnen, die ich während meiner Reise treffe, bewusst darauf zurück. Stehen wir im Stau, kommt jemand zu spät oder klagt jemand über die Müllberge am Straßenrand – die Erklärung lautet durchweg: Istanbul sei eine Megacity. Doch selten habe ich das Gefühl, dass diese Bezeichnung mit der mir aus Europa bekannten Negativkonnotation versehen ist, vielmehr scheint man stolz darauf zu sein, in solch einem urbanen Kontext zu leben. »They call it chaos, we call it home«, diese Worte auf einem Aufkleber, den mir eine Istanbuler Freundin schenkt, repräsentieren für mich genau diesen Kontrast zwischen Außen- und Innenwahrnehmung. Je größer eine Stadt ist, umso entscheidender ist auch die Wahl der Standorte der Theaterspielstätten: Während meiner Aufenthalte in Istanbul fällt immer wieder auf, dass sich die meisten der Personen, denen ich begegne, in ihren täglichen Wegen nur auf ein oder zwei Stadtteile beschränken. Die Wahl eines Wohnund Arbeitsplatzes wird davon mitbestimmt, welche Verkehrswege zurückzulegen sind. Für mich stellt sich daher in diesem Abschnitt u.a. die Frage: Wo platzieren sich Theater im Stadtraum von Istanbul? Im Fokus des folgenden Abschnitts steht die stadträumliche Kontextualisierung der einzelnen Theater in Istanbul: ihre jeweilige Verteilung über den gesamten Stadtraum ebenso wie ihre räumliche Einbettung in die unmittelbar angrenzende städtebauliche Umgebung und ihre architektonische Gestalt. Analog zum vorangehenden Kapitel zu »Buenos Aires« beginne ich vorliegenden Abschnitt mit einem einführenden allgemeinen Blick auf die Istanbuler Stadtstruktur und -entwicklung, bevor ich anschließend in Form einer Zoombewegung auf die Topografie bestimmter Gegenden in der Stadt, in denen sich die in Kapitel 1 ausgewählten Theaterspielstätten befinden, zurück komme. Da ich aufgrund meiner früheren Forschungsarbeit auf Kartierungen aus dem Jahr 2010 zurückgreifen kann, stellt sich mir vor allem die Frage, welche Dynamik und Veränderung sich bzgl. der Wahl der Standorte erkennen lässt.

4.3.1.

Stadt der Meere und der Enge: Stadtentwicklung und -struktur

Stadt ohne Zentrum: Strukturen der Polyzentrik Istanbul liegt an der Grenze zwischen Europa und Asien. Als einzige Stadt weltweit erstreckt sich ihre Fläche über zwei Kontinente. Dazwischen fließt der Bosporus, das Gewässer, welches das europäische vom asiatischen Festland trennt und das Schwarze Meer im Norden Istanbuls mit dem Marmarameer im Süden verbindet. Diese Lage ist ausschlaggebend für die Stadtstruktur und die Entwicklung der 47

Vgl. Arch Plus: Istanbul wird grün. Nov. 2009; Urban Age Conference Paper »Istanbul. City of Intersections« 2009; »Kulturhauptstadt Istanbul«, Programmheft 2010.

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Stadt: Allein, dass sich die Stadt auf zwei Kontinente verteilt, schließt das Bestehen eines einzelnen Stadtzentrums aus. Bereits in der Geschichte Istanbuls ist die polyzentrische Struktur der Stadt angelegt. So existierten seit dem Mittelalter zeitgleich mindestens zwei gesellschaftliche Zentren: das eine auf der Peninsula zwischen Goldenem Horn und Bosporus, das andere im Norden, auf der sog. europäischen Seite der Stadt. Heute umfasst Istanbul 39 Stadtteile, 25 davon liegen auf der europäischen, 14 auf der asiatischen, auch anatolisch genannten Seite der Stadt.48 Jeder dieser Stadtteile gliedert sich nochmals in eine Vielzahl an Stadtvierteln und sog. »Mahalles« (»Nachbarschaften«).49 Die dezentrale Verwaltung Istanbuls – jeder der 39 Stadtteile verfügt über eine eigenständige Regierung und Verwaltung – führt zudem zu einer polyzentrischen Verteilung des öffentlichen und damit auch des kulturellen Lebens in der Stadt Istanbul (vgl. Kap. 4.4).

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Die Verwaltungseinheit »Bezirk« fasst mehrere Stadtteile mit einer Bevölkerung von insgesamt jeweils mindestens 200.000 BewohnerInnen zusammen; ihrerseits zusammengenommen bildet die Gesamtheit der Bezirke wiederrum die »Metropolregion« Istanbul (vgl. https://www.ibb.istanbul/; Zugriff 18.08.2018). Letzteres ist als Begriff aus dem Arabischen übernommen und bezieht sich seit dem Osmanischen Reich (1299-1922) auf die kleinste Verwaltungseinheit innerhalb eines Stadtteils Im Osmanischen Reich unterteilten sich die Mahalles entlang ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten ihrer BewohnerInnen. Die Grenzen der Mahalles verlaufen meist nicht innerhalb eines Stadtviertels; sie stellen damit keine Untergliederung eines Stadtviertels dar, sondern bilden neben den Stadtvierteln eine kleinteiligere Untergliederung des jeweiligen Stadtteils. Der Stadtteil Beyoğlu untergliedert sich beispielsweise in 45 Stadtviertel und in über 100 Mahalles. Die Grenzen zwischen einem Stadtviertel und einer sog. Mahalle scheinen mir in der Alltagssprache fließend: So wird auf meine Frage nach dem Ort eines Theaters, das sich in Harbiye befindet, einer Mahalle im Stadtviertel Nisantasi, das wiederum im Stadtteil Şişli liegt, einmal geantwortet, dass es in Harbiye läge, ein anderes Mal, es befände sich in Nisantasi und wiederum ein anderes Mal lokalisierte man es im erst einige hundert Meter entfernt beginnenden Stadtteil Beyoğlu.

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Stadt der vielen Namen, Stadt der Gründungen und Überschreibungen Ihre günstige Lage verschaffte der Stadt seit ihrer Gründung im 6 Jh. v. Chr. den Status eines wichtigen und damit hart umkämpften Handelszentrums.50 Unter den Namen Byzanz, Konstantinopel und schließlich Istanbul diente sie drei Imperien als Hauptstadt. Das historische Stadtgebiet umfasste jedoch lediglich einen Bruchteil der heutigen Fläche Istanbuls: Es fand sich auf einer hügeligen Peninsula zwischen Marmarameer, Bosporus und einem Meeresarm des Bosporus, dem sog. Goldenen Horn auf der europäischen Seite. Bis heute zeugen hier bauliche Relikte und Denkmäler wie die römischen Aquädukte, die Hagia Sofia oder der Topkapı Palast von den aufeinander folgendenrömischen, christlichen oder muslimischen Epochen.51 Viele der heutigen Stadtteile Istanbuls bestehen bereits seit dem Mittelalter als Vororte der Stadt entlang des asiatischen ebenso wie europäischen Ufers des Bosporus (vgl. die heutigen Stadtteile Kadıköy oder Üsküdar; vgl. Hughes 2018). Auf der europäischen Seite, nördlich des Goldenen Horns, etablierte sich im 13. und 14. Jahrhundert eine genuesische Handelskolonie, die im Laufe der Jahrhunderte zum Zentrum der christlichen Minderheiten und europäischen Kaufleute wurde (vgl. u.a. die Viertel Pera und Galata, welche heute zum Stadtteil Beyoğlu zählen). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zeitgleich mit der wirtschaftlichen Öffnung in Richtung Europa, begann sich die Stadt durch die Ansiedelung von Industrie entlang den Ufern des Goldenen Horns auszubreiten. Im Zuge dessen verließen die osmanischen Eliten ihre Häuser im damaligen Stadtkern auf der alten Peninsula und siedelten sich im Norden, auf der europäischen Seite der Stadt an (vgl. Esen 2006: 379). Hier, in den heutigen Stadtteilen Beyoğlu, Beşiktas und Şişli wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts das moderne Istanbul erbaut: mit großen Boulevards und Apartmenthäusern im Pariser Stil (vgl. ebd.). Sogar der Sultan verließ die Peninsula und ließ sich einen Palast im für das Osmanische Reich bis dahin eher ungewöhnlichen, neo-barocken Stil nach französischem Vorbild errichten, den sog. Dolmabahçe-Palast im Stadtteil Beşiktaş (vgl. Bohle/Dimog 2014: 125).

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Istanbul galt bereits seit dem Byzantinischen Reich als Handelszentrum. Der Soziologe Çağlar Keyder beschreibt die Stadt nicht nur als bedeutenden Kreuzungspunkt der Handelswege (»der gesamte Fernverkehr zwischen dem Vorderen Orient und Europa, zwischen dem Balkan und dem westlichen Asien musste seinen Weg durch die Stadt nehmen« [Keyder 2004:33]), sondern auch als »größten Marktplatz« der Region, in dem sich sowohl Waren des Westens als auch des Ostens wiederfanden (vgl. ebd.). Im Osmanischen Reich bildete der Sultanshof im Topkapı Palast das Zentrum des Stadtgebiets. Charakteristisch für die damalige Stadtstruktur war, dass sich die Wohnhäuser um öffentliche Institutionen wie Moscheen oder Schulen gruppierten und die Straßen lediglich die bestehenden Leerstellen füllten und sich damit der gebauten Struktur anpassten (vgl. Kizildag 2006: 178).

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Neben dem alten Stadtzentrum existierte fortan ein neues Zentrum auf der europäischen Seite, das nicht länger nur den christlichen Minderheiten vorbehalten war, sondern mit seinen Theatern, Hotels, Kaffee- und Warenhäusern fortan »als Empfangsraum des Osmanischen Reichs für alle Welt« diente, wie es der Turkologe Georg Kreiser ausdrückt (Kreiser 2010: 97). Für die Stadtentwicklung Istanbuls zu Beginn des 20. Jahrhundert war der politische Machtwechsel entscheidend, denn mit der Neugründung der türkischen Republik wurde eine neue Hauptstadt ernannt: Mustafa Kemal Atatürk verlegte den Regierungssitz und damit die gesamte Verwaltung nach Ankara, wodurch Istanbul seine Bedeutung als politisches Zentrum verlor. Standen bis dahin die glanzvollen Gebäude der Machtelite in Istanbul, entstanden die repräsentativen Bauten der jungen Republik ab sofort in Ankara, weit entfernt vom alten Zentrum der OsmanInnen. Innerhalb von Istanbul gewann mit Ausrufung der türkischen Republik Beyoğlu, das traditionell »westliche«, »europäische« Zentrum an Bedeutung und ersetzte als neues Stadtzentrum vollends das auf der Peninsula gelegene ehemalige Machtzentrum der OsmanInnen. Das neue politische Zentrum wurde jedoch lediglich durch ein Denkmal für die GründerInnen der Republik am Taksim-Platz, einem zentralen Platz in Beyoğlu, und durch die Umbenennung der Hauptstraße in İstiklâl Caddesi (Straße der Unabhängigkeit) zum Ausdruck gebracht.52 Erst Jahrzehnte später werden diese geringfügigen baulichen, doch symbolisch behafteten Eingriffe in das Stadtbild Istanbuls von einem repräsentativen Bau ergänzt: In den 1960er Jahren eröffnet das Atatürk-Kültür-Merkezi (AKM): Als zentraler architektonischer Ausdruck der türkischen Moderne beherbergte das Gebäude bis 2008 u.a. das Staatstheater Istanbuls. Obgleich Istanbul an politischer Bedeutung und damit an baulicher Repräsentation verloren hatte, dehnte sich das Stadtgebiet räumlich massiv aus: Mitte der 1940er Jahre setzte eine bis heute anhaltende Urbanisierung ein, in Folge derer hunderttausende BinnenmigrantInnen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben aus Anatolien nach Istanbul zogen. Die Stadt benötigte zwar die Arbeitskraft, war jedoch infrastrukturell nicht auf die Masse an Menschen vorbe52

Trotz der zentralen Position des Denkmals auf dem Platz nehme ich seine dimensionale Wirkmacht als eher gering war. Die Besonderheit dieses Denkmals scheint mir in einem anderen Aspekt begründet, wenn ich auch dazu in der Literatur nicht fündig werde: Es werden Abbilder von Personen dargestellt. Damit glorifiziert dieses Denkmal nicht nur die in Bronze gegossenen, abgebildeten Staatsmänner, sondern stellt zugleich einen Bruch mit dem Abbildungsverbot der osmanisch-islamischen Kultur und eine Assoziation zu den in europäischen Städten weit verbreiteten Herrscherstandbildern dar. Als Mittel der Glorifizierung einerseits und symbolischer »Bruch« andererseits können weiterhin die unzähligen Statuen und Büsten des Staatsgründers Atatürk verstanden werden, die omnipräsent im Stadtraum von Istanbul und der gesamten Türkei vertreten sind.

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reitet. Innerhalb des 20. Jahrhunderts sollte sich die Einwohnerzahl von ca. einer Million verzehnfachen (vgl. Bilgin 2005a: 94). Während sich die wohlhabenderen ZuwandererInnen in den zentralen Vierteln der Stadt in meist neu errichteten »Apartmans«53 (Apartmenthäuser) niederließen, zogen die Mittellosen unter den Neuzugezogenen aufgrund des Wohnraummangels in sog. »Gecekondular« (= »über Nacht gelandet«). Diese informell erbauten Hütten fanden sich vereinzelt in den Baulücken zentral gelegener Viertel sowie als große Siedlungen am Rande der Stadt, nahe der Industrieanlagen (vgl. ebd.: 93f.).54 Im Laufe der Jahrzehnte wurde die informelle Landnahme zunehmend legalisiert,55 wodurch die Gecekondu-Hütten langsam aus dem Stadtbild verschwanden und durch Apartmentblocks ersetzt wurden.56 Die ehemaligen GecekonduGegenden wuchsen zu eigenständigen Stadtteilen heran, wie etwa Gaziosmanpaşa und Kâğıthane auf der europäischen Seite oder Maltepe auf der asiatischen Seite der Stadt (vgl. Esen 2006: 382f.). Die städtische Ausdehnung und Nachverdichtung Istanbuls, welche durch keinen Masterplan gelenkt und weitgehend sich selbst überlassen war, veränderte das Erscheinungsbild der Stadt entscheidend.57 Der Stadtforscher Esen spricht in diesem Kontext sogar von einer Art »Neugründung« Istanbuls (ebd.: 380). Während sich in den ersten Jahrzehnten des Zuzugs (1940-80) mit den Gecekondu-Siedlungen eine Stadtplanung von unten (»bottom-up«) durchgesetzt hatte, setzte seit den 1980ern im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung und Liberalisierung eine marktbestimmte Stadtplanung von oben (»top-down«) ein: Zunächst

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Das Stadtbild der zentralen Stadtteile war bis dahin durch unzählige einzelne, frei stehende Häuser mit Gärten und Höfen dominiert, welche nun den Apartmenthäusern wichen (vgl. Esen 2006). Nach dem sog. »Self-Service-Prinzip«, wie Orhan Esen (2005) es nennt, richteten sich die Gecekondu-BewohnerInnen in ihrer neuen Heimat ein: Es wurden Wasserleitungen angezapft und eigene Transportsysteme entwickelt wie das sog. »Dolmus« (Sammeltaxi). In den 1960er Jahren entdeckte die Politik die Zugewanderten, in Gecekondular lebenden Teile der Stadtbevölkerung, als neue Wählerschaft, indem sie die informelle Landnahme legalisierten und die Siedlungen durch den Bau von Infrastruktur an die Stadt anbanden (vgl. Esen 2006: 382). Dieses Modell der Neubebauung ermöglichte es, dem anhaltenden Zuzug aus dem anatolischen Hinterland zu begegnen. Die Gecekondu-BesitzerInnen investierten selbst oder verkauften ihre mittlerweile legalisierten und städtisch angebundenen Grundstücke, um anstelle des Gecekondu einen Apartmentblock errichten zu lassen. Als Ablöse erhielten die ehemaligen Gecekondu-BesitzerInnen von den InvestorInnen oft ein oder zwei Wohnungen in dem neu gebauten Block (vgl. Esen 2006: 380). Bis Ende des 20. Jahrhunderts verstand die Istanbuler Stadtverwaltung ihre Hauptaufgabe im Bereich des Städtebaus lediglich im Bau von Hauptstraßen. Die Bebauung des dazwischenliegenden Landes erfolgte legal oder informell ohne staatliche Vorgaben (vgl. Bilgin 2005a: 94).

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entstanden in den noch weniger bebauten Gebieten im Norden der Stadt Businessdistrikte wie Levent oder Maslak, deren Erscheinungsbild durch Hochhäuser und Shopping Malls dominiert wird. Um diese neuen Viertel auch verkehrstechnisch an die Stadt anzubinden und das hohe Verkehrsaufkommen zu kompensieren, begann seit Mitte der 1980er Jahre der Ausbau der Istanbuler Metro (Istanbul Metrosu).58 Seit den 2000er Jahren entstanden an den Rändern der Stadt, auf kilometerlangen Flächen monolithische Wohnturm-Landschaften. Diese Trabantenstädte, in deren Mitte als eine der wenigen öffentlichen Einrichtungen meist eine Moschee platziert ist, sind kaum an ein öffentliches Verkehrsnetz angebunden und meist nur durch Schnellstraßen mit anderen Stadtteilen verbunden.59 Seit Mitte der 2000er Jahre setzen sich die Großbauprojekte zunehmend auch innerhalb innerstädtischer Viertel fort: 2009 eröffnete beispielsweise einige hundert Meter nördlich des Taksim-Platzes ein riesiges Kongresszentrum, auf das ich bei meinen Ausführungen zur Hauptspielstätte des städtischen Theaters eingehen werde. Im selben Jahr wird ein gesamtes Stadtviertel, das Roma-Viertel Sulukule im Stadtteil Fatih, zugunsten eines Neubauprojekts abgerissen. Weitere Großbauprojekte wie der Tarlabaşı Boulevard folgen.60

4.3.2.

Alte und neue Macht: Beyoğlu

Als ich 2014 nach Istanbul komme, beginnt meine Recherche wie schon 2010 zunächst im Stadtteil Beyoğlu (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bezirk, der noch weitere Stadtteile umfasst), dem damaligen »Theaterviertel« der Stadt. Die Gegend um den Taksim-Platz hat sich verändert. Der Platz selbst ist nicht länger für den Verkehr zugänglich, stattdessen ist er nun untertunnelt und birgt in der Tiefe einen neuen Knotenpunkt des Istanbuler Metrosystems. Noch steht auf der einen Seite des Taksim-Platzes das Atatürk-Kültür-Merkezi (AKM), Heimat des Staatstheaters, das jedoch schon seit 2008 geschlossen ist. 2016 wird es abgerissen 58

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Derzeit existieren sieben Metrolinien in Istanbul. Die Metro verbindet u.a. die Stadtteile südlich und nördlich des Goldenen Horns miteinander. Eine Verbindung zwischen europäischer und asiatischer Seite ist zum Zeitpunkt meiner Recherche in Planung, aber noch nicht umgesetzt. Verantwortlich für die Realisierung ebenso wie die anschließende Verwaltung fast all dieser Bauprojekte, ob nun luxuriöse Wohnprojekte oder Massenwohnungsbau, ob im Zentrum oder in der Peripherie, ist die regierungseigne Baugesellschaft Topli Konut Idaresio Baskanligi (TOKI). Die Baugesellschaft untersteht der staatlichen Regierung und ist als Behörde direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt (vgl. Ucar 2014: 62ff.). Diese staatlich veranlassten Bauprojekte führen zu einer top-down Gentrifizierung von zentral gelegenen, ehemals marginalisierten Stadtteilen. Die Projekte greifen nicht punktuell und prozessual in den Stadtraum ein, sondern zeichnen sich durch eine »Tabula-rasa«Methode aus, die zu einem Komplettabriss und folgendem Neubau der Gegenden führt (vgl. Islam/Sakizlioglu2015: 251ff.).

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und soll durch einen Neubau ersetzt werden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes wird bereits der Grundstein für eine riesige Moschee gelegt, deren Erscheinung zukünftig den Platz dominieren wird. An der Nordseite befindet sich der durch die zahlreichen Proteste 2013 über die Grenzen der Türkei hinaus bekannt gewordene Gezi-Park, an dessen Stelle die Pläne der AKP-Regierung eine Shopping Mall vorsehen, deren Bau aber aufgrund der Proteste bisher verschoben wurde. Die Häuser entlang der İstiklâl Caddesi sind fast alle renoviert: Ein großes, relativ neu eröffnetes Einkaufszentrum im neo-osmanischen Stil reiht sich an die Filialen lokaler und internationaler Einzelhandels- und Caféhausketten. Die teils unsanierten, teils sehr verfallenen, mehrstöckigen Wohnhäuser entlang des Tarlabaşı Boulevards werden zum Zeitpunkt meiner Recherche 2014 gerade abgerissen. Diese Häuser wurden größtenteils im 19. Jahrhundert von christlichen Minderheiten wie den GriechInnen, ArmenierInnen oder auch von europäischen Kaufleuten erbaut. Angelehnt an Jugendstil und europäischen Historismus, tragen sie aus architektonischer Sicht zum kosmopolitischen Erscheinungsbild dieser Stadt bei. Nach und nach entledigt sich die Stadt mit ihrem Abriss nun eines Teils der eigenen Vergangenheit. An ihre Stelle rücken Neubauten, deren neo-osmanischer Stil den Glanz eines vergangenen Imperiums evozieren soll und dabei vernachlässigt, dass die bauliche Struktur dieser Gegend während des Osmanischen Reichs durch ihre BewohnerInnen überwiegend europäisch geprägt war. Diese großflächige Neubebauung führt darüber hinaus zu einer Beseitigung u.a. von informellen Wohnformen, illegalen Anbauten, verwinkelten Straßenzügen zugunsten klarer Strukturen. Das bietet zwar möglicherweise mehr Sicherheit in Hinblick auf die seitens der Regierung immer wieder angeführte Erdbebengefahr, die neuen städtischen Strukturen vereinfachen aber auch eine Kontrolle und Überwachung dieser Gegend. Als ich mit meinen Kartierungen beginne und einige der Off-Theater aufsuche, die ich von meiner letzten Forschung kenne, stelle ich fest, dass die Zahl der Theater in dieser Gegend rapide abgenommen hat: Als ich die InhaberInnen der früheren Spielstätten kontaktiere, werden vor allem die exorbitanten Mieterhöhungen als Grund für ihren Wegzug oder die Schließung genannt. Im Falle des Muammer Karaca Tiyatro hatte das Gebäude nicht den baulichen Vorschriften zur Erdbebensicherheit genügt und wurde deshalb von der städtischen Regierung geschlossen. Mekan Artı hatte ein Kündigungsschreiben des Vermieters erhalten; möglicherweise hatte es dem Vermieter nicht gefallen, dass das Theater während der Gezi-Park-Proteste (2013) als Erste-Hilfe Station für verletzte DemonstrantInnen genutzt wurde, vermutet der Inhaber Ufuk Altunkaya. Offen angesprochen habe das der Vermieter jedoch nicht. Viele Off-Theater haben sich scheinbar freiwillig und unfreiwillig in den letzten Jahren zu einer Schließung ihrer Spielstätte in dieser Gegend entschlossen.

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Abb. 28

Nur wenige Off-Theater sind in den Seiten- und Parallelstraßen der İstiklâl Caddesi verblieben, so etwa die beiden Off-Theater Şermola Performans oder Kumbaracı50. Beide Theater befinden sich bereits seit mehreren Jahren an ihrem jeweiligen Standort:

Abb. 29

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Şermola Performans (Hauptstadt-Performance)

Abb. 30

Adresse: İstiklal Mahallesi, İstiklal Cad./ Nane Sok., Beyoğlu

Şermola Performans ist in einem Appartementhaus aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Bis auf ein kleines unscheinbares Schild an der Eingangstür verweist nichts auf die Existenz des Theaters, sodass ich es zunächst fast übersehe. Das Theater liegt im ersten Stock. Über eine Treppe, die zum Zeitpunkt meines ersten Besuchs einigen Herren gerade als Umschlagplatz für Geschäfte dient, gelange ich in den ersten Stock. Die InhaberInnen von Şermola Performans mieten seit 2009 die gesamte Etage; vor ihrer Zeit wurde die Wohnung als eine Art Nachtclub von Prostituierten genutzt, wie Berfin Zenderlioğlu, die Mit-Inhaberin erzählt (vgl. Interview mit B. Zenderlioğlu am 19.05.2015). Zum Zeitpunkt meiner Recherche 2015 erinnert daran nichts mehr, stattdessen befinden sich hier auf mehrere Räume verteilt ein Büroraum, ein kleines Lager, ein Foyer mit Kartenverkauf und Getränkeausgabe und ein Black-Box-Theater (Zuschauerkapazität: 50 Plätze). Kumbaracı50/Altıdan Sonra Tiyatro (Theater nach 6 Uhr) Kumbaracı50 liegt in einer Seitenstraße der İstiklâl Caddesi. Steil führt diese schmale Gasse den Berg hinab. Hier eröffnete 2008 Kumbaracı50. Das Theater befindet sich in der ersten Etage eines Gebäudes, das aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammt. Vormals befand sich hier ein Geschäft für Straßenschilder,

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so Ömer Erzurumlu, einer der MitinhaberInnen von Kumbaracı50. Bevor Kumbaracı50 eingezogen sei, habe eine Komplettsanierung stattgefunden: Bis auf vier tragende Säulen entfernten die InhaberInnen von Kumbaracı50 alle Innenwände und ersetzten sie durch flexible Stellwände. Das ermöglicht, laut Erzurumlu, je nach Vorstellung, zwischen einer Black Box oder einer Raumbühne zu variieren (Zuschauerkapazität bis zu 80 Plätze). Im Vergleich mit der fast nicht sichtbaren Eingangssituation des eben beschriebenen Şermola Performans befinden sich hier immerhin neben der Eingangstür eine kleine Ankündigungstafel mit dem Spielplan von Kumbaracı50 und ein Schild mit dem Schriftzug: »Kumbaracı50«.

Abb. 31

Adresse: Tomtom Mahallesi, Kumbaracı Ykş. No: 50, Beyoğlu

Şermola Performans und Kumbaracı50 befinden sich zwar noch am selben Standort wie 2010, doch im Gespräch mit den InhaberInnen beider Theater offenbart sich, dass beide bereits auf der Suche nach neuen Standorten sind. Als Gründe für den anvisierten Wegzug nennen die jeweiligen InhaberInnen die steigenden Mieten ebenso wie den gesellschaftlichen Wandel Beyoğlus in den letzten Jahren. Auf Letzteren werde ich im folgenden Abschnitt zum »Sozialen Raum« näher eingehen (vgl. Kap. 4.4).

4.3.3.

Am Scheideweg der Gentrifizierung: Şişhane

Şişhane liegt in Flussnähe, am Fuße des Hügels, an dessen oberem Ende die İstiklâl Caddesi beginnt. Es handelt sich dabei um eine »Mahalle« (vgl. Kap 4, Fn. 49), die sich im Bezirk Beyoğlu befindet. Die frühere Spielstätte des Off-Theaters Ikincikat, welche direkt an der İstiklâl Caddesi lag, war vom Vermieter gekündigt worden. Bei ihrer Suche nach geeig-

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Abb. 33

neten Räumlichkeiten werden die InhaberInnen 2013 in Şişhane, einer noch überwiegend unsanierten Gegend, fündig. Als ich mich mit Tüzün, der Mitinhaberin von Ikincikat, verabrede, weist sie mich darauf hin, dass nur wenige 100 Meter vom Theater entfernt die Metrosta-

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tion Şişhane und die Fährstation Karaköy liegen. Unkundige BesucherInnen Istanbuls würden in dieser Angabe allein eine Wegbeschreibung erkennen, doch im Laufe meiner Aufenthalte ist mir bewusst geworden, wie entscheidend in einer Stadt, in der alltägliche Wege oft mehr als zwei Stunden dauern können, eine gute Verkehrsanbindung ist. Tüzüns Auskunft ist mit Stolz in der Stimme verbunden und beinhaltet, wie ich meine, neben der Wegbeschreibung noch eine andere Information: Unsere neue Spielstätte liegt zwar in einer weniger zentralen Gegend von Beyoğlu, aber wir sind sowohl an die erst seit kurzer Zeit eröffnete neue UBahnlinie angebunden, die Taksim und Fatih verbindet, als auch an die Fähre. Ein enormer Standortvorteil: Denn das Theater ist für Istanbuler Verhältnisse damit verkehrstechnisch ausnehmend gut erreichbar. Ikincikat (Im zweiten Stock) Von außen ist das Gebäude, das sich in eine Zeile zwei- bis dreistöckiger, meist unsanierter Häuser aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einreiht, nicht als Theater erkennbar. Lediglich ein etwa zwei Meter großes Plakat mit dem Schriftzug Ikincikat, angebracht auf Höhe des ersten Stockwerks, verweist auf das Theater. Doch wer mit dem Namen nichts anzufangen weiß, wird kein Theater vermuten: Ikincikat bedeutet lediglich »Zweiter Stock«. Über einen kleinen, unscheinbaren Seiteneingang gelange ich ins Gebäude. Im Inneren sind drei Bühnen auf zwei Stockwerke verteilt: Im ersten Geschoss ist eine kleine Probebühne und eine große Bühne, die maximal mit bis zu 100 Sitzen bestuhlt werden kann, im zweiten Stock des Hauses ist eine große Bühne mit einer Kapazität von 58 Plätzen. Auf der zweiten Etage ist zudem ein großzügig gestalteter Aufenthaltsbereich mit Café untergebracht. Laut Heves Tüzün stand das Gebäude über zehn Jahre leer; zuvor hat sich hier eine Fabrik für Wasserhähne befunden. Zum Zeitpunkt meiner Recherche (2014/15) ist Şişhane, zumindest ein Teil davon, noch nicht von der Welle der Stadtaufwertungsprojekte erfasst, die bereits den Norden von Beyoğlu prägen. Noch sind die Mieten bezahlbar, so die Mitinhaberin von Ikincikat. Von ihrer Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für ein Theater berichtet Heves Tüzün Folgendes: »We tried to find a place around İstiklâl, but the rents are too high. Then we found this building, no electricity system, no water, nothing, it had only four walls. But the rent was very low depending on the area. We took some money from friends and family and we started to renovate and to construct stages« (Interview mit H. Tüzün am 21.12.2015). Doch Tüzün weiß von Plänen der Regierung, große Teile von Şişhane bis 2025 niederzureißen, um hier einen riesigen Jachthafen entstehen zu lassen. Die soeben erwähnte verkehrstechnische Aufwertung des Viertels wurde vermutlich in Hinblick auf baldige Großbauprojekte in dieser Gegend realisiert. In Folge werden auch hier

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Abb. 34

Adresse: Emekyemez Mh., Demirci Fettah Çıkmazı No:2, Beyoğlu

die Mieten steigen und somit wird das Theater in seiner Existenz an diesem Ort bedroht sein.

4.3.4.

Zwischen neuer Geschäftigkeit und Europa-Nostalgie: Şişli

Der unmittelbar nördlich an Beyoğlu angrenzende Stadtteil Şişli entstand, als im 19. Jahrhunderts die begüterten osmanischen Familien das historische Zentrum verließen und in den Norden des Goldenen Horns zogen; ihnen schlossen sich u.a. wohlhabende armenische, griechische und jüdische Familien an. Die Gebäude wurden in Anlehnung an europäische Baustile entworfen, die Straßenführung durch Boulevards im Stile des Baron Haussmann in Paris dominiert und die Lebensweise »europäisiert«.61 Auch heute noch ähnelt das Flair in Şişli eher großbürgerlichen Gegenden in Paris und unterscheidet sich damit deutlich von allen anderen Stadtteilen, selbst dem über lange Zeit westlich geprägten Beyoğlu.

61

Wie bereits in Kapitel 3.3. erwähnt, vollziehen die gesellschaftlichen Eliten eine schrittweise Hinwendung zur mittel- bzw. westeuropäischen Kultur: Neben der Architektur sind hier vor allem, Theater, Mode oder Ess- und Trinkgewohnheiten zu nennen (vgl. Köse 2006; Osterhammel 2009).

