»... und ging ins pralle Leben«: Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision [1 ed.] 9783666404924, 9783525404928

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»... und ging ins pralle Leben«: Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision [1 ed.]
 9783666404924, 9783525404928

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Jan Lohl

»... und ging ins pralle Leben« Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision

Interdisziplinäre Beratungsforschung

Herausgegeben von Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller, Christiane Schiersmann Band 15: J an Lohl »… und ging ins pralle Leben«

Jan Lohl

»… und ging ins pralle Leben« Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl

Vandenhoeck & Ruprecht

Gefördert durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. (DGSv).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Elena Larina/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-3038 ISBN 978-3-666-40492-4

Für Jörg Fellermann

Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Themenstellung und Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . 12 1.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Rahmentheorie: Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis der Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4 Methodenfahrplan: Narrative Interviews, thematische Segmentierung, hermeneutische Rekonstruktion . . . . . . . . . . . 23 1.5 Beschreibung des Samples . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2 Facetten der Supervisionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1 Überblick: Die Geschichte der Supervision im Spiegel der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2 Nach Nationalsozialismus und Krieg. Die Konstitutionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3 Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 44 2.3.1 Supervision, Politik und Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.3.2 Individualisierung von Lebenslagen als Kontext der Supervisionsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3.3 In Ausbildung. Supervisionsausbildungen der 1970er Jahre als Thema der Interviews . . . . . . . . . 61 2.3.3.1 Der metaphorische Ort der Ausbildung . . . . . . . . . . . 62 2.3.3.2 Gruppendynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.3.3.3 Grenzverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.3.3.4 Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.3.3.5 Drei Schlusspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

2.4 Wichtig für die Supervisionsentwicklung, »blass« in den Interviews: die 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.4.1 Die Gründung der DGSv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.5 Neoliberalismus und Re-Organisation der Erwerbsarbeit. Die Konsolidierungsphase . . . . . . . . . . . . . 86 2.5.1 Supervision und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.5.2 Supervision und Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.5.3 Ökonomisierung und Vermarktlichung der Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.5.4 Psychische Bedingungen des (Nicht-)Wandels der Beratungspraxis von älteren Supervisor*innen . . . 98 3 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Geleitwort

Jan Lohl rekonstruiert in seinem Buch die Geschichte der Supervision zum einen als Geschichte ihrer Professionalisierung, zum anderen als Geschichte ihrer politischen Ansprüche. In Anlehnung an die Forschungstradition der Oral History hat er qualitative Interviews mit Zeitzeugen aus der Gründungs­generation geführt und ausgewertet. Er lässt sie ausführlich zu Wort kommen, wobei seine wertschätzende Interviewführung dafür sorgt, dass die Interviewten motiviert werden, sich bei ihrem Denkprozess, ins­ besondere dem Denken bislang nicht gedachter Gedanken, beobachten zu lassen. Die DGSv hat das Projekt in Auftrag gegeben, um zentrale Fragen zu klären: Wer sind wir im Vergleich, aber auch in Konkurrenz zu welchen anderen? Mit welchen unserer Leistungsangebote werben wir auf dem Beratermarkt wie erfolgreich? Wie bereiten wir uns auf die Zukunft vor? Brauchen wir eine Wertbindung? Historische Ereignisse lassen sich verschieden erzählen. Eine beliebte Erzählung ist die heroische Selbstbeschreibung. Jan Lohl erzählt dagegen die Geschichte der DGSv als eine Problemgeschichte, in der es um wiederkehrende strukturelle Probleme der Arbeitsgesellschaft geht, die immer wieder neue Lösungen verlangt. Er erzählt sie mit gebotener Distanz, denn Erinnerungen und liebgewordene Überzeugungen verklären das Geschehen. Um dem zu entgehen, bemüht sich Jan Lohl um größtmögliche Transparenz seines Vorgehens: wie er zu seinen Daten kommt und wie er sie interpretiert. Jan Lohl traut der DGSv zu, unter den Supervisor*innen und deren Kund*innen ein Bewusstsein für »gute Arbeit« zu schaffen  – eine Erwerbsarbeit, die kreative Potenziale entfaltet und sie nicht einem rücksichtslosen Verwertungsinteresse unterwirft. Er sieht die DGSv in der Pflicht, die Voraussetzungen und Folgen einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft kritisch zu reflektieren. Das heißt nun nicht, sich parteipolitisch zu positionieren, aber doch, sich für ein Beratungsformat zu engagieren, das sich weder in Honorarfragen noch in beratungstechnischen Fragen erschöpft.

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Geleitwort

Vielmehr geht es um eine wertrationale Fundierung der Supervision. Welche Werte das sind, darüber wird in der DGSv gestritten. Vor allem jüngere Supervisor*innen neigen zu einer pragmatischen Haltung, weil sie sich – zu Recht – keine Gesinnung vorschreiben lassen wollen. Im Umfeld der 68er-Bewegung wurde Supervision zu einer Facette kritischer Sozialarbeit. Organisationen galten als institutionalisierte gesellschaftliche Zwänge, die das Individuum unterwerfen. Folglich hieß Supervision, das Individuum zu stärken. Erst später setzte sich die Haltung durch, dass Organisationen nicht nur verhindern, sondern auch ermöglichen, sodass es heute in Supervisionen um die konflikthafte Spannung zwischen Individuum und Organisation geht, was Supervisor*innen zu Vermittler*innen macht. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe, zu deren produktiver Bewäl­ tigung es der Fähigkeit und Bereitschaft bedarf, die eigene Rolle selbstkritisch zu reflektieren. Der DGSv ist es hoch anzurechnen, dass sie keine Eloge in Auftrag gegeben hat, sondern eine historische Standortbestimmung, die Grundsatzdebatten riskiert. Dem Buch ist zu wünschen, dass es nicht auf einem Regal verstaubt. Rolf Haubl

1 Einführung

Supervision in ihren gegenwärtigen Formen hat eine bewegte Geschichte, die sie in hohem Maße bis heute prägt. Sie ist dabei allerdings nicht einfach nur eine ältere Beratungsform, die sich im Laufe ihrer Geschichte entwickelt und professionalisiert hat. Gleichzeitig ist die Supervision immer jung, frisch und ungemein lebendig. Jung ist Supervision, weil Supervisor*innen, vermittelt über die Arbeitssubjekte, die sie beraten, mit zeitgenössischen Veränderungen der Arbeitswelt konfrontiert sind. »[M]an kriegt ja«, sagt Helga O. im Interview mit mir, »einen Einblick durch die Supervision in die verschiedenen Arbeitsfelder und in den Druck, der da ist«. In Supervisionsprozessen spiegeln sich die Themen und die Dynamiken, die die Arbeitssubjekte, die Teams und Organisationen, die Arbeitswelt und mitunter die Gesellschaft insgesamt beschäftigen. Supervision ist also jung, weil Supervisor*innen am »Puls der Zeit« arbeiten. Damit aber sind spezifische Herausforderungen an Supervision verbunden. Denn die gesellschaftliche Entwicklung »stellt«, so erzählt Frau O. weiter, »die Supervision echt vor neue Aufgaben«. Sie deutet an, dass die Supervision und ihre Entwicklung eng mit gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere der Arbeitswelt, verzahnt sind. Die Geschichte der Supervision lässt sich daher nicht verstehen, wenn ausschließlich die Entwicklung von Supervisionsmethoden und -formen, der Wandel der sozialen Praxen der Supervision oder die Veränderung von Referenztheorien und -kulturen betrachtet werden. Will man die Geschichte der Supervision und ihre Entwicklung zu einer eigenständigen Beratungsform verstehen, so ist es notwendig, sich eher an dem Wandel der Arbeitswelt und der gesellschaftlichen Entwicklungen zu orientieren, als an der Entwicklung von Beratungsmethoden (Buchinger, 1999, S. 15). Alt aber ist Supervision, weil sie in ihrer heutigen Gestalt einen langen Konstitutionsprozess hinter sich hat, der in (West-)Deutschland nach dem Nationalsozialismus beginnt. Über die Entwicklung der Arbeitswelt hinaus, das zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, sind gesamtgesellschaftliche Veränderungen, wie die Individualisierung gesellschaftlicher Lebenslagen und die damit verbundenen Veränderungen

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Einführung

von Berufs- und Bildungsbiografien oder politische Prozesse wie die Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus, von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Supervision. Die Veränderung der Supervision hängt mit dem gesellschaftlichen Wandel selbst zusammen: Supervision hat daher eine lange bewegte Geschichte, die jenseits der Geschichte der Gesellschaft, in der wir heute leben, nicht zu verstehen ist. Dieses Buch basiert auf einer von der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv) finanzierten und am Sigmund-Freud-­ Institut durchgeführten Studie, die die Geschichte der Supervision in der Bundesrepublik empirisch untersucht hat. Auf den folgenden Seiten werden zentrale Facetten dieser Geschichte sichtbar und der gesellschaftliche Kontext der Entwicklung der Supervision deutlich gemacht. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie zielt somit auf eine Einsicht in das Verhältnis des Entwicklungsprozesses der Supervision zu den historischen Ereignissen und Veränderungen der deutschen Gesellschaft. Erhellt werden sollen Facetten einer Sozialgeschichte, aus der heraus sich vielleicht verstehen lässt, wie die Supervision zu dem wurde, was sie heute ist. Hintergrundannahme ist dabei, dass die Entwicklung der Supervision nicht nur mit sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen verwoben ist, sondern dass die Reflexion dieser Veränderung dort, wo sie eine arbeitsweltbezogene Mikro- und Mesoebene betreffen, den Kern der supervisorischen Praxis selbst bilden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Supervision verstanden wird als eine Form re­flexiver Beratung in der Arbeitswelt: Einzelpersonen oder kleine Gruppen reflektieren Themen ihres alltäglichen beruflichen Handelns gemeinsam mit einem Super­ visor oder einer Supervisorin und setzen Veränderungsprozesse in Gang. Diesem Buch liegen dreißig Interviews mit älteren Supervisor*innen zugrunde. Ihnen wird in diesem Buch ausführlich Raum gegeben, da sich in ihren Berufsbiografien die Partizipation an der überpersönlichen Geschichte der Supervision spiegelt. Die Erzählungen der Supervisor*innen aus ihrer gelebten Geschichte der Supervision vermitteln die Supervisionsentwicklung und ihre jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte auf eine erfahrungsnahe Weise, was den besonderen Zugang der vorliegenden Studie ausmacht.

1.1  Themenstellung und Forschungsperspektive Die Geschichte der Supervision ist nicht nur jung und alt zugleich, sondern durch einen bereits angedeuteten weiteren Aspekt charakterisiert: Supervision ist eine Methode, deren Ausübung an psychosoziale Kom-

Themenstellung und Forschungsperspektive13

petenzen und Fähigkeiten gebunden ist, über die Personen verfügen: Es gibt keine Supervision ohne Supervisor*innen. Dass die Supervision und ihre Geschichte immer an Subjekte gebunden ist, hat sich die vorliegende Studie zunutze gemacht: Ältere Supervisor*innen aus der Gründungsgeneration der Supervision in der Bundesrepublik wurden in narrativen Interviews gebeten, ihre je eigene Geschichte der Supervision zu erzählen. Dementsprechend lautet die bereits im Projektantrag an die DGSv formulierte Fragestellung der Studie folgendermaßen: »Über eine nondirektive indirekte Interviewtechnik sollen diese und weitere Themenstellungen bearbeitet werden: Wie bildet sich die Entwicklung der Supervision in den Erzählungen, Erfahrungen und Erinnerungen von älteren Supervisor*innen ab? Wie sind Ausbildung und Berufsbiografie verlaufen? Aus welchen (psychischen, biografischen, gesellschaftlichen und politischen) Beweggründen haben sich die Interviewten der Supervision zugewandt? Welche Stellung haben diese Gründe in der Ausbildung gehabt und welche Bedeutung kommt ihnen während der Tätigkeit als Supervisor*in zu? Wie haben sich ökonomische, gesellschaftliche und politische Prozesse in dieser Tätigkeit abgebildet? Gibt es hierbei wiederkehrende Themen und Aspekte – möglicherweise mit historischem Schwerpunkt? Gibt es exemplarische Supervisionsprozesse, die den Befragten besonders in Erinnerung geblieben sind?«1

Die durchgeführte Studie schließt methodologisch an eine subjektorientierte Sozialgeschichtsforschung an (von Plato, 2000, 2004). Diese geht im Kern davon aus, dass es stets Subjekte sind, die in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen handeln und damit »Geschichte machen«.2 Sie und ihre Erfahrungen sind elementarer Bestandteil historischer Prozesse, der von der Forschung nicht vernachlässigt werden darf. Selbst eine mit historischen Dokumenten arbeitende Forschung ist notwendig

1 Der zweite methodische Zugang zur Sozialgeschichte der Supervision (Dokumentenanalyse) ist kurz nach Beginn des Projektes im Einvernehmen mit dem damaligen Geschäftsführer der DGSv Jörg Fellermann und dem ehemaligen Direktor des Sigmund-Freud-Institutes (SFI) Rolf Haubl entfallen, da die Literaturauswertung ergab, dass umfassende Dokumentenanalysen bereits durchgeführt wurden (Ringshausen-Krüger, 1977; Gärtner, 1999). Die bedeutsamste dieser Analysen ist bereits 1977 im Rahmen einer Dissertation von Margarete Ringshausen-Krüger – nota bene unter Beteiligung des Gründungsdirektors des SFI Alexander Mitscherlich – durchgeführt worden, existiert jedoch bislang nur als graue Literatur. 2 Damit ist nicht gemeint, dass historische Prozesse ausschließlich von Subjekten »gemacht« werden. Dies trifft nicht zu. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse haben stets eine maßgebliche materiale Dimension.

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Einführung

auf eine Subjektperspektive angewiesen. Werden doch auch die sachlichsten Dokumente von Menschen verfasst, die Interessen verfolgen und in von Machtverhältnissen geprägten sozialen Räumen (inter-)agieren. Hinsichtlich einer Einschätzung der Erkenntnisse, die aus dieser Perspektive empirisch gewonnen werden können, ist Folgendes von Bedeutung: Eine Forschung, die Supervisor*innen als Zeitzeug*innen interviewt, geht es nicht primär und nicht ausschließlich um die Erhebung von präzisen »Erinnerungen an Ereignisse«, sondern um die Erhebung der »Verarbeitung früherer Erlebnisse und Erfahrungen« in der Gegenwart (von Plato, 2000, S. 8). Interviews sind von Forschenden geschaffene psychosoziale Situationen, in denen Interviewte die psychischen Niederschläge vergangener Erlebnisse und Ereignisse (in ihrem »Gedächtnis«) in der Interaktion mit einer*m Forscher*in zu einem historischen Narra­ tiv verfertigen. So wird während der Forschungssituation ein wesentlicher Teil der Bearbeitung und Interpretation historischer Erlebnisse beobachtbar, durch die erst (eine) Vergangenheit entsteht. Bedeutsam dafür, dass dieser Verarbeitungsprozess bestmöglich erfahrbar wird, ist die Form, in der die Interviewpartner*innen erzählen. Idealtypisch sollen sie keine vorformulierte Erzählung von sich oder ein ausgearbeitetes Statement zu ihrer Geschichte der Supervision abgeben, sondern in der Interviewsituation diese Geschichte als sogenannte Stehgreiferzählung entwickeln (Küsters, 2009, S. 13).3 3 Mit der aus zwei einander fremden Personen bestehenden Interviewsituation sind situative Anforderungen des Erzählens verbunden. Im Rahmen dieser Anforderung entfalten sich die von Fritz Schütze beschriebenen vier Strukturierungszwänge des Erzählens, denn wenn in einer sozialen (Forschungs-) Situation ein Mensch einem fremden Anderen etwas spontan erzählt, dann muss er*sie diese Erzählung einer*m Zuhörer*in soweit möglich verstehbar machen. Eine Erzählung ist daher im Unterschied zu einer Argumentation oder einem Bericht durch einen 1) Detaillierungszwang, einen 2) Gestaltschließungszwang und einen 3) Relevanzfestlegungs- oder Kondensierungszwang motiviert. Durch den Detaillierungszwang ist der Erzählende »getrieben, sich an die tatsächliche Abfolge der von ihm erlebten Ereignisse zu halten und – orientiert an der Art der von ihm erlebten Verknüpfungen zwischen den Ereignissen – von der Schilderung des Ereignisses A zur Schilderung des Ereignisses B überzugehen« (Kallmeyer u. Schütze, 1977, S. 188). Der Gestaltschließungszwang treibt die Erzählenden dazu, »die in der Erzählung darstellungsmäßig begonnenen kognitiven Strukturen abzuschließen«, das heißt, die Erzählung auf ein Ende hin zu verfertigen (S. 188). Der Relevanzfestlegungszwang motiviert die Erzählenden, »nur das zu erzählen, was an Ereignissen als Ereignisknoten innerhalb der zu erzählenden Geschichte relevant ist. Das setzt den Zwang voraus, Einzelereignisse und Situationen unter Gesichts-

Themenstellung und Forschungsperspektive15

Transkripte gelungener (narrativ-biografischer) Interviews sind daher Texte, die die »Ereignisverstrickung und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist. Nicht nur der ›äußerliche‹ Ereignisablauf, sondern auch die ›inneren‹ Reaktionen, die Erfahrungen des Biographieträgers mit den Ereignissen und ihre interpretative Verarbeitung in Deutungsmustern gelangen zu eingehenden Darstellung« (Schütze, 1983, S. 285 f.; Rosenthal, 1995, S. 17; Wohlrab-Sahr, 1999, S. 487).

Die in einem Interview formulierte Erzählung ist nicht nur individueller Natur, sondern dokumentiert politische, soziale und kulturelle Einflüsse und Umfelder: »Wir erinnern uns schon in einer Weise, die auf kollektive Sozialisationsinstanzen verweist, im Rahmen von Kollektiven, die Erinnerungen oder Wahrnehmungen aufnehmen, bestätigen oder ablehnen, und wir erzählen von Erlebnissen in Erzählformen, die ihrerseits Erinnerung strukturiert« (von Plato, 2000, S. 10). Narrative Interviews geben daher implizit und explizit Aufschluss über den gesellschaftlichen Kontext des Ereignisses, über das erzählt wird, und über historische Sozialisationsprozesse. Zudem wird durch die Auswertung narrativer Interviews potenziell erkennbar, wie ein vergangenes Erlebnis von den Akteuren unter den Bedingungen der Gegenwart wahrgenommen wird, welche kognitiven und emotionalen, aber auch welche sozialen und kulturellen Bedeutungen ihm gegenwärtig zukommen und wo Erinnerungsnormen wirken.

punkten der Gesamtaussage der zu erzählenden Geschichte fortlaufend zu gewichten und zu bewerten« (S. 188). Auch wenn diese Schilderung der Zugzwänge des Erzählens nahelegt, dass im narrativen Interview nur das Erzählbare von Bedeutung ist, trifft das Gegenteil zu. Auch die verschwiegenen, die nicht-erzählbaren und psychodynamisch unbewussten Erlebnisse schlagen sich narrativ nieder: als Zögern und Ausweichen, als Lücken und thematische Brüche, als Schweigen und Wechsel der Textsorte (Erzählung, Argumentation, Bericht; Morgenroth, 1990, S. 54; Küsters, 2009, S. 28). Transkripte narrativer Interviews ermöglichen daher eine (rekonstruktive) Auswertung aus mindestens einer doppelten Perspektive: die der erzählten Geschichte (Was wird erzählt?) und die der Erzählform (Wie wird erzählt?).

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Einführung

1.2 Forschungsstand Die Geschichte der Supervision ist in mehreren Aufsätzen und einigen wenigen Büchern thematisiert worden. Es finden sich erstens in Aufsatzoder Kapitelform kleinere Beiträge, die diese explizit untersuchen, darstellen oder ausgewählte Aspekte darlegen (Belardi, 1992; Gröning, 2013, S. 31–50; Kadushin, 1976/1990; Möller, 2012, S. 17–38; Petzold, Schigl, Fischer u. Höfner, 2003, S. 97–100; Schibli u. Supersaxo, 2009, S. 13–35; Schwarzwälder, 1976/1990; Weigand, 1990, 2012). Zweitens finden sich Publikationen über die Geschichte der Sozialen Arbeit, in denen die Supervision mitbehandelt wird (Müller, 2006). Drittens finden sich einige wenige umfangreichere Publikationen zur Geschichte der Supervision (Belardi, 1992; Ringshausen-Krüger, 1977; Gaertner, 1999; Steinhardt, 2005; ein Heft der Zeitschrift »Supervision« [1990] und ein Heft der Zeitschrift »Forum Supervision« [2011]). In vielen Fällen entwerfen diese Texte Phasenmodelle der Supervision, die ich teilweise in Abschnitt 2 aufgreife und daher hier lediglich stichpunktartig nenne (vgl. im Folgenden; Lohl, 2018): Genannt werden eine Vorgeschichte und Frühformen der Supervision, die im Kontext der sozialen Folgen der industriellen Revolution in der US-amerikanischen Gesellschaft entstehen. Markiert wird vor allem eine Pionierphase nach 1945, in der Supervision aus der US-amerikanischen Sozialarbeit in die junge und sich konstituierende bundesrepublikanische Gesellschaft gelangt. Ab etwa Mitte der 1960er-Jahre wird von einer Phase der Expansion und Systematisierung der Supervision gesprochen, in der Supervision sich sukzessive von der Sozialarbeit emanzipiert und zu einer eigenständigen Beratungsform entwickelt. Nachdem in dieser Phase erste eigenständige Supervisionsausbildungen entstehen, professionalisiert sich die Supervision Ende der 1970er und in den 1980er-Jahren. Ausbildungsgänge und Fortbildungen werden spezifischer, Fachkongresse finden statt, Fachzeitschriften entstehen und 1989 wird mit der Deutschen Gesellschaft für Supervision ein Berufs- und Fachverband gegründet. Ab 1990 konsolidiert und differenziert sich die Supervision und der Supervisionsmarkt im Zuge des postfordistischen und neoliberalen Wandels der Arbeitswelt aus; Supervision expandiert und bekommt mit dem entstehenden Coaching Konkurrenz. Hinsichtlich des Forschungsstandes ist – über die unmittelbaren Einsichten in die Geschichte der Supervision hinaus – für die durchgeführte Studie bedeutsam, wie diese Geschichte bislang untersucht wurde (vgl. Lohl, 2018, S. 99 ff.). Dies lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:

Forschungsstand17

1.  Die vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Supervision sind begriffs-, methoden- und theoriegeschichtliche Literaturstudien. Abgesehen von einem Heft der Zeitschrift »Forum Supervision« (2011) zur »gelebten Geschichte der Supervision« und der Arbeit von Ringshausen-Krüger (1977) liegen keine empirischen Arbeiten zur Geschichte der Supervision vor. Die bereits erwähnten Publikationen kommen weitgehend auf der Basis von Literaturstudien zu ihren Ergebnissen. Diese Studien lassen sich als Arbeiten verstehen, die die begriffliche, theoretische und methodische Entwicklung der Supervision untersuchen. 2.  Die Entwicklung der Supervision wird in den vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Supervision aus einer Binnenperspektive heraus historisch kontextualisiert. Die Entwicklung der Supervision wird in den vorliegenden Arbeiten bislang nicht durchgängig und nicht systematisch historisch und gesellschaftlich kontextualisiert. Dort, wo eine Kontextualisierung vorgenommen wird, geschieht dies schwerpunktmäßig mit Blick auf die Nachwirkungen des Nationalsozialismus und die »Studentenbewegung«. Geleistet wird der Brückenschlag von der Entwicklung der Supervision zu ihrem historischen Kontext aus der Perspektive der jeweiligen Verfasser*innen. Welche Themen und welche gesellschaftlichen Prozesse auf diese Weise in den Blick genommen werden, hängt ab von dem (inkorporierten) historischen Wissen der Autor*innen, von ihren historischen Interessen sowie von ihren normativen und politischen Wertsetzungen. Hinzu kommt, dass nahezu alle Autor*innen der vorliegenden Publi­ kationen zur Geschichte der Supervision langjährige Supervisor*innen sind. Die Untersuchung der Geschichte der Supervision findet als Binnengeschichtsschreibung durch die Profession selbst statt. 3.  Die Geschichte der Supervision wird aus einer sozialen Machtposition erzählt. Die vorliegenden Publikationen sind mehrheitlich verfasst von in der »Supervisionsszene« mehr oder weniger bekannten Supervisor*innen, die a) in der Aus- und Fortbildung von Supervisoren tätig sind und/ oder Ausbildungen und Ausbildungsinstitutionen geleitet haben und die b) Zugang zu der Möglichkeit haben, über Bücher, Texte und Vorträge ihre Version der Geschichte zu veröffentlichen oder die c) Berufspolitik gemacht haben. Die Geschichte der Supervision wird von sogenannten Wissensbevollmächtigen, das heißt von den Trägern eines kulturellen Gedächtnisses der Supervision verfertigt (vgl. zum Begriff Abschnitt 1.3). Sie sprechen aus mit institutioneller Macht ausgestatteten sozialen Positionen heraus. Supervisor*innen, die eine solche Position nicht inne-

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Einführung

haben, aber Supervision als soziale Praxis (ebenfalls) alltäglich ausüben, sind an der Verfertigung einer Geschichte der Supervision bislang nicht beteiligt. Ihre Perspektive kommt in dieser Geschichte nur am Rande vor4 und wird vereinzelt entwertet.5 In den vorliegenden Publikationen zur Geschichte der Supervision werden Masternarrative6 der Supervisionsgeschichte geschaffen, für die die gelebte Alltagsgeschichte der Supervisor*innen bislang kaum eine Bedeutung hat. 4.  In den vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Supervision überlagert sich ein Interesse an der Bildung einer professionellen Identität mit einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Die genannten Publikationen sind von einer Frage nach dem Ursprung und der Herkunft der Supervision begleitet oder motiviert. Neben einem geschichtlichen Interesse, das sich auf den Prozess der Entwicklung der Supervision richtet (Wie und in welchem Kontext hat sich Supervision entwickelt?), gibt es ein auf die Entwicklung professioneller Identität zielendes Interesse am Ursprung und der Herkunft von Supervision (Wo kommen wir Supervisor*innen, wo kommt unsere Profession Supervi4 Dies geschieht etwa, wenn Kornelia Steinhardt (2005, S. 96) diagnostiziert, dass mit der Etablierung der Teamsupervision sich für den Alltag der superviso­ rischen Tätigkeit Entscheidendes ändert: »Viele Teams kamen nicht mehr zum Supervisor, sondern Supervisoren wurden in die Organisation gerufen, um dort mit der gesamten Belegschaft oder mit einzelnen Subeinheiten zu arbeiten.« Steinhardt weist auf die Veränderung hin, dass Supervision nicht mehr auf »neutralem« Boden stattfindet, sondern in der unmittelbaren Arbeitsumgebung der Supervisanden/Supervisandinnen, spürt der Bedeutung dieser Veränderungen für die Entwicklung der Supervision jedoch nicht weiter nach. Zwar wird in jeder der genannten Publikationen zur Geschichte der Supervision die Entwicklung der Teamsupervision erwähnt, was dies aber für die alltägliche Arbeit der Supervisor*innen bedeutet, wird nicht thematisiert. 5 Dies geschieht, wenn Gärtner auf die Gefahr hinweist, dass Supervisor*innen zu »korrupten Handlangern des Systems« werden, »denen es primär um Erfolg, Macht und Geld geht« (Gaertner, 1999, S. 120). Dort, wo Supervisoren im Alltag als Supervisor*innen tätig sind, müssen sie aber nicht nur kritik- sondern eben auch marktfähig sein. Es muss ihnen im Eigeninteresse um Erfolg, Macht und Geld gehen, da die berufliche Tätigkeit der Supervision ihre eigene Existenz sichert. Diese Alltagsperspektive erkennt Gaertner aus der Herrschaftsperspektive, aus der er seine Geschichte der Supervision verfasst, nicht an. 6 Ein Masternarrativ oder eine Meistererzählung ist nicht nur eine hegemoniale Erzählung über historische Ereignisse (Was wird erzählt?), sondern entspricht einer vorherrschenden Erzählperspektive (Wie wird erzählt?), aus der Vergangenheit vergegenwärtigt wird.

Rahmentheorie: Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis19

sion her? Wer sind wir?). Hier finden sich unterschiedliche Perspektiven, die zum Beispiel entweder die Bedeutung der »psychoanalytischen Vorgeschichte« der Supervision (Gaertner, 1999) oder die des »Ursprungslandes Soziale Arbeit« (Weigand, 2012) betonen. Beide Perspektiven sind von einem defensiven Unterton begleitet und haben den Charakter eines Rechtfertigungsnarrativs. Dass Geschichte gerade dann, wenn sie als Binnengeschichte geschrieben wird, immer der Konstitution von Identität aus gegenwärtigen Interessen heraus dient, ist bislang in den Arbeiten zur Geschichte der Supervision nicht ausführlich und kaum explizit reflektiert. Bemerkenswert ist gerade in diesem Zusammenhang Folgendes: In nahezu jedem Text zur Geschichte der Supervision wird davon gesprochen, dass die Geschichte der Supervision nicht angemessen rezipiert, aufgearbeitet oder verdrängt wurde. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil es ab 1990 durchaus regelmäßig kleinere und größere Publikationen zu diesem Thema gab. Welche Funktion hat also der eigentlich falsche Hinweis, die Geschichte der Supervision sei wenig thematisiert, verdrängt und vergessen? Der Eindruck, den diese Formulierung bei mir hinterlassen hat, ist, dass sie die Leser*innen darauf hinweist, in dem jeweils vorliegenden Text werde endlich »richtig« über die »wahre« Geschichte der Supervision geredet – so als ob endlich ein Tabu gebrochen worden sei. Möglicherweise wird hier – überspitzt formuliert – ganz im Gegenteil ein Tabu errichtet, das verbietet, anders als in der jeweils von dem*r Autor*in vorgeschlagenen Perspektive über die Geschichte der Supervision zu sprechen. Nicht anders als bei der Konstitution jeder sinn- und identitäts­stiftenden Geschichte, ist auch die Geschichte der Supervision ein mehr oder weniger umkämpftes Terrain, auf dem Geschichtspolitik betrieben, Identität gestiftet und um Hegemonie gerungen wird.

1.3 Rahmentheorie: Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis der Supervision Die Idee, dass die Geschichte der Supervision wie in dem Speicher eines Computers bereitliegt und vom Forscher lediglich ans Tageslicht geholt werden muss, ist falsch. Sicherlich sind vergangene Ereignisse »Tatsachen­wahrheiten« im Sinne von Hanna Arendt (1967/2006, S. 13) und als solche unveränderbar. Sie sind aber nicht identisch mit der Geschichte, die von ihnen erzählt. Zwischen Ereignis und Erzählung findet eine Transformation statt, bei der Vergangenheit interpretiert und so erst Geschichte und Geschichten geformt werden. Diese Transformation unterliegt den politischen Interessen und sozialen Einflüssen

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Einführung

der Gegenwart. Es sind die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, die das Erinnern regulieren und beeinflussen, wie mit Tatsachenwahrheiten umgegangen und wie Geschichte erzählt wird. Wo aber wird Geschichte eigentlich erzählt? Und: Wer ist Autor*in des erwähnten Transformationsprozesses? Diese Fragen zielen auf die Unterscheidung eines kulturellen von einem kommunikativen Gedächtnis, die auf den Gedächtnistheoretiker Jan Assmann zurückgeht. Im kulturellen Gedächtnis gerinnt Vergangenheit »zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet. Die Vätergeschichten, Exodus, Wüstenwanderung, Landnahme, Exil sind etwa solche Erinnerungsfiguren« (Assmann, 1997, S. 52 f.). Diese Erinnerungsfiguren werden in Büchern und Bildern, aber auch in Form von Architektur und Denkmälern festgehalten. Gestaltet werden sie von einer wissenssoziologischen Elite: »Dazu gehören die […] Lehrer, Künstler, Schreiber, Gelehrten, Mandarine und wie die Wissensbevollmächtigten alle heißen mögen. Der Außeralltäglichkeit des Sinns, der im kulturellen Gedächtnis bewahrt wird, korrespondiert eine gewisse Alltagsenthobenheit und Alltagsentpflichtung seiner spezialisierten Träger« (S. 54, Hervorh. JL). Hinsichtlich der Frage, wie die Sozialgeschichte der Supervision repräsentiert ist, lässt sich so zum Beispiel auf die in dem Abschnitt zum Forschungsstand genannten Publikationen hinweisen, die den Kernbestandteil des kulturellen Gedächtnisses der Supervision ausmachen. Träger eines kulturellen Gedächtnisses der Supervision sind nicht nur Bücher, sondern Wissensbevollmächtigte wie z. B. der Mitherausgeber einer Fachzeitschrift. Er denkt während des Interviews mit mir laut über die gesellschaftliche Bedeutung der Supervision nach: Professionsauftrag der Supervision ist in seinen Augen »den sozialen Ausgleich zu unterstützen. Soziale Konflikte haben ja immer historische Grundlagen, und wenn jemand da aus dem System rausfällt, dann ist das nicht nur die Schuld des Einzelnen, sondern zwangsläufig hat man es da mit gesellschaftlichen Systemen zu tun. Und an kleinem Detail nicht nur für den Einzelnen, sondern damit auch für das Ganze, also den gesellschaftlichen Frieden zu wirken, das ist Professionsauftrag«. »Supervisor*innen des Alltags« (vgl. zum Begriff im Folgenden), die keine Fachzeitschrift herausgeben, reflektieren in den Interviews die Idee eines Professionsauftrags viel weniger, in den meisten Fällen gar nicht. Diese Differenz hängt mit den sozialen Positionen zusammen, von denen aus die Wissensbevollmächtigen – der Herausgeber – und die Supervisor*innen des Alltags – der freiberufliche Supervisor – jeweils sprechen. Der Herausgeber spricht anders über Supervision als der Freiberufler, der im Interview seine Existenzsicherung in den Vordergrund stellt: »Ich muss verdienen, weil das Haus war noch nicht abbezahlt, die Kinder waren noch in Ausbildung

Rahmentheorie: Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis21

und so. Das hat mich auch beeinflusst, dass ich, glaub ich, manchmal, […] in supervisorischen Begegnungen etwas weichgespült daherkam, weil ich im Hinterkopf hatte, den Prozess jetzt zu verlieren, wär jetzt grad nicht so günstig«. Diese Sorgen hat der Herausgeber einer Fachzeitschrift zweifellos auch, aber die Art und Weise, wie er über Supervision spricht, richtet sich an einem anderen Orientierungsrahmen aus: Supervision wird von ihm mit gesellschaftlichen Zentralwerten verbunden (sozialer Ausgleich, Integration, gesellschaftlicher Frieden) und aus einer »Vogelperspektive« als Profession verstanden, was vor allem von seiner Position als Träger des kulturellen Gedächtnisses der Supervision abhängt. Der Freiberufler hingegen spricht aus einer »Froschperspektive« von der Supervision als einem gewöhnlichen Beruf, der im Alltag seine Existenz sichert. Beide Perspektiven sind für die Supervision und ihre Entwicklung gesellschaftlich bedeutsam, markieren aber das Spannungsfeld, in dem sich die vorliegende Studie bewegt hat: Supervisor*innen, die von einer Alltagsposition ihre Geschichte der Supervision erzählen, orientieren sich an anderen Kriterien und Werten, als die Träger des kulturellen Gedächtnisses. Die alltäglichere Form der Erinnerung, die in der Vergangenheit vergegenwärtig wird, bezeichnet Assmann als »kommunikatives Gedächtnis«. Fügt das kulturelle Gedächtnis die Erinnerung in dauerhaftere Formen wie Bücher, Texte oder Filme, so ist das kommunikative Gedächtnis fluider und kurzlebiger: Es arbeitet im Modus der biografischen Erinnerung und beruht auf sozialer Interaktion, das heißt, es entsteht und vergeht mit seinen Trägern und entspricht einem »durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrungen gebildeten Erinnerungsraum«, der etwa 80 Jahre lang existiert (Assmann, 1992, S. 50). Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es wäre falsch, die Supervisoren gemäß ihrer Tätigkeit (Herausgeber vs. Freiberufler) auf das kulturelle oder das kommunikative Gedächtnis aufzuteilen, auch wenn ich im Folgenden, im Anschluss an Assmann, von den »Wissensbevollmächtigten der Supervision« (spezialisierte Träger des kulturellen Gedächtnisses) sowie von den »Supervisor*innen des Alltags« spreche. Auch die Wissensbevollmächtigten der Supervision, die Träger des kulturellen Gedächtnisses, prägen das kommunikative Gedächtnis der Supervision und erzählen in den Interviews ihre je eigene, alltägliche Geschichte der Supervision. Sie tun dies jedoch von einer anderen sozialen Position aus, die weniger bestimmt was, sehr wohl aber wie sie ihre Geschichte erzählen. Assmann bringt das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis in ein zeitliches Verhältnis zueinander. Die Hälfte der Existenzdauer eines kommunikativen Gedächtnisses bildet eine Schwelle: »Nach 40 Jahren treten die Zeitzeugen, die ein bedeutsames Ereignis als Erwachsene erlebt

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haben, aus dem eher zukunftsbezogenen Berufsleben heraus und in das Alter ein, in dem die Erinnerung wächst und mit ihr der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe« (Assmann, 1992, S. 51). Dann gehen nach Assmann ausgewählte Inhalte des kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis über, indem Bücher geschrieben und Denkmäler errichtet werden. Diese Annahme einer Schwelle zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis überzeugt allerdings nicht so recht: Kulturelle Repräsentationen der Vergangenheit entstehen nicht erst nach vierzig Jahren, sondern viel früher. Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis existieren immer gleichzeitig: »Individuelle Erinnerung ist also eingebettet in eine Erinnerungskultur, die mehr oder weniger rigide Regeln umfasst, was aus der Vergangenheit erinnert werden darf und soll, um in der Gegenwart als Orientierung zu dienen« (Kannonier-­ Finster u. Ziegler, 1993, S. 75). Von Interesse ist daher, wie sich die individuelle Erinnerung an den erinnerungskulturellen Rahmen orientiert, die das kulturelle Gedächtnis bereitstellt. Dies bedeutet auch, dass die Träger des kulturellen Gedächtnisses nicht einfach nur Geschichte schreiben, sondern machtvolle normative Erinnerungsfiguren institutionalisieren und als geschichtspolitische Interessen vertreten können. Für das Forschungsprojekt ist sowohl die Annahme eines Übergangs des kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis als auch die Idee einer Erinnerung normierenden Funktion des kulturellen Gedächtnisses bedeutsam. So ist – gemessen am Forschungsstand zur Geschichte der Supervision – zu vermuten, dass innerhalb der Community der Supervisor*innen alltagsnahe Wissensbestände über die Geschichte der Supervision existieren, für die Folgendes gilt: a) Sie werden bislang kaum nach einem fundierten und fixierten Modus erinnert. b) Sie sind noch nicht Teil des kulturellen Gedächtnisses der Supervision. c) Sie werden bislang in der Community der Supervisor*innen kaum oder nicht öffentlich thematisiert. d) Sie unterlaufen möglicherweise die normativen Erinnerungsfiguren und daran geknüpfte identitätsstiftende Bilder der Supervision. Solche Wissensbestände können eine über das aktuelle kulturelle Gedächtnis der Supervision und die tradierte Geschichtsschreibung hinausweisende, irritierende Qualität haben, da sie die hegemoniale Geschichte der Supervision ergänzen, differenzieren oder korrigieren können. Für dieses Projekt ist daher durch die Erhebung narrativ-biographischer Interviews ein methodischer Zugang zum kommunikativen Gedächtnis der Supervision gewählt worden, der den Supervisor*innen ein offenes Sprechen über ihre eigene Geschichte ermöglichen sollte.

