Unarten: Kleist und das Gesetz der Gattung 9783839435007

Of dogs, goblins, and teddy bears: A critical and naughty examination of the concept of genre around 1800.

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Unarten: Kleist und das Gesetz der Gattung
 9783839435007

Table of contents :
Inhalt
Einleitung. Kleists Gattungsarbeit an Brief und Tragödie
I. GATTUNGSARBEIT: SYSTEM, KLASSIFIKATION, FORM
1. Gattungsgeschichten
„Alles, was eine Gestalt hat“. Zur Kultur- und Soziopoetik der literarischen Gattungen, mit Blick auf Kleist
Einzigartigkeit. Die Logik des Genuinen und ihre Genealogie aus der Logik
Psychosomatik und Theater. Das prekäre Gesetz der Gattung bei Schiller und Kleist
Im Banne des ‚absolut Bösen‘. Eine andere Genealogie der Gattung
2. Reproduktion und Repräsentation
Urszenen der Zerreißung. Zur Überschreitung von Gattungsgrenzen in Penthesilea
Koboldartig beieinander. Märchenhaftes Geschlecht im Lustspiel Amphitryon
Gräuel entdecken. Genologische Demonstrationen im Käthchen von Heilbronn
Schlachtung spielen. Zum Fall unartiger Kinder in den Berliner Abendblättern
II. BRIEFVERKEHR: EINSTIEGE, UNFÄLLE, ÜBERSPRÜNGE
The Fast and the Furious, Juni 1801
III. SPEZIFIKA: (UN-)ARTEN UND KLEINE FORMEN
1. Schreibarten: Anekdote, Novelle, Essay
Prosa der Welt. Kleists Journalismus und die Anekdoten
(Un-)Arten des Faktischen. Tatsachen und Anekdoten in Kleists Berliner Abendblättern
Exemplum und Novelle. Überlegungen zu einer Mängelgattung bei Cervantes und Kleist
Experimentelle Maieutik. Kleists Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden als literarisch-naturwissenschaftlicher Hybrid
2. Tierarten: Bären, Hunde, Pferde
Die Adresse des Bären. Kleists Marionettentheater und die Anekdoten der Tierseelenkunde
Off Cage. Kleists Herrmannsbärin
Tolle Hunde. Kleists Poetologie und der Tollwutdiskurs
Dressieren, Führen, Erziehen. Zur Kritik von Gewaltverhältnissen in zwei Fabeln von Kleist
Autor*innen
Siglen

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Andrea Allerkamp, Matthias Preuss, Sebastian Schönbeck (Hg.) Unarten

Lettre

Andrea Allerkamp ist Professorin für Westeuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Mitherausgeberin des Kleist-Jahrbuchs. Matthias Preuss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg »Das Dokumentarische« der Ruhr-Universität Bochum. Sebastian Schönbeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Andrea Allerkamp, Matthias Preuss, Sebastian Schönbeck (Hg.)

Unarten Kleist und das Gesetz der Gattung

Der Druck des Bandes wurde realisiert mit Mitteln des Lehrstuhls für Westeuropäische Literaturen der Europa-Universität Viadrina. Die dem Band vorausgegangene Tagung wurde ermöglicht durch eine Förderung des Viadrina Centers B/ORDERS IN MOTION und durch die Unterstützung des Kleist-Museums in Frankfurt (Oder).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gottfried Ludwig Brauer: Der tolle Hund, nach seinen charakteristischen Kennzeichen dargestellt. Nebst den nöthigsten und zweckmäßigsten Mitteln wider den tollen Hundebiß. Leipzig 1812, S. 9. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3500-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3500-7 https://doi.org/10.14361/9783839435007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung. Kleists Gattungsarbeit an Brief und Tragödie

Andrea Allerkamp, Matthias Preuss, Sebastian Schönbeck | 9

I. GATTUNGSARBEIT: SYSTEM, KLASSIFIKATION, FORM 1. Gattungsgeschichten „Alles, was eine Gestalt hat“. Zur Kultur- und Soziopoetik der literarischen Gattungen, mit Blick auf Kleist

Werner Michler | 51 Einzigartigkeit. Die Logik des Genuinen und ihre Genealogie aus der Logik

Stefan Färber | 71 Psychosomatik und Theater. Das prekäre Gesetz der Gattung bei Schiller und Kleist

Sophie Witt | 93 Im Banne des ‚absolut Bösen‘. Eine andere Genealogie der Gattung

László F. Földényi | 113 2. Reproduktion und Repräsentation Urszenen der Zerreißung. Zur Überschreitung von Gattungsgrenzen in Penthesilea

Andrea Allerkamp | 135 Koboldartig beieinander. Märchenhaftes Geschlecht im Lustspiel Amphitryon

Katrin Pahl | 155

Gräuel entdecken. Genologische Demonstrationen im Käthchen von Heilbronn

Matthias Preuss | 169 Schlachtung spielen. Zum Fall unartiger Kinder in den Berliner Abendblättern

Alexander Kling | 189

II. BRIEFVERKEHR: EINSTIEGE, UNFÄLLE, ÜBERSPRÜNGE The Fast and the Furious, Juni 1801

Marcel Beyer | 213

III. SPEZIFIKA: (UN-)ARTEN UND KLEINE FORMEN 1. Schreibarten: Anekdote, Novelle, Essay Prosa der Welt. Kleists Journalismus und die Anekdoten

Rüdiger Campe | 235 (Un-)Arten des Faktischen. Tatsachen und Anekdoten in Kleists Berliner Abendblättern

Johannes F. Lehmann | 265 Exemplum und Novelle. Überlegungen zu einer Mängelgattung bei Cervantes und Kleist

Pablo Valdivia Orozco | 285 Experimentelle Maieutik. Kleists Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden als literarisch-naturwissenschaftlicher Hybrid

Dan Gorenstein | 305

2. Tierarten: Bären, Hunde, Pferde Die Adresse des Bären. Kleists Marionettentheater und die Anekdoten der Tierseelenkunde

Dietmar Schmidt | 329 Off Cage. Kleists Herrmannsbärin

Roland Borgards | 355 Tolle Hunde. Kleists Poetologie und der Tollwutdiskurs

Sebastian Schönbeck | 371 Dressieren, Führen, Erziehen. Zur Kritik von Gewaltverhältnissen in zwei Fabeln von Kleist

Jonas Teupert | 391

Autor*innen | 411 Siglen | 415

Einleitung Kleists Gattungsarbeit an Brief und Tragödie A NDREA A LLERKAMP , M ATTHIAS P REUSS , S EBASTIAN S CHÖNBECK

A NFANG

UND

E NDE

Die erste Gattung: ein Brief?1 Heinrich von Kleist beginnt das Briefeschreiben vermutlich im Jahr 1792 und führt es bis zum Tag seines Suizids, der noch post1

Eine Vielzahl jüngerer Publikationen rückt die Briefe Kleists in den Fokus. Von den vielen ertragreichen und erhellenden Beiträgen können hier leider nur einige genannt werden: Milena Rolka: „Selbst-Bildung durch Shakespeare: die Shakespeare-Rezeption in den Briefen Heinrich von Kleists“, in: KJb 2017, S. 196–212; Barbara Gribnitz: „Über Felleisen, Hemden und Marmorplatten. Gegenstände in Kleists Briefen“, in: KJb 2015, S. 150–170; Joachim Knape: „Fundamentale Ambiguität. Kleists ‚Roman‘ seiner ‚Liebe‘ zu Wilhelmine in Briefen“, in: Kleist in der Schweiz – Kleist und die Schweiz, hg. v. Anett Lütteken, Carsten Zelle und Günter de Bruyn, Hannover 2015, S. 263–287; Hans Ulrich Gumbrecht: „Starke Momente in Kleists Briefen“, in: Kleist revisited, hg. v. dems. und Frederike Knüpling, Paderborn 2014, S. 97–101; Ingo Breuer, Katarzyna Jastal und Pawel Zarychta (Hg.): Gesprächsspiele und Ideenmagazine: Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800, Köln, Wien 2013. Das Kleist-Jahrbuch 2013 versammelt die Beiträge der Jahrestagung der Kleist-Gesellschaft aus dem Jahr 2012, die unter dem Titel Kleists Briefe stattfand. Dazu die Einleitung von Anne Fleig: „Kleists Briefe – Versatzstücke der Autorschaft. Eine Einleitung“, in: KJb 2013, S. 23–30; Inka Kording: „‚Biete Brief, wünsche Kuss‘. Tauschgeschäfte des Ich in den Briefen Heinrich von Kleists“, in: Tauschen und Täuschen. Kleist und (die) Ökonomie, hg. v. Christine Künzel und Bernd Hamacher, Frankfurt a. M. 2013, S. 55–74; Martin Roussell: „Kleists Briefe und Tod“, in: ebd., S. 237–260; Jürgen Daiber: „‚[A]lle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel‘. Narrative Konstruktionen des urbanen Raumes in Heinrich von Kleists Briefen aus Paris“, in: Aurora 70-71 (2010-

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alisch angekündigt wird, fort.2 Der erste edierte Brief ist, laut Brandenburger Ausgabe, „versehentlich“3 mit dem Datum „d 13t Maerz 1792“4 überschrieben; im letzten Brief der veröffentlichten Korrespondenz wird eilig ein Datum notiert und zugleich die Datierung infrage gestellt: „man sagt hier d 21t Nov; wir wissen aber nicht ob es wahr ist.“5 Diese beiden Briefe flankieren die überlieferte Korrespondenz eines Dichters, der sich wie kaum ein anderer der Medialität seines Schreibens bewusst war. Wir wissen, dass die edierten Dokumente nur die Hälfte der tatsächlich geschriebenen Briefe umfassen.6 Der epistolarische Torso mit seinen 2011), S. 113–126; Gisela Dischner: ‚der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele‘. Die Briefe Heinrich von Kleists als Teil seines Werks, Bielefeld 2012; Peter Staengle: „‚Wenn nur die Briefe nicht gehindert werden!‘. Zu Überlieferung und Edition der Briefe Heinrich von Kleists“, in: Études germaniques 1 (2012), S. 163–174; Inge Stephan: „Traumpfade des Glücks: Genderdiskurse in Heinrich von Kleists Briefen und Werken“, in: Seminar 47 (2011), S. 204–20; Jeffrey Champlin: „BOMBENPOST 2011. Zur Rezeption von Kleists Briefen“, in: KJb 2010, S. 170–177; Günter Blamberger: „Ökonomie des Opfers: Kleists Todes-Briefe“, in: Adressat Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, Paderborn 2008, S. 145–160. Die Ausgabe 20 der Beiträge zur Kleist-Forschung aus dem Jahr 2006 widmet sich dem Thema „Kleists Briefwechsel“. 2

Vgl. die letzten Sätze Kleists im Brief an Ernst Friedrich Peguilhen, 21. November 1811, in: DKV IV, S. 513–516, hier S. 516: „Kommen Sie recht bald zu Stimmings hinaus, mein liebster Peguillhin, damit Sie uns bestatten können. Die Kosten, was mich betrifft, werden ihnen von Frankfurt aus, von meiner Schwester Ulrike wieder erstattet werden. – Die Vogeln bemerkt noch, daß zu dem Koffer mit dem messingnen Vorhängeschloss, der in Berlin, in ihrer Gesindestube steht, und worin viele Commissionen sind, der Schlüssel hier versiegelt in dem hölzernen Kasten liegt. – Ich glaube ich habe dies schon einmal geschrieben, aber die Vogel besteht darauf, daß ich es noch einmal schreibe.“ Die postalische Aktivität von Kleist und Vogel geht also über ihre Lebenszeit hinaus.

3

BKA IV/1, S. 7.

4

Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März 1793, in: DKV IV, S. 9–16, hier S. 9.

5

Brief an Ernst Friedrich Peguilhen, 21. November 1811, in: DKV IV, S. 513–516, hier S. 515. Zur Frage der Datierung vgl. Klaus Müller-Salget: „Heinrich, Marie und Ulrike von Kleist. Zur Datierung und Deutung der Briefe vom Herbst 1811“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 543–554. Der im Inhalt dargelegte Suizid spricht jedenfalls für das einschlägige Datum 21. November 1811.

6

Vgl. Klaus Müller-Salget: „Briefe“, in: KHb, S. 180–183, hier S. 180. Vgl. auch Ders.: „Heinrich von Kleists Briefwerk. Probleme der Edition eines mehrfach fragmentierten

E INLEITUNG

| 11

unsicheren Datierungen konfrontiert uns mit der Einsicht, dass es sich bei der Gattungsbezeichnung „Brief“ vor allem um eine Ordnung stiftende Klassifizierung handelt – sowohl philologisch als auch poetologisch. Gehört der Brief damit schon zu den literarischen Gattungen, die Kleist zu schreiben versucht? Mit dem Brief stellt sich die Frage, wo Literatur anfängt und wo sie endet. Texte wie Brief eines jungen Dichters an einen jungen Mahler, Brief eines Mahlers an seinen Sohn, Brief der Gräfinn Piper oder Brief eines Dichters an einen anderen, allesamt aus den Berliner Abendblättern, verweisen auf einen fiktionalen Modus. Die Unterscheidung von bezeugendem und fingiertem Brief erschwert die Abgrenzung von dichterischer Einbildungskraft. Kleists Briefe vollziehen oft fließende Übergänge zwischen Dokument, Biografie, Schauspiel, Lehre, Exerzitium, Selbstgespräch, Essay oder Dialog.7 Sie enthalten eine eigene Gattungspoetologie, wie im fingierten Brief an Rühle von Lilienstern, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, exemplarisch erkennbar wird. Reflexionen zur Verfertigung einer Gattung sind überhaupt charakteristisch für viele seiner Texte. Die unscharfe Unterscheidung zwischen Fiktion und Lebenswelt erscheint wie ein Programm, das der Briefform eine prominente Stellung über die Privatzeugnisse hinaus einräumt. Briefe kommen schließlich auch in jenen Texten vor, bei denen es weniger Probleme bereitete, sie zu Literatur zu erklären. In Michael Kohlhaas führt der Protagonist eine Korrespondenz mit der Dresdner Justiz und mit Martin Luther; in Der zerbrochne Krug zeigt Eve Walter am Ende einen Brief, in dem Adam nach Ostindien zitiert wird. Walter poltert: „Der Brief ist falsch!“8 In Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik dient ein „Brief des Prädicanten“ als letztes Zeugnis der verschollenen Jünglinge, deren Mutter eine „gerichtliche Untersuchung[]“9 über den Verbleib der Söhne anstellt. In Die Verlobung von St. Torsos“, in: ‚Ich an Dich‘. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen, hg. v. Werner Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller, Innsbruck 2001, S. 115–131. 7

Justus Fetscher beschreibt den Zusammenhang zwischen Briefen und gedruckten Texten als „osmotische Übergangszone“. Justus Fetscher: „Schrift verkehrt. Über Kleists Briefwerk“, in: Beiträge zur Kleistforschung 20 (2006), S. 105–128, hier S. 112. Zum ersten Briefband (IV/1) schreibt Peter Staengle etwa: „Eine schärfere Differenzierung, etwa zwischen den Genres Brief und Aufsatz, verbietet sich insbesondere angesichts der Schreiben an Wilhelmine v. Zenge, die den Rahmen des Privatbriefs sprengen; desgleichen eine Unterscheidung zwischen eigentlichen Briefen und briefähnlichen Schreiben.“ Peter Staengle: „Zu dieser Ausgabe“, in: BKA IV/1, S. 557–562, hier S. 560.

8

Heinrich von Kleist: „Der zerbrochne Krug“, in: BKA I/3, S. 146, Vs. 1927.

9

Heinrich von Kleist: „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende)“, in: BKA II/5, S.75–104, hier S. 82f.

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Domingo kündigt Toni in einem Brief an, dass sie ihren Plan in die Tat umsetzen wird. Lauter Briefe also. Ob es sich schon um unartige, die Gattungsgrenzen um 1800 überschreitende Briefe handelt, soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Halten wir zunächst fest, dass die Unartigkeit als Verstoß gegen Normpoetiken aufgefasst werden kann. Von einer hybriden Form berichtet bereits der erste überlieferte Brief in Kleists Korrespondenz. Der Briefeschreiber bittet dort alle seine „Angehörigen, Teilnehmer[] u Freunde[]“ darum, „[s]einen Mischmasch von Brief nicht zu kritisiren u genau zu betrachten“.10 Tatsächlich könnte damit das Verhältnis von Brief und „klassischer Gattungspoetik“11 infrage stehen. Das erweiterte Spektrum der Adressierten – Kleist schreibt nicht ausschließlich an seine Tante Auguste Helene von Massow – ist ein Indiz für die Vermischung verschiedener (Brief-)Gattungen. Dieser romantisierenden Poetologie entspricht eine vereinnahmende Rhetorik. Die höfliche Verbeugung zu Beginn des Briefs ist in eine captatio benevolentiae gekleidet, die dafür spricht, dass mit einem größeren Publikum gerechnet wird.

A DRESSIERUNG

UND

Z IRKULATION

An wen richten sich die Briefe von Kleist? Der Adressat*innen-Bezug stellt – neben dem Ich-Bezug und dem Sach-Bezug – einen poetischen Grundpfeiler der Brief-Poetiken seit der Antike dar.12 In der Aufklärungspoetik Christian Fürchtegott Gellerts ist die Frage der Adressierung zentral. Der Brief wird dort als Fortsetzung des Gesprächs mit anderen Mitteln aufgefasst. Er tritt in ein Substitutionsverhältnis mit dem Gespräch. Die Adressierung eines leiblichen Gegenübers ist nach dieser Vorstellung ein zentrales Gattungsmerkmal. Die Frage, ob Kleist sich von einem solchen Gesprächsmodell distanziert, ist immer wieder diskutiert worden.13 Der genannte erste Brief suggeriert eine Nähe zur Idee schriftlicher

10 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März 1793 (wie Anm. 4), S. 16. 11 Vgl. hierzu Fleig: „Kleists Briefe“ (wie Anm. 1), S. 27. 12 Vgl. Wolfgang Müller: „Brief“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 60–76, hier Sp. 61. 13 Sandro Zanetti geht etwa davon aus, dass die entscheidende gattungspoetische Referenz das „Modell des Gesprächs“ ist, das auf Gellert zurückgeht. Seine These lautet, dass Kleists Briefe nach 1800 keine Rücksicht mehr auf den Adressaten und damit auf das Gesprächsmodell nehmen. Wir möchten argumentieren, dass bereits im ersten Satz des ersten Briefes sich das Personalpronomen „ihnen“ auf eine Vielzahl möglicher Leser richtet und sich die daran geknüpfte Frage eher als Reflexion des eigenen Schreibens

E INLEITUNG

| 13

Mündlichkeit. Gleichwohl ist jedoch auch eine minimale Abweichung verzeichnen, wenn beteuert wird: „Glauben Sie etwa nicht daß dies ein Appendix zu dem Gespräch sey was wir einmal hatten“.14 Mit welchen Adressaten wird hier gerechnet? Am Ende des ersten überlieferten Briefs spekuliert Kleist tatsächlich mit Antworten seiner Tante oder seiner Schwestern, die er als Gesprächspartnerinnen begreift. Doch auffällig ist zugleich die Verhandlung poetologischer Besonderheiten der Briefform. Die anfängliche Frage („Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen?“15) thematisiert Erwartungen an die Gattung und wirkt in ihrer Allgemeinheit, als wäre sie an ein breiteres Publikum gerichtet. Was, wenn der Text auf eine „Schar von möglichen Adressaten“16 hin gelesen wird? Kleist antizipiert eine potenzielle Zirkulation seiner Briefe im Verwandtenkreis und befürchtet einen möglichen Unmut über den beschriebenen „Mischmasch“ oder die „ErzählungsSuade“.17 Er markiert damit auch ein Wissen um die Öffentlichkeit, in die der Text mit der Sendung eintritt. Die Potenzialität einer nicht abschließbaren Adressierung zeigt den gattungspoetologischen Wert von Briefen. Da ein Brief auch nach seiner Versendung weiter lesbar bleibt – und zwar für alle –, bietet er eine ideale Bühne für das Schauspiel der Mitteilung. Die Öffnung auf eine allgemeine bzw. zukünftige Leserschaft macht das Private zum Öffentlichen. Sie erlaubt nicht nur Richtungswechsel, Wendungen oder rhetorische Finten, sie befähigt auch dazu, gattungsgeschichtliche Bestimmungen zu überdenken.18 Kleists erster Brief spricht die postalischen Instanzen des Briefverkehrs an: „Es war 10 Uhr als ich den Brief charakterisieren lässt. Vgl. Sandro Zanetti: „Doppelter Adressatenwechsel. Heinrich von Kleists Schreiben in den Jahren 1800 bis 1803“, in: ,Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. v. Martin Stingelin, München 2004, S. 205–226, hier S. 206; vgl. auch ebd., S. 213ff. Christian Fürchtegott Gellert: „Roman, Briefsteller“ („Leben der Schwedischen Gräfin von G***“; „Gedanken von einem guten deutschen Briefe“; „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. IV, hg. v. Bernd Witte u.a., Berlin, New York 1989; vgl. auch Ingo Breuer: „Post als Literatur. Brief- und Personenbeförderung bei Heinrich von Kleist“, in: KJb 2013, S. 154–171, hier S. 170f. 14 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März (wie Anm. 4), S. 14. 15 Ebd., S. 9. 16 Zanetti: „Doppelter Adressatenwechsel“ (wie Anm. 13), S. 206; vgl. auch ebd., S. 213ff. 17 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März 1793 (wie Anm. 4), S. 15. 18 Zur Ironie der Adresse mit dem Versuch einer Typologie, vgl. Andrea Allerkamp: Anruf, Appell, Adresse. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur, Bielefeld 2005, S. 187f.

14 | A LLERKAMP, P REUSS , S CHÖNBECK

an Gustchen zusiegelte, u ihn dem Aufwärter übergab. Ich legte mich im Bette.“19 Aufgehalten wird die Reise durch einen Unfall der Postkutsche. Aufgrund des fürchterlichen Geschreis und Gezeters eines blinden Passagiers, „der uns mit einem Straßenräuber nicht viel unähnliches zu haben, schien“,20 scheuen die Pferde und gehen durch. Der Postillon fällt. Nur das Erhaschen der Zügel sichert sein Überleben. Der im Brief beschriebene Weg nach Frankfurt am Main verläuft entlang verschiedener Postämter, die den Reiserhythmus vorgeben. Brief und Reise stehen so in einem „Bedingungszusammenhang“.21 Das Briefeschreiben zwingt zur Rast. Ausbleibender Posteingang hingegen animiert zur Weiterreise: „wir schliefen aus u fuhren den Freitag, da noch keine Briefe kamen, von Leipzig ab.“22 Der Verkehr von Menschen und Zeichen, bestimmt durch das Weiterleiten, Kopieren oder Diskutieren von Briefen, zeigt die komplexe Kommunikation in der Briefkultur um 1800.23 Die Frage, was ein Brief in seinen unterschiedlichsten Facetten und Untergattungen zu einer bestimmten Zeit sein kann, hängt nicht allein von literaturgeschichtlichen Erwägungen ab. Briefe sind Gegenstände eines vielschichtigen Verschickungsgefüges. Die Anfangsfrage nach der Reihenfolge von Beschreibung und Erzählung führt daher unmittelbar auf die Fährte des Schreibens. Und jeder Anfang ist schwer, er entblößt sich womöglich als heikles Unterfangen. Wie aus den vielen möglichen Gegenständen der Konversation auswählen? „Soll ich Ihnen den Anblick schöner Gegenden, oder den Anblik schöner Städte, den Anblick prächtiger Paläste oder geschmackvoller Gärten, fürchterlicher Kanonen oder zahlreicher Truppen zuerst beschreiben.“24 Punkt, kein Fragezeichen. Die Schreibgeschwindigkeit kann offensichtlich mit den Ereignissen nicht Schritt halten: „Ich würde das Eine vergeßen u das Andere hinschreiben, wenn ich Ihnen nicht von Anfang an alles erzählen wollte. Ich fahre also in der Beschreibung der Reise fort.“25 Die historisch-kritische Edition des Briefes macht deutlich, dass im letzten Satz das Possessivpronomen ‚meiner‘ gestrichen und durch den bestimmten Artikel ersetzt 19 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März 1793 (wie Anm. 4), S. 9. 20 Ebd., S. 11. 21 Fetscher: „Schrift verkehrt“ (wie Anm. 7), S. 106f. 22 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März 1793 (wie Anm. 4), S. 9. 23 „Vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Zeichenverkehr portoökonomisch in der gleichen Weise an der Geographie gemessen wie Körperverkehr, einfach weil beide durch dasselbe Transportmittel ins Werk gesetzt wurden. Dieselbe Postkutsche konnte sowohl einen Brief als auch seinen Schreiber überbringen.“ Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-913, Berlin 1993, S. 21. 24 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März 1793 (wie Anm. 4), S. 9. 25 Ebd.

E INLEITUNG

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wurde.26 Das Gesagte, so hebt diese Durchstreichung (‚meiner‘) hervor, entpersönlicht sich durch den Versand. Bereits beim Schreiben des Briefes streicht sich das Ich förmlich durch oder aus. Kleists prekäre „Selbstmanifestation“ 27 zieht sich durch alle Briefe. In der Forschung wurde dies bisher vor allem mit Blick auf die Liebesbriefe diskutiert.28 Doch tastet sich nicht schon der frühe Brief an die Tante auf ähnlich schwankendem Terrain vor? „Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen?“29 – liest man das Ich mit einer gewissen Emphase, so tritt hier ein wenig souveränes Subjekt in Erscheinung. Gegen eine Epistolografie unter dem Gesetz der regelhaften Rhetorik hatte sich Gellerts Briefpoetik gerichtet, um die Gattung für eine „natürliche Sprache des Herzens“30 zu öffnen. Gellert leistete damit sowohl der romantischen Vorliebe für den Brief als auch der Universalpoesie Vorschub.31 Kleist geht darüber noch hinaus, indem er gleich mehrere Briefsorten miteinander kombiniert: Gellerts Gesprächsmodell, den philosophisch-aufklärerischen Brief, den Gelehrtenbrief, den auf Introspektion und Seelenkunde zielenden autoreflexiven Privatbrief, sowie den ‚romantischen Brief‘.32 In Kleist Briefen strebt ein mehr oder weniger prekäres Subjekt nach „Immersion in Öffentlichkeit“, so Justus Fetscher treffend.33 Die Verschränkung von Privatem und Öffentlichem sowie von Zeichen- und Körperverkehr zeigt die Bedeutung der Briefe für die Literaturgeschichte. Das Ausmaß des Briefverkehrs konfrontiert uns aber auch mit grundsätzlichen Fragen zur Gattung. Kleists Korrespondenzen gehen über klassische Gattungspoetik hinaus, sie erfordern eine Gattungskulturpoetik.34 26 Vgl. BKA IV/1, S. 8. 27 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: „Unsägliche Liebesbriefe. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge“, in: KJb 1981/82, S. 86–96, hier S. 90. 28 Günter Blamberger: Heinrich von Kleist, Frankfurt a. M. 2011, S. 85–116. 29 Brief an Auguste Helene von Massow, 13./18. März (wie Anm. 4), S. 9 (eigene Hervorhebung, d. Hg.). 30 Vgl. Wolfgang G. Müller: „Brief“, in: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping, Stuttgart 2009, S. 65–83, hier S. 78. 31 Die Frage nach der Positionierung Kleists zwischen Klassik und Romantik ist auch für Kleists Umgang mit den Gattungen eine entscheidende. Vgl. dazu den einschlägigen Sammelband Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassik und Romantik, hg. v. Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001. 32 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a. M. 1989, S. 51–62, 87–103, 135–164. 33 Fetscher: „Schrift verkehrt“ (wie Anm. 7), S. 115. 34 Vgl. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext 1750–1950, Göttingen 2015.

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U NART

UND

K ONVENTION

Sind das Spiel der Adressen, der Durchstreichungen und der Selbstreflexion Kennzeichen für Unartigkeit? Mit anderen Worten: Müssen Kleists geschickte Wendungen nicht als Verstöße gewertet werden gegen die Konvention einer Gattung, die sich durch Natürlichkeit der Rede auszeichnet? Auf einer späteren Reise nach Paris notiert Kleist am 29. Juli 1801 an Adolphine von Werdeck: „Seit dem 3t bin ich nun (über Straßburg) in Paris.  Werde ich Ihnen nicht auch etwas von dieser Stadt schreiben müssen?“35 Die rhetorische Frage zitiert ganz offensichtlich eine Anstandsregel des postalischen Verkehrs. Der Absender fragt danach, welche Gesetze die Gattung Brief mit sich bringt. Die Antwort mutet prompt wie eine Kapitulation an: „Herzlich gern, wenn ich nur mehr zum Beobachten gemacht wäre.“36 Der einschränkende Konditionalsatz artikuliert eine Unfähigkeit. Wie dem Genre eines Pariser Briefes gerecht werden? „Aber – kehren uns nicht alle irrdischen Gegenstände ihre Schattenseite zu, wenn wir in die Sonne sehen –?“ wird weiter gefragt. Die heliotrope Metapher mit Hinweis auf die „Schattenseite“ mahnt daran, sich nicht blenden zu lassen und die Flüchtigkeit der Dinge vor Augen zu führen. „Ach, es ist meine angebohrne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können, u immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, u in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist.“37 Der lange Seufzer ist für uns in dreifacher Hinsicht bemerkenswert: 1. Eine Unart ist etwas, das man haben kann, so suggeriert es das Possessivpronomen. Dass eine Person eine Unart hat, bedeutet, dass sie etwas tut – und zwar so, dass dieses Tun als der Person zugehörig erscheint, dass es zu einer ihrer Eigenschaften wird. Als Beispiel dafür ließe sich der erste Auftritt des Prinzen von Homburg heranziehen, dessen nachtwandlerischer Zustand der Graf Hohenzollern als eine „bloße Unart seines Geistes“38 beschreibt. Begriffsgeschichtlich beziehen sich Art und Unart auf die angemessene oder unangemessene Art und Weise,

35 Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801, in: DKV IV, S. 248−258, hier S. 255. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Heinrich von Kleist: „Prinz Friedrich von Homburg“, in: BKA I/8, S. 11. Kleists Prinz von Homburg greift zeitgenössische Debatten über den Zustand des Nachtwandelns oder des Halbschlafs auf. Insbesondere werden dabei die Gegenpositionen von Reil (pathologisch; therapierbare Nervenkrankheit) und Schubert (höhere Daseinsform) aufgegriffen. Vgl. dazu Bernd Hamacher: „Prinz Friedrich von Homburg“, in: KHb, S. 80– 89, hier S. 82.

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Ackerbau zu betreiben, und damit auf kulturelle Prozesse. Der Kulturbegriff geht auf das lateinische Tätigkeitswort colere (wohnen, sich aufhalten, pflegen, bebauen) zurück und bezeichnet zuerst landwirtschaftliche Aktivitäten des Menschen. Später wird er auf die Pflege des Menschen und ihre Umstände ausgeweitet.39 Mit der Bestätigung oder Verneinung jeweils gängiger Kultivierungspraktiken führen die Termini Art und Unart zu den Anfängen komplexer Zivilisationsprozesse zurück.40 Das Deutsche Wörterbuch vermerkt dazu, dass die ursprüngliche Bedeutung im Laufe der Geschichte „immer conventioneller verflacht“.41 In der bürgerlichen Kultur der frühen Neuzeit wandelt Unart sich zu einem Begriff, der sich auf das Verhalten und die Sitten von Menschen richtet. Auch Kleist versteht Unart in diesem moderneren Sinn. Als Zuschauer der Französischen Revolution, die von Kant als „Geschichtszeichen“42 ausgemacht wird, muss er sich vermutlich mit eindeutigen Diagnosen zurückhalten. Unartigkeit hat kulturelle und zivilisatorische, sittengeschichtliche und politische Implikationen. Kleist, der aus Paris schreibt, von der anderen Seite des Rheins, meldet sich als Europäer zu Wort. 2. Eine Unart ist aber auch etwas, das man machen kann, ohne dass man es hat. In einem Brief an Wilhelmine von Zenge schreibt Kleist etwa davon, dass er eine „Unart begieng“, als er sich „im Geiste von Frankfurt nach Stralsund, u von

39 Vgl. dazu z.B. Terry Eagleton: Was ist Kultur?, München 2001; Dirk Baecker: Was ist Kultur?, Berlin 2000; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M., Leipzig 1994. 40 Art. „Art“, in: DWB, Bd. 1, Sp. 568–574, hier Sp. 570. Vgl. auch die Einträge zu „Unart“ (Sp. 177–189, hier Sp. 178) und „Unarten“ (Sp. 189). 41 Art. „Unart“ (wie Anm. 40), Sp. 183. 42 „Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Act ihrer Causalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge schließen ließe, welcher Schluß dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (daß es immer im Fortschritt gewesen sei) ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon), angesehen werden müsse und so die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen, d.i. nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern wie es in Völkerschaften und Staaten getheilt auf Erden angetroffen wird, beweisen könnte.“ Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. VII: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07), S. 84.

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Stralsund wieder im Geist nach Frankfurt versetzte.“43 Für diese Lesart spricht auch das Verb ‚unarten‘, wie es im Deutschen Wörterbuch in dem auf ‚Unart‘ folgenden Lemma bestimmt wird. Die Begriffsgeschichte zeigt hier einen bemerkenswerten Bedeutungswandel: Daniel Georg Morhof hatte in seinem Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie (1686) Unart als „verkehrung der natur“44 verstanden. Der natürlichen Artigkeit wurde also die widernatürliche Unartigkeit entgegengesetzt. Später kehrt sich dieses Verhältnis um. Jetzt steht die Artigkeit als kulturelle Konvention einer natürlichen Unartigkeit gegenüber, wobei gerade das subversive Potenzial des Naturhaften in der Goethezeit gegen die das Genie einschränkenden Sitten und Normen in Stellung gebracht wurde.45 ‚Unarten‘ kann eine bestimmte unartige, unanständige, sittenwidrige, unflätige, asoziale und mit der Natur assoziierte Tätigkeit bezeichnen. Setzt sich also das Unartige, das zunächst aus der Art schlägt, nicht am Ende doch als etwas Artiges durch? Dann käme dieser Dynamik des Umschlagens von einer Unart in eine Art eine kulturelle, nämlich normative Funktion zu. 3. Eine Unart bezeichnet schließlich etwas, das man sein kann. Auch im Katechismus der Deutschen verwendet Kleist den Ausdruck in Bezug auf das dem „lebenden Geschlecht“ 46 der Deutschen ‚Anklebende‘ und gibt ihm damit auch eine nationalistische Note.47 Dass Kleist im Brief explizit von einer „angebohrne[n] Unart“ schreibt, könnte darauf hindeuten, dass er sich selbst eine Unart zuschreibt, die nicht etwa eine kulturelle oder zivilisatorische Errungenschaft darstellt, sondern auf eine spezifische Veranlagung verweist.48 Lázló F. Földényi sieht bei Kleist einen „Terror der Verneinungspartikel[]“49 am Werk: „Sie zapfen jede Bedeutung ab. Sie sind wie Parasiten.“50 Das ‚Un-‘ markiere „eine wirkliche 43 Brief an Wilhelmine von Zenge, 16. September 1800, in: DKV IV, S. 127–130, hier S. 127. 44 Art. „Unart“ (wie Anm. 40), Sp. 186. 45 Vgl. ebd. 46 Heinrich von Kleist: „Katechismus der Deutschen, abgefasst nach dem Spanischen, zum Gebrauch für Kinder und Alte“, in: DKV III, S. 479–491, hier S. 486. 47 Vgl. Beda Allemann: „Der Nationalismus Heinrich von Kleists“, in: Kleists Aktualität, hg. v. Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981, S. 46–54. 48 Kleist bekennt Ulrike von Kleist, nicht „unter die Menschen“ zu „passen“, und führt dies am Ende des Briefs auf eine „Unart“ zurück, „nie den Augenblick der Gegenwart ergreifen zu können, sondern immer in der Zukunft zu leben.“ Brief an Ulrike von Kleist, 5. Februar 1801, in: DKV IV, S. 195–201, hier S. 198, 200. 49 László F. Földényi: „Un-“, in: Ders.: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter, übers. v. Akos Doma, München 1999, S. 430–433, hier S. 430. 50 Ebd.

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Entleerung“.51 Die Un-Wörter ließen sich auch nicht mehr rückwirkend mit Sinn aufladen, um – wie bei Hegel – in Totalität aufgehoben zu werden. Kleists Negationen sträuben sich gegen Reintegration und Ordnung. Unart weist hier folglich auf etwas Natürliches, das in Unnatürliches umschlägt und somit auf zwei Seiten, die dem Menschen angehören: das Angeborene und das Erlernte, das Gegebene und das Gemachte. In einem Brief vom 7. Januar 1805 an Ernst von Pfuel beschreibt sich der Briefeschreiber als dichterisch und naturwissenschaftlich Tätigen: „Ich kann ein [Diffe]rentiale finden, und einen Vers machen; sind das nicht die beiden Enden der menschlichen Fähigkeit?“52 Dieses ‚amphibische Wesen‘, das Kleist nicht nur an sich selbst, sondern auch an seiner Schwester wiedererkennt,53 findet sich im Wort „Unart“ wieder. Wenn jenes amphibische Wesen angeboren und als Eigenart gegeben ist, so deutet der Hinweis auf die Unart auch auf Produktion und Reproduktion von Lebewesen und ihren Merkmalen. Die Art, von der sich die Unart abwendet, ist nicht nur ein konventionell verflachter Ausdruck des 18. Jahrhunderts, sondern zugleich ein naturkundlicher, dessen begrifflicher Status immer wieder verhandelt wird. Prominent kommt er in Buffons Histoire naturelle vor.54 Lebewesen gehören dann einer gemeinsamen Art an, wenn sie Nachkommen miteinander zeugen können: Außerdem hat man noch einen Vortheil, die Arten der Thiere zu erkennen, und sie von einander zu unterscheiden, weil man naemlich diejenigen als Thiere von einer Art ansehen kann, die das Aehnliche ihrer Art durch die Vermischung fortpflanzen und erhalten; da Gegentheils die, welche durch Vermischung nichts zusammen vorbringen koennen, als verschiedene Arten anzusehen sind.55

51 Ebd., S. 432. 52 Brief an Ernst von Pfuel, 7. Januar 1805, in: DKV IV, S. 335–337, hier S. 336. 53 „Aber welchen Mißgrif hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, das weder Mann noch Weib ist, u gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt?“ Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 35), S. 253. 54 Art. „Art“, in: Georg Toepfer: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2011, S. 61–131, hier S. 66: „In Buffons Artbegriff liegt also eine stärkere Verbindung des fortpflanzungsbiologischen und des morphologischen Kriteriums der Bestimmung von Arten vor.“ 55 Georges-Louis Leclerc de Buffon: „Geschichte der Thiere“, in: Allgemeine Historie der Natur. Nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; Nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Übers. v. Albrecht von Haller, Erster Theil, zweyter Band. Leipzig 1750, S. 3–198, hier S. 9.

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Die angeborene Ähnlichkeit markiert bei Buffon die Artzugehörigkeit von Lebewesen. Kleist macht die Unarten, wenn er sie ihrerseits als „angebohren“ beschreibt, zu einem wesentlichen Merkmal der Art, und treibt damit auch ein Spiel mit den naturgeschichtlichen Vorgaben Buffons. Die Unfähigkeit, artig zu korrespondieren, wird als ein Wesenszug stilisiert, der sich auf das Schreiben auswirkt. Der Verstoß gegen das Gesetz der Gattung des Briefs wird mit einer Seinsweise, sich Konventionen nicht zu fügen, begründet und damit als Unfähigkeit naturalisiert. Diese Verweigerung gegenüber dichterischen Gattungsvorgaben mag in die Richtung eines genialischen Habitus weisen, wie er auch in einem Sprichwort Goethes zum Ausdruck kommt: Warum werden die Dichter beneidet? Weil Unart sie zuweilen kleidet, Und in der Welt ist’s große Pein, Daß wir nicht dürfen unartig sein.56

L ITERATUR

UND

W ISSENSCHAFT

Was wäre denn also die Unart eines Briefeschreibers? Im zitierten Pariser Brief verweist ‚Unart‘ entweder auf eine Unfähigkeit, Gattungskriterien zu bedienen, oder auf eine Attitüde, die auf eine Inszenierung als Dichter hindeutet. Mit der Unart werden also bestimmte Konventionen des Reisebriefs aufgerufen und eine Grenze zwischen privatem und dichterischem Brief markiert. Zwar distanziert sich der Absender von potenziellen Leseerwartungen, er bricht jedoch das Schreiben nicht etwa konsequent ab, sondern fährt vielmehr im gleichen Genre fort. Auf Kleists Bedauern, nicht „mehr zum Beobachten gemacht“ zu sein, folgt nichts Anderes als Beobachtungen. Unter die Abscheulichkeiten der Pariser Großstadt,57 die kontrastiv zur Idylle des Rheins aufgelistet werden, fallen auch die Wissen-

56 Johann Wolfgang von Goethe: „‚Warum werden die Dichter beneidet?‘“, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter u.a., Bd. 9, hg. v. Christoph Siegrist u.a., München 1987, S. 138. 57 „Zuweilen gehe ich, mit offenen Augen durch die Stadt, und sehe – viel Lächerliches, noch mehr Abscheuliches, u hin u wieder etwas Schönes.“ Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 35), S. 255.

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schaften mit ihren Akteuren58 und Institutionen.59 Kleist lanciert so en passant eine Wissenskritik – und zwar in der Beschreibung einer anderen Menschengattung; nämlich jener Klasse von Menschen, die sich ausschließlich auf eine „Formel“60 oder eine „Gleichung“61 verstehen. Darunter seien Isaac Newton, „ächte[]“62 Chemiker, Botaniker, Mineralogen, Carl v. Linné und Zyklopen zu zählen. Insbesondere die Klassifikationen, mit denen jene Gelehrten operieren, stehen hier infrage: „[S]oll ich alle diese Fähigkeiten, u. alle diese Kräfte u. dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insectengattung kennen zu lernen oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen?“, fragt Kleist und klagt weiter über den Missstand der nominalistischen Reduktion: „Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, u. an der wehmüthigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name.“63 Indizien wie die Unterscheidung der drei Naturreiche, die an dieser Stelle ironisch aufgenommen werden, aber auch der Verweis auf die von Linné erfundene binominale Nomenklatur zeigen, in welche wissenshistorische Kerbe Kleist schlägt. Die Ablehnung richtet sich gegen die Systematisierung in der Naturgeschichte. Präparierte Tiere, getrocknete Pflanzen und wegsortierte Mineralien geben ein defizitäres Bild ab. Dieses Bild wird durch eine Wissenschaft reproduziert, „der nämlich ein Auge fehlt“,64 so Kant, der, so könnte man meinen, Kleists in vertrauliche Bekennerschreiben verpackte Wissenskritik vorbereitet:65 „O wie

58 „Luchesini u Humboldt haben mich vorläufig bei einigen französischen Gelehrten eingeführt.“ Ebd., S. 256. 59 „Ich habe auch schon einigen Vorlesungen beigewohnt.“ Ebd. 60 „Man könnte die Menschen in zwei Klassen abtheilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehen. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.“ BA, Bl. 61. Siehe auch: BKA II/7, S. 310. 61 Brief an Ernst von Pfuel, 7. Januar 1805 (wie Anm. 52), S. 335. 62 Vgl. Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 35), S. 81. 63 Ebd. 64 „Es giebt aber auch gigantische Gelehrsamkeit, die doch oft cyklopisch ist, der nämlich ein Auge fehlt: nämlich das der wahren Philosophie, um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kameelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen.“ Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders. Schriften, Bd. VII (wie Anm. 42), S. 277 (§59). 65 Vgl. Walter Hinderer: „Ansichten von der Rückseite der Naturwissenschaft. Antinomien in Heinrich von Kleists Welt- und Selbstverständnis“, in: KJb 2005, S. 21−44,

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traurig ist diese cyklopische Einseitigkeit! – Doch genug. Ich habe ihnen so viel aus meinem Innern mitgetheilt; werden sie mir diese kindische Neigung zur Vertraulichkeit verzeihen?“66 Nochmals unterstreicht der Absender seine Unart bzw. sein anstößiges Vorgehen, indem er es als eine infantile „Ungezogenheit“ ausweist.67 Die rein naturwissenschaftliche Seite der Welt, die den Mineralogen an einem himmelhohen Steinwall bedauern lässt, „daß er ihn nicht in die Tasche stecken kann, um ihn in den Glasschrank neben die andern Fossile zu setzen“,68 ist insofern mangelhaft, als in ihr die metaphorisch-poetische Seite der Gegenstände wegbricht. Wer zu einer Unart wird oder unartig handelt, sucht Doppeldeutigkeit. Wie der Briefeschreiber, der zwei Seiten des Wissens, Naturgeschichte und Dichtung, miteinander in Einklang zu bringen sucht. Indem Unart-haben, Unart-machen (‚unarten‘ als Verb) und Unart-sein auf diese Weise auch wissensgeschichtlich kurzgeschlossen werden, naturalisiert Kleist seine Unfähigkeit zu beobachten und zu beschreiben. In seiner Rede von der Unart macht er eine spezifische Differenz von Schreibweisen als Distinktionsmerkmal geltend und distanziert sich von der Eindimensionalität bloß naturwissenschaftlicher oder dichterischer Texte. Ob man nun Kleists Bedauern ernst nimmt oder als Selbstbehauptung mittels eines bewussten Aus-der-Art-Schlagens versteht, in beiden Fällen interferieren die Bereiche des Sozialen oder Sittlichen, des Poetischen und des Biologisch-Naturgeschichtlichen. Der Begriff Unart eröffnet in ähnlicher Weise ein „genologisches Terrain“, das heißt eine „Konstellation[] von Biologie, Literatur und Gesellschaft“.69 In Anlehnung an die Beobachtung von Gattung als habitualisierter Klassifikationshandlung, wie Werner Michler sie im Rückgriff auf Pierre Bourdieu entwickelt, ergibt sich schließlich für Kleist der Befund einer „Gattungsarbeit“70, in der verschiedene Wissensfelder kollabieren und neue Ordnungen entstehen. Dies impliziert eine andere Auffassung vom Dichter und seiner Dichtung, ja von literarischen Gattungen wie dem Brief. In eine ähnliche Richtung tendiert Inka Kording, die epistolarische Überlegungen zu einer Gattung anstellt und „Dialogizität“ als konstitutive Grundqualität

hier S. 24; Bernhard Greiner: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist, Berlin 1994, S. 86f. 66 Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 35), S. 257. 67 Dieser Ausdruck findet sich auch bei den Grimms. Vgl. „Unart“ (wie Anm. 40), Sp. 186f. 68 Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 35), S. 257. 69 Michler: Kulturen der Gattung (wie Anm. 34), S. 12. Vgl. ebd., S. 20. 70 Vgl. ebd., S. 17.

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des Briefes ausmacht.71 Zum einen geht es um die soziohistorischen Praktiken, an denen das Medium Brief partizipiert und zu denen sich der Briefeschreiber verhält. Zum anderen um die schriftliche Ebene und die damit verbundenen Möglichkeiten, trügerische Zeichen oder unsicheres Wissen in eine singuläre Sendung einzutragen.72 Nicht nur poetologische Normen, auch diskursive Praktiken wie die Adressierung stehen angesichts der Briefe auf dem Spiel. Das unartige Briefeschreiben wirft schließlich eine Reihe von Fragen auf: Wie verhält sich der „Mischmasch“ der Briefe zu den Gesetzen der epistolarischen Gattung? Ist Kleists Briefpoetik exemplarisch für seine Gattungsarbeit in anderen Texten? Aus dieser Perspektive müsste somit auch neu verhandelt werden, ob Kleist Gattungen mischt oder reinigt, ob sein Werk der Klassik oder der Romantik nähersteht, wie es sich mit den Vorgaben aufklärerischer Gattungspoetik verhält, ob es sich um radikale oder konformistische Schreibweisen handelt oder welche generischen Praktiken in den einzelnen Texten vollzogen werden.