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Abb. 36

Şehir Tiyatrosu (Städtisches Theater) Unweit des Taksim-Platzes befindet sich in Harbiye, einer Mahalle im Stadtteil Şişli, der Hauptsitz des Şehir Tiyatrosu, die Muhsin Ertrugul Sahnesi. Als ich das erste Mal in Richtung Muhsin Ertrugul Sahnesi aufbreche, stelle ich mir einen Theater-

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bau vor, dem man seine Eigenschaft als Theater ebenso ansieht wie seine 100jährige Geschichte als erstes städtisches Theater Istanbuls. Abb. 37 | Abb. 38

Adresse: Harbiye Mh, Darülbedayi Cd No:3, Şişli

Bei Erreichen der besagten Adresse dauert es jedoch eine Weile, bis ich das Theater als solches identifiziere. Es liegt etwas versteckt im hinteren Gebäudetrakt eines Kongresszentrums – genauer gesagt, dem bereits erwähnten Kongresszentrum, das zu einem der ersten Großprojekte des ehemaligen Bürgermeisters von Istanbul, Recep Tayyip Erdoğan, zählt. Der vormalige Theaterbau – nicht der historische Bau, in dem die Ersteröffnung stattfand (das städtische Theater war mehrmals in seiner Geschichte umgezogen) – wich vor einigen Jahren einem riesigen kubischen Gebäudekomplex, der das städtische Kongresszentrum (ICC- Istanbul Congress Center) ebenso wie den Verwaltungssitz des Şehir Tiyatrosu und seine Hauptspielstätte, die Muhsin Ertrugul Sahnesi (ca. 600 Plätze) beheimatet. Allein der Bau lässt nicht auf ein Theater schließen. Lediglich eine Aufschrift verweist auf die Muhsin Ertrugul Sahnesi. Bei Betreten des Gebäudes gelange ich in einen großen, hallenähnlichen Eingangsbereich mit rot ausgelegtem Teppichboden. Nachdem ich die Security passiert habe, kann ich mich frei im Gebäude bewegen. Die Ausstattung ist funktional, der Theatersaal ist mit einer klassischen Guckkastenbühne bestückt und die Reihen des Zuschauerraums steigen gleichmäßig an. Im Gebäude finden sich ebenfalls Werkstätten, Lagerräume und auf den höheren Ebenen die Büroräume. Nach dem Besuch des Theaters will ich mir das angrenzende Kongresszentrum im Vergleich dazu ansehen: Bis auf die weit größere Dimension und den nicht vorhandenen roten Teppich sind keine gravierenden stilistischen und baulichen Unterschiede zwischen Kongresshalle und Theater auszumachen. Ein Kontrast vermittelt sich lediglich durch die jeweiligen BesucherInnen: KongressteilnehmerInnen im einen, TheaterbesucherInnen im anderen Gebäudetrakt. Das Şehir Tiya-

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trosu ist folglich in eine Architektur implementiert, die eindeutig durch das weit größer angelegte ICC – Istanbul Congress Center dominiert wird. Devlet Tiyatrosu (Staatstheater) Ebenfalls im Stadtteil Şişli liegt die »neue« Hauptspielstätte des Staatstheaters. Seit der Schließung des Atatürk-Kültür-Merkezi (2008) aufgrund von Renovierung dient die sog. Cevahir Sahnesi in der Cevahir Mall, einer Shopping Mall, als Hauptspielstätte. Bei meinem Besuch der Cevahir Mall 2015, fallen bereits im Eingangsbereich die Schilder auf, welche auf die Bühnen des Staatstheaters hinweisen: Nach dem Durchqueren der auf mehreren Ebenen angelegten Shopping Area öffnet sich der Blick auf ein Areal mit Fahrgeschäften und Multiplex-Kino. Der Eingangsbereich zu den Kinosälen bildet eine Art Foyer für das Theater. In zweien der Kinosäle – beide mit Guckkastenbühnen und gleichmäßig ansteigenden Zuschauerreihen versehen – ist das Staatstheater untergebracht. Die Spielstätte in der Cevahir Mall bildet einen starken Kontrast zu dem alten Standort und damit auch den ehemaligen Räumlichkeiten des Devlet Tiyatrosu am Taksim-Platz. Dort residierte das Staatstheater im Atatürk-Kültür-Merkezi (AKM), einem Gebäude, das als Inbegriff der türkischen Moderne galt (vgl. Bohle/Dimog 2014: 150). Das Gebäude befand sich an der Ostseite des Taksim-Platzes, gegenüber dem bereits erwähnten Denkmal für die Gründer der türkischen Republik, und fungierte als der Kulturtempel der säkularen Republik.

Abb. 39 | Abb. 40

Adresse: Mayıs Mahallesi, Büyükdere Cad. 136/22

Da das AKM bereits 2008 geschlossen wurde, war ich selbst nie in dem Gebäude. Laut meinen InterviewpartnerInnen umfasste das Gebäude mehrere große Bühnen und Veranstaltungssäle. Darüber hinaus existierten Werkstätten und Lagerräume, welche trotz Schließung des AKM zunächst weiterhin genutzt werden konnten. Im Zuge der Gezi-Park-Proteste (2013) erfolgte jedoch die vollständige

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Räumung des Gebäudes: All diese Einrichtungen wurden in die Peripherie von Istanbul verlegt. Täglich werden Kulissen und Technik von dort ca. zwei Stunden zu den einzelnen Spielorten transportiert (vgl. Interview mit D. Abes und G. Ertekin am 17.12.2015). Die Büros des Devlet Tiyatrosu finden sich heute auf mehrere Stockwerke verteilt in einem Apartmenthaus nahe dem Taksim-Platz. Zunächst von den MitarbeiterInnen des Staatstheaters als Übergangslösung aufgrund der Renovierung der Hauptspielstätte wahrgenommen, bildet die Spielstätte in der Cevahir Mall, seit dem beschlossenen Abriss des AKM am TaksimPlatz (2013), eine dauerhafte Raumlösung. Der Umzug des staatlichen Theaters, dem ehemaligen Vehikel einer säkularen Staatsideologie, in den Konsum- und Vergnügungstempel der Cevahir Shopping Mall wirkt fast wie eine Verbannung. Das staatliche Theater repräsentiert nicht länger die Republik Türkei an zentraler Stelle im städtischen Raum, sondern fügt sich durch den Bezug zweier Kinosäle in eine privatwirtschaftlich geführte Konsumlandschaft ein. Wie an anderer Stelle schon angemerkt, droht Staatspräsident Erdoğan mit der Privatisierung oder gar Schließung der öffentlichen Bühnen (vgl. Çuhadar 2014). Spekulativ bleibt die Annahme, dass die räumliche Nähe des Staatstheaters zu anderen privat geführten Unterhaltungsbetrieben der Cevahir Mall bereits ein erster Schritt in Richtung der gewünschten Privatisierung der öffentlichen Theater sein könnte.

4.3.5.

Historische Macht und Tourismus: Fatih

Vom spürbar kosmopolitisch veranlagten Şişli im Nord-Westen Istanbuls gelangt man mit einer Straßenbahn von Beyoğlu über die Galata-Brücke am Goldenen Horn ins historische Stadtgebiet, vormals Zentrum des Osmanischen Reichs: das Stadtviertel Fatih. Mekan Artı, eines der Off-Theater, das ich noch 2010 an seinem Standort nahe dem Taksim-Platz besucht habe, eröffnet im Dezember 2015 seine Türen in Eminönü, im Stadtteil Fatih, Haltestation Cemberlitaş. Der neue Standort von Mekan Artı befindet sich in nächster Nähe zu Baudenkmälern wie der Hagia Sofia, dem Topkapı Palast, den Markthallen des Großen Bazars oder der Blauen Moschee, welche täglich TouristInnen aus aller Welt nach Eminönü locken. Erst einige 100 Meter weiter westlich beginnt der weniger touristische Part des Stadtteils Fatih, hier liegt u.a. das Hauptgebäude der Universität Istanbul. Ein weiteres Off-Theater lässt sich in dieser Gegend nicht verzeichnen.

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Mekan Artı (der Veranstaltungsort) Bereits am Telefon erklärt Ufuk Altunkaya, Inhaber von Mekan Artı, dass sich das Theater in einem Einkaufszentrum befindet: Als ich zum ersten Mal von diesem Standort höre, vermute ich, dass es sich bei dem Einkaufszentrum um eine Shopping Mall handelt, ähnlich der Cevahir Mall oder der Kanyon Mall. Doch habe ich weit gefehlt. Anstelle einer Shopping-Mall handelt es sich vielmehr um eine Passage, erbaut wahrscheinlich in den 1980er Jahren, in der ausschließlich Herrenmode angeboten wird. Während auf der Straße Trubel herrscht, Menschen eilen, sich Autos stauen und hupen, Busse TouristInnen ausladen, GastronomInnen ihr Angebot bei den PassantInnen bewerben, scheint an diesem Ort die Zeit still zu stehen. Als ich durch die Glastür ins Innere komme, fühle ich mich wie ein Eindringling: Von allen Seiten treffen mich Blicke. Vor jedem der Läden sitzt oder steht ein Verkäufer in Anzug, nur vereinzelt findet sich Kundschaft, es herrscht Stille. Als ich nach Mekan Artı frage, wird nur der Kopf geschüttelt.

Abb. 43

Adresse: Binbirdirek Mh., Yeniçeriler Cd. Çemberlitaş Aşlışveriş Merkezi 1/1 Fatih

Nichts deutet auf ein Theater hin. Erst nach langem Herumirren und einigen telefonischen Rücksprachen mit Altunkaya erkenne ich, dass sich im hinteren Gebäudetrakt ein Multiplexkino befindet. Mekan Artı ist in einem der Kinosäle, im zweiten Untergeschoss des Movieplex-Kinos untergebracht: Vor der Saaltür ein Schild mit der Aufschrift »Mekan Artı« (»Veranstaltungsort«); daneben steht ein kleiner Tisch, der als Kasse dient, im Inneren des Kinosaals haben ca. 100 Personen Platz, die Bühnensituation erinnert an eine Black-Box-Bühne, doch die Assoziation zu einem Kinosaal ist weiterhin gegeben, nicht zuletzt etwa aufgrund eines sich durch das gesamte Multiplex-Kino ziehenden Teppichbodens, den Lichtspots an der Decke oder der Leinwand hinter der Bühne.

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

4.3.6.

Asien oder die Große Freiheit: Kadıköy

Für die letzte Einzelbetrachtung eines Stadtteils ist eine weitere Brücke zu überqueren, dieses Mal von der europäischen auf die asiatische Seite der Stadt. Zwar beschreibe ich dort aufgrund meiner querschnittsbildenden Auswahl (vgl. Kap. 1.4.3) nur ein einziges Theater, dennoch erscheint mir die Hervorhebung Kadıköys schon allein aufgrund der oftmaligen Erwähnung als möglichem zukünftigem Standort in den Gesprächen mit den Off-TheatermacherInnen besonders wichtig.

Abb. 44

Der schnellste Weg vom europäischen Festland zu dem auf der asiatischen Seite gelegenen Kadıköy führt mit der Fähre über den Bosporus (ca. 20 Minuten). Mit dem Dolmus (Sammeltaxi) vom Taksim-Platz kann eine Reise je nach Verkehrslage auf der Bosporus-Brücke, einer der drei Brücken, die die europäische und asiatische Seite der Stadt verbinden, bis zu zwei Stunden dauern. Am Hafen von Kadıköy befindet sich ein großer Busbahnhof mit Buslinien in das Hinterland der Stadt; zudem beginnt in Kadıköy die bisher einzige U-Bahnlinie auf der asiatischen Seite Istanbuls. Kadıköy ist damit gut an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden, wenn auch die Wege aufgrund des enormen Verkehrsaufkommens lange dauern können. Obwohl die Geschichte von Kadıköy einige Jahrhunderte vor Christi Geburt beginnt, stammt der Baubestand fast ausschließlich aus dem 20. Jahrhundert. Anstelle von Altbauten oder Baudenkmälern, wie etwa in Fatih oder Beyoğlu, finden sich hier lange Promenaden entlang der Küste, Teegärten mit Blick auf das Marma-

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rameer, Einkaufsstraßen. Ein Großteil des Stadtteils besteht aus Apartmenthäusern. Mitten im Einkaufsviertel von Kadıköy liegt das Off-Theater Moda Sahnesi.

Abb. 45

Moda Sahnesi (die Mode Bühne) Moda Sahnesi befindet sich in einem ehemaligen Kino, das nun als Theater, Bar und Club genutzt wird. Die Räumlichkeiten liegen in einem Eckgebäude, fast könnte man es übersehen, da sich der Eingang seitlich in einer kleinen Gasse befindet. Von außen ist zunächst nur ein Café sichtbar, das, wie sich herausstellt, zum Theater gehört. Ein großer Schriftzug »Moda Sahnesi« (= Mode Bühne) verweist auf die Existenz eines Theaters in diesem Gebäude. Damit ist es das einzige der von mir ausgewählten Off-Theater, das sowohl durch den Namen selbst als auch durch dessen präsente Platzierung im Eingangsbereich auf seine Existenz als Theater hinweist. Über eine Passage – links das Café, rechts ein langer Korridor mit Buchantiquariaten – gelangt man ins Innere des Gebäudes; von dort geht es über eine Wendeltreppe ins Untergeschoss: Auf zwei Etagen öffnet sich hier ein riesiger, offener Raum, ausgestattet mit einer Bar und einem aufwändig gestalteten Aufenthaltsbereich. Der Theatersaal, eine Blackbox mit variabler Stuhltribüne (Zuschauerkapazität von 275 Plätzen), ebenso wie ein kleinerer Kinosaal (Zuschauerkapazität von 47 Plätzen) befinden sich im zweiten Untergeschoss. Bei einer Führung erfahre ich, dass die Räumlichkeiten früher als Kino genutzt worden sind. Ähnlich wie bei Mekan Artı ist der Theatersaal in einem ehemaligen Kinosaal untergebracht, dessen Ausstattung jedoch anders als bei Me-

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Abb. 46

Adresse: Osmanağa Mahallesi, Halil Ethem Sokak, General Asım Gündüz Cd. Kadıköy

kan Artı nicht mehr an seine frühere Funktion erinnert. Nur der kleinere Saal, in dem auch heute noch Filme gezeigt werden, wird als Reminiszenz beibehalten. Nach dem Bankrott des Kinos hat die Gruppe von Moda Sahnesi den gesamten Komplex so umgebaut, dass er heute nicht nur als Theater, sondern auch als Konzert-Location genutzt werden kann.

4.3.7.

Streuung und Dezentralisierung: Andere Stadtteile

Abseits der Theaterspielstätten in den bereits bekannten Stadtteilen verteilen sich insbesondere die Standorte des kommerziellen Theaters und die Bühnen der staatlichen Theater weiträumiger über den Stadtraum von Istanbul. Unterstützt wird diese breite Streuung durch die seit den 2000er Jahren kulturpolitisch forcierte polyzentrische Einrichtung einer Vielzahl neuer Kültür-Merkezis sowie von Veranstaltungsräumlichkeiten innerhalb neu entstehender Shopping-Malls.

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Kültür-Merkezi und Shopping Malls: Kommerzielles Theater Kommerzielle Theatergruppen treten vor allem in den Veranstaltungssälen sog. Kültür-Merkezis und Shopping Malls auf. In jedem der 39 Stadtteile Istanbuls existiert mindestens ein Kültür-Merkezi und damit ein potentieller Veranstaltungsort für kommerzielles Theater. Bei den Kültür-Merkezis handelt es sich um Gebäudekomplexe, ausgestattet mit großen Sälen, die unter ihrem Dach verschiedene kulturelle Angebote (Ausstellungen, Konzerte, Film- und Theatervorführungen) vereinen. Die funktional gehaltenen Veranstaltungssäle variieren in ihrer Zuschauerkapazität zwischen 400 und 650 Plätzen.

Abb. 48 | Abb. 49 | Abb. 50 – Kültür-Merkezis

Ebenfalls großzügig über den Stadtraum von Istanbul verteilen sich Shopping Malls, die wie »implantierte Monolithen« (Dörhöfer 2007) das Erscheinungsbild Istanbuls mitprägen.62 Die meisten der Shopping Malls, die ich besuche, besitzen eigene Veranstaltungssäle, welche sie vermieten u.a. das KANYON im bereits erwähnten Finanzdistrikt Levent im Norden von Beyoğlu, ein im Jahr 2006 erbautes Areal, das auf knapp 40.000 Quadratmeter Wohnraum, Einzelhandels- und Gewerbefläche sowie Räumlichkeiten für Freizeitaktivitäten, beispielsweise Kino oder Theater, vereint. Weitere Beispiele sind die Trump Towers, eine Shopping Mall mit Büro- und Wohnkomplex im zentral gelegenen Stadtteil Şişli, sowie das etwas nördlich von Şişli gelegene Zorlu Center, ein riesiges Einkaufszentrum im Stadtteil

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Diese Shopping Malls gleichen in ihrem Erscheinungsbild den Architekturen von Shopping Malls, wie sie sich mittlerweile fast in allen großen Städten der Welt befinden. Dazu schreibt die Stadtplanerin Kerstin Dörhofer: »Sie [eine Shopping Mall] nimmt einen Block ein und ist ein großer eigener Gebäudekomplex, oft hoch aufragend und das Umfeld dominierend, sie kapselt sich ab, ist nach außen geschlossen und nach innen gekehrt, die äußeren Magneten werden in den Innenraum verlagert, die Shopping Mall saugt die Besucherschaft in das Innere und will sie zum möglichst lange andauernden Aufenthalt verlocken« (Dörhöfer 2007: 69).

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Beşiktaş, an das ein Performing Arts Center63 angegliedert ist, oder die bereits im Kontext des staatlichen Theaters genannte Cevahir Mall, ebenfalls in Şişli. Während die Zahl der Kültür-Merkezis und der Veranstaltungssäle in Shopping-Malls in den letzten zwei Jahrzehnten rasant angestiegen ist, nahm die Zahl der kommerziellen Theaterspielstätten stetig ab. Hakan Altıner, Inhaber des kommerziell ausgerichteten Tiyatro Kedi, erklärt, dass die flächendeckende »Versorgung« mit Bühnen innerhalb von Shopping Malls und Kültür-Merkezi dazu führte, dass es für kommerzielle Theatergruppen kaum noch lukrativ sei, eine eigene Spielstätte zu unterhalten: »Teatro Kedi had its own place for almost 14 years. Now we decided to give up this stage, instead we travel and play on different stages in different areas of Istanbul. We can reach much more audience by traveling to all these places and we are not responsible for a stage« (Interview mit H. Altıner am 20.12.2015).

Abb. 51 | Abb. 52 – Shopping Malls

Tiyatro Kedi tritt, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, nun auf verschiedenen Bühnen in Istanbul auf, etwa in den Trump Towers in Şişli oder im städtischen Kültür-Merkezi von Büyükçekmece. Doch nicht nur kommerzielle Theateranbieter wie Tiyatro Kedi verteilen sich über Veranstaltungsorte in Kültür-Merkezis und Shopping Malls im Stadtraum, auch staatliche Spielstätten befinden sich in verschiedenen Stadtteilen Istanbuls.

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Das sog. Zorlu Performans Sanatlari Merkezi (PSM) ist mit drei Bühnen ausgestattet: einer Musicalbühne (2190 Plätze), einer Theaterbühne (678 Plätze) und einem Studio (280 Plätze) (vgl. Präsentationsmaterial Zorlu Center).

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

Bröckelnde Präsenz und Umnutzungen: Staatliches Theater Neben der jeweiligen Hauptspielstätte, die sich bei beiden Institutionen im Stadtteil Şişli befindet, bespielen sowohl das Devlet als auch das Şehir Tiyatrosu weitere Spielstätten (vgl. Abb. 47).64 Auffällig ist, dass sich die meisten der staatlichen Spielstätten in »älteren« und verkehrstechnisch gut erschlossenen Stadtteilen befinden, etwa Beyoğlu, Şişli oder Fatih auf der europäischen Seite, oder in Üsküdar und Kadıköy auf der asiatischen Seite, welche durch eigene Fährhäfen direkt mit der europäischen Seite verbunden sind und als zentral gelegene Stadtteile der asiatischen Seite betrachtet werden können.65 Doch auch weiter außerhalb finden sich staatliche Spielstätten, etwa in den Stadtteilen Küçükçekmece und Gaziosmanpaşa (europäische Seite) oder in Ümraniye und Beykoz (asiatische Seite): allesamt Stadtteile, die im Zuge der großen Migrationswellen seit Mitte der 1950er Jahre entstanden sind. Während meiner Aufenthalte besuche ich Küçükçekmece und Gaziosmanpaşa, beides ehemalige Gecekondu-Gebiete. Soweit das Auge reicht, sind Apartmentblocks zu sehen, dazwischen vereinzelt Grünanlagen, Moscheen oder ein KültürMerkezi. Äußerlich lässt kaum etwas auf die Anfänge der ursprünglich informellen und meist improvisierten Besiedelung schließen. Begünstigt wurde die architektonische Nivellierung zwischen Stadtteilen mit sich gleichenden Apartmentblocks möglicherweise dadurch, dass Istanbul während der vergangenen Jahrzehnte immer wieder durch Erdbeben heimgesucht wurde, weshalb auch in den zentraler

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An der Zahl der Spielstätten hatte sich zwischen 2010 und 2015/2016 nichts verändert, jedoch ist eine Spielstätte des Staatstheaters im Stadtteil Şişli geschlossen und stattdessen eine neue im Stadtteil Kadıköy eröffnet worden. Spielstätten des städtischen Theaters 2015: die Muhsin Ertrugul Sahnesi in Şişli, die Harbiye Cemil Topuzlu Açıkhava Sahnesi in Şişli, das Reşat Nuri Tiyatro in Fatih, mit der Sadabad Sahnesi und der Küçük Kemal Sahnesi zwei Spielstätten in einem Gebäude in Kağıthane, und die Gaziosmanpaşa Sahnesi in Gaziosmanpaşa; auf der asiatischen Seite: die Kadas Haldun Taner Sahnesi in Kadıköy, die Ümraniye Sahnesi in Ümraniye und mit der Müsahipzade Celal Sahnesi und der Kerem Yılmazer Sahnesi, erneut zwei Spielstätten in einem Gebäude in Üsküdar. Spielstätten der Staatstheater 2015: Cevahir Sahnesi (Salon 1 und 2) in Şişli, DT Küçük Sahne in Beyoğlu, Küçükçekmece DT Sahnesi in Küçükçekmece, Üsküdar Tekel Sahnesi und Stüdiyo Sahne in Üsküdar, Kozyataği Kültür-Merkezi in Kadıköy und Beykoz Feridun Karakay Sahnesi in Beykoz. Allein die Vielfalt dieser Standorte erschwert eine Einordnung der Architektur der staatlichen Theater in Istanbul im Sinne der bei der Betrachtung der staatlichen Theater in Buenos Aires anhand der theoretischen Ausführungen der Architektursoziologin Heike Delitz festgestellten »Selbst-Erkenntnis einer Gesellschaft in einer bestimmten Architektur« (Delitz 2010: 13). Eine derartige Identifikation eines Ausschnitts der Stadtgesellschaft mit einer KulturArchitektur kam allenfalls noch dem 2017 abgerissenen kemalistischen Kulturzentrum am Taksim-Platz zu.

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gelegenen, älteren Stadtteilen wie Kadıköy teils große Areale ausschließlich mit Apartmenthäusern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bebaut sind. Auch hier betreibt das Staatstheater meist keine eigenen Spielstätten, sondern mietet oftmals Veranstaltungssäle in den bereits erwähnten Kültür-Merkezis an. Die Dramaturgin Günay Ertekin (Devlet Tiytrosu) gibt an, dass die Anzahl der Spielstätten des Staatstheaters von Jahr zu Jahr variiere und von den jeweiligen Budgetzuweisungen der staatlichen Regierung abhänge. Die Spielstätten werden demnach nur noch temporär für eine Spielzeit zugeteilt; sie dienen lediglich dem Zeigen von Produktionen, bieten jedoch vor Ort keine Möglichkeiten für die Unterbringung von Werkstätten oder Lagerräumen. Die Spielstätten des städtischen Theaters sind laut der Dramaturgin Basak Erzi (Şehir Tiyatrosu) auf etwas mehr Langfristigkeit ausgelegt. Wenn das städtische Theater eine Spielstätte suche, melde man den Bedarf der Stadtverwaltung und diese baue dann, wenn möglich, eine Bühne und einen Zuschauersaal in ein vorhandenes, leer stehendes Gebäude aus ihrem Bestand, erklärte Erzi das Vorgehen bei der Auswahl einer Spielstätte. So etwa im Falle der Haldun Taner Sahnesi (städtisches Theater) im Stadtteil Kadıköy: In den 1930er Jahren als Obst,- und Gemüsehalle erbaut, wurde der neoklassizistische Bau nach jahrelangem Leerstand in den 1980er Jahren zum Kulturzentrum umfunktioniert, um schließlich 1989 als eine Spielstätte des städtischen Theaters, unter dem Namen Haldun Taner Sahnesi wiedereröffnet zu werden. Bei allen Spielstätten handelt es sich um Umnutzungen, so Erzi (Interview mit B. Erzi am 17.12.2015).

4.3.8.

Resümee: Verschwinden und Neu-Verteilung

Weder in den »älteren« noch in den erst im 20. Jahrhundert entstandenen »jüngeren« Stadtteilen sind die Spielstätten kommerzieller oder staatlicher Theater von außen, unabhängig vom Behältnis eines Kültür-Merkezi oder einer Shopping Mall, als solche erkennbar. Besonders auffällig ist das bei den Gebäuden der staatlichen Theater, die in anderen Städten wie in Buenos Aires in repräsentativen Gebäuden, in zentraler Lage, teils an öffentlichen Plätzen residieren. In Istanbul befinden sich weder das städtische Theater noch das Staatstheater in einer Architektur, die als spezifischer Theaterbau entworfen wurde oder von außen auf die Nutzung der Gebäude als Theater schließen lässt. Die Hauptspielstätte des städtischen Theaters bezog 2008 gemeinsam mit einem Kongresszentrum, dem ICC – Istanbul Congress Center – einen Gebäudekomplex; die Hauptspielstätte des staatlichen Theaters zog 2008, zunächst »übergangsweise«, mittlerweile dauerhaft, in zwei Kinosäle der Cevahir Shopping Mall. Beide Theaterinstitutionen präsentieren sich fortan nicht länger im architektonischen Gewand einer Kulturinstitution, sondern wurden räumlich »geschluckt«

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

und sind heute fast unscheinbar im hinteren Part eines Gebäudekomplexes beheimatet. Ebenso »unsichtbar« sind die anderen Spielstätten der staatlichen Institutionen und des kommerziellen Theaters. Letztere finden, wie sich gezeigt hat, ausschließlich in multifunktional genutzten Veranstaltungssälen von Kültür-Merkezis oder Shopping Malls eine Heimstatt. Auch die Spielstätten der Off-Theater sind meist nicht als Theater zu erkennen: Die Spielstätten sind in Räumlichkeiten wie ehemalige Apartments, Fabriken oder Geschäftsräume implementiert; dabei existieren meist keine augenfälligen Schilder oder Ankündigungstafeln, welche auf das jeweilige Theater hinweisen. Die OffTheater präsentieren sich unscheinbar und sind daher leicht zu übersehen. Diese »Unsichtbarkeit« der Spielstätten, welche in allen drei Theaterbereichen zu erkennen ist, wird in Hinblick auf die gesellschaftliche Rolle von Theater in der Istanbuler Stadtgesellschaft im weiteren Verlauf der Studie noch näher zu beleuchten sein. Im Rahmen der durchgeführten Kartierung der Theater im Stadtraum von Istanbul stelle ich Folgendes fest: Erstens ist eine Streuung der staatlichen Theater auf elf verschiedene Stadtteile auszumachen, wobei keine staatliche Theaterinstitution am zentralen Taksim-Platz verblieben ist. Zweitens findet sich in fast jedem Stadtteil Istanbuls mindestens ein staatliches Kültür-Merkezi, welches eine Bühne für Auftritte kommerzieller Theatergruppen oder teils sogar für Auftritte des staatlichen Theaters bereitstellt (Anzahl steigend; vgl. Ince 2017). Eine Überpräsenz staatlicher Kültür-Merkezis hat dazu geführt, dass kaum noch kommerzielle Theatergruppen unabhängige eigene Spielstätten betreiben. In der Folge entsteht eine räumliche Abhängigkeit der kommerziellen Theatergruppen von der staatlichen Bereitstellung der Veranstaltungssäle der Kültür-Merkezis. Drittens existieren in Shopping Malls, die sich in vielen Gegenden der Stadt finden, Veranstaltungssäle, in denen ebenfalls Inszenierungen kommerzieller Theatergruppen programmiert werden. Zwar ist die Hauptspielstätte des Staatstheaters fest in einer Shopping Mall beheimatet, doch darüber hinaus treten staatliche Ensembles nicht in diesen Veranstaltungssälen auf. Viertens fällt auf, dass sich die Standorte der Off-Theater nicht länger, wie noch 2010, in Beyoğlu ballen, sondern sich zum einen auf Gegenden der Stadt verteilen, die bis dahin kaum Spielstätten verzeichneten, so z.B. Fatih, zum anderen aber eine erneute Ballung in dem auf der asiatischen Seite gelegenen Stadtteil Kadıköy auszumachen ist. Auf Grundlage der in Kapitel 1 eingeführten Unterscheidung zwischen städtischem und sozialem Raum wurden Fragen zur sozialräumlichen Einbettung der Theater und ihrer BesucherInnenstruktur bis hierhin weitgehend ausgespart. So untersucht der folgende Abschnitt, woher die Streuung der Kültür-Merkezis über fast das gesamte Istanbuler Stadtgebiet rührt. Warum versammeln sich dagegen die Off-Theater in Kadıköy? Welche ZuschauerInnen erreichen die einzelnen Thea-

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terbereiche in welchen Stadtteilen? Wie treten sie dort sonst sozialräumlich in Erscheinung/Interaktion mit der Bevölkerung?

Abb. 53

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

4.4.

Standortwechsel und Neue Nachbarschaften: Sozialer Raum in Istanbul

Ausgehend von der »Verteilung« der Spielstätten im Stadtraum von Istanbul, ihrer Ballung und Streuung, beleuchtet der folgende Abschnitt den sozialräumlichen Kontext der Theater und untersucht, welche Einflussfaktoren sich auf die jeweilige Standortwahl/den jeweiligen Standortwechsel der TheatermacherInnen auswirken. Im Zuge dessen liegt das Augenmerk sowohl auf der unmittelbaren Nachbarschaft der einzelnen Theaterspielstätten, als auch auf ihren jeweiligen Publika: Welche Publika werden von staatlichen und kommerziellen Theatern oder von Off-Theatern erreicht? Wie lassen sich die ZuschauerInnen charakterisieren? Wie werden die ZuschauerInnen kommunikativ- und marketingseitig erreicht? Nach einigen allgemeinen Bemerkungen hinsichtlich der sozialräumlichen Entwicklung der Stadt wird auf die für vorliegende Arbeit ausgewählten Theater als Repräsentanten ihrer jeweiligen Kategorie (staatliche und kommerzielle Theater ebenso wie Off-Theater) in ihrer spezifischen sozialräumlichen Einbettung eingegangen. Diese Untersuchungsperspektive bildet eine dritte Annäherung an das Istanbuler Theater. Sie steht analog und zugleich ergänzend zu den beiden Ausrichtungen der vorangehenden Abschnitte, in welchen die Theater zunächst unter dem Fokus der TheatermacherInnen und -betriebsstrukturen und anschließend in Hinblick auf »Stadtraum und Architektur« behandelt wurden.

4.4.1.

Islam und Türkentum: Sozialräumliche Entwicklung

Historisch betrachtet existiert in Istanbul, der Hauptstadt eines Vielvölkerstaats, seit jeher ein Spannungsfeld zwischen den Idealen einer weltoffenen, kosmopolitischen und einer national geeinigten, hegemonialen Gesellschaft: Über mehr als sechs Jahrhunderte war Istanbul politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Osmanischen Imperiums. Hier konzentrierte sich nicht nur die politische Macht, der Sultanshof und seine Verwaltungsapparate, zudem versammelte und repräsentierte auch die städtische Gesellschaft die religiöse und ethnische Diversität des Osmanischen Vielvölkerstaats.66 Diese Diversität innerhalb des Staatsgebildes, das unter der Herrschaft der Sultane durch den sunnitischen Islam dominiert wurde, führte immer wieder zu Spannungen und Konflikten, die zu Beginn des 20. 66

Neben der islamisch-sunnitischen Bevölkerung lebten etwa Juden/Jüdinnen ebenso wie christliche Minderheiten u.a. ArmenierInnen, GriechInnen, LevantinerInnen in der Stadt. Um 1890 bildeten die Nicht-Muslime und Nicht-Muslima sogar die Mehrheit der Stadtbevölkerung, wie es bei dem Soziologen Çağlar Keyder heißt (vgl. Keyder 2004: 38). Die sozialräumliche Struktur der einzelnen Stadtviertel und Mahalles war durch eine überwiegend ethnische und kulturell homogene Bewohnerschaft geprägt, welche sich untereinander durch imaginäre Trennlinien voneinander abgrenzten (vgl. Sengül 2005: 80).

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Jahrhunderts in den Nationalisierungsmaßnahmen der jungtürkischen Bewegung kulminierten, zu denen auch der Genozid an den ArmenierInnen zu zählen ist. Mit Gründung der türkischen Republik 1923 traten zwei entscheidende Veränderungen hinsichtlich der kulturellen Praxis ein: 1. Die Türkei wurde ein Nationalstaat. Das bedeutet, dass gegen jegliche Form der ethnischen und kulturellen Pluralität zugunsten einer einheitlich türkischen Identität muslimischen Ursprungs vorgegangen wurde.67 Bis heute herrscht in der Türkei ein ungetrübter türkischer Nationalismus, der jegliche Kritik und In-Frage-Stellung einer homogenen und hegemonialen türkischen Nation verbietet.68 2. Die Religion und damit der Islam wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die neue Verfassung der türkischen Republik sah eine Trennung von Staat und Religion vor.