Methodenfahrplan: Narrative Interviews, thematische Segmentierung23

1.4 Methodenfahrplan: Narrative Interviews, thematische Segmentierung, hermeneutische Rekonstruktion Narrative Interviews Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden 26 narrative Interviews mit älteren Supervisor*innen geführt (Küsters, 2009; Schütze, 1983). Mit einem narrativen Interview werden historische Prozesse aus der Perspektive des Subjekts erforscht; die Interviewpartner*innen haben Raum und Zeit, von diesen Prozessen ausführlich zu erzählen und sie zu entfalten. Hierbei werden sie zu Beginn des Interviews gebeten, von diesem Prozess zu erzählen. Der Erzählstimulus der Interviews lautete: »Ich möchte Sie bitten, mir ihre Geschichte als Supervisor*in zu erzählen – alle Erlebnisse, die für Sie dazu gehören. Sie können sich dafür so viel Zeit lassen, wie sie möchten.«7 Darauf reagierten die Supervisor*innen in den Interviews mit einer Stehgreiferzählung, die ich nicht durch Zwischenfragen unterbrach und die zwischen 15 und 120 Minuten dauerte. In meiner Rolle als Interviewer habe ich schweigend, aber aktiv, zugehört (Kopfnicken, Zustimmungslaute etc.) und so den Redefluss verstärkt und nicht unterbrochen, bis die Interviewpartner*innen selbst ihre Erzählung beendet haben. Auf diese Erzählung folgte ein immanenter Nachfrageteil, in dem ich die Supervisor*innen gebeten habe, die nur spärlich thematisierten und unklar gebliebenen Abschnitte aus ihrem Narrativ ausführlicher zu erzählen. Im Anschluss an den immanenten gab es einen exmanenten Nachfrageteil, in dem ich vorbereitete Nachfragen zu drei Themenbereichen gestellt habe, wenn diese im vorangehenden Interview nicht oder nicht explizit genug von den Interviewpartnerinnen selbst angesprochen wurden. Bei diesen Themenbereichen handelte es sich erstens um die von den Supervisor*innen erlebte Entwicklung der Supervision sowie zweitens um die von ihnen wahrgenommene Veränderung der Gesellschaft, insbesondere der Arbeitswelt. Hier wurden die Interviewpartner*innen nicht nur als Erzähler*innen ihrer je eigenen Geschichte der Supervision adressiert, sondern auch als Expert*innen, die die Entwicklung der 7 Ein Einwand gegen diese Frage kann möglicherweise lauten, dass die Vorentwicklungen, die in diese je eigene Geschichte der Supervision münden, nicht erfasst werden. Diesem Einwand kann auf der Basis der wissenschaftlichen Literatur zum narrativen Interview und der von mir geführten Interviews Folgendes entgegengehalten werden: Die Zugzwänge des Erzählens (vgl. Fußnote 3) bewirken, dass die Interviewpartner*innen jene Vorentwicklungen, die von »hoher Relevanz für die geschilderte Entwicklung« waren, »in Hintergrunderzählungen« thematisieren werden (Küsters, 2009, S. 46).

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Supervision und eine gesellschaftliche Veränderung mit einem professionellen Blick wahrnehmen. Der dritte Themenbereich hängt mit der subjektorientierten Forschungsperspektive zusammen und zielt auf die Idee, die Geschichte der Supervision genealogisch zu thematisieren. Im Sinne einer Genealogie der Supervision habe ich nach z. B. bedeutsamen Erlebnissen mit den Dozierenden während der Fortbildung, den Lehrsupervisor*innen, der Fortbildungsgruppe, der DGSv und ähnlichen bedeutsamen Personen, Gruppierungen und Institutionen gefragt. Die Auswahl der Interviewpartner*innen orientierte sich grund­ legend am Alter der Supervisor*innen, die möglichst einen langen Zeitraum der Entwicklung der Supervision miterlebt haben sollten. Orientiert an der bereits erläuterten Unterscheidung eines kommunikativen und eines kulturellen Gedächtnisses der Supervision wurden zunächst gezielt auch Interviewpartner*innen gesucht, die keine Position als Wissensbevollmächtigte hatten, sondern (»nur«) Supervision im Alltag praktisch ausübten. Ebenso gezielt habe ich anschließend Supervisor*innen angesprochen, die genau diese Position eines Wissensbevollmächtigten innehatten. Die Kontaktaufnahme fand mithilfe der DGSv statt, die ein von mir verfasstes Anschreiben an etwa 100 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Supervisor*innen verschickte, die vor 1948 geboren und damit zum Zeitpunkt des Studienbeginns (2013) 65 Jahre und älter waren. In diesem Anschreiben wurde das Forschungsprojekt geschildert und gefragt, ob die Supervisor*innen ein Interesse daran hätten, ein narratives Interview mit mir zu führen. Im Falle eines solchen Interesses leitete die DGSv die Kontaktdaten an mich weiter, sodass ich direkt Verbindung mit den Supervisor*innen aufnehmen und in einem Telefongespräch klären konnte, inwieweit sie in das Sample der Studie aufgenommen werden konnten. Die Auswahl der Befragten erfolgte somit erstens über die Mitgliederkartei der DGSv. Zudem wurden auf den Homepages des SFI und der DGSv Aufrufe platziert, die es Interessierten ermöglichten, mit mir Kontakt aufzunehmen. Weiterhin wurden Interviewpartner*innen nach dem »Schneeballprinzip« gefunden, das heißt, ich fragte am Ende eines Interviews, wen ich noch interviewen könnte. 14 der insgesamt 26 Interviewpartner wurden mithilfe der DGSv gefunden, zwei meldeten sich aufgrund des Aufrufs auf der Homepage des SFI bei mir, fünf wurden nach dem Schneeballprinzip gefunden und fünf habe ich aufgrund ihrer bekannten Rolle während der Entwicklung der DGSv gezielt angesprochen. Die konkrete Auswahl der Interviewpartner*innen erfolgte zudem methodisch kontrolliert mithilfe des sogenannten »Theoretical Samplings«, einem Prinzip der Forschungsorganisation. Theoretical Sampling bezeich-

Methodenfahrplan: Narrative Interviews, thematische Segmentierung25

net ein Auswahlverfahren für Interviewpartner*innen (und weiterführend für Daten aller Art; Glaser u. Strauss, 1998; Strauss u. Corbijn, 1996; Strübing, 2006). Kern dieses Verfahrens ist es, auf eine vorab festgelegte Auswahl und Anzahl an Interviewpartner*innen zu verzichten, die stattdessen während des laufenden Forschungsprozesses schrittweise gefunden werden. Ihre Auswahl orientiert sich an den im Verlauf des Forschungsprozesses iterativ entwickelten Ergebnissen bzw. der Verarbeitung der Interviews in ein Kategoriensystem (siehe im Folgenden). Da dieses Kategoriensystem zu Beginn des Prozesses nicht vorliegen kann, erfolgt die Auswahl erster Interviewpartner*innen auf der Basis praktischer Möglichkeiten und theoretischer Vorkenntnisse. Die Interviews werden transkribiert und ausgewertet und so erste zentrale Kategorien für den Untersuchungsgegenstand gefunden. Anschließend werden weitere Interviewpartner*innen nach einem kontrastierenden Prinzip gesucht, von denen vermutet wird, dass ein narratives Interview mit ihnen in zentralen Aspekten und Merkmalen von den ersten Fällen abweicht. Nachdem auch diese weiteren Interviews ausgewertet und in Beziehung zu den Ergebnissen der ersten Fälle gesetzt wurden, wird erneut nach weiteren kontrastierenden Fällen gesucht, bis sich ein Sättigungseffekt andeutet. Theoretisches Sampling bedeutet also, dass die Auswahl der Interviewpartner*innen von den je vorliegenden Ergebnissen und deren Konzeptualisierungen geleitet wird. Als Sättigungseffekt wird das Phänomen bezeichnet, dass sich nach einer von Studie zu Studie unterschiedlichen Anzahl von Interviews nur noch vereinzelte, aber keine grundsätzlich neuen Vertiefungen oder Erfahrungen finden, die nicht schon durch vorangehende Interviews erkannt wurden. Neue Interviews liefern dann, wenn ein Sättigungseffekt eingetreten ist, lediglich individuelle Brechungen bereits bekannter Muster oder Erfahrungen. In der vorliegenden Studie deutete sich nach 26 Interviews ein Sättigungseffekt an, sodass ab diesem Zeitpunkt die Erhebung als abgeschlossen betrachtet wurde. Zusätzlich zu den 26 selbst erhobenen Interviews wurden in die Studie vier Interviews einbezogen, die Ingeborg Schuhmann (1995) im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der Universität Kassel mit bekannten Pionieren der Supervision unter einer ähnlichen Fragestellung geführt hat. Ausschlaggebender Grund für diese Einbeziehung war, dass die Interviewpartner*innen von Schuhmann heute nicht mehr leben oder sich in einem solchen Alter befinden, in denen eine Interviewführung nicht mehr sinnvoll möglich war. Durch die Einbeziehung dieser Interviews reicht der Zeitraum, über den die Interviewpartner*innen sprechen, weiter zurück. Das Forschungsmaterial besteht damit aus insgesamt dreißig narrativen Interviews.

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Die Auswertung: Segmentieren, codieren, rekonstruieren Die Interviews wurden mitgeschnitten und anschließend wörtlich transkribiert. Zusätzlich zu den Interviews habe ich vor und nach den Interviews Beobachtungs- und Affektprotokolle angefertigt. Die Transkripte der Interviews sowie ergänzend die Beobachtungsprotokolle bilden die Basis für die Auswertung, die von mir und, bei ausgewählten Interviews, von zwei unterschiedlichen Interpretationsgruppen geleistet wurde. Bei der Auswertung habe ich zunächst alle Interviews und Beobachtungsprotokolle gelesen und in thematische Segmente unterteilt. Diese Segmente wurden mit Codes (»Namen«) versehen, die in einer Stichwortliste zusammengefasst wurden, sodass je Interview ein spezifischer Katalog über die im Interview verhandelten Themen vorlag. Anschließend wurden diese Codes/Segmente über die vorliegenden Interviews hinweg verglichen. Bezogen sich die Codes auf ein ähnliches Phänomen, wurden sie zu einem höhergeordneten Code (einer Kategorie) zusammengefasst. Was sich auf diese Weise ergibt, ist ein Code- und Kategoriensystem – eine Art »Inhaltsverzeichnis« – für sämtliche Interviews. Dieser Schritt, der mithilfe der Datenanalyse-­ Software MAXQDA erfolgte, organisiert das Material. Die dreißig Interviews – immerhin knapp 1200 Seiten – werden so aufgebrochen, hinsichtlich der manifest verhandelten Themen verglichen und das Forschungsmaterial geordnet. Die Funktion dieser Vorgehensweise für den Forschungsprozess ist, dass die thematische Struktur des Materials sichtbar und so eine gegenstandsbezogene Fokussierung der weiteren Auswertung möglich wird. Ergebnis der Segmentierung und Kodierung ist ein Register der thematischen Schwerpunkte, die in vielen oder sogar allen Interviews auftauchen, ebenso wie besondere Fokussierungen, die sich nur in wenigen oder sogar nur in einem einzigen Interview finden. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, im gesamten Datenmaterial thematisch relevante Passagen zu finden, die für die Frage nach einer Sozialgeschichte der Supervision bedeutsam erscheinen und genauer untersucht werden. Auch wenn die thematische Segmentierung bereits eine Interpretation darstellt, bereitet sie die rekonstruktive Analyse im engeren Sinne erst vor. Von besonderem Interesse waren die narrativen Segmente, in denen a) die Supervisor*innen ihre je eigene Geschichte der Supervision explizit erzählen sowie solche, in denen sie b) ihre Geschichte selbst kulturell, gesellschaftlich oder politisch kontextualisieren oder c) ich bei der Segmentierung den Eindruck hatte, dass ein solcher Kontext relevant ist. Zudem interessierten jene Passagen, in denen die Supervisor*innen unabhängig von der Thematisierung ihrer eigenen Geschichte d) die Entwicklung der Supervision oder e) gesellschaftliche Veränderungs-

Methodenfahrplan: Narrative Interviews, thematische Segmentierung27

prozesse beschreiben oder argumentativ darlegen. Diese Passagen habe ich aufgegriffen, verglichen und ggf. recodiert. So ließen sich übergeordnete Themen identifizieren, die auf der Basis aller Interviews zentrale Elemente der Sozialgeschichte der Supervision aus einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive repräsentieren. Anschließend habe ich ausgewählte Passagen, die eine Kategorie besonders typisch repräsentieren, einer rekonstruktiven Interpretation unterzogen, um zu einem genaueren Verständnis der Sozialgeschichte der Supervision zu kommen, das auch latente Verarbeitungs-, Deutungsund Orientierungsmuster der historischen Erfahrungen der Supervisor*innen ebenso wie Dynamiken und Themen umfasst, die in den Interviews nicht verbal expliziert wurden. Anschließend wurden ausgewählte Interviews, die aufgrund der Auswertung besonders markant erschienen, ganz rekonstruiert, um deutlicher das im Interview enthaltene Prozessgeschehen zu erfassen. Die rekonstruktive Interpretation orientierte sich an einer tiefenhermeneutischen Methode und richtete drei Fragen an die ausgewählten Passagen und Interviews (König, 2000; Morgenroth, 1990; Hollway u. Volmerg, 2010; Haubl u. Lohl, 2017): 1. Was wird gesagt? 2. Wie wird gesprochen? Warum wird so gesprochen, wie gesprochen wird? Zielt der erste Schritt der Interpretation (Was?) auf eine genaue Rekonstruktion des wörtlich Gesagten, also auf das, was in einer Interviewpassage explizit thematisch wird, so nimmt der zweite Schritt (Wie?) die modale Ebene des Interviewtranskripts in den Blick: Die Interviewpartner sagen im Interview nicht explizit, wie sie sprechen, sondern sie sprechen eben, wie sie sprechen. Daher wird im zweiten Interpretationsschritt die bearbeitete Interviewpassage auf sprachliche Formelemente (Argumentation, Erzählung, Beschreibung, Aufbau bzw. [Nicht-]Wohlgeformtheit des Sprechens), nicht-sprachliche Aspekte des Sprechens (Gestik, Mimik, Sprechablauf, Intonation, Emotionsäußerungen etc.) sowie die Interaktions- und Beziehungsgestaltung im Forschungsprozess untersucht. Der dritte Interpretationsschritt (Warum?) rückt die Begründung des Sprechens und Interagierens in den Mittelpunkt. Die Tiefenhermeneutik bezeichnet diesen Schritt als szenisches Verstehen (Morgenroth, 1990; Haubl u. Lohl, 2017). Beim szenischen Verstehen »geht es um das Verständnis der affektiven dynamischen Anteile, der zumindest unbewussten Motive, die selbst als handlungsleitende Orientierungsmuster so stark sind, dass sie Lebenspraxis und ›Weltverständnis‹ prägen« (Morgenroth, 1990, S. 51). Im Verlauf der gesamten Auswertung habe ich zusätzliche Informationen, wie die Ergebnisse der Interpretation aus anderen Segmenten und Interviews, sowie Kontextwissen aus der wissenschaftlichen

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Literatur herangezogen. So wurden die Ergebnisse – wo möglich – in vorliegende Erkenntnisse zur Entwicklung und Sozialgeschichte der Supervision eingeordnet und mit sozialwissenschaftlichen Theorien verbunden.

1.5  Beschreibung des Samples Im Rahmen der Studie habe ich 26 Interviews geführt; hinzu kommen die erwähnten vier Interviews, die Ingeborg Schuhmann erhoben hat. 13 Befragte sind männlichen und 17 weiblichen Geschlechts. Die Interviewpartner*innen sind zwischen 1934 und 1950 geboren, waren also zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 63 und 79 Jahre alt. Die von mir befragten 26 Interviewpartner*innen haben die folgenden beruflichen Hintergründe: –– 13 sind Sozialarbeiter*innen oder Sozialpädagog*innen –– vier sind Soziolog*innen oder Sozialwissenschaftler*innen, –– vier sind Pädagog*innen, –– drei sind Theolog*innen bzw. Pfarrer*innen, –– zwei sind Psycholog*innen. Drei Interviewte haben ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht. Viele von ihnen haben vor ihrem Studium beziehungsweise ihres Fachschulbesuchs unterschiedliche Berufsausbildungen abgeschlossen: Es finden sich Bank-, Groß- und Einzelhandelskaufmänner und -frauen, Ergotherapeutinnen, Krankenschwestern, Sekretärinnen und Schlosser. Andere haben verschiedene Studiengänge begonnen, jedoch nur zum Teil beendet. Genannt werden Medizin, Kunst, Jura, Philosophie, Psychologie, Soziale Arbeit. Alle Befragten waren vor ihrer Fortbildung beruflich tätig. Viele der Interviewpartner*innen haben (Ende der 1950er/Anfang der 1960er-Jahre) im Rahmen ihrer Ausbildung/ihres Studiums der Sozialarbeit Fort- und Weiterbildungen absolviert, in denen sie Supervision kennenlernten. Die 21 Supervisor*innen aus meinem Sample, die eine grundständige Ausbildung in Supervision absolvierten, haben diese in den 1970er-Jahren, spätestens Anfang der 1980er-Jahre abgeschlossen, in drei Fällen in den 1990er-Jahren.8 Ihre Ausbildung haben sie an unterschiedlichen Orten und Institutionen gemacht: 8 Diese drei Fälle wurden in das Sample aufgenommen, da im telefonischen Vorgespräch deutlich wurde, dass sie bereits vorab – ohne eine Ausbildung – als Supervisor*innen tätig waren.

Beschreibung des Samples29

–– Weiterbildungsstudiengang der Universität Kassel (fünf Interviews), –– Katholische Akademie für Jugendfragen in Münster (drei Interviews), –– Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt am Main (drei Interviews), –– Burkhardthaus (Evangelisches Institut für Jugend-, Kultur- und Sozialarbeit) in Gelnhausen (drei Interviews), –– Akademie Remscheid (drei Interviews), –– Fritz-Perls-Institut in Berlin (ein Interview), –– Katholische Fachhochschule in Köln (ein Interview), –– Institut für Humanistische Psychologie in Berlin (ein Interview), –– Institut für Beratung und Supervision in Aachen (ein Interview). Nicht alle Interviewpartner*innen haben also eine Ausbildung in Supervision durchlaufen: Ein Teil der von mir interviewten Wissensbevollmächtigten der Supervision, die zu den Begründern der Supervision in der Bundesrepublik zählen, waren in der Ausbildung von Supervisor*innen tätig, ohne selbst eine Supervisionsausbildung abgeschlossen zu haben. Nach Abschluss ihrer Ausbildung waren vier Interviewte als Supervisor*innen in unterschiedlichen sozialen Einrichtungen fest angestellt, die anderen waren als freiberufliche Supervisor*innen tätig. Als supervidierte Berufsgruppen werden genannt: Sozialarbeiter*innen, Familienrichter*innen, Erzieher*innen, Ärzt*innen, Alten- und Krankenpfleger*innen, Lehrer*innen, Pfarrer*innen, Manager*innen, Führungs- und Leitungskräfte aus dem Profit- und Non-Profit-Bereich. Während ihrer Laufbahn als Supervisor*innen haben fast alle Interviewpartner*innen Weiter- und Fortbildungen gemacht. Sie sind hochqualifiziert und spezialisiert und doch nicht vergleichbar, denn die Bandbreite an Fort- und Weiterbildungen ist enorm: Coaching, Organisationsberatung, triadische Karriereberatung, Balintgruppenarbeit, Gruppendynamik, Gruppenanalyse, Gruppentherapie, TZI, Mediation, Familientherapie, Gestalttherapie, systemische Therapie, System- und Familienaufstellung, Psychodrama, Weiterbildung in Rollenspielarbeit, Traumdeutung, Methode des inneren Teams, Atemtherapie, Neurolinguistisches Programmieren usw. Eine große Bandbreite also, die dazu führt, dass sich die konkrete supervisorische Arbeit meiner Interviewpartner*innen, abgesehen von wenigen Kernbeständen (z. B. Reflexion), in vielen Fällen unterscheidet.

2  Facetten der Supervisionsgeschichte

2.1 Überblick: Die Geschichte der Supervision im Spiegel der Interviews Die Segmentierung und Codierung der Interviews ergab fünf Schwerpunktthemen mit jeweils verschiedenen Subthemen, über die die befragten Supervisor*innen in den Interviews erzählen. Dies sind: –– ihre Berufsbiografie (Subthemen: Familiäre und berufliche Hintergründe, Zugang zur Supervision, Ausbildung, Berufslaufbahn, Arbeitsweisen, Fortbildungen, Supervision im fortgeschrittenen Lebensalter), –– die Genealogie der Supervision (Subthemen: Beziehung zu und Bedeutung der a) Ausbilder*innen, b) Lehrsupervisor*innen und c) Ausbildungsinstitutionen), –– Entwicklung der Supervision (Subthemen: Entwicklung a) der Ausbildung, b) des Berufs, c) der Profession inkl. DGSv, d) der Methoden, c) der Arbeitsweise inkl. Coaching), –– Themen, Definitionen und Identitäten der Supervision (Subthemen: a) Identität, b) Ethik und Haltung, c) Reflexivität, d) metaphorische Definitionen von Supervision, e) Supervision und Leitung/Führung, f) Supervision und Politik, g) Verhältnis zur Psychoanalyse, h) Verhältnis zur Sozialen Arbeit), –– Sozialgeschichte der Supervision (Subthemen: siehe im Folgenden). Hinsichtlich des zuletzt genannten Punktes stehen nicht die großen historischen Verläufe und nur selten die geschichtsträchtigen politischen Ereignisse im Mittelpunkt der Interviews. Die Supervisoren erzählen aus ihrem Leben und sprechen aus einer erfahrungsnahen Perspektive von gesellschaftlichen Vorgängen, in die sie involviert waren, und von poli­ tischen Ereignissen, die sie selbst erlebt haben. Hierbei scheinen Themen und Zusammenhänge auf, die sozialgeschichtlich relevant sind, aber eben nicht (immer) explizit benannt werden. Berücksichtigt man dies, dann werden in den Interviews mehrere historische Kontexte der Supervisionsentwicklung sichtbar, die im Folgenden dargestellt werden sollen:

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Facetten der Supervisionsgeschichte

1. die Zeit nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg (Abschnitt 2.2); 2. die kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er und 1970er-Jahre (Abschnitt 2.3); 3. die 1980er-Jahre, über die in ausgesprochen wenigen Interviews berichtet wird (Abschnitt 2.4); 4. der neoliberale Wandel und die postfordistische Re-Organisation von Erwerbsarbeit ab den 1990er-Jahren (Abschnitt 2.5). Über diese vier Aspekte hinaus wird in einzelnen Interviews zudem über Migration und Supervision sowie über das Verhältnis von deutscher Einheit und Supervisionsentwicklung gesprochen, auf die ich in dieser Publikation nicht eingehe.

2.2 Nach Nationalsozialismus und Krieg. Die Konstitutionsphase Die Zeit, in der sich die gegenwärtige Gestalt der Supervision in der Bundesrepublik zu entwickeln beginnt, ist die Zeit nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg. Es ist eine Zeit voller Widersprüche, des Aufbaus einer neuen demokratischen Gesellschaft und der Abwehr einer Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Die NS-Diktatur und die deutsche »Volksgemeinschaft« sollten, so planten es die Alliierten, in einen demokratischen Staat und eine solche Gesellschaft transformiert werden, in der so etwas wie der nationalsozialistische Massenmord nie wieder möglich sein sollte. Aus der politikwissenschaftlichen Kulturforschung ist bekannt, dass die institutionellen Rahmenbedingungen für eine solche Veränderung vergleichsweise zügig umgesetzt werden können (Schwelling, 2001, S. 10): vom Staatsoberhaupt über die Regierung und die Verfassung sind politische Institutionen und Organe zu gründen oder nach demokratischen Vorzeichen zu reformieren. Rechte der Bürger*innen sind zu schaffen und zu ratifizieren. Derartige Veränderungen sind – wenn alle Beteiligten es wollen – in wenigen Monaten, in einem oder zwei Jahren vielleicht abzuschließen. Gehemmt werden sie vor allem durch die »subjektive Dimension des Politischen« (S. 10), durch politische und soziale Einstellungen, Affektlagen und Gepflogenheiten, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragen, kurz: durch Mentalitäten. Ohne die Veränderung von Mentalitäten wandelt sich eine Gesellschaft nicht. Allerdings ändern sich Menschen nicht auf Knopfdruck oder auf Wunsch politischer Eliten. Eine mentale Veränderung braucht Jahrzehnte und kann oftmals erst durch einen Gene-

Nach Nationalsozialismus und Krieg33

rationenwechsel abgeschlossen werden. Der Nationalsozialismus oder besser: die Sozialisationsprozesse, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene während der NS-Zeit durchliefen, wirkten nach der »Stunde Null«, die keine war, in ihren Mustern zu fühlen, zu handeln und zu denken bewusst und unbewusst, langfristig und renitent fort (Adorno, 1955, 1959; Lohl, 2010, 2015; Mitscherlich, 1967). Zwischen 1933 und 1945 hatte sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus, seinen völkischen Zielen, seiner rassistischen und antisemitischen Politik, identifiziert (Frei, 2005). Es wundert daher nicht, dass die Alliierten eine Veränderung des mentalen Unterbaus der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft anstrebten. Von dieser Veränderung sollte maßgeblich die Entwicklung eines demokratischeren und humaneren Lebens im Alltag Westdeutschlands ausgehen. Vor allem Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht beschäftigte die Frage, wie der mentale Unterbau langfristig und transgenerationell wirksam verändert werden kann. Neben den Bemühungen der amerikanischen Militärregierung OMGUS (Office of Military Government for Germany, US; dt.: Amt der Militärregierung für Deutschland [Vereinigte Staaten]) um eine Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft (Frei, 2001) und einer in Ansätzen stecken gebliebenen Schulreform (Edelstein u. Veith, 2017), ist diesbezüglich eine Strategie des US-Außenministeriums von Interesse, der für die Sozialgeschichte der Supervision eine kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt. Diese Pläne waren an der sozialpsychologischen Grundidee orientiert, dass Menschen sich in der Interaktion mit ihrer sozialen Umwelt entwickeln und diese aufgrund von Sozialisationsprozessen deuten: Eine Demokratisierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft könne nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit Veränderungen im Erziehungs- und Bildungsbereich, in Pädagogik und Sozialpädagogik verknüpft werde (Müller, 2006, S. 132). Auf dieser Basis wurde unter anderem ab 1946 die Idee eines Besuchsprogramms für Professionelle aus pädagogischen und sozialen Berufen entwickelt. Dem Programm lag der Gedanke zugrunde, dass ein Demokratisierungsprozess der westdeutschen Bevölkerung durch »vorbildhaftes demokratisches Zusammenleben« angestoßen werden kann (S. 133). Besonders attraktiv schienen in dieser Hinsicht die Methoden der amerikanischen Sozialarbeit (»casework«, »social group work«, »community work«), da diese »mit ihrem Anspruch auf ein demokratisches Verständnis von der Würde des Menschen und seinem Recht auf Hilfe sowie auf ein systematisiertes Hilfekonzept und -verfahren« der Idee einer Reeducation in Deutschland entgegenkamen (Ringshausen-Krüger, 1977, S. 27). Fest verbunden mit diesen Methoden war Supervision als reflexives Bildungs- und Kontrollinstrument der praktischen Tätigkeit von US-amerikanischen Sozialarbeiter*innen.

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Facetten der Supervisionsgeschichte

Bereits ab 1947 reisten 81 »Lehrer, Erwachsenenbildner, Sozialarbeiter, Journalisten, Ärzte, Geistliche und Vertreter von Gewerkschaften, Jugend- und Frauenverbänden« für drei Monate in die USA. Ergänzt wurde das Programm durch Auslandsstipendien für Studierende. »Außerdem sollten amerikanische Erziehungs-Experten für jeweils drei Monate nach Deutschland kommen und Fortbildungs-Seminare mit deutschen Erziehern und Lehrern veranstalten« (Müller, 2006, S. 133). 1948 nahmen 354 Personen an dem Programm teil und für 1949 rechneten die amerikanischen Initiator*innen mit mehr als 3000 Personen (S. 134). Nach der Konstitution der Bundesrepublik wurde diese Idee durch die neue Institution des amerikanischen Hochkommissariats für Deutschland fortgesetzt (HICOG; diese Institution löste OMGUS ab). Ziel war es, »nach unbelasteten formellen und informellen deutschen Erziehern zu suchen und diese potentiellen Führungskräfte (vor allem auch in der jüngeren Generation) durch die Auseinandersetzung mit der Alltagsrealität der Erziehung und der Bildung in traditionsreichen demokratischen Ländern (nicht nur den USA) zu qualifizieren« (S. 137). So fuhren in den Jahren 1950 und 1951 jeweils etwa 3000 Pädagogen und Erzieher, aber auch Politiker, für einen Zeitraum von drei bis zu zwölf Monaten in die USA (und andere Länder). Sie arbeiteten dort in den entsprechenden Institutionen und Verbänden mit und wurden durch Fachkräfte angeleitet und betreut. In den Jahren 1951 bis 1953 beteiligten sich unter anderem 885 Lehrer*innen und Erwachsenenbildner*innen, 314 Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen aus dem Jugendbereich, 123 im Bereich »Public Health and Welfare« Tätige (klinische und psychiatrische Sozialarbeiter*innen) sowie 24 weitere Sozialarbeiter*innen (Müller, 2006, S. 139). Insgesamt nahmen zwischen 1948 und 1956 16.228 Personen an dem Austauschprogramm teil, das nach Müller das »ehrgeizigste, umfangreichste und teuerste kulturell und pädagogische Austauschprogramm [war], das die USA mit irgend einem einzelnen anderen Land in Szene gesetzt haben. Es kostete ein Drittel der Gesamtsumme, welche Nordamerika für den internationalen Kulturaustausch insgesamt bereitgestellt hatte« (S. 138). Die Rückkehrer*innen bestätigten wiederholt, dass das Programm nachhaltige Wirkung entfaltete: Viele von ihnen waren später in (an)leitenden Positionen im Sozial- und Erziehungsbereich tätig. Um die besondere Dynamik dieser Austauschprogramme, den Kontext der frühen Entwicklung der Supervision und dieses selbst zu verstehen, sind zwei Ergänzungen bedeutsam: 1.  Ergänzung: Vor allem die Sozialarbeiter*innen kamen im Zuge der Austauschprogramme mit der (Councelling-Variante der) Supervision in Berührung, die zu einem festen Teil der Ausbildung US-amerikanischer

Nach Nationalsozialismus und Krieg35

Sozialarbeiter*innen gehörte. Müller (2006) beschreibt diese Erfahrung folgendermaßen: »Viele deutsche Sozialarbeiter hatten keine konkrete Vorstellung, was sie erwartete, wenn sie bereits in der ersten Woche ihres amerikanischen Gast­studiums einen Einstunden-Termin mit ihrer Supervisorin bekamen. Sie übersetzten sich den Begriff mit ›Aufseherin – Anleiterin‹ ins Deutsche und waren verwundert, dass die Supervisorin keineswegs als Vorgesetzte auftrat […], sondern dass ein in der Regel sehr intensives Gespräch über den Bericht [gemeint ist ein Bericht über die eigene sozialarbeiterische Praxis; J.L.] zustande kam. Dieses Supervisionsgespräch hatte eine dreifache Zielsetzung: Die Sozialarbeiterinnen sollten überprüfen lernen, ob sie das, was sie getan und in ihrem Bericht niedergelegt hatten, auch wirklich verstanden, sie sollten herausfinden, ob Probleme, die sie in ihrem Bericht erwähnt hatten, möglicherweise Probleme waren, die mit ihrer eigenen Person zu tun hatten, und sie sollten herausfinden, ob es zu den professionellen Handlungen, die sie in ihrem Bericht erwähnt hatten, sinnvolle und erfolgsversprechende Alternativen geben würde« (S. 178).