B ASTARDISIERUNG

UND I DEALISIERUNG

Die erste Gattung: ein Trauerspiel?73 In einem Brief aus Paris vom 10. Oktober 1801 erwägt Kleist ein Leben als Dichter, verwirft jedoch das „Bücherschreiben

71 Inka Kording: „Epistolarisches. Überlegungen zu einer Gattung“, in: KJb 2013, S. 58– 71, hier S. 61ff. 72 Ebd., S. 68. 73 Kleist-Editor Roland Reuß adressiert Die Familie Schroffenstein im Rahmen eines Heilbronner Kolloquiums als ‚Erstling‘: Roland Reuß: „Heinrich von Kleist, ‚Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen‘ (1803)“, in: Erstlinge. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Musil, Benn, Kafka, hg. v. Günther Emig und Peter Staengle, Heilbronn 2004, S. 53−66. Einen Forschungsstand abzubilden, ist aufgrund des Volumens der Veröffentlichungen nahezu unmöglich. Wir müssen daher auf die einschlägigen Datenbanken und Bibliografien verweisen. Allein zur Familie Schroffenstein erschienen unlängst: David E. Wellbery: „Kleist, Shakespeare, Girard. Eine Glosse zur ‚Familie Schroffenstein‘“, in: KJb 2017, S. 37−46; Torsten Hahn: „Heinrich von Kleist. Hermeneutik, Paranoia und die Einrichtung der trauerspielförmigen Welt in ‚Die Familie Schroffenstein‘“, in: Paranoia. Lektüren und Ausschreitungen des Verdachts, hg. v. Timm Ebner, Rubert Gaderer, Lars Koch und Elena Meilicke, Wien, Berlin 2016, S. 22−39; Louis Gerrekens: „‚Die Familie Schroffenstein‘. Das Trauerspiel und seine Dekonstruktion“, in: Kleist in der Schweiz – Kleist und die Schweiz, hg. v. Anett Lütteken, Carsten Zelle und Wolfgang de Bruyn, Hannover 2015, S. 289−304; Ders.: „Heinrich

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für Geld“74 zugunsten des Plans, „im eigentlichsten Verstande ein Bauer“ zu werden.75 Als Problem des Dichters erscheint hier weniger die zunehmende Ökonomisierung des literarischen Feldes. Vielmehr schätzt Kleist das Risiko ab, dass das Publikum seinen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfassten, ersten literarischen Text (das „Kind seiner Liebe“) als „Bastarde“ verunglimpfen könnte.76 Thematisiert wird so die kulturelle Codierung der Rezeption, die Problematik der Zugehörigkeit und die Produktion von Ausschlüssen. Um dem Zusammenhang von Verkennung und Veröffentlichung etwas entgegenzusetzen, will Kleist die Adressatin seines Briefes, Wilhelmine von Zenge, zu einer klandestinen Lektüre „in das Gewölbe führen“, wo der Autor „[s]ein Kind, wie eine vestalische Priesterinn das ihrige, heimlich aufbewahr[t] bei dem Schein der Lampe.“77 Die Inszenierung der Geliebten als Idealleserin im Verborgenen wird nach dem nächsten Gedankenstrich schon wieder aufgekündigt und das Lebensprojekt der Autorschaft verworfen: „– Also aus diesem Erwerbszweige wird nichts.“78 Kleists Projekte scheitern, von Kleists literarisches Nachwirken. Storms Novelle ‚Im Brauer-Haus‘ als Adaption des Trauerspiels ‚Die Familie Schroffenstein‘, in: KJb 2002, S. 165−186; Eberhard Siebert: „Über den Erbvertrag in Heinrich von Kleists Trauerspiel ‚Die Familie Schroffenstein‘“, in: Heilbronner Kleist-Blätter 21 (2009), S. 120−125; Ulrike Prokop: „Misstrauen und Wahrheitsbeweis in dem Trauerspiel ‚Die Familie Schroffenstein‘“, in: Heinrich von Kleist, hg. v. Ortrud Gutjahr (=Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 27), Würzburg 2008, S. 67−93; Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ‚Fall‘ der Kunst, Tübingen 2000, S. 54−74; Ders.: „‚Welch eine Sonne geht mir auf‘. Kleists erotische Fassung des Höhlengleichnisses in der Familie Schroffenstein“, in: Heilbronner Kleist-Kolloquium, Bd. 2: Erotik und Sexualität im Werk Kleists, hg. v. Kleist-Archiv Sembdner und der Stadt Heilbronn, Heilbronn 2000, S. 38−51; Claudia Benthien: „Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit. Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“, in: KJb 1999, S. 128−143; Ulrich Fülleborn: „Die Geburt der Tragödie aus dem Scheitern aller Berechnungen. Die frühen Briefe Heinrich von Kleists und ‚Die Familie Schroffenstein‘“, in: KJb 1999, S. 225−247. 74 Brief an Wilhelmine von Zenge, 10. Oktober 1801, in: DKV IV, S. 271−276, hier S. 273. 75 Ebd., S. 275. 76 „Ich habe mir, da ich unter den Menschen in dieser Stadt so wenig für mein Bedürfniß finde, in einsamer Stunde (denn ich gehe wenig aus) ein Ideal ausgearbeitet; aber ich begreife nicht, wie ein Dichter das Kind seiner Liebe einem so rohen Haufen, wie die Menschen sind, übergeben kann. Bastarde nennen sie es.“ Ebd., S. 273f. 77 Ebd., S. 274. 78 Ebd.

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bevor sie geboren sind. Der Briefeschreiber schwankt zwischen einem unartigen Schreiben, das sich etwa in den dürftig kaschierten sexuellen Anspielungen manifestiert, und einem metapoetischen Schreiben über Unarten, das sich im Komplex der Angst vor Verunglimpfung zeigt. In beiden Fällen erscheint die beschworene Unart als nachträgliche Zuschreibung. Eine unentschiedene Haltung zur Reinheit oder Vermischung von Gattungen wird hier in die biologische Metaphorik der Begattung transponiert. Nicht um das Für und Wider einer konkreten literarischen Gattung (etwa Tragödie79 oder Roman) scheint es zu gehen, sondern um die Pro79 Zur Kleists Tragödie vgl. folgende jüngere Veröffentlichungen: Anne Fleig: „Eine Tragödie zum Totlachen? Shakespeare, Schiller, Kleist“, in: KJb 2017, S. 86–97; Susanne Kaul: „Comic relief? Komische Kippfiguren in Shakespeares und Kleists Tragödien“, in: ebd., S. 98–117; Bernhard Greiner: „Proben des Tragischen. Kleists Tragödienschaffen jenseits der aristotelischen Tradition“, in: Heinrich von Kleist. Style and Concept, hg. v. Dieter Sevin und Christoph Zeller, Berlin 2013, S. 147–159; Mike Hiegemann: „Tragödie für ein zukünftiges Theater. Heinrich von Kleists ‚Robert Guiskard‘ als unzeitgemäße Form kollektiver Darstellung“, in: ebd., S. 161–177; Achim Geisenhanslüke: Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin, Paderborn 2012; Claudia Benthien: Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800, Köln 2011, S. 135−164, 194−224; Cornelia Zumbusch: „‚nichts, als leben‘. Affektpolitik und Tragödie in ‚Prinz Friedrich von Homburg‘“, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hg. v. Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 270−289; Franziska Ehinger: Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie, Würzburg 2009; Bernhard Greiner: „‚Penthesilea‘. Die Peripetie der erhabenen Tragödie“, in: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. Rüdiger Campe, Freiburg i. Br. 2008, S. 189–207; Walter Hinck: „Gesetz und Spontaneität. Die Vermeidung der Tragödie in Kleists ‚Prinz Friedrich von Homburg‘“, in: Wirkendes Wort 58/1 (2008), S. 17–26; Wolf Wucherpfennig: „‚Die Verlobung in St. Domingo‘ oder die Tragödie des Narzissmus“, in: Heinrich von Kleist (wie Anm 73), S. 207–225; Daniel Graf: „Das gebrochene Wort. Kleists ‚Penthesilea‘ als Tragödie der Sprache“, in: Euphorion 101/2 (2007), S. 147–175; Jerzy Łukosz: „Heinrich von Kleist. Gestalt einer Tragödie“, in: Standpunkte und Impulse, hg. v. Iwona Bartoszewicz, Marek Hałub und Eugeniusz Tomiczek, Wrocław 2007, S. 23–33; Helmut J. Schneider: „Playing Tragedy. Detaching Tragedy from Itself in Classical Drama from Lessing to Büchner“, in: The Play Within the Play. The Performance of Meta-Theatre and Self-Reflection, hg. v. Gerhard Fischer und Bernhard Greiner, Amsterdam 2007, S. 237–247; Ulrich Fülleborn: „Nach Kleists gescheiterter Tragödie das Gelingen der Komödien“, in: KJb 2004, S. 88–106; Bernhard Greiner: „‚Ich zerriss ihn‘, Kleists Reflexion der antiken Tragödie“, in: Beiträge zur Kleist-Forschung 17 (2003), S. 13–28; Bernhard Greiner: „‚Die große Lücke in unserer dermaligen Literatur

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blematisierung einer gattungstheoretisch gerahmten Rezeption von Dichtung im Allgemeinen. Die fragile Verschränkung von Lebens- und Schreibprojekt erscheint als Konsequenz einer Unentschiedenheit von Zugehörigkeiten. Die Angst, vor den Augen der Öffentlichkeit etwas Monströses zur Welt zu bringen, hält jedoch nicht lange an. Bereits Anfang 1802 macht Kleist sich in der Schweiz an die Arbeit. Er skizziert Die Familie Thierrez, weitet sie zur Familie Ghonorez aus und veröffentlicht schließlich Anfang 1803 Die Familie Schroffenstein im Verlag Heinrich Geßner in Bern und Zürich. Dem Untertitel nach handelt es sich um ein Trauerspiel,80 der Dichter bleibt anonym. Schon Kleists briefliche Ankündigung trägt zu einer „metaphorische[n] Übertragung der Semantik der Zeugung und der väterlichen Autorität auf den künstlerischen Schaffensprozess“81 bei. Deutlich wird eine Konkurrenz biologisierter „genieästhetische[r] Zeugungsphantasien mit

auszufüllen‘. Die unausführbare Tragödie ‚Robert Guiskard‘“, in: Ders.: Kleists Erzählungen und Dramen, Würzburg 2001, S. 135–149; Gabriele Brandstetter: „‚Eine Tragödie von der Brust heruntergehustet‘. Darstellung von Katharsis in Kleists ‚Penthesilea‘“, in: Heinrich von Kleist und die Aufklärung, hg. v. Tim Mehigan, Rochester, NY 2000, S. 186–210. 80 Allgemeiner zu Kleists Trauerspielen vgl. u.a. folgende Forschungsbeiträge: Barbara Natalie Nagel: Der Skandal des Literalen. Barocke Literalisierungen bei Gryphius, Kleist, Büchner, München 2012, S. 131−180; Joachim Harst: Heilstheater. Figur des barocken Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist, Paderborn 2012; Claudia Benthien: „Tragödie der Scham, Trauerspiel der Schuld. Konzeptionen des Tragischen um 1800“, in: Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, hg. v. Daniel Fulda und Thorsten Valk, Berlin 2010, S. 41−65; Yixu Lü und Anthony Stephens: „‚Gewaltig die Natur im Menschen‘. Affekte und Reflexivität der Sprache in Kleists vollendeten Trauerspielen“, in: KJb 2008/2009, S. 214−231; Justus Fetscher: „Über das Komische in Kleists Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Heilbronner Kleist-Blätter 8 (2000), S. 50−67. 81 Nicolas Pethes: „Poetik der Adoption. Illegitime Kinder, ungewisse Väter und juristische Elternschaft als Figurationen von Kleists Ästhetik“, in: Ausnahmezustand der Literatur (wie Anm. 79), S. 324−346, hier S. 329; zum Zusammenhang von ästhetischer und biologischer (Re-)Produktion vgl. Stefan Willer: „Eine sonderbare Generation. Zur Poetik der Zeugung um 1800“, in: Generation. Zur Genealogie eines Konzepts – Konzepte von Genealogie, hg. v. Sigrid Weigel, Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer, München 2005, S. 125−156; David E. Wellbery: „Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur“, in: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metapher ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. v. Christian Begemann und David E. Wellbery, Freiburg i. Br. 2002, S. 9−36.

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rechtlichen Zuschreibungen“.82 Die Übertragung ist jedoch nicht nur eine semantische, sondern auch eine generische, eine Übertragung zwischen zwei Gattungen. Denn die Brief-Frage nach der unsicheren Filiation wandert in die Handlung von Kleists Die Familie Schroffenstein ein, sie wird dort aufgegriffen, entfaltet und zugespitzt. Ruperts „natürlicher“, d.h. hier: außerehelicher, Sohn Johann pervertiert als komödiantische Ausnahme-Figur das Schlusstableau des Stücks („Heißa lustig!“;83 „Das ist ein Spaß zum Todtlachen!“84). Seine Verspottung dekonstruiert „im Angesicht der Tragik die Naturform der Gattung“.85 Nicolas Pethes nennt dies die Konstruktion eines „Gattungsbastard[s]“.86 Der Brief an Wilhelmine von Zenge antizipiert die Risiken einer unerhörten Autorschaft und nimmt mit der Höhle als Ort der privaten affektiven Lektüre einen Schauplatz vorweg, an dem sich in Die Familie Schroffenstein ein katastrophales Spiel im Spiel ereignet. Es endet mit der Ermordung der Kinder durch ihre Väter. Mit diesem Höhlenszenario, das philosophiegeschichtlich für Einsicht und Verkennung steht, stellt sich das Trauerspiel als dramatische Gattung zur Disposition. In all ihren Facetten wird sich die Tragödie – Aristoteles’ philosophischste Gattung – selbst zum Gegenstand der Reflexion. Während die Höhle im Brief die Möglichkeit des Rückzugs bot und die Vermeidung des Fehlurteils versprach, wird sie im Trauerspiel zum Schauplatz einer fatalen Verkennung und einer Bastardisierung von Geschlecht (Familie, gender) und Gattung (Tragödie, Komödie). Dass der Name des Autors Kleist bei der Veröffentlichung des Dramas ungenannt und somit die dichterische Vaterschaft ungeklärt bleibt, erscheint angesichts der im Text thematisierten „familiäre[n] Ausnahmezustände“87 nur konsequent. Nach der Verschränkung von öffentlichen und privaten Adressen im Brief steht nun die Gattung Trauerspiel sowohl poetologisch als auch genealogisch infrage.

82 Pethes: „Poetik der Adoption“ (wie Anm. 81), S. 330. 83 Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“, in: BKA I/1, S. 200. 84 Ebd., S. 207. 85 Pethes: „Poetik der Adoption“ (wie Anm. 81), S. 336. 86 Ebd., S. 346. 87 Ebd., S. 344.

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T RAUERSPIEL

UND

T RAGÖDIE

Anfang 1802 beginnt Kleist gleichzeitig an der Tragödie Robert Guiskard zu arbeiten, er zerstört das Manuskript im Oktober 1803.88 Einen Brief an Ulrike von Kleist beginnt er mit der Klage, nicht mit den Worten „mein Gedicht ist fertig“ aufwarten zu können, am Schluss bekennt er kapitulierend: „Lebe wohl, grüße Alles − ich kann nicht mehr.“89 Dem verleugneten Trauerspiel folgt eine vernichtete Tragödie. Allerdings wird Robert Guiskard nicht nur als Tragödie, sondern auch als „Trauerspiel“ bezeichnet.90 1806 hat Kleist nach den Lustspielen Der zerbrochne Krug und Amphitryon erneut „ein Trauerspiel unter der Feder“91; es handelt sich um Penthesilea.92 Das, wie der Untertitel präzisiert, Organische Fragment aus dem Trauerspiel erscheint im Januar 1808 im Phöbus; das gesamte Drama im gleichen Jahr in der Cotta’schen Buchhandlung. Kleist „überschick[t]“ das Fragment postalisch, verneigt sich vor dem „[h]ochwohlgebohrne[n] Herr[n]“ und „[h]ochzuverehrende[n] Herr[n] Geheimerath“ Goethe und trägt es ihm, um

88 Anthony Stephens: „Tragödie, Trauerspiel, Schauspiel“, in: KHb, S. 15−21, hier S. 16. 89 Brief an Ulrike von Kleist, 5. Oktober 1803, in: DKV IV, S. 321. 90 Vgl. BKA I/2, S. 7. Dazu Ulrich Fülleborn: Die frühen Dramen Heinrich von Kleists, München 2007, S. 57. 91 Brief an Otto August Rühle von Lilienstern, 31. August 1806, in: DKV IV, S. 360−362, hier S. 362. 92 Eine Unmenge aktueller Publikationen, die auch allgemeinere Probleme der Tragödie bzw. des Trauerspiels behandeln, liegt zu Penthesilea vor. Davon sollen hier nur einige wenige genannt werden: Renata Gambina und Grazia Pulvirenti: „Vom Zweikampf zur Hetzjagd. Die politische Bedeutung der Tiere in Heinrich von Kleists ‚Penthesilea‘“, in: Weimarer Beiträge 63/3 (2017), S. 367–388; Sandra Kluwe: „‚Othering‘ und ‚selfothering‘ als identitätspolitisches Problem in Kleists Trauerspiel ‚Penthesilea‘, in: KJb 2016, S. 35–58; Martin Bartelmus: „Kleists Teichoskopie auf die Moderne. Über Kollektive, Meuten, Subjekte und das Tier-Werden im Trauerspiel ‚Penthesilea‘, in: Journal of Literary Theory 9/2 (2015), S. 161–185; Patrice Djoufack: „Gender – Kulturkontakt – Macht. Interkulturalität und Geschlechterdiskurs in Heinrich von Kleists Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Text & Kontext 35 (2013), S. 127–143; Timothy J. Mehigan: „Kleist und die Tiere. Zur Frage des ausgeschlossenen Dritten in dem Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Penthesileas Versprechen (wie Anm. 23), S. 291–311; Marianne Schuller: „Ein Trauerspiel? Zu Kleists ‚Penthesilea‘“, in: Kleist lesen, hg. v. Nikolaus Müller-Schöll und Marianne Schuller, Bielefeld 2003, S. 60–73; Maximilian Guiseppe Burkhart: Dekonstruktive Autopoiesis. Paradoxe Strukturen in Kleists Trauerspiel ‚Penthesilea‘, Frankfurt a. M. 2000.

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eine Aufführung in Weimar buhlend, „auf den Knien [s]eines Herzens“ an, obschon das „Trauerspiel“ nicht „für die Bühne geschrieben“ sei.93 Goethe aber kann sich bekanntlich mit dem „wunderbaren Geschlecht“ in seiner „fremden Region“ „noch nicht befreunden“, denn es sei für ein Theater geschrieben, „welches da kommen soll“.94 Ein fragmentiertes, verschicktes und abgelehntes Trauerspiel, das als „von der Brust heruntergehustete“ Tragödie95 ausgewiesen wird; eine verhinderte Aufführung. Kleist, das macht der Umgang mit dem eigenen Werk deutlich, verwendet die Gattungsbezeichnungen „Trauerspiel“ und „Tragödie“ synonym und historisch undifferenziert.96 Nach dem Druck der Penthesilea ändern sich die Zuschreibungen: Das Käthchen von Heilbronn wird als „großes historisches Ritterschauspiel“ definiert, Die Hermannsschlacht als „Drama“ und Prinz Friedrich von Homburg als „Schauspiel“.97 Den drei Texten Kleists, die explizit als Trauerspiel und/oder Tragödie bezeichnet werden, steht der Befund gegenüber, dass die Tragödie „die Grundform der dramatischen Dichtungen Kleists“98 und Kleist „der tragischste unter den deutschen Tragikern“ sei.99 Festzustellen bleibt, dass in Bezug auf die Gattung Trauerspiel ein gewisses „Wirrwarr“100 vorherrscht – und als solches bietet es sich in Die Familie Schroffenstein auch den Figuren im Stück dar. Dieses ‚Wirrwarr‘, gestiftet von unartigen Briefen und Tragödien, lässt sich in verschiedene Komponenten zerlegen. Verwirrung stiften bei Kleist erstens die instabile Terminologie und Metaphorik der Gattungsbezeichnungen, zweitens der Ort der Auseinandersetzung mit den Gattungen, drittens der diskursive Kontext der Gattungsarbeit und viertens die Realisierbarkeit von generischen Modellen überhaupt. Darüber hinaus stellt sich aus 93 Brief an Johann Wolfgang von Goethe, 24. Januar 1808, in: DKV IV, S. 407 408, hier S. 407. 94 Brief von Johann Wolfgang von Goethe, 1. Februar 1808, in: DKV IV, S. 409−410, hier S. 410. 95 „Soviel ist gewiß: ich habe eine Tragödie (Sie wissen, wie ich mich damit gequält habe) von der Brust heruntergehustet; und fühle mich wieder ganz frei!“ Brief an Christoph Martin Wieland, 17. Dezember 1807, in: DKV IV, S. 398−400, hier S. 399. 96 Stephens: „Tragödie“ (wie Anm. 88), S. 17. 97 Die letzten beiden Zuschreibungen stammen unter Umständen von Tieck. Vgl. ebd. 98 Ebd., S. 15. 99 Hans-Dieter Gelfert: Die Tragödie. Theorie und Geschichte, Göttingen 1995, S. 107. Gelfert begründet diesen Titel damit, dass Kleist das „tragische Problem so scharf wie kein anderer herausgearbeitet“ habe, und zwar einzig in Penthesilea, nicht aber im „unausgereifte[n] Frühwerk“ Die Familie Schroffenstein. 100 Kleist: „Die Familie Schroffenstein“ (wie Anm. 83), S. 90, Z. 8. Vgl. Louis Gerrekens: „Die Familie Schroffenstein“, in: KHb, S. 27−33, hier S. 30.

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einer literaturgeschichtlichen Perspektive die Frage, wie sich Radikalität oder Konformität, also der dichterische Umgang zum Gesetz der Gattung und damit auch zu zeitgenössischen und nachträglichen Ordnungs- und Systematisierungsversuchen verhält.

G ENOLOGIE

UND

G ENEALOGIE

Die imaginäre Verunglimpfung der ersten dichterischen Arbeitsprobe ist für unsere Frage besonders interessant. Die Hypothese der ungeklärten Filiation stört zugleich poetologische, rechtlich-moralische und naturgeschichtliche Ordnungsvorstellungen. Der Reinheit des poetischen Ideals wird der Bastard als künstliches Wesen gegenübergestellt, das aus Verfahren der Gattungsmischung (poetologisch), aus nichtehelichem Sexualverkehr (rechtlich-moralisch) oder aus der Kreuzung zweier Arten (naturgeschichtlich) hervorgehen kann. Das erste professionelle Schreibprodukt läuft offenbar Gefahr, als Ergebnis einer Unart oder selbst als Unart zu erscheinen – und zwar sobald das Geschriebene ins Licht der Öffentlichkeit tritt. In Die Familie Schroffenstein fallen die Begriffe ‚Art‘ und ‚Gattung‘ bereits in der ersten Szene des ersten Aufzugs und werden auf bemerkenswerte Weise miteinander verknüpft. Rupert, Graf von Schroffenstein aus dem Hause Rossitz, führt sie im Munde, als er gegenüber seinen Vasallen ausführt, wie der Racheschwur gegen das Haus Warwand in Gewalttaten umzusetzen sei: Wir Indessen thunʼs in unsrer Art. Ich biete Euch, meine Lehensmänner, auf, mir schnell Von Mann und Weib und Kind, und was nur irgend Sein Leben lieb hat, eine Schaar zu bilden. Denn nicht ein ehrlich offner Krieg, ich denke, Nur eine Jagd wirdʼs werden, wie nach Schlangen. Wir wollen bloß das Felsenloch verkeilen, Mit Dampfe sie in ihrem Nest ersticken, – Die Leichen liegen lassen, daß von fernher Gestank die Gattung schreckt, und keine wieder In einem Erdenalter dort ein Ey legt.101

101 Kleist: „Die Familie Schroffenstein“ (wie Anm. 83), S. 12–13 (eigene Hervorhebung, d. Hg.).

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Ruperts Appell mobilisiert nicht nur die Rossitzer Bevölkerung, sondern auch verschiedene Diskurse. Durch die Polysemie der Begriffe ‚Art‘ und ‚Gattung‘ werden die Bereiche der Biologie (bzw. der Naturgeschichte), des Sozialen und der Poetik zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei geraten sowohl die Unterschiede des Geschlechts (‚Mann und Weib‘), des Alters (‚Kind‘) und der Spezies (‚was nur irgend / Sein Leben lieb hat‘) als auch die Differenzen zwischen den verschiedenen Bedeutungen ‚Art‘ und ‚Gattung‘ in Bewegung. Ruperts Rede thematisiert Gattungsgrenzen. Dabei werden diese Grenzen zwar aufgelöst, zugleich wird aber auch eine neue ultimative Trennlinie gezogen. Die zuvor unvereinbaren, heterogenen Elemente (Männer, Frauen, Kinder, Tiere) versammeln sich nun in einer neuen Gattung, der kriegerischen „Schaar“. Der Appell zur allgemeinen Mobilisierung ist eine sprachliche Klassifikationshandlung, die die Rossitzer Kombattanten vermehrt. Auf der Gegenseite findet die ‚Schar‘ eine symmetrische Entsprechung im ausgedehnten Kreis der schlangenähnlichen Feinde aus dem Hause Warwand. Der Begriff Gattung changiert zwischen einer sozialen (Haus, Adelsgeschlecht) und einer biologischen Konnotation (Schlangen). Doch die Überblendung von Gesellschaft und Natur bleibt nicht bloß metaphorisch; sie ist diskursiv motiviert und hat eine materielle Komponente. Rupert schwört sein Gefolge auf einen inhumanen Modus der Kriegsführung ein, der nicht auf offenen Schlachtfeldern geführt wird, sondern auf Ausrottung zielt. Der Konflikt spielt in den Bereich des Nicht-Menschlichen hinein, der Kriegscodex wird außer Kraft gesetzt. Angesichts dieser Übertragung ins Unmenschliche erscheint der Hinweis auf die Jagd als unpassende Vokabel für eine Operation, mit der die Fortpflanzung der Feinde unterbunden werden soll. Gattung hat in Ruperts Rede aber auch eine poetologische Konnotation. Wenn „von fernher Gestank die Gattung schreckt“, so ruft das Verb mit dem Schrecken (phobos) einen der beiden zentralen Affekte der tragischen Katharsis auf. Der Kampagne wird eine ästhetisch-politische Wirkung der Tragödie zugeschrieben. Mitleid (eleos) dagegen soll unterbunden werden: „Denn nicht ein ehrlich offner Krieg, ich denke, / Nur eine Jagd wirdʼs werden, wie nach Schlangen.“ Im „Theater der Grausamkeit und der Extreme“102 bleibt kein Raum für edle 102 Penthesilea kann als „Gegenentwurf zu der ‚verteufelt humanen‘ […] Iphigenie Goethes verstanden werden.“ Bernhard Zimmermann: „Tragödie“, in: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping, Stuttgart 2009, S. 722−739, hier S. 737. Vgl. Brief von Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, 19.01.1802, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter u.a., Bd. 8.1, hg. v. Manfred Beetz, München 1990, S. 874–875, hier S. 874: „Hiebei kommt die Abschrift des gräcisirenden Schauspiels. Ich bin neugierig

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Empfindungen. Zugleich werden mit dem verkeilten Felsenloch und dem stinkenden Leichnam zwei Motive aus Sophokles’ Antigone zitiert, einem nicht nur für Kleist, sondern für die Frage des Tragischen um 1800 überhaupt prominenten Referenztext. Denn die Sattelzeit um 1800 zählt zu den literaturgeschichtlichen Zeiträumen, in denen Gattungen zum Problem werden. Dabei wird „gerade auf solche Bereiche rekurriert […], in denen Klassifikationen routiniert sind“: Erstens die „Sozialordnung und ihre Implementierung, Stabilisierung und, gegebenenfalls, ihre Subversion, durch Beschreibung und durch ‚Verhandlungen‘ von Alterität“; zweitens die „Bewältigung der Vielfalt der lebendigen Natur durch ihre Beschreibung, Benennung und Systematisierung“; und drittens „die Poetik selbst, die sich in einem langen Prozess von der Rhetorik über die Philologie zur Literaturwissenschaft konstituiert und selbst in Krisen kulturell-gesellschaftlicher Klassifikation ihre Funktionen übernimmt.“103 Die Familie Schroffenstein deklariert das „genologische Terrain“ 104 zum Schlachtfeld. Die krisenhafte Ausgangssituation stellt Zugehörigkeiten zur Disposition, das Ritterschauspiel im mittelalterlichen Schwaben trägt einen historischen Index in die Gemengelage ein. Indem das Drama Analogien zwischen Biologischem, Sozialem und Poetischem hervorbringt,105 zeigt es die unscharfen Ränder eines solchen Terrains.

P URIFIKATION

UND

K ONTAMINATION

Um 1800 findet das literarische Schreiben unter der Bedingung einer umfassenden Deregulierung, genauer einer „Dynamisierung des gesamten überlieferten Gattungsgefüges“106 statt. Diese hat, so Dirk Oschmann, mehrere Voraussetzungen: die Ablösung der Literatur von der Rhetorik, die mediale Ausdifferenzierung der

was Sie ihm abgewinnen werden. Ich habe hie und da hineingesehen; es ist ganz verteufelt human.“ 103 Michler: Kulturen der Gattung (wie Anm. 34), S. 12. 104 Ebd., S. 12. Vgl. auch S. 20. 105 Fishelov identifiziert für das Gattungsdenken vier maßgebliche Analogiebereiche: Gattung als Spezies, Gattung als Familienähnlichkeit, Gattung als Institution, Gattung als Sprechakt. Vgl. David Fishelov: Metaphors of Genre. The Role of Analogies in Genre Theory, University Park, PA 1993. Dazu Michler: Kulturen der Gattung (wie Anm. 34), S. 19f. 106 Dirk Oschmann: „Gattungstheorie um 1800“, in: Handbuch Gattungstheorie, hg. v. Rüdiger Zymner, Stuttgart, Weimar 2010, S. 206–209, hier S. 206.

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Künste und den Übergang von der Regelpoetik zur Genieästhetik.107 Die dichterische Freiheit, die nicht wie zuvor durch die tradierten Gesetze der Gattung beschränkt wird, stößt sich an dem Zwang, individuelle Verfahrensweisen legitimieren zu müssen. Daraus resultiert eine Unzahl unterschiedlicher Poetiken. Während sich Gattungen und Poetiken vervielfältigen, erfährt die Gattungstheorie eine Verknappung. Sie beschränkt sich auf Epos, Lyrik und Drama. Dabei ist die „maßgebliche Orientierung an naturgeschichtlichen und biologistischen Ordnungsmodellen“108 bemerkenswert, wie sie sich beispielsweise in Goethes Rückgriff auf naturkundliche Systematik zeigt. Es kommt zu einer Naturalisierung der jeweiligen inneren Gesetzmäßigkeit der Gattungen. Damit verbunden werden Forderungen wie die Adäquatheit von „Stoff“ und „Dichtart“109 und die Originalität bzw. Individualität des Kunstwerks. Zwei prominente Optionen zur Realisierung dieser Forderungen sind historisch verfügbar: einerseits die Reinigung der Form (die klassische Option), andererseits die Vermischung der Formen.110 Ersteres wird von Schiller als Gattungskombinatorik111 gefasst, letzteres von Friedrich Schlegel 107 Ebd. 108 Ebd., S. 207. 109 Brief von Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, 26.12.1797, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe, 12 Bde., hg. v. Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp und Rolf-Peter Janz u.a., Bd. 12: Briefe II 1795−1805, hg. v. Norbert Oellers, Frankfurt a. M. 2002, S. 354−256, hier S. 354. Darin heißt es zum Komplex Art und Gattung auch: „Daß der Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe, leuchtet mir sehr ein. Ich setze noch hinzu. Es entsteht daraus ein reizender Widerstreit der Dichtung als Genus mit der Species derselben, der in der Natur wie in der Kunst immer sehr geistreich ist. […] Das Merkmal, wodurch sie [Tragödie u. Episches Gedicht] specifiziert und einander entgegen gesetzt werden, bringt immer einen von beiden Bestandteilen des poetischen Gattungsbegriffs ins Gedränge, bei der Epopee die Sinnlichkeit, bei der Tragödie die Freiheit, und es ist also natürlich, daß das Contrepoids gegen diesen Mangel immer eine Eigenschaft seyn wird, welche das specifische Merkmal der entgegengesetzten Dichtart ausmacht. Jede wird also der andern den Dienst erweisen, daß sie die Gattung gegen die Art in Schutz nimmt. Daß dieses Hinstreben zu einander nicht in eine Vermischung und Grenzverwirrung ausarte, das ist eben die eigentliche Aufgabe der Kunst, deren höchster Punkt überhaupt immer dieser ist, Character mit Schönheit, Reinheit mit Fülle, Einheit mit Allheit pp zu vereinbaren.“ Ebd, S. 355. 110 Vgl. Oschmann: „Gattungstheorie um 1800“ (wie Anm. 106), S. 207. 111 Vgl. Friedrich Schiller: „Kallias, oder über die Schönheit“, in: Ders.: Werke und Briefe (wie Anm. 109), Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit v. Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a. M. 1992,

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zu einer „progressive[n] Universalpoesie“ 112 radikalisiert, dazu bestimmt, „alle getrennten Gattungen wieder zu vereinigen“ 113 und „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“114 hervorzubringen. Die Vermischung der Formen bringt romantische „Leitgattungen“ hervor: Fragment, Roman und Rezension.115 In diesem Kontext schreibt Kleist sein Trauerspiel Die Familie Schroffenstein. Er versucht sich dabei auf einem Feld, das „zeitgenössisch als das höchste angesehen wird.“116 Denn spätestens seit Hegel ist die Tragödie „eine der wichtigsten dramatischen Gattungen der abendländischen Literaturgeschichte“.117 Zugleich handelt es sich um ein von Goethe noch unbesetztes Betätigungsfeld. Dabei orientiert Kleist sich vor allem an der Tragödientheorie Schillers, die dieser in Auseinandersetzung mit Sophokles und Shakespeare erarbeitet.118 Er entscheidet sich daher zunächst für keine der dezidiert zeitgenössischen Gattungen: Er fängt weder an mit einer romantisch aufgeladenen Gattung wie Fragment, Roman oder Rezension noch mit einer anderen ‚neuen‘ Gattung wie der Novelle oder dem von Lessing entwickelten bürgerlichen Trauerspiel, das auf Mitleid setzt. Ganz im Gegenteil erzählt das sogenannte Trauerspiel Die Familie Schroffenstein eine Geschichte aus dem Mittelalter, lässt den Adel in feudalen Erbfolgen auftreten und reaktualisiert so die bereits verabschiedete Ständeklausel. Anthony Stephens stellt daher fest, dass „Gattungsbezeichnungen keineswegs den Schlüssel zu einem Verständnis des Tragischen bei Kleist“119 liefern. Er äußert zudem „Zweifel an der begrifflichen Ausgeformtheit“120 von Kleists Auffassung des Tragischen. Das GattungsS. 276−329. Dazu u.a. Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007, S. 167−169. 112 Friedrich Schlegel: „Fragmente“, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, 35 Bde., München 1958ff., Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796−1801), hg. v. Hans Eichner, München 1967, S. 165−255, hier S. 182 (Nr. 116). 113 Ebd. 114 Ebd., S. 204 (Nr. 238). Vgl. ebd., S. 206 (Nr. 247): „Goethes rein poetische Poesie ist die vollständigste Poesie der Poesie“. 115 Oschmann: „Gattungstheorie um 1800“ (wie Anm. 106), S. 208. 116 Greiner: „Die große Lücke“ (wie Anm. 79), S. 147. 117 Frank Zipfel: „Theorien des Tragischen“, in: Handbuch Gattungstheorie (wie Anm. 106), S. 338−341, hier S. 338. 118 Vgl. Friedrich Schiller: „Über die tragische Kunst“, in: Ders.: Theoretische Schriften (wie Anm. 111), S. 251−275; Ders.: „Über das Pathetische“, in: ebd., S. 423−451; Ders.: „Über das Erhabene“, in: ebd., S. 822−840. 119 Stephens: „Tragödie“ (wie Anm. 88), S. 17. 120 Ebd.

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denken zeigt sich folglich in einem anderen Aggregatzustand. Die produktive Kreuzung von Trauerspiel und Tragödie verrät ein Desinteresse an scharfer Differenzierung. Kleist rückt in die Nähe von Schillers Forderung, man dürfe „sich durch keinen allgemeinen Begriff feßeln“.121 Schillers „Idee eines Trauerspiels“ will „immer beweglich und werdend sein“.122 Der Erstling Die Familie Schroffenstein nimmt auf diese Weise an der zeitgenössischen Debatte über das Tragische teil und vielleicht sogar an einer „Philosophie des Tragischen“, die Szondi mit Schelling beginnen sieht.123 Tragik ist hier nicht mehr wie bei Aristoteles eine Unterweisung in die Tragödie und deren Idee. Das Tragische selbst durchzieht dagegen „das Denken der idealistischen und nachidealistischen Zeit in stets neuer Gestalt“.124 Szondis Forderung, zu untersuchen, „inwiefern diese Bestimmungen gar selber Tragödien darstellen oder doch deren Modelle“,125 gilt es in unserem Zusammenhang ernst zu nehmen. Denn auch Kleists Konzeption des Trauerspiels verdankt sich dialektischen Bewegungen zwischen dichterischer Theorie und philosophischer Praxis. Wenn die tragische Erfahrung, wie Hans-Thies Lehmann fordert, „sowohl von der Erkenntnis der Tragödie wie von Einsicht in die Struktur von Tragik zu unterscheiden“126 ist, so spricht dies für eine gattungsgeschichtliche Wandlung des Tragischen als Grenzerfahrung von Geschichtlichkeit. Wenn sich Die Familie Schroffenstein entschieden von der Schicksalstragödie oder auch von der rousseauistischen Tragödie abwendet, so weil sich mit dem Stück scheinbar eine Rückkehr zum analytischen Drama – Sophokles’ König Ödipus – vollzieht. Doch der Eindruck des Rückgriffs trügt in diesem „agonalen Denken“, das einem aristokratischen Rechts- und Freiheitsbegriff geschuldet ist,127 genauso wie die Hoffnung auf Versöhnung. Zwar steht die Aufklärung eines vorgängigen Geschehens im Zentrum des Dramas, die

121 Brief von Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, 26. Juli 1800, in: Schiller: Briefe II (wie Anm. 109), S. 520−521, hier S. 521. 122 Brief von Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 28. Juli 1800, in: ebd., S. 524−526, hier S. 525. 123 „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.“ Peter Szondi: „Versuch über das Tragische“, in: Ders.: Schriften, hg. v. Jean Bollack, 2 Bde., Bd. I: Theorie des modernen Dramas (1880−1950), Frankfurt a. M. 1978, S. 149−260, hier S. 151. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 152. 126 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 61. Vgl. auch den Abschnitt zu Kleist, S. 488−500. 127 Günter Blamberger: „Adel und Adelskultur“, in: KHb, S. 241−243, hier S. 242.

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Handlung aber läuft auf „Nicht-Lösung“ und „Ausweglosigkeit, A-porie“128 hinaus, sodass Louis Gerrekens hier von einer „frühe[n] Form der Genre-Dekonstruktion“129 sprechen kann. Im Gewand der antiken Tragödie tritt Kleists aristokratisiertes Trauerspiel absolut modern auf. Beobachten lässt sich dies vor allem bei der antikisierenden Penthesilea, die als organisches Fragment romantisiert wird. In anderen Texten, etwa in der „Komödie (in deren Kulissen freilich noch die Tragödie lauert)“130 oder in Erzählungen,131 kommt es zu einer ähnlich transformativen Mimikry. Wenn mit Gattungen „die viel grundlegendere Frage verbunden [ist], wie Gesellschaften, oder in ihrer semiotischen Dimension angesprochen: Kulturen, in einem Ordnung und Kreativität verstehen, organisieren, administrieren und auf Dauer stellen“,132 wie Michler nahelegt, so gehorchen Kleists Texte weder dem klassischen Programm einer Purifikation noch dem romantischen Programm einer Kontamination von Gattungen. Diese Unentschiedenheit artikuliert sich in einer dialektischen Spannung, die deshalb produktiv werden kann, weil sie nicht aufgelöst wird. Die permanente Gattungsarbeit entwickelt eine erhöhte Aufmerksamkeit für notorisch minimale Abweichungen, die sich nicht nomologisch korrigieren, fixieren oder auflösen lassen und gerade deshalb den Keim der Poesie in sich tragen. Für den vorliegenden Band hat diese Koexistenz von „Klassifikation und Prokreation“133 weitreichende Konsequenzen. Kleists Unarten in einem sich selbst gegenüber kritisch bleibenden Gesetz der Gattung auszumachen, stellt uns vor geschichtsphilosophische, rechtliche, ästhetische, politische und naturgeschichtliche Herausforderungen.

128 Greiner: „‚Welch eine Sonne geht mir auf‘“ (wie Anm. 73), S. 49. 129 Louis Gerrekens: „Die Familie Schroffenstein. Das Trauerspiel und seine Dekonstruktion“, in: „Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden“: Heinrich von Kleist in der Schweiz. Eine Ausstellungsdokumentation, hg. v. Philipp Burkard und Anett Lütteken, Göttingen 2011, S. 289−304, hier S. 303. Vgl. Louis Gerrekens: „Die Familie Schroffenstein“, in: KHb, S. 27−33, hier S. 32. 130 Szondi: „Versuch über das Tragische“ (wie Anm. 123), S. 248. 131 Stephens: „Tragödie“ (wie Anm. 88), S. 18. 132 Michler: Kulturen der Gattung (wie Anm. 34), S. 20. 133 Ebd., S. 20.

E INLEITUNG

S CHAUSPIEL

DER

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G ATTUNG

Vor der Uraufführung der Familie Schroffenstein am 09.01.1804 am Grazer Nationaltheater steht nicht nur der zuvor diskutierte Brief vom 10. Oktober 1801, sondern auch ein ansteckendes Lachen. Im Winter 1802/1803 „teilten“ Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland und Kleist sich „freigiebig von eignen poetischen Schöpfungen mit, was natürlich zu neckischen Glossen und Witzspielen den ergiebigsten Stoff lieferte“.134 In diesem Zusammenhang berichtet Zschokke von einer ‚verunglückten‘ Lesung, bei der „im letzten Akt das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft, wie auch des Dichters, so stürmisch und endlos [ward], daß, bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde.“135 Das Lachen unterbricht Kleist und seine Selbstdarstellung, verhindert eine einseitig tragische Rezeption im Freundeskreis und pervertiert die Wirkung des Dramas ins Komödiantische. Das deplatzierte diebische Vergnügen, das sich vor der Uraufführung Bahn bricht, steht im eklatanten Gegensatz zum Ernst des bürgerlichen Trauerspiels. Während Lessing und Schiller136 die aristotelische Katharsis durch Jammer (eleos) und Schaudern (phobos) in der bürgerlichen Ästhetik von Mitleid und Furcht kanalisieren wollen,137 erschüttert hier eine agonale Tragikomödie das Zwerchfell der Zuschauer. Das Lachen übernimmt die „kathartische Funktion“ des Jammers138 im kleinen Kreis und später auf der großen Bühne („das Publikum lacht von Herzen“139). Die Tragödie kippt „in die Groteske um“.140 Die Forschung hat dies als subversiven Umgang mit literarischen Genres verstanden.141 Radikalität, so Peter-André Alt, irritiere „konventionelle Erwartung-

134 LS, Nr. 67a. 135 Ebd. 136 Vgl. Bernhard Zimmer und Tobias Gunst: „Tragödie“, in: Handbuch der literarischen Gattungen (wie Anm. 30), S. 722–739, hier S. 727. 137 Vgl. Bernhard Greiner: Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges, Stuttgart 2012, S. 1520, hier S. 16. 138 Hinrich C. Seeba: „Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“, in: DVjs 44 (1970), S. 64100, hier S. 70. 139 Kommentar zur Stuttgarter Aufführung 1862. Zitiert nach: Ebd. 140 Ebd., S. 71. 141 Kleist „unterwandert […] die literarischen Gattungen, indem er mit ihrem Erwartungshorizont spielt“; er „schreibt entsetzliche Komödien und zum Totlachen komische Tragödien. Er erzählt Anekdoten, die wie Novellen funktionieren, und publiziert Essays, die überwiegend aus narrativen Komponenten bestehen. Seine Lyrik ist Polemik, seine Briefe sind Traktate.“ Peter-André Alt: „Geleitwort“, in: Risiko –

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en“, wenn sie „Strukturen der Gattungen“ unterlaufe.142 Es seien „Zumutungen“, die eine „Lust an der Dekonstruktion“143 verrieten. In Die Familie Schroffenstein wird schon vor der Ermordung der Söhne durch die Väter und vor dem Ende, das den tragischen Knoten nicht löst, gelacht. Nicht erst das „groteske, kursorisch skizzierte Schlusstableau, das bestenfalls eine Versöhnung parodiert“,144 sondern das gesamte Handlungsgefüge zeigt eine tragische, weil agonale Widerständigkeit. Im Zentrum der literarhistorischen Szene im Winter 1802/1803 in der Schweiz steht nicht die Sorge um ein Bühnenstück, sondern ein Zelebrieren des Schreibens und Lesens. Es wird nichts gespielt, sondern etwas deklamiert. Dass die Dramen Kleists weder für die Bühne bestimmt sind noch ihre tragische Bestimmung erreichen, lässt sich auch an anderen Beispielen wie Penthesilea plausibilisieren. Bernhard Greiner hat in Bezug auf die „unausführbare Tragödie“145 Robert Guiskard dargelegt, wie sich Kleist, in Auseinandersetzung mit Schillers Begriff des Erhabenen, um eine Aktualisierung der Tragödie bemüht. Die Arbeit am Tragischen wird als Versuch eingeordnet, die von Wieland ausgemachte und von Schiller und Goethe unbesetzte „große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen“.146 Greiner findet an dieser Stelle die kantische Einsicht wieder, „daß es ein Erhabenes der Kunst nicht geben kann“.147 Sowohl Robert Guiskard wie Die Familie Schroffenstein führten diese Einsicht mit bzw. in einem „Kunststück“,148 einem Spiel im Spiel, vor Augen. Als „unbestechlicher Analytiker“ arbeite Kleist „das Moment der Fiktionalisierung, d.i. des bloß Schauspielhaften in [der] Konzeption des Tragischen als Erhabenem heraus“.149 Ergebnis sei die „Position einer radikalen negativen Ästhetik“.150 Aus dieser offensiven wie lustvollen Darstellung des eigenen Scheiterns erschließt sich die romantische Vorliebe für Entwürfe und Fragmente. Formen des Nicht-Fertigen bieten die Möglichkeit, die Tragödie als eine unmöglich bzw. nicht-aufführbar gewordene auszustellen. Der hohe Grad an

Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, hg. v. Hans Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe, Göttingen 2013, S. 912, hier S. 10. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 9. 144 Stephens: „Tragödie“ (wie Anm. 88), S. 20. 145 Greiner: „Die große Lücke“ (wie Anm. 79), S. 135–148. 146 LS, Nr. 89. 147 Greiner: „Die große Lücke“ (wie Anm. 79), S. 142. 148 Kleist: „Die Familie Schroffenstein“ (wie Anm. 83), S. 207. 149 Greiner: „Die große Lücke“ (wie Anm. 79), S. 145. 150 Ebd., S. 147.

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Selbstreflexion lässt sich vermutlich am besten mit dem Begriff des Schauspiels fassen. In Bezug auf das Trauerspiel können wir somit einige Tendenzen festhalten, mit denen sich Kleists Gattungsarbeit charakterisieren lässt. Erstens hat Kleists Gattungstheorie ihren Ort im Trauerspiel selbst, sie kann als dichterische Gattungspraxis verstanden werden. Im Gegensatz zur mise en abyme der überschüssigen Briefadressierung erlaubt das Trauerspiel eine dramatisierte Ausfaltung der Gattungstheorie. Die Bezeichnung ‚Trauerspiel‘ ist mehr als eine Zuordnung oder ein Zeichen von Zugehörigkeit. Sie verweist auf die literarische Gattung und deren Pluralisierung als stets neu zu verhandelnden poetischen Gegenstand. Zweitens hat Kleists Gattungstheorie ihren Ort auch in anderen Texten, die nicht unbedingt der verhandelten Gattung angehören; sie ist verstreut. So wird das Trauerspiel im Brief reflektiert und umgekehrt. Das reflexive Moment weist über den jeweiligen Text hinaus. Drittens lässt sich eine Negativität des Gattungsdenkens ausmachen. Das wird vor dem Hintergrund der Unbeständigkeit sichtbar. Kleists Texte scheitern konstitutiv. Literarische Gattungen werden problematisiert, indem sie ihre Nicht-Realisierbarkeit ausstellen. Schließlich lässt sich die Beobachtung festhalten, dass Kleists Texte, wenn sie sich überhaupt generisch festlegen, zu anderen Gattungen tendieren. So stößt sich etwa die Tragödie im Schauspiel (Spiel im Spiel) von sich selbst ab und strebt in andere Richtungen; sie nähert sich der Komödie oder der Groteske an oder tendiert – etwa indem sie sich weigert, bühnenreif zu werden – zur Anekdote oder Novelle.

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Ü BER

DIESEN

B AND

Unser Band versammelt die Beiträge zur Tagung Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung, die vom 24. bis zum 26. September 2015 im Kleist-Museum in Frankfurt (Oder) stattfand, einem Ort an der deutsch-polnischen Grenze. Unsere einleitenden Überlegungen orientierten sich an Kleists Paris-Brief an Adolphine von Werdeck vom 28./29. Juli 1801. Kleist war im Herbst 1801 über Dresden und Straßburg151 nach Paris gereist. An jener anderen Grenze, genauer an der Université de Strasbourg, fand vom 4. bis 8 Juli 1979 auch ein internationales Kolloquium mit dem polyglotten Titel Le Genre / Die Gattung / Genre statt. Derridas Beitrag zu diesem Kolloquium trug den Titel „La loi du genre“.152 Er findet sich im Untertitel dieses Bandes wieder. Kleists Brief aber hatte in entgegengesetzter Richtung die deutsch-französische Grenze überquert und war zurück nach Frankfurt (Oder) gelangt. Im Keller des Kleist-Museums ist das Original des Briefs heute archiviert. Schon an den postalischen Transportwegen zeigt sich, dass die Briefgattung in eine ‚Gattungskultur‘ eingebettet ist und daher auch an Grenzen der Sprache, der Nationen, der Institutionen rührt. Mit Kleists Gattungsarbeit stellen sich Fragen nach Begrenzung, Unterscheidung, Reinheit, Vermischung und Gesetzmäßigkeit – auch in politischer Hinsicht. Unter dem Titel Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung fragen die Autor*innen unseres Bandes danach, welche Art von Gattungsarbeit Kleist in seinen Texten leistet und wie sich diese Arbeit zu den Gattungsgesetzen verhält, die um 1800 für das Gattungsdenken in verschiedenen Diskursen charakteristisch sind. Ob Kleists Umgang mit den Gattungen von Radikalität gezeichnet ist oder ob Kleist sich vielmehr den Konventionen seiner Zeit unterordnet, bleibt unentschieden, denn zwischen diesen paradigmatischen, einander oft ausschließenden Ansichten schwanken die vorliegenden Beiträge. In keinem Fall legt Kleist eine Gattungspoetik vor. Vielmehr bezieht er sich in seinen Texten reflexiv auf Gattungen und betreibt so exzessiv Gattungspoetologie. Die Einsicht, dass sich das Schreiben nicht auf eine Gattungsordnung oder eine Normpoetik reduzieren lässt, spiegelt sich auch in der Struktur des vorliegenden Bandes wider. Der erste Abschnitt Gattungsarbeit: System, Klassifikation, Form umfasst allgemeine Überlegungen. Den Auftakt zum ersten Teil, Gattungsgeschichten, gibt Werner Michlers paradigmatischer Beitrag, der Kleists Gattungshandeln in Bezug auf eine Soziopoetik der Gattungen in der sogenannten Goethezeit untersucht.