Das »Türkentum« trat an die Stelle der Religion und wurde zum Religionsersatz. Im Sinne Atatürks beruft sich das »Türkentum« nicht auf seine osmanischen Vorfahren, sondern orientiert sich am Westen. Im Zuge dessen gewann, wie bereits

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Die im Land lebenden Minderheiten wurden gezielt diskriminiert und verfolgt. Beispielweise wurde radikal und gewaltvoll gegen die Volksgruppe der KurdInnen vorgegangen, die auf eine eigene Identität und Landansprüche innerhalb der Türkei pochten – die kurdische Sprache wurde verboten. 1955 gipfelten die Auswirkungen der Nationalisierungspolitik in einem Pogrom an der griechischen Bevölkerung: Hunderte von Geschäften, Kirchen, und Privathäuser von GriechInnen, aber auch ArmenierInnen und Juden/Jüdinnen wurden zerstört, was dazu führte, dass die meisten von ihnen das Land verließen. Während im Jahr 1914 noch ca. 450.000 ChristInnen in Istanbul lebten, die damit ca. 56 Prozent der damaligen Stadtbevölkerung ausmachten, waren es in den 1980er Jahren gerade mal noch ca. 77.000 bei einer städtischen Gesamtbevölkerung von knapp drei Millionen EinwohnerInnen und damit ca. drei Prozent (vgl. Keyder 1999: 11; Seufert 1997a: 78; Weibel 2004: 18). Dazu zählt auch die Kritik oder In-Frage-Stellung des Gründervaters Atatürk. Beispielhaft erzähle ich hier von einem Vorfall, der sich im Herbst 2010 in Istanbul ereignete: Das Gemeinschaftsprojekt »Cabinet« von Garajistanbul, einem Istanbuler Off-Theater und dem Stadttheater Freiburg, hatte Premiere. Im Stück zeigten die deutschen bzw. türkischen SchauspielerInnen zehn Ikonen des jeweils anderen Landes. Bei der Aufführung wurden von den deutschen SchauspielerInnen Fragen über Atatürk gestellt wie beispielsweise »War Atatürk ein Trinker?« (Ja) »Hat er den Fez verboten?« (Ja). Bei der Istanbuler Premiere führte das zu einem Eklat: Dikmen Gürün, Leiterin des Istanbul-Theatre-Festivals und Zeliha Berksoy, Leiterin des Performing-Arts-Department der Istanbuler Mimar-Sinan-Universität, verließen demonstrativ den Saal und beschwerten sich über die entmoralisierende Darstellung. In der Süddeutschen Zeitung lese ich im Nachhinein, dass in Folge der Istanbuler Aufführung zahlreiche Beschwerde-Emails beim Freiburger Theater eintrafen, welche »eine offizielle Entschuldigung des Theaters beim türkischen Volk forderten« (Strittmatter 2010: 13, zit.n. Zellner 2013: 87).

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in Kapitel 2 dargestellt, Theater an Bedeutung: Theater repräsentierten zum damaligen Zeitpunkt nicht nur einen »westlichen« Lebensstil, sondern fungierten als Orte der Zusammenkunft für die neue kemalistische Elite. Damit bildeten sie eine Alternative zur Moschee, dem bis dahin gängigen sozialen Versammlungsort. Die Verwestlichungs- und Säkularisierungspolitik Atatürks und ihre zahlreichen Reformen setzten sich insbesondere in den Städten der Türkei durch, in denen sich eine kemalistische Elite entwickeln konnte (vgl. Esen 2005). Konträr zu dieser stand jedoch die Bevölkerung auf dem Lande, deren Leben und Alltag weiterhin durch jahrhundertelang praktizierte islamische Traditionen bestimmt war. Der Politologe Bassam Tibi schreibt: »In der Türkei […] hat der Islam nie aufgehört, zu existieren und das Leben der TürkInnen zu bestimmen; er blieb, sieht man von der verwestlichten Elite der KemalistInnen ab, stets die religiös-kulturelle Quelle der Identität der Mehrheit der Türken« (Tibi 1998: 76).69 Als in den 1950er Jahren aufgrund der Industrialisierung eine Binnenmigration in der Türkei einsetzte, gelangten Tausende von Arbeitssuchenden aus Anatolien in die Städte, insbesondere nach Istanbul. Es ist leicht vorstellbar, dass sich das Leben und der Alltag der neu zugezogenen, oft religiös verwurzelten, traditionellen Menschen vom Lande stark von dem der alteingesessenen, vom säkular und westlich geprägten Stadtleben beeinflussten IstanbulerInnen unterschied; dass sich hier sogar ein konfliktreiches Nebeneinander zweier völlig gegensätzlicher Räume bildete, wie es in einem Artikel des türkischen Stadtplaners und Politologen H. Tarik Sengül heißt (vgl. Sengül 2005: 82). Von den Alteingesessenen wurden die ZuwandererInnen und ihre Lebensweise als dörflich, unzivilisiert und affektgesteuert wahrgenommen (vgl. Lanz 2005: 56ff.). Obgleich die ZuwanderInnen nun ihren Lebensmittelpunkt in die Stadt verlagert hatten und schon bald die Mehrheit der städtischen Bevölkerung ausmachten, wurden sie lange Zeit von Politik, Verwaltung ebenso wie den übrigen BewohnerInnen nicht als Teil der Stadtgesellschaft anerkannt.70 In Istanbul fanden sich damit zwei gesellschaftliche Pole wieder, die zwar die türkische Identität gemein hatten, sich jedoch in ihren Weltanschauungen radikal

69

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Auf dem Land fehlte zum einen der Zugang zum kemalistisch propagierten Lebensstil, zum anderen aber, so erklärt es der Soziologe Günter Seufert, hat die durch Atatürk propagierte türkische Kultur »keine eigenen Handlungsmuster hervorgebracht und zu keiner eigenen Ästhetik gefunden. Sie hat es nicht vermocht, den Menschen neue Inhalte bereitzustellen […]« (Seufert 1997a: 91). Da die Stadt Istanbul weder Infrastruktur noch anderweitige soziale oder kulturelle Anbindungen für die neuen BewohnerInnen anboten, schufen sie sich ihre eigenen sozialen und kulturellen Strukturen, welche meist auf verwandtschaftlichen oder religiösen Beziehungen fußten (vgl. Lanz 2005: 66), etwa die Etablierung von Nachbarschaftsinstitutionen und Heimatvereinen (hemsehri dernekleri) oder die Organisation von Festen oder Filmvorführungen etc. (vgl. Hirsch/Misselwitz 2009: 14).

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unterschieden. Über Jahrzehnte stammten die politischen EntscheidungsträgerInnen etwa in Istanbul ausschließlich aus der von dem türkischen Soziologen Orhan Esen beschriebenen kemalistischen Elite, die das öffentliche Leben der Stadt entsprechend ihrer Vorstellungen dominierte und gestaltete. Istanbul sei in dieser Zeit aufgrund der starken Nationalisierungspolitik, wiederkehrender Militärcoups und innenpolitischer Wirrungen vom übrigen Weltgeschehen isoliert und zutiefst provinziell gewesen, schreibt der türkische Soziologe Çağlar Keyder (vgl. Keyder 2004: 39). Erst in den 1980er Jahren wendete sich das Blatt: Bei den ersten offiziellen demokratischen Wahlen nach dem Militärputsch (1980) gewann 1983 die pro-islamische, konservative Anavatan Partisi (AnaP). Diese Partei, ebenso wie die in ihrer Nachfolge stehende seit 2003 in der Türkei regierende religiös-konservative AKP, repräsentierte den konservativ-religiösen Teil der Bevölkerung.71 Die politischen Instanzen und damit die EntscheidungsträgerInnen haben »die Seite gewechselt«. Die AKP stellt nicht nur die Landesregierung, sondern auch den Oberbürgermeister der Metropolregion Istanbul (2004-17 Kadir Topbaş; seit 2017 Mevlüt Uysal), sowie den Großteil der StadtteilbürgermeisterInnen innerhalb Istanbuls.72

4.4.2.

Aufsuchende Arbeit und Pragmatische Willkür: Staatliches Theater

Wie sehr die staatlichen Theater zwischen unterschiedlichen inneren und äußeren Aufträgen und Notwendigkeiten aufgerieben werden, zeigt die folgende Äußerung der Dramaturgin des städt. Theaters, Basak Erzi: »There are different kinds of areas in the city, we notice that by looking at our audience and their taste. Our most important stages are in Harbiye [eine Mahalle im Stadtteil Şişli] and Kadıköy: These neighbourhoods are cosmopolitan, liberal and not religious. There we can show all kind of plays, contemporary plays too. Then we have the stages in Üsküdar or Fatih, these areas are conservative, people there prefer classic theatre plays and musicals. And last but not least the stages in Kağıthane, Ümraniye and Gaziosmanpaşa, these areas are quite new [entstanden

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Seit der Regierungszeit der AnaP fand eine langsame Modifizierung des von Atatürk propagierten »Türkentums« als Leitkultur der türkischen Republik dahingehend statt, dass der Islam als legitimer und integraler Bestandteil des Türkentums verstanden wurde. In diesem Zusammenhang wird seit den 1980er Jahren von einer »Türkisch-Islamischen Synthese« gesprochen, in welcher die Idee eines türkischen Nationalismus mit dem Islam verschmelzen (vgl. Seufert 1997a: 83). U. a. in Beyoğlu, Küçükçekmece, Esenyurt, Zeytinburnu, Eyüp, Fatih, Başakşehir, Gaziosmanpaşa, Kâğıthane, Ümraniye, Üsküdar, Beykoz, Bayrampaşa, Bağcılar, Bahçelievler, Güngören, Esenler, Pendik, Tuzla, Arnavutköy etc. (vgl. https://www.ibb.istanbul; Zugriff 25.10.2018 und Webseiten der einzelnen Stadtteile).

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im Zuge der Urbanisierung seit den 1950er Jahren], people there are very conservative and religious, we call them the ›Banlieus of Istanbul‹. People there prefer Turkish musicals« (Interview mit B. Erzi am 17.12.2015). Was in den Gesprächen mit den beiden Dramaturginen sowohl des städtischen Theaters als auch des Staatstheaters deutlich wird, ist deren polyzentrische und damit multivalente Ausrichtung. Wie schon im vorhergehenden Abschnitt zu »Stadtraum und Architektur« beschrieben, treten die Spielstätten des staatlichen Theaters dezentralisiert auf.73 Insgesamt sind die Spielstätten des Şehir Tiyatrosu und des Devlet Tiyatrosu auf acht Stadtteile verteilt: sowohl auf der europäischen Seite als auch auf der asiatischen Seite; sowohl in zentraleren als auch in periphereren Gegenden der Stadt; sowohl in mehr als auch weniger wohlhabenderen; sowohl in als säkular als auch in als konservativ geltenden Gegenden. Relevant in Hinblick auf meine Forschungshypothese sind dabei folgende Fragen: Welche gesellschaftliche Bedeutung kommt den Spielstätten in den jeweiligen Stadtteilen zu? Von welchen Publika werden sie besucht? Warum wurden die Spielstätten in eben diesen Gegenden der Stadt eröffnet und nicht in anderen Stadtteilen? Während es naheliegend scheint, dass sich die Hauptspielstätten der beiden staatlichen Theaterinstitutionen im Stadtteil Şişli (das Staatstheater noch bis 2008 im Atatürk-Kültür-Merkezi am Taksim-Platz) befinden und damit im »Zentrum« der ehemaligen kemalistischen Republik, stellt sich die Frage, welche Kriterien für die Wahl der anderen Standorte entscheidend waren: Warum existiert beispielsweise keine Spielstätte in dem, als säkular geltenden Stadtteil Beşiktaş, jedoch in religiös geprägten Gegenden, deren BewohnerInnen sich, wie an anderer Stelle ausgeführt, anscheinend überwiegend für Musicals interessieren – ein Programmangebot, das eher zum Bereich des kommerziellen Theaters zählt. Warum unterhält das städtische Theater eine Spielstätte in Küçükçekmece, aber nicht im Stadtteil Maltepe, dessen Bewohnerschaften sich ähneln? Die Aussagen der beiden Dramaturginnen des städtischen ebenso wie staatlichen Theaters doppeln sich: In den 1990er Jahren hätte noch das Anliegen bestanden, durch die Eröffnung von Spielstätten in den sog. »Banlieus«, Theater zu den BewohnerInnen dieser peripheren Stadtteile zu bringen. Man wollte damals den BewohnerInnen auch dieser Viertel Kultur vermitteln, die Kultur der Stadt zeigen. Mittlerweile folge die Eröffnung eines Standorts jedoch ausschließlich praktischen 73

Schon alleine aufgrund ihres Versuchs einer aufsuchenden, zielgruppenorientierten Theaterund Vermittlungsarbeit in den verschiedenen Stadtteilen vor Ort bei gleichzeitiger Schließung zentraler Spielstätten lässt sich in Istanbul längst nicht mehr von einer Synthese und Identifikation zwischen einem Publikum und »seinem« staatlichen Theater sprechen, wie diese vielleicht früher in Istanbul existierte (vgl. Kap. 3, Fn. 79 zur »Selbst-Erkenntnis einer Gesellschaft in einer bestimmten Architektur« [Delitz 2010: 13]).

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Gründen, wie etwa dem Leerstand eines Gebäudes. Man orientiere sich nicht mehr daran, ob im Umkreis potentielle ZuschauerInnen leben (vgl. Interview mit G. Ertekin und B. Erzi am 17.12.2015). Demzufolge ist die Strategie über die Gründung von Spielstätten in bestimmten Stadtteilen pädagogisch/ideologisch auf die jeweilige Bevölkerung zu wirken, einer pragmatischen Willkür gewichen. Diesen scheinbaren Pragmatismus ebenso wie die Tatsache, dass sich vereinzelt räumliche Überschneidungen zwischen staatlichem und kommerziellem Theater ergeben – beispielsweise, indem sich das Staatstheater temporär in Veranstaltungssälen von Kültür-Merkezis und sogar einer Shopping Mall einmietet, da es auf keine eigenen Spielstätten zurückgreifen kann – wird im Folgenden, vor dem Hintergrund des (kultur)politischen Wandels beleuchtet (vgl. Kap. 4.5). Mein Anliegen besteht nun nicht darin, auf alle Stadtteile und Spielstätten einzugehen, sondern einzelne exemplarisch und stellvertretend für die anderen herauszugreifen, so die beiden Hauptspielstätten des Şehir Tiyatrosu und des Devlet Tiyatrosu, die sich beide in dem nördlich an Beyoğlu grenzenden Stadtteil Şişli befinden: Dieser Stadtteil wird in allen Interviews als wohlhabend und »westlich« bezeichnet. Şişli wird traditionell von der kemalistischen, sozialdemokratischen CHP-Partei regiert.74 Die Hauptspielstätten des städtischen Theaters und des Staatstheaters liegen damit inmitten einer Gegend, deren BewohnerInnen AnhängerInnen und BefürworterInnen des durch Atatürk initiierten Verwestlichungsprozesses waren und sind. Im Publikum beider Spielstätten, so scheint es, finden sich eben diese BewohnerInnen, RepräsentantInnen einer säkular geprägten Schicht. Während das Publikum in der Muhsin Ertrugul Sahnesi, der Hauptspielstätte des städtischen Theaters, weitgehend aus Personen zwischen 30 und 70 Jahren besteht, oftmals schick angezogen, fällt in der Hauptspielstätte des Staatstheaters die vergleichsweise hohe Präsenz von Familien auf: Jugendliche in Begleitung von Erwachsenen. Das Publikum ist eher leger gekleidet. Maßgeblich könnte hierfür die spezifische räumliche Situation des Staatstheaters in zwei ehemaligen Kinosälen in direkter Nähe zu Entertainment- und Shoppingangeboten in der Cevahir Shopping-Mall sein. Ganz anders wirken sozialräumliche Umgebung und Publikum der staatlichen Theaterspielstätten in den von der islamisch-konservativen AKP regierten Stadtteilen wie etwa Ümraniye, Gaziosmanpaşa und Küçükçekmece, vormaligen Gecekondu-Gebieten. Alle drei Stadtteile sind ihrem Erscheinungsbild nach sehr geordnet und sauber, nichts erinnert mehr an die vermutete Informalität und Improvisation informeller Siedlungen früherer Jahrzehnte. Wie schon zuvor in Şişli besuche ich in den drei genannten Stadtteilen einzelne Vorstellungen, um einen Eindruck vom jeweiligen Publikum zu gewinnen. Alle 74

https://www.sisli.bel.tr; Zugriff 13.12.2018.

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Aufführungen nehme ich als gut besucht wahr; auf der Webseite des Şehir Tiyatrosu wird sogar von einer 96-prozentigen Auslastung der Spielstätten gesprochen.75 Im Publikum finden sich wie schon in der Hauptspielstätte des Staatstheaters viele Familien. Eine weitere Auffälligkeit und ein Unterschied zu den Spielstätten im Stadtteil Şişli ist, dass der überwiegende Teil der Frauen im Publikum Kopftuch trägt. Im Foyer werden ähnlich, wie man es aus Kinos kennt, Getränke und Snacks verkauft, die von den ZuschauerInnen mit in den Saal genommen werden. Ähnlich wie bereits zuvor in den beiden Hauptspielstätten fallen mir auch hier die günstigen Ticketpreise76 auf, die in allen staatlichen Theaterspielstätten gegeben sind. Dies verleitet zu der Annahme, dass sich die staatlichen Theaterinstitutionen an eine breite gesellschaftliche Schicht richten wollen. Die Preispolitik, Theater für jeden/jede zugänglich zu machen, interpretiere ich als Erbe Atatürks, der durch Theaterangebote einen gesamtgesellschaftlichen Wandel anstrebte. Die Veranstaltungen beider Theaterinstitutionen werden durch kurze Ankündigungen in der Zeitung ebenso wie durch Plakate oder auch Videoclips an Metrostationen in der unmittelbaren Umgebung der Spielstätten beworben. An dieser Stelle möchte ich auf einen Aspekt zurückkommen, der bereits im Abschnitt »Hinter den Kulissen« (Kap. 4.2) Erwähnung fand: Das im Spielplan einiger staatlicher Spielstätten auftauchende Unterhaltungstheater, etwa in Form von türkischen Musicals. Wie bei meinen Besuchen der verschiedenen Spielstätten nun deutlich wird, werden diese Produktionen fast überwiegend an den als religiös und konservativ geltenden Standorten gezeigt. Während im Stadtteil Şişli, in dem sich nach meiner Beobachtung ein westlich orientiertes, säkular wirkendes Publikum findet, Vorstellungen europäischer Klassiker sowie internationaler und türkischer Gegenwartsdramatik überwiegen, ist die Spielplangestaltung der staatlichen Theater in den, wie es Erzi ausdrückt, »Banlieus« wie Ümraniye, Gaziosmanpaşa oder Küçükçekmece auf Unterhaltung und Massenkompatibilität ausgerichtet. Neben den bereits erwähnten Musicals werden historische Stoffe, Comedy-Abende, Biopicals und Komödien gespielt. Dabei besteht das Ziel offensichtlich nicht im aufklärerischen Bildungs- oder Kunstanspruch, die Bevölkerung vor Ort in ihren Hörund Sehgewohnheiten an andere Angebote zu gewöhnen. Im Mittelpunkt stehen offensichtlich Unterhaltung und kommerzieller Erfolg. Damit scheint sich das Programmangebot der staatlichen Theater und der kommerziellen Theatergruppen in einigen der Stadtteile zunehmend zu ähneln.

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https://sehirtiyatrolari.ibb.istanbul/; Zugriff 10.11.2018. Die Tickets im städtischen Theater liegen zwischen 3 und 17 TL (ca. 1 bis 4 Euro; Stand Dezember 2016); im staatlichen Theater zwischen 5 und 10 TL (ca. 1,50 bis 2,50 Euro; Stand Dezember 2016).

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4.4.3.

Kültür, Kommerz und Kontrolle: Kommerzielles Theater

Das zentrale Wesensmerkmal der stadträumlichen Verteilung der kommerziellen Theater in Istanbul besteht in der Verbindung der Theater mit den räumlichen Konstrukten der Kültür-Merkezi oder vor Ort vorhandener Shopping Malls. Anders ausgedrückt: Die kommerziellen Theater nennen keine unabhängigen Häuser, im betrieblichen wie architektonischen Sinne, ihr eigen. Kommerzielles Theater besteht, wie bereits erläutert, vornehmlich aus Theatergruppen, die zwischen den Spielstätten verschiedener Stadtteile touren. Der Kontakt zum umgebenden sozialen Raum, zu Nachbarschaft und Publikum ist stark von Strukturen der KültürMerkezis oder Shopping Malls vor Ort präformiert. Im Falle der kommerziellen Theater mit ihrem inhärenten primären Interesse am wirtschaftlichen Erfolg bedeutet das einerseits zwar eine Abhängigkeit, andererseits aber keinen wirklichen Nachteil. Markt der Kultur: Kültür-Merkezi Die türkische Soziologin Asu Aksoy schreibt 2015, dass diese Kültür-Merkezis pro Jahr ca. 4,4 Millionen BesucherInnen verzeichnen. Gemessen an einer Stadtbevölkerung von offiziell 15 Mio. handelt es sich dabei um eine hohe Quote (vgl. Aksoy 2015). Aufgrund ihrer hohen Präsenz in jedem Istanbuler Stadtteil sind die Kulturzentren gut erreichbar; sie erfordern von ihren BesucherInnen nicht, wie einige der anderen Theaterspielstätten, die sich nur in bestimmten Gegenden befinden, weite Wege zu unternehmen. Das Programm offeriert teils kostenfrei, teils zu günstigen Preisen77 im Paket mit Theaterveranstaltungen, Mal- oder Musikkurse ebenso wie kleine Ausstellungen. In allen aufgesuchten Kulturzentren u.a. in Küçükçekmece (AKP), Zeytinburnu (AKP), Başakşehir (AKP) oder Bahçelievler (CHP) vermittelt sich der Eindruck, dass der Anspruch dieser Institutionen darin besteht, sich möglichst niedrigschwellig an die BewohnerInnen des jeweiligen Stadtteils zu richten. Das Angebot scheint gut von der Bevölkerung angenommen zu werden. Nicht nur zu den Veranstaltungen gehen Leute ein und aus, werfen einen Blick auf den Veranstaltungskalender oder nehmen sich Informationsmaterial mit. Bereits im Abschnitt »Hinter den Kulissen« wurde deutlich, dass sich das Programm der jeweiligen Kulturzentren entlang der politischen Haltung der jeweiligen Stadtteilregierung ausrichtet: Während in einem AKP-regierten Stadtteil wie Zeytinburnu ein Stück über das Leben eines islamischen Propheten gezeigt wird, steht in einem CHP-regierten Stadtteil wie Kadıköy beispielsweise eine 77

Bei dem Kültür-Merkezi von Küçükçekmece zahlt man beispielsweise für den Besuch einer Theateraufführung 10 TL (ca. 3 Euro; Stand 30. März 2016). Der Eintritt zu Kindertheaterstücken liegt oftmals bei weniger als 3 TL (ca. 0,70 Euro; Stand 30. März 2016).

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Inszenierung zum Leben des kommunistischen Dichters Nâzim Hikmet auf dem Programm (vgl. etwa das Programm des Kadıköy Halk Egitim Merkezi). Man könnte sagen, die Spielpläne der Kültür-Merkezis richten sich innerhalb der einzelnen Stadtteile an die BewohnerInnen, die die jeweilige politische Mehrheit repräsentieren. Einkaufen und Theater: Shopping Malls Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Setting eines Kültür-Merkezi und einer Shopping Mall liegt in der Publikumsansprache: schon alleine in der offensichtlichen Tatsache, dass in einer Shopping Mall die Konsum-Interessen eines potentiellen Laufpublikums bzw. das Profitinteresse der ImmobilieneigentümerInnen und -betreiberInnen der Mall gegenüber dem kulturellen Interesse der BesucherInnen bzw. BetreiberInnen eines Kültür-Merkezi dominiert. Während meiner Aufenthalte in Istanbul besuche ich u.a. das Zorlu Center, die Cevahir-Mall, die Kanyon-Mall und die Trump Towers. In jeder Shopping Malls existiert mindestens ein Veranstaltungssaal. Meist gelangt man über eine unterirdische Verbindung mit der Metrostration in die Gebäude. Man wird zunächst durch einen Körperscanner geschleust und von Sicherheitskräften beäugt. Auch innerhalb der Malls ist die »Kontrolle« allgegenwärtig. Securities streifen über die Gänge, Videokameras überwachen das Treiben der Menschen in den aus BesucherInnenperspektive kaum überblickbaren Shops und Gastronomiebetrieben. Reinigungskräfte fegen und wischen die Böden zwischen den KonsumentInnen. Die Theaterveranstaltungen in den Veranstaltungssälen zählen zum Unterhaltungsangebot, das in den Shopping Malls neben Gastronomie und Shopping präsentiert wird. Durch ihre Präsenz lässt sich die Aufenthaltsqualität, Anziehungskraft und Erlebnisfähigkeit dieser Orte steigern (vgl. Siebel 2007: 93).78 Der Besuch einer Veranstaltung in einer Shopping Mall soll folglich ein besonderes Konsumerlebnis suggerieren: Doch obgleich die Theaterveranstaltungen dazu dienen, die Attraktivität der Malls zu steigern und man die BesucherInnen erreichen will, setzt man auf keine günstigen Ticketpreise.79 Vielmehr scheint die Strategie darin zu bestehen, über teure Preise die Exklusivität der Veranstaltung zu steigern. Es handelt es sich eben gerade nicht um ein Angebot für jedermann, wie etwa in den staatlichen Kulturzentren. 78

79

Der Soziologe Walter Siebel schreibt, dass die allumfassende Kontrolle, welche in einer Shopping Mall herrsche, zwar zum einen ihr Qualitätsmerkmal sei, da sie ihre BesucherInnen gegen alles Unannehmliche und Unvorhersehbare des öffentlichen Raums abschirme, jedoch zugleich auch ihre größte Bedrohung darstelle, nämlich die Langeweile an einem Ort des Konsums (vgl. Siebel 2007: 93). So liegen die Tickets für die Produktion in den Trump Towers zwischen 35 und 50 TL (zwischen ca. 10 und 15 Euro; Stand Dezember 2016), im Kültür-Merkezi von Büyükçekmece hingegen lediglich bei 10 TL (ca. 3 Euro; Stand Dezember 2016).

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4.4.4.

Treffpunkte der Subversion: Off-Theater

Die ZuschauerInnen der Off-Theater sind überwiegend zwischen 25 und 50 Jahren.80 Viele von ihnen erinnern mich an das kunst- und theateraffine Publikum, wie ich es in Berlin oder London aus meinem eigenen sozialen Umfeld kenne. Da die Ticketpreise deutlich über denen der staatlichen Theater oder der KültürMerkezis liegen, ist anzunehmen, dass die meisten BesucherInnen eher wohlhabend sind oder es sich zumindest leisten wollen, diese Theater zu besuchen.81 Als auffällig erscheint, dass kaum eine der weiblichen Zuschauerinnen ein Kopftuch trägt und stattdessen kurze Röcke und T-Shirts überwiegen; damit stellt das Publikum der Off-Theater, insbesondere in Fatih oder Şişhane, einen Kontrast zu den Passantinnen auf der Straße dar, von denen durchaus einige Kopftuch tragen. Darauf angesprochen, erklärt beispielsweise Emre Eyüp Uçaray von Ikincikat in Şişhane, dass bei ihnen zwar jeder willkommen sei, doch obwohl sie es nicht statistisch erfassen, er mit Sicherheit sagen könne, dass unter ihren ZuschauerInnenn keine/r sei, der religiös-konservativ geprägt sei. Solche Leute interessieren sich laut Uçaray nicht für das Programm der Off-Theater. Alle anderen InhaberInnen charakterisieren ihre ZuschauerInnen als säkulare, liberale und westlich geprägte Mittelschicht (vgl. Aussagen von Ufuk Altunkaya oder Heves Tüzün).82 Um ihr Publikum zu erreichen, nutzen die Off-Theater soziale Medien, insbesondere Facebook, Twitter und Instagram sowie einen eigenen Newsletter. Die Stücke laufen oft über mehrere Jahre, so kann das Publikum nach und nach durch »Mund-zu-Mund-Werbung« erreicht werden. Ein Theaterportal wie Alternativateatral in Buenos Aires gibt es in Istanbul nicht. Es ist möglich, sich beim Ticketservice Biletix über die Tickets für mögliche Veranstaltungen zu informieren, allerdings 80 81

82

Diese Wahrnehmung beruht auf Beobachtungen von je vier Vorstellungsbesuchen in den einzelnen Off-Theatern. Die Preise liegen zwischen 30 TL (ca. 7 Euro; Stand Dez. 2016) für ermäßigte und 50 TL (ca. 13 Euro; Stand Dez. 2016) für nicht ermäßigte Karten. Alle Off-Theater bieten Vergünstigungen für StudentInnen an. An dieser Stelle sei angemerkt, dass in fast allen Gesprächen pauschalisierend von einer westlichen, säkularen, »liberalen« Gesellschaftsschicht versus einer traditionellen, religiös und ursprünglich ländlich verorteten Gesellschaftsschicht gesprochen wird. Dabei werden die drei genannten Eigenschaften »säkular«, »westlich« und »liberal«, obgleich sie sich nicht gegenseitig bedingen und schon gar nicht gleichbedeutend sind, ebenso wie das Begriffspaar »traditionell und religiös«, doch gleichsetzend verwendet. Betrachtet man beispielsweise das Parteienspektrum in der Türkei, fällt auf, dass sich sowohl die AnhängerInnen der kemalistischen, sozialdemokratischen CHP-Partei als auch die der konservativ-nationalistischen MHP-Partei als säkular, zweitere sich jedoch zudem als anti-europäisch bezeichnen; eine der beiden Parteien als »liberal« zu bezeichnen, wäre im Hinblick auf ihre nationalistische Politik zumindest fragwürdig.

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

ist dieser Service unvollständig. Ab und zu schreiben TheaterkritikerInnen über die Inszenierungen, aber laut einhelliger Meinung der Interviewten trifft das fast ausschließlich beim Mitwirken eines prominenten Schauspielers zu. Verdrängung der Off-Theater: Beyoğlu Noch 2010 befinden sich die meisten der Off-Theater in Beyoğlu, genauer gesagt in der Nähe des Taksim-Platzes und der İstiklâl Caddesi, und damit im damaligen kulturellen Zentrum Istanbuls. »Beyoğlu is the cultural centre of Istanbul, more than that, it’s the cultural centre of Turkey. In Beyoğlu you find galeries, theatres, museums, alternative stages, cinemas. It’s a cosmopolitan and global place, people here are more open-minded than anywhere else in Turkey« (Interview mit Ufuk Altunkaya am 23.09.2010). Die Viertelstruktur von Beyoğlu ist zu diesem Zeitpunkt (2010) gesellschaftlich stark durchmischt. Einige der Viertel wie Galata oder Cihangir haben in den zwei vorangehenden Jahrzehnten eine zunehmende Gentrifizierung erfahren. Yesim Özsoy Gülan, Leiterin des Off-Theaters Galata Performans, erzählt, dass die Gentrifizierung Galatas in den 1990er Jahren durch den Zuzug von KünstlerInnen, Theaterschaffenden und Intellektuellen begonnen habe: Viele von ihnen hätten Häuser gekauft, die Mieten stiegen immens an, so dass die ehemals ärmere Bewohnerschaft von Galata mittlerweile fast vollständig weggezogen sei (Interview mit Y. Gülan am 19.06.2014). In anderen Vierteln wie Tophane oder Tarlabaşı lebt hingegen noch eine überwiegend mittellose Bevölkerung. Der Mit-Inhaber des Off-Theaters Kumbaracı50 berichtet von seinen Erfahrungen mit der Nachbarschaft: »People living in this area are usually quite poor, often conservative, they don’t go to theatre and they don’t know what theatre is. When we moved here we heard rumours, that people here were uncomfortable with us. We were sitting down together with the locals; then some people from the neighborhood started to work for us. So we have people from the neighborhood, who come in every day and see what’s going on inside. Once or twice in every season we invite the people who are living in the area, regular people like the butcher, the coffee house guy, the carpenter etc. And they come to see our plays with their families, their wives with the headscarves, the children. They like it. Money is the big deal, why they don’t come more often« (Interview mit Ö. Erzurumlu am 08.11.2010, zit.n. Zellner 2013: 72). Noch 2010 steht ein Off-Theater wie Kumbaracı50 als erstes Anzeichen für den Aufwertungsprozess und damit die baldige Gentrifizierung von Tophane. Schon 2014/15 sind die Off-Theater selbst »Opfer« von Aufwertungsmaßnahmen.