Im historischen Rückblick lässt sich hier eine zentrale Quelle der Supervision in Westdeutschland finden: in den US-amerikanischen Bemühungen um eine Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus und den politischen Maßnahmen, mit denen die amerikanischen Alliierten auf das Menschheitsverbrechen schlechthin reagierten. So richtig dies auch ist, ist gleichermaßen einer ursprungsmythischen Idealisierung vorzubeugen: Im Rahmen der Austauschprogramme ging es den Alliierten nicht darum, primär die Supervision nach Deutschland zu importieren, sondern solche Methoden der amerikanischen Sozialarbeit, die der Idee einer Demokratisierung der westdeutschen Bevölkerung entgegenkamen (Ringshausen-Krüger, 1977, S. 27). Supervision gab es in den 1950er-Jahren noch lange nicht als eigenständige Beratungsform. Noch 1962 erläuterte Annedore Schulze: »Casework [kann] nicht in die Praxis eindringen […] ohne Supervisoren und […] Supervisoren ohne Casework-Praxis [sind] nicht denkbar« (Schulze, 1962 zit. n. Ringshausen-Krüger, 1977, S. 31). Supervisoren waren in der Bundesrepublik bis in die 1960er-Jahre hinein Methodenlehrer, die Supervision als Instrument (in) der Ausbildung von Sozialarbeitern anwendeten. Zu betonen ist daher, dass Supervision nach dem Ende der NS-Herrschaft als ein Aspekt der amerikanischen Methoden der Sozialarbeit in die deutsche Sozialarbeit eingeführt wurde. Die Tradition der alliierten Austauschprogramme wurde in verschiedenen Initiativen und Kursen, Arbeitsgruppen und Fachtagungen fortgeführt, die die amerikanischen Methoden der Sozialen Arbeit praktisch vermittelten und dabei auch in Supervision fortbildeten. Nicht alle, aber

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Facetten der Supervisionsgeschichte

mehrere der von mir interviewten Supervisor*innen, haben Ende der 1950er-Jahre und Anfang der 1960er-Jahre entsprechende Kurse besucht. Erste systematischere Weiterbildungen – die keineswegs mit eigenständigen Supervisionsausbildungen zu vergleichen sind – wurden zunächst von der Victor-Gollanz-Stiftung in Hamburg (1956) und Berlin (1957), vom Haus Schwalbach in Wiesbaden (1958), dem Deutschen Verein in Frankfurt (1964) und schließlich der Akademie für Jugendfragen in Münster (1966) angeboten (Ringshausen-Krüger, 1977). 2. Ergänzung: Die Teilnehmenden lernten die US-amerikanischen Methoden der Sozialen Arbeit häufig bei Menschen kennen, die in der NS-Zeit verfolgt wurden und das Glück hatten, vor den Nazis ins Ausland fliehen zu können. Einige geflohene Psychoanalytiker*innen (wie z. B. Otto Rank oder Ernst Federn) und Sozialwissenschaftler*innen (wie z. B. Louis Lowy oder Gisela Konopka) waren in ihrem Exil im Feld der Sozialen Arbeit tätig und beteiligten sich an den Austauschprogrammen: »[D]er persönliche Kontakt mit den ersten Mittlern der Einzelhilfe und Supervision, von denen die meisten entweder Emigranten waren oder bei den Emigranten in den USA ihre ›Kunst‹ gelernt hatten, [muss] als doppelte Befreiung gewirkt haben. So wurde bei diesen persönlichen Kontakten den ehemaligen ›Verfolgern‹ von den ›Verfolgten‹ geholfen, nicht nur die Klienten, sondern vor allem auch sich selber besser zu verstehen« (Belardi, 1992, S. 58).

Bislang allerdings gibt es kaum nähere und erfahrungsgesättigte Beschreibungen dieses »persönlichen Kontaktes«, die seine politisch-historische Dimension empirisch auslotet und nach der Bedeutung dieses Kontaktes für die sich konstituierende Supervision fragt. Anhand der Interviews, vor allem mit den Supervisoren des Alltags, lässt sich dies leisten. Die Wissensbevollmächtigten der Supervision hingegen schildern mehr oder weniger exakt den bereits beschriebenen Transfer der US-amerikanischen Methoden der Sozialarbeit aus einer Vogelperspektive, ohne sich selbst als handelnde Subjekte zu thematisieren. Bei diesen Schilderungen handelt es sich um eine Reproduktion des auch in der Fachliteratur beschriebenen Masternarrativs der Supervisionsentwicklung: Als Erinnerungsfigur ist sie fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses der Supervision (Belardi, 1992; Müller 2006; Weigand, 1990, 2012). So berichtet die Supervisorin Nadine B.9, die in verschiedenen Ausbil-

9 Alle Angaben, anhand denen Personen erkennbar werden könnten, sind einer umfassenden Anonymisierung unterzogen worden.

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dungseinrichtungen Supervision gelehrt hat und als Lehrsupervisorin tätig war, Folgendes: »Das heißt 1945 war also wirklich die Stunde Null, auch in der Sozialarbeit. Es gab einfach nichts, es gab gar nichts außer diesen faschistischen Sachen. Da gab es gar nichts. Und da wurden durch die Viktor-Gollanz-Stiftung, und die wird zu Unrecht immer wieder vergessen, …10. Der Viktor Gollanz war ja so ein humanistischer Jude, der das gemacht hat. Der hat gesagt, man muss jetzt da in Deutschland was tun. Und da kamen die Angebote durch die Viktor-Gollanz-Stiftung und da sind die Dozenten, also die Lehrer von den höheren Fachschulen, eingeladen worden nach USA zu gehen und dort Praktika zu machen und Studienreisen zu machen, das war des eine. Die […] waren da in USA und kamen sehr beeindruckt wieder von der Freundlichkeit. Sie haben natürlich drüben getroffen die Migranten, die deutschen Migranten […], die ausgewandert sind. Die haben zum Teil im sozialen Feld sich dort bewegt und Case-Work und Group-Work gemacht. Und die [Migranten; JL] kamen dann zum Teil auch wieder über die Viktor-Gollanz als Dozenten hierher zurück […]. Aber die ersten die kamen, waren die Amerikaner. Und die [Victor-Gollanz-Stiftung, JL] hat auch systematisch Studenten Stipendien ausgegeben, sehr großzügig, also Leute nach Amerika geschickt oder hier studieren lassen. So mit einem Mentoring und wo die ganzen Sachen wieder besprochen wurden. Es muss auch Supervision gegeben haben.«11

Die Interviews mit Angehörigen der bundesdeutschen Gründungsgeneration der Supervision zeigen nun, dass sich zwischen den ehemaligen Verfolgten des NS-Regimes und den deutschen Sozialarbeiter*innen eine »gute« symbolische Selbstrepräsentanz der Supervision entwickelt. Diese entwirft Supervision als demokratisches und verantwortliches Handeln, dem Autorität, Gewalt und Diskriminierung gegenübergestellt werden. Supervision repräsentiert für junge deutsche Sozialarbeiter*innen vor allem dort, wo sie durch jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus vermittelt wird, eine Position des historisch anderen, die einen fremden Blick von außen auf die Mikro- und Mesoebene der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ermöglichte. So erzählen Supervisor*innen des Alltags in den Interviews aus einer Binnenperspektive von Begegnungen mit Sozialarbeiter*innen Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er-Jahre, die die erwähnten Methoden der Sozialarbeit aus ihrem Exil mit nach Deutschland brach10 Drei Punkte im Zitat weisen auf eine kurze Pause der sprechenden Person von unter drei Sekunden hin. 11 Dieser und alle nachfolgenden Interviewauszüge sind für diesen Bericht – nicht aber für die Auswertung – vorsichtig sprachlich geglättet worden, um sie leichter lesbar zu machen.

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ten. Gerade diese Interviews verdeutlichen eindrücklich den persönlichen Kontakt zwischen Verfolgten des NS-­Regimes und den teilweise noch in den letzten Jahren des Nationalsozialismus sozialisierten Nachkommen von NS-­Volksgenossen bzw. -innen. Erkennbar wird, dass die interviewten Supervisor*innen neben der Vermittlung von sozial­arbeiterischen Methoden gerade der Verfolgungserfahrung eine heraus­ragende Bedeutung beimessen: Exemplarisch sei diesbezüglich aus dem Interview mit der in den 1930er-Jahren geborenen Sozialarbeiterin und Supervisorin Sabine C. zitiert, die Supervision und die Verfolgungs­erfahrung ihres Dozenten in einen expliziten Zusammenhang bringt: »Und als ein Zeuge nahm der Professor Louis Lowy an diesem Auschwitzprozess teil. Der war in Auschwitz gewesen, hatte dort seine Frau kennengelernt, wurde befreit und ging 1945 im Mai direkt nach USA. Und kam zum ersten Mal 1962 zu diesem Prozess nach Deutschland zurück. Und in Verbindung damit bot er Social Groupwork und Supervision an […]. Ja, und das war schon, das war was ganz anderes […] also ich war Feuer und Flamme.«

Für Frau C. sind die psychosozialen Kompetenzen, über die Lowy als Supervisor verfügte, verbunden mit seiner Erfahrung während der NS-Zeit: »Wobei ich denke, dass es für Lowy bedeutsam war, Menschen zu helfen, zu tolerieren, den angenehmen Werdegang zu bejahen, die Identität zu erhalten, und da gehört mit Sicherheit diese ganze Judenverfolgung dazu. Und das, was er damit hier erlebt hat«. Viele Interviews zeigen, dass die Fortbildungen in den US-amerikanischen Methoden der sozialen Arbeit, die von Verfolgten des NS-Regimes durchgeführt wurden, politische Sozialisationsprozesse angestoßen, kulturelle Norm- und Wertsetzungen verändert und eine demokratische Sensibilität befördert haben. In diesen Fortbildungen sind nicht einfach Personen miteinander in Kontakt gekommen, sondern Personen als Träger verschiedener historischer Kontexte und politischer Kulturen: Hier die Kultur der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in der vielfach rassistische und antisemitische Muster zu fühlen, zu handeln und zu denken sowie Autoritarismus und eine (darwinistische) Kultur der Stärke, wenn nicht offen, dann als »nicht-öffentliche Meinung« (Böhm, 1955, S. 11) im Alltag vertreten, und eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen abgewehrt wurde. In den Fortbildungen hingegen vertraten ehemalige Verfolgte des NS-Regimes als Dozierende eine Haltung, die sich gegen alltägliche Diskriminierung wendet, an demokratische Gleichheitsprinzipien appelliert und für eine aktive Beteiligung junger Menschen an der sozialen Umgestaltung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft plädiert und dabei Reflexivität

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mit einer Kultur der Benennung verbindet. Diese Haltung wurde, wie in mehreren Interviews deutlich wird, sinnlich konkret vermittelt und mit den gesellschaftlichen Erfahrungen der Teilnehmer*innen verbunden.12 Exemplarisch sei dazu ein Auszug aus einem Interview mit dem Supervisor Klaus M. angeführt. Er erzählt, dass für seine erste Begegnung mit der Supervision Gisela Konopka eine entscheidende Bedeutung hatte: »Klaus M.:  Die Gisela Konopka war eine Deutsche, war im Dritten Reich aufgewachsen und war vertrieben worden. Die muss Sozialwissenschaftlerin oder so was gewesen sein, ich weiß es nicht genau. Ging dann nach Amerika und hat an der, ich glaube, Universität von Minnesota soziale Gruppenarbeit gelehrt. Eine ganz hoch Politische. Klammer auf: Ich bin Marionettenspieler und habe im Zuge dieser Veranstaltung mal abends was angeboten. Da war unter anderem ein Neger, der Trompete blies. War in Deutschland immer ein großer Erfolg. Dann sagte die Konopka: ›In Amerika dürften Sie das nicht machen, das wäre diskriminierend.‹ Das muss man sich mal vorstellen. Jan Lohl:  Und dann? Klaus M.:  Ach nichts, die hat mir das nur so als Feedback gegeben. Das hat mich aber so beeindruckt, ich gehe da so naiv ran hier, ja? Und in Amerika würde man Leute damit kränken. Das war sie, dass sie auch so unpopuläre Dinge einem gesagt hat, weil sie es für richtig hielt. War eine von den zwei Frauen, die ich kenne, von denen man sagt: ›Ein Mensch, den man nie vergisst.‹ Ja.«

Im weiteren Interview erzählt Klaus M. Folgendes: »Das kam daher, weil Supervision in Amerika ein konstitutives Element von sozialer Gruppenarbeit ist, deswegen spielte das eine Rolle. Deswegen hat die Gisela Konopka drüber berichtet. Ja? […] Die Konopka hat auch eher klassisch gelehrt, also von vorne, vielleicht mal Gruppenarbeit, aber nichts prozessbezogenes oder gruppendynamisches oder so, das war nicht ihr Ding. Aber sie war ein großes Vorbild. Und ich habe damals begriffen, dass soziale Gruppenarbeit was mit politischer Bildung zu tun hat […] und das war ja ein Element der Amerikaner, die Deutschen zu demokratisieren mithilfe der 12 Die Haltung scheint teilweise auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln in der NS-Zeit eingeschlossen zu haben. So berichtet Wolfgang Müller (2006, S. 143) Folgendes aus seinen Gesprächen mit Gisela Konopka: »Dabei sei es ihr mehr als einmal passiert, dass Sozialarbeiterinnen [sic!], aufgerührt durch die thematische Arbeit des Tages, sie noch spät in der Nacht aufgesucht hätten, um mit ihr über Erlebnisse während der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen. Als sie weibliche politische Häftlinge einer Körpervisitation unterziehen mussten, als sie behinderte Kinder für ein Euthanasie-­ Programm aussuchen sollten.« In den Interviews, die ich geführt habe, wird Ähnliches nicht berichtet.

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Facetten der Supervisionsgeschichte sozialen Gruppenarbeit. Das wurde mir da aber erst bewusst, dass Sozialarbeit halt auch eine politische Dimension hat im Hinblick auf Demokratisierung. Das hat sich auch durch mein Berufsleben getragen, dass ich immer gesagt habe, die Leute sollen auch in der Art, wie wir miteinander umgehen, […] Demokratie erleben, ohne dass man sie Demokratie lehrt. Und das hat sich auch bewiesen. Das war so ein Teilstück der Weiterbildung. Da bin ich drauf gestoßen und habe gerochen, dass das was Interessantes ist.«

Wie Herr M. erzählen einige Interviewpartner*innen, dass sie in den Fortbildungen einen veränderten (beruflichen) Blick auf die eigene kulturelle und soziale Lebenswelt entwickelten, die vielfach durch einen psychosozialen Immobilismus und politische Apathie geprägt war (Mitscherlich, 1967). Hierbei kam den Methodenlehrer*innen und Supervisor*innen, die eine Verfolgungserfahrung in der NS-Zeit überlebt hatten, eine zentrale Bedeutung zu. Sie werden in vielen Interviews als die »Anderen […] der neuen Gesellschaft« (Schneider, 2010, S. 187) dargestellt, als eine Art verheißungsvolles Gegenüber der eigenen Eltern und Lehrer*innen und der durch Enge und »Muffigkeit« geprägten Nachkriegskultur. Gerade in den Beziehungen zu ihnen entwickelten junge Sozialarbeiter*innen die Zuversicht, dass die Gesellschaft nicht so bleiben muss, wie sie ist, sondern sich verbessern lässt, wenn man es nur mit den richtigen Methoden anpackt. Die Fortbildner*innen wurden als unbelastete und unverdächtige Autoritäten erfahren, die als Vorbilder taugten. Anders als an den eigenen Eltern und Lehrer*innen – den Autoritäten aus der Elterngeneration – haben sich jungen Sozialarbeiter*innen an ihnen politisch, moralisch und psychisch und darüber hinaus hinsichtlich des eigenen beruflichen Handelns ganz praktisch orientiert. Sie boten den Teilnehmenden mit ihren neuen Methoden – vor allem mit der Supervision – mit ihrer Haltung und ihrer politischen Kultur die Möglichkeit einer alternativen Herkunft an. Diese Möglichkeit traf den aus der Forschung zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus bekannten Wunsch der jungen deutschen Generation, unschuldig zu sein und dem Grauen der Shoah, der Gewalt und dem Autoritarismus, die aus ihrer Genealogie nicht zu tilgen waren, eine alternative (professionelle) Herkunft als Sozialarbeiter*in und später als Supervisor*in entgegenzusetzen (Schneider, 2010, S. 122; Schneider, Stillke u. Leineweber, 2000). In den Fortbildungsstätten und in den Beziehungen zu den Fortbilder*innen vollzogen sich oftmals (adoleszente) Sozialisationsprozesse, die Demokratie und gesellschaftliche Verantwortung zu bedeutenden Aspekten der eigenen beruflichen Identität machten. Angeführt sei diesbezüglich exemplarisch das Interview mit der während des Zweiten Weltkriegs geborenen

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Sozialarbeiterin und Supervisorin Inge G., die im Interview aus ihrer Schulzeit und ihrem Studium erzählt: »Ich bin ja in den muffigen Fünfzigerjahren groß geworden und ich habe 1962 Abitur gemacht. Also an meiner Schule zum Beispiel war das überhaupt kein Thema, was die Lehrer, Lehrerinnen, Schulleitung, Eltern und so weiter gemacht hatten im Krieg. Also was ein Thema war, war natürlich, wenn ein Vater immer noch nicht zu Hause war oder gefallen war, das war natürlich leicht zu besprechen. Die Lehrer haben viel Kriegserlebnisse erzählt so in diesen letzten Stunden vor den Ferien, wenn erzählt wurde oder wenn irgendwelche Sonderprogramme liefen, da erzählten die ohne Ende ihre Kriegserlebnisse. Und es waren natürlich immer angenehme. Ja, ich muss erstmal von meiner eigenen Verengung erzählen. Ich bin katholisch aufgewachsen, die Schule war aber eine protestantisch und altphilologisch orientierte Schule. Fast ausschließlich eine Jungenschule, in einer Kleinstadt hier in der Nähe. […] Und da war für mich so das erste Mal mit schlechtem Gewissen, dass ich aus dem Üblichen ausbrechen wollte, um nicht nur das zur Kenntnis zu nehmen, was in das System, in die Schablone passte, die ich für richtig halten sollte, sondern mich genau mit dem anderen zu beschäftigen.«

1962 beginnt Frau G. dann an einer westdeutschen Fachschule Sozialarbeit zu studieren. Diese Schule wurde von einer Lehrerin geleitet, bei der sie Supervision kennenlernte: »Ich habe an der Fachschule Sozialarbeit studiert. Die damalige Leiterin, die kam aus Amerika zurück«, wohin sie während der NS-Zeit geflohen war. Hier hatte die Schulleiterin neue Methoden der Sozialen Arbeit kennengelernt, die in Deutschland bis dahin weitgehend unbekannt waren: »Und die hatte diese ganzen Dinger mit Supervision und Community Organisation und so was, hatte die alles drauf«. Über diese Lehrerin erzählt Inge G.: »Die war wichtig, weil die verband die Zuversicht, dass die Welt sich zum Besseren verändern ließe mit Know-how. […] Und die hatte also eine ganz starke Energie von Zuversicht und andererseits Anpacken. Und die hat sich nicht unterkriegen lassen, durch die deutsche Bürokratie zum Beispiel. Das war der so was von zuwider […]. Und die hat uns sehr zum Politischen ermutigt. Das ist zwar nicht bei vielen dann auf fruchtbaren Boden gefallen, weil die ganze Kultur in der Stadt und an der sozialen Fachschule – und sie war ja nicht die einzige Dozentin da – war auch sehr bremsend. Aber für mich war das genau das Richtige.«

Die Praxis der Supervision lernte Frau G. später während ihres Berufspraktikums ab 1965 näher kennen. Sie bekommt im Rahmen eines Stipendiums der Victor-Gollanz-Stiftung die Möglichkeit, an einer Supervisionsgruppe teilzunehmen, die ein niederländischer Supervisor leitete.

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Facetten der Supervisionsgeschichte

Sie erinnert sich allerdings kaum an einzelne Begebenheiten: »Also über irgendwelche Methoden oder Geschichten oder so könnte ich wirklich nichts erzählen, das weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass es mich beeindruckt hat und dass ich da brav immer hingefahren bin«. In der Erinnerung von Frau G. scheint mit der Supervision ein starker emotionaler Eindruck verbunden zu sein, der ihr bis heute präsent ist. Dieser Eindruck speist sich aus dem Gefühl, durch ihre Teilnahme an der Supervisionsgruppe an etwas für die zeitgenössische Sozialarbeit Besonderem teilzunehmen: »Und es war eine sehr kleine Gruppe, vier, fünf Leute, die sehr weit anreisten. Ich kam ja von W-Stadt, was ja dann für so eine zwei- oder dreistündige Sitzung auch sehr weit war. Ich hatte ein Gefühl, dass es eine Auszeichnung ist, daran teilnehmen zu dürfen, weil der [Supervisor] ja extra aus dem Ausland kam«. Die beruflichen Fortbildungen lassen sich als doppelter Sozialisationsprozess begreifen, in dem die Aneignung von neuen beruflichen Kompetenzen mit einem politisch-psychologischen Umgang mit der eigenen überpersönlichen Geschichte und daran geknüpften Werten, Normen und Haltungen verwoben war. Durch diese Doppelung entstand eine besondere (»gute«) symbolische Selbstrepräsentanz der Sozialarbeit und der Supervision, die der eigenen praktischen Tätigkeit unbewusst unterlag. Diese Tätigkeit auszuüben, Supervision und Sozialarbeit praktisch zu betreiben, bedeutete im Erleben der Supervisoren aus der Gründungsgeneration auch, im beruflichen Handeln der eigenen schuldbehaftet erfahrenen genealogischen Herkunft aus dem Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zu entrinnen (Schneider, 2004). Viele Interviewpartner*innen erfuhren das eigene professionelle Handeln als Teil der Errichtung einer demokratischen, antiautoritären und humanen Gesellschaft. Latent – das ist zu vermuten – verbirgt sich dahinter eine weitgehend unbearbeitete kollektive Geschichte, die mit Schuld, Autoritarismus, destruktiver Machtausübung und Gewalt zu tun hat. Diese wird dann zum Beispiel in Form von blinden Flecken oder unreflektiertem Agieren virulent, wenn es um die Beziehung zu – gerade auch der eigenen – Autorität, Macht und Aggression geht. Insofern war die Orientierung an der (»guten«) Supervision auch eine »Befreiung von der Last […], sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen« (Weigand, 2012, S. 53).13

13 Gleichwohl verweisen einzelne Interviews darauf, dass gerade Supervision einen Raum bot, sich – wenn auch nicht mit Schuld – doch mit den Folgen von Gewalterfahrungen auseinanderzusetzen – dann, wenn diese mit dem eigenen beruflichen Handeln verknüpft sind.

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Sozialarbeit (und mit ihr die Supervision) gewinnt im Rahmen des Einflusses der erwähnten US-amerikanischen Methoden für viele Interviewpartner*innen eine demokratische Qualität, die sie – dem eigenen Selbstverständnis nach – im Laufe ihres Berufslebens in den Organisationen, in denen sie tätig waren, in ihre Arbeit einbrachten. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht, dass in Schulen, aber auch anderen Sozialisations- und Erziehungseinrichtungen vor allem in Kinder- und Jugendheimen eine personelle Kontinuität des Nationalsozialismus und eine alte – älter als der Nationalsozialismus – autoritäre Erziehungstradition vorherrschte. Derartige Einrichtungen, vor allem aber die Beziehung zwischen Erziehenden/Lehrenden und den Kindern/Jugendlichen, waren in den Nachkriegsjahren vielfach ein Ort der Gewalt, an dem eine Gemengelage von autoritären Erziehungstraditionen und dem destruktiven Erbe des Nationalsozialismus wirkte (Bohleber, 1990, 1998; Koch-Wagner, 2001, 2003; Kestenberg, 1989). So erzählt der Supervisor Frank F. im Interview Folgendes: »Also zum Beispiel in der Heimerziehung, wenn ich das mal so nehmen darf, da sind nach dem Krieg alle möglichen Wehrmachtsleute untergekommen und natürlich – also Stichwort schwarze Pädagogik – gab es Druck, Sanktionen, Gewalt.« Dies bekamen Kinder und Jugendliche in den Nachkriegsjahrzehnten am eigenen Leib zu spüren. Es gab viele Pädagog*innen, wie Frau D. im Interview erzählt, die in diesen Beziehungen »geradezu einen Hass auf Schüler ausagierten«. Einige Interviewpartner*innen erfuhren die emotionale und direkte Gewalt autoritärer Sozialisationen als Kinder und Jugendliche am eigenen Leib. So erzählt der Supervisor Herr H. im Interview aus seiner eigenen schulischen Sozialisation: »Ich war jahrelang in einem Internat […] in [einer westdeutschen Kleinstadt, JL] und da herrschten natürlich sehr strenge Sitten. Ich habe auch überlegt, war da sexueller Missbrauch oder so? Nee. Aber viel versteckte Gewalt. Der Leiter, der drehte dann die Ohren um, drehte den Arm um, wenn ihm was nicht passte. Also da habe ich viel autoritäres Verhalten erlebt von den Leitungen. Der ganze Alltag war so streng und starr geregelt, dass … Ich weiß, dass ich manchmal – na ja, ich war ein junger Bursche – abhauen wollte.«

Im Zuge der Bildungsreformen in den 1960er-Jahren wurde den Nachwirkungen und personellen Kontinuitäten des Nationalsozialismus und autoritären Sozialisationstraditionen entgegengearbeitet. Es gehört nicht viel historische Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass im Zuge dieser Reformen auch jene Personen in den Institutionen Fuß fassen konnten, die sich im Rahmen der geschilderten Austauschprogramme in den amerikanische Methoden der Sozialarbeit fortbildeten. Als Teil dieser Methoden tragen

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Facetten der Supervisionsgeschichte

sie die Supervision in die Institutionen der Sozialen Arbeit, aber auch in Bildungseinrichtungen und verändern diese kulturell und pädagogisch gleichsam von innen. Frank F. berichtet dies im Interview: »Und die Skandalisierung dieser Zustände, dass in Wirklichkeit damit nichts verbessert wurde, […] spülte Pädagogik hervor, der es um Kommunikation und Beziehungen ging, die wurden plötzlich relevant, auch die Personen. Das habe ich damals im Landesjugendamt mitbekommen. Da wurden alte Leute abgelöst und jüngere kriegten dann die Jobs und die Verantwortung und konnten diese Konzepte dann realisieren. Natürlich waren da auch Illusionen dabei, was man da alles an fehlgelaufenen Sozialisationen wieder korrigieren kann, ohne dass man ahnte, auf welche Schwierigkeiten man da stieß. Aber es änderte sich was!«

Festhalten lässt sich, dass die frühe Entwicklung der Supervision in der Bundesrepublik verwoben ist mit der gesellschaftlichen, institutionellen und psychischen Bearbeitung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus und von autoritären Erziehungstraditionen. Supervision ist zu diesem Zeitpunkt ein Teil der Methoden der Sozialen Arbeit, die gemäß den Interessen der Alliierten autoritäre Traditionen ablösen sollten und vielfach wohl dazu beigetragen haben, diese tatsächlich auch abzulösen.

2.3 Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase Die weitere Entwicklung der Supervision, ihre Konstitution als Beratungsform mit eigenständigen Ausbildungen (vgl. Abschnitt 2.3.3) verläuft erstens im Kontext der unter dem Rubrum »68« notierten Protestbewegung der 1960er und 1970er-Jahre (2.3.1) sowie zweitens unter dem Einfluss einer wirkmächtigen gesellschaftlichen Veränderung: der Individualisierung von Lebenslagen (2.3.2). Im Verlauf dieser Entwicklung bildet sich sukzessiv die Team-Supervision heraus und die Beschäftigung mit der Bedeutung von Leitungs- und Führungskräften rückt in den Blick. Auf diese Weise nähert sich die Supervision der Auseinandersetzung mit Organisationen und ihren Themen, Dynamiken und Hierarchien an. 2.3.1  Supervision, Politik und Protest In den Geschichtswissenschaften, in Soziologie und Politikwissenschaft werden unter »68« die 1960er-Jahre als Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs begriffen (Frei, 2008; Kraushaar, 2008). Ausgehend von den

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Vereinigten Staaten griff ein Aufbegehren der (vorwiegend) jüngeren Generation auf Europa über.14 Bilder von Teach-Ins, ­Happenings, friedlichen und gewaltvollen Demonstrationszügen glichen sich international. »68«, das ist die Zeit einer grundlegenden Kapitalismus­kritik, der sexuellen Liberalisierung, der Demokratisierung und einer Hinwendung zu einer postmaterialistischen Kultur. Gleichermaßen gilt »68« aber auch als Regression in die Innerlichkeit, als hartnäckige Annäherung an den Kommunismus – all das verbunden mit politischen Allmachtsfantasien. Konservative Zeitgenoss*innen nehmen »68« hingegen als »fundamentale Kritik an Staat und Institutionen, Familien und Rollenmustern« wahr. Die »68er« sind für sie verantwortlich für viele, wenn nicht die meisten Schwierigkeiten der Gegenwart: »für die Bildungsmisere, die Arbeitslosigkeit, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, den Rechtsradikalismus, den Terroris­ mus, den Verfall der Moral und der bürgerlichen Werte insgesamt« (Kraus­haar, 2008, S. 43). Zutreffender als diese Ab- und Lobgesänge auf »68« ist der Hinweis darauf, dass es sich bei »68« um eine historische Konstruktion handelt (Lohl, 2009, S. 124 f.). So wurde »68« in den 1980er-Jahren von den Medien zunehmend als ein positives Markenzeichen gehandelt, das für den Beginn der Demokratisierung in der Bundesrepublik stand. Dies hatte den Effekt, dass sich der Protest der 1960er-Jahre retrograd zum Merkmal einer ganzen Generation entwickelte. Tatsächlich gab es in den 1980er-Jahren viel mehr »68er« als in den 1960ern politische Akteure der Protestbewegung: »Im Nachhinein hat es angeblich Hunderte von Bewohnern der Kommune I und Hundertausende von Angehörigen der Achtundsechzigerbewegung gegeben. Diese Übertreibungen sind jedoch nichts anderes als der Ausdruck von Selbststilisierung und biographischer Relevanzanleihe. Die Anzahl der einstigen Aktivisten dürfte in der Bundesrepublik und in West-Berlin kaum über 10.000 gelegen haben und es sich damit also in der Tat eher um eine kleine Minderheit als eine Generationenkohorte gehandelt haben« (Kraushaar, 2008, S. 58).

Die formelhafte Rede von den »68ern« oder von »68« ist eine Konstruktion, die vielen Menschen nachträglich eine historische Orientierung sowie eine politische Selbstverortung ermöglicht. Orientierungsstiftend 14 Neben gemeinsamen Aspekten finden sich jedoch auch länderspezifische Gründe für den Protest. In Westdeutschland war dies vor allem die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit und die autoritären Traditionen (Brunner u. Lohl, 2011).

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Facetten der Supervisionsgeschichte

ist allerdings nicht nur die retrograde Einordnung in die Gruppe der »68er«, sondern auch die Abgrenzung von ihnen. So hat sich die positive Bewertung von »68« seit der Deutschen Einheit stetig ins Negative verschoben und ist vielfach einer Distanzierung gewichen. Zurückzuführen ist diese Verschiebung in der Bewertung nicht nur auf die jeweils aktuellen gesellschaftlichen und politischen Konstellationen des Diskurses über »68«. Diese Verschiebung hängt mit dem Gegenstand selbst zusammen: »1968 polarisiert nicht nur, es ist auch ein Puzzle, dessen Fragmente sich im Nachhinein nur noch schwer zu einem kohärenten Bild zusammenfügen lassen, es ist eine Art Kaleidoskop, dessen Bildelemente sich immer wieder verschieben und neue Eindrücke vermitteln« (Kraushaar, 2008, S. 49). Kraushaar zeigt, dass sich in den 1960er-Jahren unterschiedliche linke Gruppierungen gebildet haben, die häufig noch einmal in sich fraktioniert waren. Diese »desintegrierten Kleinorganisationen« der Protestbewegung werden nachträglich unter dem Deckmantel »68« gebündelt und hierbei in ihren politischen Anschauungen und Handlungsmustern vereinheitlicht (Kraushaar, 2008, S. 56). »68« oder »die Studentenbewegung« oder die linken politischen Haltungen der 1960er-Jahre werden heute vielfach als einheitlicher und vor allem als hegemonialer wahrgenommen, als sie damals waren. Dies gilt ähnlich auch für die Darstellung der Entwicklung der Sozialarbeit und der Supervision zu dieser Zeit. So findet sich in der Literatur zu der Geschichte der Supervision (kulturelles Gedächtnis) folgendes Bild, das – dies sei ausdrücklich betont – nicht falsch ist. Die Interviews mit älteren Supervisorinnen (kommunikatives Gedächtnis) zeigen jedoch ein heterogeneres, pluraleres und uneinheitlicheres Bild der Supervisionsentwicklung in dieser Zeit. Die ersten grundständigen Supervisionsausbildungen ab Mitte der 1960er und 1970er-Jahre konstituieren sich politisch und kulturell im Klima der Protestbewegungen. Im kulturellen Gedächtnis der Supervision ist dementsprechend ein homogenes Masternarrativ enthalten, nach dem Supervisor*innen sich politisierten und die Supervision gesellschaftskritischer wurde: sich offensiv an autoritären Traditionen in der Bundesrepublik und kapitalistischen Arbeitsverhältnissen abarbeitete und für Kommunikation und demokratische Verhältnisse eintrat. Bis in die 1960er-Jahre hinein hatten sich die Sozialarbeit und mit ihr die Supervision auf Individuen und Kleingruppen konzentriert. Bemängelt wurde nun, dass die Sozialarbeit zu wenig auf die gesellschaftlichen Hintergründe der psychosozialen und ökonomischen Krisen ihrer Klienten eingehe (Belardi, 1992, S. 91). So rückte die gesellschaftspolitische Funktion der Sozialarbeit und der Supervision in den Vordergrund: Ob beide die Anpassung an die kapitalistische Produktionsweise steigern oder dazu beitragen, ein revolutionäres Subjekt zu formen, das war die

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Frage. Ist Supervision »Schmieröl im Getriebe« oder »Sand im Getriebe« des kapitalistischen Verwertungsprozesses (Weigand im Interview mit Gröning, 2013, S. 93)? So gewannen sukzessive »auch in der Supervision Struktur- und Organisationsprobleme an Bedeutung. Ein stärkeres politisches Bewusstsein, das in der Sozialarbeit Akzente setzte, in Form veränderter Ziel­setzungen, bestimmte auch das Geschehen im Bereich der Supervision« (Schwarzwälder nach Weigand, 2012, S. 60). Als Effekt dieser Debatte entwickelten sich emanzipative und subversive Supervisionsströmungen, die die »Mitarbeiter als Team stärken sollte, um ein Gegengewicht gegen die meist autoritäre Leitung bilden zu können«. (Pühl, 1998, S. 7 f.) Die sich ab Mitte der 1960er und zu Beginn der 1970er-Jahre konsti­ tuierenden oder festigenden Supervisionsfortbildungen in Münster (Katholische Akademie für Jugendfragen), in Frankfurt (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge), in Gelnhausen (Burkhardt­haus), in Kassel (Weiterbildungsstudiengang der Gesamthochschule Kassel) und in Remscheid (Akademie Remscheid) entwickelten sich nach Weigand zu Orten, an denen sich Sozialarbeiter trafen, die »ziemlich linke Vögel, ziemlich politisiert« waren. Die »politische Frage« war damals für die Supervision »sehr prägend«. Die folgenden Themen standen dabei im Fokus: »es ging um Macht, um Autorität, es ging um Partizipation, es ging um Demokratisierung. Und das wurde alles gelegt mit Auseinandersetzung mit dem Staff« (Weigand im Interview mit Gröning, 2013, S. 93). Das Verhältnis der (angehenden) Supervisor*innen zu Autorität, Demokratie und Partizipation wurde also nicht nur theoretisch diskutiert, sondern umgebrochen auf die Beziehung der Fortbildungsteilnehmenden zu der Autorität der Dozierenden und so in Form von Erfahrungslernen psychosozial tiefergehend bearbeitet (vgl. Abschnitt 2.3.3). Dieses Masternarrativ ist nicht falsch, hat aber eine homogenisierende, historische Differenzen überdeckende Tendenz: Supervision und eine politische, gesellschaftskritische Haltung waren in den 1960er und 1970er nicht durchweg eng verbunden. Viele ältere Supervisor*innen sprechen in den Interviews davon, dass sie a) nicht an Politik und Protest partizipierten oder b) gerade ihre Supervisionsausbildung Teil einer ent-politisierenden und de-radikalisierenden Entwicklung war. Zudem c) mündete eine enge Verbindung von Supervision und einer politischen Haltung beim Einstieg in die berufliche Tätigkeit als Supervisor*in regelmäßig in Enttäuschungen, Kränkungen und Erfahrungen der Wirkungslosigkeit. In einem größeren Teil der Interviews wird deutlich, wie wenig die interviewten Supervisor*innen während ihrer Ausbildung und ihrer späteren Arbeit mit der Protestbewegung zu tun hatten: »ich bin damals selber auch total unpolitisch gewesen, ja?« (Susanne B.). Auch die Supervi-