151 Beiträge und Diskussionen sind erschienen in: Le genre. Die Gattung. Genre, hg. v. Groupe de recherches sur les théories du signe et du texte, Strasbourg 1980. 152 Ebd., S. 183−213.

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Kleist, so wird deutlich, orientiert sich an einem Ideal der Meisterschaft oder Könnerschaft. Er folgt den Vorbildern der Antike und der Renaissance und sucht damit die Nähe Goethes. Michler macht hier den Sonderfall der Novelle geltend, an deren Entstehung oder Erfindung Kleist mit seinen eigentümlichen „Fügungen zwischen Personal, Diktion, Plot und Gattung“153 partizipiert. Für Stefan Färber lässt sich im Werk Kleists mit seinem Mangel an positiven Aussagen zu einzelnen Gattungen eine charakteristische Verschiebung beobachten, die sich in der poetischphilosophischen Auseinandersetzung über die Zugehörigkeit einzelner Exemplare zur Gattung artikuliert. Diese Verschiebung mündet in einer Situation, die Färber mit dem Ausdruck genreness beschreibt. Dabei rückt ein Krisenbewusstsein in den Vordergrund. Färber arbeitet dies logikgeschichtlich auf, indem er eine Genealogie der genreness nachzeichnet, wodurch sich auch Kleists Umgang mit den literarischen Gattungen näher bestimmen lässt. Sophie Witt analysiert den Zusammenhang von Psychosomatik und Theaterpoetologie. Sie stellt heraus, dass sich Kleists (und auch Schillers) Tragödientheorie in einer Frühgeschichte der Psychosomatik verorten lassen. Die Wechselbeziehung von Psychosomatik und Theater korrespondiert mit einer „extensiven Reflexion“ darüber, „was Theater sein kann und soll.“154 Mit einer Meditation über das absolute Böse schließt der erste Teil. Ausgehend von den Fährnissen der elektrisierenden Kleist-Lektüre unternimmt Lázló F. Földényi eine Perspektivierung des Gesamtwerks. Es zeigt sich eine eigentümliche Säkularisierung des Bösen, das mit Kleist nicht als theologische oder moralische Kategorie zu verstehen ist, sondern als „allgemein-menschlicher Zustand“155 der Gespaltenheit. Nichtidentität wird zum universellen Merkmal der menschlichen Gattung. Die literarische Signatur einer schleichenden epistemologischen Krise kulminiert in der Darstellung der vollends ungewissen Welt in Amphitryon. Der zweite Teil des ersten Abschnitts, Reproduktion und Repräsentation, beginnt mit einer Relektüre der Penthesilea. Andrea Allerkamp versteht die Obszönität der Zerreißungsszene als Überschreitung von Gattungsgrenzen der Tragödie, die sich kulturtheoretisch und anthropologisch ergründen lässt. Ihre Analyse einer genologischen Dynamik der eingeschlossenen Unabgeschlossenheit zeigt mit phylogenetischer Tiefenschärfe, warum die Tragik der Philosophie keine Ruhe lassen kann. Katrin Pahl spürt in ihrer queertheoretischen Lesart von Amphitryon Kobolde auf und befasst sich mit deren Unarten. Sie macht darin einen Widerstand gegenüber der „Reproduktionslogik der Gattungen“156 aus. Neben Amazonen und 153 S. 70 (in diesem Band). 154 S. 95. 155 S. 130. 156 S. 156.

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Amphibien zählen Kobolde zu den Figuren, die gegen die Binarität der Geschlechter arbeiten. Auf diese Weise werden Spielräume eröffnet, um neu und anders „wahrzunehmen, zu verstehen, zu fühlen und zu handeln“.157 Anhand einer ausgelassenen Szene in Das Käthchen von Heilbronn befasst sich Matthias Preuss mit dem „genologische[n] Problem“,158 das Kunigundes Kompositkörper als Wissensfigur darstellt. Naturgeschichte und Naturphilosophie auf der einen und Poetik und Ästhetik auf der anderen Seite bilden wichtige Kontexte des Gattungswissens um 1800. Die Herstellung von Monstern ist ein Feld, auf dem sich Unarten kultivieren lassen. Kleist kostet diese Versuchsanordnung geradezu komödiantisch aus. Anhand der Anekdote Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt aus den Berliner Abendblättern expliziert Alexander Kling eine kontinuierliche Doppelbewegung, die „Texte unter der Autorfunktion Kleist“159 inhaltlich und formal kennzeichnet. Regeln werden zugleich aufgestellt und subvertiert. Motive wie Schlachtungsspiel und Unschuldsprobe zirkulieren über Text- und Gattungsgrenzen hinweg. So werden Unarten schließlich zum Ausgangspunkt für eine Problematisierung literarischer Autorschaft. In der Mitte des Bandes bildet der zweite Abschnitt Briefverkehr: Einstiege, Unfälle, Übersprünge eine Zäsur. Marcel Beyer untersucht Kleists briefliche Übermittlung eines Kutschenunfalls in einem intensiven Essay, der sich erzählerisch am Schrei des Esels entzündet. Die Episode in Butzbach erlangt den poetischen Status einer „klug komponierte[n], konzise[n] Binnenerzählung“.160 Es sind einzelne Momente wie die Initiation des Schreibens, der Beginn einer Reise und eine Nahtoderfahrung, die im Geschrei des Tieres nachhallen, wiederkehren, ja vielleicht ein epochales Echo hinterlassen. Der dritte Abschnitt Spezifika: Unarten und kleine Formen nimmt einzelne Gattungen beziehungsweise Arten genauer in den Blick. Rüdiger Campe eröffnet den ersten Teil, Schreibarten: Anekdote, Novelle, Essay, mit Überlegungen zur Prosa. In den Berliner Abendblättern geht es nicht mehr um den Gegensatz zur Poesie, sondern um eine Differenzierung zwischen ‚reiner‘ und ‚informativer‘ Prosa. Literaturgeschichtlich rückt Campe Kleist in die Nähe von Mercier und Rétif de la Bretonne. Dank des intensivierten Zusammenspiels von Poesie und Prosa entsteht bei allen drei Autoren eine neue Form der journalistischen Kunstprosa. Johannes Lehmann widmet sich in den Berliner Abendblättern der Anekdote. Um 1800 ist der Tatsachengehalt ein zentraler poetologischer Aspekt, der die Anekdote auszeichnet. Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von 157 S. 167. 158 S. 169. 159 S. 190. 160 S. 217.

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„Aufschreibemedien“161 der Gegenwart; als solche setzt Kleist seine Anekdoten in den Berliner Abendblättern ein. Mit seiner „Obsession für Fragen des Er- und Verkennens des Faktischen“162 trägt Kleist wesentlich zur Poetologie und Geschichte dieser kleinen Form bei. Pablo Valdivia Orozco untersucht die gattungsspezifische Relevanz des Exemplarischen in der Novelle. Novellen sperren sich nicht nur gegen eine Überführung in Gesetze, sie stellen das Gesetz der Gattung auch grundsätzlich infrage. Die Novelle kennzeichnet zweierlei: die Rahmenerzählung und die Erzählinstanz. Bei Cervantes und Kleist aber, so Valdivia, erscheinen diese beiden Merkmale ‚verkrüppelt‘ und ‚scheinhaft‘. Dan Gorenstein versteht Kleists Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden als Produkt einer Haltung, die sich als „experimentelle Maieutik“163 erkennen lässt. Rhetorik- und wissenschaftsgeschichtlich erfolgt eine temporäre „Entkopplung von Material und Ergebnis“.164 Kleists improvisierte Rede macht die Ausnahme zum Regelfall, im Umfeld der naturwissenschaftlichen Experimentalkultur kommt es zu „Verfahren zur Destabilisierung und Restabilisierung“.165 Im zweiten Teil, Tierarten: Bären, Hunde, Pferde, stellt Dietmar Schmidt die Anekdote vom Bären aus Über das Marionettentheater vor. Indem die Tierseelenkunde als „biologische Protowissenschaft“166 in die Lektüre einbezogen wird, erlaubt es hier die kleine Form, Verfahren epistemologischer Verunsicherung durchzusetzen. „Denkfiguren der Anthropologie“167 lösen die Opposition zwischen beseelten und lediglich mechanischen Körpern ab. Kleist, so Schmidt, entzieht der Tierseelenkunde die Seele und führt damit die literarische Gattung auf ihr eigenes anekdotisches Begehren zurück. Roland Borgards geht es um eine Bärin. Er liest die Hermannsschlacht als politisches Tierdrama, das den Bogen von den taxonomischen Schwierigkeiten der Naturkunde (im Umgang mit Braun- und Schwarzbären) zur dramatisierten Differenz zwischen dem Politischen und der Politik schlägt. Dramentheoretisch steht so zur Debatte, inwiefern die „propagandistische Logik“168 des Stücks durch den Auftritt der Bärin denaturalisiert wird. Letztlich ist es die Inszenierung, die Richtung und Durchschlagskraft dieses „brutal[en], nachdenklich[en] und inkonsistent[en]“169 Stücks bestimmen wird. 161 S. 268. 162 S. 272. 163 S. 305. 164 S. 320. 165 S. 326. 166 S. 330. 167 S. 352. 168 S. 369. 169 Ebd.

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Sebastian Schönbeck untersucht in seinem Beitrag die bei Kleist in Die Familie Schroffenstein, in den polizeilichen Tages-Mitteilungen und in Mutterliebe vorkommenden tollen Hunde. Diese Tiere werden als Unart beschrieben, die den Menschen in seinem kulturellen Selbstverständnis und seinen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten herausfordert. Schönbeck zeigt einerseits, wie Kleists tolle Hunde an der Wissensgeschichte der Tollwut partizipieren und andererseits, wie sie zentrale Fragen der jeweiligen Textgattung markieren. Jonas Teupert zwängt sich zum Abschluss zu einem Pferd in die Reitbahn. In Die Hunde und der Vogel und Die Fabel ohne Moral werden die Widersprüche einer moralischen Erziehung zum Exzess getrieben. Dabei verschalten sich Diskurse der Dressur und der Erziehung „metaphorisch und metonymisch“.170 Mit Seitenblicken auf Kant und Rousseau zeigt sich schließlich, wie Kleists Fabeln von Vehikeln aufklärerischer Pädagogik zu „Musterstück[en]“171 der Aufklärungskritik transformiert werden.

D ANKSAGUNG Unser Dank gilt zunächst allen Beiträger*innen für ihre geduldige Mitarbeit an diesem Band. Dem Kleist-Museum in Frankfurt (Oder) danken wir für die großzügige Unterstützung der Tagung, besonders Wolfgang de Bruyn, Barbara Gribnitz und Anette Handke. Das Viadrina Center B/Orders in Motion der EuropaUniversität Viadrina hat unsere Tagung kofinanziert. Auch unserem Kooperationspartner für die Tagung, dem Nachwuchsforschernetzwerk Cultural and Literary Animal Studies, sei herzlich gedankt, insbesondere Roland Borgards, Esther Köhring und Alexander Kling. Sie ermöglichten uns mehrere Würzburg-Reisen, schufen eine neue ‚kleistsche‘ Verbindung zwischen Würzburg und Frankfurt (Oder). Wir danken Benedikt Krüger für seine Unterstützung als wissenschaftliche Hilfskraft während der Tagung und Marlies Vater für die Verwaltung am Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen der Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Für eine fantastische und anregende Lesung sind wir Franziska Ritter und Sascha Bunge zu Dank verpflichtet. Unser besonderer Dank gilt den drei Keynote-Sprechern, die unsere Tagung unermesslich bereichert haben. Werner Michler hat mit seinem Buch Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext (2015) einen Meilenstein für die Gattungsfrage gesetzt. László F. Földényi hat mit seinem Buch Im Netz der Wörter 1999 für viel Aufsehen gesorgt. Nicht zuletzt verdankt auch die Kleistforschung seinem Wörterbuch eine neue Gattung von Sekundärliteratur. Marcel

170 S. 393. 171 S. 410.

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Beyer, ein Schriftsteller, der die Gabe hat, Begeisterung für Literatur zu entfachen und zu nähren, erhielt 2014 den Kleist-Preis.172 Er zögerte keine Sekunde, uns seinen atemlosen und grandiosen Beitrag zu überlassen. Für die Mitarbeit bei der Erstellung des Typoskripts und für ihre scharfen Augen danken wir Joscha Jelitzki und Kianush Ruf. Ralf Eckschmidt sind wir für sein präzises Lektorat und seine erhellenden Kommentare zu großem Dank verpflichtet. Zuletzt möchten wir dem transcript-Verlag und unserer Ansprechpartnerin Katharina Wierichs für die Zusammenarbeit bei der Erstellung dieses Bandes danken. Bücher müssen schließlich nicht nur geschrieben werden, sie sollen auch zirkulieren und kontrovers diskutiert werden. Ganz im Sinne von Kleist haben wir am Ende das Vergnügen, auf eine Schar von möglichen Adressat*innen zu hoffen.

172 Marcel Beyer: „Der Schnitt am Hals der Heiligen Cäcilie. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2014“, in: KJb 2015, S. 12−20.

I. Gattungsarbeit System, Klassifikation, Form

1. Gattungsgeschichten

„Alles, was eine Gestalt hat“ Zur Kultur- und Soziopoetik der literarischen Gattungen, mit Blick auf Kleist W ERNER M ICHLER

Am 4. Februar 1808 schreibt Heinrich von Kleist an den österreichischen Dichter Heinrich Joseph von Collin, er sei außer der Penthesilea, von welcher ein Fragment im ersten Hefte steht, im Besitz noch zweier Tragödien, von deren Einen Sie eine Probe im dritten oder vierten Heft sehen werden. Diese Bestrebungen, ernsthaft gemeint, müssen dem Phöbus seinen Charakter geben, und auf der Welt ist niemand, der in diese Idee eingreifen kann, als Sie. Das erste Werk, womit ich wieder auftreten werde, ist Robert Guiskart, Herzog der Normänner. Der Stoff ist, mit den Leuten zu reden, noch ungeheurer; doch in der Kunst kommt es überall auf die Form an, und Alles, was eine Gestalt hat, ist meine Sache.1

Die Nachfrage, was es mit jener „Form“ und „Gestalt“ auf sich hat, soll als Frage nach der Gattung gestellt werden, in sozio- und kulturpoetischer Weise; das eine ist, so die Prämisse, nicht ohne das andere zu haben. Vielleicht lässt sich auch von Kleist aus die Gegenprobe machen auf einige Gewissheiten, die die Epoche konstruiert hat, sodass deren, mit Kleist zu sprechen, gebrechliche Seite nicht mehr zu übersehen ist. Begonnen wird mit knappen allgemeinen Beobachtungen zur Gattungskategorie und zu einer Form der Gattungsreflexion, die das Historische nicht als Anwendungsfall der, sondern als den Weg zur Theorie begreift. In diesem Sinn soll überlegt werden, welcher Anstrengungen es bedurfte, das System der literarischen

1

Brief an Heinrich Joseph von Collin, 14. Februar 1808, in: DKV IV, S. 412–414, hier S. 413.

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Gattungen unter dem Problemdruck der sozialen, ästhetischen und epistemologischen Veränderungen der sogenannten Sattelzeit (Reinhart Koselleck) umzubauen, von einem System, das der Rhetorik entstammte, zu einem System, das philosophisch belastbar war, wenigstens eine Zeit lang. Schließlich wird der Blick auf Kleist gerichtet, um die Abweichungen, Abschiede und Differenzen seines Werks zu diesem neugewonnenen ‚generischen Paradigma‘ um 1800 auszumachen. Es geht also um den Versuch, das Verhältnis von Kleists Gattungsdenken und Gattungshandeln zu jenen Optionen der Koordination von Wissens-, Gesellschafts- und Literaturordnungen zu bestimmen, die die – gerade mit Blick auf Kleist nicht ganz zu Unrecht so genannte – ,Goethezeit‘ entworfen hat, zur Koordination von Art und Unart, Ordnung und Verhalten.

G ATTUNGEN Gattungen sind mehr als jene traditionellen Formkategorien, zu deren Abschaffung die Moderne ausgezogen ist; und folgerichtig ist diese Moderne die Gattungen auch nicht nur nicht losgeworden, sondern von ihnen fasziniert geblieben – in jenem Spiel von Erfüllen und Subvertieren, das die rhetorisch bestimmte humanistische Gattungsordnung abgelöst hat. Auch Gattungstheorie hat ihren Ursprung dort, wo die Regelpoetik nicht mehr vorauszusetzen ist, weil das Dichten keine ständisch gesicherte, sozial verbindliche Angelegenheit mehr ist. Dass Gattungen überhaupt problematisch sind und sein können, ist damit ein historischer Topos, dessen Konjunkturen von Sturm und Drang und Romantik bis in die Dekonstruktion verfolgt werden können. In Theorien der Gattungen, die von dieser historischen Logik absehen, können Gattungen – scheinbar neutral – als Textklassen beschrieben werden; oder als ‚soziale Institutionen‘; oder als kognitive Schemata; oder als Evolutionsprodukte; oder als Sprechakte; oder als Zeichen. Sie können systematisch-klassifikatorisch hergeleitet werden, aufgrund von Merkmalen und logisch begründbaren Inklusions- und Exklusionsregeln, oft im Rahmen einer Reform der literaturwissenschaftlichen Begriffssprache; oder wirkungsästhetisch oder pragmatisch.2 Wenig sinnvoll wäre eine Vorgangsweise, die die formallogische Reinheit des methodischen Gewissens mit dem Verzicht auf die Einsicht bezahlte, dass man es mit historischen Objekten zu tun hat, Objekten, die ohne ihre Geschichte nicht zu haben sind, und Objekten, die eine produktive und produktionsästhetische Dimension

2

Zur Übersicht vgl. Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar 2010.

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haben. Deshalb eignen den Gattungen in ihren Trägerkulturen elementare Orientierungs- und Steuerungsfunktionen; und die wiederum können sie nur erfüllen, weil und insofern sie mit gesellschaftlich verbindlichen Formen der Klassifikation koordiniert sind. Daher beginnt Gattungsreflexion mit der Einsicht, dass Gattungen als „interaktive Arten“3 mit ihren Klassifikationen – den poetologischen wie den sozialen – interagieren. Einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive zeigen sich die literarischen Gattungen als zentrale Koordinationselemente zur Selbstverständigung von Gesellschaften, als performative Klassifikationen. Gattungen sind kulturell und sozial bestimmte Formen; sie sind aber zugleich auch Weisen der kulturellen und sozialen Formatierung, die Gemengelagen von Ereignissen, Gefühlen, Handlungen in sinnvolle intelligible Formen bringen. Gattungen sind somit nicht bloß passive Kategorien der Ordnung, Handlungsfolgen, sondern selbst Formen von Handlung. Eine solche Sicht auf die Gattungen wird nicht übersehen können, dass literarische Gattungen in besonderen Verhältnissen zu anderen Formen soziokultureller Formatierung stehen, in Künsten, Wissenschaften, im „Wissen“ (Michel Foucault) vom gesellschaftlichen Leben, vom Verhalten im Alltag und in besonderen Situationen, im Umgang mit Fremdem und Eigenem. Sie sind – in jeweils zu bestimmender Weise – mit den Ordnungen und Wissensordnungen der Künste, der Wissenschaften und der Pragmata koordiniert. Über die literarischen Gattungen werden seit der Antike literarische Handlungen sozial in Form, in eine soziale Form gebracht. Die Ständeklausel ist die am besten sichtbare und von der neueren Literaturgeschichte auch am entschiedensten diskreditierte Formatierung; sie ordnet Gattungen und Stile sozialen Gruppen, Textklassen sozialen Klassen zu. Sie ordnet zu und grenzt ab; entlang dieser Grenzen ist sie, wie alle Be- und Entgrenzung, produktiv und performativ, aus dieser Dialektik von Schließungs- und Öffnungsgesten, „Klassik“ und „Romantik“, hat die Goethezeit ihre spannungsreiche Produktivität bezogen. Es ist genau dieses Wissen, das mobilisiert wird, wenn intertextuelle Beziehungen über größere Zeiträume hin gestiftet werden, wenn etwa um 1800 oder um 1900 eine Tragödie versucht wird. Das evoziert ein System der Formatierung, mit dem gewandelte Kulturverhältnisse erst ins Benehmen und dann in ein Verhältnis gesetzt werden müssen. Es ist ein literarisches Wissen, das in heiklen und problematischen Perioden des Systemumbaus, des Wechsels oder der Re-Orientierung von sozialen Trägerschichten der Literatur auftaucht, mithin an kulturgeschichtlichen Epochenschwellen, wie jener, der Kleist als Akteur angehört. 3

Ian Hacking: Was heißt „soziale Konstruktion“? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1999, S. 56–60 und S. 182–184.

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Es zeigt sich, dass auch immer wieder auf dem Spiel steht, was eine Gattung ist. In der Goethezeit werden in einem langwierigen Prozess die literarischen Gattungen von etwas, das man tut, zu etwas, was man sein kann, umgebaut, das „Lebewesen“ ist einer Epoche, die das organische Kunstwerk entwirft, die naheliegende Analogie. Die literarische Gattung rückt damit nahe an die biologische Art heran. Das bürgerliche Trauerspiel etwa, in klassizistisch-rhetorischer Sicht ein bloßes Oxymoron, wird über die Biologie der Hybride und Zwischenstufen in die Poetik eingepasst: bei Diderot, Johann Adolf Schlegel und Lessing; bei so unterschiedlichen Autoren wie Johann Elias Schlegel, dem Historiker Justus Möser, dem Philologen Jacob Grimm, dem Philosophen Schelling sowie bei Herder und Goethe. Auch August Wilhelm und Friedrich Schlegel haben an jenem größeren Prozess teil, in dem aus sozial kodierten Redeweisen Natur- und Lebensformen werden.4 Für eine integrale Sicht auf die Position eines Akteurs in diesen Prozessen literatur- und kulturgeschichtlicher Dimension müssen also soziale und semantische Dimensionen befragt, Interventionen in bestehende Ordnungen ebenso wie die Metasymbolisierungen solcher Interventionen bedacht werden. Generische Arbeit, „Gattungsarbeit“, ist dort zu leisten, wo kulturelle Ordnungen aus dem Bereich des Selbstverständlichen herausgefallen sind, wo Passungen auf individueller und auf kollektiver Ebene nicht mehr ‚stimmen‘; wo es also, kurz gesagt, knirscht. Es ist nicht sehr kühn, Heinrich von Kleist als einen Spezialisten für ein solches Knirschen zu adressieren.

K LEISTS G ATTUNGSPROFIL Das Hervorstechendste an Kleists Gattungspoetik und an seinem Gattungsdenken ist allerdings das fast vollständige Fehlen expliziter Selbsterklärungen, Kommentare oder poetologischer Programme, ein im Rahmen einer theoretisierenden Epoche selbst schon auffälliger Befund. Mit Ausnahme eines rätselhaft gebliebenen Plans zur Dramenreform5 finden sich kaum Äußerungen Kleists zur Gattung als

4

Dazu sowie zum theoretischen Rahmen: Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015.

5

Greiner hat argumentiert, dass Kleists Plan zur Tragödienreform in der Selbstaufhebung der Tragödie und damit der Kleist’schen Autorschaft bestanden hätte, ihr Gelingen also in ihrem Scheitern gelegen wäre, vgl. Bernhard Greiner: „,die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen‘: Die unausführbare Tragödie Robert Guiskard“, in: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, hg. v. Paul Michael Lützeler und David Pan, Würzburg 2001, S. 135–149.

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einem zentralen Fach der Poetik, das zeitgenössisch noch dazu seine philosophische Nobilitierung erfährt und zu einem der Zentralbegriffe der Ästhetik aufsteigt. Wo von poetologischen bzw. ästhetischen Programmen gesprochen werden kann – dazu werden Über das Marionettentheater, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden sowie Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft gezählt –, handelt es sich selbst um Mischformen von Essay, Anekdote, Exempel und Erzählung, die dominant szenisch organisiert sind.6 Gattungspoetik ist bei Kleist vor allem in der literarischen Praxis aufzusuchen. Kleists literarische Biografie beginnt mit einer rhetorischen Häufung von ‚Lebensplänen‘; sie richten sich an den „Fächern“ aus, die jenen zu Gebote stehen, die aus dem Naheliegenden – wie bei Kleist der militärischen Karriere – herausgefallen sind und damit überhaupt erst einen neuen Blick auf die Welt entwickeln können: Kleist denkt an das „diplomatische Fach“7, an das „Finanzfach“8, das „Commerz und Fabriken Fach[ ]“9, später sieht er sich im „Domainenfach“ und in „Gewerkssachen“10 um. Das Entwerfen von Idealbiografien gipfelt um 1800 im Entschluss, Schriftsteller zu werden: Ich bilde mir ein, daß ich Fähigkeiten habe, seltnere Fähigkeiten, meine ich − Ich glaube es, weil mir keine Wissenschaft zu schwer wird; weil ich rasch darin vorrücke, weil ich manches schon aus eigener Erfindung hinzugethan habe − u am Ende glaube ich es auch darum, weil alle Leute es mir sagen. Also kurz, ich glaube es. Da stünde mir nun für die Zukunft das ganze schriftstellerische Fach offen. Darin fühle ich, daß ich sehr gern arbeiten würde. − O da ist die Aussicht auf Erwerb äußerst vielseitig.11

Oder: 6

„Kleists Denken vollzieht sich immer und ausschließlich szenisch.“ Johannes F. Lehmann: Einführung in das Werk Heinrich von Kleists, Darmstadt 2015, S. 50. – Ingo Breuer nennt Über das Marionettentheater und die Allmählige Verfertigung „Werke in Novellenform“, die „wegen der enthaltenen theoretischen Reflexionen in KleistAusgaben meist unter den ‚Schriften‘ abgedruckt wurden, obwohl dagegen mehrfach Bedenken geäußert worden waren“. Ingo Breuer: „Erzählung, Novelle, Anekdote“, in: KHb, S. 90–97, hier S. 90.

7

Brief an Wilhelmine von Zenge, April/Mai 1800, in: DKV IV, S. 52–57, hier S. 55.

8

Ebd., S. 56.

9

Brief an Carl August von Struensee, 1. November 1800, in: DKV IV, S. 149.

10 Brief an Karl von Stein zum Altenstein, 13. November 1805, in: DKV IV, S. 348–350, hier S. 349. 11 Brief an Wilhelmine von Zenge, 13. November 1800, in: DKV IV, S. 149–157, hier S. 153.

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Doch ich wollte Dir ja noch einen andern Grund sagen, warum es gut wäre, Deine eigenen Gedanken aufzuschreiben. Er ist dieser. Du weißt daß ich mich jetzt für das schriftstellerische Fach bilde. Ich selbst habe mir schon ein kleines Ideenmagazin angelegt, das ich Dir wohl einmal mittheilen u Deiner Beurtheilung unterwerfen mögte. Ich vergrößere es täglich.12

Mit diesen Entschlüssen, um 1800, stellt sich auch die Frage, was das „ganze schriftstellerische Fach“ denn umfassen konnte. In den gerade einmal zehn Jahren von Kleists literarischer Produktivität entstehen dramatische, lyrische und erzählende, politisch-agitatorische, satirische und reflektierend-philosophische Texte; dazu zahlreiche, meist in hohem Maß stilisierte Briefe. Er selbst gebraucht als Gattungskategorien: Trauerspiel, Lustspiel, „Drama“ (die Hermannsschlacht), „großes historisches Ritterschauspiel“ (Das Käthchen von Heilbronn) und schlicht: „Schauspiel“ (Prinz Friedrich von Homburg). Was heute als Kleists „Novellen“ gelesen und diskutiert wird, hat er selbst als „Moralische Erzählungen“13 oder schlicht als „Erzählungen“ bezeichnet, in zwei Fällen als „Chronik“14 – Michael Kohlhaas – und als „Legende“ – die Heilige Cäcilie – generisch weiter spezifiziert. Unter den kleineren Formen sind vertreten: die Fabel, die Anekdote, das Epigramm und die Übersetzung; Ende Juli 1811 bietet er dem Verleger Reimer sogar einen zweibändigen Roman an,15 ungeachtet des Umstandes, dass er selbst einmal den Romanen die Schuld an der Misere der Gegenwart gegeben hatte („Die Romane haben unsern Sinn verdorben. Denn durch sie hat das Heilige aufgehört heilig zu sein, u das reinste, menschlichste, einfältigste Glück ist zu einer bloßen Träumerei herabgewürdigt worden.“16). Im Zeitkontext lässt sich diese Vielseitigkeit nicht bloß als Versatilität bestimmen, sondern als dem Autorschaftsparadigma der Meisterschaft zugehörig, der zu beweisenden Könnerschaft in allen Gattungen und Disziplinen. Im Unterschied zu den meist unter Bedingungen der Marktförmigkeit der Künste eingegangenen Spezialisierungen des 19. Jahrhunderts bleibt Kleists literarisches Profil ganz offensichtlich mehr dem Goethes vergleichbar, das darin wieder antiken und 12 Brief an Wilhelmine von Zenge, 18. November 1800, in: DKV IV, S. 157–165, hier S. 164. 13 Brief an Georg Andreas Reimer, Mai 1810, in: DKV IV, S. 446. 14 Die Autorisierung des Untertitels „Aus einer alten Chronik“ ist laut Kommentar von Klaus Müller-Salget zweifelhaft, vgl. DKV III, S. 705f. 15 Vgl. Brief an Georg Andreas Reimer, Ende Juli 1811, in: DKV IV, S. 496–497, hier S. 496. 16 Brief an Wilhelmine von Zenge, 10. Oktober 1801, in: DKV IV, S. 271–276, hier S. 275.

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frühneuzeitlichen (Renaissance-)Vorbildern folgt. Den impliziten Hierarchien des Œuvres auf der Spur, stößt man auf Selbstaussagen, die die klassischen Hierarchien zunächst bestätigen. Brentano schreibt an Arnim, obwohl Kleists Arbeiten „oft über die Maßen geehrt, seine Erzählungen verschlungen“ würden, „war ihm [dies] nicht genug, ja Pfuel sagt mir, daß sich vom Drama zur Erzählung herablassen zu müssen, ihn grenzenlos gedemütigt hat“17. In dieser Sicht folgt das Œuvre nicht bloß nicht dem biografischen Muster Vergils, a minore ad maius, von den Eklogen zur Aeneis – Kleist hatte geradezu mit einem Hauptwerk begonnen, dem 1803 verbrannten ersten Robert Guiskard –, sondern bildet realiter einen literarischen Lebenslauf in absteigender Linie. Sie führt vom Tragödiendichter zum Journalisten, bei immer stärkerer Integration in den literarischen Betrieb in ungünstigster Zeit, einer immer größeren Ausgesetztheit gegenüber den Marktkräften und immer größerer erzwungener Nähe zu den realen literarischen Publiken der Zeit: von Dramen, auf deren Theaterfähigkeit wie bei anderen romantischen „Experimentierstücke[n]“18 verzichtet werden muss, und, mit Goethes Reaktion auf die Penthesilea gesagt, „dem unsichtbaren Theater“19 angehörend oder „auf ein Theater“ wartend, „welches da kommen soll“20, über das publizistische Projekt des Phöbus herunter zur Tagesschriftstellerei der Berliner Abendblätter. Ein genauerer Blick auf die Entstehungszeiträume zeigt die gleichzeitige Arbeit an in der alten Poetik diametral entgegengesetzten Stücktypen, von Robert Guiskard, Familie Schroffenstein und Der zerbrochne Krug. Ebenso werden Penthesilea und Käthchen, antike Tragödie und romantisches Schauspiel einander diametral zugeordnet. Fragt man nach den Entstehungsbedingungen, wird deutlich, dass der Agon am Anfang der literarischen Produktion steht. Zum überdeutlichen Bezug von Kleist zu Goethe ist viel geschrieben worden21, der Wettstreit steht auch ganz unmittelbar – nicht nur nach der alten imitatio/aemulatioKonstellation, nicht nur als Modell von Duell und Zweikampf in den Texten22 – am Ausgangspunkt: 1802 begibt sich Kleist mit dem jungen Ludwig Wieland und 17 Brief von Clemens Brentano an Achim von Arnim, 10. Dezember 1811, in: NR, Nr. 73a. 18 [Rühle von Lilienstern.] Journal d. Luxus u. d. Moden, Nov. 1809, in: LS, Nr. 250. 19 Brief von Goethe an Adam Müller, 28. August 1807, in: LS, Nr. 185. 20 Brief von Goethe an Kleist, Weimar, 1. Februar 1808, in: LS, Nr. 224. 21 Vgl. aus der umfangreichen einschlägigen Literatur z.B. Dirk Grathoff: „Goethe und Kleist. Die Geschichte eines Mißverständnisses“, in: Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Wittkowski, hg. v. Richard Fisher, Frankfurt a. M. u.a. 1995, S. 313–327. 22 Vgl. Lehmann: Einführung (wie Anm. 6), S. 50–57. Lehmann beschreibt Kleists Schreiben als eine „Poetik des Kampfes“.

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Heinrich Zschokke „wie Virgils Hirten“ in einen „poetischen Wettkampf“ über einen „französische[n] Kupferstich, ‚la cruche cassée‘“.23 Fragt man weiter nach dem Personal Kleist’scher Bühnenstücke, zeigt sich, dass die Texte hinsichtlich der alten Ständeklausel den Präzepten eines Scaliger oder Opitz alle Ehre gemacht hätten. Für Opitz bildet die Tragödie mit dem Epos den Gipfel der Gattungshierarchie. Sie leide nicht, dass „man geringen standes personen vnd schlechte sachen einführe: weil sie nur von Königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kinder- vnd Vätermörden / brande / blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen handelt.“24 Standspersonen: Im Trauerspiel ist Guiskard „Herzog der Normänner“, seine Söhne sind „Normännerprinzen“, die Schroffensteins sind Grafen, Penthesilea ist „Königin der Amazonen“, Achill einer der „Könige des Griechenvolkes“; Hermann ist nicht Heerführer oder Häuptling, sondern „Fürst der Cherusker“. Der zerbrochne Krug hingegen ist eine Komödie, die in der Malerei dem genre entspricht, und ein „niederländische[s] Dorf bei Utrecht“ ist der geeignete Schauplatz für einen Dorfrichter und den Bauern Veit Tümpel. Dass das Mischspiel vom Käthchen von Heilbronn als „großes historisches Ritterschauspiel“ zum Märchen gravitiert, wie schon die Zeitgenossen wahrgenommen haben, dass es „zwar dramatisches Verdienst, aber weniger als eigentliches Schauspiel, als vielmehr als dramatisirter Roman, oder Mährchen“25 habe und ins epische Fach einschlägt, mag auch damit zu tun haben, dass hier die Ständeordnung erst indirekt wiederhergestellt werden kann, da sich das Märchenmotiv der verborgenen Herkunft erst über Umwege durchsetzen lässt. Auch Jacob Grimm leuchtet es [...] ferner ein, daß der Heinrich Kleist weiter kein Schauspiel mehr schreiben sollte, indem sein Käthchen nur in den erzählenden Stellen Poesie […] ist. Dafür bin ich ganz durchaus vergnügt mit dem Kohlhaas, welcher mir eine der liebsten Geschichten ist, die ich weiß, an der ich mit ganzer Seele beim Lesen gehangen habe. Diese kann ich nicht genug loben, gebt mir so ein paar Bände, so packe ich dafür die Zierlichkeit des Boccaz und das immer doch etwas spanische Wesen der cervantischen Novellen ein.26

23 H. Zschokke, Selbstschau (1842), in: LS, Nr. 67a. 24 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem „Aristarch“ (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen „Teutschen Poemata“ (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der „Trojanerinnen“ (1625), hg. v. Herbert Jaumann, Stuttgart 2002, S. 30. 25 Brief des Hofrats Lehr an König Friedrich I. von Württemberg, 22. November 1810, in: LS, Nr. 391b. 26 Brief von Jacob Grimm an Achim von Arnim, 22. Januar 1811, in: LS, Nr. 380.

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Für das dramatische Œuvre27 ist also die Koordination von sozialem Stand, literarischer Diktion, Stilhöhe und Gattung weitgehend gewahrt oder wenigstens präsent. Kleists Provokationen der Publikumsnormen haben mehr mit Verstößen gegen das äußere Aptum zu tun.28 Kleist hat das Marie von Kleist gegenüber als jene poetologische Sottise formuliert, derzufolge zuletzt die Frauen an dem ganzen Verfall unsrer Bühne schuld [sind] u sie sollten entweder gar nicht ins Schauspiel gehen, oder es müßten eigne Bühnen für sie, abgesondert von den Männern errichtet werden. Ihre Anforderungen an Sittlichkeit u Moral vernichten das ganze Wesen des Drama, u niemals hätte sich das Wesen des griechischen Theaters entwickelt, wenn sie nicht ganz davon ausgeschloßen gwesen wären.29

Die traditionellen Gattungen werden bei Kleist ernster genommen als bei anderen Autoren und Autorinnen der Zeit, wobei traditionell hier heißen muss: die antiken Gattungsordnungen nach frühneuzeitlicher Kodifikation in jener Gestalt, in der sie vor allem im Weimarer Klassizismus, bei Schiller und Goethe, neu entworfen worden sind. Wenn das so ist, dann sind die Kleist’schen Extremismen frömmer und weniger anarchisch als konsequent und nur in ihrer manchmal mehr renaissancistischen, manchmal mehr barocken Ausprägung schroff unzeitgemäß. Damit ist allerdings noch nicht darüber entschieden, ob bei Kleist eine „Unterminierung der Tradition durch Anlehnung an sie“30 intendiert ist oder nicht. Fragt man jetzt nach dem Verhältnis der Kleist’schen Gattungsarbeit zu den kulturpoetischen Manövern der Goethezeit auf dem Terrain der Gattungen, zeigt sich ein ähnlicher Befund. Wo sich Kleist auf Wissen einlässt und wo er es poetologisch belastet, da optiert er gerade nicht wie Herder, Goethe, Novalis, Friedrich und August Schlegel und andere für Allianzen mit dem Biologischen oder 27 Umgekehrt zeigt die Aufstellung, dass die entscheidende dramentypologische Innovation des 18. Jahrhunderts, das bürgerliche Trauerspiel, bei Kleist nicht aufgenommen wird. Die Forschung hat Spuren dieser Gattung gleichwohl in den Tragödien gefunden. Man darf sich fragen, ob nicht die Problematiken des bürgerlichen Trauerspiels überhaupt vor allem in die Novellenarbeit eingegangen sind. Vgl. Bernd Fischer: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists, München 1988, S. 101–112. 28 Vgl. Dirk Grathoff: „,Wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespear sich vereinigten‘. Antike und Moderne im Werk Heinrich von Kleists“, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. v. Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 21–33. 29 Brief an Marie von Kleist, Spätherbst 1807, in: DKV IV, S. 395–396, hier S. 396. 30 Stefanie Marx: Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral, Würzburg 1994, S. 11.

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dem Naturgeschichtlichen, auf jener Linie, die das Kunstwerk als organisches, die Gattung als biologische Art zu denken beginnt. (Wünsche nach einer Aufführung des Käthchens soll Goethe mit dem in dieser Hinsicht härtesten Verdikt quittiert haben: „,Die verfluchte Unnatur!‘“31) Gewiss, Kleist hat teil an den zeitgenössischen Affekten, die sich gegen die Linné’schen Klassifikationen richten, und auch er setzt „Bildung“ gegen „Einteilung“, wie Herder, Goethe und viele andere, wenn er 1801 schreibt: Ich mögte so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher. Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten! Aber ist nicht der Anfang u das Ende jeder Wissenschaft in Dunkel gehüllt? Oder soll ich alle diese Fähigkeiten, und alle diese Kräfte u dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insectengattung kennen zu lernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit! Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, u daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Cubikinhalt. […] [Ein ‚ächter Chemiker‘] sieht bloß das Insect, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären. Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, u an der wehmüthigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name.32

Im neuen organizistischen Paradigma bildet stets Linné mit seinem ‚Fächerwerk‘ den Abstoßungspunkt zur Abwehr bloß logischer, künstlicher Klassenbildung.33 Aber Form und Gestalt sind bei Kleist nicht dynamisch gedacht, oder jedenfalls auf andere Weise als in Goethes ‚geprägter Form, die lebend sich entwickelt‘. ‚Bilden‘ und ‚Formen‘ meinen, Kleists pädagogische Szenarien für Braut und Schwester zeigen es, ein aktives Konstruieren, sie verlassen sich nicht wie die idealistische Biologie der Zeit auf ein entelechisches Selbstwerden. Eine ‚Biopoetik‘ ist also nicht im Spiel, Übergänge, Stufen, Entwicklungen, „Bildungen“ im Sinn des Blumenbach’schen Bildungstriebes, der in Goethes Bildungsbegriff eine so dominante Rolle spielt, finden sich bei Kleist nicht. Poetologische und als poetologisch lesbare Bilder stammen vielmehr aus Experimentalphysik und Mechanik einerseits („So viel ich weiß, gibt es in der Natur / Kraft bloß und ihren 31 E. W. Weber (1865), in: LS, Nr. 385. 32 Brief an Adolphine von Werdeck, 29. Juli 1801, in: DKV IV, S. 248–258, hier S. 257. 33 Vgl. Michler: Kulturen der Gattung (wie Anm. 4), u.a. S. 181–186 (Jacob Grimm), 208–216 (Herder), zu Goethe pass.

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Widerstand, nichts Drittes“34), andererseits aus dem Bereich der magnetischen und elektrischen Ladungen, die nur Plus und Minus kennen: Es geht um Übertragungen, Spannungen und Entladungen, wie im Allerneuesten Erziehungsplan35, um Widersprüche und Gegensätze, die physikalisch gedacht sind. Anders als bei Novalis und in der romantischen Naturphilosophie gibt es hier auch nur wenig Kontinuität zwischen Physik und Biologie. Kleists Texten liegt also eine Soziopoetik zugrunde, mit robustem Zusammenhang von Personal und Gattung; eine Wissenspoetik, die an diskreten, einander polemisch zugeordneten Größen orientiert ist. Wenn bei Kleist jedoch zugleich ein so deutliches Interesse am Dazwischen, an den Hybriden und an den „Dritten“ und ihren Figurationen sichtbar wird, liegt das daran, dass seine literarischen Experimente und Versuchsanordnungen, von denen in der Forschung mit Recht allenthalben die Rede ist, sich als Tests auf generisch relevante soziale Kategorien verstehen lassen. Es sind insbesondere nicht, wie man erwarten könnte und wie das mit der essenzialisierenden Anthropologie der Zeit zusammenstimmte, Fragen des Wesens, sondern Kategorien und Kategorisierungen der Zugehörigkeit, die hier geprüft werden, in der Form und in der Sache: Ethnos und Nation, Gender36, Klasse, Rasse, auch – wie in der Heiligen Cäcilie – Konfession. Anders gesagt, inszenieren Kleists Texte die Dramen der Zugehörigkeit, und damit haben seine Texte immer zugleich auch poetologische Relevanz. Die poetische Verfahrensweise liegt in der Steigerung von Motiven und strukturellen Gegensätzen bis in die Extreme, eine zugleich experimentelle und eine stark ludisch bestimmte Strategie. Spielerisch wie am Schaltpult oder methodisch wie am Labortisch werden immer höhere Spannungen angelegt, neue Aktanten ins Feld geschickt, Überdeterminierungen hergestellt.

34 Heinrich von Kleist: „Penthesilea“, in: DKV II, S. 9–108, hier S. 14, Vs. 111–112. 35 Vgl. zu Kleists Studium der Experimentalphysik Christoph Meinel: „,Des wunderlichen Wünsch seltsame Reduktion …‘. Christian Ernst Wünsch, Kleists unzeitgemäßer Zeitgenosse“, in: KJb 1996, S. 1–32; zum poetologischen Bezug Roland Borgards: „,Allerneuester Erziehungsplan‘. Ein Beitrag Heinrich von Kleists zur Experimentalkultur um 1800“, in: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, hg. v. Marcus Krause und Nicolas Pethes, Würzburg 2005, S. 75–103. Allg. vgl. Kleist: Krise und Experiment. Die Doppelausstellung im Kleist-Jahr 2011, Berlin und Frankfurt (Oder), hg. v. Günter Blamberger u.a., Bielefeld 2011. 36 Christine Künzel liest Kleists „Amphibion“-Epigramm an die Schwester (DKV III, S. 406) als Anerkennung der sozialen, nicht biologischen Natur der Geschlechter, unter Rekurs auf Pierre Bourdieus Habitusmodell. Christine Künzel: „Geschlecht“, in: KHb, S. 318–321, hier S. 319.

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K LEISTS G ATTUNGSARBEIT

IN DEN

„E RZÄHLUNGEN “

Kleists Erzählungen siedeln auf einem Terrain, das zeitgenössisch weder sozial noch kulturpoetisch vollständig definiert ist; sie sind daher auch gattungshistorisch von besonderem Interesse. Sie arbeiten mit an der Konstitution einer neuen Gattung: der Kunsterzählung, der „Novelle“, sie sind aber umgekehrt ohne den begonnenen Konstitutionsprozess dieser Gattung nicht denkbar. Denn die Novelle ist nicht nur keine klassische oder auch nur traditionelle, sondern eine neue Gattung, die vom Kunstsystem um 1800 erfunden wird, um ein Äquivalent für die Prosaerzählung im expandierenden Journalmarkt zu schaffen, als dessen hochkulturelles Pendant die Horen etabliert wurden – in deren Rahmen Goethes Unterhaltungen frühere Erzählformen durchdekliniert hatten.37 In den Moralischen Wochenschriften hatte sich ein Typ des Erzählens herausgebildet, der auf ein ‚Erzählgerüst‘, auf die Strukturierung der erzählten Handlung durch interne Äquivalenzen, verzichtet hatte, im Interesse von Leser- und Gegenwartsnähe sowie dialogischer Diskursivität; und damit unter Verzicht auf mehrfachen Sinn, der dem älteren, stark strukturierten literarischen und nichtliterarischen Erzählen (Schwänke, Fabeln, Märchen, Anekdoten, Legenden, Novellen der Romania) inhärent war. Die Novelle muss nun insgesamt der Versuch gewesen sein, der Prosa eine „Form“, d. h. ein Set von Plotmodellen und Schreibstrukturen mit dem Potenzial zur formalen Innovation und Komplizierung zu geben, um ein Feld zur Differenzierung und Abgrenzung von „bloß“ unterhaltenden Formen zu stiften. Friedrich Schleiermacher sagt 1819 in diesem Sinn: Der Dichter muss besonders, weil in der Erzählung nicht viel liegt, notwendig etwas hineinlegen oder besondere Virtuosität durch die Sprache entwickeln. Das ist das eigentliche

37 Vgl. Gerhard Neumann: „Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ – Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘“, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, hg. v. Wilfried Barner u.a., Stuttgart 1984, S. 433–460; für Hannelore Schlaffer (Poetik der Novelle, Stuttgart, Weimar 1993) gehören die Unterhaltungen „ebensogut in die Reihe der kunsttheoretischen Gespräche, wie sie die Jenenser Romantik gepflegt hat, wie in die Geschichte der Novelle“; für die Letztere bildet die Sammlung „ein Museum abgegriffener Prosaformen“, um Raum für „eine neue Form“ zu schaffen. Ebd., S. 14, 19. Zu der hier vertretenen Sicht auf die Novelle vgl. Michler: Kulturen der Gattung (wie Anm. 4), S. 348–359.