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Beyoğlu scheint zu einer Großbaustelle mutiert: Neben den bereits im vorangehenden Abschnitt erwähnten baulichen Veränderungen am Taksim-Platz ist die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI für den Abriss gesamter Häuserzeilen entlang des Tarlabaşı Boulevards verantwortlich. Zahlreiche BewohnerInnen, unter ihnen vor allem mittellose ZuwandererInnen aus Anatolien, kurdische Kriegsflüchtlinge aus dem Süd-Osten der Türkei, Sinti und Roma, Flüchtlinge aus Afrika, dem Irak oder Iran, verlieren ihre Wohn- und teils Arbeitsräume.83 Anstelle der informell bewohnten, vom Gesetz oft unkontrollierten Räume, entstehen Apartmenthäuser für eine wohlhabende Bevölkerungsschicht. In Folge steigen die Miet- und Immobilienpreise in der gesamten Gegend und führen u.a. auch dazu, dass sich InhaberInnen von Off-Theatern, welche kaum Einnahmen erzielen, die ansteigenden Mieten an der parallel verlaufenden İstiklâl Caddesi, dem ehemaligen »Broadway« von Istanbul, nicht mehr leisten können. Die »Neugestaltung« dieser Gegend bietet, wie bereits im vorangehenden Abschnitt zu »Stadtraum und Architektur« erwähnt, zudem die Möglichkeit umfassender staatlicher Kontrolle und Überwachung eines vormals informell »wuchernden« Viertels. Die neu entstandene »Kontrolle« impliziert beispielsweise, dass jedes Off-Theater ohne Genehmigung sofort erfasst wird. Viele der Off-Theater mussten ihre Spielstätten in der Nähe oder entlang der İstiklâl Caddesi aufgeben. Doch nicht nur Off-Theater sind betroffen, auch viele Bars und Clubs haben inzwischen geschlossen. Auf Veranlassung der Stadtteilregierung von Beyoğlu dürfen in einigen Straßen die Bars keine Tische und Stühle mehr auf den Gehwegen platzieren; des weiteren werden kaum noch Konzessionen zum Verkauf von Alkohol gewährt. Indem dieses Angebot zunehmend fehlt, verändert sich auch das Publikum in dieser Gegend. Statt Off-Theater gebe es nun Shisha-Bars; das Angebot in den Läden orientiere sich immer mehr an arabischen, konsumorientierten und religiös-konservativen TouristInnen aus den Golfstaaten, welche die türkische Regierung gerne nach Istanbul locke, heißt es von verschiedenen Seiten aus der Off-Theaterszene. Es fällt insbesondere auf, dass viele Geschäfte ihre Auslagen mit arabischen Beschilderungen bewerben. Ömer Erzurumlu, Inhaber von Kumbaracı50 erklärt: »They [die türkische Regierung] try to change Beyoğlus urban structure, the culture of the city and that is affecting us. They want to turn Beyoğlu into an Arabic 83

Die Räumung durch den Staat wird oftmals durch ungeklärte Miet- und Eigentumsverhältnisse begünstigt; des Weiteren beruft sich die türkische Regierung auf den Aspekt der Erdbebensicherheit, welcher die alten Gebäude nicht entsprächen und deshalb erneuert werden müssten. Die türkische Kunstgeschichtlerin Zeynep Sayin sieht darin jedoch zudem eine Methode der türkischen Regierung, um jegliche Form der Reminiszenz an christliche Minderheiten – gemeint sind ihre zurückgelassenen Häuser – auszulöschen (vgl. Vortrag »Das Bild/der Staat/der Tod« von Dr. Zeynep Sayin am 16.05.2017, Universität Jena).

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centre. Few years ago, Beyoğlu was a cultural centre, but now it’s only a shopping centre. İstiklâl is not affordable anymore. Rents in İstiklâl are going up, the whole area is changing and people are changing. Five years ago, people went out here, but now people go out in Kadıköy. As a theatre we notice, it was easier to convince people to come here five years ago« (Interview mit Ö. Erzurumlu am 17.12.2015). Die wenigen Off-Theater, die noch an ihren früheren Standorten verweilen, verlieren zunehmend ihr Publikum. Als ich 2015 einige Vorstellungen von Kumbaracı50 besuche, nehme ich diesen Rückgang im Publikum wahr, nur selten ist es ausverkauft. Bei Şermola Performans, das ebenfalls noch in einer Seitenstraße der İstiklâl Caddesi beheimatet ist, fällt zwar kein Publikumsrückgang auf – möglicherweise liegt das auch daran, dass Şermola Performans als einziges kurdisches Off-Theater ein größeres Alleinstellungsmerkmal als Kumbaracı50 innehält – doch betonen auch hier die InhaberInnen die starken Veränderungen und teils Anfeindungen aus der Umgebung, die damit einhergehen, dass es sich um ein kurdisches Theater handelt. Überbleibsel des Off-Theaters: Sishane (Beyoğlu) Schon auf dem Weg zu Ikincikat in Sishane, dem Randviertel von Beyoğlu, fällt auf: Die TheaterbesucherInnen heben sich in ihrem westlichen Kleidungsstil von der Bewohnerschaft des umliegenden Viertel ab; bereits einige Straßenzüge vom Theater entfernt kann man erkennen, wer von den PassantInnen auf der Straße in Richtung Ikincikat unterwegs ist und nicht zu den BewohnerInnen des Viertels zählt. Ikincikat ist seit seinem Umzug 2013 das einzige Theater in dieser Gegend, in der es keine Galerien oder Bars und nur sehr wenige Cafés gibt. Stattdessen boomt das Geschäft mit Sanitäranlagen – Ikincikat hat die Räumlichkeiten einer ehemaligen Wasserhahnfabrik bezogen. Es ist ein Arbeiterviertel mit kleinen Einzelhandelsläden. Die Häuser sind überwiegend unsaniert. In den Seitengassen, von denen eine direkt an das Gebäude von Ikincikat grenzt, campieren Müllsammler. In einem hölzernen Verschlag bewahren sie das gesammelte Gut auf. Mit den AnwohnerInnen habe man nicht viel Kontakt, man begegne sich freundlich, aber die meisten von ihnen wüssten nicht, was im Gebäude vor sich geht, so Heves Tüzün. Ihre BesucherInnen kommen aus anderen Gegenden der Stadt. Die Mit-Inhaberin von Ikincikat erkennt gerade in der Unattraktivität der Gegend einen Reiz für viele ihrer ZuschauerInnen: »People, I mean particularly middle class people, usually don’t go to this kind of area, but now they have a reason to come, because we are here. They are curious, how it looks like« (Interview mit H. Türzün am 21.12.2015). Um das Fehlen von Cafés und Bars in der näheren Umgebung, das BesucherInnen möglicherweise fernhalten könnte, zu kompensieren, betreibt Ikincikat im zweiten Stock des Gebäudes ein eigenes Café.

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Abwesenheit des Off-Theaters: Fatih Ähnlich wie bei Şişhane handelt es sich auch beim Stadtviertel Fatih um keine Gegend, in der sich Off-Theater finden. Laut der türkischen Soziologin Saban Kizildag (2006) gilt die Bevölkerung Fatihs als wenig wohlhabend und überwiegend konservativ-religiös. Viele der heutigen BewohnerInnen von Fatih sind als ZuwanderInnen im Zuge der oben genannten Binnenmigration seit Mitte des 20. Jahrhunderts aus Anatolien nach Istanbul gelangt (vgl. Kizildag 2006: 186). Der Stadtteil wird durch die islamisch-konservative AKP regiert. Neben BewohnerInnen und TouristInnen, fällt in dieser Gegend noch eine dritte Gruppe ins Auge, welche das nähere Umfeld des Standorts von Mekan Artı prägt: Es sind die StudentInnen der nahegelegenen Universität Istanbul, der größten Universität der Türkei. Diese StudentInnen seien eine wichtige Zielgruppe seines Theaters, so Ufuk Altunkaya, der Inhaber von Mekan Artı. Die BewohnerInnen der umliegenden Nachbarschaft ebenso wie die TouristInnen interessieren sich hingegen kaum für das Programm eines Off-Theaters (vgl. Interview mit U. Altunkaya am 18.12.2015). Es scheint jedoch, dass gegen Abend kaum noch Studierende in Fatih verweilen. Auf den Straßen sind fast ausschließlich einige Familien oder Männer mittleren Alters unterwegs. Obgleich es in der Gegend einige Cafés und Imbisse gibt, die sich an StudentInnen richten, offerieren diese ausschließlich Tagesangebote und schließen gegen Abend; ähnlich ist es bei den für TouristInnen bestimmten Cafés und Restaurants. Wie bereits im Abschnitt »Stadtraum und Architektur« (Kap. 4.3) beschrieben, befindet sich Mekan Artı in einer Einkaufspassage: Untertags hält sich hier neben den Ladenbesitzern kaum jemand auf; am Abend kommen einige KinobesucherInnen, doch auch sie vermögen nicht die Leere zu füllen, welche dieser Gebäudekomplex ausstrahlt. Zu Vorstellungsbeginn, gegen 20Uhr, ist die Passage bereits geschlossen, nur über eine Seitentür gelangt man zum Kino und damit zu Mekan Artı. Da Mekan Artı aufgrund seiner beschränkten Räumlichkeiten in einem Kinosaal nicht wie Ikincikat ein eigenes Café eröffnen kann, fehlt schlichtweg die Möglichkeit, dass die BesucherInnen sich vor oder nach einer Vorstellung weiterhin in der Nähe des Theaters aufhalten: Meiner Beobachtung zufolge kommen die meisten von ihnen kurz vor der Vorstellung an der nahe gelegen Tramstation an. Kurz nach der Vorstellung sieht man sie sogleich wieder an der Station, auf die nächste Tram wartend. Bereits bei meinem ersten Besuch frage ich mich, warum der Inhaber diesen unattraktiven Standort gewählt hat: Weder ist Fatih eine Gegend, in der die BewohnerInnen in ein Off-Theater zu gehen scheinen, noch ist es eine beliebte Gegend, die von BewohnerInnen aus anderen Stadtteilen häufig aufgesucht wird.

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Doch der Standort wurde, wie sich im Laufe des Interviews mit Ufuk Altunkaya herausstellt, nicht freiwillig gewählt. Da die Verwaltungsbehörden seit den GeziPark Protesten radikal gegen informell eröffnete Räume vorgehen und keine Genehmigungen mehr erteilen, sei es kaum noch möglich, in einem AKP-regierten Stadtteil ein Off-Theater zu eröffnen. Indem Mekan Artı Untermieter eines Kinobetreibers ist, muss Altunkaya das Theater nicht offiziell bei der Stadtteilregierung (AKP) registrieren und sich um Genehmigungen kümmern, sondern kann unter dem Deckmantel, Teil eines kommerziellen Kinos zu sein, arbeiten. Nur über diesen Umweg war es möglich, überhaupt eine neue Spielstätte zu eröffnen (vgl. Interview mit U. Altunkaya am 18.12.2015.) Neues Zentrum der Off-Theater: Kadıköy Das neue Ausgehviertel und kulturelle Zentrum der Stadt ist Kadıköy. Noch bei meinem Forschungsaufenthalt 2010 galt der auf der asiatischen Seite gelegene Stadtteil Kadıköy als kaum relevant für das Off-Theater. Nur sehr wenige Theater besaßen dort ihre Spielstätten. Die Zahl der Galerien, Off-Theater und Bars in Kadıköy schien noch überschaubar. KünstlerInnen und TheatermacherInnen, die ich dort antraf, lebten und arbeiteten in Kadıköy, weil die Mieten günstiger als in Beyoğlu waren und sie oftmals aus der Gegend stammten. Fragte ich jemanden, der in Beyoğlu lebte und arbeitete, ob er auch ab und an nach Kadıköy fahre, wurde das meist heftig verneint: »There is no need to go there, nothing of interest.« In Kadıköy gibt es einen großen Markt, der sich über viele Gassen zieht. Das Tempo der Menschen dort wirkte langsamer und gemächlicher als in Beyoğlu; in den Straßen begegneten mir weit weniger TouristInnen. Während sich Beyoğlu kosmopolitisch gab – italienischer Espresso in den Cafés, europäische Kleidermarkenläden und englische Beschriftungen der Läden – findet sich all das in Kadıköy nicht. Nur wenige Jahre später präsentiert sich die Gegend vollkommen verändert: Galerien, Off-Theater, Kunst- und Kulturräume, angesagte Cafés und Bars mit englischsprachigen Menüs drängen sich dicht aneinander. Das Off-Theater Moda Sahnesi spiegelt diesen Boom wider. Die Vorstellungen sind ausverkauft, die anschließenden Konzerte ebenfalls gut besucht. Einige der Leute, mit denen ich ins Gespräch komme, meist zwischen 24 und 50 Jahren, stammen aus Kadıköy selbst, manche sind erst vor kurzem in diesen Stadtteil gezogen, die meisten jedoch kommen aus anderen Teilen der Stadt, nicht selten von der europäischen Seite. Kadıköy ist ins Bewusstsein all derer gerückt, die ausgehen wollen, die Kunst machen wollen, die auf den Straßen sitzend ihr Bier genießen wollen, die einen Ort suchen, an dem sie die liberale Atmosphäre finden, die in Beyoğlu verschwunden ist. Doch Kadıköy erlebt diesen massiven Ansturm nicht allein, weil es (noch) güns-

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tigere Immobilienpreise als Beyoğlu oder mehr Raum bietet.84 Der Grund für dessen neue Popularität liegt vor allem darin, dass der Stadtteil traditionell durch die sozial-demokratische, kemalistische CHP-Partei regiert wird. Kadıköy stellt damit »eine säkulare Insel in Erdoğans Reich«85 dar, wie es in einem Beitrag auf Deutschlandfunk heißt (Samman 2017).86

4.4.5.

Resümee: Verdrängung oder Assimilation

Die Untersuchung resultiert in zwei zentralen Beobachtungen: Erstens stelle ich fest, dass der Theaterraum Istanbuls von einer (sozial)räumlichen Verdrängung bestimmt wird, die sich insbesondere im Stadtteil Beyoğlu bemerkbar macht. Dabei bezieht sich die Verdrängung nicht allein auf eine mittellose Bevölkerung, sondern auch auf eine »säkulare« Bevölkerung, oder, besser gesagt, eine säkulare Lebensweise. Denn dieser Vorgang, der eng gekoppelt ist mit den in den letzten zehn Jahren seitens der städtischen Regierung veranlassten Großbauprojekten, resultiert nicht allein in einem Anstieg der Miet- und Immobilienpreise, sondern impliziert zugleich eine Neuausrichtung des öffentlichen Lebens entsprechend der gesellschaftspolitischen Vorstellung der AKP. Beispielhaft dafür stehen die Umzüge der staatlichen Theaterinstitutionen in die Cevahir Mall sowie das Kongresszentrum ebenso wie die fehlenden Genehmigungen und in Folge die sinkende Zahl der Off-Theater in Beyoğlu, die nicht mehr zum kulturellen Angebot dieses Stadtteils zählen. Zweitens fällt mir auf, dass sich die einzelnen Theater entlang der politischen Grenzen innerhalb Istanbuls ausrichten und dementsprechend in ihren Spielplänen und Publika divergieren. Die staatlichen und kommerziellen Theater passen sich dabei in ihren Produktionen weitgehend dem »Geschmack« der jeweiligen Umgebung/Nachbarschaft und damit ihrem Zielpublikum an; je nachdem, ob sich die Spielstätten in einem als liberal geltenden, CHP-regierten Stadtteil oder in einem als konservativ-religiös geltenden, AKP-regierten Stadtteil befinden. Paradox scheint diese »Anpassung« in Bezug auf die staatlichen Theater: Noch in den 1990er Jahren wurden staatliche Spielstätten in den sog. »Banlieus« von Istanbul mit dem Anspruch eröffnet, ein Bildungsangebot für das türkische »Volk«, in diesem Fall eine weitgehend religiös verwurzelte Bevölkerung, im Sinne der kemalistischen Ideologie zu schaffen. Mittlerweile ist in Stadtteilen wie Küçükçek84

85 86

Der Boom dieses Stadtteils lässt jedoch auch hier die Mieten steigen, weshalb der Umzug nach Kadıköy aus finanziellen Gründen immer schwieriger für die TheatermacherInnen wird, wie es in mehreren Gesprächen heißt. Ein Großteil der 39 Stadtteile Istanbuls wird durch die AKP regiert (Stand 2015; siehe Auflistung Kap. 4, Fn. 72). Vgl. www.deutschlandfunkkultur.de/istanbul-kadikoey-saekulare-insel-in-erdogans-reich. 2147.de.html?dram:article_id=377547; Zugriff 15.08.2018.

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mece oder Gaziosmanpaşa, deren BewohnerInnen der Wählerschaft der AKP zugerechnet werden, überwiegend leichtes Unterhaltungstheater zu sehen, um dieses Publikum überhaupt als ZuschauerInnen zu gewinnen. Die vormals kemalistischen Institutionen passen sich nun entsprechend der Vorliebe des Publikums in AKPregierten Stadtteilen und den Vorgaben der türkischen Regierung an. Durch die in Zukunft zu erwartende Homogenisierung der Spielpläne der staatlichen Theater aufgrund von Budgetkürzungen, ist anzunehmen, dass sich eben dieses Unterhaltungsprogramm zunehmend in allen staatlichen Spielstätten wiederfinden wird, folglich auch in den als liberaler geltenden Stadtteilen wie Şişli. Die kommerziellen Theatergruppen richten sich ebenfalls entsprechend der politischen Couleur der jeweiligen Stadtteile aus. Im Gegensatz zu den staatlichen Theaterinstitutionen liegt ihr Selbstverständnis und Hauptanliegen jedoch seit jeher in Gewinnorientierung und leichter Unterhaltung ihres Publikums begründet: Produziert wird, was gefordert wird. Die Anpassung ihrer Produktionen ist erforderlich angesichts der (kultur)politisch gewollten Dominanz der Kültür-Merkezis, vor allem in AKP-regierten Stadtteilen: Eine Dominanz, die sich nicht allein im Defacto-Monopol als jeweils einzigem Veranstaltungsort im Stadtteil, sondern auch in einer daraus resultierenden Niedrigpreispolitik bzgl. der Karten ausdrückt. Es ist anzunehmen, dass ein Großteil des Publikums den »günstigen« Besuch einer Aufführung in einem Kültür-Merkezi gegenüber dem teureren in einer Shopping Mall präferiert.87 Die Aufführungen in einer Shopping Mall, welche möglicherweise nicht den ideologischen Vorstellungen der AKP genügen, müssen sich BesucherInnen leisten wollen und können.88 Aufgrund der omnipräsent auftretenden staatlichen Veranstaltungssäle betreiben kommerzielle Theatergruppen keine eigenen Spielstätten: Zum einen können sie sich kaum gegen die Überpräsenz der Kültür-Merkezis und deren günstige Preispolitik wehren, zum anderen erhalten sie durch das Verkaufen ihrer Produktionen an Kültür-Merkezis finanzielle Absicherung. Diese Politik »des Zuckerbrots und der Peitsche« hat einen wenn auch indirekten, so doch eindeutigen Effekt der (kultur)politischen Kontrolle: Programmiert werden nur noch Stücke, welche als »systemkonform« eingestuft werden. 87

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Wie bereits an anderer Stelle erwähnt liegen beispielweise die Tickets des Tiyatro Kedi für eine Inszenierung in den Trump Towers zwischen 35 und 50 TL (ca. zwischen 10 und 15 Euro; Stand 15. Juni 2015), im Kültür-Merkezi von Büyükçekmece hingegen für dieselbe Inszenierung lediglich bei 10 TL (ca. 3 Euro; Stand 15. Juni 2015). Sowohl in Bezug auf die staatlichen Theater als auch in Bezug auf die Spielstätten der kommerziellen Theater stellt sich die Frage: In welchem Maße ist die »Anpassung« Resultat der Zuschauerpräferenzen oder aber der staatlichen Vorgaben, welche damit eine ideologische Lenkung der BesucherInnen beabsichtigt? Werden die Kültür-Merkzis aufgesucht, weil sie zu günstigen Preisen Unterhaltung bieten, oder weil etwa ihre Spielpläne eine bestimmte ideologische Färbung aufweisen?

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Im Gegensatz zu den staatlichen und kommerziellen Theatern richten sich zwar auch die Off-Theater entlang neuer sozialräumlicher Umgebungen aus, jedoch passen sie sich dabei programmatisch nicht an. Entweder platzieren sie sich in Gegenden, wie dem als liberal geltenden Stadtteil Kadıköy, in dem sie unbehelligt arbeiten können; oder sie wählen Standorte, an denen sie sich möglichst im Verborgenen, meist ohne dass die umliegende Nachbarschaft von ihrer Existenz weiß, aufhalten können; lediglich das Publikum, das über soziale Medien und Newsletter informiert wird, ist eingeweiht.

4.5.

Erdoğan & Atatürk: Autokratie und Kulturpolitik

Kehren wir am Ende dieses Kapitels noch einmal zu dessen Ausgangspunkt und damit zu folgenden Fragen zurück: Inwieweit hat sich die Kulturpolitik in Istanbul zwischen 2010/11 und heute, einer Zeit, in der die Autokratie die neue Normalität darstellt, verändert? Wie wurde der (kultur)politische Wandel eingeleitet? Woran kann man relevante Wendepunkte der (Kultur)Politik bereits vor 2015 festmachen? Im Jahr 2010 scheint die (kultur)politische Einflussnahme der seit 2003 amtierenden konservativ-islamischen AKP-Regierung noch zurückhaltend. Noch überwiegt in einem Stadtteil wie Beyoğlu der liberale, kosmopolitische und von Vielfalt geprägte Anschein. Obgleich im Nachhinein sichtbar wird, dass bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Ausbau der Kültür-Merkezis seit Mitte der 2000er Jahre oder der Schließung des Atatürk-Kulturzentrums am zentralen Taksim-Platz 2008 die Weichen für die kommenden Jahre gestellt wurden. Ebenso fällt aus der Rückschau auf, dass Festivals wie das Internationale Theaterfestival (seit 1989) oder die Biennale (seit 1989), aber auch ein Museum für Moderne Kunst wie das Istanbul Modern (eröffnet 2004), die einen Anschluss Istanbuls an eine internationale Kulturszene suggerieren, ausschließlich durch private GeldgeberInnen finanziert werden und der türkische Staat diese zu keinem Zeitpunkt gefördert hat (vgl. Erzen 2010: 233).89 Rückblickend hätte diese kulturpolitische Zurückhaltung der Regierung möglicherweise als ein Anzeichen in Hinblick auf den nun einsetzenden kulturpolitischen Wandel gedeutet werden können. Ministerpräsident Erdoğan und seine AnhängerInnen nehmen verstärkt eine offensiv ablehnende Haltung gegenüber zeitgenössischen Kunstformen ein und

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Die Istanbul Foundation of Culture and Arts, welche u.a. die Biennale und das internationale Theaterfestival, veranstaltet, ist ein Zusammenschluss aus mehreren SponsorInnen (u.a. das Unternehmen Eczacıbaşı, Vodafone, DHL, die Hotelkette Marmara), die es sich zum Vorsatz gemacht haben, Istanbul durch Kultur zu modernisieren und global sichtbar zu machen (vgl. www.iksv.org/english/tarihce.asp?ms=1|1; Zugriff 06.11.2018).

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diffamieren einen sog. westlichen »Kulturimperialismus« (vgl. Hartman 2017).90 Orientierte sich die Türkei seit Gründung der Republik 1923 kulturell und politisch verstärkt am Westen, findet nun eine Art Rückverortung der Türkei innerhalb des Islam und der osmanischen Tradition statt: Die türkische Kulturpolitik setzt auf ein Wiederaufleben und Bewahren des nationalen, osmanischen Erbes sowie eine neue Orientierung an konservativ-islamischen Werten.91 Handelte es sich in den ersten Regierungsjahren der AKP noch um eine erneuerte politische Wertschätzung des Islam sowie der osmanischen Historie im öffentlichen Leben, lässt sich seit 2010 zunehmend von einer gezielten kulturellen ReIslamisierung und damit verbundenen De-Säkularisierung der Türkei sprechen. Festmachen lässt sich diese Entwicklung beispielsweise an gesetzlichen Festlegungen, die die Fördermittelvergabe öffentlicher Gelder für Theaterproduktionen an das Einhalten religiöser Sittlichkeit bindet (vgl. Tüsak-Gesetz 2012), aber auch an städtebaulichen Interventionen zur sozialräumlichen »Neuausrichtung« von Beyoğlu als politischem Zentrum der Stadt Istanbul: Das Zentrum der EuropäerInnen, der säkularen Republik, der Theater, wird auf Betreiben der AKP-Regierung sukzessive umgestaltet und einer neuen Deutungshoheit zugeführt. Dabei entledigt man sich der baulichen Relikte vergangener Zeiten wie etwa der Häuser der ehemals christlichen Minderheiten entlang des Tarlabaşı Boulevards oder des AtatürkKültür-Merkezis, Heimat des Staatstheaters und Symbolbau der kemalistischen Republik. Ebenso werden Off-Theater und Bars aus der Gegend verdrängt. Stattdessen wird Beyoğlu zum politischen Machtzentrum einer islamisch-konservativen Regierung entwickelt. Als bauliche Manifestation einer neuen Machtelite entstehen Moscheen und Konsumtempel der Superlative, welche die wiedergewonnene Bedeutung der Religion und die Anknüpfung an die osmanische Kultur an zentraler Stelle repräsentieren. Die städtebaulichen und in Folge sozial-räumlichen Veränderungen resultieren darin, dass das ehemals kosmopolitische, vielfältige und teils subversive Beyoğlu im Zentrum Istanbuls entlang der gesellschaftspolitischen Vorstellung der AKP-Regierung ausgerichtet und dementsprechend homogenisiert wird.92 90 91

92

Vgl. https://www.nzz.ch/feuilleton/erdogans-kulturpolitik-nur-noch-makramee-und-miniaturen-ld.1288742; Zugriff 08.03.2018. So wird etwa in Romanen, Filmen oder TV-Serien das Leben der Sultane spektakulär aufbereitet und die Erfolgsgeschichte einer homogenen, nach islamischen Werten lebenden osmanischen Gesellschaft rekonstruiert; die gelebte kulturelle und ethnische Diversität im Osmanischen Reich wird außer Acht gelassen, ebenso wie militärische Niederlagen, welche den Glanz der Osmanen trüben könnten (vgl. die TV-Serie »Muhtesem Yüzyil« (dt. »Das prächtige Jahrhundert«) aus dem Jahr 2011; die TV-Serie »Dirilis Ertrugul« (dt. »Die Auferstehung des Ertrugul«) aus dem Jahr 2014; der Roman »Şah ve Sultan« (dt. »Schah und Sultan«) von Iskender Pala aus dem Jahr 2010). Abseits dieser Hegemonialbestrebungen um die kulturelle Deutungshoheit in der Stadt koexistiert in Istanbul eine Vielzahl an Kulturen, teils offiziell, teils informell. Der türkische

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»Und man siehet die im Lichte« - Theaterraum Buenos Aires./.Theaterraum Istanbul

Die AKP-Regierung begründet ihr kulturpolitisches Vorgehen damit, Kultur im Sinne der muslimischen Mehrheit zu fördern. Doch es scheint, als sei nicht nur eine muslimische Mehrheit im Land Adressat dieser (kultur)politischen Agenda, sondern darüber hinaus auch eine muslimische Bevölkerung, etwa in den angrenzenden arabischen Ländern. In Gesprächen mit Theaterschaffenden wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die AKP-Regierung Istanbuls insbesondere Beyoğlu zum Touristenziel für Gäste aus arabischen Länder ausbaue; die Betonung des islamischen Erbes und die Anpassung an religiöse Gepflogenheiten wie etwa das Alkoholverbot auf den Straßen steigere dabei die Attraktivität der Stadt (vgl. etwa Interview mit U. Altunkaya am 18.12.2015).93 Die Rückbesinnung auf den Islam und die (kultur)politische Orientierung Richtung Osten steht unzweifelhaft im Kontrast zur Verwestlichungspolitik Atatürks. Doch sei an dieser Stelle eine zu diskutierende Feststellung notiert, die den Rahmen dieser Studie jedoch kurz verlässt und daher nicht weiterverfolgt und verifiziert wird. Inwiefern ging das Vorgehen der AKP-Regierung auf entgegengesetzte zur Art und Weise Atatürks in den 1920er Jahren vonstatten? Der Islam ebenso wie die Anknüpfung an das osmanische Erbe wurden damals aus dem öffentlichen Leben verbannt. Eine junge säkulare Republik etablierte eigene Kulturinstitutionen, beispielsweise staatliche Theaterhäuser, als Identifikationsorte im Sinne ihrer Ideologie. Statt der Einführung und Verteidigung einer freien, unabhängigen Kunst verstand Atatürk die Etablierung eines staatlichen Theaters als zentrale Möglichkeit zur quasipropagandistischen Durchsetzung der durch seine Regierung vertretenden Werte (vgl. Kap. 2.2). Indem die Budgets gekürzt und repräsentative Spielstätten geschlossen werden, sehen sich die staatlichen Theater als ehemals dem kemalistischen Erbe verpflichteten Institutionen heute zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Stattdessen setzt sich die AKP-Regierung für den Ausbau der Kültür-Merkezis ein. Die Aufnahme kommerzieller Theaterproduktionen in den Veranstaltungskalender

93

Schriftsteller Özen Yula beschreibt Istanbul in unserem Gespräch als Mosaik: »Istanbul is a very colourful city, it’s like a mosaique. Each culture such as the Blacks, the Turkish Romas, the Kurdish people have their own lifestyles, their own cultures and their own areas in the city« (Interview mit Ö. Yula am 04.11.2010). Dieses »Mosaik« produziert eigene kulturelle und sozialräumliche Spannungsfelder und prägt die Dynamik dieser Stadt. Jedoch erscheint es mir mit Blick auf den Theaterraum von Istanbul, dass insbesondere die angeführte Polarisierung, zwischen einer, vereinfacht gesagt, säkularen und religiösen Bevölkerung, einen immer prägenderen Einfluss gewinnt. Seit der Regierungsübernahme durch die AKP (2003) konzentriert sich auch die türkische Außenpolitik geopolitisch wieder in Richtung »Naher Osten«: So werden die über lange Zeit vernachlässigten diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten ausgebaut, die Türkei positioniert sich als Vermittlerin im Nahen Osten; die Einreisebestimmungen für BewohnerInnen der umliegenden arabischen Länder wie Tunesien, Kuwait oder Oman werden deutlich erleichtert etc. (vgl. Faath 2011: 19).

4. Theaterraum Istanbul. Kulturhauptstadt am Scheideweg

erfolgt entsprechend den islamisch-konservativen Wert- und Moralvorstellungen der Regierung. Damit geht der gezielte Ausschluss von Personen/Theatergruppen einher, welche diese Vorgaben nicht erfüllen,94 sowie – umgekehrt – die Beeinflussung der Allgemeinheit im Sinne der neuen Staatsräson. Stand früher die kemalistische Vorstellung eines Theaters im Vordergrund, das die BesucherInnen »säkularisiert«, spiegelt sich in der Programmgestaltung der staatlichen Theaterinstitutionen ebenso wie der Kültür-Merkezis heute die homogenisierende, systemkonforme und islamisch-konservative Vereinnahmung durch Erdoğan & Co. Diese strukturelle Analogie bei gleichzeitig maximaler inhaltlicher Unterschiedlichkeit führt zum Kerngedanken dessen, was PolitikwissenschaftlerInnen eine »defekte Demokratie« nennen: Der strukturelle »Defekt« innerhalb der politischen Abläufe wurde lange vor Erdoğans Regierungszeit durch Atatürk etabliert.95 Obwohl Atatürk demokratische Grundwerte wie die Gewaltenteilung oder den Parlamentarismus im Munde führte, blieb er dabei, über den politischen Wechsel seiner Zeit top down zu verfügen, sodass sich diese Werte gesellschaftlich nicht als demokratische Entwicklung von unten her durchsetzen konnten. Sein politisches Vermächtnis bleibt im strukturellen Kern das eines Autokraten, sein politischer Stil und geschichtlicher Mythos der des starken Manns – der Mythos eines »Vaters aller Türken« (Atatürk), an den Erdoğan problemlos, wenn auch unter diametral veränderten inhaltlichen Vorzeichen, anknüpfen konnte. 94

95

Wie bereits weiter oben ausgeführt: In Hinblick auf den Ausbau der Kültür-Merkezis und den zeitgleichen Rückzug aus den staatlichen Theatern schreibt die Soziologin Asu Aksoy noch 2009, dass der türkische Staat im Zuge der Kulturpolitik der AKP seine Rolle als Hauptproduzent im Kultursektor zugunsten einer moderierenden Rolle aufgibt (vgl. Aksoy 2009: 197). Im Hinblick auf die Entwicklungen der letzten Jahre muss hierbei jedoch nicht mehr nur von einer moderierenden als vielmehr von einer kontrollierenden Rolle gesprochen werden (vgl. Kap. 4.2-4.4). Dieser Defekt ist eng mit der Idee des türkischen Nationalismus verbunden, der bis heute verfassungsrechtlich verankert ist. Er wird staatlich gefördert, um jegliche mögliche Emanzipationsbewegung von Kulturen und Ethnien innerhalb des Landes zu unterbinden (vgl. Karakas 2013). Der Politologe Cemal Karakas beschreibt den »Defekt« weiterhin als »osmanischkemalistisches Erbe«: »[So] betont das kemalistische Verständnis von Republikanismus nicht etwa die Relevanz der res publica, des Gemeinwesens, sondern die übergeordnete Stellung der Staatssouveränität und ihrer Organe gegenüber der Volkssouveränität. Hieraus resultiert der paternalistische Charakter des Staates, des »devlet baba« (übersetzt in etwa »Vater Staat«), gegenüber seinen als weitgehend unmündig angesehenen BürgerInnen. Weitere strukturelle Besonderheiten dieses Demokratieverständnisses sind die mangelnde Gewaltenteilung und die mit zehn Prozent europaweit höchste Wahlhürde. […] Die AKP hat die kemalistischen Demokratiedefekte nicht geschaffen, doch sie profitiert davon, indem sie sie für eigene Zwecke nutzt und, trotz Wahlversprechen, die strukturellen Defizite nicht beseitigt (vgl. Karacas 2013, www.dw.com/de/die-defekte-t %C3 %BCrkische-demokratie/a-16896161; Zugriff 18.03.2018).