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sorin Christa P. betont, dass sie von »68« »abgeturnt« war, ihr die Kultur von »68« »nie gefallen« hat und die Protestbewegungen für sie insgesamt »von keiner guten Energie begleitet« waren. In vielen Interviews wird auf »68« erst auf meine Nachfrage hin eingegangen. Protest und Politik wird in mehreren Interviews – wenn überhaupt – eher mit (dem Studium) der Sozialarbeit, nicht aber mit der Supervision verbunden. So erzählt der Supervisor Christoph A. im Interview Folgendes: »Jan Lohl:  Also die 70er-Jahre waren ja politisch eine ganz schön bewegte Zeit, also hat das irgendwie eine Rolle gespielt für die Ausbildung? (acht Sekunden Pause) Oder gibt es Erlebnisse, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind? (fünf Sekunden Pause) Christoph A.:  Nee, das kann ich eigentlich mehr verbinden mit dem Sozialarbeiterstudium. Mit dem Supervisionsstudium kann ich das nicht verbinden. Also mit dem Supervisionsstudium kann ich verbinden, wir haben studiert und nicht wir haben demonstriert oder lamentiert oder uns solidarisiert. Das verbinde ich mehr mit dem Sozialarbeiterstudium, nicht mit dem Supervisionsstudium, nee, nee.«

Ähnliches, jedoch weit ausführlicher, erzählt auch die Supervisorin Helga O. davon, dass in ihrer Biografie Sozialpädagogik/Soziale Arbeit und Supervision unterschiedlich mit der Protestbewegung verbunden waren. Die Supervisionsausbildung hat für Frau O. die Bedeutung, die mit »68« verbundenen politischen Haltungen zu verändern und zumindest partiell auch zu überwinden: »Helga O.:  Wir wollten ja die Welt umstülpen, ne? […] Und ich fand es halt sehr faszinierend, das ist schon sehr kennzeichnend für meine eigene Biografie: ›Fesseln sprengen‹ und ›So kann alles nicht weitergehen.‹ Und alles, was konservativ war, war unerträglich geworden. Wir haben in Arbeitskreisen, ob in der Uni oder jenseits der Uni […] Wilhelm Reich gelesen und eine Sexualmoral über Bord geworfen und das fanden wir alles sehr einsichtig. Es war ja wirklich eine kollektive Bewegung auch und ich war da dann schon so mitten drin. Vieles an dem, was uns eng geworden ist, haben wir einfach über Bord geworfen bis hin zur Verachtung. Sehr radikal, vielleicht auch manchmal ungerecht, ne? Wie ich das heute sehen würde, manchmal auch ein bisschen ungerecht. Aber es musste sein, um sich wirklich von diesen Fesseln zu lösen. Und da war natürlich die Beschäftigung mit unglaublich viel Theorie. Wir haben ja das ›Kapital‹ Band 1 beinahe auswendig gelernt in den marxistischen Schulungen. Wobei das Studium an sich, also damals die Diplompädagogik, das war ja schon sehr, sehr aufregend, was wir da alles mitgemacht haben, aber wir haben ja zusätzlich ja immer noch eigene Arbeitszirkel gemacht, ne? Und Marx, Engels gelesen, also wirklich aufgesogen. Also schon auch viel begrif-

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 49 fen an soziologischen Geschehnissen, wie Engels das ganze 19. Jahrhundert beschrieben hat: ›Ursprung der Familie‹, solche Sachen. […] Horkheimer, Adorno, alles gefuttert und gemeint zu verstehen, was mit dem autoritären Charakter war, und […] warum unsere Eltern so geworden sind, wie sie eben waren, und bis hin zu Faschismusentwicklung, alles, alles, alles. Also so, wir meinten einfach, wir können die Welt jetzt besser verstehen. […] Und so haben wir vielleicht manchmal auch wirklich mehr von der Welt begriffen an Einengungen und Entwicklungen. Und in den siebziger Jahren war ja Vietnam, wo wir reichlich für auf die Straße gegangen sind und uns gut dabei fühlten und dachten, wir können wirklich den Kapitalismus bekämpfen. Bis wir erfahren haben, dass es eben leider so doch nicht gelingt. […] Jan Lohl:  Sie haben ja vorhin erzählt, dass Sie viel davon doch über Bord geworfen haben. Sie sagten, vieles, was Sie damals abgelehnt haben, machen Sie heute als Supervisorin. Sie haben von einem Paradigmenwechsel gesprochen und von Veränderung Ihrer inneren Einstellung. Also können Sie das noch ein bisschen erzählen, was das für ein Wechsel war? Helga O.:  Also meinetwegen so pädagogische Sachen, die wir damals im Diplom­ pädagogikstudium ja auch machen mussten, das fanden wir relativ uninteressant. Dass eben die Politik oder die Sozialpolitik eigentlich vorrangig ist und die ganze Pädagogik dann nur so ein methodisches Anhängsel ist. Und man damit die Welt ja nicht verändern kann, sondern dass es vielmehr um grundsätzliche politische und soziologische Veränderungen gehen muss. Also das war zum Beispiel damals die ganze Randgruppendiskussion im Rahmen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, die spielte eine Riesenrolle. Und dass man jetzt nicht, wenn man den Menschen, die davon betroffen waren, […] nicht helfen kann, indem man jetzt eine bessere Sozialarbeit macht, sondern indem man eine sozialere Politik macht. So. Und […] durch dieses Supervisionsstudium dachte ich: ›Nee, nee […] jetzt kann man das nicht mehr sagen.‹ Diese Revolution findet sowieso nicht statt […]. Also gucken wir mal, wie man eben doch mit Methoden Fuß fassen kann. […] Und in der Supervision hat sich das für mich halt so dargestellt, dass gute Interventionen mit dazugehören, und mir ein radikales Gedankengut dann nicht hilfreich ist. Dass zum Beispiel die richtige Haltung einzunehmen im unmittelbaren Beratungsprozess schon ein Stück neue Erfahrung manchmal für die Klienten ist. […] Und da habe ich diese Radikalität auch ein Stück weit sein lassen, weil […] die Kommunikation im Dialog, also in der Supervision, mir sehr wichtig geworden ist.«

Erkennbar wird so ein »Gap« zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis der Supervision. Aufgrund des Machtanspruchs des kulturellen Gedächtnisses und seiner Erinnerung normierenden Kraft verschwindet in diesem Gap leicht die Sensibilität gegenüber anderen eher unpolitischen Erfahrungen der Supervision in den 1970er-Jahren (Lohl, 2014). Unter den interviewten Supervisor*innen lassen sich zwei Gruppen finden: Erstens jene größere Gruppe, in der die Supervision nicht in

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die Nähe der Protestbewegungen gerückt und als unpolitische berufliche Praxis angesehen wird.15 In einer zweiten Gruppe wird Supervision für die Zeit der Protestbewegung als Ausdruck einer politischen Haltung beschrieben und mit einem kulturellen Hegemonieanspruch verknüpft. Dieser Hegemonieanspruch und die damit verbundene Deutungshoheit drückt sich auch darin aus, dass Vertreter*innen dieser Gruppe in den Interviews die Supervisor*innen aus der ersten (»unpolitischen«) Gruppe schlicht nicht erwähnen. Im umgekehrten Fall gilt dies nicht: So erinnern sich Supervisor*innen aus der ersten (»unpolitischen«) Gruppe beispielsweise an Supervisionsfortbildungen aus den 1970er-Jahren, in denen es zwei Fraktionen und vielfach wenig Verständnis füreinander gab. Deutlich wird auch, dass diesen Supervisor*innen bis heute unverständlich geblieben ist, was die andere politische Fraktion mit der Supervision machen oder erreichen wollte. So erzählt die Supervisorin Daniela C. von zwei Subgruppen in ihrem Ausbildungskurs in den 1970er-Jahren: »Daniela C:  Und wir waren im Kurs so zwei Fraktionen. Eine Fraktion also, ich sage mal, nicht extrem, aber doch sehr eindeutig nach links tendierend, also dem bin ich gar nicht abgeneigt. Aber wir anderen waren also etwas mehr so moderater, sage ich jetzt mal. Und die andere Fraktion, die wollten zum Beispiel die Supervision überhaupt nicht als Supervision nutzen. Also es war uns nicht so ganz klar, warum machen die diesen Kurs überhaupt. Jan Lohl:  Was wollten die? Daniela C.:  In ihrer Arbeit bleiben, keine Ahnung. Also das war nicht klar, was die eigentlich damit machen wollten. Und es waren dann eben auch zwei Untergruppen, so viele Kontakte gab es dann gar nicht, so Austausch, nicht? Also mit dieser Frage ›Ja, warum seid ihr hier und was wollt ihr denn überhaupt damit?‹«

Bemerkenswert ist, dass die Supervisor*innen, die sich der »politischen Fraktion« zurechnen, in den Interviews erzählen, dass die politische Haltung, die ihre Ausbildung prägte, sich später in der praktischen Arbeit als Supervisor*in nicht umsetzen ließ. Dies führte zu Enttäuschungen und Kränkungen. Exemplarisch kann diesbezüglich das Interview mit Heinrich T. angeführt werden. Der Sozialarbeiter Herr T. machte Mitte der 1970er-Jahre eine berufsbegleitende Ausbildung zum Supervisor. Er schildert, wie er nach seiner Fortbildung in einem Jugendamt versuchte, als Supervisor mit einer politischen Haltung zu arbeiten und damit scheiterte: Während der Fortbildung 15 Dies heißt nicht, dass die interviewten Supervisor*innen unpolitische Menschen wären; dies ist defintiv nicht der Fall. Supervision wird von ihnen für die 1960er-Jahre jedoch nicht als Ausdruck einer politischen Haltung und nicht als Teil eines politischen Handelns beschrieben.

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 51 »wurde ganz klar gefragt: ›Wie ist es denn politisch? Du bist Supervisor im Jugendamt, wie vereinbarst du das, die starre Hierarchie in der Verwaltung? Du verstehst dich als Supervisor, möchtest also offen und selbstbewusst arbeiten und die Leute mit einbeziehen, das passt doch alles irgendwie nicht. Und du weißt doch ganz genau, gesellschaftliche, politische Strukturen, die spielen noch eine wichtige Rolle‹ und, und, und.‹ […] Und das aber war der Bereich, der mich sehr stark angesprochen hat. Und dann habe ich natürlich versucht – ich kriegte eine Stelle in E-Stadt im Jugendamt – eben das auch umzusetzen, was natürlich […] äußerst schwierig war, direkt vor Ort mit Sozialarbeitern und Sozialpädagogen politische Arbeit zu betreiben. Das habe ich mir sehr schnell abgewöhnen müssen also in dieser Form«

Die politische Haltung, die das Klima an seiner Fortbildungsinstitution zentral prägte, kann Herr H. während seiner Arbeit als Supervisor nicht umsetzen. Er ist »gefrustet«, hat sich aber »dann gesagt, okay, das geht nicht anders«. Seine politische Haltung und seinen Wunsch, politische Arbeit zu machen, gibt er aber nicht auf, sondern orientiert sich um: Er wird Mitglied einer Gewerkschaft und wirkt von hier aus politisch auf die Rahmenbedingungen von Arbeit ein. Auch Brigitte M., die als Dozentin lange Zeit in Supervisionsfortbildungen gearbeitet hat, erzählt im Interview davon, dass es zu Enttäuschungen kam, wenn politisierte Sozialarbeiter*innen aus den Super­ visionsausbildungen zurück in ihre Institutionen gingen: »Vor allem die jungen Männer […], die hatten schon die Hoffnung, dass man durch Sozialarbeit die Welt verändert. […] Und die waren da auch ein bisschen euphorisch … Es tut sich ja in den Gruppen [Supervisions-Ausbildungsgruppen; JL] dann ganz viel auch an emotionalen Erfahrungen, man ist aufgeschlossener und hatte dann die Hoffnung, dass man das so in die Arbeitswelt übersetzen kann. Und das hat mich natürlich auch wachsamer gemacht, in der Weise, dass also die Erfahrung in den Institutionen sofort wieder wegging. […] Das heißt, sie [die Ausbildungsteilnehmer*innen; JL] kamen mit diesen neuen Kommunikationsformen, die man also da einübt miteinander, aber das kann man auf die Arbeitswelt nicht übertragen. Ne, die kamen zurück und der Kollege sitzt so auf seinem Stuhl wie früher. Das waren Enttäuschungen.«

2.3.2 Individualisierung von Lebenslagen als Kontext der Supervisionsentwicklung In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die bundesrepublikanische Industriegesellschaft gewandelt. Eine auf Autorität, Disziplin, Gehorsam und Konformität gegründete Gesellschaft wurde sukzessive durch eine solche verdrängt, die auf das Leitbild eines autonomen

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Subjekts setzt: auf individuelle Leistungsbereitschaft, Selbstverantwortung und Eigeninitiative. Dass Supervision sich zu einer nachgefragten Beratungsform entwickelt, hängt mit diesen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und ihren psychosozialen Folgen zusammen, die sozialwissenschaftlich als Enttraditionalisierung und Individualisierung von Lebenslagen begriffen werden (Beck, 1986). Aus einer soziologischen Perspektive löste sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Leben vieler Menschen aus traditionalen Zusammenhängen. Sie werden aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft nach und nach freigesetzt und damit unabhängiger von Bindungen an Klassen, Schichten, Familien und Geschlechtslagen sowie an Regionen und regionale Kulturen: Werte, Normen und Orientierungen, aber auch Formen der Lebensführung und (Berufs-)Biografien, die an diese Zugehörigkeit gebunden waren, werden weniger verbindlich: »Die Biographie der Menschen wird aus traditionalen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen [sic!] gelegt. Die Anteile der prinzipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu« (Beck u. Beck-Gernsheim, 1990, S. 12 f.).

Die Individuen selbst werden so zum sozialen Zentrum ihrer Biografie und orientieren sich weniger an traditionellen Werten und Normen, überlieferten biografischen Mustern und Vorgaben. Sie sind »verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen« (Beck u. Beck-Gernsheim, 1990, S. 116). Als Einzelne sind Menschen zunehmend gezwungen, ihre Biografie selbst(-verantwortlich) so zu organisieren, dass sie zu einer marktvermittelten Existenzsicherung in der Lage sind. Das Neue dieses gesellschaftlichen Veränderungsprozesses liegt darin, dass weniger soziale Gruppen wie Klassen oder Familien »zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen« werden: »die Individuen werden innerhalb und außerhalb der Familie zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und der darauf bezogenen Biographieplanung und -organisation« (S. 119). Supervisionsfortbildungen in den 1960er und 1970er-Jahren waren aufgrund der Enttraditionalisierung und Individualisierung von Lebenslagen kulturell, gesellschaftlich und politisch heterogen zusammengesetzte Gruppierungen: gesellschaftliche »Schmelztiegel« mit hohem Konfliktpotenzial. Denn die Individualisierung von Lebenslagen erhöhte

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die soziale (und geografische) Mobilität für viele Menschen. Durch den Ausbau des Dienstleistungssektors und die Bildungsreformen in den 1960er bzw. 1970er-Jahren werden soziale Aufstiegschancen verbessert. Gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten profitieren davon; die Studierendenzahlen nehmen zu. Dies trägt dazu bei, dass in den Supervisionsfortbildungen in den 1970er-Jahren Menschen mit zum Teil unterschiedlichen Berufsbiografien aufeinander trafen – Sozialarbeiter mit einer zuvor abgeschlossenen Schlosserlehre oder einer Ausbildung zum Banker saßen neben der Theologin oder der Ergotherapeutin. Nicht nur das: Die Teilnehmer*innen hatten ebenso wie die Fortbildungsleitung unterschiedliche konfessionelle, politische und kulturelle Hintergründe. Zudem wiesen sie unterschiedliche sozialräumliche und unterschiedliche regionale Herkünfte auf. Supervisionsfortbildungen waren in den 1970er und 1980er-Jahren sozial heterogen zusammengesetzte Gruppierungen mit hohem Konfliktpotenzial. So berichtet der langjährige Ausbildungsleiter, Dozent und Supervisor Florian A. von den gesellschaftlichen Unterschieden, die die Ausbildungsgänge in den 1970er-Jahren charakterisierten: »da gab’s Differenzen. Also da gab’s die Linken, die da waren und die Konservativen. Die Kirchenleute und die ungläubigen Säcke aus dem Norden, um es mal aus der [Perspektive der Ausbildungseinrichtung; JL] zu sagen. Also da gab’s ganz … Deswegen erzähle ich das, dieser Kurs war sehr vielfältig besetzt in der Kursgruppe und auch die Dozenten waren nicht unpolitisch. Da gab’s unterschiedliche Biografien, Leute aus unterschiedlichen Schichten.«

Wie begründen nun die interviewten Supervisor*innen ihre Entscheidung, eine Supervisionsausbildung zu beginnen? Eine Supervisionsausbildung zu absolvieren war in den 1970er-Jahren für Sozialarbeiter*innen eine der wenigen Möglichkeiten, die eigene beruflich Situation zu verbessern und soziales Ansehen zu gewinnen. Neben den Bedürfnissen, sich beruflich zu verändern, weiterzuentwickeln oder das eigene Einkommen zu erhöhen, nennen viele Interviewpartner*innen Aufstiegsoder Karrieregründe, die sie in eine Supervisionsausbildung führten:16 »Ich wollte«, so begründet die Krankenschwester, Sozialarbeiterin und 16 Ein nicht unerheblicher Grund, eine Supervisionsausbildung zu machen, war für viele Interviewpartner*innen zudem, dass diese oftmals vom eigenen Arbeitgeber mindestens teilfinanziert wurde – häufig wurden auch die gesamten Ausbildungskosten übernommen: »Das war«, so erzählt es der Supervisor Gerd E., »einfach geschenkt, wenn ich jetzt bei den Kollegen sehe, was die für ihre Ausbildung bezahlen.«

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Supervisorin Frau B. ihre Entscheidung, »einen Beruf haben, der mich ernährt, der mich selbstständig sein lässt, der mich aufsteigen und unabhängig sein lässt.« Ein regelmäßig auftauchendes Motiv, Supervisor*in zu werden, war zudem ein negatives Bild von Sozialarbeit, das in den 1970er-Jahren gesellschaftlich weit verbreitet gewesen zu sein scheint. Dieses negative (Fremd-)Bild der eigenen beruflichen Identität durch eine Ausbildung in Supervision abzuschütteln, und so die gesellschaftliche Anerkennung der eigenen beruflichen Tätigkeit zu erhöhen, zählt zu den häufig genannten Gründen für eine Supervisionsausbildung. Hinweisen lässt sich diesbezüglich exemplarisch auf das Interview mit dem Sozialarbeiter und Supervisor Horst N. Er erzählt von den Beweggründen, aus seiner Tätigkeit in einem Jugendamt heraus eine Supervisionsausbildung zu machen: »Also die Familienfürsorge war von vornherein – auf Deutsch gesagt – dilettantisch. Das war eine Arbeit, das hätte auch ein Nicht-Sozialarbeiter machen können. Also wir haben ja damals noch die höhere Fachschule gehabt und die Fachhochschule kam erst 71, glaube ich. Und ich habe gedacht, dafür die höhere Fachschule […], das hättest du doch gar nicht gebraucht, also das ist zu popelig. Ja, ich weiß nicht, mag arrogant klingen, aber es war so. […] Da war also schon […] der speziellere Wunsch, intensiver in beratende Tätigkeiten einzusteigen. Familienfürsorge war mehr so eine überprüfende Tätigkeit. Da wurden Familienverhältnisse überprüft, hat er eine ordentliche Wohnung und sind die Kinder ordentlich angezogen. […] Also ich wollte schon eine anspruchsvollere Sozialarbeit leisten. Das war so ein ganz persönliches Ding, weil mein schulisches Vorleben, das war so nicht so glatt, mit einem Abbruch versehen. Aber ich merkte, irgendwie will ich da was aufholen, was nachholen. Hatte natürlich auch mit Status zu tun gehabt. Mir tat zum Beispiel die Frage weh, wenn jemand aus dem Bekanntenkreis fragte: ›Na, was macht denn die Sozialwerkelei?‹ Ah, das, ja, tat weh. Ist jetzt ein bisschen pathetisch, aber ich merkte, das saß. Das wollte ich so nicht. Es hat mit Status zu tun gehabt, mit Qualifizierung zu tun gehabt.«

Auch der Sozialarbeiter und Supervisor Andreas C. erzählt davon, dass »Karrieregründe« seine Entscheidung befördert haben, Supervisor zu werden. Die Entscheidung zu einer Supervisionsausbildung »war erstmal weit weg. Ich habe mich wohlgefühlt, da bei der katholischen Kirche zu arbeiten, auch in dem Team hab ich mich sehr wohlgefühlt. Und es war eigentlich diese Kollegin, die dann irgendwann sagte: ›Mensch Andreas, wär das [Supervision, JL] nicht auch was für dich? Willst du dein Leben lang in diesem Büro hier versauern und noch mit 65 Jugendarbeit machen? Sie hat nicht gesagt ›Bist du nicht zu Höherem berufen?‹, aber ich habe es so verstan-

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 55 den. Und das hat mich dann angesprochen und auch gereizt, mich mehr damit zu beschäftigen: Was das ist und wo man das machen kann und mit welchen Abschlüssen sowas verbunden ist und ob man darüber Karriere machen kann. Vielleicht muss ich noch dazu sagen – das ist dann weniger berufsbiografisch, sondern mehr lebensbiografisch –, dass ich aus einem Elternhaus komme, wo Karriere immer eine Rolle gespielt hat. Meine Eltern waren damals sehr ernüchtert und frustriert, als ich sagte, ich will Sozialarbeit studieren, weil ich schon angefangen hatte, in einer Bank eine Karriere zu machen. Mein Vater ist auch Banker gewesen, mein Onkel auch, also beide Direktoren, und meine Karriere war sozusagen vorprogrammiert. Und also, ich will nicht ausschließen, dass ich da von hinten durch die Brust ins Auge dann auch versucht habe, ihnen noch gerecht zu werden im Sinne von: Dann mache ich nochmal über ein Hochschuldiplom Karriere. Aber es hatte nie später dann in meinem Alltag eine Auswirkung gehabt, sondern da hab ich mich wirklich frei gefühlt, sowohl in der Entscheidung, dieses [Supervisions-, JL] Studium zu machen, als auch dann zu versuchen, durch eine Freiberuflichkeit eine Karriere zu starten, zu etablieren.«

In einem dritten Beispiel verdeutlicht die Supervisorin Undine J., dass für sie neben Statusgründen (Uni-Abschluss), vor allem gute und sichere Verdienstmöglichkeiten den Ausschlag für eine Supervisionsausbildung gaben. Deutlich wird auch, dass sie ihre Laufbahn als Supervisorin strategisch plante. Sie informierte sich und stellte fest, dass es in ihrer Stadt bislang keine Supervisor*innen gab und daher die mit einer eigenen Praxis verbundenen Erfolgsaussichten sehr gut sind: »Und da hat sich ja dann schon so rausgebildet, dass zu einer guten Sozialarbeit, Supervision dazugehört. Also hier [am Heimatort; JL] gab es […] das noch nicht. Und es kam aber immer mehr so die Debatte auf: Mein Gott, das mit der Supervision, das muss man doch mal mehr ins Auge fassen und das ist doch wichtig für die Sozialarbeit. Und, wie gesagt, bis dahin gab es das in [meiner Heimatstadt; JL] gar nicht. Und dann kam ich irgendwie drauf, mich damit mehr zu beschäftigen, und habe mich da einfach ein bisschen schlau gemacht. Das kam wirklich aus dieser … Ja, weil da nichts war hier, es war nichts da. […] Und dann habe ich einfach mich so ein bisschen umgehorcht und gemerkt, dass das, was ich zur Verfügung hatte, dass sich das ganz gut ergänzen würde und dass vor allen Dingen auch eine Freiberuflichkeit möglich ist. Und interessiert hat mich schon auch, dass es Geld bringt, also dass es irgendwie auch bezahlt wird. Je nachdem in welchen Bereich man dann geht, dass es eben durchaus eine gute Verdienstquelle ist. Und dann habe ich Kontakt aufgenommen und gemerkt, es gibt Institute, habe gemerkt, es gibt aber auch ein Studium. Und was ich von den Instituten mitbekommen habe, das fand ich aber … Wie fand ich das denn eigentlich? Irgendwie hatte ich da eine innere Ablehnung dagegen. Und es hat mich wahnsinnig gereizt, doch noch mal ein richtiges Studium [in Supervision, JL] zu machen.«

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Angemerkt werden soll in diesem Zusammenhang, dass alle interviewten Wissensbevollmächtigten der Supervision, die in den 1960er und 1970er-Jahren die ersten grundständigen Supervisor*innen in der Bundesrepublik ausgebildet haben, davon erzählen, dass sie selbst keine ausgebildeten Supervisoren waren – dies war schlicht nicht möglich. Als Grundqualifikation brachten sie vor allem gruppendynamische Erfahrungen und Fortbildungen, eigene Erfahrungen mit Supervision in ihrem beruflichen Herkunftsfeld sowie qualifizierende Weiterbildungen für Sozialarbeiter*innen mit. Der Schritt in eine Ausbildungstätigkeit hinein erfolgte in den allermeisten Fällen über persönliche Beziehungen, in denen ihnen die Rolle als Dozent*in oder Ausbildungsleiter*innen zugetragen wurde. Von demokratischen Auswahlverfahren wird in den Interviews nicht gesprochen, was – wenn dies zutrifft – den Partizipations- und Demokratisierungsbestrebungen der 1960er und 1970er-Jahre zuwiderläuft. So erzählt Rolf U., der viele Jahre Supervisionsausbildungen selbst durchgeführt hat, Folgendes: »Also ich gehöre ja so noch mit zu der Generation, die dann irgendwann die Supervisionsausbildung betrieb, ohne selbst eine Supervisorenausbildung zu haben, und meistens einen anderen Hintergrund«. Rolf U. hatte in einer größeren Fortbildungsinstitution eine leitende Funktion und ist »eigentlich reingerutscht« in die Ausbildung von Supervisor*innen, obwohl er in seiner Selbstwahrnehmung nur eine Teilqualifikation dafür mitbrachte (Gruppendynamik, psychoanalytische Selbsterfahrung und Kenntnisse): »Ich weiß, wir hatten wir eine Klausurtagung irgendwo im Odenwald, und dann sind wir beide spazieren gegangen. Und dann sagte sie, [die Ausbildungsleiterin, JL]: ›Also der [andere Ausbildungsleiter, JL], der hört auf und du machst das jetzt!‹ Dann sagte ich: ›Wie? Ist doch gar nicht mein …‹ ›Doch, das machst du und du bringst so die Voraussetzung mit, dass wir das schaffen.‹ Na ja, und dann habe ich Madame geglaubt und habe das auch gemacht so.«

Auch Nadine B. erzählt, dass sie als Psychologin und gruppendynamische Trainerin den Leiter einer Supervisionsausbildung in anderen Fortbildungszusammenhängen kennenlernte. Der »hat mich dann eingeladen zu Trainings, die sie während der Supervisionsausbildung gemacht haben. Und dann habe ich dort [das Ausbildungskonzept] kennengelernt […]. Und habe da mitgearbeitet als Trainerin und dann als Lehrsupervisorin.«

Supervision als Ausbildungsmöglichkeit war in den 1970er-Jahren eine Möglichkeit für Sozialarbeiter*innen, ihrer (Fort-)Bildungsabhängigkeit

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in individualisierten Gesellschaften zu begegnen. Als Beratungspraxis greift sie den Orientierungs- und Autoritätsverlust, das Bedürfnis nach Orientierung und Zugehörigkeit ebenso auf, wie den Wunsch nach sinnstiftenden Erfahrungen und Beziehungen, die mit der Freisetzung aus traditionalen Lebenslagen und der erhöhten Mobilität einhergehen. So werden durch Individualisierungsprozesse Menschen zwar aus (traditionalen) sozialen Lagen freigesetzt, sind damit aber nicht emanzipiert, sondern werden als Einzelne »arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig« (Beck, 1986, S. 119). Einerseits werden so – gerade im Zuge der Bildungsreformen der 1960er und 1970er-Jahre – Bildungsaufstiege ermöglicht, andererseits entsteht ein auf den Einzelnen lastender gesellschaftlicher Druck zu fortwährender Qualifizierung und Weiterbildung, was einen großen Fortbildungsmarkt entstehen lässt, auf dem sich auch die Supervision positionieren kann. Über ihre »Freisetzungsdimension« hinaus geht mit der Individualisierung ein individuell spürbarer Verlust an traditionellen Gemeinschaftserfahrungen, an Orientierungen und an Autoritäten einher, der im Rahmen von Bildungsprozessen bearbeitet wird. Diese »Verunsicherungsdimension« der Individualisierung verschärft die Anforderung, die eigene (Berufs-)Biografie und das eigene Leben selbstverantwortlich zu planen, zu organisieren und zu führen. Hinzu kommt, dass nicht nur die Chancen (Bildungsaufstieg, Karrieremöglichkeiten, Anerkennung und Status etc.), sondern auch die Risiken und Krisen, die die Individualisierung mit sich bringt, den Einzelnen zugeschrieben werden (Beck, 1986, S. 117). Scheitern an den Bedingungen der individualisierten Gesellschaft wird als persönliches Versagen verhandelt: »Massen-Arbeitslosigkeit«, so fasst Treibel (1995, S. 236) dieses Phänomen zusammen, »führt nicht zu Massen-Protest, sondern zu tausenden von unglücklichen Einzelschicksalen. Diese werden nicht im Kollektiv bewältigt – weder emotional, noch in Form politischer Handlungen.« Durch »die Individualisierung von Risiken […] wird die Ideologie der Leistungsgesellschaft ins Unermessliche gesteigert«, auf die ich in Abschnitt 2.5 näher eingehe. Festhalten lässt sich, dass die Individualisierung von Lebenslagen Verhältnisse produziert, die viele Menschen in »das Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung« führen (Beck, 1986, S. 157). Gerade weil traditionelle Bindungen und daran geknüpfte Gemeinschaftserfahrungen, Sicherheiten, Orientierungen und Autoritäten verloren gehen und neue nicht automatisch gefunden werden, wächst das Bedürfnis nach Orientierung, nach Zugehörigkeit und nach sinnstiftenden Erfahrungen und Beziehungen. Viele Menschen nehmen daher in dieser Zeit verstärkt Beratung oder Therapie in Anspruch (»Psycho-Boom«). Die vielfältigen therapeutischen und beraterischen, aber auch die esoterisch anmutenden

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Selbsterfahrungsangebote der 1970er und 1980er-Jahre (Goldner, 1997) treten »in die Lücken […], die zerfallende traditionelle Institutionen und Bindungen […] hinterlassen haben« (Belardi, 1992, S. 95). Vor diesem Hintergrund entsteht nicht nur ein großer Beratungsbedarf, sondern auch ein großes Beratungsangebot. Auf diesem Beratungsmarkt kann sich die Supervision mit ihrer spezifischen professionellen Kompetenz, Arbeitsbeziehungen zu reflektieren, als Fortbildungs- und als Beratungsangebot positionieren. Sie greift dabei (implizit) auch den Orientierungsund Sinnbedarf vieler Menschen auf, der mit den Verunsicherungen der Individualisierung einhergeht. Dies gilt gerade für jene Supervisionsansätze, die die »Innerlichkeit« und das »beziehungsdynamische Substrat« arbeitsweltlicher Prozesse fokussieren (Gaertner, 1999, S. 99). Genau besehen, gründete der mit der Individualisierung einher­ gehende Orientierungs-, Autoritäts- und Zugehörigkeitsverlust immer auch in der Veränderung intergenerationeller Beziehungen zwischen Eltern und ihren (adoleszenten) Kindern. Der gesellschaftliche Individualisierungsschub löste die Menschen, wie bereits beschrieben, aus traditionellen sozialen Bindungen, was die Generationenverhältnisse verändert (King, 2002, S. 83). Die Individualisierung lässt einen Riss zwischen den Generationen entstehen, denn die jüngere Generation löst sich im Zuge ihrer Bildungsverläufe nicht nur von der älteren ab, sondern löst gleichermaßen die ältere Generation als Kulturträger ab und stellt deren (traditionelle) Werte, Normen, Deutungs- und Orientierungsmuster, aber eben auch ihre Formen der Biografie und Lebensführung infrage (King, 2002, S. 49 f.). Dementsprechend notiert Pierre Bourdieu (1997b/2000, S. 651): »In ausdifferenzierten Gesellschaften stellt sich die für jede Gesellschaft fundamentale Frage der Erbfolge, also des Umgangs mit den Eltern-Kind-Beziehungen, oder, genauer gesagt, die Frage der Sicherung des Fortbestandes der Abstammungslinie und ihres Erbes im weitesten Sinne, sicherlich auf eine ganz besondere Weise. Erstens: Das zentrale Element des väterlichen Erbes17 besteht zweifellos darin, den Vater, also denjenigen, der in unseren Gesellschaften die Abstammungslinie verkörpert, fortleben zu lassen, also eine Art ›Tendenz‹, ein Fortdauern zu sichern, seine gesellschaftliche Position zu perpetuieren. In vielen Fällen muss man sich hierfür vom Vater unterscheiden, ihn übertreffen und in gewissem Sinne negieren. Dies geht nicht ohne Probleme vonstatten, und zwar einerseits für den Vater, der dieses mörderische Übertroffenwerden durch seinen Nachkommen gleichzeitig wünscht und fürchtet, und andererseits für den Sohn […], der sich mit einer Mission beauftragt sieht, die ihn zu zerreißen droht und die als eine Art Transgression erlebt werden kann. Zweitens: Die Weitergabe des Erbes ist heute in allen gesellschaftlichen 17 Über Mütter spricht Bourdien nicht.

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 59 Kategorien (wenn auch nicht in gleichem Maße) vom Urteil der Bildungsinstitutionen abhängig, das wie ein brutales und machtvolles Realitätsprinzip funktioniert, welches aufgrund der Intensivierung der Konkurrenz für viele Misserfolge und Enttäuschungen verantwortlich ist.«

In individualisierten Gesellschaften wird die soziale Position nicht mehr durch Geburt und nicht mehr automatisch von den Eltern an ihre Kinder tradiert. Notwendig ist eine Auseinandersetzung der Kinder mit dem sozialen Erbe der Eltern: Die soziale und bildungs­mäßige ­Ähnlichkeit mit und die Unterscheidung von den Eltern werden ebenso wie die Biografieplanungen durch die Kinder und ihre Formen der Lebensführung in der Beziehung zu den Eltern verhandelt. So verweist Bourdieu (1997b/2000, S. 655) darauf, dass gerade im Fall eines Bildungs­ aufstiegs – etwa durch ein Studium oder eben eine Ausbildung in Supervision – Konflikte auftreten, die die Angehörigen der jüngeren Generation besonderen Belastungen aussetzt. Alle Supervisor*innen des Alltags, die im Interview ihre Herkunftsfamilie thematisieren, haben durch ihren Bildungsweg und nicht zuletzt die Supervisionsausbildung das soziale Milieu ihrer Eltern verlassen und sich sozialstrukturell an einen neuen Ort begeben. Dies hat zu – mitunter schweren – Konflikten und zu Brüchen in der Beziehung zu ihren Eltern geführt, die die Verunsicherung und die Erfahrung von Fremdheit zu Beginn der Ausbildung erhöhte. Diese Konflikte und die Krisen werden in den Interviews herausgestellt. So erzählt der Supervisor Gerd E. Folgendes: »Also ich komme über den zweiten Bildungsweg. Habe Schlosser gelernt. Meine Eltern sind Heimatvertriebene gewesen, die haben sich ein Haus gebaut und konnten das nicht finanzieren. Haben gesagt, du kannst kein Abi machen und musst einen Beruf lernen. Habe ich gemacht. Dann bin ich über den zweiten Bildungsweg, Abendgymnasium, gegangen. Habe Sozialpädagogik studiert. Und habe als Sozialpädagoge in der Psychiatrie gearbeitet, und zwar in der offenen Psychiatrie.«

Die Eltern, so erzählt es Herr E., haben zunächst verhindert, dass er Abitur macht und studiert. Dies führte dazu, dass »immer wieder die Biografie gebrochen [wurde] und wieder neu zurechtgerüttelt werden [musste]«. An einer anderen Stelle im Interview heißt es: »Weil es viele Krisen mit ihnen [den Eltern; JL] gab und, und, und. Und ich bin auch aus ihrer sozialen Schicht rausgegangen gewesen, das war noch mal so ein Problem. Also sie sind weiter Handwerker geblieben mit einem relativ engen Horizont, ich habe meinen Horizont ständig erweitert und wir haben uns dann auch nicht mehr gut verstanden«.