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ursprüngliche Wesen der Novelle, wobei sich von selbst versteht, dass im einzelnen Vorfalle sich immer eine ganze Seite des Lebens darstellt; es ist ein allgemeiner Ort.38

Nach Günter Dammann sind Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die stets als ‚Prototyp‘ neueren novellistischen Erzählens angesehen worden sind, als „ein Essay“ zu lesen, „der […] sich zu der Frage äußert, ob mit oder ohne Gerüst zu erzählen sei. Sie [die Unterhaltungen, W. M.] votieren entschieden und rigoros für eine Rückkehr zur Erzählung mit Gerüst.“39 Man kann daher Kleists Erzählungen genau deshalb Novellen nennen, weil sie in diesem Prozess der Gattungskonstitution – unter den genannten Nebenbedingungen – ihre Rolle spielen. Die Wahl des Phöbus, einer Zeitschriftengründung in Programm und Anspruch in besonderer Nähe zu den Horen, als Publikationsort der Erzählungen erhält dadurch eine besondere Note.40 Damit öffnet sich ein Feld für Neu- und Überschreibungen, auch und wieder insbesondere im Hinblick auf Goethe. Als neue Gattung bietet die Novelle schließlich poetologischen Spielraum für Ereignisse 38 Friedrich Schleiermacher: „Ästhetik, 1819/1833“, in: Novelle, hg. v. Josef Kunz, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 56. 39 Günter Dammann: „Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ als Essay über die Gattung der Prosaerzählung im 18. Jahrhundert“, in: Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Fiktion und Wirklichkeit, hg. v. Harro Zimmermann, Heidelberg 1990, S. 1–24, hier S. 11. 40 Vgl. Dieter Martin: „Beschreibung eines ‚Kampfes‘ – Kleist und die Weimarer Klassik“, in: Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers, hg. v. Werner Frick, Freiburg i. Br. 2014, S. 367–390, insb. S. 385–390. Für Martin geht es in der ambivalenten Beziehung Kleists zu Goethe nicht um einen prometheischen Agon, sondern um den „vergebliche[n] Versuch, Zugang zur ‚Institution Goethe‘ zu finden und sich mit ihrer Hilfe im literarischen Feld zu verankern.“ Ebd., S. 383. Schlaffer eröffnet ihr einflussreiches Novellenbuch mit der zitierten Äußerung Pfuels in Brentanos Referat (NR, Nr. 73a). Diese belegt zwar die zeitgenössische Hochschätzung des Dramas, rechtfertigt aber nicht die Rede von der Novelle als „minderwertige“ oder gar als Gattung, der Minderwertigkeit kein Defizit, sondern „erstes Stilmerkmal“ (Schlaffer: Poetik der Novelle (wie Anm. 37), S. 4) gewesen sei. Gerade die dramatischszenische Zuspitzung der Erzählung deutet darauf hin, dass Kleist über ein genaues Verständnis eines Prozesses verfügt hatte, in dem eine ‚leere‘ Form zur Stiftung einer Gattung der Kunstprosa mittlerer Länge benützt wurde; die Genealogien aus Boccaccio und Cervantes sind invented traditions, von Goethe und den Romantikern in die Welt gesetzt; die programmatische wie theoretische Anlehnung der „Novelle“ an das Drama ist vielmehr ein Indiz für die Implementierung einer neuen Kunstgattung unter den Bedingungen der zeitgenössischen Gattungshierarchie.

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und Figuren, Themen und Schreibweisen, die noch nicht durch die generischen Filter traditioneller und etablierter Gattungen gegangen sind.41 Fragen der Zugehörigkeit und der Klassifikation, nach Ein- und Ausschluss, spielen auch in Kleists Erzählungen selbst eine besondere Rolle. In Die Verlobung in St. Domingo werden die Protagonisten nach ihrer rassischen und sozialen Qualität geschichtet. Je nach Hautfarbe unterscheidet der Text der Verlobung „Neger“, „Mulatten“, „Mestizen“ und „Weiße“, wobei die „Neger“ aus Afrika stammen, die „Weißen“ aus Europa, nur die beiden anderen Klassen aus der Region.42 Unübersehbar liegt der Fokus des Textes auf der Perspektive und dem Chiaroscuro der Novelle; Sicht- und Beleuchtungsverhältnisse relativieren oder subvertieren das scheinbare Faktum der Hautfarbe. Dennoch äußern sich die Protagonisten sehr deutlich über die Qualität der Grenzen zwischen den Gruppen: Es geht um die Schuld, die die „Gattung“ des „Fremden“43, des Schweizers Gustav von der Ried, „das Geschlecht der Weißen“44, über die „vom Stamm der Negern“45 gebracht hat, man beklagt „die ganze Unmenschlichkeit der Gattung, zu der dieser Fremde gehöre“46. Die soziale Welt der Novelle konstruiert sich, nicht anders als die reale, durch Blicke und wechselseitige Klassifikationen, die wieder mit den Selbstbeschreibungen der Protagonisten interagieren; so erweist sich Optisches einmal als

41 In diesem Sinn ist Kleists Literatur „Verhaltensforschung angesichts eines katastrophischen Ereignisses in der Fiktion“, so Wilhelm Vosskamp: „‚Lernprozesse mit tödlichem Ausgang‘. Kleists antiklassische Erzählmodelle“, in: Kleist revisited, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und Friederike Knüpling, München 2014, S. 79–94, hier S. 86; vgl. auch Achim Aurnhammer: „Im Horizont der Ungewissheit – Unzuverlässiges Erzählen in Kleists Novellen“, in: Heinrich von Kleist (wie Anm. 40), S. 101–128. 42 Wie im Experiment wird dabei nur ein Faktor variiert, während die anderen konstant bleiben. Die Graduierung der Zugehörigkeit durch Schattierung der Hautfarbe wird an den Frauenfiguren exerziert, die Männer gehören den reinen Formen an. Hoangos Söhne Nanky und Seppy, „auf unehelichem Wege mit einer Negerin erzeugt“ (DKV III, S. 225), sind in diesem Sinn „Bastardkinder“ (DKV III, S. 254), aber keine Mischlinge. Vgl. auch Marianne Schuller: „Lesen im Lichte des dunklen Kontinentes Text. Zur Ordnung des Geschlechts in Heinrich von Kleists Erzählung: ‚Die Verlobung in St. Domingo‘“, in: Gender revisited. Subjekt- und Politikbegriffe in Kultur und Medien, hg. v. Katharina Baisch u.a., Stuttgart, Weimar 2002, S. 33–51. 43 Heinrich von Kleist: „Die Verlobung in St. Domingo“, in: DKV III, S. 222–260, hier S. 241, 243. 44 Ebd., S. 233, 241. 45 Ebd., S. 233. 46 Ebd., S. 243.

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„Schimmer von Licht“, der „auf meinem Antlitz, wenn es Tag wird, erdämmert“47; einmal als „Schatten von Verwandtschaft“48, der über Gesichter ausgebreitet ist. Der Text berührt das Thema der Hybride selbst, wenn er ein marginales Element, die beiden Maulesel des Schweizer Flüchtlingstrosses, gleich fünfmal auftreten lässt49; jener Maulesel, so wäre dem in der Forschung Beobachteten hinzuzufügen, steht in der Tradition der Regelpoetik, etwa bei Alexander Pope, in der Reihe jener poetologischen Existenzen, die zur Warnung vor der Mischung der Gattungen eingesetzt werden; an ihnen zeigt sich ja die Unfruchtbarkeit der Mischungen und Missheiraten. Lessing, dessen Poetik des bürgerlichen Trauerspiels in dieser Diskurslage intervenieren muss, sagt einmal in der Hamburgischen Dramaturgie: Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau von einander ab, als möglich: aber wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch, und untersuche bloß, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder ganz Erzehlung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser Zwitter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Geburten eurer correkten Racinen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren? – 50

Man darf die allegorische Lesart von Textelementen als poetologische Metalepsen nicht zu weit treiben, dennoch ist zu bemerken, dass das, was die Texte kalkuliert an Zwischenstufen und Ambivalenzen konstruieren, in Methode und Begrifflichkeit jenen Denkmitteln korrespondiert, mit denen zeitgenössisch auf dem diskur47 Ebd., S. 228. 48 Ebd. 49 Dazu Gudrun Loster-Schneider: „Von Amphibien und Zwittern, Mannweibern und Mauleseln. Nationalkulturelle und sexuelle Hybridität in Heinrich v. Kleists ‚Die Verlobung in St. Domingo‘“, in: Geschlecht – Literatur – Geschichte II, hg. v. ders., St. Ingbert 2003, S. 55–77, hier S. 63f. – Zur poetologischen Relevanz metaphorischer Tiere bei Kleist vgl. Roland Borgards: „Geheul und Gebrüll. Ästhetische Tiere in Kleists ‚Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft‘ und ‚Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik‘“, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hg. v. Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 307–324. 50 Gotthold Ephraim Lessing: „Hamburgische Dramaturgie“, in: Ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden, hg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. 6, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 182–716, hier S. 423.

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siven Terrain von „Klassik“ und „Romantik“51 der Umbau der Gattungssysteme in der Theorie vorangetrieben wird. Dieser Umbau führt gegen 1800 in eine Substanzialisierung der Gattungen, von rhetorischen Kategorien zu Entitäten, die eine solche Existenz haben, wie sie Lebewesen eignet. Bei Kleist lässt sich vielleicht resümieren, dass er solche poetologisch-allegorischen Ambivalenzen wohl aufbaut; die bildlich-rhetorischen, also literarischen Argumentationen dann aber durchschlägt, wie die Knoten oder die Schicksale. Die Verlobung mag in der Promotion, der Rassenkarriere der Mestizin Toni zur Weißen, gipfeln, sie mag aus Liebe dazu gebracht werden zu sagen: [I]ch habe euch nicht verraten; ich bin eine Weiße, und dem Jüngling, den ihr gefangen haltet, verlobt; ich gehöre zu dem Geschlecht derer, mit denen ihr im offenen Kriege liegt, und werde vor Gott, daß ich mich auf ihre Seite stellte, zu verantworten wissen.52

Damit ist allerdings nur gesagt, dass der ‚Mischling‘ zwar optieren kann, aber auch optieren wird müssen; das scheinbare Kontinuum der Hautfarben wird dort hinfällig, wo in Entscheidungssituationen die Perspektivität zu entscheiden ist, unabhängig von Lampen, Einfallswinkeln und Beleuchtung. In einer Situation wie dieser gibt es nur schwarz und weiß, und man wird das gewesen sein, wofür man sich entscheiden wird. Auf diese Weise werden viele Ambivalenzen und ‚Mischlinge‘ im Lauf der dramatischen Entwicklungen vereindeutigt, indem sie aus dem biologischen in das soziale Register umgeschrieben und damit in einen Raum der Entscheidbarkeiten gebracht werden. Die „Mulattin“ Babekan erklärt, man gehöre zu den „Freunde[n] der Weißen, die selbst viel der Partei wegen, die sie ergriffen, von den Schwarzen leiden müßten“53. Es geht also nicht um Hybridisierung, die Einheiten bleiben distinkt, die Charaktere ‚mendeln‘ und lassen sich in Ahnentafeln leicht verorten. Kleists Erzählung ist an Klassifikationen interessiert, nicht weil sie die hegemonialen oder aber eigene durchsetzen wollte, sondern weil sie die Funktion von Klassifikationen überhaupt testen will.54 51 Gerade am Beispiel Kleists hat deshalb die wenig fruchtbare literaturgeschichtliche Epochenkonstruktion „Klassik vs. Romantik“ zu erodieren begonnen, vgl. Christine Lubkoll, Günter Oesterle und Stephanie Waldow: „Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen (wie Anm. 28), S. 7–19. 52 Kleist: „Die Verlobung in St. Domingo“ (wie Anm. 43), S. 256. 53 Ebd., S. 244. 54 Gerhard Neumann hat in seiner Interpretation der Verlobung in St. Domingo die Novelle mit der Tragödie parallelisiert und der Anekdote gegenübergestellt, Ersterer wird erzählerisches System und Vertretung der Providenz, Letzterer Kontingenz und

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Zwei weitere Aspekte, generische loci und intratextuelle Bezüge, sollen abschließend noch als Belege dafür herangezogen werden, dass man es hier nicht bloß mit gender trouble oder race-class-gender trouble zu tun hat, sondern auch mit genre trouble; dass Gattungen hier in ihrer Genese zu beobachten sind und Möglichkeiten und Grenzen von Plot und Figuren sowie die Semantik der Form ausgelotet werden, vielleicht mehr und stärker als im dramatischen Fach. Was Kleist aus seinen dramatischen Texten übernimmt − das Spiel von Kontingenz und Notwendigkeit, die szenische Darstellung, die dramatische Stringenz −, eröffnet ein neues Spiel mit Elementen der Dramaturgie und des Wissens, immer sub specie generis. „[R]asend wärʼ ich“, sagt Penthesilea, „Das müßt ihr selbst gestehn, wenn ich im ganzen / Gebiet der Möglichkeit mich nicht versuchte.“55 Gerade in der Erzählung inszeniert Kleist Engführungen generisch geprägter Orte, um ihre semantischen und erzählstrukturellen Potenziale zu entfalten. Das Erdbeben räumt in Kleists Chili alle Orte der Autorität beiseite: Sie hatte noch wenig Schritte getan, als ihr auch schon die Leiche des Erzbischofs begegnete, die man so eben zerschmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Palast des Vize-Königs war versunken, der Gerichtshof, in welchem ihr das Urteil gesprochen worden war, stand in Flammen, und an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte rötliche Dämpfe aus.56

Mit diesen Orten der Autorität verschwinden, in generischer Perspektive, die Orte der Gattungen des hohen Stils, des Epos und der Tragödie. An ihre Stelle tritt in der Erzählung der locus amoenus vor den Mauern, der Chronotopos der Idylle (Michail Bachtin), an dem sich bukolische Szenen begeben können und die Standesunterschiede und die Fährnisse der historischen Zeit zunächst suspendiert sind:

Augenblicks-Struktur unterstellt, der Text bringe Anekdote und Novelle in „Friktion“. „Anekdote und Novelle. Zum Problem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists“, in: Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, hg. v. Inka Kording und Anton Philipp Knittel, Darmstadt 2003, S. 177–202, hier S. 190. Gegen diese Konstruktion wurde mit einigem Recht eingewendet, sie setze „ein um 1800 etabliertes, normiertes Novellenverständnis“ voraus, hier werde eine „spätere Gattungspoetik“ zurückprojiziert und verkannt, „dass in Kleists Erzählungen gerade das Novellistische als neues und experimentelles Erzählen gegen bestehende Gattungsnormen – vor allem der Moralischen Erzählung und des Romans – eingesetzt wird.“ Florentine Biere: Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900, Würzburg 2012, S. 256. 55 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 34), S. 192, Vs. 1368f. 56 Heinrich von Kleist: „Das Erdbeben in Chili“, in: DKV III, S. 189–221, hier S. 198.

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Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück Alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.57

Gegeneinander geführt werden also generische Dispositive, die erzählstrukturell (Ruhen der Handlung, Neugruppierung der Protagonisten) und sozial (Suspension der Ständedistinktionen) sowie chronotopisch-generisch ihre Rollen spielen. Über das Sentimentalische der Versuchsanordnung wissen allerdings alle Beteiligten Bescheid, die Fürsten und die Bettler, die Staatsbeamten und die Tagelöhner bleiben postlapsarisch differenziert.58 Selbst in der nächtlichen Katastrophenwelt des Krieges in Die Verlobung in St. Domingo findet sich der idyllische Ort als Rückzugsmöglichkeit und als generische Allusion, in der imaginierten Schweizeridylle, die an Kleists eigenen Wunsch, Schweizer Bauer zu werden, erinnert. Nach der Liebesnacht verspricht Gustav seiner Geliebten Toni die Ehe und die Rettung aus der haitianischen Hölle des Rassenkampfes: Er beschrieb ihr, welch ein kleines Eigentum, frei und unabhängig, er an den Ufern der Aar besitze; eine Wohnung, bequem und geräumig genug, sie und auch ihre Mutter, wenn ihr Alter die Reise zulasse, darin aufzunehmen; Felder, Gärten, Wiesen und Weinberge; und einen alten ehrwürdigen Vater, der sie dankbar und liebreich daselbst, weil sie seinen Sohn gerettet, empfangen würde.59

Nach ihrem Tod leben die Figuren zitathaft fort als Monument, als „Denkmal“, das Herr Strömli „unter den Büschen seines Gartens“ „in der Gegend des Rigi“ „Gustav, seinem Vetter, und der Verlobten desselben, der treuen Toni, hatte setzen lassen.“60 Boccaccio-Novelle, Moralische Erzählung, Chronik, Sage und Legende sind als generische Voraussetzungssysteme der Kleist’schen Erzählungen namhaft gemacht worden.61 Der spezifische Einsatz Kleists dürfte, wie angedeutet, in der 57 Ebd., S. 206. 58 „Penthesilea: O sagt mir! – Bin ich in Elisium? […] Prothoe: Nicht, meine beste Königin, nicht, nicht. […] Es ist die Welt noch, die gebrechliche, | Auf die nur fern die Götter niederschaun. Penthesilea: So, so. Auch gut. Recht sehr gut. Es tut nichts.“ Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 34), S. 249, Vs. 2844, 2851, 2856. 59 Kleist: „Die Verlobung in St. Domingo“ (wie Anm. 43), S. 239. 60 Ebd., S. 260. 61 Vgl. Marx: Beispiele des Beispiellosen (wie Anm. 30).

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Fusion mit dramatischen Elementen bzw. darin bestehen, die Erzählung vom Drama aus zu denken: auf Handlung zu setzen, nicht auf Beschreibung; auf Dialog, nicht auf Reflexion; auf Ausgangsspannung, nicht auf Lehre, Moraldidaxe oder Weltkenntnis sowie auf die Wissensdifferenz von Figuren, das analytische Plotmodell privilegierend. Perspektiven sind nicht textkonstitutiv, sondern wechseln mit der Figurenrede, ‚hängen‘ an den Figuren. Auch poetologische Begriffe können dann zwanglos erscheinen, Toni bindet Gustav nicht einfach ans Bett, sondern tut es „vielfache Knoten schürzend“62, damit – wie in der Familie Schroffenstein63 – den „dramatischen Knoten“, die ‚Intrige‘ bezeichnend. Andererseits scheinen der Strick, den Jeronimo im Erdbeben „der Zufall gelassen hatte“64, und jener, der Toni in der Verlobung zu Gebote steht, „der Himmel weiß durch welchen Zufall“65, miteinander verwandt zu sein, sie werden von beiden Texten mitbenutzt; die Textwelten sind so gebaut, dass solche Stricke von einem in den nächsten Text gleichsam durchgereicht werden können. Ähnliche Textelemente vermögen auch sehr weit voneinander entfernte Protagonisten zusammenzubringen. Ein Mob schwingt Keulen, seien es die „Neger“66 in der Verlobung oder die Kleinbürger im Erdbeben67; die Beschimpfung als (Kloster-)„[M]etze“68 und als „Hure“69 verbindet den Schuhmacher Pedrillo mit dem Schweizer Offizier Gustav ebenso wie die „Wut“, die Gustav zu einem Ungeheuer („,Du ungeheurer Mensch!‘“70) macht wie Congo Hoango71 und den chilenischen Schuster („,Ungeheuer!‘“72). Eine ganze Reihe solcher Querverbindungen, Brücken, ‚Wurmlöcher‘ − motivische wie gestische − durchzieht das Korpus der Erzählungen. Die Novelle-sensu-Kleist wäre dann jene Gattung, in der solcherlei Vertauschungen sich ereignen können; es ist eine, die einerseits Hysterien, Zufälle und Gewalttaten und andererseits die trügerischen Ruhepunkte sujetloser73 Gattungen zum Repertoire hat. Das ist möglich, weil in der jungen Gattung 62 Kleist: „Die Verlobung in St. Domingo“ (wie Anm. 43), S. 249. 63 Vgl. Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein“, in: DKV I, S. 233, Vs. 2722f. 64 Kleist: „Das Erdbeben in Chili“ (wie Anm. 56), S. 191. 65 Kleist: „Die Verlobung in St. Domingo“ (wie Anm. 43), S. 249. 66 Ebd., S. 241. 67 Vgl. Kleist: „Das Erdbeben in Chili“ (wie Anm. 56), S. 218. 68 Ebd. 69 Kleist: „Die Verlobung in St. Domingo“ (wie Anm. 43), S. 257. 70 Ebd. 71 Vgl. ebd., S. 222. 72 Kleist: „Das Erdbeben in Chili“ (wie Anm. 56), S. 218. 73 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, 2. Aufl., München 1986.

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Novelle die soziopoetischen, vom Aptum regierten Fügungen zwischen Personal, Diktion, Plot und Gattung noch nicht fixiert sind; gegenüber den klassischen Gattungen, die solche Begegnungen von vornherein nicht zuließen, kann hier alternatives Terrain erschlossen werden. Damit arbeitet Kleist an der Konstitution der Novellengattung mit; und er arbeitet an einem Kosmos von Erzählung, in dem an anderen literarischen Orten unwahrscheinliche Ereignisse möglich werden, an einer poetischen ‚Welt‘ mit einer Reihe von Organisationsprinzipien und einer Reihe von Gesetzen, auch wenn sie Kontingenzen mehr hervorbringen als regulieren – an einer Gattung also.

Einzigartigkeit Die Logik des Genuinen und ihre Genealogie aus der Logik S TEFAN F ÄRBER

Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; Viele Namen hörest du an, und immer verdränget Mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr. Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern, und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz […].1 GOETHE

G ENRENESS Die Wendung ‚Gesetz der Gattung‘ ist, soweit ich sehe, vor Derrida so nirgends nachweisbar.2 Dennoch scheint sie das Potenzial zu einem terminologischen Eigenleben zu haben, das über Derridas konkrete theoretische Konstruktion hinausund vor deren zuweilen ahistorischen Sprachgestus zurückreicht; zurück in eine latentere Sinnregion modernen Gattungsdenkens. In der kleinen Renaissance jedenfalls, die Fragen der Gattung momentan erfahren, scheint wenigstens nominell kein Weg an ihr vorbeizuführen.

1

Johann Wolfgang von Goethe: „Die Metamorphose der Pflanzen“, in: Ders.: Poetische Werke. Berliner Ausgabe, bearb. v. Ursula Beyer, Manfred Beyer u.a., 22 Bde., Berlin 1960-1990, Bd. I, S. 206–208, hier S. 206.

2

Vgl. Karl Leonard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, hg. v. Ernst-Otto Onnasch, Bd. 2, Hamburg 2012, S. 471. Hier, bzw. in der zweiten historischen Auflage des Jahres 1795, kommt die Wendung zwar vor, allerdings in einem sachlich unverwandten Sinn.

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Was aber besagt und was sagt zu an Derridas Wendung? An dieser Stelle ist es vielleicht nur die naheliegendste aller möglichen Beobachtungen, dass ‚Gesetz der Gattung‘ noch einmal den Grundgedanken dessen zusammenzufassen vermag, was man im Nachhinein ‚Regelpoetik‘ genannt hat. Die Wendung würde dann schlicht stehen für eine Tradition, in der Gattungen als ein Ausdruck von Normen und Spielregeln, als Medien der Beurteilbarkeit einzelner Werke sowie als Schemata einer Kunstlehre vom Dichten galten. Indessen scheint mir, was ihren Evidenzwert betrifft, die Sachlage komplizierter und impliziter. Ein erstes Indiz dafür wäre, dass ‚Gesetz der Gattung‘ das Wort ‚Gattung‘ in einen abstrakten Singular versetzt und dadurch tendenziell auf eine besondere Weise zu verstehen gibt, die die scholastische Logik allgemein suppositio materialis nannte: ‚Gattung‘ stünde im Zusammenhang der Wendung weniger für die Summe all dessen, was jeweils als bestimmte Gattung gezählt, tradiert, kritisiert und theoretisiert worden ist, und mehr für die Rede selber von ‚Gattung‘: ihren ‚Begriff‘ und, wenn man so will, ihre ‚Logik‘. So gesehen scheint die Wendung noch einmal einzuholen und zugleich davon zu zehren, was sich am modernen Roman stets am besten ablesen ließ, genauer gesagt an dessen Aufstieg von einer dem engeren Bereich des Poetischen im nacharistotelischen Verstande entzogenen „Historie aus einer anderen Welt“3 zu einer diesen traditionellen Verständnishorizont selber herausfordernden ‚Über-‘ oder sogar ‚Ungattung‘. Es sind nämlich nicht so sehr diese oder jene bestimmten Gattungen, auch nicht alle Gattungen zusammengenommen, die als kritische Verhandlungsmasse letztlich das ausmachen, was seit etwa 1750 zur Debatte steht. Wonach im Zuge der vielbeschworenen Wendung von der ‚Regelpoetik‘ zur Gattungs- und Literaturtheorie erstmals gefragt wird, davon mag eher wie von einem Aggregatzustand gesprochen werden: Statt um genres im Besonderen scheint es in mehr oder weniger aller modernen Arbeit an den literarischen Gattungen um „genreness“4 zu gehen. Die grammatische Sperrigkeit des Ausdrucks genreness scheint mir dabei auf einen neuen, in seinen geschichtlichen Grundlagen allerdings ganz und gar nicht leicht zu durchschauenden Stil im Umgang mit einem alten Thema zu verweisen. So stellen sich um 1800, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie altbekannte Fragen wie: Gibt es wirklich – ‚in‘, ‚unterhalb‘ oder gar noch ‚vor‘ einzelnen Dingen – Arten von Dingen? Oder: Welche Arten von Dingen gibt 3

Johann Christoph Gottsched: „Versuch einer Critischen Dichtkunst. Erster, allgemeiner Theil“, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. v. Joachim Birke und Brigitte Birke, 12 Bde., Berlin, New York 1968-1987, Bd. VI.1, S. 204 [IV, § 9].

4

Michael McKeon: „Genre theory“, in: The Theory of the Novel. A Historical Approach, hg. v. dems., Baltimore 2000, S. 1–4, hier S. 4 (eigene Hervorhebung, SF). McKeon verwendet den Ausdruck im Hinblick auf den Roman.

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es wirklich? Statt alter ontologischer Streitereien um die vorrangige Existenz von universalia gegenüber dem Einzelnen etablieren sich vielmehr Fragen wie: Was macht Gattungen aus, das heißt: Gattungen als Gattungen? Oder, etwas anachronistisch gewendet: Wenn Gattungen Objekte normativer Praktiken oder deren Emergenzeffekte sind, welche übergeordneten Kriterien wären dann wiederum anzulegen, um die Rolle, die Gattungen als solche spielen sollen, zu begründen oder zu unterlaufen? Man denke etwa, als eine Art diskursives Vorfeld zu jenem Stilbruch im Fragen nach den Gattungen, an Linnés botanisches Kriterium der Pistillenzahl und das Buffon’sche Kriterium der Fortpflanzungsfähigkeit; oder aber, in der Poetik, an Gottscheds und Batteux’ Ordnungsprinzipien der Nachahmung. Mit all dem soll weniger bestimmt und abgesteckt sein, ob oder welche Gattungen es gibt. Es soll vielmehr überhaupt erst Entscheidbarkeit herbeigeführt werden darüber, was etwas zu einer Einheit innerhalb einer gewissen generischen Ordnung machte. Ausschlaggebend für die späteren Umwälzungen dürfte daran wohl sein, dass die Setzung derartiger Kriterien sich nicht einfach wie ein weiterer Klassifikationsakt den jeweiligen Projekten einfügt, auf die sich diese Kriterien richten und deren heuristische Basis sie abgeben sollen. Das setzt voraus, erfordert aber nicht zwingend methodisches Bewusstsein davon, dass ‚Gattungsein‘ nicht einfach wie eine weitere Eigenschaft verstanden werden kann unter und neben denen, mittels derer dann die Zugehörigkeit von etwas zu einer bestimmten Gattung jeweils festgestellt werden soll. ‚Gattungsein‘ selber, so die Beobachtung, kann offenbar nicht mehr erfasst werden, legt man die Grundidee einer Norm oder Regel an, nach welcher doch beispielsweise ‚regelpoetisch‘ entschieden werden sollte, ob und wann etwas als ein Belegstück dieser oder jener bestimmten Gattung gelte. Neu und akut an der Frage nach genreness ist dann, dass sie einerseits global und andererseits formal zu sein scheint: global, weil nun den bisherigen Fragen und Kernkompetenzen der Poetik – etwa die Kritik der innerkanonischen Bedeutung bestimmter Gattungen – ein ganz neues Problem methodisch vorgeordnet werden muss, nämlich das der Begründung der Bedeutsamkeit von Dichtung oder Literatur überhaupt; formal, weil es dabei weniger schon um diese oder jene einzelne Gattung geht, sondern mehr darum, in welchem Sinn unter den Bedingungen moderner Literatur überhaupt noch von literarischen Gattungen die Rede sein kann. Befindet man sich damit nicht bereits einen Schritt vor Derridas These einer Aporie, die konstitutiv in sämtlichen normativen Praktiken waltet, welche in Gattungen und Gattungsdiskursen manifest werden? Und weist dies nicht bereits voraus auf etwas, das sich gegenüber diesen Praktiken und Normierungen eben wie ein Gesetz verhält und nicht mehr wie eine weitere Norm oder gar Metanorm? Vielleicht. Ich möchte allerdings die Möglichkeit eines anderen Zugriffs auf das

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Problem aufzeigen und dazu zunächst der Derrida’schen eine von Aristoteles5 stammende Beobachtung gegenüberstellen. Wie die anderen Wörter, die später predicabiles genannt wurden, hat der Ausdruck génos nach Aristoteles die Besonderheit an sich, dass er nur von Prädikaten als solchen ausgesagt werden kann. Das heißt, das Wort génos lässt sich nur sinnvoll von etwas sagen, das selbst – im Sinne des grammatischen Aktivs – etwas Aussagendes wäre. Als ein Prädikat gedacht, kann das Wort génos somit nur auf etwas bezogen werden, das im Kontext von Aussagen immer als sprachlich Aussagendes auftritt. Für Aristoteles folgt daraus zugleich und umgekehrt: Das Wort génos bezeichnet einen Term (hóros), der niemals direkt von etwas Zugrundeliegendem (hypokeímenon) ausgesagt werden kann, also niemals davon, was ‚in‘ Aussagen ausschließlich in der Weise vorkommt, dass darin etwas über es ausgesagt wird. Kurz, génos wird nicht über etwas gesagt. Zwar kann man vom Menschen reden und damit meinen: die Gattung des Menschen. Keinen Sinn ergäbe es hingegen, umgedreht zu sagen, etwas sei eine Gattung, so wie man sagt, Bukephalus sei ein Pferd, oder Menschen seien Lebewesen. Stattdessen müsste es immer heißen: Etwas X (das Prädikat ‚Lebewesen‘) wird generischer Weise von Y (dem Prädikat ‚Mensch‘) ausgesagt, wobei die Variable Y wiederum, der Sachlage nach, für ein Prädikat im Sinne eines sprachlich Aussagenden zu stehen hat. Das Wort génos selbst verweist daher nicht auf eine Kategorie des Seienden (kategoría), sondern jeweils immer nur auf ein kategoroumenon6: ein im grammatischen Passiv zu denkendes ‚prädiziertes Prädikat‘.7 In seiner grundlegenden Behandlung in der Aristotelischen Topik meint génos also eigentlich ein bestimmtes logisches Verhältnis, in dem in Sätzen verbundene Prädikate qua Aussagende – und nur Prädikate in diesem Sinne – zueinander stehen können. ‚Gattungsein‘, so könnte man zusammenfassen, ist für Aristoteles ein relationales und zugleich metasprachliches Prädikat. 5

Ich zitiere den griechischen Text von Aristoteles im Folgenden nach den Ausgaben der Oxford Classical Texts, sowie nach dem in der Literatur üblichen Verfahren.

6

Vgl. Top. I.8, 103b7–19. Die vier predicabiles werden hier eingeführt als eine Einteilung von Verhältnissen, in die „alles über etwas Ausgesagtes“ (pan to peri tinos kategoroumenon) eintreten kann. Das Partizip Präsens Passiv kategoroumenon richtet sich dabei auf als linguistische Instanzen des Aussagens aufgefasste Terme. Das unterscheidet die predicabiles von den Kategorien (kategoriai), die gleich darauf (Top. I.9, 103b20–21; vgl. APo. I.22, 83b16–17) „Gattungen der Prädikate“ (gene ton kategorion) genannt werden.

7

Theodor Ebert: „Gattungen der Prädikate und Gattungen des Seienden bei Aristoteles. Zum Verhältnis von Kat. 4 und Top. I.9“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 67 (1985), S. 113–138, hier S. 123.

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Für den Versuch, genreness als spekulativen Such- und Zielbegriff für das Krisenbewusstsein um 1800 anzusetzen, ist diese zunächst abwegig scheinende Beobachtung durchaus von Nutzen. Denn sie zeugt gerade nicht von einer Schwierigkeit, sondern eher von einer geradezu lebensweltlichen Selbstverständlichkeit – was sich zumal daran zeigt, dass sich auch heute noch grammatisch umständliche Konstruktionen wie ‚Gattungsein‘ und genreness eben nur schwer von selbst verstehen. Dass das Wort génos einen metasprachlich und nur metasprachlich zu gebrauchenden Term bezeichnet, verrät nämlich dessen besondere Stellung (bei Aristoteles, aber nicht nur bei ihm), und diese besteht darin, ein Modell für Begrifflichkeit überhaupt zu sein. Was ein Begriff bzw. Term (hóros) als solcher ist und leistet, wird demnach wortwörtlich als ein Akt der Eingrenzung (horismós) gedacht, wobei der Begriff dann nichts anderes ist als die Benennung (onóma) einer in spezifischer Weise ausgesagten Essenz (eídos) des betreffenden Gegenstands. Wenn man unter ‚Gegenstand‘ nominell das versteht, von dem ein Begriff Begriff ist, so besagt die diesem Begreifensmodell entsprechende Grundvorstellung von Gegenständlichkeit: Ein Gegenstand, das meint ein Substrat gegenüber einer Reihe von Eigenschaften, wobei einige dieser Eigenschaften den Gegenstand ausmachen in dem, was er ist, sprich: in dem, was ihn eben zum Substrat macht gegenüber all seinen Eigenschaften. Sich als ein Gegenstand auszuzeichnen, das heißt: der Grund dessen zu sein, dass viele Eigenschaften als Eigenschaften von Einem begreifbar sind, ist für Aristoteles gleichbedeutend damit, etwas absolut Umgrenztes (horistón) zu sein. Meine Hypothese ist, dass dieses Modell vom Begriff als Gattungsbegriff um 1800 in seinen Leistungsgrenzen explizit und damit fraglich zugleich wird. Es tritt sozusagen – und zwar in einer ganz bestimmten historischen Gestalt – aus dem Schatten lebensweltlicher Selbstverständlichkeit und verliert seinen bis dato unangetasteten Status, Grundbaustein einer dem menschlichen Denken eingebauten natürlichen Logik8 zu sein. Doch passiert das nicht etwa in erster Linie vor der Folie eines sich als prekär erweisenden metaphysischen ‚Essenzialismus‘ mitsamt einem ihm entsprechenden ‚starren‘ Gattungsdenken. Entscheidend ist eher, meine ich, das Zusammenspiel sowohl als die latente Auseinandersetzung mit einem anderen, neueren Modell von Begreifen, welches man das nomologische Modell nennen könnte. Dieses Modell besagt im Kern: Die Einheit eines Begriffs steht für die Einheitlichkeit einer Erklärung des Gegenstandes aus einem ihn übersteigenden Zusammenhang. Im Zentrum des nomologischen Modells steht damit die Idee einer Art ‚indirekter Objektivität‘ des jeweils zu Begreifenden, welche 8

Vgl. die im vorliegenden Zeitraum einflussreiche Konzeption des Verhältnisses von logica naturalis und logica artificialis bei Christian Wolff: Philosophia rationalis sive logica, hg. v. Charles A. Corr, Hildesheim 1983, S. 109ff. [§§ 6–12].

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erst mit dessen Zuordnung zu und in einen gesetzmäßigen Strukturzusammenhang gegeben wäre. Nach diesem Modell heißt Begreifen nicht etwa angemessenes Bezeichnen von Essenzen als ‚erster‘ Bestimmungen der jeweiligen Sache, sondern es geht – modallogisch vorgedacht – um ein Erfassen des Möglichseins des Gegenstands, wobei dieses Möglichsein sich wiederum – holistisch zu Ende gedacht – aus der Stellung des Gegenstands zu anderem, womöglich zu allem anderen, ergeben soll.9 Erst beide Begreifensmodelle, ihr offenes Zusammen-, vor allem aber ihr latentes Widerspiel, provozieren um 1800 jene Probleme, in deren Gegenwart Kleist unter der Derrida’schen Formel vom ‚Gesetz der Gattung‘ gestellt werden kann. Sie zusammen wie auch gegeneinander wären es, meinem Vorschlag nach, die die Reformen und Revolutionen in der Gattungspoetik und der Naturgeschichte untergründig aber maßgeblich mit provozieren und dabei zugleich auch den entsprechenden Bearbeitungsspielraum vorgeben. Auf einem im weitesten Sinne logikgeschichtlichen Umweg über beide Modelle versucht nun mein Beitrag, eine Art genealogische Perspektive im Sinne Foucaults zu eröffnen und zu fragen: Was sind die historischen Beweggründe dafür, dass eine solche Frage – die Frage nach genreness – nicht nur dringlich und epochemachend, sondern vielmehr möglich und sinnvoll erscheinen konnte? Gefragt wird also, wenn man so will, nach den Bedingungen der Positivität10 der Fraglichkeit von genreness um 1800. Auch wenn eine eigentliche Antwort darauf – eine echte historische Rekonstruktion – hier nicht zu leisten ist, so soll doch ein Grundgerüst einiger elementarer begrifflicher Unterscheidungen geliefert werden.

E SSENZ – N ATUR Zum dialektischen Zubehör im Nachvollzug der Gattungsproblematik um 1800 zählt für gewöhnlich und immer wieder die folgende Annahme: In Aristoteles’

9

Die Konstruktion ist angelehnt an den von Cassirer herausgestellten Unterschied zwischen einer alten ‚Substanz-‘ oder ‚Gattungs-‘ und einer neueren ‚Funktions-‘ oder ‚Gesetzes‘-Konzeption von Begrifflichkeit (vgl. Ernst Cassirer: „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“, in: Ders.: Werke, hg. v. Birgit Recki, Bd. 6, Hamburg 2001, hier S. 1–26). Aus hier nicht verhandelbaren Gründen teile ich allerdings weder Cassirers Darstellung der systematischen und historischen Details, noch bin ich der Ansicht, dass der historische Ablösungsprozess zwischen den beiden Konzeptionen einseitig als eine Art Fortschrittsgeschehen zu verstehen ist.

10 Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992.

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Analyse sei das ti ēn einai, das Wesenswas, als das verstanden worden, was einer Sache absolut notwendig und das heißt: was ihr unveränderlich zukäme.11 Wollte man angeben, was etwas in seinem Wesen (ousía) sei, so müsste man unter allen seinen Eigenschaften nach jenen suchen, die es haben muss, und zwar jederzeit und in jedem Fall haben muss, soll es nicht aufhören, es selbst zu sein. Einen Gegenstand X in die definitorischen Grenzen seines Begriffs einzuschließen, hieße demnach anzugeben, was etwas Beliebiges Y in jedem einzelnen Fall mit X gemein haben müsste, um etwas von der Art von X zu sein. Es ist kein großer philologischer Aufwand vonnöten um zu erkennen, dass dieses Verständnis von Aristoteles’ Konzept der Essenz spezifisch neuzeitliche Vorzeichen hat, und dass es erst unter diesen Vorzeichen als doktrinärer Kern diverser ‚Essenzialismen‘ Polemik auf sich ziehen konnte: Was um 1800 mit der Gattungsproblematik steht und dann fällt, das ist die Grundidee der zeitlichen bis überzeitlichen Konstanz der Arten; und es ist die operationale Logik eines aufgrund von extrinsischen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten verfahrenden Unterscheidens, das diese Dinge in Ordnungen von Begriffen auf ihr invariant Gemeinsames bringen wollte.12 So einleuchtend und fundiert das Narrativ auch sein mag: Mit seiner neuzeitlichen Formatierung verstellt es meiner Ansicht nach die historisch verdeckten Beweggründe, um die es mir hier geht. Ich werde und kann hier nur einen simplen Punkt gegen dieses Narrativ anbringen, der für mein Thema unmittelbar von Belang ist. Im vierten Abschnitt des siebten Buchs der Metaphysik schickt Aristoteles seiner Diskussion des Wesenswas (to ti ēn einai) eine, wie er wörtlich sagt, Bemerkung ‚logischer‘ Art voran:

11 Vgl. etwa die philosophischen Gründungserzählungen der modernen biologischen Systematik, z. B. bei David L. Hull: „The effect of essentialism on taxonomy: 2000 years of stasis“, in: British Journal for the Philosophy of Science 15 (1965), S. 314–326, hier S. 317f. Vgl. weiterhin, auf poetologischem Feld, die Bekräftigung bei Hans Blumenberg: „‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 9–46, hier S. 26, was es laut Aristoteles für die Dichtung als téchnē nachzuahmen gäbe an Natur (vgl. Phys. II.8, 199a15–17; Poet. 1, 1447a13– 16), bliebe letztlich immer fundiert in einem „unverrückbaren eidetischen Bestand“. 12 Beide Motive sind prominent und einflussreich in Michel Foucaults archäologischer Rekonstruktion der naturgeschichtlichen Episteme im 18. Jahrhundert in Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974, S. 165–210, insbes. S. 187, 189f., 197f., 201.

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[Z]uerst wollen wir etwas über dasselbe [das Wesenswas] in logischer Hinsicht [logikōs] sagen, nämlich dass das Wesenswas eines jeden einzelnen ⟨Dings⟩ [hékastou] das ist, was ⟨von diesem⟩ aufgrund von sich selbst gesagt wird [ho legetai kath’ hauto].13

Die Grammatik des Satzes eröffnet mindestens zwei grundlegende Deutungsrichtungen. Entweder man sagt das Wesenswas irgendeines einzelnen Dings X aus, wenn man sagt, was X aufgrund von sich selbst, was es an sich, ist. Oder das Wesenswas wäre vielmehr dasjenige, was, wenn etwas darüber gesagt wird, was X ist, von X aufgrund von sich selbst gesagt wird, oder vielmehr gesagt werden kann. Gemessen daran, was sich aus ihnen an metaphysischen Folgen ergibt, divergieren beide Interpretationsrichtungen erheblich. Die erste Deutung bestätigt das in der Neuzeit rezeptionsgeschichtlich dominierende Bild von der Aristotelischen Essenz als Inbegriff metaphysisch absolut notwendiger, das heißt: völlig invarianter Eigenschaften einer Sache. Denn was etwas ‚aufgrund von sich selbst‘ oder ‚von sich her‘ (kath’ hauto) ist, kann sich anscheinend nur daraus erschließen, was es mit Rücksicht darauf, es selbst zu bleiben, sein muss, anders gesagt daraus, was es, allen denkbaren möglichen kontrafaktischen Umständen zum Trotz, sein würde. Man erklärte also, verkürzt gesagt, das Essenzielle durch das Notwendige und das Notwendige durch das Ausnahmslose oder Invariante. Die andere Deutung der genannten Stelle hingegen fiele sehr viel weniger extravagant aus: Der das ti ēn einai bezeichnende, definitorische Term wäre hier lediglich dasjenige, von dem – wiederum in einem dezidiert metasprachlichen Register – gesagt werden kann, dass er aufgrund der betreffenden Sache selbst von dieser gesagt wird. Die ‚Definition‘ (horismós logós) eines Gegenstandes zu geben, bestünde damit schlicht und einfach in einer nominal alternativen Angabe dessen, wovon (ti) die Rede gewesen (ēn) ist.14 Genauso basal und nüchtern wie das klingt – nimmt man die moderne Emphase gegen diverse ‚Essenzialismen‘ als Maßstab –, genauso elementar und weitreichend dürfte die diskursive Tragweite sein. Es ist hier nicht ohne Ironie, dass wir es ausgerechnet einem spitzfindigen analytischen Metaphysiker und Logiker wie Kit Fine verdanken, uns in dieser Sache eine Lektion in Abstraktion von Aristotelischem Format erteilt zu haben. Nicht nur ist das alte, vermeintlich überkommene Konzept von Essenz laut Fine logisch unabhängig von allen modalen Fragen nach Notwendigkeiten und ihren Gegenteilen, an denen den Modernen so viel 13 Met. VII.4, 1029b13–14 (eigene Übersetzung und Ergänzungen, SF). 14 Vgl. APo. II.10, 93b29–31. Ähnliche Deutungen finden sich bei Pirmin Stekeler-Weithofer: Grundprobleme der Logik. Elemente einer Kritik der formalen Vernunft, Berlin, New York 1986, S. 70f. und L. M. de Rijk, Aristotle. Semantics and Ontology, Vol. 1, Leiden, Boston, Köln 2002, S. 477f.

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gelegen gewesen ist; es ist ihnen auch gewissermaßen logisch vorgeordnet: „[A] necessary truth is not necessary simpliciter. For it is true in virtue of the identity of the objects in question; the necessity has its source in those objects which are the subject of the underlying essentialist claim.“15 Mit Blick auf Aristoteles’ ‚logische‘ Vorbemerkung zeigte sich dann, dass die Konzeption des ti ēn einai eine Art minimalen formalen Kern aufweist, dem gemäß das Essenzielle einer Sache zu begreifen gerade nicht heißen kann, metaphysische Notwendigkeiten, im Sinne eines ihr immer und unter allen Umständen Zukommenden, zu erfassen. Das Konzept des ti ēn einai wird hier vielmehr ausgerichtet an einem Begriff der Sache selbst als eines Grundes aller Unterscheidbarkeiten dahingehend, was ihr notwendig und was ihr nur zufällig zukommt. Das jedenfalls würde erklären, warum es bei Aristoteles mit der Rede vom ti ēn einai immer darum zu gehen scheint, was die für eine Erklärung der zu begreifenden Sache relevante, sachlich privilegierte Bestimmung ist, und bestenfalls danach darum, inwiefern die Bestimmung von der Sache notwendig oder ohne Ausnahme gilt. Nicht etwa, weil es sich im Allgemeinen so verhielte, dass jeder einzelne Mensch zôon logikon war, ist und sein wird, heißt Mensch zu sein, ein zôon logikon sein. Ob etwas für eine fragliche Sache X wesentlich ist oder nicht, ergibt sich nicht daraus, wie ‚verbreitet‘ es in Bezug auf X ist im Vergleich zu anderem. Was einer Sache in jedem möglichen Fall zukommt, das muss noch lange nicht das sein, aufgrund dessen sie sich als sie selbst (kath’ hauto) ansprechen lässt. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass der bei Aristoteles für sich unbestimmte Begriff des ‚Allgemeinen‘ (kathólou16) – welches zu sagen (légein) Aristoteles bekanntlich auch der Dichtung im Unterschied zur Historie zugetraut hat17 – in zwei grundverschiedene Sinnrichtungen weist.18 Von Allgemeinheit kann man nämlich einmal sprechen, wo etwas einer Sache unter allen Umständen, unter allen Hinsichten oder in allen Fällen (kata pantos) zugesprochen werden kann. Das wäre dann das entfernte Vorbild für den neuzeitlich gewandelten Essenzbegriff. Man könnte hier von einem distributiven Sinn von Allgemeinheit oder auch von Generalität sprechen. Andererseits kann allgemein aber auch das heißen, als was eine Sache in Gänze (kath’ hólou) angesprochen werden 15 Kit Fine: „Essence and modality“, in: Philosophical Perspectives 8 (1994), S. 1–16, hier S. 8f. 16 Das altgriechische kathólou ist eine Substantivierung des komplexen adverbialen Ausdrucks katà hólou, was wörtlich in etwa ‚vom Ganzen‘ oder auch ‚durch das Ganze‘ bedeutet. 17 Vgl. Poet. 9, 1451b6–8. 18 Vgl. zu der folgenden Unterscheidung APo. I.4, 73a21–74a3 und Met. V.26, 1023b26– 32.

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kann, das heißt angesprochen mit Blick auf ihre sachliche Einheit oder auf das Ganze dessen hin, was ihr überhaupt zugesprochen werden kann. ‚Allgemein‘ meint dann nicht einfach etwas, was eine gewisse Eigenschaft in Bezug auf die jeweilige Sache sein kann. ‚Allgemein‘ müsste vielmehr das genannt werden, was hinsichtlich aller möglichen Eigenschaften eines Gegenstandes den Grundbegriff dafür abgibt, dass man diese Eigenschaften in für ihn mehr und in für ihn weniger relevante unterscheiden kann. Das wäre dann eine Art integraler Sinn von Allgemeinheit, für den man das Wort ‚Universalität‘ reservieren könnte. Es gibt Anzeichen dafür, dass es in erster Linie dieser zweite Sinn von Allgemeinheit gewesen ist, der bei Aristoteles der metaphysischen Einheit von Substanzen entspricht.19 Nun ist, wie sich gleich zeigen wird, das im Sinn von Universalität beschlossene Verständnis von Essenz gerade nicht das, unter dem die Frage nach einem Aggregatzustand von genreness entwickelt und ausgetragen worden ist – und dass es so ist, gehört mit in die hier zu entwerfende Perspektive. Baumgarten etwa wiederholt in seiner Metaphysica die spätestens bei Leibniz20 zu findende, aber schon dort historisch voraussetzungsreiche Umdeutung von essentia zu einer in erster Linie modallogisch formatierten Begrifflichkeit. Essenz, das ist jetzt einerseits, was die ‚innere Möglichkeit‘ (possibilitas interna) von einem Ding (ens) ausmacht. Andererseits ist sie gleichbedeutend mit dem an einem Ding absolut Notwendigen, insofern es sich um eine bestimmte Art von Ding handelt.21 Diesen beiden modalen Aspekten von Essenz entspricht in Baumgartens Definitionensystem jeweils eine gewisse Begrenzung dahingehend, was generell zu denken möglich ist: Die Essenz eines Dings zu begreifen heißt nichts anderes, als dasjenige zu denken, ohne das es im Allgemeinen nicht gedacht werden kann und ohne das es nichts (nihil negativum), also ein Gegenstand zu einem in sich widersprüchlichen 19 Vgl. APo. I.4, 73a34–73b5. Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Berlin, New York 2006, S. 20f., 38f., 76 hat den Unterschied ansatzweise in ihrer Untersuchung zur Rezeption der Poetik in der italienischen Renaissance ausgemacht, welche das von Aristoteles der dichterischen Sprache zugeordnete Allgemeine ausgehend von Horaz’ Wendung exemplar vitae et morum gelesen hat. Anders als Kappl möchte ich hier allerdings nicht auf eine Rezeptionsverfallsgeschichte hinaus. 20 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: „Nouveaux Essais sur l’entendement humain“, in: Ders.: Die philosophischen Schriften, hg. v. C.I. Gerhardt, Bd. 5, Hildesheim 1978, S. 39–509, hier S. 272; Wolff: Logica (wie Anm. 8), S. 191 [§ 155] und Ders.: Philosophia prima sive ontologia, hg. v. Jean École, Hildesheim 1962, S. 65 [§ 85], 120 [§ 143]. 21 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart 2009, S. 68f. [§ 40], 92f. [§ 106].