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Wenn sich auch die Ziele Atatürks und der AKP-Politik nicht deutlicher unterscheiden könnten, so nutzen sie doch beide eine ähnliche kulturpolitische Strategie. In beiden Denkweisen kommt dem Theater eine gesellschaftsbildende bzw. erzieherische Rolle zu: Die Künste stehen zur Verfügung und Disposition; sie stellen keine unabhängige, freiheitliche Größe dar.96 Die beschriebenen Wendepunkte der in dieser Studie untersuchten Jahre zwischen 2010 und 2015 bilden die (kultur)politische Grundlage einer Entwicklung, die auch nach 2015 – nach allem, was ich durch die Vermittlung der Medien sowie meiner privaten Kontakte vor Ort und im Exil beurteilen kann – in dieselbe sich zunehmend zuspitzende Richtung weist: in Richtung eines autoritären Staats an der spannungsgeladenen Nahtstelle zwischen kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen, sowohl aus den westlichen Ländern, vornehmlich aus dem säkularen Europa als auch aus Ländern, die durch die vorherrschende Staatsreligion des Islams geprägt sind. Im Grunde hat die Türkei die DNA eines autoritären Staates nie überwunden. Das lässt sich an den Öffnungs- und Schließungsbewegungen rund um das Theater exemplarisch ablesen.

96

Artikel 27 der türkischen Verfassung (von 1982) garantiert zwar die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, jedoch steht in der Präambel zur Verfassung geschrieben, »daß keine Meinung und Ansicht gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird […]«; vgl. www.verfassungen.eu/tr/; Zugriff 01.01.2019. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang nicht nur die zahlreichen Entlassungen von SchauspielerInnen und RegisseurInnen wie Arda Aydın, Mahberi Mertoğlu, İrem Arslan, Mahberi Mertoğlu, Sevinç Erbulak, Ragıp Yavuz oder Kemal Kocatür (im August 2016) (vgl. https://freemuse.org/resources/art-under-threat-in-2016/turkey/; Zugriff 13.10.2018), sondern auch die Verhaftung von Regisseur Memet Ali Alabora, dem kurdischen Sänger Nûdem Durak oder dem Schriftsteller Doğan Akhanlı (vgl. https://freemuse. org/; Zugriff 13.10.2018).

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Ausgangspunkt vorliegender Studie bestand in folgender Vermutung: Betrachten wir Theater nicht nur durch die ästhetische Brille, bewerten sie nicht nur anhand der künstlerischen Ergebnisse ihrer Bühnen, erweisen sie sich als aussagekräftige Knotenpunkte innerhalb gebauter wie gelebter städtischer Strukturen. Theater wären demzufolge nicht nur Ausdruck des kulturellen, künstlerischen Lebens in diesen Städten, sondern Produkt ihrer gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Ein Produkt, an dem sich nicht nur Erkenntnisse im Hinblick auf die stadtspezifische Verfasstheit der Theaterräume von Buenos Aires oder Istanbul ablesen ließen: Erst die Kombination und Verschränkung von Theater- und Stadtforschung sollte darüber hinaus spezifische Blickwinkel auf Zusammenhänge und Vorgänge in Gesellschaft, Stadtraum und Politik der beiden Städte Buenos Aires und Istanbul eröffnen. Ausgehend von einem Rückblick in die Theatergeschichte der beiden Städte und Länder (Kapitel 2) wurden die Theaterräume von Buenos Aires und Istanbul in ihrer stadtspezifischen Verfasstheit als Resultat biografischer, betrieblicher, (kultur)politischer, stadt- und sozialräumlicher Bedingtheiten untersucht (Kapitel 3 und 4). Das folgende letzte Kapitel meiner Studie beschreitet den Weg der Ordnung, Verdichtung und Abstrahierung dieser Ergebnisse und Erkenntnisse. Im Zuge dessen arbeite ich drei sog. Wirkmuster heraus, welche maßgeblich nicht nur zum Verständnis des Theaterraums, sondern insbesondere von Entwicklungsprozessen, vorherrschenden politischen ebenso wie sozialen Veränderungsdynamiken und damit einhergehenden Konfliktpotentialen in den beiden ausgewählten Städten beitragen: 1. (De)Zentralisierung 2. (Un)Sichtbarkeit 3. (Il)Liberalisierung

Jedes dieser drei Wirkmuster bezieht sich auf zwei Pole, welche in einem dynamischen und reziproken Verhältnis zueinander stehen; mitunter verhalten sich ihre Polaritäten dialektisch: Ein Pol ist ohne den anderen nicht zu denken. Je nach

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Betrachtungsebene oszillieren sie und tauschen ihre Vorzeichen: Ohne dass jemals das Pendel komplett in die eine oder andere Richtung ausschlüge, bezeichnen die Polaritäten dennoch ein grundlegendes Koordinatensystem der dominierenden Entwicklungsfaktoren bzw. Wirkmuster der Theaterräume in beiden Städten. Die gegenüberstellende Betrachtung von Buenos Aires und Istanbul lässt erkennen, wie sehr die angeführten Pole in ihrer Ausprägung innerhalb der beiden Städte differieren und welch unterschiedliche Ursachen und Dynamiken ihrem Auftreten zugrunde liegen. So kommt jedem der drei Wirkmuster im Kontext der jeweiligen Stadt die Komplexität eines eigens zu untersuchenden neuen Forschungsfeldes zu: Tatsächlich werden immer wieder mögliche weitere Forschungsdesiderate erkennbar, die im Rahmen weiterführender Studien zu entwickeln und vertiefen wären, hier aber höchstens als Randnotizen und Fußnoten angedeutet werden. Im Fokus des vorliegenden Kapitels steht dagegen die Untersuchung der identifizierten drei Wirkmuster, welche die Theaterräume in Buenos Aires und in Istanbul in signifikantem Maß1 bestimmen; im Hintergrund schwingt stets die Forschungshypothese meiner gesamten Arbeit mit: Hat die Applikation des in Kapitel 1 vorgestellten Forschungsdesigns, die Untersuchung des Theaterraums anhand der vier analytischen Zugänge – »Hinter den Kulissen«, kulturpolitische Rahmenbedingungen, städtischer- und sozialer Raum – tatsächlich einen bestimmten Blickwinkel auf die jeweilige Stadt generiert und im Zuge dessen spezifische Erkenntnisse in Hinblick auf Zusammenhänge und Vorgänge in Gesellschaft, Stadtraum und (Kultur)Politik der beiden Städte erbracht? Wenn ja: Worin bestehen diese?

5.1.

Wem gehört die Bühne? (De)Zentralisierung in Buenos Aires und Istanbul

Mit (De)Zentralisierung wähle ich – genau wie zur Beschreibung der weiteren Wirkmuster – eine Überschrift, die in loser Zusammenfassung eines Begriffspaares, zum einen den engen dialektischen Zusammenhang zweier Polaritäten ausdrückt und zum anderen im Kontext verschiedener Forschungsperspektiven unterschiedliche Ausprägungen annimmt. Ich verzichte diesbezüglich auf eine eindeutige Definition des (De)Zentralisierungsbegriffes: Ohne relationalen Kontext erscheinen Begriff bzw. Konstrukt des 1

»Signifikant« in einem logisch-argumentativen, nicht in einem statistisch-stochastischen Sinn: Als hinreichende, wenn auch nicht notwendige Bedingung für einzelne Entwicklungen. Man könnte von Theater als signifikantem (Standort)Faktor der stadtgesellschaftlichen Entwicklung sprechen – einem Faktor, dem bei näherer wissenschaftlicher Untersuchung die Rolle eines Seismographen oder Markers zur Betrachtung einzelner Entwicklungsstränge zukommt.

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Zentrums zwar kaum greifbar – immer aber provoziert er die Frage nach der Deutungshoheit: Wo liegt das Zentrum? Wer definiert es? Wer oder was steht im Zentrum? Welche Denkweise wird anhand des Umstands erkennbar, dass es überhaupt so etwas wie ein Zentrum gibt?

5.1.1.

Kultur für alle oder Spiele für das Volk?

In Istanbul lässt sich eine dezentrale Verteilung der staatlichen Spielstätten und kommerziellen Veranstaltungsorte im Stadtraum feststellen: Dezentralisierung bedeutet eine Verringerung der Anfahrtswege und bietet somit in einer Stadt der Größe Istanbuls auch BewohnerInnen in weniger zentral gelegenen Gegenden der Stadt Zugang zu Theaterangeboten und damit Teilhabe an einem staatlich geförderten Kulturangebot. Durch das niedrige Preisniveau der Tickets, sowohl in staatlichen Spielstätten als auch in den Kültür-Merkezis, wird darüber hinaus auch weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten ein Vorstellungsbesuch ermöglicht. Ebenso wird durch die Niedrigschwelligkeit des Programmangebots, das meist auf Unterhaltung setzt, ein Publikum angesprochen, das bisher möglicherweise nicht ins Theater ging. Die Dezentralisierung der Theaterspielstätten in Istanbul könnte demzufolge als sozialpolitischer Impetus gemäß dem Anspruch einer »Kultur für alle« verstanden werden. Bei Betrachtung der Programmgestaltung ebenso wie durch die Aussagen der Dramaturginnen an den staatlichen Theatern wurde jedoch deutlich, dass sich eher von »Spielen für das Volk« sprechen lässt, handelt es sich doch fast durchweg um Unterhaltungstheater. Das Programm der einzelnen Spielstätten ähnelt sich dabei zunehmend, da die Produktionen oftmals zwischen den Veranstaltungsorten innerhalb Istanbuls touren, vgl. die in Kapitel 4.2. erwähnten Projekte des Minerva Tiyatro oder des Karart Tiyatro. Der nähere Blick auf die Produktionen ebenso wie die Aussagen meiner GesprächspartnerInnen aus dem kommerziellen Theaterbereich bestätigten eine deutliche Ausrichtung dieser Spielpläne gemäß dem kulturellen Selbstverständnis und damit den konservativ-islamischen Moralund Wertvorstellungen der regierenden AKP-Partei, sodass sich zusammenfassend von einer bewussten ideologischen Lenkung sprechen lässt.

5.1.2.

Theater und der Standort: Broadway und Off-Broadway

Anders als in Istanbul lässt sich in Buenos Aires eine räumliche Zentralisierung des staatlichen und kommerziellen Theaters ausmachen. Die meisten dieser Theaterhäuser befinden sich entlang der oder in unmittelbarer Nähe zur Avenida Corrientes – einer Gegend, die teilweise zum Microcentro, dem offiziellen Zentrum von Buenos Aires zählt. Wie in Kapitel 3.4. beschrieben, ist das Leben auf den Straßen im Microcentro tagsüber durch Angestellte, KonsumentInnen und TouristInnen

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bestimmt. Auf den ersten Blick steht damit das Zentrum von Buenos Aires in einer Reihe mit einigen europäischen oder amerikanischen Innenstädten, welche wie die Stadtethnologin Kathrin Wildner schreibt, »tagsüber vor Geschäftigkeit surrende Konsumparadiese bilden, des Nachts aber wie stumme Kulissen eines abgesetzten Theaterstückes erscheinen« (Wildner 2003: 174). Doch bereits am frühen Abend beleben die Theater das Microcentro erneut. In Buenos Aires dauern die Vorstellungen bis spät in den Abend, teils bis tief in die Nacht: Durch die geballte Präsenz der staatlichen und kommerziellen Theater entlang des Broadways zieht diese Gegend als Unterhaltungs- und Ausgehviertel TheaterbesucherInnen an, welche hier ihren Abend verbringen, ins Theater gehen, vor oder nach einer Vorstellung umliegende Restaurants oder Bars aufsuchen. Nicht nur die Anwesenheit von TheatergängerInnen, ihr Verhalten oder ihre Garderobe, sondern vor allem die wiederkehrende Regelmäßigkeit, der Rhythmus ihres Auftretens, welcher durch die Vorstellungszeiten bestimmt ist – das Kommen und Gehen, das Warten vor dem Ticketschalter, sowie das Einreihen vor dem Einlass – prägen entscheidend die Atmosphäre entlang der Avenida Corrientes und damit auch des Microcentro. Die geballte Präsenz der Theater steigert maßgeblich die Aufenthaltsqualität im »Zentrum«: Durch die Zentralisierung der Theater wird eine Extension des Konsumerlebnisses über die Ladenschlusszeiten hinaus ermöglicht, welche dazu beiträgt, dass das Microcentro nachts nicht zur stummen Kulisse wird. Dies könnte einer der wesentlichen Gründe für die kulturpolitische Steuerung der Zentralisierung der staatlichen und kommerziellen Theater in Buenos Aires darstellen: So besteht deren Förderung u.a. in eigens zum Erhalt zentraler kommerzieller Standorte verabschiedeten Gesetzen oder in bewusster Vernachlässigung städtischer Spielstätten in anderen Stadtteilen (vgl. Kap. 3.2). Wurde in den 1970er Jahren durch den Bau eines städtischen Theaters, wie den des Teatro de la Ribera in La Boca, kulturpolitisch eine Dezentralisierung von Theater zugunsten der Aufwertung eines als marginalisiert geltenden Stadtteils und damit eine gesellschaftliche An-/Einbindung der dortigen BewohnerInnen unterstützt, scheint heute das kulturpolitische Interesse verstärkt eine Zentralisierung von Theater zu befördern: Wie die Untersuchung ergeben hat, kommt einer Spielstätte wie dem Teatro de la Ribera nicht annähernd derselbe kulturpolitische Stellenwert, etwa in Hinblick auf die Finanzierung der Gebäuderenovierung zu, wie beispielsweise dem Teatro San Martín an der Avenida Corrientes. Die kulturpolitische Förderung der Zentralisierung der Theaterhäuser leitet sich aus deren potentieller Rolle als weichem Standortfaktor her. Denn Kultur – in diesem Fall Theater – wird zunehmend als einer der Hauptattraktoren für TouristInnen, Unternehmen sowie kreative, kulturinteressierte BewohnerInnen gehandelt, die wiederum der Ankurbelung der städtischen Wirtschaft dienen (Landry

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

2008: 9, 260; Siebel 2015).2 Durch Kultur kann das Image einer Stadt aufgewertet und damit ihre höherwertige Stellung im internationalen Städtegefüge behauptet werden; ein Aspekt, der auch im folgenden Abschnitt zum Thema »(Un)Sichtbarkeit« noch einmal Erwähnung finden wird. Und dass es sich in Buenos Aires nicht um irgendein Kulturangebot handelt, wird BewohnerInnen ebenso wie TouristInnen bereits durch die umgangssprachlich synonyme Verwendung von »Avenida Corrientes« und »Broadway« vor Augen geführt, welche eine Assoziation und damit Vergleichbarkeit zu New York suggeriert. Im Vergleich zu den staatlichen und kommerziellen Theaterhäusern verteilen sich zwar die Spielstätten der Off-Theater und die Gruppen des Teatro Comunitario (T. C.) weiträumiger im Stadtgebiet von Buenos Aires, doch mit Blick auf die sozialräumlichen Bedingtheiten lässt sich auch hier eine Ballung und damit Zentralisierung innerhalb weniger Stadtteile feststellen: Wie die Rechercheergebnisse zeigen, befinden sich die Spielstätten der Off-Theater ebenso wie die Gruppen des T. C. überwiegend in Wohngegenden der Mittelschicht im Westen von Buenos Aires. Ähnlich wie die staatlichen und kommerziellen Theater wirken auch die OffTheater maßgeblich als Standortfaktoren, da sie zur Aufwertung und damit zur Gentrifizierung von Wohngegenden der Mittelschicht beitragen (vgl. Abasto, Palermo, Villa Crespo). Es ist auffällig, dass sich die Off-Theater in ihrer Standortwahl ausschließlich auf die soeben erwähnten Gegenden der Mittelschicht beschränken und nicht auf die, als marginalisiert geltenden, Stadtteile im Süden von Buenos Ai-

2

Theaterangebote bilden dabei nur einen Standortfaktor unter vielen. Laut des Stadtforschers Charles Landry zählen Theater neben der Film- und Musikindustrie oder der Designwirtschaft zu den wirksamen Faktoren, die gefördert werden müssen, um das kreative Potential einer Stadt als innovationsfreudigem Standort mit einem entsprechend zukunftsweisenden Wettbewerbsvorteil zu fördern (Landry 2008: 9, 260). Oder, wie es der Soziologe Walter Siebel in seiner Querschnittsstudie »Kultur der Stadt« (2015) ausdrückt: »Im Rahmen von Stadtpolitik fungieren Kunst und Kultur heute als Allzweckwaffe: zur Förderung des Tourismus und damit der lokalen Wirtschaft, für Imagekampagnen, als Magnet für Investoren und Kreative und als Speerspitze bei den Bemühungen, heruntergekommene Standorte aufzuwerten« (Siebel 2015: 272). Siebel bezieht sich dabei u.a. auf das Beispiel der Erneuerung des Times Square in New York: »Die Erneuerung des Times Square in New York und der angrenzenden Straßenzüge ist eines der prominentesten Beispiele für (Unterhaltungs-)Kultur als Entwicklungsmotor und für den Einsatz von Symbolen zur Produktion von städtischem Raum durch eine Koalition von Politik und Wirtschaftsinteressen« (ebd.).

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res ausweichen, obgleich dort wahrscheinlich günstigere Mieten zu erwarten wären.3 Spekulativ bleibt derzeit, ob durch die anhaltende Verdrängung der BewohnerInnen aus den angestammten Wohngegenden der Mittelschicht im Westen von Buenos Aires irgendwann auch der Süden der Stadt als Alternative sowohl als Wohnort als auch in Hinblick auf die Standortwahl der Off-Theater in Erwägung gezogen wird.

5.1.3.

Die große Theaterwanderung: Migrationsbewegungen in Istanbul

Während in Buenos Aires die Standorte der Theater, insbesondere die der staatlichen und kommerziellen Theaterhäuser, teils unverändert seit mehreren Jahrzehnten bestehen, ist der Theaterraum Istanbuls seit Ende der 2000er Jahre durch eine anhaltende innerstädtische Migration der Theater und deren MacherInnen geprägt. Den Begriff der Migration beziehe ich in diesem Kontext auf die Wanderung und Umsiedlung von Theatern und ihrer MacherInnen innerhalb der Stadt Istanbul. Teils handelt es sich um eine staatlich verordnete, teils um eine mehr oder weniger selbst gewählte Migration. Kurz sei diese nochmals dargelegt: Bereits 2008 migrierte das Staatstheater von seinem angestammten Hauptsitz am zentralen Taksim-Platz in zwei Kinosäle der Cevahir-Shopping Mall im Stadtteil Şişli; das städtische Theater bezog fast zeitgleich den hinteren Trakt eines Kongresszentrums, nördlich des Taksim-Platzes gelegen. Gruppen aus dem Bereich des kommerziellen Theaters gaben im Lauf der letzten Jahre fast alle ihre eigenen Spielstätten auf und touren seitdem zwischen den Veranstaltungssälen einiger Shopping Malls und den dezentral auf das gesamte Stadtgebiet verteilten Kültür-Merkezis hin und her. Und auch die Off-Theater migrierten: Obgleich noch 2010 ein Großteil der Off-Theater in Beyoğlu, nahe der İstiklâl Caddesi, beheimatet war, hatten die meisten der TheatermacherInnen ihre Spielstätten 2015 aufgegeben und waren in andere, oftmals liberalere Gegenden der Stadt gezogen. Wie in Kapitel 4.3. und 4.4. dargestellt, bildet die Hauptursache für die Emigration der Off-Theater die staatlich forcierte »Aufwertung« von Beyoğlu. Der Wegzug der Off-Theater aus dieser Gegend ist nicht nur ein Nebeneffekt dieser Aufwertung, sondern ist parteipolitisch im Sinne einer stadt- und sozialräumlichen Neuausrichtung des »Zentrums« gewollt. 3

Wie in Kapitel 3.4. beschrieben, erfahren Stadtteile, die als marginalisiert gelten und im Süden der Stadt Buenos Aires liegen, eine Aufwertung fast ausschließlich durch staatlich initiierte Baumaßnahmen, wie etwa das Teatro de la Ribera in den 1970er Jahren in La Boca. Diese einzelnen Prestigeprojekte bilden mittlerweile jedoch keine Theaterinstitutionen mehr, sondern, wie beispielsweise das Centro Metropolitano de Diseño im Stadtteil Barracas, Zentren, welche sich in Form von Workshops, Ausstellungen und Vorträgen mit der Verknüpfung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur auseinandersetzen.

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Im Zuge der innerstädtischen Migrationsbewegung gelangten viele TheatermacherInnen in den auf der asiatischen Seite gelegenen Stadtteil Kadıköy, der durch die CHP regiert wird. Der Zuzug der TheatermacherInnen und die Ansiedelung der Spielstätten führten zu einer Aufwertung des Stadtteils Kadıköy, die zunächst als klassische Gentrifizierung bezeichnet werden könnte. Vor dem Hintergrund der politisch motivierten Migrationsbewegung lässt sich jedoch erkennen, dass die Attraktivität Kadıköys nicht in leer stehenden Häusern oder günstigen Mieten begründet liegt, sondern in der vergleichsweisen liberalen Atmosphäre dieses Stadtteils: Hier können TheatermacherInnen ohne stetige Repression von offizieller Stelle arbeiten. Es zeigt: Die Gentrifizierung eines Stadtteils wie Kadıköy erfolgt nicht länger aufgrund ökonomischer Faktoren, wie den günstigen Mietpreisen oder der zentralen Lage, vgl. die Aufwertung von Galata oder Cihangir seit Ende der 1990er Jahre (vgl. Kap. 4.4), sondern ist weit mehr durch politische Faktoren bestimmt.4 An der innerstädtischen Migrationsbewegung lässt sich exemplarisch der politische und kulturpolitische Wandel der letzten fünfzehn Jahre ablesen. Dieser führte nicht nur zu einer symbolischen Neubesetzung des politischen Zentrums Beyoğlu, sondern manifestiert darüber hinaus eine räumliche Fragmentierung entlang von Stadtteilgrenzen entsprechend der politischen Gesinnung ihrer BewohnerInnen. Befördert wird diese Fragmentierung durch die städtische Politstruktur, welche die einzelnen Istanbuler Stadtteile jeweils einer eigenen Stadtteilregierung unterstellt,5 welche maßgeblich das öffentliche Leben innerhalb eines Stadtteils bestimmt.6

5.1.4.

Hinter den Fassaden: Steuerung und Zentrifugalkräfte

Doch erleben die Theaterräume Istanbuls tatsächlich eine Dezentralisierung? Weist nicht die dezentrale Anordnung von staatlich geförderten Theaterangeboten Züge eines kulturpolitischen Zentralismus aus? Denn was auf den ersten Blick nach einer dezentralen Kulturpolitik mit Kulturangeboten »für alle« vor Ort aussieht, entlarvt sich, entlang der programmatischen Linien und des dahinter erkennbaren kulturpolitischen Willens betrachtet, als zentralistische politische Steuerung mit Zügen

4

5

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Diese im Rahmen der Untersuchung des Theaterraums beobachtete Form der Gentrifizierung ließe sich in einer weiterführenden Studie näher untersuchen und könnte als Fallbeispiel für die weltweit unterschiedlich auftretenden Modifikationen von Gentrifizierung dienen, wie sie etwa in dem 2015 erschienen Sammelband »Global Gentrifications« (Lee/Shin/Lopez-Morales 2015) angeführt werden. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Studie werden diese entweder durch die regierende islamisch-konservative AKP oder durch die größte Oppositionspartei, die sozial-liberale CHP, gestellt. Ein Gesichtspunkt, der aufgrund der zentralistischen stadtpolitischen Steuerung der Capital Federal auf Buenos Aires nicht zutrifft.

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des Versuchs einer kulturellen und sozialen Gleichschaltung. Umgekehrt ließe sich wiederum die beschriebene Dezentralisierung der Off-Theater – aus dem Blickwinkel einer Binnensicht ihrer MacherInnen und UnterstützerInnen betrachtet – eher als Rückzug, Zusammenschluss, Solidarisierung, also eine Art Zentralisierung innerhalb verbleibender liberaler, CHP-regierter Stadtviertel, hauptsächlich innerhalb Kadıköys, begreifen. In Buenos Aires hingegen lässt sich räumlich eine Zentralisierung des staatlichen und kommerziellen Theaters feststellen, welche repräsentativ die zentralistische Ausrichtung der Stadtregierung zu unterstreichen scheint. Doch hinter der Fassade, im Gespräch mit den TheatermacherInnen, wurde deutlich, wie sehr sich diese von politischen EntscheiderInnen distanzieren und stattdessen ihre Unabhängigkeit betonen. Trotz der räumlichen Zentralisierung lassen sich in der Haltung der TheatermacherInnen aller drei Bereiche gegenüber dem Staat eher zentrifugale Tendenzen erkennen: ein Aspekt, der nochmals Erläuterung im Abschnitt zu »(Il)liberalisierung« finden wird.

5.2.

Die im Dunkeln sieht man nicht: (Un)Sichtbarkeit in Istanbul und Buenos Aires

Wer wird wann, wo und wie sicht- und hörbar? Diese Frage stellte sich bereits in Hinblick auf den in Kapitel 1 erwähnten Findungsprozess der Theater in den beiden Städten Buenos Aires und Istanbul: Die kommerziellen und staatlichen Theaterhäuser, welche in der Stadt und auch online im Netz einfach auszumachen waren; im Gegensatz dazu die Off-Theater – kaum zu finden oder zu beziffern, weder im städtischen, noch im digitalen Raum. Auch im Rahmen der in Kapitel 2 angelegten »Theatergeschichte(n)« tauchte das Wirkmuster »Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit« auf: Die Theatergeschichte ließ sich nur anhand der überlieferten, folglich sichtbaren Zeugnisse rekonstruieren, welche maßgeblich durch die (kultur)politischen Bestrebungen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte bestimmt ist. So fanden sich Belege für die ersten Theaterhäuser in der Stadt Buenos Aires oder das Theater am Sultanshof in Istanbul, jedoch kaum Ausführungen zu Theaterveranstaltungen, die weniger im Sinne der Regierenden und herrschenden Schichten waren, und damit wahrscheinlich im Untergrund oder im Privaten stattfanden. Wie bereits an anderer Stelle angemerkt, wird zwar dieser Problematik im Rahmen des postkolonialen Diskurses begegnet, indem Machtstrukturen und Ursachen kritisch analysiert und dekonstruiert wer-

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

den, doch lassen sich die Lücken in der Geschichtsschreibung nur rudimentär rekonstruieren.7 Im Folgenden wird auf die (Un)Sichtbarkeit der drei Theaterbereiche eingegangen: Welche gesellschaftliche Bedeutung der Theater impliziert ihre Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit? Was wird etwa kulturpolitisch in Szene gesetzt, was bewusst verdeckt? Inwieweit bedingen sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gegenseitig?

5.2.1.

Theater im städt. Schaufenster: Sichtbarkeit in Buenos Aires

In Buenos Aires sind die staatlichen und kommerziellen Theaterhäuser, ob nun aufgrund ihrer bereits besprochenen zentralen räumlichen Lage oder durch ihre architektonische Erscheinung sowie die Werbebanner an den Außenwänden der Gebäude, sichtbar im Stadtraum verortet. Genauso stellt sich die Situation im Web und im Rahmen der touristischen Vermarktung, etwa in Informationsbroschüren für TouristInnen oder internationalen Printmedien dar: Insbesondere die kommerziellen Theater präsentieren sich sichtbar als profitorientierte Unternehmen, um die Aufmerksamkeit eines potentiellen Publikums auf sich zu lenken. Doch durch eben diese Sichtbarkeit rücken die Theater nicht nur in den Fokus der Aufmerksamkeit derjenigen, die als ZuschauerInnen selbst in die Theater gehen, sondern auch von denjenigen, die nicht zum Zielpublikum zählen, wie die kurzen Gespräche mit BewohnerInnen von Villa Lugano zeigten: Sie assoziieren Theater mit der Avenida Corrientes und damit dem Zentrum der Stadt; Abasto hingegen, das Barrio, in dem sich die Off-Theater ballen, findet in keinem der Gespräche Erwähnung. Repräsentierten die staatlichen und kommerziellen Theaterhäuser in ihrer prestigeträchtigen Lage nahe den politischen Institutionen in den 1970er und 1980er Jahren noch die Nähe zur herrschenden Militärjunta (vgl. Kap. 2.2), dienen sie heute dazu, das Image von Buenos Aires als Kulturmetropole zu unterstreichen. Doch das Image baut nicht allein auf Kultur: In Kapitel 2.2. zur Theatergeschichte wurde deutlich, dass Argentinien und insbesondere Buenos Aires spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts politisch von argentinischer Seite als »Außenposten

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In diesem Sinne tragen viele meiner geführten Interviews das Potential von Zeitzeugengesprächen der jüngeren Zeitgeschichte im Sinne einer »Oral History« in sich: mithin also einer historiografischen Methodik, deren erklärtes Ziel es ist, die Lücken offizieller Geschichtsschreibung zu schließen. Natürlich stößt ein solches Vorgehen an die Grenzen der biologischen Lebenszeit der ZeitzeugInnen und damit an die Grenzen der Verfügbarkeit von Wissen. Anders formuliert: Natürlich reicht das Vorgehen nur so weit in die jüngere Zeitgeschichte zurück, wie es die Lebenszeit der ZeitzeugInnen zulässt. Für meine Argumentation bleibt die Feststellung des Wirkmusters (Un)Sichtbarkeit aufgrund der abgeschlossenen Geschichtsschreibung früherer für meine Betrachtung relevanter Epochen dennoch relevant.

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Europas« verstanden wurde. An den staatlichen und kommerziellen Theaterhäusern wird sichtbar, dass das Zentrum von Buenos Aires bis heute von starken Bezügen zu Europa und Nordamerika dominiert wird. So zitieren etwa das Teatro Colón oder das Teatro Cervantes europäische Baustile, während die kommerziellen Theater die bereits genannte »Nähe« zu New York suggerieren. Mit dieser Form der Inszenierung u.a. der europäischen Wurzeln wird nicht zuletzt ein Versuch der Distinktion gegenüber anderen lateinamerikanischen Städten, etwa Rio de Janeiro oder Lima, unternommen. Wie im vorangehenden Abschnitt zu »(De)Zentralisierung« beschrieben, wirken die Theaterhäuser an der Avenida Corrientes eindeutig als Bestandteil des Stadtmarketings von Buenos Aires und damit als Teil dessen, was die Soziologin Sharon Zukin als »symbolische Ökonomie« bezeichnet (Zukin 1995: 269). Die Theater generieren nicht allein eine dieser Gegend (dem Microcentro) eigene Identität, sondern »zugleich bieten sie ebenso die Mittel wie die Symbolik für eine kommerzielle Vermarktung des städtischen Raums,« wie Zukin es stellvertretend in Bezug auf den Broadway in New York beschreibt (Zukin 1998: 30).

5.2.2.

Von der Bildfläche verschwunden? Unsichtbarkeit in Istanbul

Während die staatlichen und kommerziellen Theaterhäuser politisch gewollt im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft von Buenos Aires zugegen sind, ist in Istanbul das Gegenteil festzustellen: Sowohl staatliche als auch kommerzielle Theater wurden in den letzten fünfzehn Jahren nicht nur aus der zentralen Lage verdrängt, sondern besitzen zudem kaum noch eigene Gebäude, wie beispielhaft die bereits mehrfach angeführten Hauptspielstätten des Staatstheaters in der Cevahir Mall und des städtischen Theaters im Kongresszentrum zeigen. Kommerzielle Theatergruppen ebenso wie die staatlichen Ensembles treten verstärkt in den multifunktional genutzten Veranstaltungssälen von Kültür-Merkezis oder Shopping Malls auf. Die Theaterspielstätten sind damit von außen nicht als solche erkennbar und werden aufgrund ihrer räumlichen Einbettung lediglich zum Bestandteil eines weit größeren, stetig variierenden Konsumangebots. Eine Identifikation der ZuschauerInnen findet wahrscheinlich weit mehr mit dem oft multifunktionalen Veranstaltungsort statt, und nicht mit einer temporär auftretenden Theatergruppe und ihrer Produktion. Es ist anzunehmen, dass die fehlende Präsenz dieser Spielstätten im städtischen und sozialen Raum Istanbuls auf längere Zeit ein Vergessen dieser Institutionen in der Öffentlichkeit mit sich bringen wird.8

8

Welche Bedeutung aus dem Fehlen der entsprechenden kulturellen Angebote und der durch sie repräsentierten Gruppen und Schichten der Stadtgesellschaft bereits entstanden ist und bei ihrem endgültigen Wegfall erwachsen wird, ist zum Zeitpunkt vorliegender Publikation

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Doch die Wirkung der Unsichtbarkeit der staatlichen Theaterhäuser geht noch weiter: Sie befördert nicht nur deren kollektives Vergessen, sondern zudem die politisch forcierte stadt- und sozialräumliche Neuausrichtung des vormaligen kemalistischen, säkularen Zentrums um den Taksim-Platz in Beyoğlu. Während Buenos Aires im Zentrum der Stadt u.a. durch die Theaterhäuser eine Nähe zu Europa und den USA inszeniert, kappt die türkische Regierung nicht zuletzt durch den Abriss des Atatürk Kültür-Merkezis (vgl. Kap. 4.3) jegliche baugeschichtlichen Bezüge zu Europa, und inszeniert sich durch neue Bauprojekte, wie den Bau einer Moschee am Taksim-Platz als Stadt, die zunehmend durch islamische Traditionen geprägt wird.9

5.2.3.