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Auch die 1943 geborene Supervisorin Andrea S. erzählt davon, dass die Beziehung zu ihren Eltern durch ihren Bildungsaufstieg enorm belastet war, was letztlich zu einem Kontaktabbruch geführt hat: »Auf jeden Fall habe ich überlegt, was ich mache. Und ich habe gemerkt, dass die Arbeit direkt mit Menschen, dass das für mich das Richtige ist […]. Und dann habe ich, weil ich hatte ja ursprünglich eine hauswirtschaftliche Ausbildung, die ich eigentlich nur gemacht habe, weil ich vom Bauernhof kam. Und damals hieß es halt: ›Nee, nicht zum Gymnasium und so.‹ Und der Lehrer kam, aber das hat alles nichts genützt. Und dann habe ich also praktisch alleine da gestanden. Ich habe dann überall rumgeguckt, was ich machen könnte. Und [die Ausbildungsinstitution; JL] hat ja angeboten einen sozialwissenschaftlichen Grundkurs, das war so etwas, wie die Sozialarbeit nachholen. Und wenn man den sozialwissenschaftlichen Grundkurs, zweieinhalb Jahre, wenn man den erfolgreich bestanden hatte, dann konnte man eine Aufbauausbildung machen, eine Beratung für einzelne Gruppen. Das habe ich dann gemacht, zweieinhalb Jahre. Und habe dann halt auch die Supervisorenausbildung gemacht. Mit meinen Eltern hatte ich dann wenig Kontakt, ich habe das alleine gemacht.«

Bemerkenswert ist nun, dass die Wissensbevollmächtigten der Supervision, die über ihre Herkunftsfamilie sprechen, dies in einer grundlegend anderen Weise tun: Sie erzählen durchweg (!) nicht von Brüchen in der Beziehung zu ihren Eltern, sondern stellen narrativ eine familiäre Verbindung mit ihnen in den Vordergrund. Geradezu paradigmatisch spricht der 1947 geborene Supervisor Detlev I. im Interview in dieser Hinsicht von »einer mächtigen Familientradition, aus der ich hervorgegangen bin«. Die Wissensbevollmächtigten stellen jedoch nicht einfach »sich selbst«, sondern ihre soziale Position (als Wissensbevollmächtigte) in eine ungebrochene generationelle Kontinuität mit der sozialen Position ihrer Eltern. So erzählt Adrian B., der sich für die Professionalisierung der Supervision engagiert hat und von seinen einflussreichen sozialen Rollen her auch engagieren konnte, seine Familiengeschichte als Abfolge von »Machtrollen«, in die sich seine Position als Wissensbevollmächtigter der Supervision einfügt: »Wenn ich meine Lebensgeschichte angucke, dann spielen von Anfang an Machtrollen eine Bedeutung. Ausgehend davon, dass mein Großvater in meinem Dorf Bürgermeister war und ich den sehr verehrte, dann kam ich in die Schule, war Klassensprecher, Schulsprecher, dann kam ich in den Fachbereichsrat und es gab immer Ämter, die mit Macht besetzt waren, ja, bis hin eben [zur Funktion in einer Institution der Supervision; JL] Jahre lang […]. Naja aber ist doch klar, wenn der Großvater Bürgermeister war, dann der Vater […] das setzt sich dann so fort.«

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Falsch wäre es nun, diese familiengeschichtlichen »Tatsachenwahrheiten« vorrangig als Begründung für das Erreichen der sozialen Position des Wissensbevollmächtigten anzusehen. Deutlich wird vielmehr, dass das Erzählen – sprich: das Gestalten – der eigenen Geschichte der Supervision im Interview von der gegenwärtigen, das heißt, der lebensgeschichtlich erreichten sozialen Position des Wissensbevollmächtigten ausgeht. 2.3.3 In Ausbildung. Supervisionsausbildungen der 1970er-Jahre als Thema der Interviews Die durch die Individualisierung und die erhöhte soziale Mobilität entstehenden Verunsicherungen und (intergenerationalen) Konflikte werden oftmals in die psychosozialen Prozesse und Beziehungen in den Ausbildungseinrichtungen hinein und an die Supervision als berufliche Praxis herangetragen. Viele Teilnehmer*innen suchten hier neue Formen der Orientierung und der Zugehörigkeit, nach sinnstiftenden Erfahrungen und Beziehungen sowie nach Autoritäten, mit denen sich die eigenen Konflikte und Unsicherheiten kompensieren oder bearbeiten ließen. Im Kontext der Individualisierung von Lebenslagen entwickeln sich ab Mitte der 1960er und in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre eigenständige Supervisionsausbildungen – etwa im Deutschen Verein für öffent­liche und private Fürsorge in Frankfurt, der Katholischen Akademie für Jugendfragen in Münster oder der Akademie Remscheid; in den 1970er-Jahren entwickeln sich zudem Weiterbildungsstudiengänge mit einem Fokus auf Supervision auch an Fachhochschulen und Universitäten – bekannt ist vor allem der Studiengang an der Gesamthochschule Kassel. Die Veränderung der Aus- und Fortbildungslandschaft läutet drei Entwicklungen der Supervision ein: Erstens emanzipiert sich die Supervision von der Sozialarbeit. Sie entwickelt sich von der Sozialarbeiter-Supervision im Rahmen von case- und groupwork zu einer eigenständigen unabhängigen Beratungsform: Aus der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen heraus entwickelt sich Supervision in die Felder der therapeutischen und pädagogischen Berufe hinein, wo sie sich als Methode der Reflexion professionellen Handelns etabliert. Zweitens übernimmt sie unterschiedliche theoretische und methodische Einflüsse aus anderen Disziplinen. Bezug genommen wird vor allem auf Erkenntnisse der aus Amerika stammenden Gruppendynamik, aber auch auf Kommunikationstheorien, organisationssoziologische Ansätze und nicht zuletzt auf die in dieser Zeit entstehenden neuen Therapie- und Selbsterfahrungsformen (»Psycho-Boom«; Goldner, 1997). Drittens differenzieren sich verschiedene Supervisionssettings aus, wie die Fallarbeit, die Einzel-, Gruppen- oder Teamsupervision. Letz-

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tere stellt den entscheidenden Schritt der Zuwendung der Supervision zu Organisationen dar: zu ihren Dynamiken und Hierarchien – vor allem aber zu den Themen »Leitung« und »Führung« von und in Organisationen. 2.3.3.1  Der metaphorische Ort der Ausbildung Bemerkenswert an den Interviews ist nun, dass sämtliche Supervisor*innen ihre Ausbildung in dem ersten Teil des Interviews (Stehgreiferzählung, siehe Abschnitt 1.4) in nur einem oder wenigen Sätzen abhandeln. Ein typisches Beispiel dafür ist das Interview mit Sandra L., die ihre Ausbildung zunächst folgendermaßen erwähnt: »Und habe dann eine Ausbildung gemacht als Supervisorin, die ging über zwei Jahre. Und habe danach versucht, Fuß zu fassen als Supervisorin, parallel dazu aber auch immer Seminare durchgeführt.« Mehr sagt sie im ersten Teil des Interviews nicht über ihre Ausbildung. Ähnlich berichtet auch Berta M. zunächst nur in einem Satz von ihrer Ausbildung: »Also ich habe die [Ausbildung] da gemacht mit meinen Kollegen und Kolleginnen natürlich aus den Abteilungen hier in [dem Bundesland; JL], aber auch aus anderen Dienststellen. Die hat zwei Jahre gedauert.« Erst im immanenten Nachfrageteil erzählen die Interviewpartner*innen mehr aus dieser Zeit ihres Lebens, wobei zunächst zwei charakteristische Formen unterschieden werden können: Erstens finden sich sachliche Berichte über die Dauer, die Inhalte oder die Module der Ausbildung. Zweitens erinnern viele Interviewpartner*innen vor allem emotionale Erfahrungen mit und Beziehungen zu den anderen Teilnehmenden sowie zu den Dozierenden, die mit deren Autorität und Macht, mit Feedback und Reflexivität im Rahmen von gruppendynamischen Settings zu tun haben. Die mit der Ausbildung verbundenen Erfahrungen beschreiben viele Supervisor*innen als intensiv, fremd- und neuartig, häufig aber auch als unangenehm, ängstigend und beschämend (siehe im Folgenden). Die Erfahrung, in der Supervisionsausbildung etwas Neues und bis dato Fremdes zu finden, schlägt sich interviewübergreifend in Sprachbildern nieder, die einen Ortswechsel betonen. So spricht etwa Gudrun D. von der Supervision als einem »neuen Kontinent«: »Dann machte ich die Ausbildung, und ich muss sagen, ich entdeckte also einen neuen Kontinent. Und es gibt ein Leben vor der Supervision und seit der Supervision.« Auch Cornelia C. beschreibt den Beginn der Ausbildung und die damit einhergehenden psychischen Dynamiken metaphorisch als einen Ortswechsel: »Und das fand ich damals also so aufregend und intensiv für mich, ich hatte das Gefühl, weit weg von zu Hause zu sein. Auf einem ganz anderen Stern. Das fand ich also schon ein Phänomen.«

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Diese Erfahrung war für sie im positiven Sinn neu und gleichzeitig fremd bzw. ganz anders als das, was sie »von zu Hause« kannte. Auf Nachfrage erläutert sie, was sie damit meint: »Cornelia C.:  Also das habe ich zu meinem Erstaunen damals so registriert, also wie das möglich sein kann, also aus dem eigenen familiären Bezug in einem ganz anderen Ort mit anderen Menschen so intensiv zusammenzukommen. Jan Lohl:  Wie sonst nur in der Familie? Cornelia C.:  Oder Freundeskreis. Nicht? Wir kannten uns ja erst mal alle gar nicht. […] Also alles was Familie war, vertraute Umgebung, es galt in dem Moment nicht mehr. Es war weg. Es war nicht mehr Wirklichkeit, also ganz merkwürdig.«

Das Neue am Ort der Ausbildung waren intensive Beziehungen zu anderen Ausbildungsteilnehmenden und zu den Dozierenden. Diese Beziehungen werden von der Intensität her häufig mit familiären Beziehungen verglichen, aber gleichzeitig durch das Fehlen von (familiärer) Vertrautheit und durch Fremdartigkeit charakterisiert. Die Metaphorik des Ortswechsels symbolisiert die Erfahrung einer Lockerung der Bindung an Vertrautes. Es ist naheliegend, darüber nachzudenken, dass dies mit den intergenerationalen Konflikten oder der bereits beschriebenen sozialen Mobilität und entsprechenden sozialstrukturellen Fremdheitserfahrungen verknüpft sein könnte: Am »Ort der Ausbildung« trafen sich Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen, aus verschiedenen Schichten und Milieus, aus anderen kulturellen Kontexten, mit differenten konfessionellen Ansichten und politischen Haltungen – und dies zudem in einem Raum, der durch eine ebenfalls unvertraute psycho- und gruppendynamische Kultur geprägt war. Vermutlich mobilisierte das für den Ausbildungskontext beschriebene Fremdheitsgefühl nachträglich die bereits thematisierten psychosozialen Effekte der Individualisierung und damit ein Bedürfnis nach sicheren und emotional tragfähigen Beziehungen und Zugehörigkeiten, für die die Familie und familiäre Bindungen als Vorbild standen –, gerade weil sich diese Bindungen in ihrer Bedeutung gesellschaftlich grundlegend wandelten. Bemerkenswert ist weiterführend, dass auch die ehemaligen Dozierenden zwar nicht durchgängig, aber wiederholt, eine Metaphorik des Ortes verwenden, wenn sie von den Supervisionsausbildungen der 1970er-Jahre sprechen. Hierbei handelt es sich allerdings um solche Sprachbilder, die die Ausbildungsinstitution zur »sicheren Burg« oder zum »distinguierten Hof« machen und die Dozierenden als »Fürsten« oder »Burgherren« aufscheinen lassen. Diese Sprachbilder verwenden

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die ehemaligen Dozierenden dann, wenn sie szenisch konkret aus den Super­visionsausbildungen der 1970er-Jahre erzählen: Diese Sprachbilder werden nicht heute erfunden, um die Situation damals zu beschreiben. Sie wurden während der laufenden Ausbildung verwendet, um den Ausbildungsteilnehmer*innen mitzuteilen, an was für einem Ort sie sich befinden. Der Supervisor und langjährige Ausbildungsleiter Walter Z. erzählt: »Walter Z.:  Ich hatte damals angefangen, zu schreiben, die hatten auch was von mir veröffentlicht. Und dann bin ich [zu dem Ausbildungsort; JL] gefahren, und ich habe Spaß daran gehabt, mit den Leuten zu arbeiten, einfach erst mal Kontakt zu kriegen. Die luden mich dann auch ein, mich an irgendwelchen Seminaren zu beteiligen. Das habe ich auch gemacht. Da habe ich dann auch den [Dozenten; JL] wiedergetroffen und [Dozent 2, JL], mit dem ich heute noch zusammenarbeite, aber auch andere Leute, die einen Namen in der Supervision schon hatten. Die hatten so eine Burgmentalität. Jan Lohl:  Was für eine Mentalität? Walter Z.:  Burgmentalität. Ich sehe immer noch [den Dozenten 3, JL] zu Beginn einer Ausbildung vorne sitzen. […] Na jedenfalls [der; JL] fühlte sich sozusagen als Burgherr und begann dann so eine Ausbildung und sagte ›Sie sind auf einer Burg gelandet, das ist die [Ausbildungseinrichtung].‹ Und das war sozusagen Identitätsfindungseffekt auch. Also man gehörte zu etwas, es gab eine Gemeinschaft, eine ideologische Gemeinschaft auch.«

Auch Alexander C. erzählt von seiner Rolle als Dozent und verwendet dieselbe Metaphorik des Adels: »[…] hat er [ein zweiter Ausbildungsleiter; JL] gesagt: ›das macht der fränkische Barockfürst‹. Er hat mich ja immer nicht als Linken ernst genommen, sondern: ›Du bist eigentlich ein fränkischer Barockfürst.‹ Ja, also das war jetzt so ganz privat eine Geschichte, aber das blieb sehr dezent bei ihm. Aber jeder wusste es, also das wurde ja bekannt, ja.« Auch die Ausbildungsteilnehmer*innen selbst greifen in den Interviews diese Szenen auf, etwa wenn die Supervisorin Berta M. erzählt, dass ihre Ausbilder*innen zu Beginn der Ausbildung sagten, »wir sollten mal froh sein, bei Hofe angelangt zu sein«. Es liegt nahe, die Metaphoriken des Ortes (der fremde Ort neuer Erfahrung vs. besonderer Ort der Höherstehenden) als Ausdruck einer Szene zu begreifen: Benevolent interpretiert, beschreiben die Ausbilder*innen Orte, an denen die Ausbildungsteilnehmer*innen sich wie auf einer Burg sicher fühlen können, wo ihre Ängste, Fremdheitsgefühle und Verunsicherungen gut gehalten waren und sie selbst an etwas Besserem und Edlerem partizipieren. Gleichermaßen freilich drücken die Sprachbilder ein Machtverhältnis aus: Die »Fürsten« und »Burgherren« der Ausbil-

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dungseinrichtung inszenieren sich sprachlich als mächtige Autoritätsfiguren, die Macht über diejenigen ausüben können, die auf ihrer »Burg« und an ihrem »Hofe« angelangt sind. Tatsächlich ist das Verhältnis zu Autorität und Macht ein zentrales Thema der Supervisionsausbildungen in den 1970er-Jahren gewesen. Die Ausbildungen waren psychosoziale Räume, in denen Macht und Autorität in der Beziehung zu den Dozierenden verhandelt, aber von diesen auch missbraucht wurden. Dies mündete in unangenehme, schmerzhafte und beschämende Erfahrungen der Teilnehmer*innen, die mit der Gruppendynamik (2.3.3.2), sexuellen Grenzverletzungen (2.3.3.3) und der psycho­ sozialen Behandlung des Themas Autorität (2.3.3.4) verbunden sind. 2.3.3.2 Gruppendynamik Die Methode der Gruppendynamik war in den 1970er-Jahren weit verbreitet und markierte damals ein wesentliches Element von Super­ visionsausbildungen. Gruppendynamisches Erfahrungslernen gilt vielen Interviewpartnerinnen*innen als »total ganz schrecklich« (Susanne B.), als »furchtbar« (Gerd E.), als »schon sehr fremd« und »dann auch teilweise bedrohlich« (Heinrich T.). Unter diesem Begriff18 werden in den Interviews Prozesse aggressiver Enthemmung in den Ausbildungsgruppen beschrieben. Berichtet wird von Situationen, in denen seitens der Dozierenden machtvoll in die Persönlichkeit und die berufliche Rolle von Teilnehmenden eingegriffen oder von ihnen nicht (genügend) auf die Einhaltung von Aggressionshemmungen durch die Teilnehmer*innen geachtet wurde. So fanden unter dem Siegel der Gruppendynamik Entwertungen, Verletzungen und Beschämungen der beruflichen Vorerfahrungen und der beruflichen Rolle und teilweise auch der Person und ihrer Vorgeschichte statt. Erkennbar wird zudem, dass in diesen Ausbildungen oftmals scheinbar offen defizitorientiert gearbeitet wurde. Diejenigen unter den ehemaligen Ausbildungsleiter*innen, die ihre damalige Rolle heute kritisch reflektieren – und das sind nicht alle –, machen ausdrücklich deutlich, dass die gruppendynamischen Prozesse damals, die heute gültigen ethischen Ausbildungskriterien und -standards verletzen. So reflektiert der langjährige Dozent Xaver F. seine 18 Hinzuweisen ist darauf, dass im Folgenden nicht beurteilt wird, ob gruppendynamische Methoden richtig oder falsch angewendet wurden, oder ob das, was die Interviewpartner*innen als Gruppendynamik bezeichnen, tatsächlich der gruppendynamischen Methode entsprach. Im Folgenden werden lediglich Interviewsequenzen geschildert, in denen der Ausdruck »Gruppendynamik« verwendet wird.

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Erfahrungen als Ausbildungsleiter und beschreibt das Grundklima der Supervisionsausbildungen in den 1970er-Jahren folgendermaßen: »Das Verrückte an dieser Gruppendynamik war, dass man das Gefühl hatte, es fallen alle Grenzen des guten Anstands, der Hemmungen. Also das ist ja auch üblich gewesen – das werden Sie gehört haben –, dass das Sexualtabu in Gruppen, das ja heute eine ganz große Rolle spielt, dass das überhaupt keine Rolle mehr spielte. Die Trainer schliefen mit Teilnehmerinnen und umgedreht. Und es gab sehr viele aggressive Eruptionen, die dazu führten, dass – ich habe es nicht erlebt, dass Leute sich schlugen, aber es war sozusagen an der Grenze – Parteien sich Mineralwasser ins Gesicht gegenseitig spuckten, das dort als Pausengetränk stand. Ja, und das es vorkam, dass Leute psychotisch absackten und plötzlich paranoide Gedanken hatten.«

Auch die Dozentin Barbara N. schildert ihre Erfahrungen mit der Gruppendynamik und vergleicht diese mit einer Jagd auf die Ausbildungsteilnehmer*innen: »Nadine B.:  Also die Gruppendynamik, würd ich sagen, das waren damals […] ganz massive Eingriffe in das Rollenverständnis von Professionellen. […] Also das waren schon ganz massive Erfahrungen. Jan Lohl:  Ja, das klingt nicht nur gut. Nadine B.:  Ne, ich würd das heute nie machen mehr. Nie. Mehr. Machen. Also das war manchmal ein bisschen mit der Brechstange wirklich. Also ich würde das heute nicht mehr machen, wirklich. Also ich denk an […] so Sachen, wo man Widerstände der Leute einfach brechen wollte. Jan Lohl:  Haben Sie ein Beispiel für mich? Nadine B.:  Ne. Ja. Also wenn man da so sagte: ›Der hat ein Autoritätskonflikt!‹, hat der gesagt ›Ich habe keinen!‹ Und dann solang gearbeitet, bis der wirklich einen hatte und dann da also zusammengebrochen ist und so. Also da gab es auch schon solche Schwächegeschichten […]. Ja, also aufgefangen wurde das ja durch die Lehrsupervision. Verstehen Sie? Also das war ja das Instrument dann, wie die Einzelnen ihre Erfahrungen aus den Gruppen jetzt am Fall und in der Arbeit umsetzen […]. Und da habe ich es mit ganz vielen Kränkungen und so zu tun gehabt in den Lehrsupervisionen und Missverständnissen. Jan Lohl:  Von den Ausbildungen? Nadine B.:  Von den Ausbildungen. Jan Lohl:  Können Sie mir davon etwas mehr erzählen? Nadine B.:  Ja. Meistens ging es um Autoritätskonflikte und ging um Entwertungen der bisherigen Arbeit. Wissen Sie, wenn ich sage, dass so Helfersyndrome sichtbar gemacht werden und die Leute haben also von sich her gesehen eine bisher erfolgreiche Berufsarbeit gehabt und dann […] ist ja das alles nichts wert, was ich bisher gemacht hab. Dann muss man bei so einem Schock […] mal auseinanderfieseln, was ist denn jetzt für die Klienten positiv da gewesen

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 67 und für sie auch und was könnte für die Zukunft jetzt was Neues sein, dass sie es anders machen und noch besser. Also die Ressourcen auch wiedergeholt. Also ich denk, dass man heute in den Ausbildungen viel stärker ressourcenorientiert arbeitet als damals. Also so die Gruppendynamiker in den Supervisionsausbildungen, die waren so ein bisschen Jäger: ›Wie kriegen wir sie?‹«

2.3.3.3 Grenzverletzungen Wie im Auszug aus dem Interview mit Herrn Z. bereits angedeutet, kam es zu sexuellen Beziehungen zwischen den Dozierenden (teilweise den Lehrsupervisor*innen) und den Teilnehmerinnen der Supervisionsausbildungen. Dies gilt heute als schwerwiegende Verletzung der ethischen Standards dieser Ausbildungen. Angesichts der geschilderten Intensität und Beziehungsförmigkeit der Ausbildung sind Wünsche nach einer solchen sexuellen Beziehung und entsprechende Handlungsimpulse jedoch grundsätzlich erwartbar – sicherlich gerade im Klima der sexuellen Liberalisierung der 1960er und 1970er-Jahre. Einzuwenden ist jedoch jenseits der Nachträglichkeit ethischer Bewertungen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Teilnehmerinnen und Ausbildern auch damals Grenzverletzungen waren. Sie stellen einen Machtmissbrauch der Ausbilderrolle dar, der heute wie damals nicht durch einen anderen historisch-moralischen Kontext gerechtfertigt werden kann. In vielen Interviews werden diese Beziehungen im Kontext der sexuellen Liberalisierung verstanden und überwiegend nicht negativ bewertet: So als ob diese Beziehungen in den 1970er-Jahren – damals – auch im Ausbildungskontext »normal« waren und dies lediglich heute anders – negativ – bewertet wird: »Das gab es überall. […] Jede Menge. […] Also das war auch eine Zeit, wo das alles viel leichter ging und wo noch nicht so ›pst pst‹« (Petra C.). In anderen Interviews hingegen werden derartige Beziehungen in einer Sprache beschrieben, die auf einen Machtmissbrauch seitens der Ausbilder gegenüber den Teilnehmerinnen hinweisen, etwa wenn Ausbildungsleiter als »Aufreißer« bezeichnet werden oder die Supervisorin Barbara W. von »Übergriffen« spricht: »Ich kann mich erinnern, es kam ein @sehr gut aussehender spanischer Trainer@19 aus B-Stadt. Und das war die Zeit, wo man sich geduzt hat. ›Nennen Sie … @Nenn mich Ramón‹@. Also wo auch Übergriffe gewesen sind, ja? Also das fing da ja schon, … Also ich meine, das gab es natürlich immer, Übergriffe – auch erotische und sexuelle und so. Ja. (7 Sekunden Pause) (seufzt). Ja, das war …«. 19 Die Passagen zwischen den @-Zeichen sind @lachend@ gesprochen.

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Bemerkenswert an dieser Schilderung von Barbara W. ist der spannungsvolle Charakter. Szenisch wird ein lustvoller Charakter der sexuellen Beziehungen zu den Dozierenden deutlich, die gleichermaßen als »Übergriffe« – also als gewaltvolle grenzverletzende Akte – beschrieben werden. Ein zweites Beispiel: Die Supervisorin Manuela B. schildert, dass sie eine »private Beziehung« zu ihrem Lehrsupervisor hatte, den sie als »Geliebten« bezeichnet und der bei ihr »übernachtet« hat. Dass sie eine sexuelle Beziehung zu ihm hatte, thematisiert sie nicht explizit. Ihre Wortwahl (Geliebter, übernachtet, körperliche Anziehung etc.) legt dies jedoch nahe. Bedenkenswert ist, dass sich diese Beziehung zu einem Zeitpunkt entwickelte, als es Manuela B. psychisch schlecht ging und sie in psychotherapeutischer Behandlung war. Festzuhalten ist zudem, dass sie bislang mit niemandem über diese Beziehung gesprochen hat: »Jan Lohl:  Welche Person in der Ausbildung war denn für Sie am wichtigsten? Manuela B.:  (6) Also ich glaube, der [Lehrsupervisor]. Jan Lohl:  Und warum war der so wichtig? Manuela B.:  Das war ein sehr persönliches Verhältnis. Ich bin nachher manchmal auch noch mit Fragen zu ihm hingefahren, und da hat sich dann so was Freundschaftliches entwickelt, das war dann nicht unbedingt mehr schön. Aber persönlich, er war zum Teil auch eine Vaterfigur, aber auch ein Geliebter, und von daher. Und fachlich dann natürlich auch, also als Supervisor. Jan Lohl:  Es gab auch eine private Beziehung? Manuela B.:  Ja, so eine ganz kurze. Jan Lohl:  Und von dem Lehrsupervisor, was haben Sie denn da mitgenommen für ihre Tätigkeit als Supervisorin? Manuela B.:  Hintergründe des Verhaltens bei [Supervisand*innen]. Ich denke da an eine [Supervisandin], da sagte er: ›Ja, die hat eine Ich-Problematik.‹ Dann war mir das auf einmal ganz schnell klar, als ich deren Verhaltensweise mir gegenüber so schilderte und ich dann nicht mehr weiterkam. […] Jan Lohl:  Irgendwie beschäftigt mich das, dass es da auch eine private Beziehung gab. Mögen Sie … Manuela B.:  (unterbricht) Ja, ja, das kann schon sein. […] Aber das kann passieren. Jan Lohl:  Das passiert, ja. Manuela B.:  Ich habe das niemanden gesagt, nicht mal einer befreundeten Kollegin. Ob die das ahnte, weiß ich nicht. Es war auch, wie gesagt, eine ganz kurze Geschichte. Jan Lohl:  Mögen Sie das erzählen? Manuela B.:  Da ist eigentlich gar nicht so viel zu erzählen. Ich bin mal da gewesen, weil ich eben diese Fragen hatte, und stelle fest, … Erst mal war das Verständnis dann sehr groß, aber dann auch eine körperliche Anziehung. Und da ist er mal in [Großstadt] gewesen, aber nicht meinetwegen, er hat irgendwie

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 69 hier auch gearbeitet. Und da habe ich gesagt: ›Du kannst doch bei mir übernachten.‹ Also so. Und es gab eben viele, sage ich mal, [8 Sekunden Pause] Bedürfnisse bei mir, oder Bedürftigkeiten zu dem Zeitpunkt. Das war ja auch der Zeitpunkt einer Therapie. Ja, so, also [4 Sekunden Pause] das ist keine größere Geschichte. Aber ich vermute auch, dass das oft auftaucht. Auch wenn es nicht sein soll, aber … […] In Therapien ist das ja immer mal ein Thema. Da sind viele Artikel auch drüber geschrieben worden, egal von welcher Seite. Aber warum soll das dann bei Supervisoren nicht der Fall gewesen sein? Ich weiß es sonst aber auch nicht. Ich meine, ich weiß wohl, dass der [Lehrsupervisor] bei allen sehr beliebt war, wie das so ist. Aber ob bei anderen? Das glaube ich nicht. […] Wir haben auch nicht mehr dann zusammengearbeitet. Jan Lohl:  Das war dann vorbei? Manuela B.:  Ja. Und ich bin dann einmal noch mit einer Frage, also wirklich einer Frage, weil es mir selbst mit einem anderen Mann ganz dreckig ging, an ihn herangetreten. Und dann hat er auch geantwortet. Hat aber geschrieben, wir treffen uns nicht. Aber er hat schriftlich sich geäußert.«

Auch die Dozentin und Lehrsupervisorin Henriette W. erzählt von einem sexuellen Verhältnis zwischen einer Kursteilnehmerin und einem Lehrsupervisor, das die Teilnehmerin selbst als sexuellen Missbrauch bezeichnet. Frau W. spricht ebenfalls davon, dass sie dieses Thema im Kurs nicht besprechen konnte und entscheidet sich letztlich auch im Interview, nicht weiter über das Thema zu sprechen. Interessant ist, dass sie eine narzisstische Befriedigung auch von Frauen in sexuellen und erotischen Beziehungen zu ihren Dozienernden anspricht – wobei sie den Missbrauch davon ausnimmt: »Henriette W.:  Müssen wir nachher mal gucken, wie Sie damit umgehen. Ich habe da wirklich mal in einer Fortbildung, die ging gar nicht um sexuellen Missbrauch. Aber da ist einer Teilnehmerin einfach aufgegangen, dass sie von ihrem Lehrsupervisor missbraucht worden ist. […] Das war eine Fortbildung, weiß gar nicht zu welchem Thema das eigentlich war, hat nichts damit zu tun gehabt. Und ich hatte da ganz gestandene Kolleginnen drin. Hui und die sind da alle umgekippt. Da hat mir keiner, also die Gruppe hat wenig helfen können mit der Frau da. Das war schwierig, das war schwierig. Jan Lohl:  Das glaube ich. Henriette W.:  Ja. Also ich denke, wie weit das wirklich gründlich bearbeitet wurde? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Jan Lohl:  Gab es das öfter? Henriette W.:  Also, das mit dem Missbrauch, das hab ich einmal nur erlebt. […] Aber es war, puh … Das war schon schwierig, das war schwierig. Also, aber ich denke, dass […] das Missbrauchsthema damals noch nicht so relevant war, also auch in der Szene nicht so diskutiert wurde. Aber ich hatte schon den Eindruck nachher auch, wie ich das mehr analytisch betrachten konnte,

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dass es schon so eine narzisstische Befriedigung […] auf beiden Seiten gab. Also, dass die sich als Frauen auch ihren Teil so geholt haben und die Männer @erst Recht würd ich sagen@ durch schwärmerische Frauen, die da so waren. Was dann nicht besprochen wurde und auch dann nicht genügend aufgeklärt wurde, weil es ja angenehm war. Das würde ich so sagen, so vom Klima her war das so: ›Na na na na na, jetzt. Um was geht es denn da jetzt?‹ Jan Lohl:  Und um was geht es? Henriette W.:  Ja, da ging es um Attraktivität, dass man also, ja was erreichen will, und seine Weiblichkeit zeigen. Oder umgekehrt, also dann. Dass es auch nicht mehr um die Sache und die Person ging, sondern, ich hab mal wieder gezeigt, dass ich das kann. Jan Lohl:  Betrifft das wohl viele Ausbildungen? Henriette W.:  @Ja, natürlich gibt es da so Sachen@, aber das lasse ich mal. […] Ja doch, ich denk, dass das eine Rolle spielt. […] Also wissen Sie, ich gucke jetzt nochmal. Sie bringen mich nochmal da drauf, auf das Thema. Und dann würd ich das mit den Leuten selber nochmal bereden, als jetzt mit Ihnen. Also ich denk, da muss ich noch ein paar Gespräche führen.«

Verbunden mit den sexuellen Beziehungen, den Übergriffen oder dem Missbrauch ist eine spezifische soziale Struktur der Ausbildungsgruppen: Erstens war die Leitung vieler Ausbildungen und die Durchführung vieler Kurse vielfach von Männern geprägt: »die Ausbildung [war] männerdominiert; also die Ausbilder waren männerdominiert« (Nadine B.). Unter den Teilnehmenden der Ausbildung finden sich demgegenüber mehr Frauen als Männer (»Männer waren ja rar«, Christa P.). Festzuhalten ist zweitens, dass sich unter den Ausbilder*innen fast durchweg Männer finden, die viele Supervisorinnen ausbildeten, ohne selbst Supervisor zu sein (siehe Abschnitt 2.3.2). In den Ausbildungen der 1970er-Jahre findet sich so eine Situation, in der die überwiegend männlichen Dozierenden einen generativen Möglichkeitsraum zur Verfügung stellen mussten, in dem die Entwicklung der mehrheitlich weiblichen Teilnehmer*innen zum/zur Supervisor*in stattfinden konnte. Einen Raum, in dem Menschen das werden konnten, was die Ausbilder*innen paradoxerweise niemals sein würden: ausgebildete Supervisor*innen. Möglicherweise werden in Form der sexuellen Verhältnisse seitens der Ausbilder generative Grenzen destruktiv überschritten, um sich diesen Raum und die Entwicklungsmöglichkeiten der Auszubildenden anzueignen (King, 2002, S. 57). Warum aber geschieht diese Aneignung im Modus des Geschlechterverhältnisses? Werden die sexuellen Verhältnisse derart als (unbewusst mit Neid und Gier verbundene) destruktive Formen der generativen Bemächtigung seitens der Ausbildungsleitung und der Dozenten verstanden, lassen sie sich in einen weiteren gesellschaftlichen Kontext einordnen:

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Die Individualisierung von Lebenslagen führt dazu, dass Männer und Frauen gleichermaßen aus traditionalen Lebenslagen herausgelöst werden, dies jedoch für Frauen anders gilt als für Männer: Für Frauen ist eine Situation entstanden, die ihnen »mehr Bildung, bessere Berufschancen, weniger Hausarbeit« (Beck, 1986, S. 173) ermöglicht. Sie können sich aus der traditionellen Frauenrolle lösen, können über eine Mutterschaft und Familienexistenz hinaus berufstätig und ökonomisch selbstständig werden: Frauen können neue soziale Orte und Positionen entdecken. Für Männer bzw. die traditionelle Männerrolle gilt dies so nicht: Vaterschaft, Familie und Beruf sowie ökonomische Selbstständigkeit galten in der traditionellen Männerrolle als vereinbar, vorgegeben und als gesichert. Männer sind demnach durch die Individualisierung mit der Möglichkeit von »mehr Konkurrenz, Verzicht auf Karriere, mehr Hausarbeit« konfrontiert (Beck, 1986, S. 173). Männer erleben die mit der Individualisierung auftretenden Konflikte – von denen alle Geschlechter gleichermaßen betroffen sind – anders, ist doch gemäß dem tradierten Geschlechterstereotyp der »›Erfolg‹ des Mannes wesentlich an ökonomischen, beruflichen Erfolg gebunden« (S. 173). Genau dieser »Erfolg« kann von Männern im Zuge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses leicht als bedroht erlebt werden – gerade dann, wenn sie sich an traditionellen Geschlechterrollen orientieren. Dieses Bedrohungserleben durch gesellschaftlichen Wandel kann ein traditionelles männliches Rollenverhalten gegenüber Frauen bestärken. Die geschilderten sexuellen Verhältnisse in den Supervisionsausbildungen haben aus dieser Perspektive die psychosoziale Funktion, die männliche Macht und die männliche Autorität der Ausbilder zu sichern, die sie vermutlich durch den gesellschaftlichen Wandel und die paradoxe generative Situation als bedroht erfahren. Frauen können – das macht das Interview mit Henriette W. deutlich – möglicherweise zu dieser Situation beitragen, indem sie sich auf die Rolle von »schmeichelnden Spiegeln« verweisen lassen, »die dem Mann das vergrößerte Bild seiner selbst zurückwerfen, dem er sich angleichen soll und will« (Bourdieu, 1997a, S. 203). Die Supervisionsausbildung in den 1970er-Jahren, in denen es zu sexuellen Verhältnissen zwischen Ausbildern und Teilnehmerinnen gekommen ist, sind aus diesem Blickwinkel gesellschaftliche Orte, an denen eine männliche Macht und Autorität gesichert und eine Idealisierung und Vergrößerung der Gründungsväter der Supervision betrieben wird. Möglicherweise – und das findet sich in den Interviews nicht be­­ schrieben – haben die sexuellen Verhältnisse in den Ausbildungskursen noch eine weitere Funktion, die die männlichen Ausbildungsteilnehmer betrifft: Diese Verhältnisse regeln auch die Beziehungen unter