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Begriff, wäre.22 Und dass die essenziellen Bestimmungen eines Dings absolut notwendig sind, bedeutet, dass sie im Allgemeinen dem Ding gedanklich unverändlich (immutabile) zukommen und untrennbar mit ihm verbunden sind.23 Baumgartens Begriff der Essenz setzt insofern den Begriff eines Begreifens voraus, welches auf der Grundlage von Generalitäten operiert. Nun ist die Metaphysica zugleich auch eine der Stellen, an denen sich abzeichnet, wie gerade dieses neuzeitliche Begreifensmodell an die Grenzen seiner formalen Befragbarkeit stößt. Ablesen lässt sich das ausschnitthaft an dem neuartigen systematischen double bind, das dort der Begriff der Essenz mit einem Begriff jüngerer Provenienz eingeht, nämlich dem Begriff der Natur (natura) eines Dings.24 Im Verhältnis dieser beiden Begriffe, könnte man sagen, spielt sich nichts Geringeres ab als die Ablösung des einen Begreifensmodells – des generischen Modells in seiner neuzeitlichen Gestalt – durch das andere – das nomologische Modell. Ein erstes Indiz dafür wäre, wie sich der Begriff der natura verglichen mit dem der essentia systematisch zum Register der Modalitäten verortet. Anders als ‚Essenz‘ meint nämlich das Wort ‚Natur‘ schon Wolff zufolge nicht bloß den dem Satz vom Widerspruch unterliegenden Inbegriff zur ‚inneren Möglichkeit‘ eines Dings und damit dessen, was ihm absolut – losgelöst von anderem – notwendig zukommt, sondern den formal darüber hinausgehenden Inbegriff seiner Wirklichkeit (actualitas). Und das eine, so betont Wolff gelegentlich, aber bestimmt, kann sich nicht aus dem anderen – die Natur eines Dings nicht ohne Weiteres aus seiner Essenz – ergeben. So sei es zwar etwa eine essenzielle Bestimmung von Körpern als solchen, ausgedehnt zu sein. Schließlich ließe sich ganz generell nichts als Körper denken, ohne dass es nicht zugleich auch als ausgedehnt gedacht werden müsste. Im Gegensatz dazu ließe sich aber nicht eine einzige, auch nur mögliche Bewegung von Körpern so denken, dass sie aus deren wesentlicher Eigenschaft, ausgedehnt zu sein, folgte. Da sie sich nicht aus der Essenz von Körpern ergibt, kann keine mögliche Bewegung von irgendetwas, was Körper ist, absolut notwendig für es als Körper sein, wie es die Bestimmung des Ausgedehntseins ist.25 22 Vgl. Wolff: Ontologia (wie Anm. 20), S. 227 [§ 279], 62 [§ 79]; Baumgarten: Metaphysica (wie Anm. 21), S. 56f. [§ 7]. 23 Vgl. Wolff: Ontologia (wie Anm. 20), S. 235f. [§ 292f.], 239ff. [§§ 299–303]; Baumgarten: Metaphysica (wie Anm. 21), S. 100ff. [§§ 130–132]; Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Erster Theil, Hildesheim 2007, S. 188f. [§ 109], 192 [§ 112]. 24 Vgl. Baumgarten: Metaphysica (wie Anm. 21), S. 68f. [§ 40], 18f. 25 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, hg. v. Charles A. Corr, Hildesheim 1983, S. 264 [§ 181], 351f. [§ 222].

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Damit ist der systematische Einsatzpunkt des Begriffs der natura markiert. Dieser Begriff hat nämlich nun dafür aufzukommen, dass es prinzipiell mehr zu erfassen gibt und mehr bestimmt ist an Dingen als der Komplex ihrer nicht-relationalen, essenziellen Bestimmungen. Alles, was an einem Ding über seine Essenz hinaus seine Natur ausmacht, ist daher geradezu ex negativo dadurch definiert, dass es sich nicht notwendig aus diesen essenziellen Bestimmungen ergeben kann. Baumgarten drückt diesen Gedanken aus, indem er auf eine von den Aristotelischen predicabiles inspirierte Terminologie (accidens/symbebēkós) zurückgreift. Die NATUR eines Dinges ist der Inbegriff [complexus] von denjenigen seiner inneren Bestimmungen, welche die Prinzipien [...] der ihm inhärierenden Akzidenzien sind. Folglich zählen zur Natur eines Dinges 1) seine wesentlichen Bestimmungen [essentialia], 2) sein Wesen [essentia], 3) seine Vermögen, 4) seine Empfänglichkeiten [receptivitates], und 5) alle Kräfte, mit denen es ausgestattet ist.26

Die ‚Natur‘ eines Dings zu bestimmen hieße also nach Baumgarten nicht nur, den Grundbegriff seiner wesentlichen, seine innere Möglichkeit erschließenden Bestimmungen anzugeben, sondern vielmehr den Grund seiner akzidenziellen, ihm im Verhältnis zur Gesamtheit aller anderen Dinge einer Welt zukommenden Bestimmungen. Erst im formalontologischen Begriff der natura eines Dings kommt damit das im strengen Sinne rationalistische Ideal zum Ausdruck, dem dann bei Baumgarten die Ästhetik folgenreich eine Grundlage im Sinnlichen zu geben ausgezogen ist, nämlich: Es könne eine Weise geben, Gegenstände in ihrer gänzlichen Partikularität, das heißt: nach der Form ihres gegenseitigen Zusammenhängens im Ganzen einer wirklichen Welt zu erfassen.27 Im Kriterium der ‚Naturalität‘ ist also der Grundbegriff der Wirklichkeit eines ens formal fixiert, das heißt der Grundbegriff eines ens mitsamt denjenigen Bestimmungen, die es – abgesehen davon, was seine bloße innere Möglichkeit ausmacht – haben kann, genauso wie es sie auch nicht haben kann. Angesichts solch eines Gedankens offenbart nun das generische Begriffsmodell neuzeitlicher Art, welches in Baumgartens Essenzbegriff vorausgesetzt ist, wie von selbst die Grenzen seiner formalen Befragbarkeit. Nach einer Logik der kontrafaktischen Isolierung und Eingrenzung invarianter, generell nicht wegzudenkender Eigenschaften lassen sich Naturen, wenn sie Grundbegriffe der auf Essenzen irreduziblen Partikularität von Dingen sein sollen, jedenfalls kaum mehr denken. Es ist im Gegenzug das nomologische Begreifensmodell, das hier seinen 26 Baumgarten: Metaphysica (wie Anm. 21), S. 230f. [§ 430]. 27 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik, hg. v. Dagmar Mirbach, Bd. 1, Hamburg 2007, S. 418ff. [§ 441].

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prädestinierten Einsatzpunkt finden soll. Denn statt zu abstrahieren und deskriptiv aufzubereiten, was an ihm invariant wäre, geht es hier darum, den Gegenstand in seiner Partikularität aus einem Zusammenhang heraus zu begreifen, welcher sich ihm gegenüber als das Ganze einer Welt oder einer Natur verstehen ließe. „Natürlich“, fasst später Kant, der wohl gründlichste zeitgenössische Leser der Metaphysica, zusammen, „heißt was nach Gesetzen einer gewissen Ordnung, welche es auch sei, [...] nothwendig folgt“28; und Gesetze wären genau „Principien der Nothwendigkeit dessen, was zum Dasein“, nicht bloß zur inneren Möglichkeit, „eines Dinges gehört“29. Anders gesagt, erst im Modus nomologisch gedachter Allgemeinheit wäre es möglich, etwas als ein Element innerhalb eines Kohärenzzusammenhangs von Partikularem – eines Wirklichkeitszusammenhangs – zu begreifen.30 Betrachtet man sie rückblickend von den Entwicklungen um 1800, erscheint Baumgartens Differenzierung zwischen essentia und natura, die er begrifflich schärfer als Wolff trifft, als Aspekt einer weitreichenderen Begriffsumstellung. So hatte etwa Gottsched noch kurz zuvor unter ‚Naturgesetz‘ eine unveränderliche, für das menschliche Handeln allgemein verbindliche Regel verstanden.31 Das erlaubte ihm auch, in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst von der „unveränderlichen Natur der Dinge“ zu sprechen, welche dann, vermittelt durch das Nachahmungsprinzip, „Grund“ aller Regeln von Dichtung wäre.32 Ist aber der Unterschied zwischen dem Essenziellen als dem absolut Notwendigen für das bloß in sich Mögliche und dem Natürlichen als dem strukturell Notwendigen für das kontingent Wirkliche einmal gemacht, wird es bei der Rede von ‚Natur‘ auf das alles nicht mehr ankommen. ‚Natur‘ und ‚Gesetz‘ können dann zu Vokabeln innerhalb einer Logik werden, die auftritt als eine Logik im Unterschied zur Logik von Gattungen als Generalitäten.

28 Immanuel Kant: „Das Ende aller Dinge“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin 1900ff., S. 325–339, hier S. 333. 29 Immanuel Kant: „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 28), Bd. 4, S. 467–565, hier S. 469 (eigene Hervorhebung, SF). 30 Vgl. dazu Cassirer: „Substanzbegriff“ (wie Anm. 9), S. 19. 31 Johann Christoph Gottsched: „Erste Gründe der gesamten Weltweisheit. Zweiter, praktischer Theil“, in: Ders.: Ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. V.2, S. 88 [§§ 32–33]. 32 Gottsched: „Versuch“ (wie Anm. 3), S. 174 [III, § 8].

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L OGIK

DES

G ENUINEN

Ich springe damit direkt zum titelgebenden Gegenstand meines Beitrags, der logischen Figur von Einzigartigkeit. Einen dankbar ausführlichen und zugleich literalen Auftritt erhält die Figur des Einzigartigen im 1755 veröffentlichten fünften Band von Buffons Histoire naturelle, im Kapitel zu den Wild- und Hausschweinen. Dort heißt es: Diese Tiere sind singulär [singuliers]; ihre Art ist sozusagen einzig [l’espèce en est, pour ainsi dire, unique]; sie ist isoliert [isolée], sie scheint alleinstehender [plus solitairement] zu existieren als jede andere; sie ist nicht irgendeiner anderen Art benachbart, die man als ihr vorgeordnet oder als ihr nachhängend erachten [regarder comme principale ni comme accessoire] könnte [...]; sie hat an mehreren Arten teil [participe], und dennoch unterscheidet sie sich auf essenzielle Weise von allen [diffère essentiellement de toutes].33

Mein Verdacht ist, dass Buffon hier mehr präsentiert als er will, das heißt: mehr als nur ein Beispiel, das die methodischen Vorgaben der taxonomischen Systematik der Linnéaner durchkreuzt, indem es uns mit dem scheinbar paradoxen Fall einer Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit von etwas zu mehreren Arten zugleich konfrontiert. Zwei Beobachtungen dazu. Erstens wäre es wohl vorschnell zu sagen, die Haus- und Wildschweine würden in der ihnen zugeschriebenen Einzigartigkeit als prädestiniertes Belegstück jenes Nominalisten angeführt, für den man Buffon des Öfteren gehalten hat.34 Einzigartigkeit, das meint in der obigen Textstelle weniger etwas, das im Vergleich zu den im Premier discours gegenüber dem Reichtum der Naturformen kritisierten Abstraktionen des menschlichen Verstandes35 eine ebenso abstrakt bleibende Eigenständigkeit reklamiert, etwa indem es mit der Diesheit seiner individuellen Existenz, einem weder teilbaren noch austauschbaren Dasein, konfrontiert. Was Buffon Einzigkeit der Art nach nennt, führte daher gerade nicht einfach direkt auf jenes ontologische Niveau der konkreten einzelnen Lebewesen und deren Fortleben zurück, auf welchem er seinen eigenen Speziesbegriff ansetzt.36 Das liegt daran, dass man ausgehend von diesem Begriff über jede Spezies sagen kann, sie

33 Georges-Louis Leclerc de Buffon: Histoire naturelle, générale et particulière, hg. v. Stéphane Schmitt, Paris 2007ff., Bd. V, S. 165 (eigene Übersetzung). 34 Vgl. dazu Philip R. Sloan: „The Buffon–Linnaeus Controversy“, in: Isis 67/3 (1976), S. 356–375. 35 Vgl. Buffon: Histoire naturelle (wie Anm. 33), Bd. I, S. 149. 36 Vgl. Buffon: Histoire naturelle (wie Anm. 33), Bd. IV, S. 416.

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habe ein konkretes Dasein; weswegen Buffon hinzusetzen muss, die Spezies der Haus- und Wildschweine existiere nicht einfach nur, sondern tue es plus solitairement. Andererseits müsste etwas für den Fall, Einzigartigkeit markiere nichts weiter als konkrete Existenz von Individuen, weder an anderen Arten teilhaben, noch müsste es sich, wie Buffon betont, zuallererst von allen anderen unterscheiden. Zweitens und entscheidender: Was Buffon mit Einzigkeit der Art nach meint, das verweist nicht zurück auf die Einheit einer Aristotelischen Substanz. Wäre dem so, dann müsste etwas, um einzig in seiner Art zu sein, sich nämlich nicht, wie Buffon sagt, ‚essenzieller Weise‘ von allen anderen Arten unterscheiden. Für einen nach dem Aristotelischen Modell definierten Gegenstand ist es in gewisser Weise basal, besser gesagt aber sogar essentialiter unerheblich, dass er seiner Art nach von allen anderen Arten von Gegenständen unterschieden sein soll. Denn nichts anderes sagt und fordert Aristoteles’ strenger Sinn von Universalität, der immer das meint, was von einem Gegenstand in Gänze – gleichsam in seinem Namen und nur in seinem Namen – gesagt werden kann. Man ginge also aus vom Gegenstand als einem Grund von Zuschreibbarkeiten und fragte nach einer Eigenschaft, die gänzlich auf ihn selbst zurückzuführen wäre. Und wenn ein Attribut kath’ hólou ausgesagt werden kann, wird es laut Aristoteles umkehrbar mit dem das Zugrundeliegende bezeichnenden Term sein.37 Der Mensch ist das zôon logikon und Das zôon logikon ist der Mensch: Wie für den Fall, hier ein zweiseitiges Verhältnis des Identischseins von etwas mit sich selbst herauslesen zu wollen, so wäre die zusätzliche Feststellung, diese Zuordnung von Termen sei ‚einmalig‘, für Aristoteles trivial, genau genommen aber ein Kategorienfehler (metábasis eis állo génos) zweiter Stufe. Denn die ‚Einmaligkeit‘ und damit die Unterschiedenheit von allem anderen ergibt sich hier im wahrsten Sinne des Wortes wie von selbst; sie ist nur logisch abkünftig von der primitiven Einheit ein und derselben Substanz. Was also, wenn nicht das, meint Buffon mit der Einzigartigkeit der Haus- und Wildschweine? In einem scharfsinnigen Kommentar zur vorliegenden Textstelle, dem ich hier im Groben folgen will, hat Georges Canguilhem die logischen Kernmomente der Konstruktion benannt. Das Singuläre oder Einzigartige [Le singulier] ist das Konzept von einem Wesen ohne Begriff [le concept d’un être sans concept], welches sich selbst jede andere Zuordnung versagt, außer die zu ihm selbst [...]. Das setzt voraus, den Term implizit auf alle möglichen Attribute

37 Vgl. Top. I.8, 103b7–9. ‚Umkehrbar‘ übersetzt das von Aristoteles verwendete Verb antikatēgoréō.

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zu beziehen, da es ansonsten unmöglich wäre, das Scheitern jeder Bezugnahme [référence] auf etwas anderes als auf sich selbst festzustellen.38

Buffons Vorstellung von Einzigartigkeit setzt laut Canguilhem eine ‚implizite‘ Bezugnahme auf alle möglichen Attribute auf einmal voraus. Es kann etwas nur dann einzig in seiner Art sein und somit als solches begriffen werden, wenn sich auf sein Bestehen schließen lässt im Vorgriff auf alle nur denkbaren Bestimmungen auf einmal, die das plenum von Möglichkeiten, das die scala naturae ist, bereithält. Was einzig in seiner Art ist, hat an anderen Arten Teil, nicht weil es ein bestimmtes Merkmal mit dieser Art, ein anderes Merkmal aber mit jener Art gemein haben würde. Einzigartigkeit besagt vielmehr, ein diskretes Element in einer Gemeinschaft von Dingen zu sein, deren spezifische Eigenschaften, aristotelisch gesprochen, insgesamt zueinander extrinsisch akzidenzielle Eigenschaften wären – kurz: eine Gemeinschaft von Partikularitäten. Nur in diesem besonderen Sinne wäre dann das, was einzig in seiner Art ist, verschieden von allen Arten: Was es ist und was es in seiner Art einzig macht, bezieht es allererst aus einem ihn übersteigenden Zusammenhang, von dem aus sich erst seine partikulare Stelle in einem nicht mehr in erster Linie generisch geordneten, sondern vielmehr in sich stimmigen Ganzen ergibt. Einzigartig zu sein heißt demnach nicht, sich zu unterscheiden von jeder möglichen Art im Einzelnen. Denn nicht um besondere Merkmale geht es, die etwas als Einziges verglichen mit allem anderen aufwiese, oder aber die zusammen nichts anderes aufwiese. Andernfalls würde nämlich, so deutet Canguilhem weiter an, das Einzigartige sich in nichts von dem unterscheiden, was man das ‚Außergewöhnliche‘ (l’extraordinaire) nennen könnte.39 Außergewöhnlich oder außerordentlich zu sein bedeutet nur die sich negativ oder privativ manifestierende Unmöglichkeit, etwas X unter allen Umständen und in allen Hinsichten (kata pantos) irgendetwas anderem Y zuzuordnen. Das ‚Außerordentliche‘ ist das, was zu allem, was sonst generell der Fall ist oder sein kann, nicht oder nicht ganz gehört. Einzigartigkeit aber meint nicht so viel wie das Fehlen jeder Zugehörigkeit zu Arten als Generalitäten. Gerade umgekehrt gibt es Begreifen von Einzigartigkeit nur da, wo sich etwas im Vorausgriff auf das Ganze aller möglichen generischen Bestimmungen positiv setzen lässt. Einzigartig zu sein heißt also strenggenommen, etwas Genuines im wörtlichen Sinne zu sein: seine eigene Art ausmachen.

38 Georges Canguilhem: „Du singulier et de la singularité en epistémologie biologique“, in: Ders.: Études d’histoire et de philosophie des sciences, Paris 1968, S. 211–225, hier S. 214 (eigene Übersetzung). 39 Vgl. ebd.

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Das Einzigartige oder Genuine soll also eine ‚Art‘ von Gegenstand sein, der mehr ist als nur Gegenstand einer bestimmten Art im sonstigen Sinn. Das heißt aber genauso gut, dass es die Konstruktion eines Gegenstands abgeben soll zu einer Art von Begriff, der mehr und vor allem etwas anderes wäre und leistete als ein Begreifen durch Generalität. Noch bevor das Genuine als eine ‚Art‘ von Gegenstand auftreten kann, der nicht mehr einfach nur Gegenstand einer bestimmten, und sei es auch einer ‚außerordentlichen‘ Art wäre, muss es also eine Logik des Genuinen, verstanden als Konzeption einer bestimmten Art von Begreifen, geben. Man könnte auch sagen, das Genuine ist die paradigmatische Art von Gegenständlichkeit zu einem Begriff von Begreifen, das sich durch eine operative Divergenz von der Logik der Generalität definiert. Und genau so müssen wir Canguilhems Wendung le concept d’un être sans concept lesen: Was sich hinter dem Ausdruck le singulier bei Buffon ankündigt, das ist das ‚Konzept von einem Wesen ohne Begriff‘, also das Konzept von etwas zu Begreifendem und einem ihm zugehörigen Begreifen, das dem neuzeitlichen, auf den Elementarsinn von Allgemeinheit als Generalität gebrachten Begreifensmodell spottet und zur Revision dieses Modells zwingen soll. Und derartig zu begreifen – hier liegt die Parallele zu Baumgartens Begriffspaar von essentia und natura – wäre wohl nur unter einem nomologisch gewandelten Verständnis von Begrifflichkeit möglich. Nun scheint es aber schon bei Buffon so zu sein, dass diese modernistische Rechnung von einem Wechsel von Zuständigkeiten von einem ‚alten‘ hinüber in ein ‚neues‘ Begreifensregister nicht ganz aufgeht. Das liegt nicht nur daran, dass – soll von ‚Singulärem‘ die Rede sein – der althergebrachte Ausdruck espèce sich nicht so ohne Weiteres ersetzen oder streichen lässt. Mehr noch zeigt es sich an einer anderen Vokabel, über die auch moderne Leser wie Canguilhem vielleicht zu selbstverständlich hinweglesen, zumal der Wortstamm – wohl kein stilistischer Zufall – hier in die grammatisch umständliche Form eines Adverbs gekippt ist: Die Rede ist von Buffons Formulierung, das Einzigartige sei von allen Arten essentiellement unterschieden. Was damit gemeint ist, aber in den Konsequenzen von Buffon selber wohl nicht ganz durchschaut wird, sollte jetzt erahnbar sein: Soll eine Logik des Genuinen eine Logik im Unterschied zur Logik der Arten als Generalitäten sein, dann scheint sie das nur sein zu können, wenn sie sich von vornherein ein internes formales Kriterium der Relevanz für die Sache zugesteht. Das zugehörige Maß alles Sagbaren ist hier aber dann nicht mehr die Einheit einer bestimmten Substanz, sondern die unbestimmte Einheit eines möglichen Ganzen generischer Bestimmungen überhaupt – jene ‚Natur‘, von der Buffon erklärtermaßen mit dem Beispiel der Haus- und Wildschweine zeigen will, dass sie den formalen Koordinaten der linnéschen Systematik entgeht. Dass das Einzigartige essentiellement von allen Arten unterschieden ist, besagte nichts anderes als: von

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Arten als Arten unterschieden nach dem Modell jenes alten minimalen logischen Verständnisses von Essenz, wie es oben bei Aristoteles ausgemacht wurde. Dem ‚anti-essenzialistischen‘ Anspruch der Moderne auf die Wegerklärbarkeit der Logik der Gattungen zugunsten einer Logik von Gesetzlichkeiten hat das keinen Abbruch getan. Im Lichte solcher Gesetzlichkeiten werden dann generische Einheiten rückwirkend objektiviert in dem Maße, wie ihre – sei es essenzialistisch, sei es regelpoetisch aufgefasste – ‚Gegebenheit‘ zugleich reduzierbar werden soll. Gattung zu sein, das wäre, von einer Logik der Einzigartigkeit aus betrachtet, immer nur indirekter Ausdruck der Wirksamkeit eines Gattungen als solchen ‚logisch‘ übergeordneten Gesetzes. Eine Logik der Einzigartigkeit entwirft im logikgeschichtlichen Horizont der naturgeschichtlichen und poetologischen Epistemen um 1800 also nicht nur eine privilegierte Art von Gegenständlichkeit; ihr kommt auch die Rolle zu, auf die Frage von genreness überhaupt hinzuführen und diese dringlich zu machen.

L AWNESS (‚F ORM ‘) Das ‚Einzigartige‘ oder ‚Genuine‘ hat sich damit als Paradigma im vollen Sinn – als Präfiguration von Methode wie als prädestinierter Gegenstand – für den mit dem Ausdruck genreness bezeichneten Fragenhorizont um 1800 empfohlen. Beide, die Rede vom Genuinen und die Frage nach genreness, stehen dabei im Zwielicht von generischem und nomologischem Begriffsmodell und gewinnen von dort aus ihre Anziehungskraft. Was nämlich bei der Frage nach genreness gefragt ist, das ist das Modell eines Begreifens, in dem das Fraglich- und Hinfälligwerden von Gattungsgrenzen zum Ausdruck einer Gesetzlichkeit kippen kann, die, ohne auf das alte generische Begreifensmodell vollends abbildbar zu sein, dennoch den Widerschein einer Konsistenz hat, die vormals der Aristotelischen Idee substanzialer Einheit vorbehalten war. Nur dass es sich nun im Unterschied zum Aristotelischen Definiens (horismós) um eine Art von Begriff handeln soll, der umso besser das begriffe, dessen Begriff er ist, als er dieses nicht aufgrund seiner selbst in Gänze, sondern vielmehr nur von einem Ganzen der Möglichkeit aller Begriffe als Gattungsbegriffen her begreifen würde. Werner Michler hat kürzlich die hierin beschlossene, großangelegte Umstellung im ‚genologischen‘ Dispositiv der sogenannten Goethezeit als eine „Substanzialisierung“ oder „Essentialisierung“ der literarischen Gattungen beschrieben.40

40 Vgl. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, S. 84ff., 416f.

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Mit Blick auf die hier skizzierten begrifflichen Unterscheidungen erscheint es vielleicht treffender, von der Verabsolutierung der literarischen Gattungen zu sprechen, wenn wir die Absolutsetzung von etwas als Effekt seiner Rückführung auf ein in seiner Einzigkeit sich bewährendes Ganzes, also auf Totalität, verstehen wollen. Zwei Züge kommen hier zum Vorschein. Den einen Zug könnte man einen logisch-formalen nennen. Verabsolutierung der Gattungen heißt hier: Die logische Figur des Genuinen hat als formale Kehrseite die strukturelle Idee von der möglichen Einzigkeit irgendeiner generischen Ordnung, im Unterschied zu der sowohl Linné als auch Gottsched noch umtreibenden Idee von der einen, bestimmten Klassifikation, welche, wenn aufgestellt, die einzig richtige wäre. Mit einer solchen Nuance hat sich dann allerdings nichts anderes als eine funktionale Umbesetzung des minimalen logischen Kerns von Aristoteles’ Essenzkonzept in den Kompetenzbereich eines nomologisch formatierten Begreifens vollzogen. Universalität – bei Aristoteles metaphysisch das Gegenstück zur primitiven Einheit von Substanzen und logisch das Gegenstück zu begrifflicher Einheit – wird zum Vorteil des in das nomologische Modell eingebauten Holismus umgedeutet. Was sich auf einzigartige Weise, vom Ganzen einer Gemeinschaft des Partikularen her, und nicht mehr, wie bei Aristoteles, einzig von einer jeweiligen Art in Gänze, sagen lässt, das bezeugte die Integrität einer Welt, einer Natur oder eines Lebens. Und nur eine solche bzw. ein solches wäre fähig, die Möglichkeit einer überbordenden Vielheit und Instabilität konkreter Klassifikationen tolerierbar, theoretisch und praktisch handhabbar zu machen. Batteux konnte es noch als Provokation gegen den Anspruch einer jeden Poetik als scientia artium sehen, dass „die Epopöen, die Tragödien, die Komödien eine von der andern so sehr unterschieden“ scheinen, „daß einerley Gattung bisweilen nichts mehr, als den bloßen Namen, mit einander gemein hat“41. Im Modus eines Begreifens von Einzigartigkeit aber scheint die eigentümliche Integrität des Ganzen einer Welt wider, gegenüber der das nicht mehr ein Skandalon darstellt, sondern vielmehr ein formales Korrelat geworden ist. In diesem Sinn schreibt beispielsweise Adorno in einem kleinen Prosastück mit dem Titel Klassifikation: Was vielen Einzelnen gemeinsam ist, [...] braucht noch lange nicht stabiler, ewiger, tiefer zu sein als das Besondere. Die Skala der Gattungen ist nicht zugleich die der Bedeutsamkeit. Das war gerade der Irrtum der Eleaten und aller, die ihnen folgten, Platon und Aristoteles voran. – Die Welt ist einmalig. [...] Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.42 41 Charles Batteux: Einleitung in die Schönen Wissenschaften, Bd. II, Leipzig 1769, S. 5f. 42 Theodor W. Adorno: „Klassifikation“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 249.

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Prägnanter kann man die moderne Idee der Einzigkeit irgendeiner generischen Ordnung (‚die Welt‘), die sich gerade im Modus einer Resistenz gegenüber jeweils bestimmten Klassifikationsansprüchen (‚Skala der Gattungen‘), dann in Gestalt eines Gesetzes, zu erkennen geben soll (hier: das der ‚Auflösung‘ klassifikatorisch-begrifflicher Identifikation in jeder echten ‚Erkenntnis‘ des ‚Besonderen‘), wohl nicht fassen. Das Zweite ist eine gleichsam logisch-semantische Volte und setzt an bei Batteux’ Sorge, an der Rede von literarischen Gattungen könnte vielleicht nicht mehr dran sein als bloße Namenhaftigkeit. Sicherlich macht es einen spezifisch modernen Umgang mit den Gattungen aus, auch aus dieser Not eine Tugend zu machen. Und doch ist ein solcher Umgang weit entfernt von einem glatten wie kurzsichtigen Nominalismus. Die komplexere Situation besteht hier darin, dass das Postulat der Reduzierbarkeit von Gattungen (in ihrem normativen, regelpoetischen Verstande) auf eine Logik von Gesetzen die Rede von Gattungen und Arten nicht einfach erledigt. Diese Reduktion konnte nämlich, wenn ich bei Buffon richtig liege, nicht zustande kommen ohne das implizite Zugeständnis an ein Modell von Begreifen als Begreifen kath’ hólou. Und darin liegt dann auch eine zweite Umbesetzung: die des Aristotelischen Verständnisses vom definitorischen Begriff oder Term (horismós logós) als sachlich ‚primärer‘, gänzlicher Ansprache des Gegenstandes. Das heißt nicht, wie Michler meint, dass Gattungsnamen und ihre berühmten Adjektivierungen bei Friedrich Schlegel und Goethe nun für die Idee eines substanziellen Seins literarischer Gattungen stehen würden. Eher müsste man sagen, dass sie als Namen eine gewisse Eigenständigkeit gewinnen, und zwar einerseits gegenüber der normativen Logik der Arten als Generalitäten, der sie von Haus aus neuzeitlich korrespondieren, andererseits aber auch gegenüber deren moderner ‚Aufhebung‘ in einer Logik der Gesetze. Basal betrachtet hieße das wohl nur, dass man auch weiterhin – unter den gewandelten Sagbarkeitsbedingungen moderner Literaturtheorie – nicht ohne Gattungsnamen auskommt. Dass die Rede von Gattungen sich nicht tilgen lässt und immer wieder aufs Neue relevant werden kann, so als gäbe es eine überhistorische Relevanz oder zumindest eine anhaltende praktikable Wirksamkeit generischen Unterscheidens, wird dadurch aber nicht bewiesen. Genauso gut könnte es sich nämlich, zugespitzt betrachtet, auch um eine um 1800 einsetzende und bis heute anhaltende Umbesetzung eines Aristotelischen Modells terminologisch-sprachlicher Einheit in eine prekäre Sprachsituation43 handeln, für die, zumindest im deutschen Sprachraum, das Wort ‚Moderne‘ reserviert worden ist: Gattungsnamen sind dann in dem spezifisch modernen 43 Vgl. zu diesem Ausdruck Hans Blumenberg: „Sprachsituation und immanente Poetik“, in: Schriften (wie Anm. 11), S. 120–135, hier S. 131.

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Grundsinn weder bloße Namen noch sprachliche Embleme eines substanziellen Seins von Literatur. Sind beide Umbesetzungen etabliert, dann ist es vielmehr möglich, mit ‚Roman‘ oder ‚Novelle‘ weniger Gattungen im regelpoetischen Verstande anzusprechen und mehr – wie es jetzt bevorzugt heißt – ‚Formen‘, die dann funktional stehen können für einen Horizont von Befragbarkeiten in Hinblick auf Gattungsein überhaupt. Nur unter diesen Voraussetzungen, könnte man versucht sein zu sagen, konnte der Roman bei Schlegel in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne zu einem „Gegenwort zu Poetik [und] Gattungen“44 werden. Bezieht man dies zurück auf Aristoteles’ Gründungsschrift, so ergibt sich schließlich ein überraschender Chiasmus: Hatte sich die Poetik von Anfang an durch die eíde poiētikēs als paradigmatischen Gegenstand definiert45, so treten diese Programme jetzt mit dem Anspruch und Selbstverständnis auf, ‚Metapoetik‘46 zu betreiben. In dieser Paradigmenüberformung scheint die eine mögliche Übersetzung von Aristoteles’ Wendung – ‚Arten der Dichtung‘ – gegen die andere – ‚Formen der Dichtung‘ – analog zum Registerwechsel der Begreifensmodelle ausgespielt. Metapoetik machen diese Programme dann in einem doppelten Wortsinn: Zum einen schießen sie über die bisherige Poetik hinaus und kommen ihr zuvor in der Konstruktion ihres Gegenstands; schließlich geht es erstmals nicht um Dichtarten oder ein Grundprinzip zu deren Einteilung, sondern überhaupt erst um einen „Begriff von Dichtart“, zu dem es dann im Prinzip auch nur eine „einzige[] Theorie“ geben sollte.47 Zum anderen wird damit die Poetik selber in ihrer überkommenen Gestalt einer Untersuchung (méthodos48) von mehr oder weniger in einer historia schon disponierten Gattungen tiefergelegt. Diese Programme – als Theorien der Formen von Literatur überhaupt – wären dann das, was Poetik

44 Rüdiger Campe: „Das Argument der Form in Schlegels ‚Gespräch über die Poesie‘“, in: Merkur 68 (2014), S. 110–121, hier S. 118 (eigene Hervorhebung und Ergänzung, SF). 45 Vgl. den ersten Satz der Poetik. Poet. 1, 1447a8. 46 ‚Metapoetik‘ – das macht den Ausdruck hier anachronistisch – ist ein 1763 von Thomas Abbt geprägtes Modewort, das sich während der ersten Jahrzehnte der Rezeption als Nenner für das in den Meditationes in Aussicht gestellte Programm von Baumgartens Aesthetica etabliert, dann aber, so schnell wie das Programm selber, unter dem Eindruck von Kants Anverwandlung ‚ästhetischer‘ Fragestellungen im Register der Transzendentalphilosophie im Vergleich zum Neologismus ‚Ästhetik‘ terminologisch überholt erscheinen wird. 47 Friedrich Schlegel: [62. Lyceums-Fragment], in: Ders.: Kritische Ausgabe seiner Werke, hg. v. Ernst Behler, München 1958ff., Bd. 2, S. 154 (eigene Hervorhebung, SF). 48 Poet. 1, 1447a12.

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immer schon sein wollte, aber – als Untersuchung von Dichtarten – bisher nicht gewesen sein konnte. Ob dieser Anspruch so einzulösen gewesen ist oder nicht, spielt hier eine untergeordnete Rolle. Gezeigt werden sollte nur, dass eine begriffliche Nuance, wie sie in Goethes Unterscheidung von „Dichtarten“ gegenüber „Naturformen der Dichtung“ als „Dichtweisen“ zum Vorschein kommt, offen für eine bestimmte Historisierung ist.49 Es ist der zwischen einem generischen und einem nomologischen Modell von Begreifen sich abspielende Aushandlungsprozess, der wenigstens eine der historischen Bedingungen dafür darstellt, eine von nun an bestimmende Unterscheidung treffen zu können: die zwischen einer von nun an tendenziell überkommenen Art des Unterscheidens, das bloß generische Einheiten ordnen, das heißt ‚klassifizieren‘ wollte, und einer anderen Art des Unterscheidens, welches auf dem Niveau einer über die Poetik hinausgehenden und ihr zuvorkommenden Theorie spielt – einer Theorie, welche darauf aus ist zu verstehen, was das Gattungsein von etwas allererst ausmacht, damit aber dieses im selben Zug auch auf das Gattungsein alles anderen reduzierbar macht. Die sowohl bei Goethe als auch bei Schlegel zentrale Vokabel der ‚Form‘ steht hier weniger für ein entscheidend neues Schlüsselkonzept, das einen ‚regelpoetischen‘ oder ‚essenzialistischen‘, in jedem Fall aber einen starren Vorbegriff von Dichtarten ablösen würde. Man muss ‚Form‘ hier eher wie ein Wort lesen, das – wie ein PlatonischAristotelisches Paläonym – dort wieder auf der Hand liegen kann, wo zwei neuzeitliche Modelle von Begrifflichkeit – Begriff als Gattung im neuzeitlichen Sinn einer Generalität und Begriff als Gesetz – aufeinandertreffen und darin die praktischen Grenzen ihrer formalen Befragbarkeit offenlegen. Der von diesem historischen Grundbestand ausgehende, bis heute hoch im Kurs stehende Begriff der Form überdeckt diesen Sachverhalt vielleicht mehr, als dass er ihn kompensatorisch aufgefangen oder geschichtlich erledigt hätte.

49 Johann Wolfgang von Goethe: „Naturformen der Dichtung“, in: Ders.: Poetische Werke (wie Anm. 1), Bd. III, S. 232–234, hier S. 232f.

Psychosomatik und Theater Das prekäre Gesetz der Gattung bei Schiller und Kleist S OPHIE W ITT

P SYCHOSOMATIK , T HEATER , G ATTUNG : P ENTHESILEAS „G LUT “ In Heinrich von Kleists Todesjahr 1811 bekommt der Mediziner Johann Christian August Heinroth den weltweit ersten Lehrstuhl für ‚Psychische Therapie‘ in Leipzig. Wenig später benutzt er in seinem Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung (1818) erstmals die Begrifflichkeit ,psychisch-somatisch‘ und partizipiert damit an dem Unternehmen der Anthropologie um 1800, die Gattung des Menschen als zugleich physisches und geistiges Wesen zu studieren und zu konzeptualisieren.1 Lange also bevor sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Psychosomatik als medizinische Fachdisziplin etabliert, entsteht der Diskurs des Psychosomatischen im ausgehenden 18. Jahrhundert.2

1

Vgl. Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Zwey Theile, Leipzig 1818. Vgl. grundlegend zur Thematik dieses Beitrags: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994; Stefan Borchers: Die Erzeugung des „ganzen Menschen“. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Berlin 2011; „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hg. v. Carsten Zelle, Tübingen 2001.

2

Vgl. Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936), Tübingen 2009.

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Psychosomatik bezeichnet die Lehre von der Wechselwirkung zwischen somatischen, psychischen und sozialen Prozessen, und damit einen ‚ganzheitlichen‘ Zugang zum Menschen bzw. ein insgesamt holistisches Menschen- und Weltbild. Sie richtet sich damit dezidiert gegen jene auf Descartes zurückgehende Trennung in Seelisch-Geistiges (res cogitans) und Körperliches (res extensa), die noch das implizite Selbstverständnis nicht nur der modernen Naturwissenschaften, sondern auch der sich herausbildenden Geisteswissenschaften prägen wird. Der Diskurs der Psychosomatik ist also Arbeit an der Gattung im doppelten Sinne: als Frage nach dem ‚neuen ganzen Menschen‘ und als Frage nach den respektiven Zuständigkeitsbereichen, d.h. nicht zuletzt nach Kunst- und Textgattungen, die dieses Wissen vom Menschen produzieren und sedimentieren. Rund 80 Jahre nach Heinroth werden Sigmund Freud und Josef Breuer in ihren Studien über Hysterie (1895) auf das Phänomen der Konversion stoßen und damit zu wichtigen ‚Vätern‘ der Psychosomatik. „Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome“, lautet die Grundformel bei Freud und Breuer;3 „Verwandlung seelischer Inhalte in körperliche Symptome“, heißt es später bei einem der bis heute prominentesten Psychosomatiker nach 1945, Thure v. Uexküll.4 Freud und Breuer formulieren aber nicht nur, dass im körperlichen Symptom die Psyche zum Ausdruck komme, sondern legen dabei den engen Zusammenhang von Psychosomatik und Theatralität frei.5 Die Hysterie-Studien verhandeln bereits mit, dass ,Hysterie‘ mit ihrer wilden Symptombildung nicht als nosologische Einheit taugt, dass sich die Körperzeichen der eindeutigen Zuordnung entziehen. In den Vordergrund treten so die wechselseitige Inszenierung von Soma und Psyche, die performative Hervorbringung, die immer problematische Lektüre der Körperzeichen und nicht zuletzt das ‚Verwirrspiel‘ zwischen Hysterika und Arzt.6 Der Zusammenhang von Psychosomatik und Theater aber, so meine Hypothese, lässt sich bereits um 1800 ausmachen – im Kontext der Erfindung der Psychosomatik

3

Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, Frankfurt a. M. 1991, S. 105.

4

Thure v. Uexküll: Grundfragen der psychosomatischen Medizin, Reinbek 1963, S. 82.

5

Vgl. zum Stellenwert von Theatralität für die freudsche Psychoanalyse Patrick Primavesi: „Theater, Szene und Spiel“, in: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer, Stuttgart 2006, S. 271–276, hier S. 271.

6

Vgl. zur Theatralität der Hysterie einschlägig Georges Didi-Huberman: Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, übers. v. Silvia Henke, München 1997. Die Termini des Theaters finden sich bis heute in den medizinischen Lehrbüchern der Psychosomatik, vgl. exempl. Michael Ermann et al.: Einführung in die Psychosomatik und Psychotherapie. Ein Arbeitsbuch für Unterricht und Eigenstudium, Stuttgart 2006.

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einerseits sowie, besonders bei Schiller und Kleist, im Kontext der intensiven und extensiven Reflexion darüber, was Theater sein kann und soll. Einen guten Einstieg bietet der Erste Auftritt aus Penthesilea (1808): Soeben hat sich die Amazonenkönigin mit ihrem Heer – „heißer Kampflust voll“7 – in das Kriegsgetümmel von Griechen und Trojanern gemischt. Davon berichtet Odysseus seinem Vertrauten Antilochus: „Du siehst auf diesen Feldern, / Der Griechen und der Amazonen Heer, / Wie zwei erboste Wölfe sich umkämpfen [...].“8 Dann kommt es plötzlich zu einer Stillstellung des unübersichtlich gewordenen Kampfgeschehens: Gedankenvoll, auf einen Augenblick, Sieht sie [Penthesilea] in unsre Schaar, von Ausdruck leer, Als ob in Stein gehaun wir vor ihr stünden; Hier diese flache Hand, versichr’ ich dich, Ist ausdrucksvoller als ihr Angesicht: Bis jetzt ihr Aug auf den Peliden trifft: Und Glut ihr plötzlich, bis zum Hals hinab, Das Antlitz färbt, als schlüge rings um ihr Die Welt in helle Flammenlohe auf.9

Penthesilea verhandelt hier den „Zustand des Affekts“10, den Schiller in Über die tragische Kunst (1791) dem Theater zugrunde legt. „Taub für die Stimme der Vernunft, vom giftigsten der Pfeile Amors‘ getroffen“, so heißt es in Reclams Schauspielführer, „überschreitet die Königin das Gebot ihres Landes, das einer Amazone verbietet, im Kampf sich auf einen Mann einzustellen. Ihr geht es nicht mehr um das Wohl des Amazonenstaates und um dessen Gesetze. Ihr geht es nur noch um Achilles.“11 Penthesilea wird hier zum Musterbeispiel jenes Kleist gemacht, der Gefühl über Verstand setzt und gegenüber dem Idealismus Schillers (und Goethes) das Individuell-Charakteristische, gar Existentielle hervorhebt12 und dabei 7

Heinrich von Kleist: „Penthesilea. Ein Trauerspiel“, in: SW9 I, S. 321–428, hier S. 323.

8

Ebd.

9

Ebd., S. 324f.

10 Friedrich Schiller: „Über die tragische Kunst“, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Herbert Göpfert u. a., München 2004, Bd. V, S. 372–393, hier S. 372. 11 Reclams Schauspielführer, hg. v. Siegfried Kienzle und Otta C.A. zur Nedden, Stuttgart 20

1996, S. 263266, hier S. 264.

12 Vgl. ebd., S. 264f. Vgl. zur gängigen Gegenüberstellung des ‚Klassikers‘ Schiller und des ‚Antiklassikers‘ Kleist: Claudia Benthien: Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800, Köln, Weimar, Wien 2011, S. 18ff. Vgl.

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mit dem Theater den Exzess feiert.13 Aber ist der Gegensatz Kleist vs. Schiller wirklich so leicht zu haben? Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht zuletzt von der Lesart der schillerschen Anthropologie ab. Eine Verbindung von anthropologischen mit ästhetischen bzw. gattungspoetischen Anliegen findet sich vor allem beim ‚frühen‘ Schiller. Es ist die „Bühne“, so schreibt er in Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), die sich am vortrefflichsten dem „Bedürfnis des Tiermenschen“ und dem „Bedürfnis des Geistes“ widme, oder genauer: deren Verhältnis. Denn mit dem Theater gehe es um die Frage der Anthropologie, nämlich, was es heißt, „ein Mensch zu sein“.14 Schiller nimmt damit das anthropologische Diktum auf, „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen zu betrachten.“15 Dieses Programm korreliert mit Schillers dritter und schließlich angenommener Dissertation, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen (1780). Anders als in Schillers ästhetischen Auseinandersetzungen ab den 1790er Jahren, die darauf abzielen, den am Theater entauch den Forschungsüberblick in Claudia Benthien: „Friedrich Schiller“, in: KHb, S. 219–227. 13 ‚Theater des/im Exzess‘ ist ein gängiger Topos der Kleistforschung, vgl. exemplarisch Werner Frick: „Tragödienexperimente in der Ära der Weimarer Klassik“, in: Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, hg. v. dems., Göttingen 2003, S. 218251, hier S. 240f. 14 Friedrich Schiller: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 818–831, hier S. 819 bzw. 831. Es stimmt daher nur teilweise, dass Peter Szondi Schiller zuschreibt, für den Idealbegriff des ‚reinen‘ totalen Dramas zu stehen, vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 445. 15 Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise, Leipzig 1772, S. XVII. In der Folge wird diese Definition in den einschl. Lexika übernommen; vgl. exemplarisch den Eintrag „Anthropologie“ im Brockhaus von 1819: „Anthropologie […] bezeichnet die Naturgeschichte des Menschen, und zwar in dem Verstande, als man das Wort gewöhnlich bei uns gebraucht, aus der ganzen Summe von Kenntnissen des Physischen und Geistigen im Menschen […]“; zitiert nach Michael Titzmann: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte, Berlin 2012, S. 9. Einen Überblick über die umfangreiche Forschung zur Anthropologie geben: Wolfgang Riedel: „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 6/3 (1994), S. 93– 157; Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin, New York 2008.

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deckten leib-seelischen „Zustand des Affekts“ im Konzept des Erhabenen bzw. Pathetisch-Erhabenen zu idealisieren, überschneiden sich in Schillers frühen Texten Theaterdiskurs und Fragen der modernen Medizin: Wenn der Arzt Schiller den ,ganzen Menschen‘ als ein tierisch-geistiges Doppelwesen untersucht und parallel zu seiner Arbeit an seiner Dissertation in den Räubern (1781) das Verhältnis von Soma und Psyche im Blick hat, dann geht es im Überschneidungsbereich von Medizin und Theater um die Definitionen der Begriffe von ,Natur‘ und ,Kultur‘. Mit der „Bühne“ und deren „Zustand des Affekts“ steht der Gattungsbegriff in seinen zugleich biologisch-physiologischen und kulturell-symbolischen Facetten zur Verhandlung.16 Auch Kleists Theatertexte zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit Fragen der poetischen Gattung – gerade weil es weder eine ausgearbeitete Tragödientheorie noch einheitliche Gattungsbezeichnungen gibt, die beiden vollendeten ‚Tragödien‘ etwa, Die Familie Schroffenstein und Penthesilea, heißen ‚Trauerspiel‘.17 Zuzustimmen ist Hans-Thies Lehmanns Diagnose, dass sowohl Schiller als auch Kleist für ein (produktives) Krisenphänomen um 1800 stehen: Krise der dramatischen Form und ihres Imperativs einer logisch fortschreitenden Handlung.18 Diese Krise provoziert eine intensive Reflexion der ästhetischen und poetischen Gattungen,19 vor allem aber eine – neuerliche – Hinwendung zu den genuinen Elementen des Theaters, der Bühne.20 Entsprechend artikuliert Penthesilea die Behauptung der psycho-physischen Doppelnatur als eine zweifache Frage der Gattung: Gefragt wird anthropologisch nach der internen Differenzialität des Menschen und nach der Komplizenschaft mit dem Körperlich-,Tierischen‘. Diese Frage wird mit der Affektlage und der Bühnenanordnung der Theaterszene kurzgeschlossen: etwa wenn im Dritten Auftritt die Griechenschar um die Wette japst, „Oh sieh! – Was gibts? – Oh mir vergeht der Atem, Hauptmann! – […] – Seht! Wie sie [Penthesilea] mit den Schenkeln / Des Tigers Leib inbrünstiglich umarmt!“21

16 Vgl. zu dieser doppelten Dimension der Gattung: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, hg. v. Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg, Göttingen 2013. 17 Vgl. Anthony Stephens: „Tragödie, Trauerspiel, Schauspiel“, in: KHb, S. 15–21. 18 Vgl. Lehmann: Tragödie (wie Anm. 14), S. 236ff. und S. 414–500. 19 Für beide Autoren gilt mithin, dass Phänomene des Tragischen auch in nicht-dramatischen Werken behandelt werden. 20 Vgl. Lehmann: Tragödie (wie Anm. 14), S. 414–500. 21 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 334f. Lehmann spricht von einer Öffnung der vierten Wand auf den Theaterraum hin. Lehmann: Tragödie (wie Anm. 14), S. 489.