Klandestinität. Marketingtool oder Tarnkappe?

Ganz anders verhält es sich mit den Spielstätten der Off-Theater. In beiden Städten, sowohl in Buenos Aires als auch in Istanbul, fügen sich diese eher unscheinbar, teils sogar klandestin in ihre Umgebung ein. Manchmal verrät nur ein Klingelschild, wie im Falle des El Bravard oder von Şermola Performans, die Existenz des Theaters. Bei einem Off-Theater wie dem El Camarín vermittelt sich von außen zunächst der Eindruck, vor einem Restaurant zu stehen, die Ankunft bei Mekan Artı erweckt Assoziationen an ein Multiplexkino. Nur sehr selten finden sich an den Gebäuden Ankündigungstafeln und damit Werbeplattformen, die PassantInnen über die Existenz des Theaters oder gar von Veranstaltungen informieren würden. Während die staatlichen und kommerziellen Theater beider Städte aufgrund ihrer (Un)Sichtbarkeit in den Stadträumen (insbesondere den Stadtzentren) die Aufmerksamkeit der Stadtbevölkerung ebenso wie der TouristInnen verlieren (Istanbul) oder gewinnen (Buenos Aires), so scheint es, als würde Unsichtbarkeit im Bereich der Off-Theater geradezu als anziehendes subkulturelles und subversives Alleinstellungsmerkmal der Off-Szene gelten: Hier trifft man sich unter Seinesgleichen. Während dieser Faktor einer klandestinen Exklusivität fernab vom touristischen oder kulturbürgerlichen Mainstream in Buenos Aires mittlerweile an den Status einer Marketingstrategie heranreicht (siehe auch die Boca-en BocaStrategie; Kap. 3.1.3), bedeutet die Unsichtbarkeit der Off-Theater in Istanbul auch

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nicht abzusehen, stellt aber vermutlich bereits in näherer Zukunft bezüglich Theater und Stadt ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Diesbezüglich seien nochmals die Apartmenthäuser im neo-osmanischen Stil erwähnt, welche entlang des Tarlabaşı Boulevards entstanden sind und dort die ehemaligen Wohnhäuser christlicher Minderheiten im Art déco und Jugendstil ersetzen. Die Neugestaltung des Zentrums um den Taksim-Platz geht, wie in Kapitel 4 beschrieben, mit einer staatlichen TopDown-Gentrifizierung einher.

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die Aufrechterhaltung eines Schutzraums. Sichtbarkeit kann in einem sehr direkten und unmittelbaren Sinn Bedrohung bedeuten: So verhalten sich Off-Theater in AKP-regierten Stadtteilen besonders unauffällig, um gar nicht erst auf den Radar der Behörden oder in Konflikt mit einer konservativ-religiösen Nachbarschaft zu gelangen. Angesichts der Unterbringung der Off-Theater in umgenutzten Hinterhöfen und Privatwohnungen stellt sich sowohl in Istanbul als auch in Buenos Aires die Frage, welche Rolle eine mehr oder weniger bewusste, entweder aus politischer Not entstandene, oder aus Marketingkalkül vorgenommene Camouflage bei der Zuschauergewinnung der Off-Theater spielt: Die mögliche Schlussfolgerung einer subversiven und klandestinen Gemeinschaftsbildung ließe sich in einer weiterführenden Studie durch qualitative Interviews mit dem Publikum und unter Einbeziehung von Konzepten der Szene- oder Subkulturforschung beleuchten.

5.2.4.

Einlass und Kontrolle: (Un)Sichtbarkeit und Zugänglichkeit

Inwieweit bedingen sich (Un)Sichtbarkeit und Zugänglichkeit? Bereits in Kapitel 3.3. findet sich in den Ausführungen zum architektonischen Erscheinungsbild der staatlichen Theater die Anmerkung, dass der massive Monumentalbau des Teatro Colón, obzwar repräsentativ und gut sichtbar auf einer Freifläche thronend, doch wie eine Schwelle wirkt. Sichtbarkeit impliziert keine Offenheit und Zugänglichkeit, sie lenkt lediglich die Aufmerksamkeit. Wie das Teatro Colón genießen auch die kommerziellen Theater in Buenos Aires eine symbolpolitische Präsenz im städtischen Raum, doch sind sie nur bedingt betretbar. So suggeriert etwa das Paseo la Plaza als halb-öffentliches Konsumareal ähnlich wie die Shopping Malls in Istanbul eine Zugänglichkeit, jedoch wird dabei ausschließlich ein an den Konsum gebundener Aufenthalt unter den rechtlichen Rahmenbedingungen der sie umgebenden und sie komplettierenden kommerziellen Angebote offeriert. Sichtbarkeit und Zugänglichkeit gehen lediglich im städtischen Teatro San Martín miteinander einher: Die gläserne Fassade öffnet sich nicht nur architektonisch, das Gebäude ist auch außerhalb der Vorstellungen für BesucherInnen betretbar; jedoch bietet sich keine Möglichkeit des Verweilens, da beispielsweise Sitzmöglichkeiten fehlen. Wie der Rückblick in die Geschichte ergeben hat, wurde das Teatro San Martín im Buenos Aires der 1960er Jahre mit dem politischen Anspruch eröffnet, einer breiten Bevölkerung den Zugang zu Theater zu bieten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, ein staatlich gelenktes Theater neben den privat geführten Theatern zu etablieren. In diesem Anspruch ähnelt es nicht nur den staatlichen Theatern in Istanbul, sondern vor allem auch den staatlich geförderten Kültur-Merkezis. Gerade die Kültür-Merkezis, platzieren sich gut sichtbar in ihren Multifunktionsbauten im Stadtraum von Istanbul, frei zugänglich für ihre BesucherInnen. Ihre physische

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Sichtbarkeit und Zugänglichkeit entsprechen gänzlich der bereits im Abschnitt zu »(De)Zentralisierung« angeführten kulturpolitischen Strategie der offensiven Einflussnahme und gezielten ideologischen Lenkung von Publikum und Bevölkerung. Und noch eine andere Ebene der Zugänglichkeit sei hier erwähnt: die Zugänglichkeit hinter den Kulissen, im Sinne einer Transparenz der Strukturen und einer Ansprechbarkeit der MacherInnen dieser Institutionen. In beiden Städten gestaltete es sich nicht nur schwierig, Gespräche mit EntscheiderInnen innerhalb der staatlichen Theaterinstitutionen oder kommerziellen Theater und Veranstaltungsorte zu führen, sondern auch Zahlen und Statistiken dieser Institutionen, etwa in den zuständigen Behörden, zu erhalten. Diese Intransparenz verhielt sich zum Teil diametral zur Präsenz und damit Sichtbarkeit der Institutionen im städtischen Raum. Die Besuche der Spielstätten der Off-Theater zeichneten dagegen ein gänzlich anderes Bild, ebenso wie die Begegnungen mit den Verantwortlichen und MacherInnen der Off-Theater: Obzwar die Off-Theater von außen betrachtet weitestgehend unsichtbar wirken, nicht zuletzt da sie teils in Wohnungen und private Räume implementiert sind, erweisen sie sich, einmal betreten und die Hürde der Kennerschaft überwunden als gastfreundlicher, durchlässiger, »öffentlicher« Raum im Sinne eines offenen und kritischen Diskurses. In diesem Kontext sei auch der oftmals fließende räumliche Übergang zwischen Theaterbühne und Backstage, zwischen Probenraum, Spiel- und Wohnstätte erwähnt, der diese Orte, sobald einmal gefunden und betreten, auf geradezu symbolische Weise als offen und barrierefrei charakterisiert. Zusammenfassend lässt sich gerade anhand der Gegenüberstellung beider Städte herausarbeiten, dass der Aspekt einer äußerlichen Sichtbarkeit der Theaterräume im Stadtraum nicht zwangsläufig eine offene und durchlässige Zugänglichkeit bedeutet, und umgekehrt Unsichtbarkeit nicht zwangsläufig einer hermetischen Abgeschlossenheit entspricht. Dieser Aspekt lässt danach fragen, inwiefern die Wirkmuster der (De)Zentralisierung und (Un)Sichtbarkeit von Theatern in Buenos Aires und Istanbul politisch gesteuert werden, und wie sehr diese aus sozialer und gesellschaftlicher Eigendynamik entstehen. Um dieser Frage nachzugehen, wird im nächsten Abschnitt der Begriff der (Il)Liberalisierung etabliert.

5.3.

Leben und leben lassen: (Il)Liberalisierung in Buenos Aires und Istanbul

Während die Betrachtung der Wirkmuster (De)Zentralisierung und (Un)Sichtbarkeit überwiegend die Perspektiven der (Kultur)Politik bzw. der stark an stadt- und sozialräumlich festgemachten gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Buenos

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Aires und Istanbul verdeutlichte, fokussieren die folgenden Bemerkungen zum beobachteten dritten Wirkmuster der (Il)Liberalisierung die Binnenperspektiven der TheatermacherInnen bzw. ihrer Institutionen (in den ersten beiden Abschnitten zur Osmose und Polarisierung) sowie ihrer ZuschauerInnen (in den folgenden beiden Abschnitten zur Mobilisierung und Selbstvergewisserung). Abschließend werden die Entwicklungen dieses in beiden Städten auftretenden dritten Wirkmusters zueinander in Beziehung gesetzt und auf deren (post)koloniale Prägung überprüft. Wenn im Folgenden von Liberalisierung die Rede ist, so ist mit »liberal« stets das philosophische Grundverständnis einer Denk- und Ideentradition gemeint, die sich aus dem englischen Liberalismus und Utilitarismus herschreibt, keine politische Verortung im Sinne eines heutigen Wirtschafts- oder Werteliberalismus10 : Als »liberal« ließe sich in diesem Sinne eine Gesellschaft bezeichnen, die möglichst offen, tolerant und inklusiv mit einem Pluralismus an Werten und Lebensentwürfen umgeht, diese möglichst wenig einschränkt und reguliert; als »Liberalisierung« die Entwicklung einer Gesellschaft hin zu einem mit »liberal« im o.g. Sinn bezeichneten Idealzustand;11 als »(Il)Liberalisierung« eine gesellschaftspolitische Steuerung in die gegenteilige Richtung, insbesondere wenn es darum geht, bereits errungene Freiräume partikularer sozialer Gruppen gezielt einzudämmen und zu beschneiden.

5.3.1.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse: Osmose in Buenos Aires

In Argentinien lässt sich die Zeit der Diktatur (1976-83) mittlerweile als eine historische Epoche bezeichnen, obgleich deren Auswirkungen noch als Phantomschmerzen einer gesamten Gesellschaft allerorten spür- und erlebbar sind. Nach dem Ende der Diktatur setzte in Argentinien eine Zeit der Liberalisierung ein, deren Durchschlagskraft wahrscheinlich nicht zuletzt durch die Erfahrungen einer autokratischen Herrschaft und damit verbunden der Skepsis gegenüber jeglicher Staatlichkeit, seien es legislativ-politische oder judikative Verwaltungsinstitutionen, zu erklären ist. Die fortschreitende Liberalisierung, die alle gesellschaftlichen Bereiche betraf, fand wohl ihre wirkmächtigste Umsetzung in der Einführung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik seit den späten 1980er Jahren, welche der Staatsverschuldung Argentiniens entgegenwirken sollte, jedoch im Jahr 2001 in eine Wirtschaftskrise mündete. Folglich wurde das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat erneut

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Gleich zwei nahezu idealtypische Zusammenhangsdarstellungen der Ideengeschichte des Liberalismus ausgehend von den politischen Philosophen John Locke und Thomas Hobbes finden sich bei Milton Friedman (2009) und Ralf Dahrendorf (vgl. Ackermann 2016). Nicht zu verwechseln mit der in Kapitel 2 beschriebenen wirtschaftlichen Entwicklung der (neo)liberalen Marktöffnung und Globalisierung, die insbesondere die argentinische Gesellschaft und Politik seit den 1990er Jahren bestimmt.

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

erschüttert. Die Auswirkungen, zum einen der wirtschaftlichen Notlage, zum anderen aber des Misstrauens gegenüber Staat und Politik, lassen sich sehr deutlich im Bereich des Theaters nachvollziehen: Schon Ende der 1980er Jahre, nachdem Argentinien zur Demokratie zurückgekehrt war, setzte ein kontinuierlicher Prozess eines Rückzugs des Staats, eines Rückbaus staatlicher Kulturpolitik und -förderung ein, der bis heute anhält. Nach und nach wurden Budgets gekürzt: Zunächst wurden die Ensembles innerhalb der staatlichen Theater abgebaut und regelmäßige Repertoire-Angebote zurückgefahren, schließlich wurden die städtischen Spielstätten im neu entstandenen Complejo Teatral de Buenos Aires zentralisiert, seitdem gingen die Produktionen erneut stetig zurück. Der einzige kulturpolitische Gründungsimpuls dieser Jahre im Bereich des Theaters – die Einrichtung des international ausgerichteten Festivals FIBA (Festival Internacional de Buenos Aires) – leitet sich, wie schon angemerkt, nicht zuletzt aus der politischen Motivation einer verbesserten Positionierung von Buenos Aires im internationalen Tourismus- und Stadtmarketingwettbewerb her. Fast zwangsläufig entstehen andernorts alternative Theaterangebote. Mittlerweile lässt sich feststellen: Sie entstehen nicht nur, sie florieren. Die Zahl der OffTheater und der Gruppen des Teatro Comunitario stieg seit Beginn der 2000er Jahre an; der Bereich des Off-Theaters stellt die größte Zahl der Spielstätten unter den drei Theaterbereichen. Wenn ich in diesem Zusammenhang von einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse spreche und dafür metaphorisch den Begriff einer Osmose wähle, so will ich damit zum Ausdruck bringen, dass sich diese Entwicklung nicht nur von einem sich ausbreitenden Vakuum des staatlichen Theaterangebots herleitet, sondern letztlich auch die kritische Haltung des Theaterpublikums gegenüber staatlich getragenen Kulturbetrieben und dessen große Offenheit gegenüber privaten bzw. zivilgesellschaftlich formierten Angeboten widerspiegelt. Beharrlich wurde von meinen InterviewpartnerInnen aus dem Bereich des kommerziellen Theaters und des Off-Theaters immer wieder auf die »Unabhängigkeit« der eigenen Theaterarbeit vom Staat verwiesen (vgl. Kap. 3.2): Kommerzielle Theater werden unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt, ihre MacherInnen zeigen sich als stolze und unabhängige UnternehmerInnen. Off-Theater leben vom idealistischen und ideologischen Engagement ihrer MacherInnen und ZuschauerInnen ohne nennenswerte, relevante Förderung durch den Staat: Inhaltliche Autonomie und Selbstorganisation werden so groß geschrieben, dass sie bis zur Frage alternativer, kollektiver und hierarchieloser Formen der Zusammenarbeit, sogar bis hin zur Verschmelzung von Wohn- und Arbeitsräumen reichen. Auch aus dieser schleichenden und untergründigen Verschiebung von Arbeitsund Lebensformen leite ich meine Wahl des Begriffs der Osmose ab: Das florierend vielfältige Kulturleben der Stadt fußt damit wesentlich auf einer innergesellschaftlichen Bereitschaft und Begeisterung abseits kulturpolitischer Förderimpulse und

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staatlicher Steuerung. Im Gegenteil: Insbesondere die wachsende Zahl der TheatermacherInnen im Off-Bereich arbeitet in vielen Fällen mit wenig oder gänzlich ohne finanzielle und andere Ressourcen. Die Entwicklung des Off-Theaterbereichs und des Teatro Comunitario erscheinen nicht mehr als ideologische Gegenbewegung entlang der Ränder eines autokratischen argentinischen Staatswesens, wie es bis in die 1980er Jahre der Fall war, sondern als Sortierung der Kräfteverhältnisse in einem sich abkühlenden und sich selbst organisierenden gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Längst diffundieren ehemalige dogmatische Vorbehalte zwischen den drei beschriebenen Theaterbereichen und beginnen damit, sich aufzulösen: So werden etwa TheatermacherInnen aus der Off-Szene seit einigen Jahren immer häufiger auch temporär an den großen Bühnen der besser finanzierten staatlichen und kommerziellen Theater oder in Film und Fernsehen engagiert. Die staatlichen und kommerziellen Theater in Buenos Aires sind auf den »Nachschub« aus den Reihen der Off-Szene angewiesen, da sie auf keine eigenen Ausbildungs- oder gar Ensemblestrukturen zurückgreifen können und seit der Wirtschaftskrise und der anhaltenden Inflation das Geld fehlt, um Regiegrößen aus dem Ausland zu engagieren. Entgegen den in der Geschichte des argentinischen Theaters vergleichsweise stark gezogenen Trennlinien zwischen den Theaterbereichen, die ich zu Beginn meiner Forschung auch in der Gegenwart vermutet hatte, fiel bei meiner Bestandsaufnahme ein hohes Maß an Durchlässigkeit zwischen den Bereichen auf.

5.3.2.

Spaltung der Kräfteverhältnisse: Polarisierung in Istanbul

Wie in Kapitel 4 ausgeführt, lassen sich im Theaterraum Istanbuls bereits seit 2008 deutliche Spuren eines kulturpolitischen Wandels wahrnehmen, welcher sich in allen Theaterbereichen abzeichnet. Anstatt eine Vielfalt des Theaterangebots und damit ein Nebeneinander der drei Theaterbereiche wenigstens zu dulden, verfolgt die AKP-Regierung das Ziel, das gesellschaftliche Leben, insbesondere in der Öffentlichkeit, radikal und ausschließlich entsprechend ihrer ideologischen/religiösen Ausrichtung zu verändern und zu dominieren. Die staatlichen Theater sehen sich mit einem politisch forcierten Rückbau ihrer Institutionen konfrontiert. Ähnlich wie in Buenos Aires werden den Theatern Budgets gekürzt, darüber hinaus verschwinden jedoch in Istanbul die Spielstätten in der Unsichtbarkeit: Entlassungen regierungskritischer MitarbeiterInnen werden veranlasst und die Programmgestaltung ist von Selbst-Zensur bestimmt. Doch besteht das Ziel dieser Maßnahmen nicht allein in einer staatlichen Systemkonformität oder Gleichschaltung dieser Theater, wie es beispielsweise während der Zeit der

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Militär-Junta an staatlichen Theatern in Buenos Aires zu beobachten war, sondern mittelfristig in deren gänzlicher Abschaffung.12 An diesem Vorgehen der AKP-Regierung gegen die staatlichen Theater zeigt sich nicht nur die bewusst forcierte Verdrängung von Angeboten, die symbolisch für die die Verwestlichungs- und Säkularisierungspolitik Atatürks stehen, sondern auch die revanchistische Exklusion des Anteils der Stadtbevölkerung vom öffentlichen Leben, der sich mit diesen Theaterangeboten identifiziert. Auch im Bereich des Off-Theaters zeichnet sich diese Intention der AKP-Regierung ab (vgl. etwa die Verdrängung ihrer Spielstätten aus dem politischen Zentrum [vgl. Kap. 4.4]); eine staatliche Einflussnahme etwa in Form von Zensur tritt jedoch erst ein, wenn die Produktion eines Off-Theaters in einer breiteren Öffentlichkeit in Erscheinung tritt und damit ihren Zustand der Unsichtbarkeit verlässt.13 Der Ausbau der Kültür-Merkezis bedeutet dagegen das symbolpolitische Pendant zum staatlichen Theater: Diese neu errichteten Multifunktionsbauten und ihr kommerzielles Theaterangebot stehen für die bereits in Kapitel 4 ausgemachte »Deutungshoheit«, welche die islamisch-konservative AKP-Regierung beansprucht. An den staatlichen Förderungen, welche die Kültür-Merkezis ebenso wie kommerzielle, religiös-ideologisierte Produktionen erhalten, wird deutlich, dass sich der türkische Staat nicht einfach »nur« zurückzieht, wie es im Falle von Buenos Aires zu beobachten ist, sondern stattdessen proaktiv an einer neuen kulturpolitischen Ausrichtung arbeitet. Diese Neuausrichtung versucht, wie sich an den Entwicklungen innerhalb der drei Theaterbereiche mitverfolgen lässt, eine heterogene Stadtgesellschaft zumindest in der Öffentlichkeit zu homogenisieren. Doch die vordergründige »Homogenisierung« führt zu einer immer weiter voranschreitenden Polarisierung der Istanbuler Stadtgesellschaft, welche sich vereinfacht gesagt zwischen »westgewandten«,

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Längst ergeben sich in Istanbul zwischen staatlichen und kommerziellen Theatern Parallelen in der Programmgestaltung, da beide letztlich derselben Entscheidungsträgerin, der AKPRegierung, unterstellt sind (vgl. Kap. 4.2 und 4.4). In Hinblick darauf stellt sich die Frage, ob die dabei beobachtete Kommerzialisierung der staatlichen Theater (vgl. Kap. 4.1 und 4.4) nicht automatisch zur folgerichtigen Schließung selbiger durch den Staat führen wird. Denn worin besteht im Endeffekt noch der Unterschied eines staatlich alimentierten und eines privatwirtschaftlich organisierten kommerziellen Theaters? Eine direkte Zensur der Arbeit, in Form eines Aufführungsverbots, wie es in den staatlichen Theatern bereits vorkommt, erfolgte jedoch an den Off-Theatern (bislang) nur in Einzelfällen. Neben dem bereits erwähnten Vorfall rund um Kumbaracı50 im Jahr 2010 ist aus dem Bereich der Off-Theater ein weiterer Vorfall der direkten Zensur bekannt: 2016 wurde das am Emek Tiyatro aufgeführte Stück »Sadece Diktatör« (dt.: »Nur ein Diktator«) aufgrund eines regimekritischen Twitterposts des Hauptdarstellers verboten; vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-leben-der-kreativen-in-der-tuerkei-erlaubtist-was.979.de.html?dram:article_id=436188; Zugriff 13.01.2018).

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säkular-laizistischen und konservativ-islamischen Gesellschaftsschichten festmachen lässt.14 War mir während meiner Recherche 2010 noch aufgefallen, dass sich die TheatermacherInnen in den Bereichen des staatlichen Theaters und des OffTheaters voneinander distanzierten – die einen als VertreterInnen eines konventionellen, teils ideologisierten staatlichen Theaters, die anderen als VertreterInnen eines sich als kritisch subversiv begreifenden Off-Theaters – solidarisieren sich diese in den geführten Gesprächen zunehmend gemeinsam gegen die Politik der AKP. Gerade im Bereich der staatlichen Theater ist zu beobachten, dass die politisch forcierte Homogenisierung eine sich dialektisch bedingende Dynamisierung erlebt: Was von außen harmonisch im Sinne einer politischen Gleichschaltung erscheint, stellt sich in der Wirklichkeit hinter den Kulissen als hybrider dar, als es im Sinne der Stadtregierung gewünscht wird. Wenn auch weniger offen angesprochen als vielmehr angedeutet, so zeigen sich meine InterviewpartnerInnen aus dem Bereich des staatlichen Theaters sehr kritisch und keineswegs als AnhängerInnen der kulturpolitischen Entwicklungen.

5.3.3.

Identifikation des Publikums I.: Mobilisierung in Istanbul

Gehen wir von der Theatergeschichte (Kap. 2.2) aus, hätte sich in Istanbul wohl bis vor zwei Jahrzehnten im staatlichen Theater noch ein Publikum zusammengefunden, das sich als »westgewandt« und »europäisch« definiert und wahrnimmt. In Istanbul handelt es sich dabei, wie in Kapitel 4.4. beschrieben, um eine Gesellschaftsschicht, die sich im Zuge der Säkularisierungspolitik nicht nur verstärkt vom islamischen Erbe ihrer Vergangenheit ab- und Europa zuwandte, sondern durch eben diesen Vorgang auch versuchte, sich von einer Bevölkerungsschicht zu distinguieren, welche weiterhin ihre religiösen Wurzeln pflegte. Seit ca. zehn Jahren können die staatlichen Theater jedoch diese Identifikation und Stratifikation nicht länger bieten. Vielmehr entwickeln sich diese Theater gerade zum Gegenteil dessen, wofür sie in der Vergangenheit standen: Staatliches ebenso wie kommerzielles Theater

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Der renommierte türkische Soziologe Çağlar Keyder (1999) spricht in Bezug auf die Istanbuler Stadtgesellschaft von einem »modern-traditional Clash« als grundlegendem Prinzip der Istanbuler Kulturgeschichte. Auch wenn ich diese Dualität grundsätzlich teile, entscheide ich mich dennoch bewusst gegen diese Begriffsverwendung, da ich weder die Begriffe »modern« und »säkular«, noch »traditionell« und »rückständig« als Synonyme verstehe. Stattdessen verbindet sich für mich angesichts des kulturellen Erbes der Staatsgründung nach Kemal Atatürk der Begriff der Säkularität mit dem eines staatlich durchgesetzten Laizismus; auf der anderen Seite trägt die von der AKP-Politik der letzten Jahre forcierte Rückbesinnung auf das islamisch-osmanische Erbe der Türkei Züge eines Wertekonservativismus. Daher verbinde ich in Abgrenzung zu Keyder die Begriffe »säkular« und »laizisitisch« sowie »islamisch« und »konservativ«.

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

treffen sich in Istanbul nicht nur räumlich durch die Nutzung derselben Veranstaltungssäle, sondern ähneln sich auch zunehmend in ihrer islamisch-konservativen sowie auf eskapistische Bedürfnisse eines breiten Publikums ausgerichteten Programmgestaltung. Eine Tendenz, die im staatlichen Theater eine »Demobilisierung«, sprich ein Wegbrechen des vormaligen Publikums, zur Folge hat, im kommerziellen Theater gleichzeitig aber zu einer regelrechten Mobilisierung von Publikum führt: Gesellschaftsschichten, die sich vormals kaum in den staatlich geförderten und zentral gelegenen Kulturinstitutionen repräsentiert sahen, erfahren nun physische und emotionale Zugänge zu örtlich dezentralisierten und auf ihre Lebensverhältnisse zugeschnittenen Theaterangeboten.15 Da ich auf Grundlage meiner Beobachtungen zu den Wirkmustern der (De)Zentralisierung und (Un)Sichtbarkeit sowie zur im vorangegangenen Abschnitt beschrieben Polarisierung in Istanbul von einer bewussten politischen Steuerung dieser Effekte ausgehen muss, entlehne ich mit dem Begriff der Mobilisierung ein Konstrukt aus dem Kontext der Politik- und Geschichtswissenschaften16 und übertrage diesen auf eine sich zunehmend politisierende und polarisierende Situation: Während das staatliche Theater einen wesentlichen Teil seiner alten Identifikationsmerkmale (Spielstätten und Inhalte) an die neuen Angebote kommerziellen Theaters verliert bzw. mit diesen zu verschmelzen droht, gewinnt angesichts der kulturpolitischen Kehrtwende unter Erdoğan das Off-Theater eine über den eigentlichen künstlerischen Bereich hinausweisende, subversive Bindekraft. Meine Beobachtungen der Off-Spielstätten führen mich zu der Annahme, dass sich die BesucherInnen an den jeweiligen Orten nicht allein aufgrund der Theateraufführungen versammeln, sondern aufgrund eines Miteinanders als Gruppe von Gleichgesinnten. Die Vorstellung bietet den Anlass, sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Uhrzeit zu treffen; die Inszenierung ist inhaltlich und ästhetisch möglicherweise der Aufhänger für Gespräche. Doch gerade daraus nährt sich ein subversives Potential, das BesucherInnen eine kritisch anregende Identifikationsmöglichkeit bietet: Off-Theater werden zu Geheim-Tipps für einen nicht 15

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Während sich in Buenos Aires kommerzielles Theater an eine Mittel- und Oberschicht richtet, die sich Besuch und Eintritt leisten kann und dafür aus verschiedenen Gegenden der Stadt und dem Conurbano zur Av. Corrientes kommt, lässt sich das kommerzielle Theater in Istanbul als Massenunterhaltungsmedium interpretieren, das aufgrund der günstigen Preise und der kurzen Anfahrtswege zu den in jedem Stadtteil präsenten Kültür-Merkezis eine breite Bevölkerungsschicht anspricht. Neben der militärischen Mobilisierung ist hier vor allem die Beschreibung der Medialisierung und Mobilisierung von Protestkulturen gemeint, wie sie in Europa seit der historischen Erforschung der Reformation auch umgangssprachlich gebräuchlich ist (vgl. etwa Münkler 2019; Koenen 2011).

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kleinen Teil der Bevölkerung, der sich mehr oder weniger offen gegen die Autokratisierung des Staats positioniert; Off-Theater bieten Raum für eine Öffentlichkeit, ein Refugium für eine liberale und kosmopolitische Opposition.17 Deren Unterstützungs- und Solidarisierungseffekte reichen vom sozialräumlichen Umfeld über ein stadtweit vorhandenes Publikumspotential bis hin zu einer weltweiten Solidarisierung im medialen Raum.18 Was in diesem Kontext in sozialen Netzwerken und der internationalen Presse insbesondere im Hinblick auf die im 20. Jahrhundert in der Türkei mühsam erkämpften Bürgerrechte der Presseund Kunstfreiheit diskutiert und kommentiert wird, lässt sich als aktive Mobilisierung beschreiben.19 Zwar fokussiert meine Arbeit weniger die Diskussionen eines diskursiven Raums außerhalb der territorialen Grenzen der Türkei oder Argentiniens, dennoch halte ich den Aspekt einer derartigen internationalen Mobilisierung nicht nur der Vollständigkeit halber für relevant: So verstanden, beinhaltet der von mir gewählte Begriff der Mobilisierung nicht nur die sozialräumliche Verschiebung und Neuausrichtung der Off-Theater innerhalb Istanbuls, sondern auch deren ausgeprägtes subversives Potential in einem weltweiten medialen diskursiven Raum.20

5.3.4.

Identifikation des Publikums II: Selbstvergewisserung in Buenos Aires

Während der Begriff der Mobilisierung in Istanbul eine sich politisch erhitzende Gesamtsituation kennzeichnet, wähle ich zur Beschreibung der aktuellen Situation in Buenos Aires mit dem Begriff der Selbstvergewisserung einen sich eher abkühlenden Tonus, der ein Publikumsverhalten bezeichnet, wie es zur alltäglichen Berufspra-

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Eine Beobachtung, die für meine Argumentation von erheblicher Relevanz ist, sich aber abseits von Einzelgesprächen bzw. Interviews und meinen eigenen Eindrücken als Feldforscherin (Feldnotizen) kaum belegen lässt und dennoch zum jetzigen Zeitpunkt kein neues Forschungsdesiderat darstellen kann: Viel zu gefährlich erscheint es den betroffenen Personen angesichts der aktuellen Zuspitzung der politischen Lage, sich auch nur halböffentlich, etwa auf Social Media o.Ä., zu äußern. Eine Solidarisierung, die fast ausschließlich im Ausland stattfindet, dort allerdings gleichzeitig überwiegend von den innerhalb der Social Media üblichen Flüchtigkeiten und Aufmerksamkeitsspannen dominiert wird. Aufgegriffen wird diese Diskussion nicht nur von oppositionellen Kräften innerhalb autoritärer Staaten, sondern vor allem auch von politischen Flüchtlingen aus solchen. Auf dem Weg einzelner prominenter Stimmen entsteht so ein für Exilsituationen typischer wirkmächtiger Resonanzraum einer sog. »intellektuellen Diaspora« (vgl. etwa #ÖZGÜRÜZ: https://ozguruz.de/; Zugriff 13.03.2019). In der kritischen Berichterstattung der Leitmedien des globalen »Nordens«, sowie insbesondere im digitalen Raum der Social Media und Blogs.