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Facetten der Supervisionsgeschichte

den Männern – den Dozierenden und den Teilnehmern – innerhalb der Ausbildungsgruppe und verweisen die Ausbildungsteilnehmer auf einen »niedrigen« Rang, entziehen ihnen Autorität und binden sie an einen niedrigen Status, was mit Kränkungen und Demütigungen verbunden gewesen sein könnte. Bourdieu (1997a, S. 215) spricht in diesem Zusammenhang von der »libido dominandi« des Mannes »als Wunsch, die anderen Männer zu dominieren, und sekundär, als Instrument des symbolischen Kampfes, die Frauen«. 2.3.3.4 Autorität Das Thema »Verhältnis zur Autorität« wird in vielen Interviews als ein zentraler Punkt der Ausbildung in den 1970er-Jahren beschrieben. So erzählt der Dozent Dieter K.: »Wir haben die Autoritätsfrage, die Machtfrage, die haben wir diskutiert, nach hinten und vorne und auch uns auseinandergesetzt […]. Aber wir hatten alle Lust an der Macht. Wir hatten alle Lust an der Macht, wir haben gegen die Macht gekämpft, aber waren eigentlich mit ihr verbunden.« Bevor auf den Umgang mit dem Thema Autorität in den Ausbildungen eingegangen wird, ist herauszustellen, was die Interviewpartner*innen meinen, wenn sie den Begriff »Autorität« verwenden. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass unter einem einzigen Begriff der Autorität unterschiedliche Phänomene vereinheitlicht und zusammengedacht werden: a) eigene Sozialisationsprozesse und Erziehungspraxen, b) der Nationalsozialismus und c) das Handeln von Leitungskräften. Die Protestbewegung von 1968, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Supervision werden hingegen vielfach als genuin antiautoritäre Praxen verstanden. Verschiedene Kontexte (Sozialisation, Geschichte, Politik, Arbeit, Beratung) werden über den Begriff Autorität in rasantem Tempo assoziativ verknüpft. Es wird nicht zwischen verschiedenen Formen von Autorität oder zwischen verschiedenen Kontexten, zwischen verschiedenen Rollen und Situationen differenziert. So verbindet die Supervisorin Uta E. unter dem Begriff Autorität in raschem Tempo ihre eigene autoritäre Erziehung, die Protestbewegung und ihre Arbeit als Supervisorin: »Also ich bin ja noch sehr autoritär erzogen worden. Ne? So. Wenn ich dran denke, wie wir unsere Kinder erzogen haben oder wie unsere Kinder jetzt ihre Kinder erziehen, dann gibt es da wirklich starke Unterschiede. Und ich glaube schon, dass wir damals während der Studentenbewegung diese Fesseln mit aller Kraft, die wir hatten, hinter uns gebracht haben. Und was dann eben übriggeblieben ist, also auch das Gegenüber, ist mir wichtig, erst mal egal, so

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 73 wie er ist. So. Und ich bin nicht die, die irgendwas besser weiß, also wirklich dieses Akzeptieren und Wertschätzen des Gegenübers. Und […] was ich dahinter verstehen würde, nicht autoritäres Denken, sondern eher demokratisches Denken, und nicht laissez faire, das ist es nicht, das lehne ich ab. So. Also in der Supervision heißt das, wenn ich mit einem Team offener Mitarbeiter eben erarbeite, die zu ermutigen, gegenüber ihren nächst höheren Vorgesetzten die Dinge auch zu sagen und anzusprechen, die ihnen deutlich missfallen. Und ich glaube, dass durch die Ökonomisierung oder durch die Verwirtschaftlichung auch im Non-Profit-Bereich da wieder stärker ein sehr autoritäres Vorgehen Einzug hält. Also die Geschäftsführung sagt, dafür ist kein Geld da, Schluss. Und trotzdem gibt es bestimmte Dinge, die einfach Sinn machen, ja, und das wissen die Mitarbeiter manchmal besser als die Geschäftsführungsebene. So. Also da schwingt es dann so immer wieder mit rein. Ja?«

In anderen Interviews werden Supervisoren als Diener der Autorität beschrieben, die die negativen Folgen schlechter Führung für die Mitarbeiter*innen bearbeiten und so zum reibungslosen Funktionieren eines autoritären Systems beitragen sollen. Exemplarisch sei hingewiesen auf das Interview mit Conrad R.: »Conrad R.:  Meine Schulzeit war von überwiegend faschistoiden Strukturen geprägt. Die Lehrer hatten alles zu sagen. In meiner Familie war es anders, es war liberaler, aber es war auch immer höchstes Gebot bei uns, wir sind eine christliche Familie, du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe, so lange du lebest auf Erden. Ja? Das waren also relativ autoritäre Sozialisationen. Und bis zum Auschwitz-Prozess war das in Deutschland, wurde das alles vertuscht. Der große Verdienst von dem Generalstaatsanwalt Bauer, der das gemacht hat gegen Widerstände. Und der nächste Punkt war nachher 68. Sodass sicher die Supervision, wie es auch heute manchmal noch ist, häufig auch Schmierölfunktion hatte. Ja? Jan Lohl:  Das heißt? Conrad R.:  Wenn Leiter schlecht sind, sage ich mal so pauschal, nehmen sie sich einen Supervisor und der wischt das Blut auf, was er verursacht. Ja? An den Stellen, wo es knirscht, ölt er und befriedet die Leute, und die politische Verursachung des Quietschens wird nicht bearbeitet.«

Deutlich wird, dass in den Interviews das Thema Autorität mit dem Nationalsozialismus und autoritären Sozialisationspraxen verbunden ist. Der hier verortete Autoritätsbegriff wird von vielen Interviewpartner*innen übertragen auf die Arbeitswelt und die Supervision. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verstehbar, weshalb das Thema ›Verhältnis zur Autorität‹ in den Supervisionsausbildungen der 1970er-Jahren eine große Bedeutung hatte. Zumindest latent – so scheint es – verbarg jede Form von Autorität irgendwie den Nationalsozialismus und

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seine Verbrechen. Jede Autorität schien verdächtig: »Alles war damals faschistoid: Hinter jeder Ecke lauerte der neue Faschismus, überall witterte man die Wiederkehr des Verdrängten« (Schneider, 2004, S. 243; Lohl, 2011). Es wundert daher nicht, dass in den Supervisionsausbildungen mit der Bearbeitung des Themas »Verhältnis zur Autorität« teilweise aggressive Lernszenen einhergingen. Exemplarisch sei auf das Interview mit dem Supervisor Albert V. hingewiesen, der eine Situation aus seiner Ausbildung in den 1970er-Jahren schildert, die die Entwicklung einer autoritätskritischen Haltung zum Ziel hatte. Er erzählt zunächst ein Gespräch der Dozenten mit den Ausbildungsteilnehmer*innen nach: »Albert V.:  ›Was wollen wir machen?‹ ›Wir wollen gerne mal die Struktur einer Verwaltung analysieren.‹ ›Ja, ist gut.‹ Es war Pause, die beiden Dozenten kamen zurück mit Papieren, […]. Klebten da vier Riesenpapiere an die Wand und sagten: ›So, ihr habt euch ja den Wunsch ausgesucht. […] Ihr wollt ja über Verwaltung reden, das sind ja die meisten Arbeitgeber von euch. Bitte, da steht es. Könnt ihr da was mit anfangen?‹ ›Ja.‹ Da stehen die beiden auf, nehmen die Papiere, reißen die von der Wand, zerknittern die, zertreten die, und wir sitzen da und denken, was ist denn jetzt los? Einer versucht noch, die auseinanderzuziehen, ein Papier. Wir haben das nicht verstanden. Das haben wir dann erarbeitet, und da haben die gesagt: ›Ihr wolltet ja über Strukturen der Verwaltung reden, und das haben wir beide auch gemacht, wir haben uns hingesetzt in der Pause und haben dann das erarbeitet. Und was habt ihr gemacht?‹ Ja, nichts hatten wir gemacht. Wir wollten reden, theoretisch oder irgendwas darüber reden. ›Wir wollten euch nur mal zeigen‹, – das war also auch ein praktisches Lernbeispiel – ›wir wollten euch mal zeigen, wie das ist, wenn Autoritäten da so Papiere hinhängen und wie schnell die Massen sich damit einverstanden erklären.‹ Jan Lohl:  Das ist ja was, könnte ich mir vorstellen, was Ihnen auch Angst machte undAlbert V:.  (unterbricht) Ja! Wir waren Angst und aggressiv waren wir, wir haben beide rausgeschmissen. Wir haben gesagt: ›Wir wollen im Moment nichts mit euch zu tun haben.‹ Jan Lohl:  Die Leiter? Albert V.:  Die Leiter oder Referenten, Dozenten, wie auch immer. Sind rausgegangen. Dann haben wir natürlich die Situation besprochen, problematisiert und haben dann irgendwann das Ergebnis … Da haben wir gesagt: ›Wir können ja Autorität nicht rausschmeißen, die ist ja da, das steht ja fest. Die Frage ist, wie wir jetzt damit umgehen.‹ Und dann, ja, irgendwie natürlich haben wir sie wieder reingeholt.«

Später im Interview erläutert Albert V. das mit dieser Szene verbundene Lernziel:

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 75 »Das war wohl deren Lernziel für uns: ›Autoritäre Leiter haben da [in der Verwaltung, JL] eigentlich nichts zu suchen.‹ Das wollten die uns mal sehr deutlich machen und zu erkennen geben. […] Und die haben sich dann, glaube ich, entsprechend geäußert. Ja. […] Doch, das ist so ein wichtiger Teil in dieser [Supervisionsausbildung; JL] gewesen: die Erkenntnis, wie geht man mit Autoritäten um. Wie gehen Autoritäten mit uns beziehungsweise wir mit Autoritäten um? Was lassen wir uns gefallen? Und klar war: Wir lassen uns immer noch zu viel gefallen.«

Als Effekt solcher Szenen entwickelt sich leicht eine mal mehr und mal weniger intensive Bindung der Teilnehmer*innen an oder eine Überhöhung der Autorität der Dozierenden: »Das waren absolute Vorbilder für mich, es waren weise Leute« (Bertram W.). So entsteht oder verstärkt sich eine Verbundenheit mit Autorität, der man sich gleichzeitig nicht fügen sollte. Die Ausbildungsteilnehmer*innen werden von den Dozierenden in eine Situation versetzt, in der ihnen szenisch zwei Arten von Botschaften vermittelten: »Widersprich jeder Autorität!« und »Füge dich meiner Autorität«. Es ist diese mit einem »double bind« vergleichbare Situation (Bateson, Jackson, Haley u. Weakland, 1956/1969), die den Teilnehmenden eine differenzierte und (selbst-)reflexive, historisch und szenisch konkrete Auseinandersetzung mit dem Thema »Verhältnis zur Autorität« erschwert. Diese Schwierigkeiten intensivieren sich vermutlich gerade aufgrund der geschilderten intergenerationellen Konflikte, der Suche nach neuen Orientierungen und dem gesellschaftlichen Verlust der Möglichkeiten, sich an traditionellen Autoritäten zu orientieren. Die latente Bindung an die Autorität der Dozierenden bei einer manifest autoritätskritischen Haltung hatte die Funktion erstens die Angst vor der Autorität der Ausbilder*innen und ihrer Aggressivität der Wahrnehmung zu entziehen. Bemerkenswert ist zweitens, dass gerade diese Bindung, wie im folgenden Abschnitt noch deutlich wird, eine Veränderung der erlernten supervisorischen Praxis angesichts eines Wandels der Arbeitswelt erschwerte. Jede Veränderung der Bindung an die Autorität der Dozierenden bedeutete, eine psychisch zentrale Identifizierung aufzugeben und so die eigenen Ausbilder*innen zu »verraten«. Drittens schlägt sich diese Bindung in einer Abgrenzung von und einer Konkurrenz zu Leitungs- und Führungskräften in Organisationen nieder, die sukzessive in den 1980er, verstärkt erst in den 1990er-Jahren, überwunden wird. So erzählt die Supervisorin Brigitte S. davon, dass in der Supervision in den 1970er-Jahren Autorität verachtet wurde und sich dies in einem negativen Verhältnis zu Leitungskräften ausdrückte. Dieses Verhältnis reflektiert sie und empfindet es heute als falsch:

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Facetten der Supervisionsgeschichte

»Brigitte S.:  Das war ja ein Fehler unserer Generation, denk ich, dass wir uns abgekapselt haben von den Leitungsebenen. Und gesagt: ›Wir lassen die nicht reingucken. Und wir treten auch am liebsten gar nicht nach außen auf.‹ Haben viele Supervisoren so gemacht. […] Jan Lohl:  Früher haben Supervisoren versucht, die Leitung nicht reingucken zu lassen? Brigitte S.:  Früher war das ja was Anrüchiges. Also meine erste Supervisandin, die sagte immer: ›Ja, Frau S., ich komme jetzt hier zu Ihnen, aber ich muss an dem Geschäftsstellenleiter vorbei. Was denkt der denn, wenn ich zur Supervision [gehe, JL]?‹ Früher hat man gedacht: Supervision, das ist Reparaturleistung oder so. Und dafür hab ich gekämpft: Hier soll jeder erhobenen Hauptes rein und erhobenen Hauptes rausgehen. Jan Lohl:  Wie kommt dieses Verhältnis zur Leitung zustande? Dieses negative Verhältnis? Brigitte S:  Also ich denke, jetzt gibt es mehrere Hypothesen von mir. Einmal kann es eine Autoritätsproblematik sein: Also die Autorität der Leitenden gegenüber der sozusagen mangelnden Autorität der Supervisoren. Ja? Leitung hat Geltung und so, aber auch Macht. Jan Lohl:  Passt das auch in die gesellschaftliche Situation der damaligen Zeit? Wie wurden Autoritäten … Brigitte S.:  [unterbricht] Verachtet! […] Ja, oder mit Misstrauen betrachtet, ja. […] Ja, herrschen über andere oder beherrschen. Ja, ich meine Eichmann hat gesagt: ›Ich habe meine Pflicht immer getan!‹ Ja? Also das so ein Verständnis, so ein Satz überhaupt möglich ist, ja?«

Bemerkenswert ist nun, dass sich die besondere Dynamik der Auseinandersetzung mit Autorität in den 1970er-Jahren latent aus einem historischen Kontext speist (Nationalsozialismus, autoritäre Erziehungstraditionen), aber gleichermaßen die Tür hin zu Organisationen mit ihren Hierarchien aufstößt. Das Thema Autorität hat in der Entwicklung der Supervision eine Scharnierfunktion, denn es ermöglicht den Schritt hin zur Auseinandersetzung mit Macht und Autorität in Organisationen. Dies verdeutlicht der Supervisor und langjährige Ausbildungsleiter Florian A., der auch von der Schwierigkeit spricht, als Supervisor die Rolle zu halten und eigenen Macht- und Autoritätsimpulsen nicht in Form von »heimlicher Leitung« nachzugehen: »Florian A.:  Die Teamsupervision ist genau die Stelle, wo die Organisation in die Supervision einbrach. Früher war Teamsupervision immer noch die Supervision des Teams in der Nische der Organisation. Man traf sich in der Nische, der Chef war draußen, und hat dann da seine Probleme besprochen und der Chef war immer schuld. Und ich hab dann gegengehalten sehr früh. Also seit den 80er-Jahren habe ich gesagt: ›Moment, der Chef gehört rein, der Chef ist ein Teil des Systems, ohne Chef gibt’s keine Organisation.‹ Und der Teil war in

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 77 der Supervisionsszene immer hart umstritten, man wollte ihn draußen haben. Ja und auch die Gewöhnung, bis heute […] merkt man, es sind viele Leute da, die eigentlich keine wirkliche institutionelle Identität haben. Also die fehlt! […] Das war die Auseinandersetzung: Lässt man die […] Organisation rein in die Supervision? Wirklich, nicht nur als Bühne oder als Hintergrund? […] Zunächst war die Supervision hinter verschlossenen Türen und dann ging sie raus in die Organisation und machte die Tür auf und ging ins pralle Leben. Jan Lohl:  Die Supervisoren und Supervisorinnen, sind die diesen Schritt mitgegangen? Forian A.:  Ja aber langsam und zäh […] Das war eine lange mühsame Entwicklung weg von dieser individuellen Perspektive auf die institutionelle Perspektive, wirklich also identifikatorisch […]. Ja, also ich glaube, ich habe da auch so einen heimlichen Leiter in mir, der als Supervisor nicht weg ist und an den Schrauben drehen will, des ist völlig klar […] aber ich halte es natürlich. Es ist Quatsch zu sagen, man soll nicht an die Zentren der Macht. Wenn ich was verändern will in Organisationen, warum soll ich dann nicht eine Beratungsstrategie entwerfen, die mich ins Zentrum bringt? Als Supervisor, was spricht dagegen?«

2.3.3.5  Drei Schlusspunkte Professionalisierung und Erinnerung Deutlich wird, dass die in diesem Abschnitt behandelten Themen (Gruppendynamik, Autorität und Macht, Grenzverletzung) mit der Einhaltung ethischer Leitlinien zusammenhängen, die heute die Ausbildung von Supervisor*innen regulieren. Gerade die Professionalisierung der Supervision und von Supervisionsausbildungen setzt ethische Leitlinien, Qualitätsmaßstäbe und Kriterien, die eben auch wie ein Erinnerungsfilter normativ wirken könnten. Auch (!) deshalb wird vermutlich in den Interviews erst auf Nachfrage aus der eigenen Ausbildung erzählt. Oder sollten diese Maßstäbe gar den Gedanken bei den Interviewpartner*innen aufrufen, damals selbst keine professionelle Ausbildung gemacht und keine »gute« Identität als Supervisor*in zu haben? Autoritätskritik und Orientierungsbedarf Mit den Themen Autorität, Macht und Machtmissbrauch sind gesellschaftlich zwei Pole verbunden: Erstens wird das Thema Autorität in den Interviews immer wieder mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, der in Form autoritärer Sozialisationen auch in die eigene Entwicklung der interviewten Supervsior*innen prägend hineinragte. Vor diesem Hintergrund beschreiben sie, dass sie in den 1970er-Jahren nahezu jede Form

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Facetten der Supervisionsgeschichte

von Autorität, manifest als schuldbehaftet erlebt und daher verdächtigt, abgelehnt und verachtet haben – auch dort, wo es gute Gründe für eine Ausnahme gab. Autoritäten aus der älteren Generation waren in sehr vielen Fällen vor diesem historischen Hintergrund keine möglichen Orientierungsgrößen mehr für die jüngere Generation. Zweitens entwickelte sich mit der Individualisierung von Lebens­lagen ein Orientierungsverlust: Junge Menschen orientierten sich nicht nur deshalb nicht an älteren Autoritäten, weil diese verdächtig waren, sondern weil eine Orientierung an traditionellen Formen der Lebensführung gesellschaftlich immer weniger verbindlich und immer weniger tragfähig war: Gefordert waren zunehmend Selbstverantwortung, Selbstinitiative, eine individuelle Planung und Organisation der eigenen Berufsbiografie. Dies schuf eine individuelle Orientierungsnotwendigkeit und einen Orientierungsbedarf, dem keine sicheren und verläss­lichen Orientierungsmöglichkeiten und kaum besetzbare Autoritäten mehr gegenüberstanden. Diese beiden Pole – ein Orientierungsbedarf hier und eine autoritätskritische Haltung dort – bilden den dilemmatischen gesellschaftlichen Kontext, in dem die Themen Macht und Autorität in den Supervisionsausbildungen in den 1970er-Jahren – als einem oft intragenerationellen Raum – verhandelt werden. Organisation im Blick Gerade im Rahmen der Behandlung des Themas Autorität rücken sukzessive Hierarchien und Dynamiken von Organisationen in den Blick, die in den Interviews außerordentlich kritisch betrachtet und in einer spezifischen Metaphorik der Bedrohung beschrieben werden (Lohl, 2016, S. 33 f.): Die Organisationen der Arbeitswelt werden als »übermächtig« (Herr F.) beschrieben, entsprächen einem »Gewaltsystem« (Herr E.) und arbeiteten mit »Spinnengift« (Frau D.). Ihre Auswirkungen auf die Menschen, die in den Organisationen arbeiten und leben, bestünden darin, dass sie Menschen »unmenschlich« machen (Herr E.), sie psychisch »lähmen«, ihren Blick »verschleiern« und ihre Interessen »wegblenden« (Frau D.) oder ihre »Selbstachtung« negativ beeinträchtigen, »Entwicklungschancen reduzieren« und letztlich »krank« machen (Herr T.). Supervision hingegen wird als Instrument dargestellt, das Menschen hilft, »zurechtzukommen« und »Strukturen« zu beeinflussen (Herr F.), das die Wirkung der Organisation ein Stück weit »umkehren« kann (Herr E.), aus der »Unmündigkeit« oder von dem »Spinnengift« befreit (Frau D.) und »emanzipiert« (Herr T.). Die Wirkung der Organisation nehmen Frau D., Herr E., Herr F. und Herr T. fast durchweg als besorgniserregenden Einfluss auf die Arbeitssubjekte wahr, dem diese ohnmächtig und blind zu unterliegen scheinen. Supervision hingegen

Protestbewegung und Individualisierung: Die Aufbruchphase 79

wird von ihnen als eine entgiftende, rehumanisierende Produktionsstätte des mündigen (Arbeits-)Subjekts beschrieben. In den Interviews wird durch die Analyse dieser Metaphorik eine bemerkenswerte triadische Struktur erkennbar: Die Organisationen werden von den Interviewpartner*innen als eine Art Täterinnen, die Supervisand*innen als deren Opfer und die Supervision/die Super­visor*innen als Helfer*innen beschrieben. Diese dramatische Dreiecksstruktur wäre allerdings dann falsch verstanden, wenn sie einseitig im Sinne eines Motivs ausschließlich auf Wahrnehmungsmuster der interviewten Supervisor*innen selbst zurückgeführt würde. Demgegenüber ist deutlich zu betonen, dass alle zitierten Supervisor*innen von Supervisionsprozessen in Schulen und Einrichtungen der sozialen Arbeit, im Kulturbereich und in Wirtschaftsunternehmen, in Kliniken und in Verwaltungen berichten, in denen sie diese Strukturen vorfinden, denen Menschen – und zwar Mitarbeiter*innen wie Führungskräfte – oftmals unbewusst unterliegen. Zu fragen wäre also, wie die Organisationen in den 1970er und 1980er-Jahren beschaffen, strukturiert waren? Welche Personen arbeiteten dort und wie wurde Arbeit organisiert? Und: Welche Geschichte haben die Organisationen, in denen die interviewten Supervisor*innen tätig waren? Supervision – so erleben es die Interviewpartner*innen in jedem Fall begeistert – hilft den Supervisand*innen, psychosoziale Einflüsse der Organisation re­flexiv zu erfassen, eine Handlungsfähigkeit (zurück) zu gewinnen und einen gestaltenden Einfluss auf die organisationalen Bedingungen auszuüben. Hinsichtlich der Supervisionsentwicklung lässt sich zusammenfassend festhalten, dass sich zu Beginn der 1980er-Jahre zwei Dimensionen der Entwicklungen innerhalb der Supervision herauskristallisieren: Dies ist zum einen ein »gruppendynamisches Verständnis von Supervision, in dem die Objektbereiche auf ihr beziehungsdynamisches Substrat reduziert werden« (Gaertner, 1999, S. 99). Beziehungs- und gruppendynamische Perspektiven stehen dann im Vordergrund. Gleichzeitig rückt aber Ende der 1970er-Jahre die Organisation mit ihren Themen und Dynamiken stärker ins Blickfeld der Supervision. So sind der »Rückzug aus der Politik in die Innerlichkeit […] oder aber der Gang in die Organisationen als sublime Fortsetzung des einstigen Kampfes um Emanzipation […] zwei extreme Rollenmuster«, die die Supervision zu Beginn der 1980er-Jahre prägen (Weigand, 1990, S. 55). Gleichzeitig weitet sich mit dem Gang von Supervisor*innen in Organisationen auch der Geltungsbereich der Supervision aus. Methodisches Können allein reicht nicht mehr aus, Feldkompetenz sowie Kenntnisse über Organisationen, ihre Dynamik und Funktionsweise sind zunehmend gefragt, um die spezifischen Dynamiken beruflichen Handelns zu verstehen und zu beraten.

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2.4 Wichtig für die Supervisionsentwicklung, »blass« in den Interviews: die 1980er-Jahre Die 1980er-Jahre – für die Professionalisierung der Supervision ein hochbedeutsames Jahrzehnt – werden in den Interviews kaum thematisiert. Auch politisch und gesellschaftlich sind die 1980er-Jahre bewegte Zeiten: Massenarbeitslosigkeit und Umweltbewegung, die Gründung der Grünen und letztlich kommt der Kalte Krieg mit dem Fall des »Eisernen Vorhangs« zu einem Ende. All dies taucht in den Interviews kaum, meist gar nicht auf. Dass die 1980er-Jahre in den Interviews keinen zentralen Stellenwert einnehmen, mag damit zusammenhängen, dass diese Zeit für viele der interviewten Supervisor*innen ein Jahrzehnt der Festigung ihrer beruflichen Identität war. Nach Abschluss ihrer Ausbildung und nach einer Positionierung auf dem Beratungsmarkt sind die 1980er-Jahre vor allem das Jahrzehnt ihrer praktischen Supervisionstätigkeit und vielfach auch des Familienlebens. Von den interviewten Supervisor*innen sprechen lediglich drei über gesellschaftliche Prozesse in den 1980er-Jahren: ganz allgemein über frauenpolitische Arbeit, über Gewalt gegen Frauen und vor allem Kinder und über Massenarbeitslosigkeit. Frieda J. deutet auf die Frage nach der Entwicklung von Supervision in den 1980er-Jahren an, wie sie als Supervisorin in Erziehungseinrichtungen mit Gewalt in Paarbeziehungen und gegenüber Kindern konfrontiert war. Supervision habe die Berufstätigen in diesen Einrichtungen bestärkt, gegen Gewalt vorzugehen und betroffenen Kindern und Familien zu helfen: »Frieda J.:  Und Eltern, na ja, wollen nicht, dass die Kinder angeschaut werden – zurecht. Kinder, wir sehen einiges (lacht). Jan Lohl:  Was haben Sie gesehen? Frieda J.:  Viel, ich sage jetzt mal, häusliche Gewalt auch, nicht viel, aber häusliche Gewalt. Jan Lohl:  Gegenüber Kindern? Frieda J.:  Ja, ja. Jan Lohl:  In den Achtzigern? Frieda J.:  Ja. Nicht nur unbedingt gegen die Kinder, aber zwischen Männern und Frauen, schlagende Männer und entsprechend geduckt waren Kinder auch. Gell? Also ich würde jetzt gar nicht sagen – ich meine, das ist auch wieder lange her –, dass eines der Kinder so geschlagen worden wäre, aber es war deutlich … Da gab es ein paar Fälle, wo ich sagen würde, ›kinderschutzreif‹ (lacht). Jan Lohl:  Können Sie dazu ein bisschen was erzählen? (4)

Wichtig für die Supervisionsentwicklung, »blass« in den Interviews81 Frieda J.:  Die Achtung vor Kindern und die Unverletztbarkeit, also das musste sich erst etablieren. Und ich denke, da hat Supervision auch mitgeholfen. Also, Frauen sind es ja meist, die in den Kitas arbeiten, und die so sehr dicht an den Familien dran sind. Die auch zu bestärken […], dass das nicht mehr geht. Jan Lohl:  Haben Sie da ein konkretes Beispiel auch vor Augen? (3) Frieda J.:  Ja, also ich beziehe mich jetzt tatsächlich hauptsächlich auf die Kindereinrichtungen. Und die Supervision hat die Professionellen in dem Bereich so bestärkt, dass bestimmte kinderschädliche und entwicklungsschädliche Dinge einfach nicht mehr möglich sind. Und dass die Professionellen auch dann helfen, über Beratung oder über die Verbindung zum Jugendamt, dass da auch Maßnahmen eingerichtet werden, die den Familien dann auch helfen in diesen Not- und Krisensituationen.«

Zudem wird in einem Interview über die Massenarbeitslosigkeit der 1980er-Jahre als Thema in Supervisionsprozessen gesprochen. Dies war – zumindest in der Selbstaussage des interviewten Supervisors – zwar ein regelmäßiges, aber kein aufwendig zu bearbeitendes Thema. So schildert der Supervisor und Ausbildungsleiter Olaf V. kurz und knapp Folgendes: »Olaf V.:  Oft erzählten die Leute, dass die Arbeitslosigkeit droht oder sie gerade arbeitslos werden und da bricht die Panik aus in der Gruppe. Jeder hat gesagt, das könnte ich sein. Ja? Jan Lohl:  Wann war das so Pi mal Daumen? Olaf V.:  Das muss so achtziger Jahre gewesen sein. Ja, Mitte Achtziger, als das mit der Arbeitslosigkeit so in der ersten Welle kam. Da war immer die Tendenz der Leute, die mir das erzählt haben: ›Ach, jetzt müssen wir tanzen‹ oder so. Und da habe ich gesagt: ›Nee, jetzt wird nicht getanzt. Jetzt hat der Soundso erzählt, der ist arbeitslos, jetzt bleiben wir alle mal hier sitzen.‹ Und da war meine Hilfe immer, dass ich gesagt habe, jeder soll mal erzählen, was das mit ihm macht. Und wenn die Runde vorbei war, war alles wieder im Lot. Jan Lohl:  Was haben die so erzählt? Olaf V.:  ›Ich würde mich freuen, dass ich nicht mehr viel zu arbeiten habe.‹ ›Ich hätte die Panik.‹ Jeder hat so seine Art, damit umzugehen, gesagt, und dann war die Luft raus, die Dynamik war entschärft und es war lehrreich. Wenn wir getanzt hätten, wäre es Quatsch gewesen, dann hätten wir es verdrängt, vertuscht. Insofern war diese Situation sehr prägend so für mein Leben. Ich hatte einige Kollegen, die so gearbeitet haben wie ich.«

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Facetten der Supervisionsgeschichte

2.4.1  Die Gründung der DGSv Irritierend ist zudem, dass supervisionsrelevante Themen im engeren Sinn, wie die Gründung der DGSv oder die Entwicklung von Fachzeitschriften in den Interviews, nur in Einzelfällen, oft nur auf explizite Nachfrage thematisiert werden. Geschieht dies aber, wird der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Supervision im Jahr 1989 eine wichtige Bedeutung beigemessen. Betont wird in Interviews mit den Super­visor*innen des Alltags wiederholt, dass die DGSv-Mitgliedschaft »mittlerweile wie so ein Gütesiegel [ist] und man tatsächlich danach gefragt wird« (Norbert N.). Der Supervisor Ingolf E. hebt die Bedeutung der unterschiedlichen theoretischen Herkünfte der verschiedenen Supervisionsausbildungen hervor und betont – was öfter in den Interviews geschieht – die Kon­kurrenz und Anerkennungskämpfe verschiedener Supervisions­ richtungen. Er sieht es als besondere Leistung der DGSv an, verschiedene Supervisionsrichtungen zu integrieren: »Ich glaube, dass in der Professionsentwicklung die Gründung der DGSv eine große Rolle spielt. 1989 war das, wenn ich das richtig in Erinnerung habe Und das war insofern auch ein Meilenstein in der Entwicklung, weil da ja dann doch auch repräsentativ für die Supervisionsausbildung, die es in Deutschland gibt, Standards formuliert worden sind. Also man konnte da nur aufgenommen werden, wenn man bestimmte Standards erfüllt. Das war lange Zeit auch ziemlich strittig. Also zum Beispiel unser Institut, humanistisch orientiert, die wurden lange Zeit von der DGSv abgelehnt, das war eine ziemlich heftige Auseinandersetzung. Also das heißt, das hat auch meine Person betroffen. Ich hätte, wenn da bestimmte Leute sich durchgesetzt hätten, gar nicht aufgenommen werden können. Rückblickend würde ich sagen, dass da die Schulkämpfe zwischen den therapeutischen Schulen sich dort fortgepflanzt haben. Also die etablierten Verfahren, so viel ich weiß, waren das psychoanalytisch orientierte Protagonisten, die die Humanisten da nicht haben wollten. Das hat sich zum Glück gelöst und jetzt ist das ja im Grunde der einzige Berufsverband in Deutschland, also an der DGSv geht heute nichts vorbei. Aber ich denke deshalb, weil es geschafft worden ist, die verschiedenen Zugänge zu integrieren. Insofern wäre dann auch ein wichtiges Merkmal der Professionalisierung, die verschiedenen Zugänge miteinander in Verbindung zu bringen und nicht auseinander zu bringen.«

Deutlich wird in den Interviews auch eine Veränderung der persönlichen Bedeutung der DGSv: Wird diese während und nach der Gründung als wichtig eingeschätzt, so erzählen die Interviewten, dass diese Bedeutung für sie persönlich in den letzten Jahren nachlässt. Dies hat einerseits mit

Wichtig für die Supervisionsentwicklung, »blass« in den Interviews83

dem zunehmenden Lebensalter der interviewten Supervisor*innen zu tun, und andererseits mit dem Wunsch, eine jüngere Generation von Supervisor*innen möge die für die Supervision relevanten methodischen aber auch gesellschaftlichen Entwicklungen berufspolitisch begleiten. Exemplarisch sei diesbezüglich eine Sequenz aus dem Interview mit der Supervisorin Christa P. zitiert: »Also meine berufspolitisch engagierten Zeiten in der Supervisionsgeschichte, in der DGSv, die sind bestimmt zehn Jahre schon vorüber. Also ich habe irgendwann keine Lust mehr gehabt auf diesen Kram, mit dem die sich jetzt beschäftigen. Und war vorher also zehn, fünfzehn Jahre wirklich richtig mit Leib und Seele dabei. Und ich glaube, es hat auch was mit dem Alter zu tun. Es kommen die Neuen nach, die Jungen nach mit ganz anderen Prägungen und ganz anderen Vorstellungen und Ideen und so, …. Ich denke, @berufspolitisch habe ich genug getan@ und auch Schönes getan und es freudvoll getan. Das war was ganz Schönes, mit den Menschen eben, mit denen ich auch viel zu tun hatte. […] Es war eine richtig gute Zeit für mich, die ich auch nicht missen möchte und die aber jetzt vorbei ist.«