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Schiller und Kleist erscheinen so nicht als Antipoden, sondern figurieren vielmehr innerhalb einer gemeinsamen Problem- und Faszinationsgeschichte22, die sich um die ‚Arbeit an der Gattung‘ dreht. Beide partizipieren an der Untersuchung der anthropologischen Frage, was der Mensch sei; mit Gattung in anthropologischer Hinsicht beschäftigen sie sich zudem in unterschiedlichen (poetischen) Textgattungen; und schließlich sind ihre anthropologischen und ästhetischpoetischen Reflexionen mit den expliziten oder impliziten Überlegungen zur Tragödie verbunden. Schaut man von hier aus wieder auf die oben zitierte Szene aus Penthesilea, fällt auf, dass Odysseus, dem Blick auf die Szene zum Trotz, sehr wenig von Penthesileas Motiven weiß – wer ist Penthesilea und auf wessen Seite kämpft sie eigentlich?23 Auch ist unsicher, was an dem ,entflammten‘ Angesicht abgelesen werden kann – mal scheint es Liebeswahn, mal Machtbegehren und Siegeswillen zu sein. Problematisiert wird hier die Annahme, das Theater sei ein privilegierter Ort der eloquentia corporis, die den ‚neuen ganzen Menschen‘ zur Ansicht brächte.24 Penthesilea durchkreuzt die gängige Erzählung über den Zusammenhang von Anthropologie und Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, die bei dem „aufklärerische[n] Traum von der Authentizität der eloquentia corporis“, von der „zuverlässige[n] Übersetzbarkeit des Inneren ins Äußere“ ansetzt.25 Während dort der Schauspielerkörper mit seinem „veristischen“ Schauspielstil zum „Ausdrucksmedium“ von Gefühlen gemacht wird26, dominieren in Penthesilea die eigen-

22 Vgl. zu diesem Terminus: Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa. Drei Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang, Basel 1995. Faszinationsgeschichte(n) seien nicht nur Residuum für die anhaltenden, vielleicht verdrängten Begehrenslagen innerhalb der „Realgeschichte“, sie kombinieren auch die zwei für diesen Beitrag zentralen Dimensionen der Gattung: In der Faszinationsgeschichte „[hält sich] die Gattung [des Menschen] über ihre eigenen Bedürfnisse auf dem Stockenden“; und es sei spezifisch das Medium der Künste, in dem diese Verunsicherung von Selbstgewissheiten zum Tragen komme (S. 7). 23 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 324–326. Zur Lektüre Penthesileas als Drama des Unterscheidens bzw. des Kollabierens von eindeutigen Unterscheidungen vgl. Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. Rüdiger Campe, Freiburg i. Br. 2008, S. 19–124. 24 Vgl. Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 25 Ebd., S. 289. Vgl. auch Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Leipzig 2012, S. 159. 26 Baumbach: Schauspieler (wie Anm. 25), S. 140.

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logischen Triebökonomien der Körper, die sich nicht zu einem psycho-somatischen Ganzen fügen wollen. Doch diese eigengesetzliche und differenzielle Dimension der Gattungsreflexion findet sich schon bei Schiller. Bei beiden Autoren, so wird der Beitrag zeigen, ist das Gattungswesen Mensch – statt ,ganze Doppelnatur‘ zu sein – in seiner Zerrissenheit thematisiert. Und statt für die Sicht- und Verstehbarkeit der Gefühle einzustehen, sind die Unmöglichkeiten der theatralen Schau, die misslingenden Präsentierungsleistungen der Theaterbühne expliziter Teil der Tragödienreflexion. Das mündet keineswegs in Defätismus, sondern betont – produktiv – das prekäre Gesetz, das den ,neuen ganzen Menschen‘ und ein immer auch unmögliches Theater begründet. Denn, so Derrida in Das Gesetz der Gattung (1980): „Die Frage der literarischen Gattung ist keine formale Frage: sie verschränkt sich mit dem Motiv des Gesetzes überhaupt.“27 Das gesamte Spektrum dieser Gattungsreflexion ist im folgenden Beitrag mitnichten abzudecken. Es werden einige Schlaglichter geworfen: auf Schillers medizinische Dissertation(en) und ästhetische Abhandlungen und auf Kleists Penthesilea und Die Familie Schroffenstein (1803).28

S CHILLERS G ESETZ

DER

G ATTUNG

Fragt man nach dem Gesetz der Gattung des Menschen, kennt Schillers überarbeitete dritte Fassung der Dissertation, Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen, explizit zwei Gesetze: das „Gesetz § 12“ und das

27 Jacques Derrida: „Das Gesetz der Gattung“, in: Ders.: Gestade, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1994, S. 245–283, hier S. 273. 28 Auch wenn sich der Beitrag im Folgenden auf die Theatertexte konzentriert, antworten auch bei Kleist verschiedene Textgattungen auf die anthropologische Frage, z.B. auch der Essay Über das Marionettentheater (1810). Hier hat die Kleistforschung die Auseinandersetzung mit Schiller und der idealistischen Ästhetik schon bearbeitet; zentral für die hiesigen Überlegungen sind vor allem: Ulrich Johannes Beil: „‚Kenosis‘ der idealistischen Ästhetik“, in: KJb 2006, S. 75–99; und Anja Lemke: „‚Gemüts-Bewegungen‘. Affektzeichen in Kleists Aufsatz ‚Über das Marionettentheater‘“, in: KJb 2008/2009, S. 183–201. Beil verweist auf das Forschungsdesiderat hinsichtlich der zentralen Herausforderung, die Schiller für Kleists Theorie der Ästhetik darstellte und gibt einen kurzen Forschungsüberblick (vgl. S. 75–78).

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„Zweite[] Gesetz § 18“.29 Beide kreisen um die Bestimmung des Menschen als psycho-somatisches Doppelwesen. Das erste bespricht den influxus animae, d.h. die Tatsache, dass „[d]ie Tätigkeiten des Körpers […] den Tätigkeiten des Geistes [entsprechen]“.30 Schiller beschreibt das, was heute vegetatives oder autonomes Nervensystem genannt wird, nämlich den engen Zusammenhang von körperlichen und geistigen Empfindungen, ganz gleich ob diese angenehmer oder unangenehmer Natur sind.31 Das zweite Gesetz beschäftigt sich mit dem umgekehrten Einfluss, dem influxus corporis, der besagt, „daß die allgemeine Empfindung thierischer Harmonie die Quelle geistiger Lust und die thierische Unlust die Quelle geistiger Unlust [ist]“32. In grober Vereinfachung der wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Problemstellung33 lässt sich eine doppelte Sehnsucht herausstellen: erstens nach der Lesbarkeit jenes der unmittelbaren Ansicht entzogenen Bereichs des Seelisch-Geistigen am Körper; und zweitens nach der wechselseitigen Kontrolle und Beeinflussbarkeit – d.h. verstehbaren Gesetzmäßigkeit – von körperlichen und geistigen Empfindungen. Es mag an solcher Beschäftigung Schillers mit den „Fundamentalgesetz[en] der gemischten Naturen“34 und deren Parallelismen liegen, dass Schillers Anthropologie als Projekt der Harmonisierung von Leib und Seele, Natur- und Kulturdiskurs gelesen wurde. Tatsächlich war das auch die Stoßrichtung der KarlsschulAnthropologie. Wie Wolfgang Riedel zusammenfasst, ging diese mit Albrecht von Haller davon aus, „daß die Nerven die Organe der psychophysischen Vermittlung darstellen […] und damit die physiologische Instanz, die die menschliche ‚Doppelnatur‘ zur ‚Einheit‘, zum ‚ganzen Menschen‘ zur ‚Harmonie‘ synthetisiert“35. Liest man Schillers Text jedoch kritisch, so entwirft dieser nicht nur 29 Friedrich Schiller: „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 287– 324, hier S. 306 bzw. 312. 30 Ebd., S. 306. 31 Zur medizinischen Kontextualisierung vgl. Bernd Werner: Der Arzt Friedrich Schiller. Oder, wie die Medizin den Dichter formte, Würzburg 2012, bes. S. 147; Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“, Würzburg 1985. 32 Schiller: „Versuch“ (wie Anm. 29), S. 312. 33 Siehe dazu ausführlich: Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 24), S. 85–116. 34 Schiller: „Versuch“ (wie Anm. 29), S. 306. 35 Wolfgang Riedel: „Kommentar“, in: Schiller: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 1169. Riedel bezieht sich auf Albrecht von Haller: Grundriss der Physiologie, Berlin 1781, S. 236ff. bzw. Platner: Anthropologie (wie Anm. 15), S. IV und 39ff.

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Gesetze für eine neue Anthropologie, er macht darüber hinaus den Status dieses Gesetzes zum Gegenstand der Befragung. Es gibt daher noch einen anderen – weitaus ambivalenteren – Schiller in den Karlsschulschriften zu entdecken. Der erste Entwurf der Dissertation, Philosophie der Physiologie (1779), steigt noch mit dem geistigen Leben ein und bestimmt den Menschen aus dem Prinzip eines ,ewigen Gesetzes‘. Die „Bestimmung des Menschen“ wird aus der Gottgleichheit und dem „unendlichen Verstand“ hergeleitet.36 Sowohl der zu reflektierende Mensch als auch Schillers Reflexionsstandort werden so metaphysisch abgesichert. Auch der spätere Versuch über den Zusammenhang eröffnet mit der Schöpfungsfrage, indem Ovids Metamorphosen als Motto fungieren.37 Die von Schiller zitierten Verse steigen in der Mitte der ovidschen Strophe ein und betonen damit auf den ersten Blick abermals das Motiv des geistigen Menschen – „hieß ihn [den Menschen] den Himmel zu schauen“. Auch wenn diese geistige Bestimmung des Menschen in Abgrenzung von den „übrigen Wesen“ gewonnen wird, die „gebeugt zur Erde hin sehen“, scheint sich der schillersche Text der in den nicht zitierten Zeilen der Metamorphosen explizit gemachten Schöpfungshierarchie jedoch nicht mehr besonders sicher; in den unmittelbar vorherigen zwei Zeilen heißt es: „Heiliger aber als sie [das Getier] ein Wesen noch fehlte, das hohen / Sinnes fähiger sei und die übrigen können beherrschen. / Und es wurde der Menschen.“38 Auch im Folgenden des Versuchs ist nichts mehr zu lesen von der theosophischen Ordnung der Schöpfung und der schillerschen Erkenntnis: Denn nun wird als „schöne Verirrung des Verstandes“ qualifiziert, „den einen Theil des Menschen allzu enthusiastisch herab[zuwürdigen]“ und „uns in den Rang idealischer Wesen [zu erheben]“.39 Es würde sich hierbei, wie Schiller gleich in der Einleitung schreibt, um ein „System“ handeln, „das allem, was wir von der Evolution des einzelnen Menschen und des gesamten Geschlechts historisch wissen und philosophisch erklären können, schnurgerade zuwiderläuft und sich durchaus nicht mit der Eingeschränktheit der menschlichen Seele verträgt.“40 Auf dem Spiel steht also eine in Unordnung geratene, aber auch in ihren epistemologischen Grundfesten erschütterte Gattungsordnung, in der dem Menschen nicht mehr jener privilegierte Rang des Geistig-Idealen zukommt, wie Ovids Metamorphosen vorschlagen. Vielmehr leitet sich bei Schiller die ,Menschlichkeit‘ 36 Friedrich Schiller: „Philosophie der Physiologie“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 250–268, hier S. 250. 37 Schiller: „Versuch“ (wie Anm. 29), S. 287. 38 Vgl. Schiller: „Versuch“ (wie Anm. 29), S. 287; Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, Lateinisch-Deutsch, hg. v. Karl Bayer u.a., München, Zürich 1992, S. 10f. 39 Schiller: „Versuch“ (wie Anm. 29), S. 290. 40 Ebd.

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ausgerechnet aus der ,tierischen‘ – d.h. ,eingeschränkten‘, leiblichen, endlichen – Natur her.41 Der entscheidende Punkt dabei ist, dass sich damit die Anthropologie weder auf ein irgend geartetes ,ewiges Gesetz‘ zu berufen noch einen irgend gesicherten Erkenntnisstandort einzunehmen vermag. In den Blickpunkt rücken vielmehr die Motive der genuinen Krise der menschlichen Gattung einerseits und die prekäre Gesetzlichkeit des Gesetzes andererseits. Dem Gesetz der Gattung – sowie der Anthropologie – wird ein „Unmöglichkeitsaxiom“42 eingeschrieben. Anthropologie lässt sich hier tatsächlich als „Grenzarbeit“43 bestimmen; der ,neue ganze Mensch‘ ist das endliche Wesen, definiert nicht durch Vernunftbegabung und ewiges geistiges Leben, sondern begrenzt durch Leiblichkeit, Endlichkeit und Leidenschaft(en).44 Dass anthropologische und poetologisch-ästhetische Gattungsfragen zusammengehören, zeigt noch Schillers ,klassische‘ Ästhetik ab den 1790er Jahren. Und es ist auch hier implizit die Frage der Endlichkeit der menschlichen Gattung, die den Theaterbegriff durchzieht. Schiller propagiert zwar die Freiheit des VernunftIchs, eine Selbstdistanz einzunehmen (d.h. „Freiheit“ „auch in den heftigsten Stürmen der Leidenschaft“45). Diese „Freiheit“ aber, um die es in der Tragödie geht, konfrontiert letztlich mit dem Tod, der sich so als heimlicher Motivator jener idealen Überformung ausmachen lässt. „Durch seinen Verstand zwar steigert [der Mensch] künstlicherweise seine natürlichen Kräfte“, schreibt Schiller in Über das Erhabene (ersch. 1801), und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprüchwort, gibt es Mittel, nur nicht gegen den Tod.

41 Vgl. zur Ausformulierung des Endlichkeitstopos bei Schiller Sophie Witt: „‚Drama‘ der Endlichkeit. Genealogie und Generativität um 1800 (Goethe, Schiller, Kleist)“, in: Dramatische Eigenzeit des Politischen um 1800, hg. v. Michael Gamper und Peter Schnyder, Hannover 2017, S. 93–113. 42 Derrida: „Gesetz der Gattung“ (wie Anm. 27), S. 250. 43 Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, hg. v. Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes F. Lehmann, Würzburg 2001, S. 9. 44 Vgl. zu diesem Punkt die allerdings nicht auf Schiller bezogenen Ausführungen zur Definition des neuen Menschen von seinen Grenzen her: Roland Borgards: „Das Leben ein Schmerz. Geschichte einer Denkfigur in Literatur und Medizin“, in: Die Grenzen des Menschen (wie Anm. 43), S. 135–158, hier S. 154. 45 Schiller: „Über die tragische Kunst“ (wie Anm. 10), S. 374.

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[…] Dieses einzige Schreckliche, was er nur muß und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten [...].46

Schillers spätere Ästhetik nimmt hier also den ‚neuen ganzen Menschen‘ auf und bemüht – wie schon in der Dissertation – zwei „Gesetze“ zur Ordnung: „Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Widerstands gegen das Leiden“, so Schiller in Über das Pathetische (1793). Auch wenn sich die tragische Kunst nicht mit der „Darstellung des Leidens – als bloße[m] Leiden[]“ begnügen darf, nimmt das zweifache Gesetz des Tragischen von der „leidenden Natur“ des Menschen seinen Ausgang:47 Schillers Theater will dem Leiden nicht nur generell, gesetzesmäßig „Widerstand“ bieten; die aufgebotene Logik des Gesetzlichen dient insgesamt der ,Bändigung‘ der affektiven Anthropologie – sowohl in den „Fundamentalgesetz[en] der gemischten Naturen“ als auch in den Gesetzen des Tragischen. Die schillersche Ästhetik des Tragischen beherbergt so einen großangelegten Kompensationsversuch einer nur schwer zu verdeckenden Entdeckung in der Anthropologie: einer mit dem psycho-somatischen Menschen einhergehenden suspendierten Gesetzlichkeit. Abermals erweist sich die Arbeit an der Gattung als „Grenzarbeit“ 48, als ein Abarbeiten an den biologischen Enden und epistemologischen Grenzen des Menschen. Der Gattung des Tragischen ist daher eine prekäre Wissens- und Darstellungsperspektive inhärent. Obwohl also Schillers spätere Ästhetik unleugbar jene Handschrift der Versöhnung und Harmonisierung trägt, welche die Pole des Triebhaft-Sinnlichen und des Sittlich-Vernünftigen in einer Struktur der Einheit zu verbinden sucht, ist Schillers Denken der Einheit von der Krise durchzogen – einer biologischen Krise der Endlichkeit und einer normativen Krise, die aus dem Verlust überzeitlicher Gesetze resultiert.49

46 Friedrich Schiller: „Über das Erhabene“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 792–808, hier S. 793. 47 Friedrich Schiller: „Über das Pathetische“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 512–537, hier S. 515 bzw. 512. 48 Die Grenzen des Menschen (wie Anm. 43), S. 9. 49 Vgl. zum Topos der Krise in Schillers ästhetischen Schriften und Tragödien um 1800 Sophie Witt: „Kritische Physis. Schillers Szenen der Kritik“, in: Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung, hg. v. Olivia Ebert et al., Bielefeld 2018, S. 419˗428.

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P ENTHESILEAS THEATRALE A NTHROPOLOGIE Diese ,zerrissene‘ Anthropologie Schillers findet ein Echo in Kleists Penthesilea. Wie schon die Zeitgenossen bemerken, die mit Ekel auf den Text reagieren, gehorcht das Stück nicht der um 1800 prominenten Lesart der Antike und ihrem idealisierten Menschenbild. Nichts ist zu lesen von „Würde“ und „schöne[m] Ernst, auch in den höchsten Ausbrüchen der Leidenschaft“, die der ,klassische‘ Schiller an Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) lobt.50 Vielmehr scheitert Penthesilea, wie es im neunten Auftritt heißt, daran, sich zu „fassen“, ihr „Herz, weil es sein muß, [zu] bezwingen“, „[zu] tun mit Grazie, was die Not erheischt“ – d.h. sich zu fügen in das „Gesetz der Fraun“, jene eigenartige Fortpflanzungspolitik, nach der die Männer für die Zeugung des Nachwuchses im Kampf erobert werden müssen und individuelle Partnerwahl untersagt ist.51 Dass Penthesilea dergestalt eine ‚Tragödie des Gesetzes‘ vorführt, wurde immer wieder betont. Es steht darin aber mehr auf dem Spiel als der Konflikt zwischen Neigung und Pflicht oder die Rehabilitierung einer für die Theaterbühne verlorenen Dimension des Affektiven. Wenn Penthesilea den Oberpriesterinnen in besagtem Auftritt zugesteht, „Recht habt ihr auch“, willigt sie damit nicht einfach vernünftig in die Notwendigkeit ein, affektive Neigung unter gesetzliche Pflicht zu stellen, sondern artikuliert, dass das Recht kontingent und die Verfügungsgewalt des Gesetzes gemacht ist, etwas, das sich Gemeinschaften geben und das sie fortan haben. Diese Einsicht über die Geschichtlichkeit des Rechts durchlöchert das Gesetz der Amazonen, das sich laut Mythos den Anstrich des Naturgesetzlichen gibt52:

50 Friedrich Schiller: „Über die Iphigenie auf Tauris. Goethes Schriften. Dritter Band. Leipzig 1787“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. V, S. 942–970, hier S. 943. Penthesilea wurde auch als „Anti-Iphigenie“ bezeichnet, vgl. Helga Gallas: „Antikerezeption bei Goethe und Kleist. Penthesilea, eine Anti-Iphigenie?“, in: Momentum dramaticum, hg. v. Linda Dietrick, Waterloo 1990, S. 209–220. Entsprechend wurde Kleist verschiedentlich attestiert, die Antike „modernisiert“ und „enthumanisiert“ zu haben, indem er „die Gefühlsanarchie einer entstehenden neuen Barbarei in die Antike [hineingetragen habe].“ Georg Lukàcs, „Die Tragödie Heinrich von Kleists“, in: Ders.: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1951, S. 19–48, hier S. 33, zit. n. Benthien: Tribunal der Blicke (wie Anm. 12), S. 194. 51 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 361 bzw. 387. 52 Vgl. zur Auseinandersetzung mit Naturrecht und positivem Recht: Rüdiger Campe: „Zweierlei Gesetz in Kleists ‚Penthesilea‘. Naturrecht und Biopolitik“, in: Penthesileas Versprechen (wie Anm. 23), S. 313–341.

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Und wie die feuerrote Windsbraut brechen Wir plötzlich in den Wald der Männer ein, Und wehn die Reifsten derer, die da fallen, Wie Samen, wenn die Wipfel sich zerschlagen, In unsre heimatlichen Fluren hin. […] Bis uns die Saat selbst blühend aufgegangen […].53

Das behauptete Wirken der Naturgewalten vermischt sich hier mit landwirtschaftlicher Kultivierung („Saat“, „Flure“) und den Motiven des planvoll durchgeführten Gattungserhalts, weht dabei aber mit einer Metaphorik des Zerstörerischen in den Bereich des Kulturellen hinein. In Penthesilea misslingt also mehrerlei Harmonisierung: die anthropologische, die Körper und Geist dem Gesetz einer harmonischen Doppelnatur aus Soma und Psyche unterstellt; aber auch diejenige, verallgemeinerte, die ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ – in der Sphäre des Kulturellen (in Politik, Recht etc.) – zu harmonisieren trachtet. In Penthesilea gibt es einen konkreten Schauplatz dieser misslingenden Harmonisierung – des Risses im Gesetz: den einzelnen Menschen, der zugleich als Gattungswesen gedacht ist, und dem – all seiner Endlichkeit zum Trotz – der Erhalt der Gattung angelastet wird. So operiert das Gesetz der Amazonen auch nicht einfach im Bereich des Staats- oder Kriegsrechts (als Logik der Eroberung und des Kampfes), sondern vor allem als Biopolitik, die sich auf die biologischen Prozesse des Erhalts im Amazonenstaat richtet54: Die erkämpften Jünglinge dienen der Sicherung des (weiblichen) Nachwuchses der Amazonen; gekämpft und gezeugt wird zum Erhalt der Gattung. Vor diesem Hintergrund erweist sich Kleists Die Familie Schroffenstein als Penthesileas ,Vorspiel auf dem Theater‘. Die zerstrittene Familienordnung leitet sich vom nicht nur gefürchteten, sondern bereits kalkulierten Prinzip des Aussterbens ab.55 Das Motiv der Auslöschung durchgeistert den Text bis in seine Metaphorik: So schwört Vater Rupert, Familienoberhaupt aus dem Hause Rossitz, nicht nur Rache an den Warwandern zu nehmen – die, wie es den Anschein hat, seinen Sohn Peter haben ermorden lassen –, sondern kündigt „eine Jagd […] wie nach Schlangen“ an, die mittels Verpestung die gesamte „Gattung“ davon abhalten soll, 53 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 392. 54 Diese Zuordnung trifft auch Campe, unterscheidet aber die auf der Performanz des Gesetzes beruhende Biopolitik der Amazonen von dem Naturrecht der Griechen. Vgl. Campe: „Zweierlei Gesetz“ (wie Anm 52). 55 Vgl. zum Endlichkeitstopos in Die Familie Schroffenstein und Penthesilea auch Witt: „‚Drama‘ der Endlichkeit“ (wie Anm. 41), S. 104˗108.

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„[i]n einem Erdenalter dort ein Ei [zu legen]“.56 Und auch der altüberlieferte Erbvertrag, der die beiden Zweige des genos aneinander kettet, ergibt bloß vor dem Hintergrund möglichen Aussterbens Sinn. Stirbt nämlich ein Zweig aus, so erbt der andere dessen Besitztümer, weswegen zwar tiefes Misstrauen und Abneigung zwischen den Häusern herrschen; gesichert wäre aber im Falle des biologischen Endes zumindest die Fortdauer der Besitztümer – d.h. das symbolische Erbe des gesamten genos. Dass schließlich genau das passiert, was es qua Erbordnung zu verhindern galt, unterstreicht, wie sehr die – letztlich absurden – Ökonomien von Auslöschung und Erhalt das Stück strukturieren: Im Motiv der Tötung der Kinder durch die Eltern behält die Möglichkeit des Aussterbens, das potenzielle Ende der Gattung Recht. Penthesilea wendet diese am Topos der Familie durchgespielte Problematik und macht aus ihr eine Frage nach dem Status des anthropologischen Gesetzes. Penthesileas immer neuer Versuch, Achill zu besiegen, stört nicht einfach die Rechtsordnung, sondern verzögert bzw. gefährdet den Rückzug der Amazonen und damit die Begattung durch die bereits eroberten Jünglinge. Nicht nur um den Erhalt des Königsgeschlechts und der Ordnung politisch-dynastischer Sukzession geht es,57 sondern um die potenzielle Endlichkeit der Gattung: So oft, nach jährlichen Berechnungen, Die Königin, was ihr der Tod entrafft, Dem Staat ersetzen will, ruft sie die blühndsten Der Fraun, von allen Enden ihres Reichs, Nach Themiscyra hin […].58

Auch die Urszene des Frauenstaates hat mit den Motiven der Auslöschung zu tun, was Achill zur Sprache bringt: „Vernichtend war das Schicksal, Königin, / Das deinem Frauenstaat das Leben gab.“ 59 Schon der Usurpation durch die Äthiopier, von denen sich die Frauen befreien und den Frauenstaat gründen, ging die Auslöschung des „ganze[n] Prachtgeschlecht[s] der Welt“, der Skythen, voraus.60 Die

56 Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“, in: SW9 I, S. 49˗152, hier S. 53. 57 Penthesileas Mutter, die Königin, weist ihr Kind in den Krieg zu ziehen – „denn ohne Erben/ War, wenn sie starb, der Thron und eines andern/ Ehrgeitzgen Nebenstammes Augenmerk.“ Ebd., S. 394. 58 Ebd., S. 391 (eigene Hervorhebung, SW). 59 Ebd., S. 388. 60 Ebd.

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Auslöschung lässt sich nicht allein aus der Logik der Eroberung erklären, sie hebt vielmehr die Sorge um den Gattungserhalt hervor. Paradoxerweise zeigt Penthesileas Streben trotz des ,wahnsinnigen‘ Festhaltens am Kampf gegen Achill eine Unterlassungsgeste, die nicht nur die Kriegslogik, sondern auch die Logik des Gattungsgesetzes verweigert. Besagt nämlich das „Gesetz der Fraun“, dass die Männer für die Zeugung des Nachwuchses im Kampf erobert werden müssen („Im blutgen Feld der Schlacht muss ich ihn suchen“61), so nimmt Penthesilea das Gesetz einerseits überwörtlich, indem sie an Eroberung und Geschlechterkampf festhält; gerade dadurch aber gefährdet sie die Sicherung der Gattung, auf die das Gesetz zielt. Penthesilea entlarvt das Gegen-Gesetz im Gesetz, treibt nicht nur die Kriegslogik des Tötens, sondern auch die gesamte Logik biopolitischer Ordnung, die der Endlichkeit trotzig die Zeugung von Nachwuchs entgegenhält, auf eine tragikomische Spitze. Wenn das Ziel des Frauenstaates die Souveränität ist – „Ein Frauenstaat, […] / Der das Gesetz sich würdig selber gebe, / Sich selbst gehorche, selber auch beschütze“62 –, dann ist Penthesileas Gefährdung des Gesetzes die Aufgabe der Souveränität und damit des Freiheitspathos der Gesetzlichkeit – dem Tod, den Leidenschaften, der Begrenztheit entgegen. Mit dieser Gegen-Gesetzlichkeit widersetzt sich Penthesileas Figur der Logik der Zugehörigkeit des Individuums zur Gattung. Sie bringt das „Gesetz der Gattung“ zum Kollabieren, indem sie sich nicht zu dessen Fall machen lässt; es ist diese Gattung-Einzelfall-Logik, die im Stück dem Zerreißen ausgesetzt ist.63 Dass nämlich das Gesetz der Amazonen den Einzelfall im strengen Sinne ausschließt, ist nicht ein Charakteristikum dieses Gesetzes, sondern hat mit der Struktur des Gesetzes überhaupt zu tun, die derjenigen der Gattung entspricht. Am Einzelfall offenbart sich das Dilemma des Exemplarischen. Es ist das „Zerreißen“ der Ordnung der Teilhabe, die Derrida als „Gesetz der Gattung“ bestimmt: „Invagination“ beschreibt die Tatsache, „daß der Zug, der die Zugehörigkeit markiert, sich teilt“, und damit zugleich das Ganze und die Gesamtheit von Innen überschreitet.64 61 Ebd., S. 387. 62 Ebd., S. 389. 63 Diese Logik benennt Penthesilea als das „[E]ingeschürzt“-sein des Einzelnen in einem „ausgespannten Musternetz“, das wiederum durch die „Taten“ des Einzelnen aktualisiert und perpetuiert wird. Ebd., S. 395. 64 Derrida: „Gesetz der Gattung“ (wie Anm. 27), S. 252.Vgl. auch Agamben zur Struktur des Exemplarischen: Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 72007, S. 32. Mit Foucault könnte man sagen, dass Penthesilea die komplizierte Verkantung von „Anatomie-Politik“ und „Biopolitik“ ausspielt, die Frage, inwiefern die Einzelne zugleich Individuum und Gattungswesen sein

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Vor diesem Hintergrund ergibt Penthesileas Suspension der Gattungsordnung neuen Sinn. Sie ist jenes schillersche „unselige Mittelding von Vieh und Engel“65, insofern damit nicht eine bestimmbare Position innerhalb einer Gattungsordnung und Schöpfungshierarchie gemeint ist. Ihre Figur thematisiert auch nicht einfach eine ‚Mischung‘ der Gattung(en) – Kentaurin, Sphinx, rasende Megäre –, sie verweist vielmehr auf die von Derrida hervorgehobene kategorische und primordiale ‚Unreinheit‘ der Gattung, wodurch die Gesetzlichkeit des „Gesetzes der Gattung“ selbst aufs Spiel gesetzt wird.66 Diese ‚zerrissene‘ Gattung motiviert Kleists Auseinandersetzung mit der psychophysischen Doppelnatur, gegen deren Harmonisierungspostulat sich Penthesilea sperrt. Das reflexartige Zittern, Zucken („An allen jungen Gliedern zitterst du!“67), das ,Entflammen‘/Erröten,68 der „Nervenreflex“69 des Küssens und Beißens usw. lässt sich in keiner Doppelnatur harmonisieren und ironisiert die Annahme, dass am Körper ein ‚Inneres‘ zum Ausdruck käme. Psychosomatik bezeichnet hier zwar die Frage der Wechselwirkungen von Soma und Psyche, unterstellt das Somatische aber gerade nicht einer „psychophysischen Vermittlung“ oder einem Gesetz der Einheit. In einem offenen Prozess widmet sich diese Anthropologie „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränk-

kann und welche Provokationen das für den Umgang mit den Körpern im Rahmen der politischen Ordnung mit sich bringt. Foucault datiert das Entstehen der Bio-Macht nicht zufällig auf das Ende des 18. Jahrhunderts: Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), übers. v. Michaela Ott, Frankfurt a. M. 1999, S. 276–305, hier S. 286. 65 Schiller: „Versuch“ (wie Anm. 29), S. 296. 66 Derrida arbeitet sich an dem Diktum ab, „die Gattungen nicht [zu] vermischen“, und hebt hervor, wie dieses Gesetz des Ein- und Ausschlusses die Momente der Unreinheit und die Ökonomie des Parasitären selbst generiert. Vgl. Derrida: „Gesetz der Gattung“ (wie Anm. 27). 67 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 344. 68 Vgl. zur Ambivalenz des Errötens zwischen Wut und Scham: Benthien: Tribunal der Blicke (wie Anm. 12), S. 200f. Zum Erröten vgl. auch Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888), München 2005, S. 254f. Port bemerkt überzeugend, dass in Penthesilea die für die Erfahrungsseelenkunde sowie für die Schauspieltheorie des bürgerlichen Trauerspiels typische Kopplung von Körperzeichen und Psyche aufgehoben wird und das Erröten vielmehr als Epiphänomen auf die „Katastrophe apokalyptischer Größenordnung“ verweist. 69 Zum Nervenreflex und dessen sich Widersetzen gegenüber dem staatlichen Auftrag vgl. Campe: „Zweierlei Gesetz“ (wie Anm. 52), S. 319.

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ungen und Beziehungen“70. In den Blickpunkt rücken die vielfachen und ambivalenten Übersetzungen zwischen Soma und Psyche71, einschließlich der möglichen Fehlleistungen72, wodurch die Harmonie des Einheitlichen hinsichtlich des jeweils Zerrissenen aufgegeben wird. Dass Penthesilea Achills Leichnam zerreißt, ist die Pointe dieses Risses innerhalb der Gesetzlichkeit/Gattungshaftigkeit. Denn der entstellte Leichnam Achills fügt sich weder in die genealogische und zeugende Logik des Werdens und Vergehens noch in die Logik der Erfüllung des Gesetzes: Anders als die Knabenbabies, die die Amazonen töten und dem matriarchalen Gesetz opfern, steht der entstellte Leichnam für den Un-Sinn oder Überschuss – und gleichzeitig für die unsinnige Unvermeidbarkeit – des ganzen Unterfangens der gesetzlichen wie anthropologischen Ordnung.73 Der zerrissene Leichnam reißt aber auch ein Loch in die Logik der Zurschaustellung: Dass dabei die Leiche – und vor allem deren grässliche Entstelltheit – das Theater unterbricht, das Prothoe und Co. für Penthesilea aufführen (dass sie sie nämlich zur Besänftigung glauben lassen, es habe sich ihr Wunsch und Ziel erfüllt, Achill im Kampf zu unterwerfen, um sich nach erfolgreichem Sieg mit ihm zu paaren), ist die Pointe einer den ganzen Stücktext kennzeichnenden Meta-

70 Platner: Anthropologie (wie Anm. 15), S. XVII. 71 Noch die im engeren Sinne medizinische Psychosomatik Thure von Uexkülls kann dahingehend bestimmt werden, dass „Körper“ und „Seele“ verschiedene Integrationsebenen darstellen, die qua Symptom durch Bedeutungskopplung miteinander in Beziehung stehen, die ineinandergreifen und die Übersetzungsvorgängen ausgesetzt sind; vgl. Marion Schmaus: „Literatur und Psychosomatik“, in: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, hg. v. Günther Butzer und Hubert Zapf, Basel 2011, Bd. 5, S. 33–51, hier S. 34; vgl. Lehrbuch der psychosomatischen Medizin, hg. v. Thure von Uexküll, München 1979, S. 70. 72 Etwa wenn Penthesilea Achill „aus Versehen“ zu Tode küsst/beißt und sowohl Küssen als auch Beißen als ineinandergreifende physiologische Äquivalente der psychischen Einstellung der Liebe verhandelt werden („und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen“; Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 425), oder wenn Penthesilea sich mit ihren Nervenreflexen „verspricht“. 73 Es ist daher kein Zufall, dass die entscheidende Umgestaltung des antiken Mythos durch Kleist in dem Umstand besteht, dass Penthesilea Achill tötet (und nicht umgekehrt) und dass diese Tötung durch Zerreißen vonstatten geht; vgl. zu diesem Aspekt auch Benthien: Tribunal der Blicke (wie Anm. 12), S. 197. Vgl. zur Mythos-Rezeption ausführlicher Doris Claudia Borelbach: Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen, Würzburg 1998, bes. S. 53–110.

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theatralität.74 Diese verbindet sich mit der Frage der anthropologischen Gattung: Penthesileas „so wunderbare[s] Geschlecht“75, wie Goethe heimlich fasziniert schreibt, und die Suche nach einem Theater, „welches da kommen soll“76, das sich ,heute‘ durch eine gewisse ,Unmöglichkeit‘ auszeichnet. Es ist dabei die Reflexion auf das prekäre Moment des Präsentierens und Schauens, die den gesamten kleistschen Stücktext durchzieht: „Seht ihr sie? sprecht!“ – fragt etwa Diana – und die Mädchen auf dem Hügel antworten, „Nichts, gar nichts sehen wir! / Es läßt kein Federbusch sich unterscheiden“, ausmachbar ist bloß ein „[v]erwirrter Kriegerhaufen“.77 Kann man also von einem „Körperdrama“ der Schlachtszenen sprechen, dann meint das nicht einfach die „antiklassische Wiederkehr des Körpers“, sondern einen radikalen „Verlust des Überblicks“.78 Nicht zufällig mit dem „Gefild des Tods“79 einhergehend kommt es zu einer Zerrissenheit der Bühnengestalten und des szenischen Bildes. Diese Zerrissenheit von deren/dessen gestalthafter Anordnung für den Blick nimmt die eingangs zitierte ‚Epiphanie der Gefühle‘ – „Bis jetzt ihr Aug auf den Peliden trifft / Und Glut ihr plötzlich, bis zum Hals hinab, / Das Antlitz färbt, als schlüge rings um ihr / Die Welt in helle Flammenlohe auf“ 80 – ironisch zurück. Penthesilea speist ein „Unmöglichkeitsaxiom“ in das Funktionieren der theatralen Szene ein, eine ausgerechnet auf der und durch die Bühne verhinderte ,Gegenwärtigkeit‘, die die jeweilige Ansichtigkeit des Geschauten – und damit gleichzeitig die Ordnung der Gattung – stört.81 Reflektiert wird hier auf die schon im schillerschen influxus animae und influxus corporis verhandelte immer nur prekäre Sicht- und Zeigbarkeit der Psyche am Körper. 74 Das Motiv der Ver- und Entschleierung (nicht nur, aber auch der entstellten Leiche) und damit ein Spiel mit den Ökonomien der Sichtbarkeit durchziehen den letzten Auftritt des Stücks. Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 415–428. Vgl. zum ‚Spiel im Spiel‘ Campe: „Zweierlei Gesetz“ (wie Anm. 52), S. 333ff.; ebenso Ortrud Gutjahr: „Gewalt im Spiel. Kriegsschauplätze in Kleists Penthesilea“, in: „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist, hg. v. ders., Würzburg 2007, S. 21–39, hier S. 27ff. 75 Brief von Johann Wolfgang von Goethe, 01. Februar 1808, in: SW9 II, S. 806−807, hier S. 806. 76 Ebd. 77 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 355. 78 Maximilian Nutz: „Lektüre der Sinne. Kleists ‚Penthesilea‘ als Körperdrama“, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hg. v. Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 163–185, hier S. 165f. 79 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 355. 80 Ebd., S. 324f. 81 Zur Logik gestörter Gegenwärtigkeit bei Kleist und um 1800, vgl. Witt: „‚Drama‘ der Endlichkeit“ (wie Anm. 41).

P SYCHOSOMATIK UND T HEATER

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Penthesilea verweist auf die szenische Rahmung, d.h. die Vermitteltheit der Körperzeichen, die die unmittelbar (szenische) Anschaulichkeit der ‚Gefühle‘ zurücknimmt. Die theatrale Szene markiert eine im Unterfangen der Anthropologie beherbergte – immer auch unmögliche – Beobachtungssituation, in der die Körper zwar in ihrer psycho-physischen Gesamtheit zur Debatte, nicht aber der eindeutigen Lektüre zur Verfügung stehen.82 Denn wenn Penthesilea – „wie das Wort [wohl sagt]“ – „vor Liebe gleich ihn [Achill] essen könnte“83, dann suggeriert dies nur auf den ersten Blick eine einfache Kopplung von Physis und Psyche, sodass die Psyche im körperlichen Symptom der Lektüre zur Verfügung stünde. Penthesilea schiebt abermals das „Wort“ dazwischen, ironisiert die einfache Entsprechung, gerade indem sie beim Wort nimmt: „Sieh her: als ich an deinem Halse hing, / Hab’ ich’s wahrhaftig Wort für Wort getan“84. Penthesileas Bühnen-Worte – nicht zuletzt die Dominanz der Botenberichte und Teichoskopien – präfigurieren die Einsicht, die bis heute das Wissen der Psychosomatik prägt: dass die Behauptung der Wechselwirkungen von physiologischen Prozessen und deren sprachlichen Konstruktionen die Anerkennung der Vermitteltheit von Körperkonstrukten sowie der Situiertheit der Erkenntnisdispositive bedingt.85 Damit aber ist Penthesilea, wie sie richtig sagt, „nicht so verrückt, als es wohl schien“86 – nein, sie bewegt sich sondergleichen, gerade indem sie (zu) wörtlich nimmt, nicht unbedingt im Bereich des ,Sinns‘, wohl aber des Bezeichnens.87 Folgerichtig zeigt Penthesilea die quasi-zeugende Macht der Worte über die Körper, der Sprache über das Biologisch-Somatische. So ist noch der Todesakt ein Sprechakt: Mit Worten erzeugt Penthesilea „ein vernichtendes Gefühl“, und „fällt und stirbt“.88 Nicht nur parodiert, sondern gleichzeitig auch übersteigert wird 82 Diesen Aspekt hält Lemke auch für Kleists „Marionettentheater“ fest; vgl. Lemke: „Gemüts-Bewegungen“ (wie Anm. 28), S. 186. 83 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 426. 84 Ebd. 85 Port stellt richtig heraus, dass die Botenberichte nicht nur auf einen Bezeichnungsnotstand verweisen, auf etwas, das sich „diskursiven Begriffen“ widersetzt, sondern dass diese Szenen eine Quasi-‚Übertragung‘ des zu beobachtenden affektiven Gegenstandes auf die Beobachtenden thematisieren; vgl. Port: Pathosformeln (wie Anm. 68), S. 255. 86 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 426. 87 Vgl. zur Referenz Penthesileas Versprechen (wie Anm. 23). 88 Der Sprechaktcharakter dieser Selbsttötung wurde in der Forschung verschiedentlich herausgestellt: vgl. exemplarisch Gabriele Brandstetter: „‚Das Wort des Greuelrätsels‘. Die Überschreitung der Tragödie“, in: Kleists Dramen. Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 75–115, hier S. 112.

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hier Schillers idealistische ‚Freiheit gegenüber dem Tod‘. Denn der Tod als Begrenzung des Menschen – der Schauplatz, an dem die anthropologische und die ästhetische/poetische Gattungsreflexion zusammenfallen – wird zwar nicht mehr geleugnet, wohl aber sprachlich ,domestiziert‘.89 Kleist belässt es dabei aber nicht: Denn wenn Psychosomatik bis heute als „sprechende“ Disziplin90 praktiziert wird, dann ist Penthesileas „Versprechen“ dabei immer mitzudenken: „Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen, / Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin.“91 Penthesileas „rasche[] Lippe“ verweist nicht nur auf die zeugende Kraft der Worte, sondern zugleich auf den nicht kontrollierbaren, eigengesetzlichen Überschuss des Somatischen. Gemeint ist jedoch keine vor-sprachliche Leiblichkeit: Penthesileas „Küsse, Bisse“ reartikulieren vielmehr eine entzogene Verfügungsgewalt im anthropologischen Gesetz der Gattung, zu deren Kompensation schon Schiller das Gesetz allererst zu bemühen suchte.

89 Von einem „parodistische[n] Akzent“ hinsichtlich des Idealismus des späteren Schiller spricht auch Port, geht dem Zusammenhang mit Schillers medizinischer Menschenkunde allerdings nicht weiter nach: Port: Pathosformeln (wie Anm. 68), S. 253f. In Anlehnung an Beils Lektüre des „Marionettentheaters“ könnte man auch hier von einer „kreativen réecriture“ Schillers durch Kleist sprechen, die als dekonstruktives Vorgehen die Probleme und Faszination bei Schiller lesbar macht; vgl. Beil: „Kenosis“ (wie Anm. 28), S. 84. 90 So definiert Brunnhuber Psychosomatik als „sprechendes Fach“, das „korrigierend, modulierend und verändernd in den Krankheitsprozess [eingreift], indem sie Worte wählt, sprachliche Interventionen vornimmt und zuhört“. Stefan Brunnhuber: Affekt und Symptombildung. Zur Geschichte, Theorie und Systematik der Psychosomatik, Würzburg 2001, S. 19. 91 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 7), S. 426 (eigene Hervorhebung, SW).

Im Banne des ‚absolut Bösen‘ Eine andere Genealogie der Gattung L ÁSZLÓ F. F ÖLDÉNYI

I Wo auch immer ich sein Werk aufschlage, Kleist trifft mich wie ein Stromschlag. Wollte man sich im Mittelalter etwas prophezeien lassen, öffnete man die Bibel oder Vergils Aeneis und zeigte mit geschlossenen Augen auf irgendeine Zeile. Die Bedeutung dessen, was man dort las, stellte man nie infrage. Ich habe dasselbe mit Kleist versucht. Ich wollte mir nicht prophezeien lassen, ich wollte wissen, ob ich wirklich einen Stromschlag verspüre. Ich schlug den zweiten Band der letzten Auflage der Kleist-Ausgabe von Sembdner auf, und mein Zeigefinger hielt auf der Zeile: „Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte …“ Der Satzausschnitt stammt aus Michael Kohlhaas und setzt sich, immer verschlungener werdend, weiter fort. Der ganze Satz lautet: Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte, Blicke, in welchen sich der Tod malte, bei den roten Wangen des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbändern spielte, auf den Roßkamm, und ein Papier werfend, das er in der Hand hielt.1

Es ist Lisbeth, Kohlhaasens Frau, die erblassend ihren Mann so ansieht, als sie erfährt, dass er, ohne sie vorher davon unterrichtet zu haben, seinen Besitz zu verkaufen beabsichtigt. Aber nicht nur ihr Blick droht ihm in diesem Moment, auch die Sprache steht am Abgrund. Noch ein untergeordneter Satz, noch ein Verb oder Adjektiv, und das Ganze würde in Unverständlichkeit ausarten. Ich möchte bei diesem äußerst verwickelten und durch seine Struktur für Kleist höchst charakteristischen Satz kurz verweilen. Der Satz taucht in einer 1

Heinrich von Kleist: „Michael Kohlhaas“, in: SW9 II, S. 9–103, hier S. 25.

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überaus heiklen Situation auf. Als es Kohlhaas zu dämmern beginnt, dass sein Unterfangen auf unüberwindbare Hindernisse stoßen wird, findet er an nichts mehr Freude. Weder an seinen Pferden, seinem Besitz, seinen Kindern noch an seiner Frau. Er beschließt, seinen ganzen Besitz zu Geld zu machen und seine Frau und Kinder wegzuschicken – über die Grenze nach Schwerin. Kurz darauf lädt er seinen Nachbarn, einen Amtmann, zu sich ein, um ihm all seine Besitzungen zu verkaufen. Erst da erfährt seine Frau von seinem Vorhaben. Die vernachlässigte Frau, die bis dahin im Hintergrund der Ereignisse stand, rückt eigenartigerweise gerade durch seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber in den Vordergrund. Kohlhaas erscheint gleichzeitig als Staatsbürger, als Ehemann und als Liebhaber, ohne dass er diese drei unterschiedlichen Rollen in irgendeiner beruhigenden Weise miteinander vereinbaren könnte. Als Staatsbürger beruft er sich auf seine Rechte, auf die Verletzung seiner Ehre. Als Ehemann möchte er seine Familie nach Schwerin schicken, wo sie sich in Sicherheit befände. Und als Liebhaber ist er gezwungen, auf die weiblichen Praktiken seiner Frau – ihre Annäherung (sie setzt sich ihm auf den Schoß, küsst ihn auf die Brust) und ihre Distanzierung (sie weint, sie sinkt zu Boden) – zu reagieren. Kohlhaas kann diese drei unterschiedlichen Rollen nur schwer miteinander vereinbaren. Die Folge ist eine merkwürdige Unart. Anstatt uns als eine „einheitliche“ Figur zu erscheinen, was eines der großen Vermächtnisse des literarischen Realismus des 18. Jahrhunderts ist und zu einer Grundbedingung der europäischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts geworden war, wirkt Kohlhaas wie ein dreiköpfiges Ungeheuer. Und damit er diese merkwürdige Unart vor Augen führen kann, muss Kleist auch die Gattung der Novelle vorübergehend in eine Grenzsituation versetzen. Die Szene wird dramatisch, genauer gesagt theatralisch – ein seltsames Beispiel für die Vermischung der Gattungen. Der Amtmann und Kohlhaas verhandeln weiter, noch immer spricht seine Frau kein Wort. Stattdessen setzt ein Gebärdenspiel ein, fast wie im Theater. „Die Frau ging in der Stube auf und ab; ihre Brust flog, daß das Tuch, an welchem der Knabe gezupft hatte, ihr völlig von der Schulter herabzufallen drohte.“2 Eine glänzende Taktik: Wenn sie die Aufmerksamkeit ihres Mannes schon nicht mit ihren Blicken auf sich lenken kann, vertraut sie auf das herabfallende Tuch und die darunter aufblitzende Brust – eine weibliche Praktik mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit ihres Mannes von seinen Sorgen abzulenken. Doch vergeblich: In seinen Augen hat sie aufgehört zu existieren. Noch steht er da neben ihr, im Geiste jedoch verweilt er schon ganz woanders. Nachdem sie tödlich erblasst ist, ihr Kleid sich gelockert hat und sie verstummt ist, macht Lisbeth noch einen letzten Versuch, ihren Mann zurückzuerobern. Jetzt erst ergreift sie das Wort: „,O! Ich verstehe dich!‘ rief sie. ,Du brauchst jetzt nichts mehr, als 2

Ebd., S. 25f.