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

xis von Zuschauerorganisationen, Dramaturgie- und Marketingabteilungen auch in Europa oder den USA gehört.21 Obgleich in Buenos Aires in den letzten Jahren aufgrund von Einsparungsmaßnahmen an den staatlichen Theaterhäusern Repertoire und Ensemble abgeschafft wurden, repräsentieren diese Theater bis heute in ihrer Architektur, in der Programmgestaltung oder den Publikumskonventionen eine gewisse Nähe zu Europa. Fast scheint es, als würden im staatlichen Theater analog zum Sport einzelne gesellschaftliche Gruppen ihre Herkunft aus dem Schoße des »guten alten Europas« inszenieren: hier bei Tennis, Rugby oder Fußball; dort im Teatro Colón bzw. Cervantes22 , beim FIBA-Festival oder im Teatro San Martín. Der Besuch eines staatlichen Theaters wirkt – obgleich etwa die Architektur des Teatro San Martín in seiner Transparenz den Anspruch einer gesellschaftlichen Öffnung verfolgt, stets wie die Selbstvergewisserung einer akademisch geprägten Mittelschicht samt ihrem Streben nach Statussymbolik.23 Komplementär dazu verweisen sämtliche Bezüge des kommerziellen Theaters – Programmgestaltung, Betrieb,-Architektur – weniger gen Europa, als vielmehr Richtung Nordamerika, genauer gesagt in Richtung Broadway US-amerikanischer

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Theater und Zuschauerorganisationen scheuen in diesem Zusammenhang längst nicht mehr davor zurück, von betriebswirtschaftlichen Mechanismen wie Imagetransfer, Kundenbindung oder sog. »Unique-Selling-Propositions« (Alleinstellungsmerkmalen) zu sprechen: Stets geht es darum, den ZuschauerInnen ein einmaliges, mitunter exklusives Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Theater und dessen umliegendem sozialen Raum zu schaffen. Dabei spielen die äußerlichen Faktoren des Theaterbesuchs mittlerweile eine mindestens so bewusste Rolle wie das Theaterangebot auf der Bühne selbst: Das umgangssprachliche »Sehen und Gesehen-Werden« beginnt im Parkhaus, erstreckt sich über die Garderoben-, Foyer-, Pausen- bis hin zur Auslasssituation und dem anschließenden Besuch des Theaterrestaurants etc. Deren Namensgebung alleine schon den deutlichen Rückbezug auf Europa in sich trägt. Das Ineinandergehen von Architektur und Stadtbild einerseits und kollektiver Identität und sozialem Status andererseits erinnert an die bereits im Abschnitt zur stadträumlichen Verortung der Theater in Buenos Aires erwähnte Kritik der Architektursoziologin Heike Delitz an der Beschreibung einer Architektur als reinem Spiegel sozialer Strukturen. Wie sehr sich dagegen beide Seiten gegenseitig bedingen, Ausdruck des jeweils anderen sind, das zeigt sich an der Identifikation des Publikums der staatlichen Theater in Buenos Aires mit deren Architektur und lässt sich bei Delitz auf einer abstrakten Ebene nachlesen: »In ihrer Architektur ›erkennt‹ sich eine Gesellschaft vielmehr erst als diese bestimmte Gesellschaft« (Delitz 2010: 13). Oder auch, etwas weniger abstrakt, nochmals der weiter oben zitierte Soziologe Walter Siebel: »Verspiegeltes Glas, poliertes Metall, Marmor und Granit signalisieren der gehobenen Mittelschicht Zugehörigkeit. […] Die Ästhetisierung eines Raums ist Mittel der Demonstration von Status. […] Sie errichtet schöne, schwer zu überwindende Schranken zwischen den sozialen Gruppen […]. Mit den symbolischen Mitteln der Kultur werden soziale Unterschiede bestätigt, unerwünschte Gruppen ferngehalten und die Furcht vor dem sozialen Abstieg in den Hintergrund gedrängt« (Siebel 2015: 274).

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Prägung: In den 1990er Jahren wurde diese Nähe zu den USA noch durch die Einladung von Broadway-Produktionen direkt aus New York unterstrichen, seit der Wirtschaftskrise (2001) greift man, wie in Kapitel 3.1. beschrieben, stattdessen auf nationale AutorInnen und RegisseurInnen zurück. Obgleich es sich auf den Plakatwänden vor den kommerziellen Theaterhäusern ebenso wie auf den Bühnen überwiegend um argentinische Celebrities handelt, behält die Avenida Corrientes jedoch weiterhin den Beinamen »Broadway«. Auch hier ist offensichtlich, wie das kommerzielle Theater als Selbstvergewisserung und Freizeitbeschäftigung einer Mittelschicht wirkt, die sich den Eintritt ins kommerzielle Theater leisten kann und damit ihrem Bedarf nach Konsum nachgibt. Ganz anders verhält es sich dagegen im Bereich des Off-Theaters, das sich seit jeher als Gegenmodell zu staatlichem und kommerziellem Theater begreift. Weder lassen sich in der Architektur noch in den Organisationsstrukturen oder der Programmgestaltung eindeutige Bezüge zu Europa oder den USA erkennen.24 Gespielt wird in diversen Räumen, die zu Bühnen umgestaltet werden (vgl. Kap. 3.3).25 Die Produktionen zeichnen sich durch eine »Armut an Mitteln« aus; verstärkt wird aufgrund der Einsparung von Tantiemen argentinische Gegenwartsdramatik gezeigt (vgl. Kap. 2.2). Diese Eigenheiten werden von den TheatermacherInnen nicht als Defizit wahrgenommen, sondern als Besonderheit des Off-Theaters in Buenos Aires. Bestärkt werden sie darin durch den großen Zuwachs der Theater-Community seit den 2000er Jahren, welche das Off-Theater und seine Ausbildungsstrukturen laut des Regisseurs Matías Feldman zu einem »kulturellen Phänomen« in dieser Stadt werden ließ. Trotz verschiedener Akte der Profilierung der drei beschriebenen Bereiche lässt sich doch zusammenfassend deren grundsätzliche Gemeinsamkeit feststellen: Die Selbstvergewisserung der subjektiven (je eigenen) Zugehörigkeit zu den sozialen Räumen rund um die jeweiligen Theaterräume, sowohl der TheatermacherInnen, als auch der ZuschauerInnen. Diese geht jedoch mit einem gesellschaftlichen »Aus-

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Das »Ausland« wirkt hier eher als Referenzsystem – wenn eine Produktion im Ausland Erfolg hat, wird sie auch in Buenos Aires länger gezeigt – oder als Potential der Querfinanzierung, wie sich im Gespräch mit dem international arbeitenden Regisseur Rafael Spregelburd herausstellte (vgl. Kap. 3.1). Zwar könnte etwa das Verschmelzen von Wohn- und Arbeitsbereich, wie es in einigen OffTheatern zu finden ist, als Referenz auf internationale Avantgardebewegungen in Europa und den USA und das in ihren Manifesten ausgeführte Topos eines Verschmelzens zwischen Leben und Arbeit gedeutet werden, wie etwa bei den Surrealisten (vgl. Fiebach 2003), doch hängt dieses Phänomen in Buenos Aires eindeutig mit der Wirtschaftskrise von 2001 zusammen: Damals begannen nicht nur TheatermacherInnen, sondern auch HandwerkerInnen ihre Arbeitsräume in die Wohnräume zu integrieren, um keine weitere Miete zahlen zu müssen (vgl. Kap. 2.2).

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

schluss« derer einher, die nicht dazugehören.26 Dieser »Ausschluss« basiert jedoch nicht, wie meine Ausführungen u.a. in Kapitel 3.4. zeigen, allein auf einer Polarisierung zwischen Arm und Reich, sondern maßgeblich auch auf einer Abgrenzung der »weißen« von der »schwarzen« Bevölkerung.27 In diesem Sinne lässt sich die Verteilung der Theater ebenso wie die teils daraus resultierende mangelnde Zugänglichkeit und »Exklusivität« von Theater nicht nur symbolisch für die gesellschaftliche Diskrepanz innerhalb der Stadtgesellschaft von Buenos Aires verstehen, sondern manifestiert diese weiterhin. Aufgrund der bis heute anhaltenden Segregation, die mir im Bereich des Theaters nicht nur in der schon erwähnten stadträumlichen Verteilung der Spielstätten, sondern auch in Gestalt der Biografien der TheatermacherInnen und der in den einzelnen Theatern verkehrenden Publika begegnete, komme ich zu dem Schluss, dass sowohl die im staatlichen Theater zu findende repräsentative Mittelschicht, als auch die im kommerziellen Theater und Off-Theater verkehrenden Kreise der Mittelschicht auf dem Weg ihrer kulturellen Praxis, ob bewusst oder unbewusst, Distinktionsmerkmale der kolonialen Vergangenheit (vgl. Kap. 2.1) reproduzieren. Damals wie heute bieten Theater ihren BesucherInnen ebenso wie MacherInnen eine Plattform der Begegnung unter ihresgleichen, einen Ort des Sehens und Gesehenwerdens. Damals wie heute lässt sich dabei eine soziale Selbstvergewisserung erkennen, die nicht allein mit einer Abgrenzung gegenüber einer bildungs-, mithin wohlstandsfernen Stadtbevölkerung, sondern insbesondere mit einer Abgrenzung zu der in Argentinien oftmals als »schwarz« stigmatisierten Gesellschaftsschicht einhergeht.

5.3.5.

Reproduktion der Machtverhältnisse: (Il)Liberalisierung und Postkolonialität

Auf den ersten Blick scheint es offensichtlich, wie das Wirkmuster der (Il)Liberalisierung mit den Entwicklungen der TheatermacherInnen und ihres Publikums zusammenhängt: Die Beobachtungen zur Osmose der Theatermacherinnen und Selbstvergewisserung der ZuschauerInnen spiegeln eine sich liberalisierende Stadtgesellschaft in Buenos Aires wider; Polarisierung und Mobilisierung der TheatermacherInnen und ZuschauerInnen in Istanbul stehen für starke Illiberalisierungs-Effekte. 26

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Auch wenn diese Studie sich nicht auf das Bühnengeschehen konzentriert, so sei doch an dieser Stelle angemerkt: Selbst auf der Bühne findet in Form von sozialkritischen Stoffen fast überwiegend eine Bezugnahme auf die Mittelschicht und nicht auf die ärmeren Schichten der Gesellschaft statt. Wie bereits ausgeführt (vgl. Kap. 3) handelt es sich hierbei um den originalen Sprachgebrauch: People of Colour werden von der argentinischen Mittel- und Oberschicht als »Negro/as« (Schwarze) oder »cabecitas negras« (Schwarze Köpfe) bezeichnet (vgl. Gieler 2003: 45).

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In beiden Städten zeigen sich Theater als Ort und Vehikel sozialer In- und Exklusion, der Gemeinschaftsbildung, der Ab- und Ausgrenzung; bei Gegenüberstellung der Städte sind es vor allem die politischen Beträge, die sich unterscheiden: Während die Durchlässigkeit zwischen den Theaterbereichen bei einer gleichzeitigen Selbstvergewisserung ihrer Publika in Buenos Aires fast vergleichbar mit dem sozialen Distinktionsverhalten heutiger europäischer TheatermacherInnen und publika scheint, ideologisiert und radikalisiert sich die Situation in Istanbul, insbesondere im Kontrast zwischen den durch die kommerziellen und den in den Off-Theatern repräsentierten Lebensweisen. Für meine Arbeit macht eine solche gegenüberstellende Beobachtung vor allem vor dem Hintergrund des postkolonialen Diskurses Sinn. Historisch betrachtet ähneln sich die Verhaltensweisen zunächst: Als tradierte performative und soziale Praxis in Argentinien; als idealisierte und angestrebte performative und soziale Praxis in der Türkei. In beiden Fällen identifizieren sich TheatermacherInnen und ZuschauerInnen mit westlichen Vorbildern; in beiden Fällen grenzen sie sich dadurch von anderen Bevölkerungsteilen der Stadtgesellschaft ab – in Buenos Aires von einer indigenen, in Istanbul von einer konservativ-islamischen Bevölkerung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts und angesichts der heutigen Situation fällt allerdings zuallererst die zeitliche Asynchronität der historischen Entwicklungen rund um autoritäre Regierungen und deren Einfluss auf (stadt)gesellschaftliche (Il)Liberalisierungseffekte in Argentinien und der Türkei auf: Während Buenos Aires die Diktatur schon Jahre hinter sich gelassen hat, erlebt Istanbul in schärfster, tagesaktueller Brisanz die Rückkehr zur Autokratie; während sich in Buenos Aires der argentinische Staat zurückzieht und alte Konflikte abkühlen, greift der türkische Staat in Istanbul seit einigen Jahren in immer aggressiverer Art und Weise in das städtische Kulturleben ein und erhitzt stetig neue Konflikte; während sich Argentinien und Buenos Aires spätestens seit den Jahren nach der Wirtschaftskrise Anfang des neuen Jahrtausends in einer Phase der (stadt)gesellschaftlichen Liberalisierung befinden, erleben die Türkei und das oft als kosmopolitisch, pluralistisch und liberal beschriebene Istanbul in tagesaktueller Form eine illiberale Eskalation. An dieser gedanklichen Gegenüberstellung zeigt sich jedoch vor allem eines: wie stark beide Theaterräume und Stadtgesellschaften in postkolonialen Reflexen und Automatismen gefangen bleiben. Wie wir bei der näheren Betrachtung der Selbstvergewisserung in Buenos Aires sehen konnten, reproduzieren TheatermacherInnen und ihre ZuschauerInnen in ihrem Verhalten bewusste oder unbewusste koloniale Verhaltensmuster: Die klare Abgrenzung der in allen drei Theaterbereichen versammelten Biografien und sozialen Gruppen von sozial Schwächeren, insbesondere den »Negros«, zeigt, wie sehr der Theaterraum ein sozialer Raum der Mittel- und Oberschicht ist. So offen, durchlässig und transparent sind deren soziale Stratifikationen noch lange nicht: Kann hier wirklich von einer Liberalisierung der Verhältnisse die Rede sein?!

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

Auch das dritte Wirkmuster der (Il)Liberalisierung entpuppt sich bei näherer Betrachtung als sein Gegenteil, wechselt sein Vorzeichen und beginnt, zu oszillieren. Während sich im Theaterraum der Stadt Buenos Aires eine Selbstvergewisserung der Theaterpublika feststellen lässt, welche in enger Verknüpfung mit dem Nachwirken kolonialer Muster und dem Verhältnis Argentiniens zu Europa/den USA steht, zeichnet sich in Istanbul die Kulturpolitik und die damit einhergehende Mobilisierung insbesondere im kommerziellen Theaterbereich scheinbar durch Gegenteiliges aus: nämlich einer Abwendung von Europa. Es wirkt, als verdanke sich der gesellschaftliche Rückhalt, den die (Kultur)Politik der AKP genießt und welche den Nährboden für Erdoğans unaufhaltsamen innenpolitischen Machtausbau zu bilden scheint, nicht allein einer tiefen Verwurzelung breiter Bevölkerungsschichten in der islamischen Religion, sondern insbesondere auch einem kollektiv ausgeprägten Wunsch, Stärke zu demonstrieren und sich aus einer geschichtlich empfundenen Minderwertigkeit zu lösen. Durch das Wiederaufleben vergangener Epochen, in denen das Osmanische Reich noch nicht in Abhängigkeit von europäischen Mächten stand, vergewissert sich das Land nicht nur seiner selbst, sondern inszeniert sich im geopolitischen Gefüge der arabischen Länder als prunkvolles »Weltreich« neu (vgl. Kap. 4.5).28 So lassen sich die autokratische Politik und insbesondere der Rückhalt dieser Politik in der Bevölkerung vor einem postkolonialen Hintergrund deuten: Die im Laufe des 20. Jahrhunderts vermeintlich in einem durch Atatürk neu begründeten Verhältnis zum Westen versöhnte koloniale Grundspannung29 wurde offensichtlich nie gänzlich überwunden und bildet das aktuelle kulturpolitische Mobilisierungs-Potential der AKP-Regierung, deren letzte Konsequenz eine postkolonialen Abwendung vom globalen Westen ist.

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Wie schon in Kapitel 4.5. ausgeführt, sind die AdressatInnen dieser Kulturpolitik zum einen diejenigen TürkInnen, die Europa enttäuscht den Rücken zuwenden, da ihr Land trotz Atatürks Verwestlichungsmaßnahmen nie Teil dieses Europas wurde: Diese Enttäuschung findet sich nicht zuletzt in den sich seit 2005 hinziehenden EU-Beitrittsverhandlungen bestätigt. Zum anderen wird damit ein konservativ-religiöser Teil der türkischen Gesellschaft angesprochen, der sich durch die mit der Republikgründung einsetzende Säkularisierung aus der Öffentlichkeit verdrängt fühlte. Die Rückbesinnung auf eine islamisch geprägte, osmanische Kultur scheint geradezu identitätsstiftend für viele TürkInnen zu wirken. Die Gründung der Türkei als Nationalstaat (1923) und die damit einhergehende Verwestlichungs- und Säkularisierungspolitik Atatürks führte nach der türkischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg zwar zu einem Fortbestehen des Kerngebietes des Osmanischen Reichs als türkischer Republik und wendete weitere Eingriffe der europäischen Siegermächte ab. Jedoch implizierte dieser Vorgang den Verlust imperialer Macht und Größe sowie eine neue Abhängigkeit von Europa, welche bereits im 19. Jahrhundert zu einem Minderwertigkeitsgefühl bei den Osmanen geführt hatte (vgl. Kap. 1.2) (vgl. Buhbe 1996: 58).

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5.4.

Conclusio

Buenos Aires und Istanbul. Zu Beginn dieser Studie stand die Vermutung theatergeschichtlicher Analogien: Beide Städte sind von starken Spannungsfeldern einer autokratischen Vergangenheit einerseits, sowie (post)kolonialer Geschichte andererseits, geprägt.30 Diese Vermutung wurde durch den Rückblick in die Geschichte (Kap. 2) bestätigt und kontextualisiert. Die Untersuchung der gegenwärtigen Verfasstheit des Theaterraums in Buenos Aires und Istanbul (Kap. 3 und 4) offenbarte schließlich, dass die zwei Spannungsfelder, wenn auch in unterschiedlich ausgeprägter Brisanz und nicht immer so offensichtlich wie in der Vergangenheit, dennoch bis in die Gegenwart fortwirken. Während in Argentinien konstatiert werden kann, wie sehr sich große Teile der heutigen Gesellschaft vom jüngsten autokratischen Erbe abwenden und an der Verarbeitung der eigenen autokratischen Zeitgeschichte arbeiten, wie wenig sie aber aus den alten kolonialen Bestimmungen und Spannungen auszusteigen vermögen und diese teils weiterhin reproduzieren, so liest sich die türkische Situation vor einem umgekehrten Vorzeichen: spitzen sich doch derzeit beide Spannungsfelder in Istanbul in besonderer Weise zu und verbinden sich im Windschatten einer gesellschaftlichen Polarisierung und Mobilisierung. Diese Ergebnisse meiner Recherche machen deutlich: In beiden Städten, in Buenos Aires und in Istanbul, hat der gewählte Ansatz nicht nur Auskunft über die Verfasstheit des jeweiligen Theaters und seine Bedeutung in der jeweiligen Stadtgesellschaft gegeben, sondern davon ausgehend einen bestimmten Blickwinkel auf gesellschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge in diesen beiden Städten eröffnet. Der Ansatz der Forschungsarbeit erwies sich als transdisziplinär im reziproken Sinne: Einerseits: Nur, indem ich mich von der künstlerisch-ästhetischen Bühnenarbeit abwende und mich den urbanen Kontexten von Theater zuwende, erhalte ich Aufschluss über die Verfasstheit des Theaters einer Stadt und damit über seine Entwicklung und Verortung in der jeweiligen Gesellschaft. Deshalb rückten die stadt- und sozialräumlichen, sowie die kulturpolitischen Bedingtheiten von Theater in den Fokus der Studie: die Räumlichkeiten der Theater, ihre Lage im Stadtraum und ihr Erscheinungsbild, der Anspruch des Publikums, die Biografien der TheatermacherInnen ebenso wie die Auswirkungen eines liberalen oder restriktiven kulturpolitischen Systems. Aus dieser Feststellung leitet sich ein grundsätzlich neuer Anspruch ab, insbesondere an die deutschsprachige Theaterwissenschaft: Den dort eng rund um 30

Analysen des letzteren beziehen sich in aller Regel auf Auswirkungen der Kolonialherrschaft bzw. der von Europa über Jahrhunderte hinweg propagierten Überlegenheit.

5. Theater und Stadt. Wirkungen und Spannungen

die Beschreibung und Analyse von Bühnenästhetik abgesteckten Methodenkanon gilt es im Feld transdisziplinärer Forschungsdesigns, etwa an Schnittstellen zur Stadtsoziologie, Kulturwissenschaft oder zur Geschichte des Städtebaus, mit einer Verschiebung des Blickwinkels auf den Zusammenhang zwischen Theater und Stadt paradigmatisch zu erweitern. Wenn zudem, wie im Falle vorliegender Studie, der oder die ForscherIn und der Forschungsgegenstand kulturell unterschiedlich verortet sind, verstehe ich nämliches Vorgehen als Grundlage der Annäherung an das Bühnengeschehen, in Folge derer Aufführungen mit dem in der Theaterwissenschaft gängigen Analysewerkzeug untersucht werden können. Andererseits: Ohne die Betrachtung der einzelnen Theaterbereiche im Rahmen ihrer jeweiligen Charakteristika wäre die spezifische Wirkung der TheatermacherInnen und -zuschauerInnen in Buenos Aires und in Istanbul als signifikante Faktoren und Indikatoren stadtgesellschaftlicher Entwicklung unerkannt geblieben. Durch sie werden Prozesse gesellschaftlicher Transformationen greif- und nachvollziehbar. Erst durch die Fokussierung auf die unterschiedlichen Theaterbereiche – staatliches und kommerzielles Theater sowie Off-Theater, in Buenos Aires zudem das Teatro Comunitario – wurde es möglich, die Theaterräume als Seismographen der sie umgebenden stadt- und sozialräumlichen Felder für vorliegende Erkenntnisgewinne zu operationalisieren. Auf diese Weise kamen spezifische Erkenntnisse ans Tageslicht, etwa soziale Dynamiken der politischen Polarisierung einzelner Publikums- und damit Bevölkerungsgruppen, wie der Migration und Mobilisierung in Istanbul, der osmotischen Verschiebung und sozialen Selbstvergewisserung in Buenos Aires. Mit dem gewählten Forschungsansatz konnte aufgezeigt werden, auf welche Weise in den beiden untersuchten Fallbeispielen, den Städten Buenos Aires und Istanbul, dem Theater eine besondere stadtgesellschaftliche Relevanz zukommt, die in ihrer Spezifik ohne eine Überblendung von Stadt- und Theaterforschung nicht zutage getreten wäre. Ohne gegenseitige Verschränkung der Forschungsperspektiven wären die vorliegenden Erkenntnisse inmitten blinder Flecken verblieben: im blinden Fleck einer Stadtforschung, die sich kaum für die Beschreibung und Analyse von Theaterräumen interessiert; sowie im blinden Fleck einer Theaterwissenschaft, die haupt- und ursächlich stets vom Bühnengeschehen ausgeht und die Welt außerhalb der Bühnentürme kaum ausreichend beachtet. Doch Theaterräume bilden gesellschaftliche Strukturen ab und spiegeln zeittypische Konditionen wider, die sich nicht oder zumindest nicht allein anhand der künstlerischen Ergebnisse ihrer Bühnen entschlüsseln lassen. Dieser Anspruch an eine transdisziplinäre Perspektivenverschränkung und mein Ansatz einer Gegenüberstellung zwei einander ähnlicher Städte sind als doppelt ineinander verwobenes Forschungsdesign nicht voneinander zu tren-

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nen. Methodisch schon alleine auf Grundlage der in Kapitel 1 problematisierten Perspektive einer ortsfremden Forscherin und deren kritischer postkolonialer Reflexion zu rechtfertigen, erbrachte die Gegenüberstellung zweier Städte des sogenannten globalen »Südens« und ihrer Theaterräume einen weiteren entscheidenden Vorteil: In der Phase der Bestandsaufnahme (Kapitel 3 und 4) gebot die Komplexität des Forschungsvorhabens die Zurückhaltung eines Zaungasts, der aufgrund der parallelen Recherche in der jeweils anderen Stadt Erfahrungen mit sich trug, die zu kritischer Zurückhaltung bzgl. allzu schneller theoretischer Kontextualisierungen und analytischer Interpretationen anhielten; in der Phase der Ableitung (insbesondere Kapitel 5) verhinderte die gedankliche Gegenüberstellung der Theaterräume von Buenos Aires und Istanbul allzu schnelle Analogien oder Kontextualisierungen, Generalisierungen oder Abstrahierungen. So lassen sich die getroffenen Aussagen zwar in den genannten vier Wirkmustern grob clustern, schon alleine die Wahl der jeweiligen Überschriften und die Ausdifferenzierung innerhalb der beiden Städte und ihrer einzelnen Theaterbereiche zeigen aber, wie sehr eine weiterführende Vertiefung der abgeleiteten Erkenntnisse zu neuen Forschungsdesideraten führen. Dass sie jedoch überhaupt entstehen konnten, ist der zweifachen Doppelstruktur des angewandten Forschungsdesigns zu verdanken: einerseits der reziproken Ergänzung der Perspektiven der Theater- und Stadtforschung, andererseits der ständigen gedanklichen Gegenüberstellung der beiden Gegenstände meiner Forschung, der Städte Istanbul und Buenos Aires sowie ihrer Theaterräume. Und man siehet die im Lichte lautet der Titel dieser Untersuchung, der gleich zwei Erwartungshaltungen evozierte, die ich bewusst unterlaufen habe: Zum einen ging es mir eben nicht um eine Deutung argentinischen und türkischen Theaters im Lichte der Ergebnisse ihrer Bühnenästhetik, zum anderen eben nicht darum, sie allein unter dem Vorzeichen ihrer europäischen Einflüsse verstehen zu lernen. Mir ging es um das, was stets zwischen den Zeilen steht und nicht gesagt wird. Die im Dunkeln sieht man nicht: Es ist nicht nur das Theater selbst, es sind die Kontexte, Bedingtheiten, Verhältnisse, aus denen es in Städten wie Istanbul und Buenos Aires, in Ländern wie Argentinien und der Türkei entsteht, die meist unerwähnt bleiben und nicht durchleuchtet werden. Es sind die Städte, die etwas über ihre Theater zu sagen wissen, und die Theater, die etwas über ihre Städte zu verraten haben.

Epilog

Kehren wir abschließend noch einmal zum Ausgangspunkt meiner Arbeit zurück: Eine Theatererfahrung in Essen hatte mich dazu motiviert, die Betrachtung fremder Bühnenpraxis nicht alleine aus deren Ästhetik herzuleiten, sondern vor allem nach ihren äußeren Bedingungen und inneren Konstitutionen zu fragen. Um auf einer wissenschaftlichen Ebene zu Aussagen über die stadtgesellschaftliche Bedeutung der Theaterräume in Buenos Aires und Istanbul zu kommen, verschränkt vorliegende Studie Theater- und Stadtforschung: Die Annäherung fand über verschiedene Zugänge – kulturpolitische, biografische und theaterbetriebliche, stadtund sozialräumliche – statt, die schließlich zur Identifikation der in Kapitel 5 besprochenen Wirkmuster führte. Spätestens hier zeigte sich das Resultat der Forschungsstudie: Theater sind nicht nur das ästhetische Ergebnis ihrer Bedingtheiten, vor allem sind sie auch Produkt und direkter Ausdruck der sozialen Verhältnisse einer Stadtgesellschaft. Als solche verstanden, empfiehlt es sich nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht, etwa im Rahmen weiterführender Forschungsdesiderate, sondern auch in der Theaterpraxis von IntendantInnen, DramaturgInnen und KuratorInnen, einen erweiterten Blick auf den Theaterraum einer Stadt zu werfen. Der vorliegende Epilog unternimmt einen ersten Vorstoß in beide Richtungen. Forschungsdesiderate Die im Rahmen meiner Arbeit erlangten Erkenntnisse dienen nicht allein der Bestätigung meiner anfänglichen Forschungshypothese, sondern bilden darüber hinaus eine Grundlagenforschung zu den Theaterräumen zweier Städte, die bisher weder in der internationalen noch nationalen Forschung viel Beachtung gefunden haben. Vorliegende Studie verstehe ich als gedanklichen Ausgangspunkt und Anreiz, um in diesen Städten nun Detailanalysen etwa zu den Arbeitsbedingungen der TheatermacherInnen, dem Community Building der Publika oder der sozialen »Effektivität« (Delitz 2010) von Theaterarchitekturen etc. innerhalb dieser Städte durchzuführen. Damit richtet sich diese Studie nicht allein an TheaterwissenschaftlerInnen und StadtforscherInnen, sondern ebenso an SoziologInnen, KulturwissenschaftlerInnen, ArchitekturhistorikerInnen oder EthnologInnen.

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Neben den bereits in Kapitel 5 angedeuteten Forschungsdesideraten1 stellt sich vor allem die Frage der grundsätzlichen Übertragbarkeit meines Forschungsdesigns. Unabhängig davon, dass diese Meta-Fragestellung selbst ein weiteres Forschungsdesiderat darstellt,2 möchte ich zum Abschluss meiner Arbeit ein kurzes Gedankenexperiment in Richtung einer Übertragbarkeit auf weitere Städte/Städtepaare durchspielen. Zunächst wäre da einerseits meine Rolle als Theaterwissenschaftlerin: Als solche würde ich mich wahrscheinlich mit Städten beschäftigen, die in der Theaterwissenschaft sowieso schon eine übergeordnete Bedeutung haben – ja, bei denen sich bereits ein transdisziplinärer Ansatz von Theater- und Stadtforschung erahnen ließe. Besonders geeignet wären in diesem Sinne zeitlich bereits weiter zurückliegende Zeiträume, nicht zuletzt, da diese als historisch abgeschlossene Epochen beschreibbar sind. Beispiele wären das antike Athen oder das elisabethanische London, zwei der paradigmatischen, klassischen Betrachtungsgegenstände der Theatergeschichte. Mit Athen ließe sich am ehesten das Rom der späten Antike3 , mit London das Madrid des sogenannten Siglo de Oro, des »Goldenen Zeit-

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Folgende Forschungsdesiderate fanden in Kapitel 5 Erwähnung: Erstens wurde eine vertiefende Recherche zur Gentrifizierung des Istanbuler Stadtteils Kadıköy vorgeschlagen, da diese, wie im Rahmen der Untersuchung zum Theaterraum Istanbuls deutlich wurde, nicht wie die »klassische Gentrifizierung« vordergründig durch ökonomische, sondern durch politische Faktoren ausgelöst wurde. Die in Kadıköy beobachtete Form der Gentrifizierung könnte als Fallbeispiel für weltweit unterschiedlich auftretende Spielarten von Gentrifizierung dienen, wie sie etwa in dem 2015 erschienenen Sammelband »Global Gentrifications« (Lee/Shin/Lopez-Morales 2015) angeführt werden. Zweitens ließe sich in einer weiterführenden Studie ausgehend von der Unterbringung der Off-Theater in umgenutzten Hinterhöfen und Privatwohnungen sowohl in Buenos Aires als auch in Istanbul untersuchen, welche Rolle eine mehr oder weniger bewusst verfolgter, entweder aus politischer Not entstandene oder aus Marketingkalkül vorgenommene Camouflage bei der Zuschauergewinnung der Off-Theater spielt: Ein Aspekt subversiver und klandestiner Gemeinschaftsbildung, der mit Hilfe qualitativer Interviews mit dem Publikum und unter Einbeziehung von Konzepten der Szene- oder Subkulturforschung beleuchtet werden könnte. Drittens wäre in Istanbul in einer längerfristigen Studie zu untersuchen, welche gesellschaftlichen Folgen aus dem Fehlen von kulturellen Angeboten wie dem staatlichen Theater für die durch sie repräsentierten Gruppen und Schichten der Stadtgesellschaft bereits entstanden sind bzw. bei deren endgültigem Wegfall noch entstehen. Darüber hinaus denkbar sind noch weitere Forschungsprojekte, insbesondere zu den drei identifizierten Wirkmustern. Ein recht abstraktes, wissenschaftstheoretisches Forschungsdesign, das der Übertragbarkeit meines transdisziplinären Forschungsdesigns als paradigmatischem Modell an der Schnittstelle zwischen Stadtforschung und Theaterwissenschaft nachginge. Schon alleine aufgrund der Rezeption der Römer der gerade im römischen Theater hochverehrten hellenischen Vorbilder: Abseits der Bühnenästhetik (der mythischen Stoffe und der Dramenform) wären hier vor allem die mäzenatische Förderung der TheatermacherInnen, deren Arbeitsweisen im Rahmen fahrender Gruppen, die Theaterarchitektur sowie die sozia-

Epilog

alters« Spaniens im 16. Jahrhundert4 , in Beziehung setzen. Auf der anderen Seite stünde meine Rolle als Stadtforscherin, die nach klassischen Beispielen der kulturwissenschaftlichen Betrachtung fragen würde, denen der Theateraspekt bisher fehlt. Hier würde sich das Ost-Berlin der mittleren und späten DDR-Jahre eignen, städtebaulich oft untersucht und besprochen, aber kaum im Hinblick auf die Bedeutung der spannenden, reibungsvollen Theaterarbeit in diesen Jahren; eine Gegenüberstellung würde sich etwa mit dem ebenfalls kommunistisch geprägten Havanna der 1950er und 60er Jahre lohnen. Vor dem inneren Auge ergibt sich eine polithistorische, stadt- und theatergeschichtliche Querschnitts- und Übersichtsarbeit, der Versuch einer Gegenüberstellung stadtgesellschaftlich maßgeblich treibender Theaterkräfte mit ihren sie jeweils bestimmenden städtischen Verhältnissen. Die Problematik, welche uns hier begegnet, liegt darin, dass die theoretischen und methodischen Anleihen nicht modellhaft übertragen werden können. Wählt man als Städtepaar etwa Madrid/London oder Havanna/Ost-Berlin, erscheint zwar eine Verschränkung der Perspektiven ausgehend von einer anfänglichen Assoziationskette5 und daraus resultierenden möglichen Analogien als sinnvoll, jedoch erfordert die Verortung dieser Beispiele in der Geschichte ein disziplinübergreifen-

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le Praxis eines inklusiven Theaterangebots für die der attischen bzw. römischen Gesellschaft zugehörigen Bürger zu nennen. Beides Theaterepochen, die nach dem Mittelalter in starkem Maße an antike Theatertraditionen und -stoffe anknüpften, sich beide im Spannungsverhältnis zwischen höfischer Bühnenkunst und volksnahem Stehgreiftheater bewegten und ihrerseits selbst wieder zu Klassikern und Vorbildern der europäischen Theaterentwicklung wurden: Abseits der Bühnenästhetik (der Rezeption der Dramenform und der Beschäftigung mit antiker Mythologie sowie zeitgeschichtlichen Stoffen) wären hier vor allem die kommerzielle und subversive Ausrichtung der TheatermacherInnen, ihre gastierenden Arbeitsweisen unter dem Dach fester Spielstätten oder am Hof sowie die zueinander in Opposition stehenden Zielgruppen des einfachen Volkes und der höfischen Gesellschaft zu nennen. Für Madrid/London ergäbe sich folgender stichwortartiger Ansatzpunkt: Übergang vom Theater des Mittelalters zur Unterhaltung aus dem Schoß der Commedia; »von der Straße« kommendes Theater wird hoffähig: Prosperität, Mäzenatentum & Stolz auf kulturelle Errungenschaften an den Höfen Madrids und Londons; Einkauf von KünstlerInnen an den Hof, deren subversives Wirken (Lebensweise und Kunst) gleichzeitig außerhalb des Hofs von Kirche und Gesellschaft geächtet wird (linke Seite der Themse: Marlowe und Shakespeare; wandernde Theater-Ensembles: Cervantes und Lope de Vega), während sie ihre kritischen Botschaften am Hof verschlüsseln. Für Havanna/Ost-Berlin sähe eine entsprechende Skizze wie folgt aus: Aufbruchsgestus des »Neuen Menschen« vs. gleichgeschaltete Bühnenpraxis des Real-Sozialismus; dissidentische Gegenkultur vs. totalitärer Staat; Selbstkonstitution gesellschaftlicher Gruppen entlang des offiziellen und des subversiven Theaters; Geheimcodes im Umgang mit der Zensur, klandestine private und dezentrale Strukturen (Avantgarde außerhalb der Metropolen [etwa Castorf, Schleef fernab Berlins; Marti fernab Havannas] an privaten Orten [etwa Müller, Braun, Biermann in Berlin; Barnet in Havanna]).