Die Wissensbevollmächtigten der Supervision betonen in den Interviews die Schwierigkeiten, einen Fachverband zu gründen, und verdeutlichen die personelle und institutionelle Konkurrenz während der Gründung. So erzählt der Ausbildungsleiter und Dozent Rolf U., wie aufwendig die Gründung war, und dass diese von der Sorge begleitet war, dass die jeweils anderen Ausbildungseinrichtungen die eigene Supervisionsform nicht anerkennen könnten. »Es gab ja die Großen: also der Deutsche Verein, die Katholische Akademie, das Burckhardthaus, Remscheid und Kassel, als universitäre Geschichte. Die waren auch in einer Kommission verbunden und die sind ja auch sozusagen die Mitbegründer oder vielleicht auch überhaupt erst Anlassgeber zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Supervision. Obwohl da diese Zusammenarbeit sehr früh war, war da auch natürlich starke Konkurrenz. […] Und ich weiß, [es gab] den ersten Kongress Supervision [in einer Ausbildungseinrichtung; JL] und da [wurde versucht] mit allen fünf Einrichtungen zu reden unter einer gemeinsamen Frage: ›Stellen wir mal dar, was machen wir, wie sieht das aus und wo unterscheidet sich es wirklich?‹ Und dann wurde klar, wir kochen alle nur mit Wasser, und @manche machen es dann ein bisschen warm, aber andere lassen es eiskalt@, aber es war immer noch Wasser. Und dadurch wurde es dann besser und dadurch wurden eigentlich auch die Weichen gestellt für die DGSv […], was nicht ganz so einfach war. […] Und so entwickelte sich dann auch die Besetzung der Posten in der DGSv. Und na ja, dann musste man irgendwo gucken, dass man – in Gänsefüßchen – seine Leute in irgendwelche Ausschüsse reinbrachte, ob das dann nun die Aufnahme­kommission war oder die Überprüfungskom-

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Facetten der Supervisionsgeschichte mission. Und gerade in der Überprüfungskommission haben wir dann schon geschmunzelt, da saßen dann Leute drin, die @bei uns ausgebildet waren und die dann für die DGSv auf einmal so kritisch beurteilten, ob wir dann auch wirklich alles richtig machen. Aber das ist wohl so, kann nicht anders sein@.«

Deutlich wird in den Interviews mit den Wissensbevollmächtigten vor allem aber, dass die Gründung der DGSv eine gravierende Veränderung der Machtstruktur in der Supervisionsszene bedeutete: Hatten zunächst die großen Ausbildungsinstitute die Hoheit über die Ausbildungsrichtlinien und die Zulassungskriterien, so legte die DGSv nach ihrer Gründung Standards und Richtlinien fest, denen genügen musste, wer Mitglied werden wollte. Wichtig ist es zudem, darauf hinzuweisen, dass sich mit der Gründung der DGSv die enge Bindung von Supervision und Sozialarbeit weiter lockerte: Waren Supervisor*innen bislang überwiegend Sozialarbeiter*innen, so konnten in die DGSv nach einer Phase mühsamen Ringens letztlich auch Angehörige anderer Berufe (Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Soziolog*innen, …) eintreten, wenn sie eine qualifizierte Ausbildung nachweisen konnten, die den Standards der DGSv entsprachen. Emilio W. erzählt ausführlich von diesen Phänomenen: »Na, es war so, die Fortbildungsstätten Gelnhausen, Stuttgart, Remscheid, Frankfurt, Münster. Fünf waren es, glaube ich, die trafen sich ja vorher in dieser Kommission und legten schon mal Standards [für die Ausbildungen; JL] fest, damit sie untereinander keine unterschiedlichen Standards hatten. Das war ja eine kluge Idee und es hat auch funktioniert, die haben die Standards festgeschrieben und haben alle danach ausgebildet […]. War die Welt in Ordnung. Dann gab es die Entwicklung, dass plötzlich, nachdem man merkte, dass [Supervision, JL] ein Instrument ist, das gefragt war, und das was bringt, kamen wilde Supervisoren auf den Markt, vor allem die Psychologen. Psychologen denken ja immer, sie können alles. Ich weiß noch, habe ich Diskussionen geführt mit dem BDP, Bund Deutscher Psychologen, da haben sie gesagt: ›Ja, wir können das doch.‹ Und da habe ich gesagt, das kann ja sein, aber ich erzähle mal, wie wir es machen, und da war ziemlich schnell klar, dass es was anderes ist. Dann kamen diese wilden Supervisoren auf den Markt und dann gab es Druck. Es ist ja klar, wenn die erfolgreich sind, wurde die Ausbildung entwertet für die Teilnehmer und es wurden die Ausbildungsinstitute entwertet. Weil: Was braucht man eine Ausbildung, wenn die das auch ohne können. Und das waren die Triebfedern, dass es losging, dass man gesagt hat, wir müssen was machen. Und da haben sich Münster und Kassel – ich weiß nicht, ob das die einzigen waren, ich will den anderen nicht zu nah [treten, JL] – die haben sich getroffen und haben da nachgedacht. Und dann gab es diese Einladung der Akademie in Münster, 1987 diesen Workshop: ›Supervisoren organisieren sich – Berufspolitik‹. Ja, und da [waren, JL] alle

Wichtig für die Supervisionsentwicklung, »blass« in den Interviews85 eingeladen, alle Ausbildungsträger, also die alte Kommission, wenn man so will, mit Kassel. Und in diesem Workshop saßen wir dann auch mal alle zusammen und haben gesagt: ›Naja, jetzt müssen wir mal so einen Verein gründen, wer könnte Vorsitzender werden?‹ Das war so wie das alles so geht, und da fand man natürlich nicht so schnell jemanden. In dem Moment merkte man natürlich auch, jetzt ging die Konkurrenz los. Denn vorher hatte jeder sein Revier und dann plötzlich zusammen und: ›Naja, also wenn wir was gemeinsam machen, da ist ja die Frage, @welches Revier bestimmt die Musik@?‹. Und dann dauerte es noch zwei Jahre, dann hat man sich verständigt auf eine Kommission, die das vorbereitet: Sollte es eine Sektion im DAGG [Deutscher Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik; JL] werden oder im BSA, Bund der Sozialarbeiter, so ähnlich hieß der. Also da waren verschiedene Modelle drin, aber dann haben sie sich verständigt auf die Deutsche Gesellschaft für Supervision. […] Und der Vorsitzende war der Feind der Ausbildungsinstitute, weil [er] gesagt hat, die DGSv bestimmt jetzt die Musik und nicht mehr die Ausbildungsinstitute. Die Ausbildungsinstitute wollten weiterhin selber bestimmen, was zu tun ist, war auch ganz verständlich. Die wollten die [Ausbildungs-, JL] Standards bestimmen, […] was sie früher schon immer gemacht haben, wie ausgebildet wird. Und da [hat die DGSv, JL] immer gesagt: […] die DGSv macht das jetzt. Ja, das waren über Jahre harte Auseinandersetzungen. […] Es gab einen Ausbildungsausschuss, da waren alle Ausbildungsinstitute drin und […] die haben alle gesagt: ›Was macht denn die DGSv, […] das geht doch nicht!‹ […] Aber es ist doch klar, die Macht hat gewechselt. Die Macht hatten früher die Ausbildungsinstitute für sich, die haben sich verständigt und haben sich nix getan. Dann kam die DGSv und da war die Frage: Wer bestimmt dann? Und da haben die Ausbildungsinstitute gesagt: ›Wir! Nach wie vor im Ausbildungsausschuss.‹ Und das ging natürlich nicht, das wäre der Tod der DGSv gewesen. […] Und da lagen so viel, so ein Stoß Aufnahmeanträge auf dem Tisch im Aufnahmeausschuss. Und das war ja natürlich die schwere Frage: Wer darf [zeigt nach links, JL] und wer darf nicht rein [zeigt nach rechts; JL] und da [rechts, JL] waren alle Psychologen drin und alle Nicht-Sozialarbeiter. Und ich habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, ist doch kein Sozialarbeiterverband! […] Und dann [gab es; JL] diese sogenannte Psychologenregelung, das […] war nämlich die Regelung, dass alle reinkommen, die die Standards erfüllen, und da musste man natürlich hingucken, […] der hat die Ausbildung da gemacht, da musste man gucken, geht das, geht das nicht. […] Und dann die Gallionsfiguren, das war noch der zweite Teil, wenn ich das noch sagen darf. Weil klar war, wenn […] es eine Spaltung gibt zwischen DGSv und Analytikern und Gestalttherapeuten und Gesprächstherapeuten und was es da noch alles gab, dann ist das ein Problem. Also musste [man] die Gallions­figuren [der verschiedenen Schulen und Richtungen; JL] in die DGSv bringen. Und als die drin waren, haben die Mitglieder der jewei­ligen Verbände gesagt: ›Naja, wenn der Herr [Soundso] da rein geht, ja, dann können wir auch rein‹ […]. Also das war eigentlich der Start, […] dass man das nicht

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auf die Sozialarbeit beschränkt, auf die traditionellen Absolventen, sondern eine Lösung fand, um all die, die wirklich von Beratung schon was verstanden oder von Supervision aufnehmen konnte […]. Klar, da gab es dann einen Aufnahmeausschuss, der natürlich im Einzelfall immer geprüft hat, geht das, geht das nicht?«

2.5 Neoliberalismus und Re-Organisation der Erwerbsarbeit. Die Konsolidierungsphase Von Bedeutung für die Einschätzung der folgenden Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision ist, dass die Hegemonie der auf Erfahrungen beruhenden historischen »Deutungskraft« der interviewten Supervisor*innen bereits in den 1980er-Jahren zu schwinden beginnt. In dieser Zeit drängen jüngere Supervisor*innen auf den Beratungsmarkt, die unter veränderten institutionellen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zu Supervisor*innen ausgebildet wurden. In den 1980er-Jahren entstehen neue Ausbildungsstätten und es finden theoretische und methodische Entwicklungen statt, die für die Supervision bedeutsam sind. Jüngere Supervisor*innen nehmen daher vielleicht gerade die gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandlungen und die Entwicklung der Supervision anders wahr, als die von mir interviewten älteren Supervisor*innen. Die im Folgenden skizzierten Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision spiegeln daher einen auf spezifischen historischen und (berufs-)biografischen Erfahrungen beruhenden Blick auf gesellschaftliche Veränderungen und die Supervisionsentwicklung. Wenn die interviewten Supervisor*innen über gesellschaftliche Veränderungen in den 1990er und den 2000er-Jahren sprechen, thematisieren sie wiederholt eine enorm angestiegene Bedeutung ökonomischer Perspektiven und Konzepte innerhalb von Organisationen, sie sprechen von einer Zunahme der Leistungsanforderungen und von der Beschleunigung sozialer (Arbeits-)Prozesse. Verbunden damit erwähnen sie die Zeitknappheit ihrer Supervisand*innen, die Zunahme von psychischen Belastungen, von »Druck« und von (Existenz-)Ängsten. Die Supervisor*innen thematisieren in den Interviews zudem die Beobachtung einer Schwierigkeit ihrer Supervisand*innen, mit der Veränderung der Organisation von Arbeit umzugehen (Haubl u. Voß, 2011; Haubl, Voß, Alsdorf u. Handrich, 2013). So berichtet der Supervisor Detlev I. von einer »unglaubliche[n] Zunahme von Leistungsanforderungen – also in kürzerer Zeit mehr zu leisten, und da entsteht die Angst zu versagen. Also das Leistungsprinzip als die wichtigste Quelle, sich selber als wertvollen Menschen zu erleben – ich glaube, das hat

Neoliberalismus und Re-Organisation der Erwerbsarbeit 87 massiv zugenommen. Also auch in der Wirtschaft, aber eben auch in den Sozialbereichen, was der Kontext der Supervision ist. […] Es wird überall Personal abgebaut. Die Krankenhäuser können sich oft nicht halten, wenn sie die traditionellen Standards von Personal beibehalten. Also […] das Elend der Pfleger in Deutschland hat nicht zuletzt damit was zu tun, dass die allesamt überfordert sind. […] In der Altenpflege ist das besonders heftig, aber auch in den Krankenhäusern. Wer lernt das heute noch, wenn man weiß, was das für ein Dauerstress ist?«

Die Supervisorin Andrea S. berichtet von Veränderungen innerhalb von Organisationen, dies es ihren Supervisand*innen nahezu unmöglich machen, über die eigene Arbeit und ihre Organisation nachzudenken: »Und es bleibt zum Nachdenken, ob vielleicht irgendwas an der Organisation verändert werden sollte, da bleibt [für die Mitarbeiter*innen; JL] gar keine Zeit mehr. Das ist so für mich das Wichtigste, dass da keine Zeit mehr ist, darüber nachzudenken, warum solche Probleme da sind.«

Die Supervisorin Gudrun D. hingegen schildert ihre Beobachtung, dass nicht nur der Arbeitsdruck und Existenzängste zunehmen, sondern damit eine Schwierigkeit vieler Arbeitssubjekte einhergeht, auf sich selbst, die eigene Gesundheit und die eigenen Bedürfnisse zu achten und diese ernst zu nehmen. Ab etwa Mitte der 1990er-Jahre hätten ihre Supervisand*innen »dann so eine Angst [entwickelt], wo die Leute an Dingen kleben, die ihnen gar nicht gut tun […]. Diese Angst nimmt zu, wenn man dann da eine Anstellung hat. Die Leute, die gehen bis zum Letzten, bis sie nicht mehr können […]. Die Angst vor ökonomischen Verlusten […] wächst. […] Da war eine Supervision, die ich da hatte, wo dieser Mann in den mittleren Jahren, nach zwei Hörstürzen, zu mir kam und immer wahnsinnig viel Spannung aufbaute. Zusammen mit dem Arzt haben wir dann auch gesagt, der soll mal in Kur [gehen]. Da ging es ihm auch richtig gut. Aber er war so ängstlich, dass er trotz allen Möglichkeiten, die denkbar gewesen wären, nicht den Schritt zu einer Alternative gefunden hat und stattdessen anfing, depressiv zu werden.«

Sozialwissenschaftlich lassen sich die anhand der Interviews mit Gudrun D., Andrea S. und Detlev I. erwähnten Veränderungen in den Kontext eines bedeutsamen gesellschaftlichen und arbeitsweltlichen Wandels einordnen. Bereits in den 1970er-Jahren geriet die fordistische Produktionsweise mit ihrem Modell von Verwertung und Kapitalrentabilität, ihren Produktionsformen, Arbeits- und Konsumtypen in eine Krise. Diese Krise hat letztlich einen gesellschaftlichen Wandel angestoßen,

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der in den Sozialwissenschaften unter den Stichworten »Neoliberalismus«20 und »Postfordimus« diskutiert wird (Kaindl, 2013, S. 23, Eichler, 2013, S. 258 ff., S. 168–179): Im Zuge dieser Krise »versprachen« neoliberale Konzepte einer marktradikalen Wettbewerbsordnung »einen funktionierenden Kapitalismus« (Kaindl, 2013, S. 24). Umgesetzt wurde dieses Versprechen im Kontext technischer Entwicklungen (Digitalisierung), einer Globalisierung der Ökonomie und einer Liberalisierung der Geld- und Kapitalmärkte sowie durch einen andauernden Prozess der postfordistischen Reorganisation der Lohnarbeit (Dezentralisierung, Subjektivierung, Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit, siehe im Folgenden). Begleitet und gefördert wird dieser Prozess durch Veränderungen der rechtlichen und politischen Regulation (Abbau von Normalarbeitsverhältnissen, Privatisierung staatlicher Aufgaben, aktivierender Sozialstaat, »workfare« statt »welfare«, zweiter Arbeitsmarkt usw.), die folgende Effekte erzeugt: »Man kann nun leichter trotz hoher Qualifikation arbeitslos werden, man kann leichter arm bleiben trotz Arbeitsplatz. Ganz allgemein wächst der ökonomische Druck auf jeden Einzelnen, weil die puffernden, regulierenden und vermittelnden staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen und Regelungen zwischen System und Einzelnem schwächer werden« (Eichler, 2013, S. 289). Im Rahmen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen findet eine Ökonomisierung in nahezu allen gesellschaftlichen Feldern statt – vor allem in den Organisationen sowohl des Profit- wie des Non-Profit-Bereichs: »Unter Ökonomisierung versteht man die strikte Orientierung an der Verwertbarkeit sowie das Ausschalten oder die Unterordnung marktfremder Aspekte (dieses Phänomen wird auch mit dem Begriff Vermarktlichung beschrieben). Ein zentrales Merkmal […] ist ihr ›ökonomischer Imperialismus‹ und die Ausdehnung auf (Lebens-)Bereiche, die traditionell nicht der Sphäre der Ökonomie angehören« (Hausinger, 2008, S. 169).

Gemeint sind damit nicht-ökonomische Professionslogiken oder nicht-­ ökonomische Primäraufgaben und Zielsetzungen von Organisationen, wie die Pflege und Versorgung, die Betreuung und Erziehung oder die Therapie, Beratung und Heilung von Menschen. Sie werden stärker einer ökonomischen Perspektive untergeordnet. 20 Der Begriff »Neoliberalismus« wird heute jenseits seiner Bedeutung als wirtschaftswissenschaftliche Strömung als politisches Konzept und im Sinne von »Marktfundamentalismus« oder »-radikalismus« verstanden. Verbunden wird der Begriff heute vielfach auch mit der Wirtschaftspolitik Reagans oder Thatchers sowie der Agenda 2010 in der Bundesrepublik.

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Vor allem in den 1990er-Jahren verschiebt sich so das Verhältnis von Organisation (der Arbeit) und Ökonomie bzw. dem Markt. »Basis dieses Prozesses ist der Abbau der institutionellen Puffer zwischen den Produktions- (bzw. Dienstleistungs-) und Arbeitsprozessen und deren marktlichen Umwelten (Finanz- und Kapitalmärkte ebenso wie Beschaffung-, Absatz- oder Arbeitsmärkte) und die zunehmende Überlagerung der ›Produktionslogik‹ durch eine an der Verwertung orientierte marktökonomische Steuerungs- und Koordinationslogik« (Kratzer, 2008, S. 178). So entwickelt sich in vielen Organisationen des Profit- und des NonProfit-­Bereichs eine spezifische Re-Organisation der Erwerbsarbeit, die – neben anderen Aspekten – auch die folgenden Veränderungen umfasst (Hausinger, 2008, S. 33; Lohl, 2017, S. 108): –– Hierarchische und zentralistische Organisationen werden oft in kleine Arbeitseinheiten aufgespalten, die ein hohes Maß an Eigenverantwortung tragen. Arbeit wird als Projekt-, Gruppen- und Teamarbeit vielfach von den Mitarbeitenden selbstverantwortlich organisiert. –– Der Arbeitsprozess verläuft weniger entlang von kleinschrittigen Anordnungen, Routinen und Regeln, sondern wird auch in Form von Zielvereinbarungen und Zielorientierungen verhandelt, die Ermessensspielräume und damit Chancen und Risiken für die einzelnen Mitarbeiter*innen bergen. –– Kommunikative Prozesse verlaufen in Organisationen weniger horizontal von oben nach unten, sondern verstärkt vertikal: Innerhalb von Teams müssen die Mitarbeiter*innen eigenständig verhandeln, wie die Arbeit zu organisieren ist. –– Die Gestaltung der Kommunikation und der Arbeitsbeziehungen durch die Arbeitnehmer*innen – Mitarbeiter wie Führungskräfte – wird zu einem für die betriebliche Wertschöpfung zunehmend interessanten Aspekt. Damit rücken psychische und oftmals unbewusste Aspekte wie Emotionen und Bedürfnisse, Konflikt- und Beziehungsfähigkeit bis hin zu persönlichkeitsstrukturellen Aspekten stärker in den Fokus der Arbeitsorganisation (Subjektivierung von Arbeit; Moldaschl u. Voß, 2002). Diese Aspekte können – und sollen – verstärkt in den Arbeitsprozess eingebracht werden, was die Subjekte als Möglichkeit der Selbstentfaltung erfahren können. Gleichwohl erzeugt diese Forderung den Druck zu permanenter Selbstevaluation und -optimierung, was sich regelmäßig in Form von Unsicherheiten, Orientierungsschwierigkeiten, Versagensängsten und Wertlosigkeitsgefühlen artikuliert (Bröckling, 2007). –– Es kommt zur Entgrenzung von Arbeit, das heißt zu einer Flexibi­ lisierung von Arbeitszeiten und -orten und damit zu einer Über­ lappung von vormals (scheinbar) getrennten Bereichen wie dem Pri-

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vatleben und der Familie einerseits und der Arbeitswelt andererseits (Gottschall u. Voß, 2003). Durch die postfordistische Re-Organisation der Erwerbsarbeit und den bereits erwähnten neoliberalen Rückbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme entwickelt sich seit etwa Mitte/Ende der 1990er-Jahre eine neue »Unmittelbarkeit von Individuum und Markt« (Kratzer, 2008, S. 180), durch die der Umgang mit Chancen und Risiken während der Organisation und der Durchführung der Arbeit subjektiviert wird. Vielfach bildet sich so der, wenn nicht falsche, dann zumindest unzureichende Eindruck heraus, dieser Umgang hänge ausschließlich von individuellen Ressourcen, Qualifikationen und Fähigkeiten ab. Diese Wahrnehmung, dass der subjektiven Dimension organisierten Arbeitens eine besondere, wenn nicht herausragende Bedeutung zukommt, erhöht die Bedeutung, die Organisationen Beratungsformen wie Supervision und Coaching beimessen.21 Sozialpsychologisch bedeutsam sind die Veränderungen kultureller Leitvorstellungen, die mit den beschriebenen Wandlungen einhergehen. So werden sukzessive »ständige Leistungssteigerung und Selbstverbesserung als notwendig erachtet, um mithalten zu können im niemals stillstehenden Wettbewerb« (King et al., 2014, S. 283). Optimierung, Effizienz und Leistung sind in den vergangenen ca. dreißig Jahren von »einem Ideal zur kaum hintergehbaren und zugleich eigenverantwortlich zu erfüllenden Norm« geworden (S. 284). Mit diesen kulturellen Veränderungen sind die Individuen verstärkt angerufen, das eigene Leben in »scheinbar ›eigener Regie‹ effizient und flexibel zu gestalten« (S. 286). So zeigt Bröckling (2007, Pongratz u. Voß, 2003) eine neoliberale Anrufung der Individuen auf, sich in selbstverantwortliche Fabrikanten ihres Lebens zu verwandeln: Das eigene Selbst und das eigene Leben soll wie ein Unternehmen mit marktlogischer Rationalität selbstverantwortlich und in jeder Hinsicht ökonomisch geführt werden. Mit der bereits in der Individualisierung von Lebenslagen angelegten Forderung, ein autonomes Subjekt zu sein, gehen neue Freiheiten, Chancen und Möglichkeiten einher, jedoch immer auch der Druck zur Selbstverantwortung, Selbstevaluierung und Selbstoptimierung. Auch über die Arbeitswelt hinaus werden Menschen in den vergangenen etwa 25 Jahren zunehmend aufgefordert, sich in vielerlei Hinsicht selbstverantwortlich zu verbessern: Im »Zuge der neoliberalen Wende [sind] diese ›Selbstansprüche‹ der Subjekte an ihre individualisierte 21 Vgl. Beck (1991, S. 192), der ausführt, dass im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Modernisierung in den 1990er-Jahren »die Institutionen der Industriegesellschaft ihre historische Grundlage [verlieren], […] widersprüchlicher, konflikthafter, individuenabhängiger« werden.

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autonome Lebensgestaltung zu kulturellen und institutionellen Forderungen geworden […]. Auf diese Weise kommt es zu einer subjektiv schwer durchschaubaren […] Verschmelzung der eigenen Ansprüche mit berufsund marktrelevanten Forderungen« (King et al., 2014, S. 286). Dies wirkt sich einerseits auch auf Beziehungen zu Arbeitskolleg*innen, Mitarbeiter*innen, Partner*innen und Kindern, zu Freund*innen aus, die vermutlich leicht einen instrumentellen Charakter bekommen. Es entwickelt sich zumindest die Forderung, diese an die Optimierungs- und Leistungsimperative anzugleichen und gesellschaftlich passförmig zu führen. Andererseits werden der beschleunigte gesellschaftliche Wandel und die Auswirkungen von (verinnerlichten) Optimierungs- und Leistungs­logiken in sozialpsychologischen Studien mit Erschöpfungszuständen und der Zunahme depressiver Erkrankungen in Verbindung gebracht (Ehrenberg, 2004): Gesprochen wird von einer »Angst, persönlich zu versagen oder sogar nutzlos zu sein« (Haubl, 2008b) oder der »Angst, sich wegen persönlichen Versagens schämen zu müssen« (Haubl, 2011, S. 387) sowie der »Wut, nicht zu genügen« (Bröck­ling, 2007, S. 290). Die beschleunigte gesellschaftliche Entwicklung wird in Verbindung gebracht mit »Scham und Selbstzweifel«, »Gefühle[n] von Wertlosigkeit« sowie mit »massiven Enttäuschungen«, die mit dem Gefühl zusammenhängen, trotz erschöpfender Anstrengung immer noch nicht zu genügen (Morgenroth, 2009, S. 107).22 Will man nun die Entwicklungen der Supervision ab den 1990er-Jahren verstehen, dann gilt es, »sich mehr an der Entwicklung der Arbeitswelt zu orientieren als an der Entwicklung von Beratungsmethoden« (Buchinger, 1999, S. 15). Tatsächlich wird eine Veränderung der Supervisionsthemen in den Interviews beschrieben: So treten klassische Supervisionssettings wie die Fallarbeit zumindest temporär hinter Themen zurück, die mit den Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten von Arbeitnehmer*innen in ihren Organisationen sowie den Auswirkungen der 22 Die Frage allerdings, wie Menschen sich Optimierungs- und Leistungsimperative in und jenseits der Arbeitswelt aneignen, über welche Fantasien, Affekte, psychische Bedeutungen und biografischen Dispositionen dies geschieht, ist bislang empirisch wenig untersucht (King et al., 2014, S. 284; King u. Gerisch, 2015; Schreiber et al., 2015). Vor diesem Hintergrund lässt sich postulieren, dass die Idee eines (kausalen) Zusammenhangs zwischen dem neoliberalen Wandel und bestimmten psychischen Folgen, wie sie etwa Ehrenberg (2004) oder Bröckling (2007, S. 290 f.) andeuten, zu kurz greift: Gefühle zu Scheitern und der Unzulänglichkeit, Selbstzweifel, Versagensängste oder Scham sind keine Aspekte, die sich zwingend und psychisch wie biografisch unvermittelt für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen allein aus diesem Wandel und auch nicht ausschließlich aus postfordistischen Arbeitsformen ableiten lassen.

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Facetten der Supervisionsgeschichte

Subjektivierung von organisationalen Konflikten, von Verantwortungszuschreibungen und von Ökonomisierungsprozessen zu tun haben. Exemplarisch sei in dieser Hinsicht eine Sequenz aus einem Interview mit der Supervisorin Helga O. angeführt. Sie schildert ausführlich die Ökonomisierung in den Non-Profit-Organisationen, in denen sie als Supervisorin tätig ist, und thematisiert, dass dies eine Veränderung ihres supervisorischen Arbeitens notwendig gemacht hat: »Die Bedarfe an Beratung im Non-Profit-Bereich [haben sich] durch die Kommerzialisierung […] auch ganz, ganz stark verändert […]. Das ist ja unglaublich, was da an Veränderung passiert. […] [Ich] habe da schon sehr intensiv diese schon angedeutete Veränderung durch die Kommerzialisierung erlebt, also zum Beispiel in der Behindertenhilfe. Wahnsinnig, was sich da geändert hat im Vergleich, als ich damals in meinem allerersten Beruf […] da war. Und was dann so um 2000 herum für Veränderungen passiert sind! Solche radikalen Auswirkungen für die unmittelbare Arbeit, also wirklich bis hin so zu den Kernaktivitäten der einzelnen Mitarbeiter, sei es Behindertenhilfe, sei es Altenwohnheim oder Krankenhaus, das sind die Organisationsfelder. Und in der Sozialarbeit sowieso, egal ob jetzt Bewährungshilfe oder […] die Jugendhilfe, was auch immer. Es ist so ein Paradigmenwechsel passiert in der Zeit, in der ich in der Supervision tätig bin, das ist schon umwerfend. Und damit hat sich meines Erachtens auch die supervisorische Aufgabe sehr geändert, dass es nicht nur darum geht, also jetzt sorgfältig auf Fallarbeit meinetwegen zu gucken, so wie sie es uns in [der Ausbildungseinrichtung; JL] noch mit auf den Weg gegeben haben, wie wichtig das ist mit Fallarbeit und so. […] Ich habe gemerkt, das reicht immer weniger aus, und es geht immer mehr darum, dass unser Klientel, das wir beraten, selber in ihren Personen immer mehr Unterstützung braucht, […] um dem gewappnet zu sein, und dass es immer weniger der Fall ist. […] Also meine Erfahrung ist die, dass sich auch die Aufgaben der Supervision seit Mitte der Neunziger unglaublich verändert haben durch den ökonomischen Druck und Zwang und die ehemals erworbenen Professionen oft dann gar nicht mehr so ausreichen. […] Ich habe gemerkt, dass sich in dem Supervisionssetting vieles auch gar nicht mehr bearbeiten lässt.«

Frau O. schildert anschließend eine Reihe von methodischen Fort- und Weiterbildungen, die sie gemacht hat und fährt dann fort: »Durch die Verbetriebswirtschaftlichung auch des Non-Profit-Bereichs, ist der Druck unglaublich gewachsen. […] Durch ein Mehr an Arbeitsaufgaben und Einsparung am Personal. Also das sind eigentlich so die Hauptpunkte in den Bereichen, in denen ich jetzt unterwegs bin als Supervisorin. Beispiel Altenwohnheime, die Zunahme an Dokumentationen ist wahnsinnig gewachsen. Da haben noch vor zehn Jahren oft Leute gearbeitet, die überhaupt keinen Computer bedienen können und mussten aber ihre Dokumentation am Computer durch-

Neoliberalismus und Re-Organisation der Erwerbsarbeit 93 führen. Da rasten die aus, ja? Und beklagen dann natürlich, dass ihnen aber die Zeit in der unmittelbaren Betreuung ihrer Bewohner fehlt. Und leiden fürchterlich darunter. Das kann ich ihnen supervisorisch aber nicht ausgleichen, also wie soll das gehen? Wenn sie dann in der Nachtwache als eine Person arbeiten, aber für sechzig Leute zuständig sind, und die Dementen nachts durch die Gegend laufen, was soll ich da supervisorisch noch machen? […] Also wir sprechen dann [in der Supervision; JL] nicht darüber, wie wird jetzt der Demente Karl Müller, … Wie bewältigen wir das jetzt […], damit wir ihn nicht festzurren müssen in der Nacht, was wir eigentlich alle gar nicht wollen? Wie bewältigen wir das oder was können wir da für ihn tun? Wir sprechen drüber, was die Arbeitsorganisation für ihn bedeutet, die uns zu viel abverlangt und wie kann das [der Leitung; JL] vermittelt werden? Da sind wir bei einem vollkommen anderen Thema.«

Die interviewten Supervisor*innen, die die genannten Veränderungen aufgreifen und über ihr eigenes supervisorisches Arbeiten nachdenken, berichten insgesamt weniger von Supervisionsprozessen, in denen die Reflexion dieser Themen und ihre negativen psychischen Effekte (Resignation, Ohnmachtsgefühle usw.) im Mittelpunkt stehen. Sie betonen, dass im Verlauf ihrer Supervisionstätigkeit ab etwa Mitte der 1990er-Jahre zunehmend auch die Suche nach und auch die Anleitung zu Wegen und Handlungsmöglichkeiten im Umgang der Arbeitnehmer*innen mit den neuen Arbeitsanforderungen und ihren organisationalen Kontexten im Mittelpunkt stehen: »Verbunden ist damit die Hoffnung, dass man als Tätiger (sic!) auch einen Einfluss auf Veränderungsprozesse und Entscheidungen hat. Diese Hoffnung zu klären, ist Aufgabe von Super­vision« (Hausinger, 2008, S. 182). So wundert es nicht, dass mit dem beschriebenen Wandel der Arbeitswelt innerhalb der Supervision organisationsanalytische Konzepte und Perspektiven noch relevanter wurden. Supervisor*innen waren aufgefordert, Organisationen in ihren Eigenlogiken, das heißt, in ihren Strukturen und Funktionen, Hierarchien und Beziehungen noch stärker anzuerkennen und sich kritisch auf sie einzulassen, ohne dabei die Subjekte aus dem Blick zu verlieren: Sie standen vor der Aufgabe, einer »subjektorientierten Ausrichtung als auch einer strukturorientierten Ausrichtung« systematisch gerecht zu werden (Hausinger, 2008, S. 117). Von besonderer theoretischer wie praktischer Relevanz für die Supervision haben sich hierbei solche Konzepte erwiesen, die Rollen als Schnittstellen von Personen und Organisationen fokussieren (Auer-Huntzinger u. Sievers, 1991; Beumer u. Sievers, 2001). Der geschilderte arbeitsweltliche Wandel veranlasst viele der interviewten Supervisor*innen zu der Frage, ob ihre supervisorische Qualifikation ausreicht, um auf diese Veränderungen professionell zu reagieren. In den Interviews finden sich grob vier Formen des Umgangs mit den neuen

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Facetten der Supervisionsgeschichte

Anforderungen an Supervisionsprozesse. Dies sind erstens eine selbstverständliche Einbeziehung von Organisationsthemen und -dynamiken in die Supervision, die Integration von Leitungskräften in Supervisionsprozesse und ein grundlegend veränderter Umgang mit Führungs- und Autoritätsthemen (Abschnitt 2.5.1). Zweitens findet eine enorme Wahrnehmung von Fortbildungen in den Bereichen Organisation, Team und Führung statt und hier besonders eine dezidierte Zuwendung zum Coaching (2.5.2). Drittens wird die Ökonomisierung und Vermarktlichung der Supervision selbst reflektiert (2.5.3). Viertens schließlich finden sich spezifische Schwierigkeiten, mit den neuen Anforderungen an die Supervision umzugehen, die sich aus dem Wandel der Arbeitswelt speisen (2.5.4). 2.5.1  Supervision und Organisation In den Interviews finden sich Beschreibungen von Supervisionsprozessen, in denen ein Wechsel zu einer stärker an Organisationen, ihren Dynamiken und Hierarchien orientierten Supervision gelingt. Bemerkenswert ist dabei eine große Kreativität und Bereitschaft von Supervisor*innen, neue Beratungsangebote und -formen zu entwickeln, um den veränderten Anforderungen gerecht zu werden. Diese reichen von professionsübergreifenden Supervisionssettings, in denen beispielsweise Betriebswirt*innen und Psychotherapeut*innen (aus einer Klinik) gemeinsam beraten werden, über flexible Beratungssettings, in denen Beratung nicht prozessbegleitend stattfindet, sondern bei Bedarf kurzfristig intensiv abgerufen werden kann, bis zu der Entwicklung von Beratungsmodellen, in denen Arbeitnehmer*innen organisationsintern eigene Qualitätskriterien für gute Arbeit entwickeln. Der Supervisor Michael K. erzählt von einem Supervisionsprozess in einer psychotherapeutischen Klinik, die an einen Investor verkauft wurde. Dies ließ betriebswirtschaftliche Fragen nach der Verwertbarkeit von Psychotherapie spürbarer werden. Die Reflexion und Anleitung zur Gestaltung des Umgangs mit solchen organisationalen Prozessen beschreibt Michael K. als einen neuen Wirkungsbereich der Supervision: »Ich kann Ihnen noch ein Beispiel sagen, das ist ganz neu. Es gibt hier […] eine sehr renommierte Privatklinik, eine […] Suchtklinik, die […] nicht über Kasse abrechnet, sondern nur privat, da kommen die Alkoholiker aus gutem Hause. […] Hat einen guten Ruf, da waren hervorragende Therapeuten tätig, ja, mit Namen, auch hervorragende Supervisoren. […] Jetzt komm ich dahin, was ist passiert? Die Klinik gehört nicht mehr dem [Besitzer], die Klinik wurde verkauft. Also der [Besitzer] hat die Klinik verkauft. Jetzt sage ich das mal: An eine Heuschrecke, die poliert die jetzt auf, ›macht die Braut schön‹, wie man da zu sagen pflegt, um sie wieder zu verkaufen. Na, wissen Sie, was das Thema