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Waffen und Pferde; alles andere kann nehmen, wer will!‘“3 Ihre Aussage ist eindeutig; sie spricht in ihrem Gatten den Mann an und deutet verhüllt die Möglichkeit an, dass sie an der Seite eines anderen Mannes vielleicht ein ruhigeres Leben führen könnte. Dann fällt sie ihm jedoch um den Hals, drückt ihn heftig an sich und überzieht seine Brust mit heißen Küssen. Wenn er schon nicht auf ihre Brust aufmerksam wird, fällt sie wenigstens über seine Brust her. Da zieht Kohlhaas sie auf seinen Schoß und ihr kommt eine kühne Idee. Sie erzählt ihm von einem ehemaligen Geliebten und schlägt vor, diesen einstigen Verehrer, der dem Kurfürsten von Brandenburg nahesteht und früher um sie geworben hat, aufzusuchen und ihn zu bitten, ihrem Mann zu helfen. Statt eifersüchtig zu werden, wird Kohlhaas, der bis dahin schweigsam und zutiefst melancholisch gewesen ist, endlich munter. Hocherfreut küsst er sie endlich  was sie auch so verstehen kann, dass es ihn belebt und erregt, wenn er sie zu einem anderen Mann schicken kann, der ihr gegenüber nicht gleichgültig ist und vielleicht mehr als einen Kuss von ihr begehrt. Diese seltsame Situation voller Momente der Verdrängung lässt sich kaum in befriedigender Weise entwirren. Bekanntlich verreist seine Frau und verunglückt dabei. Der Erzähler wählt seine Worte äußerst behutsam: Die von der Wache umzingelte Frau hat in der dichtgedrängten Menge „einen Stoß, mit dem Schaft einer Lanze, vor die Brust erhalten“4. Erneut wird die Brust zur Zielscheibe; und die sexuelle Bedeutung der Reise wird durch die Bewegung (den Stoß) des überaus symbolhaften Instruments (einer steifen Lanze) unmissverständlich klar. Nun, nach dem Tod seiner Frau, beginnt Kohlhaas zu morden. Hätte er zu Beginn getan, was sie von ihm erwartete, hätte sie nicht sterben müssen. Doch die verdrängte und verleugnete Sexualität rächt sich und führt zum Tod. Nicht nur zu ihrem Tod, sondern – auf dem Umweg des Todes vieler Unschuldiger – auch zu seinem eigenen. Die Verschrobenheit des am Anfang zitierten Satzes verweist auf die Verschrobenheit der Handlung und letztendlich auf die Unberechenbarkeit des Charakters von Kohlhaas. Im allerersten Satz der Erzählung bezeichnet Kleist Kohlhaas als einen „der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit”5. Ein unauflösbares Paradox, denn Rechtschaffenheit und Entsetzlichkeit lassen sich nicht miteinander vereinbaren, jedenfalls nicht im alltäglichen Leben. Und doch versucht Kleist beiden Eigenschaften gleichzeitig Gültigkeit zu verschaffen, ohne dass das eine das andere aufhöbe. Das wird aber nur möglich, indem er Kohlhaas – so wie seine späteren Helden – in Extremsituationen versetzt 3

Ebd., S. 28.

4

Ebd., S. 29.

5

Ebd., S. 9.

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und zwingt, den Weg zu Ende zu gehen, bis zur letzten Konsequenz. Er muss sich sowohl als rechtschaffen als auch als entsetzlich erweisen. Er soll zur gleichen Zeit Wasser und Feuer sein, wie Odysseus in Penthesilea formuliert: „So viel ich weiß, gibt es in der Natur / Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes./ Was Glut des Feuers löscht, löst das Wasser siedend/ Zu Dampf nicht auf und umgekehrt.“6 Es gibt keine Synthese, vielmehr gewinnen entgegengesetzte Extremitäten gleichzeitig die Oberhand über Kohlhaas. In den Augen der anderen Figuren in der Erzählung – und von Kleists Zeitgenossen – ist Kohlhaas eine wahrhaftig monströse Kreuzung, einer, der die Kriterien konventioneller Charakterzeichnung verletzt. Hier betritt ein Charaktertyp die Bühne, der in der Literatur des bürgerlichen Zeitalters bis dahin unbekannt war; erst bei Dostojewskij oder später bei Musil wird man auf Figuren treffen, die ähnlich „unaussprechlich“ sind – so wie das Kleist in einem Brief an seine Schwester Ulrike vom März 1803 von sich selbst behauptet.7 Goethe schreibt bezüglich Michael Kohlhaas: „Es gebe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen, noch aussöhnen könne“8. Über Käthchen von Heilbronn meint er: „Ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn! Die verfluchte Unnatur!“9. Und Der zerbrochne Krug deutet in seinen Augen „auf eine schwere Verirrung der Natur [hin], die den Grund ihrer Entschuldigung allein in einer zu großen Reizbarkeit der Nerven oder in Krankheit finden kann“10. Und so weiter und so fort. Das Grauen erfasst Goethe, wenn er über Kleist urteilt – er sieht ein Ungeheuer in ihm, sein Werk ist für ihn nichts als widernatürliche Unart. Goethe, der bezüglich Mephistopheles viel über die Rolle des Bösen nachgedacht hat, schreckt zurück, als er mit Kohlhaasens „teuflischem Wesen“ und dem „grundlosen Bösen“11 konfrontiert wird. Und weshalb ist das Böse „grundlos“? Weil der Teufel bei Kleist nicht wie Goethes Mephisto der Hölle entsteigt, sondern vom Menschen geschaffen wird – nach seinem eigenen Ebenbild. Das macht Kleist zu einem modernen Autor – er hebt das Böse aus dem Reich der Metaphysik in die Welt der Menschen hinüber, entdeckt es unter uns, in uns Menschen. Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert Kleists, nicht Goethes.

6

Heinrich von Kleist: „Penthesilea“, in: SW9 I, S. 321428, hier S. 326.

7

Brief an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803, in: SW9 II, S. 729f.

8

LS, Nr. 252, 384.

9

LS, Nr. 385.

10 LS, Nr. 252. 11 Ebd.

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II Welche Rolle spielt das Böse in Kleists Werk? Spielt es überhaupt eine Rolle? Bereits bei der ersten Lektüre lässt sich das offensichtlich bejahen – denken wir nur an Rupert, Nicolo, Kunigunde, Meister Pedrillo oder Hermann, um nur einige der Figuren zu erwähnen, an deren Bosheit der Leser und Zuschauer keinerlei Zweifel hegen kann. Zumindest am Anfang. Wenn wir uns aber auch jener Figuren besinnen, die nicht wir, sondern der Autor oder irgendeine andere Figur der jeweiligen Geschichte als böse bezeichnen, werden wir unsicher. Am bekanntesten unter ihnen ist Kohlhaas, dieser ‚entsetzlichste‘ Mensch, der laut Erzähler zugleich auch der ‚rechtschaffenste‘ unter ihnen ist. Sollte Kohlhaas böse sein? Oder im Gegenteil, rechtschaffen? Es besteht kein Zweifel, wofür ihn die Bürger Wittenbergs, deren Häuser er in Brand setzt, halten. Aber fragen wir seine Kinder oder Herse – sie würden für Kohlhaasens Güte gewiss ihre Hand ins Feuer legen. Ein ähnliches doppeltes Gesicht haben auch Congo Hoango (Die Verlobung in St. Domingo), Johann Mauconduit (Beispiel einer unerhörten Mordbrennerei) oder auch Graf F... (Die Marquise von O…), der von seiner zukünftigen Frau für einen Teufel gehalten wird, aber nur, weil er ihr zuvor auch wie ein Engel vorgekommen war. In den Augen seiner Frau hat selbst Rupert noch engelhafte Züge (Die Familie Schroffenstein). Sogar das ursprüngliche Böse der ‚echten‘ Bösen ist also unter Vorbehalt zu behandeln. Sie sind teuflisch, keine Frage. Und doch sind sie aus einem anderen Holz geschnitzt als die teuflischen Figuren der in jener Zeit sich großer Beliebtheit erfreuenden Schauerromane oder die Helden des Marquis de Sade, deren Bosheit ursprünglich, angeboren ist, und deren ‚Düsternis‘ keinerlei Nuancen kennt. Das Böse war für Kleist stets eine wichtige Herausforderung. Aber er befasste sich nicht in einem theologischen Zusammenhang damit. Die Frage der ‚Ursünde‘ interessierte ihn nicht (die theologische Garnierung im Zerbrochnen Krug ist eher ein humoristisches, rhetorisches Mittel, mit dem er nicht grundsätzlich theologische Fragen berührt), er sah im Bösen kein Gott entgegengesetztes Urprinzip. Es beschäftigte ihn aber auch nicht als moralische Kategorie; ihn reizte in diesem Zusammenhang nicht das Problem der Freiheit, wie das bei Kant der Fall gewesen ist, und auch nicht die Frage der sogenannten „bösen Maximen“12, bezüglich derer Kant den Hang zum Bösen, das „radicale Böse“ in der menschlichen Natur selbst

12 Immanuel Kant: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, in: Ders.: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 29 Bde., Berlin 1900ff., Bd. VI: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, Die Metaphysik der Sitten (AA 06), S. 1202, hier S. 20.

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entdeckt hat.13 Während er die Frage der alles besiegenden, göttlichen Güte genauso ausklammerte wie die Fragen der menschlichen Natur und der Moral, entdeckte er im Problem des Bösen aber dennoch metaphysische Dimensionen. Er säkularisierte die Frage des Bösen in einer Art, dass er dessen metaphysischen Aspekte aber dennoch beibehielt. Seine bemerkenswerteste Bemerkung stammt noch aus den Anfängen seiner schriftstellerischen Laufbahn. Den Sommer 1801 verbrachte er in Paris. Fünf Monate waren seit dem Ausbruch seiner sogenannten Kant-Krise vergangen, infolge derer ihm sein „höchstes Ziel“14, an dem er bis dahin nie gezweifelt hatte, abhandengekommen war. Die Einsicht, dass wir hier in diesem irdischen Leben über die Wahrheit nicht das Geringste wissen können, zerstörte Kleists einst naiven Glauben an eine universelle Ordnung und Zweckhaftigkeit. Das untergrub nicht nur sein Vertrauen in Gott, sondern auch in die Aufklärung. Zu Beginn seiner Pariser Zeit ist er verzweifelt: „Ach, es ist meine angeborne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können, und immer an einem Ort zu leben, an welchem ich nicht bin, und in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist“, bekundet er seine Ratlosigkeit am 29. Juli aus Paris Adolfine von Werdeck gegenüber.15 Zwei Wochen später, am 15. August, schreibt er einen langen Brief an Wilhelmine, nunmehr in einem wesentlich ruhigeren Ton: „Ja, seit einigen Wochen scheint es mir, als hätte sich der Sturm ein wenig gelegt.“16 In dieser relativen Ruhe greift er auf einen allgemein verbreiteten Gedanken jener Zeit zurück: Ob die Wissenschaften die Menschheit glücklicher gemacht hätten oder nicht? Seine Antwort ist eindeutig verneinend. Im Hinblick auf die Franzosen: Nicht einmal Rousseau, Helvetius und Voltaire gemeinsam hätten das Rad aufhalten können, „das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt.“17 Und anschließend seine nicht mehr nur auf die Franzosen bezogene, allgemeine Einsicht: „O wie unbegreiflich ist der Wille, der über die Menschengattung waltet!“18 Vorsicht: Kleist schreibt nicht, dass es keinen universellen Willen gäbe, sondern dass dieser Wille unbegreiflich sei! Er zweifelt nicht an der Existenz Gottes, sondern an seiner Zuverlässigkeit. Er hat jenes universelle, für alle gleichermaßen gültige, große Ziel, das die Menschheit anstreben könnte, aus den Augen verloren. Das Fehlen eines umfassenden Sinns 13 Ebd., S. 19 und passim. Vgl. auch den zuvor veröffentlichten Aufsatz: Immanuel Kant: „Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur“, in: Berlinische Monatsschrift 19/1 (1792), S. 323385. 14 Brief an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, in: SW9 II, S. 634. 15 Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801, in: SW9 II, S. 677. 16 Brief an Wilhelmine von Zenge, 15. August 1801, in: SW9 II, S. 681. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 682.

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steht aber gerade der höchsten Sehnsucht des Menschen, nämlich seiner Sehnsucht nach Aufklärung, entgegen, denn ohne sie „ist er nicht viel mehr als ein Tier.“19 Aus der Unbegreiflichkeit des höchsten Willens folgert Kleist jedoch, dass alles mehrere Aspekte haben könne. Die Wissenschaften bewahren uns zum Beispiel vom Aberglauben, schreibt er, stürzen uns gleichzeitig aber ins Labyrinth des Luxus. Sie bieten sowohl Tugend als auch Sünde, infolge dessen es auch keine Rolle mehr spielt, ob wir aufgeklärt oder unwissend sind. Noch spricht er es zwar nicht aus, aber schon hier deutet sich der Gedanke an, dass jemand in einer Art böse sein kann, dass er gleichzeitig auch rechtschaffen ist – und umgekehrt. Infolge seiner Ratlosigkeit gelangt Kleist in seinem Brief zu zwei äußerst schwierigen Fragen. Die erste bezieht sich auf die menschliche Verantwortung. Wenn der Mensch noch nicht einmal bei seinem Tod weiß, welche Absicht der Himmel mit ihm verfolgt, „wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen“20, wie kann dann Gott von ihm irgendeine Verantwortung erwarten? Die zweite Frage bezieht sich auf die Relativität menschlicher Entscheidungen und Handlungen. Die innere Stimme, schreibt er, ruft den Christen zur Verzeihung auf, den ‚neuseeländischen Wilden‘ hingegen, seinen Feind aufzufressen. Welcher von beiden handelt richtig, fragt Kleist ratlos. Und seine Ratlosigkeit werde durch die Tatsache nur gesteigert, schreibt er, dass die Weltkugel auch nach den Taten eines Nero, eines Attila oder eines Cartouche oder auch nach dem Grauen der Kreuzzüge und der spanischen Inquisition sich noch friedlich im Weltraum drehe, als sei nichts geschehen, „und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor.“21 In Anbetracht dessen stellt er dann die entscheidende Frage: „Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? A b s o l u t b ö s e? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten.“22 Die Relativität der Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ ist also eine Folge der Unberechenbarkeit des Laufs der Dinge. Doch gerade mit dieser Relativität vermag sich Kleist – und das ist eines der Ergebnisse seiner Kant-Krise – nicht abzufinden. Er will gerade das nicht akzeptieren, was seinen eigenen Folgerungen nach aber das Naheliegendste ist: die Relativität aller Dinge. So gelangt er in seinem Brief schließ-

19 Ebd. 20 Ebd., S. 683. 21 Ebd. 22 Ebd.

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lich zur Frage: „Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort – ?“23 Den Brief schreibt er Wilhelmine, die Fragen stellt er aber sich selbst. Er bekundet seine Sehnsucht nach einem Absoluten, obwohl er sich über das Fehlen eines Absoluten in der Welt völlig im Klaren ist. Er benimmt sich wie Nietzsches ‚toller Mensch‘, der sich bewusst ist, dass Gott tot ist, und dennoch nicht aufhört, ihn mit seiner Laterne zu suchen. Es ist aber verräterisch, dass er, obwohl er den universellen, alles lenkenden Willen als unbegreiflich bezeichnet, nicht auf einen eindeutigen, begreiflichen und zuverlässigen Gott Anspruch erhebt, sondern auf die Absolutheit des Bösen. Früher wäre so etwas unvorstellbar gewesen. Schließlich besteht eine der Grundthesen der christlichen Kultur gerade darin, dass das Böse keine eigene Wirklichkeit besitze und auch kein Urprinzip sei, da dieses nur für das Gute gelte. Das Böse ist ein ‚Nebenprodukt‘ der göttlichen Schöpfung und darum nicht göttlichen Ranges. Indem er die Frage nach der Verabsolutierung des Bösen stellt, folgt Kleist, ohne sich dessen bewusst zu sein, der uralten, gnostischmanichäischen Ansicht, die im Unterschied zur herrschenden christlichen Auffassung die eigenständige Wirklichkeit des Bösen verkündet hat.24 Es ist natürlich klar, dass Kleist nicht das Böse verabsolutieren möchte. Aber als er in seinem Brief seine Enttäuschung über das Fehlen eines Absoluten zum Ausdruck bringt, ist es ebenso klar, dass für ihn auch die Absolutheit des Bösen akzeptabler wäre als die für ihn unerträgliche Relativität aller Dinge. Existiert ein fester, archimedischer Punkt, von dem aus die ganze Welt aus den Angeln zu heben wäre? Das ist die Frage, die Kleist nach seiner Kant-Krise beschäftigt, und in diesen Zusammenhang ist auch die Frage nach dem Bösen zu stellen. Er war natürlich nicht der einzige, der über die Verabsolutierung des Bösen nachgedacht hat. Es finden sich keine Hinweise, dass er vom Marquis de Sade je etwas gelesen oder überhaupt gehört hätte. Letzteres ist natürlich durchaus vorstellbar: De Sade war auch in Deutschland bekannt (Goethe zum Beispiel lieh sich am 22. August 1798 für einen Monat Justine aus der Weimarer Bibliothek aus25), und auch Kleist selbst interessierte sich für Schauerromane und die schwarze Romantik. Erst kurz vor Kleists Ankunft hatte man in Paris de Sade verhaftet (am 6. März 1801), und zwar gerade bei der Lektüre der Druckabzüge von Juliette. Juliette war während Kleists Aufenthalt in Paris ein ständiges Gesprächsthema: 23 Ebd. 24 Vgl. zu den gnostischen Aspekten im Findling: Josef Kunz: „Heinrich von Kleists Novelle ‚Der Findling‘“, in: Festschrift für Ludwig Wolff zum 70. Geburtstag, hg. v. Werner Schröder, Neumünster 1962, S. 341. 25 Stefan Zweifel, Michael Pfister: Pornosophie & Imachination. Sade, LaMettrie, Hegel, München 2002, S. 243.

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Im Verlauf des Jahres 1801 beschlagnahmte die Polizei alle auffindbaren Exemplare des Romans und suchte systematisch nach ihnen. Jedenfalls wirft in Juliette auch de Sade die Frage nach einem ständig wirkenden, absoluten Bösen auf. Lady Clairwil, eine der Romanfiguren, sagt: Ich möchte […] ein Verbrechen finden, das sich ununterbrochen auswirkt, so daß es, selbst wenn ich nicht mehr handeln würde, keinen Augenblick in meinem Leben geben würde, auch nicht, wenn ich schlafe, in dem ich nicht die Ursache irgendeiner Unordnung bin, und daß sich diese Unordnung derart ausbreitet, daß sie eine allgemeine Verderbtheit zur Folge haben würde oder eine so wesentliche Zerrüttung, daß sie sich noch über die Dauer meines Lebens hinaus auswirken würde.26

Es ist ein Leichtes, in Lady Clairwils Bemerkung ihre eigene darunterliegende ‚Kant-Krise‘ zu erkennen, die auch bei ihr die Folge einer verzweifelten Suche nach einem Absoluten ist. De Sade leugnet die Existenz Gottes und erklärt alles mit physikalischen Naturgesetzen. Seine libertären Helden berufen sich stets auf die Natur, wenn sie andere vernichten und Grausamkeiten begehen; dieselbe Natur ist es aber auch, die Juliette aufruft, auch sie, die Natur selbst, zu verletzen, zu versuchen, ihre Gesetze zu überschreiten. Wie Juliette sagt: [U]nd gerade sie [die Natur] würde ich am liebsten verletzen; ich möchte ihre Pläne durchkreuzen, ihren Gang hemmen, den Lauf der Gestirne aufhalten, die im Weltall schwebenden Himmelskugeln durcheinanderwirbeln, alles was ihr nützt, ausrotten, alles was ihr schadet, schützen, alles was sie erzürnt, unterstützen, kurzum, sie in ihren eigenen Werken schmälern, ihrem ganzen großartigen Getue ein Ende machen.27

Und wenn wir lesen: „Die Unmöglichkeit, die Natur zu beleidigen, ist meines Erachtens die schlimmste Qual des Menschen“28, dann hört man darin allzu deutlich die Klage über das Fehlen eines Absoluten.

26 Marquis de Sade: „Die Geschichte der Juliette oder Das Gedeihen des Lasters“, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. v. Marion Luckow, 3 Bde., Hamburg 1962–65, Bd. 3, S. 671f. Vgl. Marquis de Sade: Œuvres complètes, Paris 19661967, Bd. 8, S. 503. 27 Zitiert nach Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1963, S. 107. 28 Ebd.

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III Kleist war bei der Verabsolutierung des Bösen nicht so radikal wie de Sade – da ihn nicht das Böse an sich beschäftigte. Aber in seiner Sehnsucht nach dem Absoluten hätte er in de Sade einen Geistesverwandten erkannt. Zu erwähnen ist aber nicht nur de Sade, sondern auch Matthew Gregory Lewis (1775-1818), der Autor des bedeutendsten Schauerromans The Monk (1796). Ein gutes halbes Jahr nach seinem Pariser Brief vom August 1801 begann Kleist im Frühjahr 1802 in der Schweiz die Arbeit an seinem Stück Die Familie Schroffenstein, dem ersten belletristischen Werk seines Lebens, dessen erste Fassung unter dem Titel Die Familie Ghonorez noch in Spanien spielt. Die spanischen Namen der Figuren dieser Fassung entlieh er höchstwahrscheinlich Lewisʼ Roman, dessen Schauplatz Madrid ist.29 Lewisʼ Buch (das 1800 auch de Sade selbst in seiner Studie Idées sur les romans gelobt hatte) war 1799 gleich zweimal ins Deutsche übersetzt worden, und Kleist hatte vermutlich eine dieser Übersetzungen gelesen. 30 Er konnte von Lewisʼ Werk aber auch von seinem Freund Ludwig Wieland erfahren haben: Zum einen war Lewis früher auch persönlich bei Wielands Vater Christoph Martin Wieland gewesen, der später in Kleists Leben eine wichtige Rolle spielen sollte, zum anderen übersetzte Ludwig gerade während Kleists Aufenthalt in der Schweiz Lewisʼ Stück The Castle Spectre (1797) unter dem Titel Evelina oder das Burggespenst. Von den beiden verfeindeten Vaterfiguren in Die Familie Schroffenstein ist es Rupert, der an Ambrosio, den Protagonisten von Lewisʼ Roman, erinnert. Weniger seiner äußeren Erscheinung als vielmehr seiner angeborenen Verstocktheit wegen. Ambrosio, der Mönch, wird von Lewis so beschrieben: „He looked round him with exaltation, and Pride told him loudly, that He was superior to the rest of his fellow-Creatures“31. Ambrosio fühlt sich als Übermensch. Während diese Position im europäischen Kulturraum früher allein Christus (beziehungsweise seinen irdischen Stellvertretern, den Königen) vorbehalten war, beansprucht sie am Ende des 18. Jahrhunderts das Böse für sich. Dieser Vorgang verläuft parallel zu dem, der auch bei Kleist anklingt – nämlich dem Rückzug und dem Unbegreiflich-Werden Gottes. Im Stück sagt nicht Rupert, sondern der wesentlich nachgiebigere

29 Vgl. Fred Bridgham: „Kleist’s Familie Schroffenstein und ‚Monk‘ Lewis’s Mistrust. Give and Take“, in: The Novel in Anglo-German Context. Cultural Cross-Currents and Affinities, hg. von Susanne Stark, Amsterdam 2000, S. 76. 30 Zu den Parallellen zwischen Kleist und Lewis vgl. Peter K. Jansen: „‚Monk Lewis‘ und Heinrich von Kleist“, in: KJb 1984, S. 2554. 31 Matthew Gregory Lewis: The Monk, Oxford 2008, S. 3940.

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Sylvester Folgendes zu Jeronimus, den Rupert später mit sadistischer Wonne niedermetzeln wird: „Ich bin dir wohl ein Rätsel? / Nicht wahr? Nun, tröste dich, Gott ist es mir“.32 Was Sylvester ausspricht, ist für Rupert eine elementare Erfahrung. Weil Gott sich vor ihm verbirgt, benimmt er sich als Übermensch. Deshalb ist das Böse bei ihm bodenlos, grundlos. Er ist jene Ausnahmegestalt in Kleists Werk, in der sich das ‚radikale Böse‘ Kants verkörpert.33 Vergeblich hofft seine Frau Eustache, dass Rupert, aus dessen Gesichtszügen ein Engel zu ihr spricht34, nicht erdulden werde, dass der Teufel Besitz von ihm ergreift, Rupert gehorcht ausschließlich seinem eigenen teuflischen Ich. Als er ins Wasser der Quelle blickt, sagt er: „Eines Teufels Antlitz sah / Mich aus der Wellen an“35. Als er erfährt, dass Agnes, die Tochter seines Gegners Sylvester, in die Berge kommt, jubelt er: „So führ ein Gott, / So führ ein Teufel sie mir in die Schlingen, / Gleichviel. Sie haben mich zu einem Mörder / Gebrandmarkt boshaft, im voraus“36. Gott oder Teufel – es läuft auf dasselbe hinaus. Für Rupert ist der Teufel Gott und Gott der Teufel. Man hat ihn lange im Voraus gebrandmarkt und als böse abgestempelt – nun kann die menschliche Welt ihre Entscheidung nicht mehr ändern. Das Böse bei Rupert ist nicht Teil der menschlichen Welt, sondern von ihr unabhängig, ein universelles Prinzip. Der Einfluss von Lewisʼ Monk läßt sich auch in späteren Werken Kleists feststellen. Als zum Beispiel die erboste Menge im Monk die Äbtissin erschlägt, lesen wir: „They beat it, trod upon it, and ill-used it, till it became no more than a mass of flesh, unsightly, shapeless, and disgusting.“37 Das erinnert an die Schlussszene im Erdbeben in Chili, an den kleinen Juan mit seinem verspritzten Gehirn auf den Steinen vor der Kirche. Zwar verdient im Gegensatz zu Juan die mörderische Äbtissin in Lewisʼ Roman ihr Schicksal – doch lenkt die Ähnlichkeit des Naturalismus und der physischen Brutalität beider Szenen die Aufmerksamkeit von der Frage nach Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ab und gewährt

32 Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein“, in: SW9 I, S. 93, Vs. 121314. 33 Man könnte noch Meister Pedrillo in der Erzählung Das Erdbeben in Chili zu ihm gesellen, allerdings ist dieser im Gegensatz zu Rupert eine Nebenfigur, deren Bosheit sich ausschließlich auf den Ausgang der Geschichte auswirkt, nicht auf die Geschichte als Ganze. 34 Kleist: „Die Familie Schroffenstein“ (wie Anm. 32), S. 120f., Vs. 192630. 35 Ebd., S. 132, Vs. 222930. 36 Ebd., S. 133, Vs. 224649. 37 Lewis: The Monk (wie Anm. 31), S. 3940.

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stattdessen einen Einblick in die unkontrollierbaren Triebfedern menschlichen Verhaltens.38 Eine noch auffälligere und tiefer gehende Parallele lässt sich zwischen Lewisʼ Luzifer und Nicolo im Findling beobachten. Als im Monk einmal Luzifer beschworen wird, erscheint er zur großen Überraschung (und Erleichterung) Ambrosios nicht in Gestalt eines behuften und abstoßenden Teufels: He beheld a Figure more beautiful than Fancyʼs pencil ever drew. It was a Youth seemingly scarce eighteen, the perfection of whose form and face was unrivalled. He was perfectly naked … his silken locks were confined by a band of many-coloured fires, which played round his head … He could not but remark a wildness in the Daemonʼs eyes, and a mysterious melancholy impressed upon his features, betraying the Fallen.39

Diesem Luzifer ähnelt Nicolo äußerlich, obwohl ihn der Erzähler im Alter von erst vierzehn Jahren zeigt. Piachi sieht ihn so: Er war von einer besondern etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hingen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend, das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte.40

Als wäre auch hier Luzifer erschienen – aber der Luzifer, der aus dem Paradies vertrieben wurde und der nicht die Verkörperung des Urbösen ist, sondern ein Opfer des Urguten (Gottes). Diese Ambivalenz – das Böse und das Opfer zugleich zu sein – macht Nicolo zu einem wesentlich komplexeren Charakter als Rupert. Lange war Nicolo nach allgemeiner Auffassung die Verkörperung des Bösen, die finsterste Gestalt in Kleists Werk. Erst in den 1970er Jahren änderte sich das, wich die moralische Meinungsbildung der Untersuchung des komplexen Beziehungsgeflechts zwischen den Figuren.41 Seitdem ist es schwer, die Figuren in gute und böse aufzuteilen; vielmehr handelt es sich dabei um eine in einer Familie zusammengeschlossene Gemeinschaft, deren Mitglieder alle in einer für sie undurchschaubaren Falle zappeln.

38 Zu weiteren Parallelen zwischen The Monk und Das Erdbeen in Chili: vgl. Jansen: ‚Monk Lewis‘ (wie Anm. 30), S. 42–48. 39 Lewis: The Monk (wie Anm. 31), S. 276f. 40 Heinrich von Kleist: „Der Findling“, in: SW9 II, S. 200. 41 Zu erwähnen ist vor allem: Jürgen Schröder: „Kleists Novelle ‚Der Findling‘“, in: KJb 1985, S. 109–127.

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Nicolo, der dem Nichts, also dem Schlund des Todes (der Pest) entsteigt, um am Ende (mit verspritztem Gehirn) wieder im Nichts, also im Schlund des Todes, zu verschwinden, begegnet, wohin er sich auch wendet, dem Tod. Aber es gibt ein entscheidendes Moment. Es ist zwar unbestreitbar, dass er mit dem Tod anderer (Paolo, Constanza Parquet, sein eigenes Kind, Elvira, Piachi) in unmittelbarem Zusammenhang steht. Doch spielt in seinem Leben auch der weit in der Vergangenheit liegende Tod Colinos, eines ihm fremden Mannes, eine wichtige Rolle. Dieser löst nämlich die Ereigniskette aus, in die Nicolo unschuldig hineingerät und deren passives Opfer er wird. Elvira hat Colinos Tod nie verwinden können; das junge, bürgerliche Mädchen, das seine aristokratische Liebe verloren hatte, war von seinen Eltern achtzehnjährig mit dem deutlich älteren (bürgerlichen) Händler Piachi verheiratet worden – der mit einundfünfzig Jahren jedoch noch nicht zu alt wäre, um seiner Frau ein Kind zu zeugen. Dazu kommt es jedoch nicht – vermutlich entsteht zwischen den beiden überhaupt keine sexuelle Beziehung. Dennoch lebt Elvira ein intensives Sexualleben, indem sie sich vor dem Gemälde ihres verstorbenen Geliebten regelmäßig befriedigt. Neben dem frustrierten Vater und der ihn abweisenden Mutter ist Nicolo der einzige, der ein ‚normales Sexualleben‘ führt. Zwar wird ihm sein Hang zum weiblichen Geschlecht als Fehler angekreidet – allerdings nicht vom Erzähler, sondern von Elvira! Nicolo ist in Wahrheit keineswegs flatterhaft: Er bleibt Xaviera Tartini bis zum Ende treu. Und als sich die Spannung zwischen ihm und seiner Stiefmutter entlädt, entsteht in Wirklichkeit nur eine erotische Zuneigung zwischen einem einundzwanzigjährigen Jungen und einer achtundzwanzigjährigen Frau – eine Zuneigung, die vermutlich beiderseitig ist, da Elvira ausgesprochen empfindlich reagiert, als sie eine ihr unbekannte Frau aus Nicolos Zimmer kommen sieht. Und als in der letzten großen Szene Nicolo wie Tartuffe seinen eigenen Pflegevater des Hauses verweist, wird er nicht unbedingt vom Bösen, sondern vom Überdruss an langjährigem Ausgeliefertsein und Verdrängung übermannt. Dieser Augenblick bringt für ihn das Fass zum Überlaufen – seine maßlose Frustration schlägt in einen ebenso maßlosen Tatendrang um, wie das später bei Piachi der Fall ist, als er Nicolo brutal ermordet. Er vergewaltigt Nicolo regelrecht (nachdem er Nicolos Gehirn an der Wand verschmiert hat, zwingt er seinen Körper zwischen seine Knie und stopft ihm das Dekret in den Mund) – er tut mit ihm, was er lange Jahre nur allzu gern mit Elvira getan hätte, von deren einsamen Selbstbefriedigungen er gewusst haben muss. Und am Ende der Geschichte möchte Piachi zur Hölle fahren, da er das Gefühl hat, dass seine Rache noch nicht vollendet ist. Es ist aber keineswegs gewiss, dass er dort Nicolo antreffen wird. Der Erzähler sagt dazu nämlich nichts – nur Piachi meint, dass Nicolo dort unten sei. Es ist aber gut vorstellbar, dass Piachi, hätte

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Kleist die Erzählung fortgesetzt, auf dem untersten Grund der Hölle nicht Nicolo, sondern seine eigene Frau vorgefunden hätte. In dieser Erzählung erscheint das Böse also keineswegs universell und vor allem nicht als metaphysisches Urprinzip. Kleist interessiert sich hier nicht für das Böse an sich, sondern dafür, wie eine bürgerliche Familie, die, während sie zunehmend funktionsunfähig wird, bei all ihren Mitgliedern immer mehr Fehltritte und Fehlentscheidungen hervorruft. Die Figuren sind nicht böse, sie zappeln nur in Fallen, in denen sie, was sie auch tun mögen, nicht richtig handeln können. Alles artet ins Abnormale aus, nichts ist einseitig, keiner kann irgendwelchen Erwartungen entsprechen. Nichts als Unart. Nicolo hat eine auffällige Ähnlichkeit zu Luzifer in Lewis’ Roman, wobei man hinzufügen sollte, dass auch Lewis’ Luzifer nicht mehr mit dem Teufel im herkömmlichen Sinn identisch ist. Er ist kein behuftes, mit Hörnern versehenes Wesen, sondern beginnt den Menschen zu ähneln, die es deshalb immer schwerer haben, ihn zu erkennen, wenn er unter ihnen erscheint – in ähnlicher Weise wie der Teufel in Adelbert von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) die Gestalt eines unauffälligen, durchschnittlichen, grauen Mannes annimmt. Zum Ende des 18. Jahrhunderts hat der Teufel die Bühne der traditionellen Metaphysik endgültig verlassen und sich in der Welt der Menschen eingerichtet.

IV Innerhalb dieser Menschenwelt wurde aber vor allem die Seele zu seinem vertrautesten Terrain. „Wir sind unsere eigenen Teufel, wir vertreiben uns aus unserem Paradiese“, schrieb der damals kaum achtzehnjährige Goethe in einem Brief vom Herbst 1767.42 Diese Bemerkung hätte Kleist als Leitfaden dienen können. Denken wir an Graf F... in der Erzählung Die Marquise von O...., von dem es bei seinem ersten Erscheinen heißt: „Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein“43. Wie eine wahrhaftige Vision kommt er der halb bewusstlosen Marquise vor – und missbraucht gerade diese engelhafte Erscheinung, wenn er teuflisch wird. Zumindest in den Augen der Marquise – denn so wie sie den denkwürdigen ‚Dritten‘ sieht („auf einen Lasterhaften war ich gefasst, aber auf keinen - - -

42 Brief an Ernst Wolfgang Behrisch, 10.–14. November 1767, in: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter, Berlin 2008ff., Bd. 1,I: 23. Mai 1764 – 30. Dezember 1772, hg. v. Elke Richter und Georg Kurscheidt, Berlin 2008, S. 111–118, hier S. 115. 43 Heinrich von Kleist: „Die Marquise von O....“, in: SW9 II, S. 105.

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Teufel!“44), stellt ihn der Erzähler dem Leser nie dar. Er zeichnet ihn weder als Engel noch als Teufel, sondern als einen höchst unsicheren, von Gewissensbissen bedrängten Mann, der zu allem Überfluss auch noch seinen eigenen Begierden ausgeliefert ist; als einen Engel also, der auch ein teuflisches Ich hat. Er beschreibt ihn als die Verkörperung der Gespaltenheit. Graf F... wird zwischen dem Oben und dem Unten hin- und hergerissen – etwa so wie die vier Brüder in Die heilige Cäcilie, die einen Frevel gegen Gott planen, dann aber gerade der göttlichen Intervention zum Opfer fallen. Ihr Lied, das sie um Mitternacht brüllend von sich geben, ähnelt dem Lied der zur ewigen Verdammnis verurteilten Sünder, das „aus dem tiefsten Grund der flammenvollen Hölle, jammervoll um Erbarmung zu Gottes Ohren heraufdrang“45. Es sind Söhne der Hölle – jedenfalls nach Ansicht des Tuchhändlers Veit Gotthelf, einer der Figuren in der Erzählung, der noch hinzufügt, dass in den vier Jungen „ohne Zweifel der böse Geist walten müsse“46. Bemerkenswerterweise überlässt der städtische Magistrat die Untersuchung des „bösen Geistes“ denn auch nicht den Priestern und Theologen, sondern den Ärzten, auf dessen Rat die Brüder in die städtische Nervenheilanstalt eingesperrt werden. Das Böse hat die Gestalt der Nervenkrankheit angenommen. Kleist säkularisierte das Böse und den Teufel in einer Weise, dass er dabei auch sein eigenes Bedürfnis nach einem Absoluten zu berücksichtigen versuchte. Einerseits wurde das Böse zu einer Begleiterscheinung der Psychologie und des menschlichen Verhaltens, andererseits behielt es aber auch seine metaphysischen Dimensionen bei. Die Gespaltenheit, die viele seiner Helden kennzeichnet, ist also nicht nur ein psychisches Symptom, sondern auch ein charakteristischer Ausdruck der Struktur der Welt. Wer ein Gefangener seiner Gespaltenheit ist, muss die Schuld daran nicht nur sich selbst geben, er kann sie, wie es Kohlhaas tut, auch auf „die gebrechliche Einrichtung der Welt“47 zurückführen. Das charakteristischste Beispiel in diesem Zusammenhang stellt Amphitryon dar. Aber auch im Zerbrochnen Krug, wo der Teufel ebenso oft erwähnt wird wie in Amphitryon, sind Teufel und Sündenfall einem relativ einfachen Schema unterworfen. Die Figuren sprechen in leicht dekodierbaren, oft wie Wortspiele funktionierenden Rebussen vom Teufel, und sobald der Leser/Zuschauer den Schlüssel zu ihrer Lösung (Richter Adam = Teufel, sein Sturz = der Sündenfall, Eve = die Unbeflecktheit) gefunden hat, wartet die Innenwelt der Figuren nicht 44 Ebd., S. 141. 45 Heinrich von Kleist: „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“, in: SW9 II, S. 223. 46 Ebd., S. 224. 47 Ebd., S. 15.

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mehr mit allzu vielen Komplexitäten auf. Eine Ausnahme bildet nur Eve, insofern das Böse ihre (paradiesische) Unschuld dadurch gefährdet, dass es sie in Ungewissheit stürzt. Wenn aber eine Figur ihre Selbstgewissheit (genauer gesagt: die sicheren Anhaltspunkte) verliert, findet Kleist sofort seine wahrhaft Kleist’sche tragische Stimme. Etwa zur gleichen Zeit wie den Zerbrochnen Krug schrieb er Amphitryon, dessen Heldin Alkmene in eine ähnliche Ungewissheit gestürzt wird wie Eve. Der Unterschied besteht darin, dass um Alkmene herum die ganze Welt, Himmel wie Erde, durcheinander gerät, während im Zerbrochnen Krug die Welt ringsum noch relativ geordnet ist und höchstens durch Funktionsfehler gestört wird, die sich durch entsprechende Mittel leicht beheben lassen. Kann überhaupt jemand die Ordnung herstellen, wenn auch diejenigen, die für die Ordnung verantwortlich sind, verwirrt sind? In Amphitryon sind es die Götter selbst, die ein richtiges Höllenstück bereiten. Götter, die in den Augen der Menschen jedoch Teufeln ähneln. Sie kommen von oben, vom Olymp, und sind doch lauter Höllenwesen. Alle haben sie ein doppeltes Gesicht – das Böse als solches, in seinem wahren Wesen, ist ebenso schwer zu fassen wie jene ‚letzte Wahrheit‘, die Kleist seit seiner Kant-Krise so vermisst. Anfangs halten die Irdischen die Machenschaften der Himmlischen, die sie nicht durchschauen, für Blendung. Aber sie spüren von Beginn an, dass nicht nur die Welt zerrüttet, sondern auch ihr eigenes Geistesheil bedroht ist. Bei ihrer ersten Begegnung sagt Sosias über Merkur: „Wer, Teufel, hat den Kerl mir dort geboren?“48 Kleist übersetzt hier Molière wörtlich: „Quel diable d’homme est-ce ci?“49 Doch dann fügt er zwei Zeilen hinzu, die sich im französischen Text nicht finden: „Hätt ihn die Hölle ausgeworfen, / Es könnte entgeisternder mir nicht sein Anblick sein“50. Sosias spürt genau, dass Merkur ihn nicht nur seines Äußeren beraubt, sondern sich auch in seiner Seele einnistet: Er beraubt ihn seines Geistes. Später erkennt er in Merkur schon sein eigenes Ich: „dies Teufels-Ich“51, sagt er über ihn. Bei Molière findet sich dieser prächtige und treffende Ausdruck ebenso wenig wie das Wort „Teufelswein“52. An der Stelle, wo Merkur zu Charis sagt, sie hätten wohl einen teuflischen Wein getrunken, steht im französischen Text nur: „Nous avions bu de je ne sais quel Vin“53. Bei Molière bleibt der Teufel vor allem eine rhetorische Figur (wobei er, meist ‚diable d’homme‘ genannt, mit einer Reihe großartiger Ausdrücke bedacht wird), 48 Heinrich von Kleist: „Amphitryon“, in: SW9 I, S. 251. 49 Molière, „Amphitryon“, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Georges Forestier, Bibliothèque de la Pléiade, 2. Bde, Paris 2010, Bd. 1, S. 843−934, hier S. 861. 50 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 48), S. 251. 51 Ebd., S. 270. 52 Ebd., S. 279. 53 Molière: „Amphitryon“ (wie Anm. 49), S. 898.

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bei Kleist hingegen fühlen sich die Protagonisten tatsächlich vom Teufel besessen. Als Sosias Merkur als ‚Teufels-Ich‘ bezeichnet, bleibt es unklar, ob er jenen oder sich selbst meint – denn sie gleichen einander bis aufs Haar. Merkur wird Sosiasʼ Doppelgänger. Und wenn Merkur ein ‚Teufel‘ ist, dann wird auch Sosias teuflisch – obwohl er sich gerade davor am meisten fürchtet. Merkur hat Sosias seiner Identität beraubt – wie Jupiter Amphitryon der seinen. Der Teufel bedroht sie nicht nur von außen, sondern zerreißt sie auch innerlich. Diese Zerrissenheit äußert sich in Sosias, als er zu seinem Herrn, der sich in einer ähnlichen Lage befindet, sagt: „Das andre Ich, das andre Ihr Bedienter/ Vom Teufel wieder völlig wars besessen,/ Und kurz ich bin entsosiatisiert,/ Wie man Euch entamphitryonisiert“54. Anfangs ist auch Amphitryon arglos und glaubt, es handele sich um eine leicht zu entwirrende, teuflische List, die ihn innerlich unberührt lässt. Er fordert Sosias auf, ihm alles zu erzählen: „Ich muß dies Teufelsrätsel mir entwirren“55, sagt er, und bei Molière fehlt auch das Wort ‚Teufelsrätsel‘. Doch bald wird ihm klar, dass er zum Gefangenen des „Höllengeistes“56 geworden ist. „Ein leidiges Höllenstück des Satans“57 sei es, einen Mann seiner Gestalt und seiner Frau zu berauben (auch dieser Ausdruck fehlt bei Molière). Sowohl bei Amphitryon als auch bei Sosias bieten sich für die Ereignisse drei Erklärungen an: Sie sind verrückt geworden, sie träumen oder sie sind betrunken. In allen drei Fällen befänden sie sich in einem Zustand, in dem sie nicht Herren ihres Selbst sind – in dem die Gesetzmäßigkeit des cartesianischen cogito also außer Kraft gesetzt ist. Die Grenzen der Persönlichkeit verlaufen nicht dort, wo das Bewusstsein sie gern ziehen möchte. Wird der Mensch damit konfrontiert, hat er zu Recht das Gefühl – mit Freud gesprochen –, nicht mehr „Herr in seinem eigenen Haus“ 58 zu sein, das heißt seines eigenen Ichs beraubt zu sein. So ergeht es Amphitryon, der auch physisch aus seinem eigenen Haus ausgesperrt wird. Verständlicherweise richtet seine Frau die Frage an ihn: „Hat dir ein böser Dämon das Gedächtnis / Geraubt?“59 Im französischen Text klingt das wesentlich harmloser: „Est-ce qu’une vapeur, par sa malignité,/ Amphitryon, a dans votre Âme,/ Du retour d’hier au soir, brouillé la vérité?“60 ‚Vapeur‘ entspricht bei Molière ‚humeur‘, also Körpersaft; bei Kleist hingegen weitet sich die körperliche, also physische Erklärung ins Metaphysische aus. Jupiter selbst 54 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 48), S. 313. 55 Ebd., S. 266. 56 Ebd., S. 312. 57 Ebd., S. 298. 58 Sigmund Freud: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1917), S. 1–7, hier S. 7. 59 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 48), S. 272f. 60 Molière: „Amphitryon“ (wie Anm. 49), S. 888.

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wird es vollenden. In der großen Szene des zweiten Aktes, die gänzlich Kleists Erfindung ist, bezeichnet Jupiter Alkmene als Heilige, da sie ohne Sünde sei. Selbst wenn bei ihr ein Teufel erschienen wäre und sie mit dem Schlamm der Sünde aus der Hölle besudelt hätte, wäre sie noch unbefleckt geblieben, versichert er ihr bezüglich ihres Zusammenseins am Tag zuvor.61 Was Alkmene nur empfindet, Jupiter hingegen weiß: Sie ist in Gestalt Amphitryons tatsächlich vom Teufel besucht worden. Das macht die Lage völlig verworren: Amphitryons Gestalt wurde von Jupiter entwendet, Jupiters hingegen von dem in ihm verborgenen Satan. Und das macht den höchsten Gott genauso gespalten wie jene, die er selbst in die Gespaltenheit gestürzt hat. In der letzten Szene spricht Alkmene von einer „Höllennacht“62. Diese Nacht steht für die völlige Verlorenheit und Zerrissenheit der Seele. Alkmene verflucht ihren Mann dafür, dass er sie unter dem Schleier der ‚Höllennacht‘ überwältigt hat. Aber noch während sie von ihrem Irrtum spricht, den sie endlich eingesehen hat, fällt sie dem allergrößten Irrtum anheim, der nur damit enden kann, dass sie ohnmächtig wird. Sie sinkt gerade dem in die Arme, der ihr am hassenswertesten erscheint. Amphitryon handelt vom Kolonisierungsfeldzug des Bösen. Allen Amphitryon-Geschichten und -bearbeitungen liegt eine große, auch heute noch aktuelle Frage zugrunde: Ist das Leben des Menschen in einen tieferen, transzendentalen Zusammenhang eingebettet oder nicht? Und das führt uns zu Kleists ‚Kant-Krise‘ von 1801 zurück. Seine Antwort in Amphitryon lautet: Ja, unser Leben ist in ein größeres Ganzes eingebettet, nur sind wir nie in der Lage, es zu begreifen, zu durchschauen. Und so erscheint gerade das am gefährlichsten für den Menschen, wonach er sich am meisten sehnt: die Transzendenz. Nicht weil die Transzendenz alles um sich verzehrte oder versengte, sondern weil man, obwohl man ihrer Existenz gewiss ist, sie dennoch nie fassen kann. In Kleists Stück liegt die Betonung weder darauf, dass zwei Menschen einander schauspielernd nachahmen (wie bei Plautus), noch auf ihrer komischen Ähnlichkeit zueinander (wie bei Molière), noch auf der schaudererregenden doppelten Existenz eines Menschen (wie in der Doppelgänger-Thematik), sondern auf der Unmöglichkeit der eindeutigen Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘. Diesen Zustand der Gespaltenheit eines Menschen bezeichnet bei Kleist das Böse. Es umfasst alle in einer Weise, dass am Ende auch die Eroberer von ihm nicht verschont bleiben: alle fallen ihm zum Opfer. Das Böse in Amphitryon besteht nicht in der Manifestation der bösen Absichten, ist weder eine moralische noch eine theologische Kategorie. Es ist vielmehr ein allgemein-menschlicher Zustand, die condition humaine. Das Böse wirkt hier wie ein unpersönliches ‚Man‘, 61 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 48), S. 286. 62 Ebd., S. 316.

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dessen Einfluss sich niemand entziehen kann. Es ist jenes ‚absolute Böse‘, das Kleist in seinem Brief vom 15. August 1801 zitiert. Erst in Amphitryon ist seine Kant-Krise von einst vollends herangereift: Er zeigt eine Welt, in der jede Gewissheit für immer abhandengekommen ist. Und doch müsste ihn dieser völlige Mangel mit einer Art Befriedigung erfüllt haben: Da war es also, das Absolute, nach dem er sich stets gesehnt hatte – auch wenn es das Absolute des Mangels war.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma.

2. Reproduktion und Repräsentation

Urszenen der Zerreißung Zur Überschreitung von Gattungsgrenzen in Penthesilea A NDREA A LLERKAMP

Z ERRISSENES G EWÖLK Eines der merkwürdigsten Dramen, die je geschrieben wurden, ist vermutlich Penthesilea: „Penthesilea, / Wie Sturmwind ein zerrissenes Gewölk“1. Ein Hinweis auch auf die auratische Wirkung des Stücks. Für Peter Michalzik ist Penthesilea ein „Stück Raserei“2. Vor Interpretationen, „die ihr Telos in einer Explikation der Handlung oder einer Beschreibung der Charaktere haben“3, müsse gewarnt werden, so Roland Reuß. Die eigentliche Handlung erfährt man aus Mauerschau und Botenbericht, den Figuren fehlt es an psychologischer Tiefe, ihre rhetorischen und künstlichen Reden legen befremdliche Sprachgebärden frei. Reuß dechiffriert die Angabe „Scene: Schlachtfeld bei Troja“ und kommt zum Schluss, Penthesilea sei ein aporetisches Geklüft. Bereits der zweite Auftritt der Amazonenkönigin spielt in einer zerklüfteten Gegend, wo „[j]edwede[r] Weg zur Rettung“ versperrt ist.4 Das dort drei Mal genannte Wort Geklüft findet sich spiegelsymmetrisch im vorletzten Auftritt wieder, der berühmten Aktaionszene der Zerreißung, in der Achill „[g]leich einem jungen Reh, […] im Geklüfft / Fern das Gebrüll des grimmen Leu’n vernimmt“5. 1

Heinrich von Kleist: „Penthesilea“, in: BKA I/5, S.10.