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des historiografisches Vorgehen; es lässt sich nicht, wie in vorliegender Studie, auf einen ethnografischen Methodenkanon zurückgreifen. Erst auf Grundlage der Ergebnisse, welche sich durch eine gewisse Anzahl an Forschungsprojekten zu verschiedenen »Städtepaaren« ergäben, ließe sich möglicherweise neu bewerten, ob ein paradigmatisches Modell zur »Übertragbarkeit« entwickelt werden könnte. Theaterpraxis Doch ich betrachte den Mehrwert der Erkenntnisse vorliegender Studie nicht allein im Rahmen eines wissenschaftlichen Kontexts, sondern auch in Bezug auf die theaterpraktische Arbeit zeitgenössischer TheatermacherInnen. Die ersten Überlegungen zu meiner Studie begannen während des Besuchs einer Theateraufführung, der Inszenierung von »Promethiade« der türkischen Regisseurin Sahika Tekand. Dieses Gastspiel steht in einer Reihe mit weiteren Theaterproduktionen türkischer und argentinischer RegisseurInnen, die ich seitdem auf verschiedenen internationalen Theaterfestivals, insbesondere im deutschsprachigen Raum, gesehen habe (vgl. etwa Theater der Welt, Foreign Affairs, Spielart oder Steirischer Herbst). Als Gastspiele reisen sie um die Welt und suggerieren einem internationalen Publikum das »Kennenlernen« eines »argentinischen« oder »türkischen« Theaters. Interessanterweise geschieht dies des Öfteren mit dem scheinbaren Anspruch, das Programm dieser Festivals in postkolonial reflektierter Weise zu gestalten, indem KünstlerInnen außerhalb Europas einbezogen werden und weiterführende Texte zu den Postcolonial Studies in Begleitheften kursieren.6 Selten wird dabei jedoch auf die spezifischen städtischen Bedingungen – die damit einhergehenden Förder- und Ausbildungsstrukturen, Räumlichkeiten, Publika, oder die daraus resultierenden Produktions- und kulturpolitischen Rahmenbedingungen – eingegangen. Diese Kontextualisierung ist jedoch entscheidend, um als internationales Publikum die Sehgewohnheiten »anpassen« und auch hinterfragen zu können. Nicht selten begegneten mir bei meinen Vorstellungsbesuchen Aussagen anderer ZuschauerInnen wie: »Qualitativ ist das jetzt natürlich nicht mit dem deutschen Theater vergleichbar«. Oder umgekehrt »Das ist echt interessant, dass in Argentinien ein ähnlicher Trend bezüglich des Einsatzes von visuellen Medien besteht«. Was bedeutet »qualitativ nicht vergleichbar«? Wonach bemisst sich dieser Anspruch? Kann eine Gegenüberstellung ohne Kontextualisierung überhaupt stattfinden? Gehen wir den präsentierten KünstlerInnen nicht möglicherweise »auf den

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Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang die Einbeziehung von VertreterInnen des postkolonialen Diskurses: Offensichtlich hat dieser wissenschaftliche Diskurs bereits den Ansatz eines selbstreflektierenden Umdenkens bewirkt, führt aber noch nicht so weit, dass nicht hauptsächlich nur über, sondern auch mehr mit den »Betroffenen« – den VertreterInnen vermeintlich »exotischer« Theaterräume – gesprochen würde.

Epilog

Leim«, indem wir ihre Inszenierungen als repräsentativen Ausdruck einer gesamten (Theater)Kultur auffassen? Legen sie es im Gegenteil nicht vielmehr auf unsere Erwartungen und Vorurteile an, um mit ihren Arbeiten überhaupt nach Europa eingeladen zu werden? Hatten mir nicht RegisseurInnen und SchauspielerInnen in Buenos Aires erzählt, dass sich ihre Bühnenästhetik und Produktionsweise veränderten, sobald sie an den europäischen Markt denken? Hatte mir in Istanbul nicht ein Regisseur vom sog. türkischen »Exporttheater« erzählt? Von Produktionen, die türkische Theatergruppen explizit in Hinblick auf die Einladung zu europäischen Theaterfestivals konzipieren, ganz im Sinne der in Kapitel 1 zitierten Aussage der türkischen Regisseurin Emre Koyuncuolu: »Europe always wants to see the other«?! Dennoch präsentieren europäische Festivals die entsprechenden Produktionen letztlich als stellvertretenden Ausdruck zu entdeckender bislang unbekannter (Theater)Kulturen. Als wären diese schon allein aufgrund ihrer Eigenschaft wertvoll, dass sie aus exotischen, auf der »Mental Map« des internationalen »Jetset« der Festivals bisher kaum oder gar nicht vorhandenen Ländern stammen. Seit einigen Jahren interessieren sich IntendantInnen, DramaturgInnen und KuratorInnen für einen kleinen Kreis von KünstlerInnen, insbesondere RegisseurInnen und AutorInnen, aus Ländern wie Argentinien und der Türkei: Meist werden diese von Theater zu Theater, von Festival zu Festival weiter-, fast ist man geneigt zu sagen: durchgereicht, so lange, bis wieder eine »neue Entdeckung« gemacht wird. Von Zeit zu Zeit sprechen dann einige Feuilletons und Fachzeitschriften von einer Art Trend, mitunter erscheint eine Anthologie von Stücken zu entdeckender GegenwartsautorInnen.7 Deren kritische Edition, Kommentierung und Moderation kommt allerdings meist recht kurz, in vielen Fällen gar nicht erst vor. Nehmen wir nur ein kleines Beispiel, um zu verstehen, was fehlendes Kontextwissen (kultur)politischer, biografischer, sozial- oder stadträumlicher Bedingtheiten bewirken kann: Wenn ein Trend, gar »Boom« argentinischer AutorInnen und eine neue Ästhetik vor Ort in Buenos Aires festgestellt wird, ließe sich mit Blick auf die wirtschaftliche Situation der TheatermacherInnen leicht verstehen, dass der »Boom« argentinischer AutorInnen in den Off-Theatern von Buenos Aires zum einen möglicherweise tatsächlich etwas mit einer Nähe der Stoffe zum Publikum zu tun hat, zum anderen aber vor allem auf die hohen Tantiemen internationaler DramatikerInnen zurückzuführen ist. Wohin führen aber Einsichten wie die des genannten Beispiels? Wie könnten diese in die hiesige Theaterpraxis einfließen? Ein erster Schritt könnte darin bestehen, dass Kontext- und Hintergrundwissen Gegenstände der Kulturvermittlung (etwa im Rahmen von offenen Proben, zielgruppenspezifischen Workshops

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Vgl. etwa »Theaterstücke aus Brasilien« (Thorau 2019) oder »Theaterstücke aus Kuba« (Valiño 2019), hg. vom Verlag Theater der Zeit.

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etc.) und der dramaturgischen Stückaufarbeitung (Programmhefte, Web, Einführungen etc.) werden, wie sie im Rahmen der meisten Festivals mittlerweile zwar bereits angeboten werden, aber entsprechend der Argumentation meiner Arbeit unbedingt erweitert und ausgebaut werden müssen. Ein weiterer, weit größerer Schritt bestünde darin, das Format der derzeit gängigen internationalen Festivals und des dabei suggerierten »Austauschs« selbst zu überdenken und neue Formate zu entwickeln, welche lokale Bedingtheiten und Kontexte abbilden. Denkbar wäre etwa der aktive Einbezug von KünstlerInnen der betroffenen Länder/Städte, nicht allein im Rahmen von Residences, Fellowships, Masterclasses o.Ä., sondern per Einladung zur Mitgestaltung/Co-Kuratierung gesamter Festivalformate.8 Auch im Hinblick auf zielgruppenspezifische Arbeit gälte es in diesem Zusammenhang, nicht über, sondern mit den betroffenen AkteurInnen in offene Dialoge zu treten. Dazu gehören auch die entsprechenden Communities vor Ort und ggf. daraus entstehende diskursive Formate, etwa Filme, Vorträge oder Podiumsgespräche. Nicht zuletzt böten adäquate, gemeinsam mit den betroffenen KünstlerInnen (oder sogar Zielgruppen: migrantischen Communities etc.) erarbeitete projekt- bzw. prozessbegleitende Publikationen, wie Festival- bzw. Programmzeitungen oder Blogs, geeignete Plattformen, um inhaltliche Differenzierungen nicht nur mehrsprachig

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Auf ein belegendes Beispiel möchte ich an dieser Stelle im Rahmen des vorliegenden Epilogs doch kurz eingehen: Der Heidelberger Stückemarkt, eines der bedeutendsten Festivals für Gegenwartsdramatik im deutschsprachigen Raum, widmete sich 2019 dem Gastland Türkei. Veranstaltet vom Theater Heidelberg, lud der dortige Intendant Holger Schultze eines der Mitglieder des Istanbuler Kollektivs Kumbaracı50, Gülhan Kadim, als Kuratorin ein: Eine Maßnahme, wie ich sie im vorliegenden Epilog anrege – deren programmatisches Ergebnis allerdings einmal mehr zeigt, wie gering das Bewusstsein im Theaterbereich für die in vorliegender Arbeit beschriebenen äußeren Bedingtheiten des Theaters (in Istanbul und generell) tatsächlich ausgeprägt ist. Während des gesamten Heidelberger Stückemarkts fand keine Veranstaltung statt, die historische, (kultur)politische, betriebliche, biografische, stadt- oder sozialräumliche Bedingungen in angemessener Weise thematisiert hätte. Eine sinnbildliche Verdichtung findet dieser Umstand in einem Artikel der Theaterkritikerin Elisabeth Maier in der Juni-Ausgabe der Fachzeitschrift Theater der Zeit zu Festival und Gastland, dessen Einstieg ein Zitat der Kuratorin Kadim bildet: »Ein differenziertes Bild« der aktuellen Situation wolle man zeigen und sich »heftig gegen die Vorurteile und Fragen der deutschen Kollegen wehren«, die immerzu nach Repressionen fragen (Maier 2019: 65). Offensichtlich interessieren sich die »deutschen Kollegen« dabei allerdings, genauso wie der restliche Artikel von Maier, ausschließlich für die Bühnenergebnisse der türkischen KünstlerInnen. In diesem Sinne äußert sich im selben Artikel dann auch Intendant Schultze, indem er die Türkei als »Beispiel für die Brüchigkeit unserer Demokratien« bezeichnet (ebd.). Besser konnte es nicht auf den Punkt gebracht werden: Entgegen der Zielstellung der eingeladenen Kuratorin wird die türkische Situation auf Repressionen reduziert und als beispielhafte Folie für einen Diskurs genutzt, den man auf deutschen Bühnen gerne führen möchte. Eine Betrachtung abseits der Bühne bleibt auch weiterhin auf der Strecke.

Epilog

nach außen zu vermitteln, sondern vor allem auch den Beteiligten vor Ort die Möglichkeit einer direkten Resonanz zum Geschehen zu verschaffen. Doch nicht nur die Praxis der einladenden TheatermacherInnen in Europa könnte von mehr Kontextwissen profitieren. Auch und vor allem auf der Ebene kultur-, außen- und entwicklungspolitischer Einflussnahme zeigen sich europäische VertreterInnen im Kontakt mit Theaterräumen (und anderen Künsten) in autoritär regierten Ländern zunehmend verunsichert. PolitikerInnen wären gut beraten, sich differenzierender und kontextualisierender Expertisen anzunehmen, um einen umfassenderen Blick auf die Verhältnisse vor Ort zu gewinnen. So ließe sich aus der kritischen, historischen Bewertung des zurückhaltenden diplomatischen Umgangs mit der argentinischen Junta, etwa im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft 1978, die eine oder andere Erkenntnis für die heutige Haltung gegenüber autoritären Regierungen ableiten.9  Nicht ohne Grund gerät die heutige politische Umgangsweise mit Erdoğan in ein vergleichbares Sperrfeuer der Kritik: Wie umgehen mit einer Regierung, die freiheitliche, rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien, etwa den Grundsatz der Freiheit der Kunst, missachtet? Wie kann den KünstlerInnen vor Ort am besten geholfen werden? Indem man das Fenster des diplomatischen Dialogs und kulturellen Austauschs offenhält? Oder, indem man die Einhaltung o.g. Standards konsequent einfordert und eine außenpolitische Eskalation riskiert, ggf. selbst Konsequenzen ziehen muss, etwa den Rück- bzw. Abzug eigener kulturpolitischer Instrumente und Einrichtungen vor Ort (Goethe-Institute, politische Stiftungen, internationale Organisationen wie das Internationale Theaterinstitut)? Diese nicht zuletzt angesichts der politischen Entwicklungen in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wie Polen oder Ungarn immer drängenderen Fragen erfordern eine differenzierte und vertiefende Auseinandersetzung mit den jeweiligen Verhältnissen vor Ort – ob im Rahmen eines künstlerischen und diskursiven Austauschs auf Augenhöhe oder des Ausbaus und der Förderung wissenschaftlicher Arbeiten wie der vorliegenden. Schließen möchte ich mit einem Rückverweis auf meine eigene Rolle: Als Theaterwissenschaftlerin und Stadtforscherin, aber auch als Zuschauerin wollte ich mehr über den Kontext der Theaterarbeit in Istanbul und Buenos Aires erfahren; als Forscherin war ich um eine kritische Distanz zu meinem Forschungsgegenstand, zu Theaterräumen und InterviewpartnerInnen, bemüht; als Mensch konnte ich 9

Sowohl die außenpolitische Elite der BRD, als auch die Ebene ihrer Sportfunktionäre, sah sich schon zum Zeitpunkt der Fußball-Weltmeisterschaft ob ihres freundlichen Tons gegenüber der einladenden Junta massiver innenpolitischer Kritik ausgesetzt. Deutlichen Beifall erhielten dagegen sowohl BRD-Regierung, als auch DFB-Spitze für ihr öffentliches Auftreten gegenüber Putins Gastgeberschaft bei der WM 2018: Führende politische VertreterInnen boykottierten die Anreise; das DFB-Präsidium und das Management der Nationalmannschaft äußerten sich in der internationalen Presse mehrfach kritisch zu den Arbeitsbedingungen von SportlerInnen und KünstlerInnen im Russland der 2010er Jahre (vgl. Beyer 2014).

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diese nicht immer einhalten. Auch, wenn mich die eine oder andere Begegnung, insbesondere in der Türkei, dazu brachte, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, mein Promotionsprojekt gegen das Dasein als Politaktivistin einzutauschen, so war und ist es doch richtig, die Arbeit als Wissenschaftlerin zu Ende gebracht zu haben. Ich bin davon überzeugt: Nur auf der Basis einer um nachvollziehbare Ergebnisse und transparente Positionen bemühten Sicht- und Arbeitsweise kann es gelingen, das Bewusstsein von hiesigen TheatermacherInnen und PolitikerInnen, aber auch aller Kultur-, Kunst- und Theaterinteressierter in eine differenzierte Richtung zu lenken. Ich hätte auch einen Städte- und Theatervergleich zwischen dem elisabethanischen London und dem Madrid des Siglo de Oro schreiben können. Aber warum hätte ich es mir so leicht machen sollen?   – Ich muss mich vergewissern, ob nicht das Objekt, das ich mir vorgenommen habe, in ein Netz von Relationen eingebunden ist, und, ob es seine Eigenschaften nicht zu wesentlichen Teilen diesem Relationsnetz verdankt –10

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Bourdieu 1996: 262.

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GesprächpartnerInnen GesprächpartnerInnen in Buenos Aires Juan Baio, Schauspieler und Regisseur, Interviewtermin: 25.06.2014 Ruben Bayardo, Direktor des Programms für Kulturanthropologie, Universidad de Buenos Aires, Interviewtermin: 01.08.2014 Roberto Bisogno, künstlerischer Leiter des Teatro Apolo, Interviewtermin: 29. 03.2016 Sebastian Blutrach, Inhaber des Teatro Picadero, Interviewtermin: 20.03.2016 Matías Feldman, Inhaber des Club de Defensores de Bravard (El Bravard), Interviewtermine: 28.07.2014 und 03.08.2014 Emilio Gutiérrez, Inhaber des El Camarín De Las Musas, Interviewtermin: 02. 09.2014 Walter Jakob, Schauspieler und Regisseur, Interviewtermin: 24.07.2014 Andres Lifschitz, selbständiger Theaterproduzent, Interviewtermin: 06.08.2014 Alberto Ligaluppi, Generaldirektor des Complejo Teatral de Buenos Aires, Interviewtermin: 26.08.2014 Norma Montenegro, Inhaberin des Teatro del Abasto, Interviewtermin: 19.08.2014 Carolina Prieto, Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Festival Internacional de Buenos Aires, Interviewtermin: 22.08.2014

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Florencia Rivieri, Mitarbeiterin der gemeinnützigen Initiative Creare Vale la Pena (CVLP) in San Isidro, Interviewtermin: 31.07.2014   Amanda Rodriguez, Mitarbeiterin am Paseo la Plaza, Interviewtermin: 04.04.2016   Lisandro Rodriguez, Inhaber des El Elefante Club de Teatro, Interviewtermine: 25.08.2014 und 12.09.2014   Ines Sanguinetti, Leiterin der gemeinnützigen Initiative Creare Vale la Pena (CVLP) in San Isidro, Interviewtermin: 31.07.2014   Edith Scher, Leiterin des Teatro Comunitario in Villa Crespo, Interviewtermin: 23.07.2014   Nico Schneider, Schauspieler, Interviewtermin: 20.07.2014   Pablo Silva, Theaterproduzent am Centro Cultural de la Cooperación, Interviewtermin: 14.09. 2014   Rafael Spregelburd, Regisseur, Schauspieler und Autor, Interviewtermin: 11.08. 2014   Rubén Szuchmacher, Mitinhaber des El Kafka.Espacio Teatral, Interviewtermin: 25.08.2014   Raul Wagner, Professor am Institut für Urbanismo an der Universidad de Sarmiento, Interviewtermin: 23.08.2014 GesprächspartnerInnen in Istanbul   Bahar Çuhadar, Theaterkritikerin, Interviewtermin: 19.12.2015   Basak Erzi, Dramaturgin am Şehir Tiyatrosu Istanbul, Interviewtermin: 17.12.2015   Duygu Abes, Pressesprecherin am Devlet Tiyatrosu Istanbul, Interviewtermin: 17.12.2015   Hakan Altıner, Inhaber des Tiyatro Kedi, Interviewtermin: 20.12.2015

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Ufuk Tan Altunkaya, Inhaber des Mekan Artı, Interviewtermine: 23.09.2010, 14.05.2015 und 18.12.2015 Selin Ekşioğlu, Mitarbeiterin der Abteilung für Unternehmenskommunikation am Zorlu Performing Arts Center, Interviewtermin: 21.12.2015 Genco Erkal, Leiter des Dostlar Tiyatro, Interviewtermin: 08.11.2010 Günay Ertekin, Dramaturgin am Devlet Tiyatrosu Istanbul, Interviewtermin: 17.12.2015 Ömer Erzurumlu, Mitinhaber des Kumbaracı50, Interviewtermine: 08. 11.2010 und 17.12.2015 Yesim Özsoy Gülan, Regisseurin und Leiterin der Plattform Galata Perform, Interviewtermine: 29.09.2010 und 19.06.2014 Emre Koyuncuolu, Regisseurin, Interviewtermin: 30.09.2010 Kerem Kurdoglu, Regisseur und Leiter der Theatergruppe Kumpanya, Interviewtermin: 10.11.2010 Mirza Metin, Mit-Inhaber von Şermola Performans, Interviewtermin: 13.04.2015 Yavuz Pekman, Professor am Institut für Dramaturgie an der Universität Istanbul, Interviewtermin: 28.09.2010 Hilmi Zafer Sahin, Chefdramaturg am Şehir Tiyatrosu Istanbul, Interviewtermin: 24.09.2010 Heves Tüzün, Mitinhaberin des Ikincikat, Interviewtermin: 21.12.2015 Eyüp Emre Uçaray, Mitinhaber des Sifir Nokta Iki Tiyatro (Ikincikat), Interviewtermin: 08.11.2010 Onur Ünsal, Mitinhaber der Moda Sahnesi, Interviewtermin: 19.12.2015 Ibrahim Yakut, Inhaber des Minerva Tiyatro, Interviewtermin: 13.05.2015 Özen Yula, Schriftsteller und Regisseur, Interviewtermin: 04.11.2010

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  Berfin Zenderlioğlu, Mitinhaberin des Şermola Performans, Interviewtermin: 19.05.2015

Adressen der ausgewählten Theater Staatliche Theater in Buenos Aires Teatro Cervantes Adresse: Libertad 815, Retiro www.teatrocervantes.gob.ar   Teatro Colón Adresse: Cerrito 628, San Nicolás www.teatrocolon.org.ar   Teatro San Martín Adresse: Av. Corrientes 1530, San Nicolás www.complejoteatral.gob.ar   Teatro de la Ribera Adresse : Av. Don Pedro de Mendoza 1821, La Boca www. complejoteatral.gob.ar/teatro-de-la-ribera Kommerzielle Theater Buenos Aires Teatro Apolo Adresse : Av. Corrientes 1372, San Nicolás www.teatroapolo.com.ar   Paseo la Plaza Adresse : Av. Corrientes 1660, San Nicolás www.paseolaplaza.com.ar   Teatro Picadero Adresse: Enrique Santos Discepolo 1857, San Nicolás www.teatropicadero.com.ar Off-Theater in Buenos Aires Teatro del Abasto Adresse: Humahuaca 3549, Almagro www.teatrodelabasto.com

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  El Club de Defensores de Bravard Adresse : Bravard 1178, Villa Crespo estudiobravard.blogspot.com   El Camarín de las Musas Adresse : Mario Bravo 960, Almagro www.elcamarindelasmusas.com   El Elefante Adresse : Guardia Vieja 4259, Almagro www.facebook.com/elefanteclub   El Kafka Adresse : Lambaré 866, Almagro elkafkaespacioteatral.blogspot.com Staatliche Theater in Istanbul Hauptspielstätten Şehir Tiyatrosu, Muhsin Ertrugul Sahnesi Adresse: Harbiye Mh, Darülbedayi Cd No:3, 34367 Şişli; www. sehirtiyatrolari.ibb.istanbul   Devlet Tiyatrosu Cevahir Sahnesi Adresse : 19 Mayıs Mahallesi, Cevahir Alışveriş Ve Eğlence Merkezi, Büyükdere Cd. No:22 D:242, 34360 Şişli; www.devtiyatro.gov.tr/programlar-sehirler-istanbul.html Nebenspielstätten Ümraniye,Sanesi (Şehir Tiyatrosu) Adresse: Atatürk Mah. Alemdağ Cad. Ümraniye   Gaziosmanpaşa Sahnesi (Şehir Tiyatrosu) Adresse: Merkez Mh., Ordu Cad. Gaziosmanpaşa Sahnesi, 34245 Gaziosmanpaşa   Küçükçekmece Cennet Kültür Sanat Merkezi (Devlet Tiyatrosu) Adresse: Cennet Mahallesi Yahya Kemal Beyatlı Cad. Küçükçekmece   Üsküdar Tekel Sahnsi (Devlet Tiyatrosu) Adresse: Paşa Limanı No.66 Üsküdar

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Kommerzielle Theatergruppen in Istanbul Tiyatro Kedi Adresse (Büro): Merkez Mahallesi, Abide-i Hürriyet Cd No:211, 34381 Şişli www.kedi-sahne-sanatlari.com   Tiyatro Minerva Adresse (Büro): Hürriyet Mah. Gazi 1 Sk. No:13/6 Bahçelievler www.facebook.com/pg/tiyatrominerva Kommerzielle Veranstaltungsorte in Istanbul Kültür-Merkezis Başakşehir Kültür Merkezi Adresse: Başak Mahallesi, Akşemsettin Cd. No:3 Başakşehir www.basaksehirkultursanat.org/   İBB Şehit Kaymakam Muhammed Fatih Safitürk Kültür Merkezi (Ümraniye) Adresse: Atakent Mahallesi Atakan Caddesi Üstündağ Sokak No: 2, Ümraniye   İBB Yenibosna Dr. Enver Ören Kültür Merkezi (Bahçelievler) Adresse: Yenibosna Merkez Mahallesi 29 Ekim Caddesi No: 30, Bahçelievler   Küçükçekmece Cennet Kültür ve Sanat Merkezi Adresse: Cennet, Yahya Kemal Beyatlı Cd. No:89, 34290 Küçükçekmece https://kucukcekmecekultursanat.com/   Zeytinburnu Kültür Sanat Adresse: Semiha Şakir Caddesi 15 Temmuz Meydanı Zeytinburnu www.zeytinburnukultursanat.com Shopping Malls Kanyon Mall Adresse: Esentepe Mahallesi, Büyükdere Cd. No:185, 34394 Şişli www.kanyon.com.tr/en/home   Trump Towers Adresse: Kuştepe Mahallesi, Mecidiyeköy Yolu Cd. No:12, 34381 Şişli www.trumpistanbul.com.tr/      

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Zorlu Performans Sanatlari Merkezi Adresse: Levazım Mah., Koru Sok. No:2, 34340 Beşiktaş www.zorlupsm.com/tr Off-Theater in Istanbul Ikincikat Adresse: Emekyemez Mahallesi, Demirci Fettah Çk. No:2, 34421 Beyoğlu www.ikincikat.com.tr   Kumbaracı50 Adresse: Tomtom Mahallesi, Kumbaracı Ykş. No:50, 34433 Beyoğlu www.kumbaraci50.com.tr   Mekan Artı Adresse: Binbirdirek Mh., Yeniçeriler Cd. Çemberlitaş Aşlışveriş Merkezi 1/1, 34122 Fatih; www.mekanarti.com   Moda Sahnesi Adresse: Osmanağa Mahallesi, Halil Ethem Sokak, General Asım Gündüz Cd., 34714 Kadıköy; www.modasahnesi.com   Şermola Performans Adresse: İstiklal Mahallesi, İstiklal Cad./nane Sok. No: 5, 34435 Beyoğlu www.sermolaperformans.com

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Abbildungsverzeichnis Wenn nicht anders vermerkt, liegen die Rechte an den Fotos und Grafiken bei der Autorin. Die Grafiken sind auf Basis von Kartenmaterial entstanden, das auf www.googlemaps.com (Map data ©2019 Google) zur Verfügung steht. Abb. 1: Clases de Teatro Abb. 2: Stadtkarte Buenos Aires Abb. 3: Stadtkarte Buenos Aires: Barrios © Sefer; https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Mapa-CABA-Barrios-Nombres.svg; Zugriff 13.05.2019. Abb. 4: Stadtkarte Microcentro Abb. 5: Microcentro: Standorte der staatlichen und kommerziellen Spielstätten Abb. 6: Teatro Colón Abb. 7: Teatro Cervantes Abb. 8: Teatro San Martín Abb. 9: Teatro Apolo Abb. 10: Teatro Picadero © Teatro Picadero Abb. 11: Paseo la Plaza © https://www.buenosaires.gob.ar/paseo-la-plaza; Zugriff 13.03.2019. Abb. 12: Stadtkarte Puerto Madero Abb. 13: Stadtkarte Almagro, Balvanera, Villa Crespo, Palermo, San Telmo, Boedo und Abasto Abb. 14: Bodenplatte Buenos Aires Abb. 15: Stadtkarte: Standorte der Off-Theater in Almagro und Villa Crespo Abb. 16: El Elefante Abb. 17: Club de Defensores de Bravard Abb. 18: El Camarín de las Musas Abb. 19: El Kafka Abb. 20: Teatro del Abasto Abb. 21: Stadtkarte La Boca Abb. 22: La Boca: Standorte Teatro de la Ribera und El Galpon Abb. 23: Teatro de la Ribera © https://www.flickr.com/photos/total13/3626409832/; Zugriff 13.03.2019. Abb. 24: El Galpon © Grupo de Teatro Catalinas Sur: www.catalinasur.com.ar; Zugriff 13.05.2019. Abb. 25: Stadtkarte Villa Lugano Abb. 26: Stadtkarte mit allen eingezeichneten Theaterspielstätten von Buenos Aires Abb. 27: Stadtkarte Istanbul Abb. 28: Stadtkarte Beyoğlu Abb. 29: Beyoglu: Standorte der Off-Theater Kumbaracı50 und Şermola Performans Abb. 30: Şermola Performans

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Abb. 31: Kumbaracı50 Abb. 32: Stadtkarte mit grau unterlegtem Şişhane Abb. 33: Şişhane: Standort des Off-Theaters Ikincikat Abb. 34: Ikincikat Abb. 35: Stadtkarte Şişli Abb. 36: Şişli: Standorte der staatlichen Spielstätten Muhsin Ertrugul Sahnesi und Cevahir Sahnesi Abb. 37: ICC-Congress Center Abb. 38: Muhsin Ertrugul Sahnesi (Şehir Tiyatrosu) Abb. 39: Cevahir Mall Abb. 40: Cevahir Sahnesi (Devlet Tiyatrosu) Abb. 41: Stadtkarte Fatih Abb. 42: Fatih: Standort des Off-Theaters Mekan Artı Abb. 43: Mekan Artı Abb. 44: Stadtkarte Kadıköy Abb. 45: Kadıköy: Standort des Off-Theaters Moda Sahnesi Abb. 46: Moda Sahnesi Abb. 47: Istanbul: Standorte der staatlichen und kommerziellen Spielstätten Abb. 48: Küçükçekmece Cennet Kültür ve Sanat Merkezi Abb. 49: Kültür Merkezi Bacelievler © http://m.bahcelievler.bel.tr/Content.aspx? ContentID=3772&CategoryID=474; Zugriff 13.03.2019. Abb. 50: İBB Şehit Kaymakam Muhammed Fatih Safitürk Kültür Merkezi © https://kultursanat.ibb.istanbul/KulturMd_CultureCenter/Index/6; Zugriff 13. 03.2019. Abb. 51: Zorlu Center Abb. 52: Cevahir Mall Abb. 53: Stadtkarte mit allen eingezeichneten Theaterspielstätten von Istanbul

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein

Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, Fadenbindung, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8

Gabriele Klein (Hg.)

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Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

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Theater- und Tanzwissenschaft Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.)

Theater in Erlangen Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Januar 2020, 402 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4960-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4960-8

Mateusz Borowski, Mateusz Chaberski, Malgorzata Sugiera (eds.)

Emerging Affinities – Possible Futures of Performative Arts 2019, 260 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4906-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4906-6

Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)

Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste 2019, 264 S., kart., 9 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4655-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4655-3

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