Neoliberalismus und Re-Organisation der Erwerbsarbeit 95 in der Supervision ist? ›Wie kann man das überleben? Wie kann man des überleben?‹ Ja und nicht […]: ›Wie kann man das Niveau halten?‹ Die Stellenmenge wurde gestrichen, da wird was gemacht, damit es billiger wird. Damit es sich lohnt, das Ding wieder zu verkaufen. Die wollen keine Therapie machen. […] Dieser Investor, der will die nur schön machen, um sie teurer zu verkaufen, um zu verdienen. Das sind die Probleme, und da sitzen sie dann, und dann muss man erst mal gucken, … Das [neue; JL] Management, die sind ja auch noch da. Und Therapeuten haben so einen antiinstiutionellen Affekt und die [Supervisand*innen; JL] sagen: ›Ooh, die kommen!‹ Da ist es erstmal wichtig, dass die diesem Management nicht nur feindlich gegenübertreten, sondern ein Gefühl kriegen: Das Management ist auch wichtig. […] Da wird plötzlich bekannt, dass einer von dem Management auch Arzt ist. Da sage ich: ›Ja, aber was sagt der als Arzt, wenn der, …‹ Da sagen die: ›Der ist eigentlich heimlich mit uns identifiziert.‹ Und da sage ich: ›Ja wunderbar, wenn der kommt, und das ist der, den [die Firmenzentrale, der Investor; JL] abgesandt hat […].‹ Jetzt sind sie dem erst gekränkt gegenübergetreten, weil plötzlich stand der da, hat geklopft, hat gesagt: ›Jetzt bin ich da, ich will euch unterstützen.‹ Alle hatten natürlich eine Riesenangst vor dem Kontrolleur. War ja auch alles verständlich, aber dann in der Supervision entwickelte es sich zu: ›Pass mal auf, den Kontrolleur […], den integrieren wir!‹ Ja, das ist dann zum Beispiel irgendwie so, denke ich, mein verändertes Territorium als Supervisor. Und das mache ich auch gerne!«

Ein zweites Beispiel: Alfred F. erzählt davon, dass er die Geschäftsführer*innen einer psychiatrischen Klinik in die (Fall-)Supervision mit Ärzt*innen integriert und diese daraufhin ihrer Managementaufgabe innerhalb der Klinik anders nachgehen: »Alfred F.:  Das ist manchmal so mühsam, weil […] ständig kommen die Anschläge von oben und man sieht, es geht um Kommerz und dann auch im zweiten Teil um die Klienten. Aber wenn es Konflikt zwischen Kommerz und Medizin gibt, ist klar, wer gewinnt, und dann die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter, … Und da kommt es an eine Stelle, wo ich sage: ›So will ich das nicht mehr.‹ Jan Lohl:  Und wo ist die genau? Alfred F.:  Naja, sie hören immer dasselbe. Die leiden ja, die Handlungsspielräume werden enger und so. Und dann sagen sie [die Mitarbeiter*innen, JL], sie können nix verändern und sagen: ›Ja, der Geschäftsführer kommt und sagt: pfft! […]‹ Es wiederholt sich! Dann gibt es [in der Supervision; JL] natürlich verschiedene Methoden. Ich habe immer geguckt, dass zum Beispiel in dem Leistungsteam die Geschäftsführer drin saßen. Ja, dass die nicht draußen saßen. Da hat man viel erreicht, wenn die Geschäftsführer bei den Therapeuten in Leitungsrollen, ja, in den [Supervisionen mit den; JL] Leitungsteams sitzen. Dann kriegen die was von der Therapie mit und ihre Ängste tun sich reduzieren, weil die haben Angst vor den Patienten, die Geschäftsführer. Das sind ja Betriebswirte, und dann haben sie so einen psychisch Kranken vor sich und wollen dann

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Facetten der Supervisionsgeschichte möglichst weit weg von denen. Ja, und das ein bisschen zusammenzubringen. Habe ich versucht, dass die immer ins Leitungsteam kamen. Und das waren gute Entwicklungen, weil die was verstanden haben von den Schwierigkeiten, die die Therapeuten haben und dann viel sensibler ihr Management gemacht haben.«

2.5.2  Supervision und Coaching In den Interviews wird angesichts des Wandels der Arbeitswelt regelmäßig auch von einer Stagnation des eigenen supervisorischen Arbeitens gesprochen, was einerseits in eine geradezu offensive Beteiligung an Fort- und Weiterbildungsangeboten in den Bereichen Team, Organisation und Führung mündet. Hierbei kommt dem Coaching eine besondere Bedeutung zu, fokussiert dieses doch gerade die Veränderung des beruflichen Handelns von Leitungskräften (vgl. zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Supervision und Coaching Haubl, 2008a). Exem­ plarisch angeführt sei das Interview mit Norbert N., der davon erzählt, wie es dazu kam, dass er zusätzlich zu einer Supervisionsausbildung eine Coaching­ausbildung gemacht hat: »Also erst mal habe ich eben immer irgendwelche Zusatzausbildungen gemacht, seit ich in diesem sozialen Bereich drin war. Das war für mich irgendwas Normales. Und das andere war, dass ich eben bei der Super­vision in den Organisationen das Gefühl hatte, es stagniert, und auch bei mir stagniert was. Ich brauche irgendwas anderes noch, was mir noch mal mehr Lust macht, das zu tun, weil es eben eine Zeit lang auch sehr dieses Jammern und Klagen gab und: ›Das ist doch alles so schrecklich.‹ Und schon am Ende einer Super­visionsstunde habe ich es da hingebracht, dass das so ein bisschen klarer war, dass es nicht nur die Arbeitsbedingungen waren, sondern dass es ja vielleicht auch ein bisschen irgendwas mit einem selber zu tun hatte. Was von manchen angenommen wurde, manchen nicht, es blieb aber stehen. Und die nächste Supervision kam und die Leute kamen von sich aus gar nicht mehr darauf zurück, sondern es gab dann ein neues Jammerfeld. […] Also für mich war klar, das mit dem Reflektieren ist zu wenig. Das passiert natürlich bei der Supervision logischerweise, aber ich habe es schon gerne, wenn jemand auch etwas verändern oder verbessern möchte. […] Und dann habe ich eine Coachingausbildung gemacht.«

2.5.3  Ökonomisierung und Vermarktlichung der Supervision Erstaunlich wenige der interviewten Supervisor*innen beschäftigen sich in den Interviews damit, dass die Supervision selbst ökonomischen Anforderungen, Optimierungs-, Leistungs- und Effizienzimperativen der Arbeits-

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welt ausgesetzt und unterworfen ist. Die Professionslogik der Supervision – so deuten es Interviewpartner*innen an – kann durch Logiken der Ökonomisierung und Vermarktlichung beeinträchtigt werden, nutzt Supervision Organisationen doch auch ökonomisch (Hausinger, 2008, S. 184): Sie trägt dazu bei, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten und fördert die Kompetenzen zur Selbstorganisation, unterstützt dabei, organisationale Konflikte anzugehen und zu lösen und kooperativ in Teams zu bearbeiten. So wird Supervision ab Mitte der 1990er-Jahren zu einer »ökonomisch verwertbaren Ware« (Kersting, 2000, S. 59). Wo dies geschieht, unterliegt Supervision unmittelbar einem Effizienz- und Optimierungsdruck, der auf ihre Rahmenbedingungen einwirkt und zum Beispiel als Verkürzung von oder enge Zielvorgabe für Supervisionsprozessen in Erscheinung tritt. Über veränderte Anforderungen an Supervisions- (und Coaching-) Prozesse in den 2000er-Jahren erzählt die Supervisorin Sandra L. Folgendes: »Sandra L.:  Also mir fällt dann sofort ein, dass das Thema Wirtschaftlichkeit in den Supervisionsprozessen heute übermächtig geworden ist. Also, dass man möglichst in drei Sitzungen ein Ergebnis erzielen soll, als hätte man eine zweijährige Therapie hinter sich gebracht. Auch in den Einrichtungen der Kirche. […] Und ich kenne es natürlich aus den Coachingprozessen. Also seit 2002 arbeite ich in einem Beratungsunternehmen, das in der Wirtschaft Coaching anbietet und mit Leuten, die im mittleren bis gehobenen Management arbeiten bis hin zu Vorständen. Das ist eine spezielle Form, die da durchgeführt wird, das sind Einjahres-Coachings. Also es gibt durchaus auch Halbjahres-­Coachings, aber das sind in der Regel Einjahres-Coachings für einen Bereichsleiter, sagen wir jetzt mal, von einem Pharmaunternehmen, der in diesem Jahr Zugang zu mir bekommt: Immer wenn er will, kann er Coaching abrufen. […] Erfahrungsgemäß ist es so, dass die Leute natürlich sehr beschäftigt sind. Ich habe es bis jetzt so erlebt, dass wir vierzehntägig einen Coaching-Prozess hatten, der dann eineinhalb bis zwei Stunden geht, bis hin zu einem monatlichen, der dann einen halben Tag geht. Kollegen von mir machen sogar eintägige Coachings, je nachdem wie die Abstände sind. Und da ist das Thema Wirtschaftlichkeit immer, also … […] Und da sehe ich eine gesellschaftliche Entwicklung dahingehend: Es muss unter dem Strich immer irgendwie ein Effekt erzielt worden sein, der aber sehr deutlich zu sehen sein muss. Und das war in den 1990er-Jahren nicht so, wo es noch normal war, dass man zwanzig Sitzungen pro Prozess hatte. Heute ist es normal, dass man zehn oder fünf Sitzungen pro Prozess hat. Da war nicht so ein Druck da. Also es wird ja auch durchaus Druck auf die Supervisoren ausgeübt. […] Sagen wir mal, ich habe eine Kitaleitung und ich spreche mit dem Kirchenvorstand und der sagt: ›Die muss aber in dem Prozess das und das lernen, das hätte ich gerne garantiert.‹ So ungefähr. Natürlich sage ich dann immer, das kann man nicht garantieren, weil das nicht von mir alleine abhängt. Aber überhaupt, den Wunsch mit Nachdruck so zu äußern, das war in den 1990er-Jahren nicht so

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ausgeprägt. Da kam das mal vor in der Regel bei Leuten, die keine Kenntnis von Supervision hatten, und da fand ich es auch nachvollziehbar. Aber das kommt heute auch bei Leuten, die Kenntnis von Supervision haben, also die selber schon Supervisionen gemacht haben. Und die müssten eigentlich wissen, dass es jetzt nicht wie ein Rezeptbuch verwendet werden kann. Jan Lohl:  Wie erklären Sie sich das? Sie haben ja beschrieben, in den 1990er-Jahren war es noch nicht so, ab Anfang der 2000er-Jahre hat es sich dahin entwickelt. Also haben Sie eine Idee, warum das so ist? Sandra L.:  Also ich kann es jetzt schwerpunktmäßig aus kirchlichen Zusammenhängen nennen, weil ich da halt auch viel drin arbeite. Und es war einfacher, eine bestimmte Summe, ein bestimmtes Budget zur Verfügung gestellt zu bekommen für Supervision in den 1990er-Jahren. Ich glaube auch, weil noch nicht so viel abgerufen wurde. Dann ist es bekannter geworden, es ist häufiger abgerufen worden, aber es stand nicht mehr Geld zur Verfügung, also musste das verteilt werden, statt auf zehn Töpfe, dann auf hundert Töpfe. Und das heißt, für die Einzelnen ist dann weniger da gewesen, und dann haben die gedacht, das kann man ja lösen, indem man dann halt schneller arbeitet. Also das ist sicherlich so ein Punkt. Und wenn man das jetzt von Wirtschaftsunternehmen her betrachtet, ich denke, da ist dieser Effizienzgedanke sowieso viel stärker da. Da geht es ja darum, Umsatz zu machen und dann wird es nicht viel anders gesehen in so einem Supervisions- oder Coachingprozess.«

2.5.4 Psychische Bedingungen des (Nicht-)Wandels der Beratungspraxis von älteren Supervisor*innen Es sind jedoch längst nicht alle Supervisor*innen, die ihre Tätigkeit angesichts sich wandelnder Arbeitsbedingungen verändern, und nicht allen gelingt es. So erzählt der Supervisor Frederik P., dass er mit seiner im Non-Profit-Bereich entwickelten Supervisionsmethode im Profit-Bereich nicht erfolgreich arbeiten kann: »Frederik P.:  Ich war bei [einem großen Wirtschaftsunternehmen als Super­ visor; JL] drin. Und ich habe eine Krise kommen sehen. Als sie kam, da dachte ich: ›Das wundert mich nicht!‹ Und mit den Geschäftsführern der [gut laufenden Standorte; JL] habe ich mal eine Beratung gemacht und bin voll auf die Schnauze geflogen. Jan Lohl: Warum? Frederik P.:  Warum? Weil die die Fragen, die ich gestellt habe, für Pillepalle hielten. Also, mit Selbstreflexion war da nix. Da hat einer zu mir gesagt: ›Herr P., ich weiß nicht, was Sie immer fragen! Wenn da vorne das Ziel ist und ich hinter meiner Herde mit der Peitsche herlaufe, dann werde ich schon dafür sorgen, dass sie dort hinkommt. Was wollen Sie mit ihrem selbstreflexiven Quatsch?‹ Das kam rüber. Und da bin ich richtig auf die Schnauze gefallen. […] Es war eine andere Kultur, würde ich heute auch nicht mehr machen, […] also die ist mir zu fremd.«

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Bemerkenswert ist nun, dass in vielen Fällen, in denen sich Schwierigkeiten einer Veränderung des supervisorischen Arbeitens zeigen, dies mit der Bindung an die Autorität der Dozierenden aus der eigenen Super­ visionsausbildung in den 1970er-Jahren zusammenhängt. Für eine methodische und theoretische Veränderung der eigenen super­visorischen Praxis scheint eine psychische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte der Supervision, der Sozialisation als Supervisor*in und der hierbei entwickelten »guten« symbolischen Repräsentanz der Supervision notwendig zu sein: Es braucht eine Art »innere Erlaubnis« (Christa P.), anders als die »Lernväter« (Bertram W.) und -mütter der Supervision zu arbeiten. Die Interviews zeigen, dass autoritäre, aggressive oder grenzverletzende Erfahrungen während der Ausbildung sowie eine Idealisierung der eigenen Ausbilder*innen die psychische Arbeit an dieser »Erlaubnis« erschweren. Dies soll abschließend verdeutlicht werden. Der Supervisor Bertram W., der seit Mitte der 1970er-Jahre als Supervisor arbeitet, erzählt Folgendes: »Naja, ich meine, der Neoliberalismus ist ja dann auch irgendwann auf die Bundesrepublik übergeschwappt und die Agenda [2010; JL] ist ja nun mal beschlossen worden, das ist ja auch eine Realität, und das hat die Themenentwicklung [in den Supervisionsprozessen; JL] wesentlich beeinflusst. Also plötzlich ging es gar nicht mehr darum: ›Du grüßt mich morgens immer nicht, was ist denn los?‹ und ›Magst du mich nicht?‹. Sondern da ging es eben darum, ich muss selber, also ich Klient, der ist Supervisand, muss selber hier mir meine Fälle akquirieren, damit mein Arbeitgeber mich finanziert, das waren plötzlich die Themen. Also es wurde ja der Arbeitskraftunternehmer dann irgendwann geboren oder Re-Organisationsprozesse in Organisationen. Oder: ›Ich muss am Tag drei Klienten sehen, ambulant, aktivierende Familienhilfe. Von dem einen zum andern fahre ich eine dreiviertel Stunde, das zahlt mir keiner. Ich komme gar nicht auf meine vierzig Stunden, es sei denn, ich arbeite sechzig.‹«

Herr W. erzählt weiter, dass in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die »klassische Fallbesprechung« und eine »Klärung der Beziehungsdynamik« in seinen supervisorischen Prozessen zurückgegangen sei. Stattdessen hätten sich Themen entwickelt, die mit dem Verhältnis zum/zur Arbeitgeber*in, mit einer zunehmenden Belastung und Selbstverantwortung der Arbeitnehmer*innen oder der Ökonomisierung der beruflichen Praxis von Sozialarbeiter*innen zusammenhingen. Angesichts dieser Veränderung supervisorischer Themen durch den Wandel der Arbeitswelt bemüht sich Herr W., seine supervisorische Praxis gerade nicht zu verändern: »Also ich hab immer versucht und versuch es bis heute, mir und meiner Vorgehensweise und meiner supervisorischen Haltung treu zu bleiben.« Gerade aufgrund der veränderten Supervisionsthemen

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versucht er als Supervisor, der sprichwörtliche »Fels in der Brandung zu bleiben und mich da nicht so schnell verführen zu lassen«. Dennoch ändert sich aufgrund der neuen Themenstellungen etwas in seiner supervisorischen Praxis, was Herr W. scheinbar mit einem schlechten Gewissen erlebt – unter Stottern sagt er: »Also, es gab Situationen, wo ich sehr auf der konkreten Handlungsebene dann mich –, oder wie ich es gesehen habe, bis hin zu – @Fast hätte ich gesagt, ich beichte Ihnen, nein, nein@. Bis hin zu: ›Das müssen Sie mit Ihrem Chef besprechen, wenn Sie sechzig Stunden arbeiten und nur vierzig Stunden abrechnen können‹ – also auf so einer realen Ebene, ist das dann auch passiert.« Herr W. erlebt die Veränderung der Supervisionsthemen als einen drohenden Verlust seiner supervisorischen Haltung, der er »treu« bleiben möchte. Gerade solche Themen der Supervisand*innen, die auf der »konkreten Handlungsebene« liegen, beschreibt er als eine »Verführung« zu etwas, das er (mir) beichten könnte. Die Metaphorik scheint eindeutig: Treue, Verführung, Beichte einerseits und andererseits, der Supervisor als »Fels in der Brandung«, über den die Welle des Neoliberalismus bloß »überschwappt«, der aber nicht weichgespült wird. Herr W. spricht von der Supervision auf eine metaphorische Weise wie von einer im Katholizismus geschlossenen »Ehe«, die dadurch gefährdet ist, dass einer der Ehepartner*innen sich zum Ehebruch »verführen« lässt, was als Sünde »gebeichtet« werden könnte. Davor will Herr W. seine Identität als Supervisor und seine supervisorische Praxis schützen und bleibt ihr daher »treu«. Wie diese Metaphorik zu verstehen ist, deutet sich an, wenn die emotionale Bindung von Herrn W. an die Personen berücksichtigt wird, die ihn in den 1970er-Jahren zum Supervisor ausbildeten. Herr W. beschreibt sie nicht nur als Vorbilder, sondern erlebt sie überhöht als »weise Leute«, die für ihn zu »Lernvätern« werden – eine Metapher, die er mehrfach im Interview verwendet. Die »Lernväter« sind ihm in seinem Erleben während seiner langjährigen Tätigkeit als Supervisor »treu« geblieben: Diese »Väter haben mich im Grunde genommen so schnell nicht verlassen«. Neue Themen in seiner supervisorischen Praxis, die sich nicht ohne Weiteres mit den supervisorischen Methoden und Haltungen der »Lernväter« bearbeiten lassen, scheint Herr W. als Verführung zu Untreue und zum Loyalitätsbruch zu erleben. Die sich in neuen Supervisionsthemen niederschlagenden neoliberalen gesellschaftlichen Veränderungen und der Wandel der Arbeitswelt bedrohen seine Bindung, seine Treue zu und seine Loyalität gegenüber seinen »Lernvätern« und damit eine zentrale Identifizierung, auf der seine supervisorische Identität gründet. Diese Bindung zu lockern und die eigene berufliche Identität unabhängig wei-

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terzuentwickeln, kommt in seinem Erleben scheinbar einer Sünde gleich, die bei ihm Beichtfantasien und daher möglicherweise Schuldgefühle und (soziale) Ängste auslöst. Eben dies aber erschwert eine Re-Orientierung der eigenen praktischen Arbeit hin zu veränderten supervisorischen Themen, ein Arbeiten mit veränderten Methoden und in organisationalen Kontexten. Bedenkenswert zumindest ist, dass genau dies letztlich auch mit einer Schwächung der eigenen Positionierung auf dem Beratungsmarkt einhergehen könnte. Auch die Supervisorin Christa P. spricht im Interview davon, dass sie – genau wie Herr W. – über lange Jahre einer bestimmten inneren Vorstellung von »gutem« supervisorischen Arbeiten gefolgt ist. Diese Vorstellung, die sie mit einem Introjekt – also einem »Fremdkörper« in der eigene Psyche – vergleicht, verbindet sie im Interview mit autoritären und beschämenden Erfahrungen während ihrer eigenen Supervisionsausbildung in den 1970er-Jahren. Ein neuer Umgang mit diesem Introjekt bedurfte erst einer »inneren Erlaubnis«, die eigene Arbeit als Supervisorin zu ändern: »Ich war früher sehr viel zielorientierter, zielausgerichteter, fast so im Sinne eines Introjekts: So hat man das in der Supervision zu machen. Und ich habe mir dann da meine innere Erlaubnis gegeben, es zu weiten […]. Das hat mir gutgetan und, ich denke, den Menschen, mit denen ich zu tun habe, tut es auch gut.«

Wie positiv sich eine Veränderung der eigenen supervisorischen Praxis auswirken kann, zeigt ein Interview mit der Supervisorin Inge G. Im Unterschied zu Bertram W. hat sie ab Mitte der 1990er-Jahre gezielt Leitungskräfte in die Supervision einbezogen. Dies bezeichnet sie als »wichtige Kulturveränderung in der Supervision«. Sie erzählt: Früher »hatte Supervision etwas von Unterwanderstiefel anziehen. Das war Anfang der 1980er-Jahre. Und der Supervisor wurde verstanden als einer, der dem Team hilft, sich gegen widerborstige Träger durchzusetzen oder die eigenen fachlichen Interessen in einem nicht passenden Träger durchzusetzen.«

Von dieser Haltung hat sich Frau G. in den 1990er-Jahren gelöst und Supervisionsaufträge nicht nur mit den Supervisand*innen verhandelt, sondern gemeinsam mit den Auftraggeber*innen vertraglich geregelt: »Ich habe aber dann den Dreieckskontrakt eingeführt. Also immer, wenn Arbeitsgeber Arbeitszeit zur Verfügung gestellt haben oder das Honorar bezahlt haben, habe ich die Arbeitgeber anfangs häufig genötigt, ihre Ziele zu verhandeln mit dem Team oder der Kraft und mit mir.«

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Die folgende Erzählung aus einem ihrer Supervisionsprozesse verdeutlicht, dass die selbst vollzogene Veränderung der eigenen Supervisionskultur, Beratungspraxen ermöglicht, die die Supervisorin ins Machtzentrum der Organisation führen und außerordentlich wirksame Interventionen in die Organisation hinein erlauben: »Inge E.:  Also zum Beispiel ein Frauenprojekt, Frauen gegen Erwerbslosigkeit mit einem Zentrum, wo also Beratung läuft, Kurse laufen und, und, und. Die Geschäftsführerin ist bei mir in Leitungssupervision. Und sie erzählt von einem Teamproblem und davon, dass die Koordinatorinnen von der Frau, die die Küche und die Cafeteria verwaltet, unverschämte Dinge verlangt haben. Also was die alles tun soll und wie die sich dann beschwert und wie schwierig das dann ist, damit umzugehen und so was. Und das ist eine sehr international arbeitende Einrichtung, also mit internationalem Personal. Und dann habe ich dann in einer Eingebung gefragt: ›Ja, zu welcher Gruppe gehört die denn eigentlich?‹ Dann stellt sich raus, die einzige Schwarze in dem ganzen Laden. Und dann hatten wir das natürlich auf dem Plan, ja. Jan Lohl:  Und was war dann die Stoßrichtung der Supervision? Inge E.:  Die Stoßrichtung der Supervision war, dass die Geschäftsführerin nicht den Weg gegangen ist, diese Frau zu unterstützen und bei den anderen um Verständnis zu werben oder die zu maßregeln, weil sie die wie ihre Dienstmagd behandeln. Sondern die Geschäftsführerin hat dieser schwarzen Küchenkraft zusätzliche Aufgaben gegeben und sie autorisiert, bestimmte Interventionen zu machen in ihrem Arbeitsbereich, wo die anderen nichts zu sagen hatten. Also durch die Stärkung dieser Frau ist das Ding dann in Gang gekommen. Schön, nicht?«

Gerade durch die Zusammenarbeit mit der Leitung bewirkt die Super­ vision, dass die Leiterin ein Empowerment der afrodeutschen Mitarbeiterin vorantreiben und so dem Alltagsrassismus durch eine Intervention in die Organisation entgegenwirken kann. Deutlich wird, dass die Super­ visorin damit innerhalb der Hierarchien und Strukturen der Organisation arbeitet und ihr gerade dies ermöglicht, professionell an brennenden gesellschaftlichen Zeitthemen zu arbeiten.

3 Schlussbemerkungen

Dieses Buch stellt zentrale Ergebnisse einer empirischen Studie zur Sozialgeschichte der Supervision vor. Diese verdeutlichen, dass die hier untersuchten Phasen der Entwicklung der Supervision eng verwoben sind mit politischen, gesellschaftlichen und arbeitsweltlichen Veränderungen. Die Supervision als eigenständige Beratungsform entwickelt sich in Inter­aktion mit makro-, meso- und mikrosozialen Prozessen: etwa den Demo­kratisierungsbemühungen nach dem Nationalsozialismus, dem Individualisierungsprozess in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder der innerbetrieblichen Re-Organisationsprozesse der Erwerbsarbeit in den vergangenen 25 Jahren. Supervision ist ein soziale Praxis und als solche durch Veränderung definiert. Die Ergebnisse des Projektes verdeutlichen aber ebenfalls, dass Supervision diesen Veränderungen nicht unterworfen ist, sondern gerade aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen die institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten und Gelingensbedingungen dieser Prozesse fördern kann: Erinnert sei an den Einfluss der US-amerikanischen Methoden der Sozialarbeit, zu denen Supervision im Kern dazugehört, unter deren Einfluss in den sozialen und pädagogischen Institutionen in den Nachkriegsjahrzenten gegen das nationalsozialistische Erbe und gegen autoritäre Erziehungstradition angearbeitet wurde. Erinnert sei auch an die gesellschaftlich bedingte Orientierungslosigkeit und die Bildungsabhängigkeit vieler Menschen im Rahmen des Individualisierungsschubes, die Supervision als Fortbildungsmöglichkeit und als Beratungsform aufgegriffen hat. Und erinnert sei an die gravierenden Veränderungen der Organisation von Erwerbsarbeit durch ihre Ökonomisierung und Subjektivierung, auf die Supervision mit neuen Beratungssettings reagiert. Falsch wäre es allerdings, die Geschichte der Supervision als eine Ge­schichte ausschließlichen Gelingens zu (be)schreiben. Liefern die Projektergebnisse doch auch Einsichten in Untiefen der Supervisionsentwicklung und in bislang wenig beachtete und thematisierte Facetten ihrer Geschichte: Erwähnt seien hier vor allem die um Macht und Autorität, um Grenzverletzungen und die Folgen gruppendynamischen

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Schlussbemerkungen

Arbeitens kreisenden und ethisch problematischen Aspekte von Supervisionsausbildungen in den 1970er-Jahren. Das diese und weitere, einer glatten Identität der Supervision abträglichen, Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision sichtbar werden konnten, ist unter methodologischen Gesichtspunkten der gewählten Forschungsperspektive zu verdanken, die sich an der Gedächtnistheorie von Jan Assmann orientiert. Es hat sich als außerordentlich erkenntnisfördernd erwiesen, einen empirischen Zugang zur Geschichte der Supervision über ihr kommunikatives Gedächtnis zu suchen. Deutlich wird so, dass es neben der hegemonialen Geschichte der Supervision und ihren Masternarrativen eine auf berufsbiografischen Erfahrungen beruhende Alltagsgeschichte der Supervision gibt. Diese bestätigt die öffentlichen Bilder und Vorstellungen der Supervisionsgeschichte, ergänzt, korrigiert und irritiert sie aber auch. Die vorliegende Studie trägt dazu bei, Facetten dieser Geschichte in das kulturelle Gedächtnis der Supervision zu überführen. Aufgegriffen werden soll abschließend der in dem Abschnitt zum Forschungsstand (1.2) formulierte Aspekt, dass viele Publikationen zur Supervisionsgeschichte diese nicht nur aus einem Erkenntnisinteresse heraus bearbeiten, sondern um die eigene Herkunft und eigene Identität der Supervision ringen. Zeigen lässt sich nun, dass die interviewten Angehörigen der Gründungsgeneration der Supervision in den Nachkriegsjahrzenten eine historisch spezifische, »gute« symbolische Selbstrepräsentanz der Supervision (mit)entwickelten, die Vorstellungen von Herkunft, Bedeutung und Identität impliziert. Diese Repräsentanz entwirft Supervision als reflexive Beratungsform, die der Demokratisierung, der verantwortlichen gesellschaftlichen Veränderung und des kommunikativen Austausches verpflichtet ist und sich gegen Autoritarismus wendet. Ich möchte abschließend vorschlagen, diese »gute« symbolische Selbstrepräsentanz aus der Perspektive des britischen Psychoanalytikers Christopher Bollas als »Generationsobjekte« der Gründungsgeneration der Supervision zu verstehen. Generationsobjekte sind »jene Phänomene, die wir nutzen, um uns eine Generationsidentität zu schaffen«, die weitgehend unbewusst ist: »Jede Generation wählt sich ihre Generationsobjekte, Personen, Ereignisse, Dinge, die für die Identität dieser Generation eine besondere Bedeutung haben. Alle Generationsobjekte sind auch für eine andere Generation potentiell signifikant – zum Beispiel die Beatles – aber diese Generationenobjekte haben dann gewöhnlich eine andere Bedeutung. […] Generationenobjekte sind mnemisch: Sie bewahren etwas von den Erfahrungen unserer Zeit. Und doch sind Generationenobjekte idiosynkratisch: Es sind Objekte, die das Verständnis, das wir von unserer Generationenzeit haben, weitergeben« (Bollas, 2000, S. 238).

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Möglicherweise fungiert die symbolische Selbstrepräsentanz von Supervision, die die Gründungsgeneration der Supervision entwickelt hat, als Generationsobjekt, das auf ihre je eigene Geschichte (mit) der Super­ vision verweist. Aber – das macht die vorliegende Studie deutlich – es verweist auch auf die Geschichte der deutschen Gesellschaft und die der vorangehenden Generationen (Nationalsozialismus, Autoritarismus, Shoah). Auf diese Geschichte reagiert die Gründungsgeneration der Supervision mit der Entwicklung ihres Generationsobjekts auf eine spezifische Weise: »Typische Generationsobjekte sind Gegenentwürfe« (Schneider, 2004, S. 238). Bedeutsam ist nun, dass dann, wenn berufliche Praxen wie die Supervision zu Generationenobjekten werden, diese stärker als kulturelle Objekte (Riviera, Käfer, Beatles, Techno, Kapuzenpulli usw.) mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sind. Sprich: Die Träger solcher Generationsobjekte sind aufgrund des arbeitsweltlichen und professionslogischen Kontextes dieser Objekte gesellschaftlich und institutionell, vor allem aber aufgrund der Logik von Professionsentwicklungen, nicht einfach nur mit dem Altern ihrer Generationenobjekte beschäftigt. Sie sind in stärkerem Maße mit der Forderung und Erwartung konfrontiert, diese zu verändern: sie in ihrer subjektiven Bedeutung zu variieren und historisch zu verorten. Was für die Professionsentwicklung erforderlich ist – die Anpassung von Supervisionsformen an die gewandelten arbeitsweltlichen und gesellschaft­lichen Anforderungen – ist für die Angehörigen der Gründungsgeneration der Supervision vermutlich leicht mit Gefühlen des Verrates, der Selbstaufgabe und vielleicht sogar des Sinn- und Identitätsverlustes begleitet. Die historische Verortung und die Variation von Generationenobjekten ist psychosoziale Arbeit, die nicht ohne jene Prozesse auskommt, die Sigmund Freud (1917) als Trauer und Melancholie bezeichnet hat. Gelingt diese Arbeit an der Variation von Generationsobjekten nicht, ist eine Erstarrung der supervisorischen Praxis die Folge. Verläuft sie in Formen oberflächlicher Anpassungen – etwa durch die Überbetonung der veränderten Anforderung an Supervision oder einer Idealisierung etwa des Coachings –, dann entstehen leicht Gefühle, historisch zu kurz gekommen zu sein oder zu wenig bekommen zu haben, vor allem aber eine erhöhte Aggressivität gegen das »Alte«, das in Form des Generations­objekts doch das entfremdete Eigene ist. Es entsteht dann die Schwierigkeit, als Super­ visor*in in Würde zu altern. Dort allerdings, wo eine Variation des Generationsobjektes auf Basis psychischer Arbeit gelingt, altern Supervisoren aus der Gründungsgeneration, indem sie eine Phase des eigenen beruflichen Schaffens abschließen, ohne sie aufzugeben. Sie brechen nicht hektisch zu neuen Ufern auf, sondern arbeiten und leben unter veränderten psychosozialen Bedingungen in ihrer eigenen Zeit: der Gegenwart.

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Schlussbemerkungen

Eine Reflexion der Forschungsbeziehungen und der Geschichte des Forschungsprojektes, die im Rahmen dieser Publikation nicht dargestellt werden kann, zeigt, dass in jedem Interview und jedem Gespräch über das Projekt stets die Anforderung an den Forscher enthalten war, eine guten Umgang mit dem Generationsobjekt der Gründergeneration zu finden, das heißt, es vor allem in seiner Güte, Schönheit und Sinnhaftigkeit zu entdecken, wahrzunehmen und als narzisstischen Identitätsanker zu bestätigen. Dieser Anforderung gegenüber hat die Studie eine konfliktreiche Forschungsstrategie gewählt, die nicht primär auf die Bestätigung von Identität und Sinn, sondern auf die Erkenntnis von psychosozialen, gesellschaftlichen und historischen Verläufen zielt. Die hiermit abgeschlossene Studie trägt so zu einem Transfer von Facetten der Supervisionsgeschichte und von Generationsobjekten in das kulturelle Gedächtnis der Supervision bei. Fortzusetzen wäre die Arbeit an der Geschichte der Supervision nicht nur wissenschaftlich, sondern vor allem praktisch – innerhalb der Community nicht nur der älteren Supervisor*innen – hier erst könnten sie identitätsrelevant werden. Die Ergebnisse der Studie sind dem ebenso zugeneigt, wie der Verfasser dieses Buches.

Literatur

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Dank

Diese Studie ist durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision gefördert worden; ihr gilt mein ausdrücklicher Dank zuallererst. Nicht möglich gewesen wäre diese Studie ohne die Unterstützung, das Interesse und die Motivation von Jörg Fellermann, dem viel zu früh verstor­ benen ehemaligen Geschäftsführer der DGSv. Ich bin ihm dankbar und wünschte, ich könnte ihm diese Publikation überreichen. Der Abschluss der Studie hat lange Jahre gedauert, viele Konflikte durchlitten und unter einer schweren Geburt das Licht der Welt erblickt. Durch stete Nachfrage, Motivation und wohlwollende Kritik haben Sofia Bengel und Paul Fortmeier diesen Abschluss zu guter Letzt mit Nachdruck vorangetrieben. Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben. Dafür bin ich ihnen ausgesprochen dankbar. Diese Studie basiert auf empirischen Interviews mit älteren Supervisor*innen. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Durchgeführt wurde diese Studie am Sigmund-Freud-Institut, das institutionelle Rahmenbedingungen und große Forschungsfreiheiten garantiert. Rolf Haubl, der ehemalige Direktor des SFI, hat die Entstehung der Studie begrüßt und mich über seine Amtszeit hinaus bei der Durchführung wissenschaftlich beraten und letztlich diese Publikation kritisch gegengelesen. Vera King schließlich hat mir nachsichtig Raum gegeben, um diese Publikation fertig zu schreiben. Auch dafür bin ich beiden dankbar. Drittmittelforschung wäre ohne institutionelle Rahmenbedingungen nicht möglich, Gelder müssen verbucht, Reisekosten abgerechnet und Budgets gut verwaltet werden. Mein Dank gilt Axel Scharfenberg, Panja Schweder und Elke Weyrach. Qualitative Forschung braucht Interpretationsgruppen – für ihre Interpretationskompetenz bedanke ich mich besonders bei Nora Alsdorf, Ullrich Beumer, Silja Kotte und Sebastian Jentsch, Ina Kulic und Julian Fritsch. Vor der Publikation hat Edeltrud Freitag-Becker den Text gegen­gelesen, kritisch kommentiert und mich ermutigt. Danke!