2

Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher, Berlin 2011, S. 311.

3

Roland Reuß: „‚Im Geklüft‘. Zur Sprache von Kleists ‚Penthesilea‘“, in: Brandenburger Kleist-Blätter, 5/1992, S. 3–27, hier S. 24.

4

Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 20: „Siegreicher Amazonen, ins Geklüft, / Jedweden Weg zur Rettung ihm versperrend“; S. 21: „An dem Geklüfte auf und nieder streifend“; S. 22: „Von ragendem Geklüfte rings geschreckt“.

5

Ebd., S. 162.

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Der Vergleich mit Wettereinbrüchen und Steinformationen deutet an, dass einiges auf dem Spiel steht. In Kleists antikisierender Antwort auf das bürgerliche Trauerspiel6 werden Urszenen von Barbarei und Zivilisation im Plural verhandelt.7 Höhepunkt der Handlung ist die Zerreißung des Kriegers Achill. Weil Penthesilea Liebe mit Kannibalismus verwechselt, zerreißt sie, „den grimm’gen Hunden beigesellt“8, ihren Auserwählten. Das permanente Kriegsszenario überfordert die Bühnendarstellung, die Vielzahl der Teichoskopien treibt die Einheit des Dramas an Darstellungsgrenzen. Kleists Urszenen der Zerreißung weisen auf eine Unwahrscheinlichkeit des Geschehens hin. Zerreißung ist überall am Werk: in den Gesten der Figuren, in den Bildern der Sprache, in der Verdichtung der Zeit, in der Agonalität des Geschehens, im Gewebe des Textes. Das Tragische der Tragödie ist ihr Exzess, ihr nicht aufzuhaltender Modus einer andauernden Überschreitung von Gattungen. Ob es sich um Grenzen zwischen Tragödie und Komödie, Mensch und Tier, Frau und Mann handelt, in Penthesilea geraten gattungsgeschichtliche Merkmale zwischen genre und gender ins Gleiten. Das Stück verhandelt sowohl einen Zustand als auch einen Akt: Zerrissen zu werden oder zu sein, ist hier die Frage. Mit der Aufmerksamkeit für Zerreißung und Zerrissenheit tritt ein zentrales Symptom zutage, das es ermöglicht, die Krisenanfälligkeit ästhetischer und zivilisatorischer Prozesse sichtbar zu machen. Denn sowohl Zerreißung als auch Zerrissenheit zeigen exemplarisch, wie es um die Gattung Mensch bestellt ist. In Penthesilea bedingen sich zwei Grenzüberschreitungen: die poetologische und die anthropologische. Trotz oder gerade aufgrund seiner ästhetischen Kompensationsstrategien, die uns der wilde Ursprung der Tragödie vor Augen führt, ist und bleibt der Mensch barbarisch. Die kulturkritischen Folgen dieser Einsicht haben nicht nur Kleist beschäftigt, sie wurden europaweit diskutiert. Im Folgenden kommen Philosophen wie Montaigne, Rousseau, Kant oder Simmel, Anthropologen wie Claude Lévi-Strauss oder Jean-Pierre Vernant und Philologen wie Friedrich Ohly oder Walter Burkert zu Wort. Gemessen an philosophischen Gattungen wie 6

Zum „antiklassizistischen Rückgriff auf die Antike“ vgl. Maximilian Nutz: „‚Erschrecken Sie nicht, es läßt sich lesen‘. Verstörung und Faszination in Diskurskontexten – zur Rezeptionsgeschichte von Kleists Penthesilea“, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. v. Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 200–223, hier S. 200.

7

Der Titel meines Beitrags grenzt sich von einem singulären Verständnis der Urszene ab. Zwar schlagen Kleists Urszenen genauso plötzlich und traumatisch ein wie die Urszene in der Psychoanalyse oder die Schlüsselszene im Film. Sie wuchern aber dichterisch weiter, sind diffus, unbestimmt und flüchtig.

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Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 160.

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Rousseaus Diskurs, Kants Abhandlung oder Montaignes Essai, besteht Kleist auf Literatur. Praktiken der Zerreißung sind in die Logik des Dramas eingelassen. Die Verinnerlichung der künstlerischen Zerrissenheit ist darüber hinaus Teil einer tragischen Zerreißprobe. In der Nachfolge der Ilias zeigen die archaischen Jagd- und Bestattungs-Praktiken in Penthesilea eine besondere Grausamkeit, die mit dem verweigerten Gedenken an die Toten zusammenhängt. Die hier dargestellten Übergriffigkeiten führen nicht nur zu ältesten Quellen der Kulturgeschichte, zu Rohem und Gekochtem, zurück, sie drängen auch auf Grenzüberschreitungen zwischen Worten und Bildern. Denn statt „die bildliche Sprache durch eine radikale, vermeintlich unzweideutige Literarisierung zu ersetzen“, verfolgt Kleists Stück, so Michel Chaouli, „das weit schwierigere und radikalere Ziel, das Bildliche im Wörtlichen sichtbar zu machen.“9 Dass Bildliches und Wörtliches sich stützen, „gerade weil sie sich gegenseitig zum Stürzen zu bringen versuchen“, diese „stetig schrumpfende Distanz“ ist womöglich „die wichtigste und zugleich entsetzlichste Obsession des Stückes.“10 Der körperliche und metaphorische Akt der Zerreißung irritiert eindeutige Klassifizierungen, was Folgen für die Auffassung des Tragischen hat. Untergraben sind gleichermaßen zivilisatorische (Barbarei und Sittlichkeit) wie poetologische (Tragödie und Komödie) Gewissheiten. Sind Kleists Bilder, Figuren und Szenen obszön, d.h. unanständig, unsittlich, anstößig oder unzüchtig? Eine etymologische Spur des Obszönen führt zum lateinischen ob scaenum – also zu dem, was außerhalb der Szene liegt und hinter den Kulissen bleibt, was im Theater nicht gezeigt werden darf oder kann. Das Obszöne beginnt dort, wo die Repräsentation versagt: in der Darstellung von Sexualität, Verbrechen, Horror, Grausamkeit und Gewalt. Oft wird Obszönität durch das Schöne ‚gerettet‘. Lässt sich im „ausgespannten Musternetz“11 des Trauerspiels Penthesilea, in dem die exzessive Häufung von Teichoskopien und Botenberichten auf ein Außerhalb der Bühne weist, eine Ästhetik des Obszönen ausmachen? – Penthesilea. Ein Trauerspiel. – Die Ankündigung im Untertitel des Stücks löst Erwartungen aus, die enttäuscht werden könnten: „Indem der Text seine Gattung markiert, entledigt er sich dieser Markierung zugleich.“12 Dem Gebot, die Gattungen nicht zu vermischen, steht das Gesetz der Unreinheit, der Kontamination 9

Michel Chaouli: „Die Verschlingung der Metapher. Geschmack und Ekel in der Penthesilea“, in: KJb 1998, S. 127–149, hier S. 129.

10 Ebd., S. 133. 11 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1) , S. 131, Vs. 2188: „Die ganze Welt / Lag wie ein ausgespanntes Musternetz / Vor mir“. 12 Jacques Derrida: „Das Gesetz der Gattung“, in: Ders.: Gestade, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1994, S. 245–283, hier S. 260.

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gegenüber oder auch, wie Derridas Dopplung im „Gesetz des Gesetzes der Gattung“ deutlich macht, „eine Ökonomie des Parasitären“13. Die Kontamination von unvereinbaren Gegensätzen bringt Überlappungen von genre und gender, von Gattung und Geschlecht, hervor. Kleists oft zitierte Selbstcharakterisierung im Bild der Schwester, die mit ihrer Ähnlichkeit zu beiden Geschlechtern eindeutige Zuordnungen erschwert wenn nicht gar unmöglich macht,14 bringt diese Irritation über den „Mißgriff“15 der Natur, die mit ihren genealogischen Verwandtschaftsverhältnissen klare Gattungsgrenzen erschwert, in einer brieflichen Adressierung zum Ausdruck.16

G ESETZ

DER

G ATTUNG

Welches „Gesetz der Gattung“ bestimmt das Trauerspiel Penthesilea? Rüdiger Campe hat hier eine Typologie ausgemacht: einerseits gibt es das Natur-Gesetz der griechischen Rechtsordnung, andererseits die Biopolitik des Amazonenstaates.17 Die drastische Darstellung einer Hetzjagd zweier sich im Krieg Liebenden mündet in den wilden Ursprung der Tragödie. Kleist ruft damit nicht allein die von Klassizismus und Romantik verdrängte dunkle und/oder barbarische Seite der Antike auf, sondern vor allem die Verschlingung als eine der unheimlichsten

13 Ebd., S. 252. Dass es keine Urgattungen und eindeutige Zugehörigkeiten gibt, diskutiert Derrida unter dem Begriff der „Gattungsklausel“. 14 Vgl. den Brief an Adolphine von Werdeck, 28. Juli 1801, in: DKV IV, S. 248–254, hier S. 253: „Aber welchen Mißgrif hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, das weder Mann noch Weib ist, u gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt?“ 15 Ebd. 16 Zur Gattung Brief vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band. Kleists Adressierung ist auch epistemologisch interessant. Dass Wissensordnungen nicht hierarchisch geordnet, sondern sich analog geschwisterlich, ähnlich zueinander verhalten, weil sie miteinander verwandt sind, betont nicht erst Walter Benjamin mit seinem Kritikbegriff, sondern schon Baumgarten mit seiner Begründung der philosophischen Ästhetik. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica / Ästhetik, hg. u. übers. v. Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, S. 17, § 13: „Unsere Ästhetik ist, gleichwie die Logik, ihre ältere Schwester THEORETISCH, lehrend, allgemein […].“ 17 Rüdiger Campe: „Zweierlei Gesetz in Kleists Penthesilea. Naturrecht und Biopolitik“, in: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. dems., Freiburg i. Br. 2008, S. 313–341.

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Beziehungen, die der Mensch zu sich selbst und zu anderen unterhält. Vergleichbar mit der widersprüchlichen Spannung zwischen den von Campe identifizierten Gesetzen führt die Zerreißung und Verschlingung bei Kleist eine zusätzliche Ambivalenz ein. Naturgesetz und Biopolitik stehen sich zwar als gegensätzliche Rechtsauffassungen gegenüber, sie sind jedoch auch ineinander verschlungen – in der Praxis der Rituale, in der Kriegsführung und im Rosenfest. In Ritualen entlädt sich „die Ambivalenz der Gefühle, die in der Zeremonie zum Ausdruck kommt“18. Opferrituale sind Ventile für überschüssige Gewalt. Das haben Ethnologen wie Victor Turner oder Philosophen wie René Girard herausgearbeitet. Ihre soziale Funktion besteht darin, die Gewalt, die sich bei der Stiftung von Ordnung in einer Gemeinschaft entlädt, zu kanalisieren und zu domestizieren.19 In Penthesilea erweisen sich Opferung und Erkennungsszene – Anagnorisis – als zentrale Umschwünge in der Handlung, als „Kernrituale, die das Funktionieren von Staatswesen garantieren: das Opfer als die Bändigungsform der Gewalt, die für die Polis nötig und gefährlich ist, als das unvermeidliche Organisationsmodell sozialer Aporien“20. Der Rückgriff auf jene gewalttätigen Ursprünge von Staat und Gesellschaft führt in Penthesilea zu so fundamentalen Tabus wie der Anthropophagie. Im viel zitierten Versehen „Küsse, Bisse“ löst die „immanente Logik der Kulturformen“21 „komische Kippfigurationen“22 aus: „Nicht? Küßt’ ich nicht? Zerrissen wirklich? 18 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1991, S. 23. 19 Gerhard Neumann: „Erkennungsszene und Opferritual in Goethes Iphigenie und in Kleists Penthesilea“, in: Käthchen und seine Schwestern. Frauenfiguren im Drama um 1800, hg. v. Günther Emig und Anton Philipp Knittel, Heilbronn 2000, S. 38–80, hier S. 40f.: „Die kathartische Gewalt des rituellen Opfers verhindert jene ‚unreine’ Gewalt, die die Gesellschaft zerstören würde.“ 20 Ebd., S. 44. 21 Georg Simmel: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, hg. v. Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2001, S. 194–223, hier S. 218: „Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhältnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: dass die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.“ 22 Vgl. Susanne Kaul: „Comic relief? Komische Kippfigurationen in Shakespeares und Kleists Tragödien“, in: KJb 2017, S. 98–117.

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Sprecht?“23 Alle tragischen Elemente sind hier versammelt: Die Missdeutung des erneuten Kampfangebots zeigt die Hamartia (Verfehlung), die Anagnorisis (Erkennen/Wiedererkennen) erfolgt als Nicht-Einsicht in die eigene Tat. Die Katharsis mit ihren Wirkungsaffekten eleos und phobos vollzieht Penthesilea nach der Zerreißung Achills als körperliche Reinigung auf der Bühne. Die Szene dient weniger einer sittlichen Reinigung denn als Fortsetzung einer exzessiven Passion: „Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los / Und folge diesem Jüngling hier“24. Die Faszination für das Lossagen leitet Richtungswechsel und Umkehrungen ein, die sich auf mehreren Ebenen abspielen: • rhetorisch: Am Ende des Stücks ruft sich Penthesilea in den Tod statt ins Leben.

Ihr metaphorischer Selbstmord vollzieht sich in Form einer invertierten Prosopopoïe. Statt sich eine Stimme zu geben und sich selbst zur Person zu machen, vernichtet sich Penthesilea durch ihre eigene Rede: „So! So! So! So! Und wieder! – Nun ist’s gut.“25 Die Personifikation wird zurückgenommen. • mythologisch: In Penthesilea ist es nicht ein Mann, der als Kannibale exotisiert wird,26 und es ist auch nicht der für seine Unerbittlichkeit bekannte Krieger Achill, dem es trotz mehrerer Anläufe nicht gelingt, das zu tun, was man in Hederichs Gründliches Mythologisches Lexikon in Bezug auf Hektor nachlesen konnte. Auch bei Kleist gelingt es Achill nicht, den toten Körper seiner Gegnerin „auf alle Art anstaendig zu begraben“27. Stattdessen fügt Penthesilea dem griechischen Helden und sich selbst die „tödtliche Wunde“28 zu, weil sie die figürliche Sprache wörtlich nimmt. Nicht Achill tritt am Schluss als mageiros – als Opferschlächter29 – auf, sondern die grazile Amazonenkönigin im Gewand einer metaphorischen Verwirrung. • anthropologisch: Wenn Penthesilea sich zu den Hunden gesellt, Achills Körper zerreißt, sich selbst zur Hündin erklärt und sich schließlich „kalt wie Erz, / [sich]

23 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 187. 24 Ebd., S. 189. 25 Ebd., S. 191. 26 Zu hegemonialen Männlichkeitskonstruktionen in der deutschen, (post)kolonialen Gesellschaft, vgl. Eva Bischoff: Kannibale werden. Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900, Bielefeld 2011. 27 Benjamin Hederich: „Penthesilea“, in Gründliches mythologisches Lexikon, hg. v. dems., Leipzig 1770, Reprograph. Nachdr. Darmstadt 1986, S. 1939. 28 Ebd. 29 Zur bildlichen Darstellung des Achill als mageiros vgl. Luca Giuliani: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst, München 2000, S. 180.

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ein vernichtendes Gefühl“30 hervorgräbt, um ihre Selbstauslöschung szenisch auszuführen, fallen Körper und Diskurs distanzlos übereinander her.31 Nous sommes tous des cannibales – Lévi-Strauss’ griffige Formel32, die sich wie ein Kommentar zu Penthesilea liest, erinnert an eine kollektive Verdrängung, den ein Sprung von der Antike in die Neuzeit verdeutlichen soll. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert waren es die Entdecker der Neuen Welt, die Anthropophagie in Text und Bild setzten. Nie jedoch äußerten sich die vermeintlichen Menschenfresser selbst dazu. Kannibalische Rituale tauchten im Reich des Imaginären auf – in Mythologie, Bibel oder Literatur von Dante über Shakespeare und Goethe bis zu Joseph Conrad oder Joyce. Beispiele für Anthropophagie sind bereits seit der griechischen Mythologie bekannt: Der Titan Kronos isst seine eigenen Kinder auf, weil er fürchtet, sie könnten ihn stürzen; im neunten Gesang der Odyssee verspeist der blinde Zyklop ein paar griechische Gefangene, bevor Odysseus sich als Niemand davonstehlen kann; König Tantalos lädt die Götter zum Gastmahl ein und stellt ihre Allwissenheit auf die Probe, indem er ihnen seinen gekochten Sohn Pelops vorsetzt. Das Verschlingen von Menschenfleisch weist auf eine gefährliche Nähe zwischen hospitalité (Gastfreundschaft) und hostilité (Feindschaft). Im Französischen bezeichnet das Wort hôte sowohl denjenigen, der empfängt (hospis), als auch den, der empfangen wird (hostis).33 Der Gast (hostis) hält als Fremder ein bedrohliches Potenzial offen. Er könnte jederzeit zu einem Eindringling werden. Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind fällt oft nicht leicht, die Grenzlinie ist dünn und es kommt zu paradoxen KippFiguren.34 Immanuel Kants kosmopolitischer Entwurf Zum ewigen Frieden (1795)

30 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 190. 31 Dass Penthesileas Tod auch als Protest gegen die Abrichtung zur Machtsprache verstanden werden muss, zeigt Alexander Mionskowski: „‚Jedwede Kunst der Rede ward erschöpft‘. Heinrich von Kleist, Adam Müller und die Aporien der Beredsamkeit im Trauerspiel Penthesilea“, in: Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, hg. v. Hans Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe, Göttingen 2013, S. 56– 82. 32 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Nous sommes tous des cannibales, Paris 2013. 33 Yves-Charles Zarka: „Cosmopolitisme et hospitalité chez Kant“, in: Kant cosmopolitique, hg. v. Yves-Charles Zarka und Caroline Guibet Lafaye, Paris 2008, S. 19–30, hier S. 21. 34 Vgl. Kaul: Comic Relief (wie Anm. 22), S. 116: „Und genau diese Anästhesie des Herzens ist es, durch die Komik eine kritische Rezeption der Tragödie ermöglicht, denn eleos und phobos werden außer Kraft gesetzt und anstatt einfach mitzujammern und

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kann als zeitgenössische Entgegnung zu Kleist auf diese stets durch allzu große Nähe gefährdete Freund-Feind-Differenzierung gelten. Den Status des willkommenen Fremden will Kant dank eines internationalen Völkerbunds und Besuchsrechts gefestigt sehen.35 Anders als Kants politische Vision einer Befriedung, kennt Kleists Polaritätsgesetz, durch Christian Ernst Wünschs experimental-physikalische Vorlesungen angeregt, keine dialektische Versöhnung.36 Als Denker des Agonalen legt Kleist aller Sozialisation das „gemeine Gesetz des Widerspruchs“37 zugrunde. Die Anthropophagie reißt die dünnen Grenzen zwischen Freund und Feind ganz und gar ein, die kannibalistischen Praktiken sind sowohl Zeichen einer Staatsaffäre als auch einer affaire de famille. Für Michel Foucault zeigt sich genau an diesem Schnittpunkt zwischen Privatem und Politischem das Problem des Sozialen als eines der gegenseitigen Aufnahme.38 Wie beim Gastmahl des Tantalos ist das Opfer hier der eigene Sohn, die überschrittene Grenze verläuft zwischen dem zu bestattenden menschlichen Körper und dem Fleisch, das zum Essen dient. Durch die Überschreitung übt der Gastgeber gleichermaßen persönlich und politisch Rache an seinen Gästen. Denn Rache ist der archaischen Auffassung zufolge nicht nur Vergeltung einer als Unrecht empfundenen Tat, sondern Rechtsgewähr:

mitzuschaudern, sind wir durch Komik gezwungen, eine Distanz zum tragischen Geschehen einzunehmen und die Katastrophe als weniger unausweichlich einzustufen.“ 35 Immanuel Kant: „Zum ewigen Frieden“, in: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1964, S. 191–251, hier S. 213: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ 36 Kleists Studium in Frankfurt (Oder) in Verbindung mit der sogenannten Kant-Krise hat sich hier als prägend erwiesen, vgl. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a. M. 2011, S. 61f. 37 Heinrich von Kleist: „Allerneuester Erziehungsplan“, in: DKV III, S. 545–552, hier S. 546: „Das allgemeine Gesetz des Widerspruchs ist jedermann, aus eigner Erfahrung, bekannt; das Gesetz, das uns geneigt macht, uns, mit unserer Meinung, immer auf die entgegengesetzte Seite hinüber zu werfen.“ 38 Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974 1975), übers. v. Michaela Ott, Frankfurt a. M. 2003, S. 139. Für Foucault setzt die Ethnologie als Disziplin im Sinne einer „akademischen Reflexion über die sogenannten primitiven Völker“ bei Anthropophagie und Inzest ein, mit dem Problem des rituellen Verzehrs des „Tieres als Träger der Gruppenwerte, Träger ihrer Energie und Vitalität und sogar ihres Lebens.“ Ebd.

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„Dem Verletzten ist als Rechtsgang die rächende Fehde aufgegeben.“39 Rache ist „eine aus der Sippenordnung sich ergebende Pflicht. […] Die Rache bezweckte […] die Demütigung des Gegners und seiner Sippe.“40 Mehrere mythologische Quellen betonen, Penthesileas toter Körper sei von Achill gedemütigt worden.

S PÄTE R ACHE Man könnte also so weit gehen, in Kleists Penthesilea eine späte Rache am Werk zu sehen. Kleists Penthesilea scheint sich dafür zu rächen, was der ‚mythologische‘ Achill der ‚mythologischen‘ Penthesilea angetan hat. Aus dem Individuum Penthesilea wird so eine ganze Gattung von widerspenstigen Frauenfiguren, eine ‚Sippe‘ von vielleicht sogar zukünftigen Amazonen.41 Auch der antike Achill wird in den alten Quellen für seine Tat gedemütigt – von Thersites, dem hässlichsten Griechen von Troja, der „Achilleus spottend einer schmutzigen und widernatürlichen Lust“ bezichtigt.42 Nach dem Gesetz der Rache und nicht nach dem Gesetz der Gattung handeln bei Kleist sowohl der rachsüchtige Kohlhaas als auch Penthesilea: „Der Rache weih’ ich den, der für sie fleht!“43 Während Kohlhaas behauptet, er sei in einen Naturzustand zurückversetzt worden, und sich deshalb das Recht herausnimmt, einen neuen Gesellschaftsvertrag einzuführen, sagt Penthesilea sich vom Gesetz ihres Staates los, indem sie Achill in seiner Einzigartigkeit individuell auserwählt und ihm schließlich mit ihrem merkwürdig singulären Akt in den Tod folgt. Und das, obwohl sie ihrer engsten Vertrauten Prothoe mit Rache droht, als diese die Beilegung des Krieges und das Einläuten des Rosenfestes erwägt. Aus Gründen, die den Griechen unbegreiflich sind, wird Penthesilea nach ihrer ersten Überwältigung durch Achill, „da sie jetzt, der Rache preißgegeben, / Im Staub sich

39 Joachim Bohnert: „Positivität des Rechts und Konflikt bei Kleist“, in: KJb 1985, S. 39– 55, hier S. 52. 40 Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 31965, S. 23f., zitiert nach Bohnert: „Positivität des Rechts“ (wie Anm. 39), S. 52. 41 Zur Wucherung weiblicher Rächerinnen von Medea bis zu Ulrike Meinhof, vgl. Andrea Allerkamp: „Trauern um Medea? Müller via Euripides“, in: Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, hg. v. Gisela Ecker, München 1999, S. 181– 196. 42 Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek 1984, S. 633. 43 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 50.

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vor ihm wälzt“44, letztendlich doch verschont – und zwar von einem Sieger, der als selbstsüchtig und jähzornig gilt. Achill eilt der Ruf voraus, dass er seinen Freund Patroklos bei den Trojanern gerächt hat, wovon Penthesilea in der Todesstunde ihrer Mutter Otrere hört.45 Im 22. Gesang der Ilias ist es der Zorn gegen Patroklos’ Mörder Hektor, der Achill zurück in den Kampf treibt. Den gegenseitigen Handel der Rückerstattung des toten Körpers, den Hektor Achill vor dem entscheidenden Zweikampf vorgeschlagen hatte46 und den er im Sterben in Form einer Bitte wiederholt („ich bitte – bei deinen knien – deinem leben – den eltern / wirf meine leiche – nicht im lager – deinen hunden vor.“47), lehnt Achill bei Homer ab. Seine Rache besteht ja gerade darin, die Auslieferung des getöteten Körpers an die reißenden Tiere in Aussicht zu stellen und damit die mütterliche Trauer zu unterbinden: „…deine verehrte mutter / sie wird ihr kind nicht aufbahren um ihr leid zu klagen – dafür werden hunde und geier nichts übriglassen.“48 Die Radikalität der restlosen Tilgung hat Kleist höchstwahrscheinlich gereizt. Und sie hat auch die Kommentare geprägt. Seit Helga Gallas auf die enge Verkoppelung der Schleifung Hektors mit Kleists Gewaltfantasien aufmerksam gemacht hat,49 ist wohl keine andere Stelle so intensiv kommentiert worden wie die Zerreißungsszene. Sie modelliert die Auseinandersetzung der beiden Geschlechter als Schauplatz einer revidierten, wenn nicht zurückgenommenen Gattungsordnung zwischen Männern und Frauen. Die Einreißung der Grenzen zwischen Leben und Tod erscheint in diesem Zusammenhang nur konsequent. Diente das antike Bestattungsritual der Integration und Abwehr jener „Irritation, die die Leiche, die

44 Ebd., S. 66. 45 Vgl. ebd., S. 128. 46 Vgl. Homer: Ilias, übers. v. Raoul Schrott, München 2008, S. 457, XXII/ 255–259: „zuerst aber legen wir vor unsern göttern einen schwur ab; / keiner sorgt besser als sie, daß ein pakt eingehalten wird: / gibt zeus mir die nötige standhaftigkeit, um dich zu töten/ schwör ich, dich nicht zu verstümmeln und zu schänden; / ich hol mir zwar deine schönen waffen – deinen leichnam/ laß ich aber den griechen. umgekehrt schwörst dus gleiche.“ 47 Ebd., S. 459, XXII/ 339. 48 Ebd., S. 460, XXII/ 353–354. Zur Funktion der mütterlichen Trauer in der Stadt- und Staatspolitik der Antike vgl. Nicole Loraux: Die Trauer der Mütter. Weibliche Leidenschaft und die Gesetze der Politik, Frankfurt a. M., New York 1992. 49 Helga Gallas: „Kleists Penthesilea und Lacans vier Diskurse“, in: Kontroversen, alte und neue Akte des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 6: Frauensprache, Frauenliteratur? Für und Wider einer Psychoanalyse literarischer Werke, hg. V. Inge Stephan und Carl Pietzcker, Tübingen 1986, S. 203–212.

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Zersetzung, Entstellung des Körpers darstellt“50, so galt die Schändung des Toten als negative Bestätigung dieses Rituals. Die Schändung des Kadavers ist das genaue Gegenprogramm zur Herrichtung eines Leichnams für die Bestattungszeremonie. Jean-Pierre Vernant beschreibt die Schändung des Toten als nachträgliche Zerstörung von Einzigartigkeit. „Indem sie den Leichnam verschmutzt und entstellt anstatt ihn zu reinigen und zu salben, zielt die aikía auf die Zerstörung der Individualität eines Körpers, von dem der Charme und die Jugend des Lebens ausgegangen waren.“51 Wenn Achill in der Ilias Hektors Haupt durch den Staub schleift, tötet er den unverwechselbaren Toten ein zweites Mal. Die bis ins Äußerste gesteigerte Schande dient dazu, den außergewöhnlichen Status vorherrschender Kriegswerte zu betonen: Momente wie heroische Ehre, schöner Tod, unsterblicher Ruhm kippen um in ein rauschendes Fest der Vernichtung.52 Folgt man Vernants Prämissen, so geht Penthesileas Wunsch, „Den Lieben, Wilden, Süßen, Schrecklichen, / Den Überwinder Hektors!“53 mit Rosen zu bekränzen, fast logisch aus der mütterlichen Vorbestimmung für einen auserwählten Gatten hervor. Der Orakelspruch sieht in Achill eine Einzigartigkeit, die ihn aus der Schar der Krieger hervorhebt. Insofern verkörpert der Auserwählte genau das, was Derrida das typische Axiom oder das „Gesetz des Gesetzes der Gattung“54 nennt. Es ist eine Reinheit, die als „natürlich“ erscheint und die in ihrer Idealität nur geträumt sein kann. Gerade dieses geträumte Gattungsideal aber beansprucht normativen Charakter für alles Existierende. Penthesilea erkennt dies an der Bruchstelle von Träumen und Wachen klarsichtig, wenn sie sagt: „Mein ewiger Gedanke, wenn ich wachte, / Mein ew’ger Traum warst du! Die ganze Welt / Lag wie ein ausgespanntes Musternetz / Vor mir […].“55 Was aber bedeutet es, dass es den Griechen nicht gelingt, die Amazonenkönigin in eines der beiden Kriegs-Lager zu ziehen („Und Niemand kann, was sie uns

50 Bettine Menke: „Die Ordnung der Geschlechter und ihre Zerfällung (Penthesilea)“, in: Grenzüberschreitungen: „Feminismus“ und „Cultural Studies“, hg. v. Hanjo Berressem, Dagmar Buchwald und Heide Volkening, Bielefeld 2001, S. 181–207, hier S. 182. 51 Jean-Pierre Vernant: L’individu, la mort, l’amour, Paris 1982, S. 73: „En salissant et défigurant le cadavre au lieu de le purifier et de l’oindre, l’aikía cherche à détruire l’individualité d’un corps d’où émanait le charme de la jeunesse de la vie.“ (Eigene Übersetzung) 52 Vgl. ebd., S. 78: „Par le thème de la mutilation du corps, l’épopée souligne la place et le statut exceptionnel de l’honneur héroïque, de la belle mort, de la gloire impérissable.“ 53 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 131, Vs. 2186. 54 Derrida: „Das Gesetz der Gattung“ (wie Anm. 12), S. 249. 55 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 131, Vs. 2188.

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will ergründen“56)? Penthesileas unrein-hybrid-monströses Polywesen unterläuft die Gattungsunterscheidung zwischen Freund und Feind, die Odysseus gleich am Anfang als griechisches Gesetz des staatlichen und militärischen Handelns unterstellt.57 Ihr Handeln vollzieht einen komischen Bruch mit der aristotelischen Identitätslogik des ausgeschlossenen Dritten.58 Denn das Dritte „verwirrt die Fronten, weil es quer zu ihnen [den Trojanern und Griechen], durch sie hindurch und im Letzten quer durch die aufrechtzuerhaltende Selbstidentität der Individuen verläuft“59, die – und das macht Kleist zu einem radikal zeitgenössischen Autor – als teilhabende Wesen (Dividuen60) von Anfang an als zerstreut, geteilt, zerstückelt erscheinen. Achills Tötung und Schändung durch Penthesilea bringt schließlich nicht nur Odysseus’ listige Rede, jene „Vernunft, keilförmig“61 der griechischen Könige, durcheinander, sie stört auch den Verlauf der Handlung (mythos) der Ilias. „Achill – ist in der Amazonen Händen, / Und Pergams Mauern fallen jezt nicht um“62 heißt es schon im zweiten Auftritt. Achill und Penthesilea kämpfen in unterschiedlichen Richtungen, was die Art ihres jeweiligen Gesetzesübertritts bestimmt: „Vereint in der Übertretung des Gesetzes, übertreten sie unterschiedliche Gesetze.“63 Bei Homer löst sich das Versprechen auf eine heldenhafte Bestattung immerhin am Ende der Odyssee ein. Dort erzählt Agamemnons Geist im letzten Gesang dem Achill, dass er ehrenvoll begraben worden ist: „Also verlorst du im Tod deinen Namen nimmer, / und ewig Bleibt dir erhabener Ruhm bei allen Menschen, Achilleus.“64 In Penthesilea überblendet Kleist dagegen den griechisch-römischen Lorbeerkranz des Opfers mit dem erotisierten Christusbild: „Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden, / Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.“65 Die Hyperbel von Ruhm und Kranz bildet hier das topisch-ikonografische 56 Ebd., S. 15. 57 Campe: „Zweierlei Gesetz“ (wie Anm. 17), S. 315. 58 Vgl. Bianca Theisen: „‚Helden und Köter und Fraun‘. Kleists Hundekomödie“, in: Penthesileas Versprechen (wie Anm. 17), S. 153–164. 59 Justus Fetscher: „Über das Komische in Kleists Trauerspiel Penthesilea“, in: Heilbronner Kleist-Blätter 8 (2000), S. 50–67, hier S. 52. 60 Vgl. Michaela Ott: Dividuationen: Theorien der Teilhabe, Berlin 2014. 61 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 18: „Du wirst, erfindungsreicher Larissäer, / Den Riß schon, den er beut, zu finden wissen.“ 62 Ebd., S. 19. 63 Campe: „Zweierlei Gesetz“ (wie Anm. 17), S. 329. 64 Homer: Ilias und Odyssee, übers. v. Johann Heinrich Voss, Darmstadt 1980, S. 839, XXIV/94. 65 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 40.

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Zentrum: „Den Kranz, der mir die Stirn umrauscht’, erfasse“66. Es ist ein leeres Zentrum, dem jede genealogische Bestimmtheit und Bestimmung fehlt, in dem also „dramatisches Handeln und Handeln markiert, aber leer gelassen“67 sind. Der Kranz werde von Beginn an „als Figur der Verschlingung“ gezeigt, so Justus Fetscher, der darin eine „enge Verflechtung der Textur“ sieht, „unauflösliche Schürzung des dramatischen Knotens, gegenseitige Fixierung und Bindung der Körper, der Geschlechter und göttlich-menschlich-tierischen Wesen, Indifferenz von Vertilgung (im Essen) und Verschränkung (im Begehren), tödliche Inversion.“68

Ü BERBIETUNG Penthesileas Erklärung, sie habe Achill zerrissen, weil sie Küsse und Bisse verwechselt habe, ruft eines der größten kulturellen Missverständnisse in Erinnerung. Während sich die Amerindianer die reale Dimension der symbolischen Theophagie der Eucharistie nicht vorstellen konnten und die Europäer für bösartige Geister hielten, waren die Europäer überzeugt davon, dass ein realer Kannibalismus nicht symbolisch sein kann. Sie ignorierten den zeremoniellen Charakter der rituellen Anthropophagie und nahmen sie wörtlich. Aus dieser Perspektive erschienen ihnen die Amerindianer wie Tiere, unfähig, die Gattungsgrenze zwischen Eigenem und Fremden, Mensch und Natur zu erkennen. Der Vorwurf blutiger Menschenopfer konnte so einerseits als Rechtfertigung für Versklavung und Auslöschung dienen, erschütterte andererseits aber auch sämtliche Gewissheiten.69 Als einer der ersten zieht Montaigne daraus Konsequenzen, wenn er die Anthropophagie der brasilianischen Tupi-Indianer als „ein symbolisches Geschehen“70

66 Ebd., S. 44. 67 Campe: „Zweierlei Gesetz“ (wie Anm. 17), S. 331. 68 Justus Fetscher: „‚Ach, dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!‘ Zur erotisierten Christus-Imago der Penthesilea“, in: Beiträge zur Kleist-Forschung 17 (2003), S. 89– 111, hier S. 94. 69 Vgl. Erhard Schüttpelz: „Wunsch, Totemist zu werden. Robert Smithʼ totemistische Opfermahlzeit und ihre Fortsetzung bei Émile Durkheim, Sigmund Freud und Elias Canetti“, in: Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften, hg. v. Annette Keck, Inka Kording und Anja Prochaska, Tübingen 1999, S. 273–295, hier S. 282. 70 Christian Moser: Kannibalische Katharsis: Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Bielefeld 2005, S. 13.

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beschreibt. Der Kannibalen-Essai (1580) spricht den Europäern die Legitimität ab, vom Standpunkt einer universalen Menschheitsgeschichte aus zu urteilen.71 Auch Kleists Penthesilea übt Kulturkritik, die vor sich selbst nicht haltmacht. Aus Hederich, Zedler und Guyons Histoire des Amazones sind Elemente mythischer Erzählungen eingewebt und mit geschichtlichen Prozessen kombiniert.72 Der Gründungsakt des Amazonenstaates geht hier auf die Selbstverstümmelung seiner ersten Königin Tanaïs zurück. Tanaïs reißt sich ihren Busen als Zeichen der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ab, um sich ganz der Jagd auf die Männer widmen zu können. Die Befreiung von den Eroberern, die alle Männer ermordet und über deren Frauen verfügt haben, ist dem Gehorsam gegen die eigene Selbstgesetzgebung geschuldet. Schon Rousseau fasst dies im Contrat social (1792) als Zwang zur Freiheit auf,73 woran auch Penthesileas Erzählung über die biopolitischen Maßnahmen im Amazonenvolk erinnert: „Ein Frauenstaat, den fürder keine andre / Herrschsücht’ge Männerstimme mehr durchtrotzt, / Der das Gesetz sich würdig selber gebe.“74 Penthesilea bricht mit der Selbstgesetzgebung, wenn sie die symbolische Ordnung der Liebessprache kannibalistisch missversteht. Wie Rousseau und Kant wollte Kleist den Gesellschaftsvertrag von Angst und Unterwürfigkeit befreit sehen. Während der napoleonischen Kriege galt es, Kants Verbot des Widerstandsrechts zu durchbrechen. Im Gegensatz zu Rousseau ist Kleist Rationalist. Und im Gegensatz zu Kant ist er Dichter. Das aber schließt eine andere Form der Freiheit ein. Die konterkarierenden Kräfte „der gleichzeitigen 71 Michel de Montaigne: Essais, hg. v. Jean Balsamo, Michel Magnien und Cathérine Magnien-Simonin, Paris 2007, S. 211, I/33: „Ils sont sauvages de mesmes, que nous appellons sauvages les fruicts, que nature de soy et de son progrez ordinaire a producits: là où à la verité ce sont ceux que nous avons alterez par nostre artifice, et destournez de l’ordre commun, que nous devrions appeller plustost sauvages.“ Michel de Montaigne, Essais, übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 326: „Wir können die Menschenfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, nicht aber nach Maßgabe unseres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen.“ Vgl. auch Joseph Jurt: „Die Kannibalen: erste europäische Bilder der Indianer – von Kolumbus bis Montaigne“, in: Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden, hg. v. Monika Fludernik, Würzburg 2001, S. 45–63. 72 Vgl. Doris Claudia Borelbach: Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen, Würzburg 1998, S. 53 sowie Thomas Wichmann: Heinrich von Kleist, Stuttgart 1998, S. 128. 73 Jean-Jacques Rousseau: „Du Contrat social“, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. 3, Paris 1964, S. 364, I/ 7. 74 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1) , S. 120.

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Metaphorisierung und (wörtlich genommenen) Literarisierung“75 sind in dramatische Spannung gebracht. Kleist hat nie anders als metaphorisch schreiben können, darin sind sich Gerhart Neumann und László Földényi einig, wenn sie das Transitorische der übertragenen Rede betonen: „Kleists Ziel besteht darin: die Worte selbst wirklich zu machen.“76 Zeigt sich Penthesilea wie eine „aufgefaltete Landkarte“77, die das Innerste nach Außen kehrt, so drückt sich dies auch in Kleists intimen Briefadressen aus: „Und nun liegen wir, übereinander gestürzt, mit unsern Blicken den Lauf zum Ziele vollendend, das uns nie so glänzend erschien, als jetzt [im] Staube unsres Sturzes eingehüllt!“78, schreibt er an seinen Freund Ernst von Pfuel. In Penthesilea löst die Umkehrung von Wörtlichem und Übertragenem eine szenische Ausgestaltung des Künstlerstandpunkts aus: „mit zerrißner Brust“79. Die Überblendung von innerer Zerrissenheit und äußerer Zerreißung weist darauf hin, dass das ästhetische Prinzip eines der Überschreitung bzw. „Überbietung“80 ist. Von dieser Überbietung sind sowohl anthropologische und politische als auch ästhetische und erkenntnistheoretische Gattungsgrenzen betroffen. Wenn die Oberpriesterin nach Penthesileas Aufkündigung des Amazonen-Kollektivs einen Gesetzesverstoß feststellt, so fragt sie damit auch nach der Freiheit der Kunst und nach dem Künstlerstandpunkt. Rituelle Praktiken wie das Zerreißen eines lebenden Opfers und das Verschlingen rohen Fleisches – sparagmos und omophagie – sind mit dem Dionysos-Kult verbunden.81 Gerade weil Penthesileas passage à l’acte als Konsequenz eines tragischen Geschehens erscheint, muss Kleist keine neue Gattung erfinden, sondern kann auf ältere Formen zurückgreifen.

75 Chaouli: „Verschlingung der Metapher“ (wie Anm. 9), S. 144. 76 László Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter, München 1999, S. 280. „Worte haben weder die Aufgabe, sich – als dichterische Bilder – der Wirklichkeit anzupassen (Realismus) noch eine neue phantastische Wirklichkeit zu ‚erfinden‘ (Romantik). Und: Mit der Radikalisierung der Metapher bereitet [Kleist] die ‚Sprache‘ der modernen Kunst vor.“ 77 Michalzik: Kleist (wie Anm. 2), S. 314. 78 Brief an Ernst von Pfuel, 7. Januar 1805, in: DKV IV, S. 335–337, hier S. 335. 79 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 67. 80 Gabriele Brandstetter: „Inszenierte Katharsis in Kleists Penthesilea“, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen (wie Anm. 6), S. 225–248, hier S. 237. 81 Vgl. Katrin Hess: Kindsmord und Wahnsinn: Mordende Eltern in der antiken Überlieferung, Saarbrücken 2008.

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UND

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Die spektakuläre Zerreißungs-Szene reiht sich ein in eine Serie von gewalttätigen Urszenen, die von Schmerzensmännern, Jägern, Künstlern und Intellektuellen handeln: „Der Artist als Opferfigur, in Sebastians-, Orpheus-, Christus-, PentheusNachfolge: eine sehr moderne, die Mysterien rundum auf sich konzentrierende Stellvertreter-Figur. Fügen wir ihr gleich die zweite, die des Intellektuellen hinzu.“82 Achill ist ein einzigartiger Krieger, sein Erzieher Chiron hat ihn in der Musik unterwiesen.83 Das bringt ihn in Verbindung zu Orpheus. Es ist der Sänger Orpheus, der in einem frühen, von Aischylos überlieferten Fragment als Bestrafung für seinen Liebesverrat von den Mänaden zerrissen wird.84 Orpheus’ Verrat lässt verschiedene Vermutungen über sein Vergehen zu: Hat er vergessen, Dionysos zu huldigen? Klagt er zu intensiv über den Verlust von Eurydike, sodass sich die anderen Frauen vernachlässigt fühlen? Phanokles zufolge soll Orpheus in Thrakien die Knabenliebe eingeführt haben. Doch Ovid setzt den Akzent weniger auf den eigentlichen Liebesverrat als auf die Bestrafung und ihre Konsequenzen. Denn Orpheus ist nicht wehrlos, er kann sich mit seiner lyrischen Kunst verteidigen. Die Mänaden vergreifen sich zuerst an den Lauschenden, an „Orpheus’ Ruhmestheater“85. Alles – sowohl das Belebte als auch das Leblose – war Orpheus’ Stimme gefolgt: die wilden Tiere der Wüste, die Wälder und Felsen, die Flüsse. Ohne Publikum aber ist der Sänger zum Schweigen verdammt und den Mänaden ausgeliefert, die ihn und die Tiere totschlagen.86 Der Liebesverrat rächt sich bei

82 Klaus Heinrich: „Der Untergang von Religion und Kunst in Wissenschaft“, in: Ders.: Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang, Frankfurt a. M. 1995, S. 83. 83 Vernant: L’individu (wie Anm. 51), S. 55: „Von allen Figuren, die die Ilias in Szene setzt, ist Achill der Einzige, der sich dem poetischen Gesang ergibt.“ 84 Vgl. Friedrich Ohly: „Die Zerreißung als Strafe für Liebesverrat in der Antike und im Alten Testament“, in: Ders.: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand, Bd. 2, Berlin und New York 1986, S. 554–624. 85 Ovid: Metamorphosen, übers. v. Hermann Breitenbach, Stuttgart 1958/1993, S. 346, XI/ 22. 86 Ebd., S. 347, XI/ 37: „Diese ergreifen die Wilden, zerreißen die drohend gehörnten / Ochsen und eilen zurück zu dem Sänger, den Rest ihm zu geben. / Während die Arme er breitet, vergebliche Worte ertönen / – Noch nie war es geschehn: die Stimme verhallt ohne Wirkung! –, / Schlagen ihn tot die Verruchten: o Jupiter! über den Mund hin, /

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Ovid in dreifacher Form: durch die Zerreißung des Publikums, den Mord am Künstler und die Erstarrung der in Trance gefallenen Mänaden, die Kunst mit Liebe verwechseln. Die Schmerzerfahrung des geschundenen Körpers löst Erkenntnisse aus, was Klaus Heinrich dazu veranlasst hat, mit Bezug auf Giordano Bruno den Aktaion-Mythos zum „intellektuellen Zentralmythologem“ zu erklären: „Die Hunde, die ihn zerfleischen, sind seine eigenen Gedanken – ‚i suoi pensieri‘.“87 Die Kleist-Forschung ist dieser anthropologischen Diagnose lange gefolgt. In Penthesilea werde „die Zerrissenheit der Welt auch in ihrem eigenen Zerreißen dargestellt“88, stellt zum Beispiel Walter Müller-Seidel fest. Problematisch ist dieser Ansatz nicht deshalb, weil er falsch ist, sondern weil er übersieht, dass Kleists Modernität ja gerade in der Umkehrung eines Prozesses besteht, der sich im Zerfall von Gattungsmustern manifestiert. Indem früheste Bedeutungen der Zerreißungspraktiken in die Logik des Dramas eingelassen sind, wird die Verinnerlichung der künstlerischen Zerrissenheit zum Teil einer tragischen Zerreißprobe. Dies geschieht vor dem Hintergrund von wechselseitigen Verblendungen, im Sog der Metamorphosen und einstürzenden Gattungsgrenzen: Die Nachahmung der reißenden Meute macht aus Penthesilea einen „Hundemenschen“89, die Nachahmung der Sonne zeigt ihre mimetische Annäherung an den als apollinischen Sonnengott imaginierten Achill: „Seht, seht, wie durch des Wetterwolken Riß, / Mit einer Masse Licht, die Sonne eben / auf des Peliden Scheitel niederfällt!“90 Im Wahn der Projektion zielt die Anspielung auf die Sonne als eine der zentralsten Metaphern, die in ihrem Substitutionsprinzip zu weiteren Überbietungen einlädt: „Zu hoch, ich weiß, zu hoch – / Er spielt in ewig fernen Flammenkreisen“91. Während die missglückte List Achills die Intrige der tragischen Verkennung vorantreibt, trifft der tödliche Pfeil Penthesileas Achill dort, „wo es zählt“92 – nämlich in den Hals. Doch der Schuss geht insofern daneben, als dass es nicht gelingt, das Echo der Stimme und damit die Unreinheit metaphorischer Rede zum Welchem die Felsen gelauscht, der Verständnis gefunden bei wilden / Tieren, entgleitet die Seele, enthaucht sich hinaus in die Winde!“ 87 Heinrich: „Untergang von Religion und Kunst in Wissenschaft“ (wie Anm. 82), S. 83. 88 Walter Müller-Seidel: „Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik“, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 144–171, hier S. 158. 89 Földényi: Kleist (wie Anm. 76), S. 234. 90 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 61 und S. 84: „Ich, Rasende! / Da liegt er mir zu Füssen ja! Nimm mich – (Sie will in den Fluß sinken, Prothoe und Meroe halten sie).“ 91 Ebd., S. 79. 92 Chaouli: „Verschlingung der Metapher“ (wie Anm. 9), S. 146.

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Verstummen zu bringen. Noch über den eigenen Tod hinaus spricht Achill seine „vielleicht schönsten Zeilen“93. Wie Aktaion fällt er der Wahrheitssuche zum Opfer, indem er – im Moment seiner Rede, die das Versprechen entblößt – zerrissen wird. Auf diese Weise fällt er als Figur vielleicht exemplarisch der Kant-Krise zum Opfer, die Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge artikulieren.94 Biologisch betrachtet handelt es sich um zwei getrennte Ordnungsbegriffe, die Geschlechtertrennung ist eine der fundamentalsten Gattungsgrenzen. Kleists Protagonistinnen reihen sich in eine Serie „von Männern geschaffene[r] Frauen“ ein. Sie sind gespannt bis zum Zerreißen.95 Anders als Lessing, der seine Gräfin Orsena in Emilia Galotti Zerreißungsszenen von Bacchantinnen und Furien nur im Als-ob-Modus, wie in der Entzückung einer Fiktion imaginieren lässt, taucht Penthesilea dagegen ohne ästhetische Idealisierung in die orphische Traumwelt ab: „Uns alle reißt sie in den Abgrund hin“96. Auch Kleists Furien – Penthesilea oder auch Thusnelda in der Herrmannsschlacht – geraten ‚natürlich‘ in Entzückung. Sie fallen jedoch – analog zum Polaritätsprinzip – ihrem schönen Entsetzen leibhaftig zum Opfer. So ist es Achills innigster Wunsch, Penthesilea so lange zu verfolgen, bis er die Jungfrau mit den „beiden kleinen Hände[n]“97 „bei ihren seidnen Haaren sie / Von dem gefleckten Tigerpferd gerissen“98 hat. Das Tätigkeitsverb ruft hier neben der frühesten Bedeutung von „risz“, also „handlung des einritzens, linienziehens, zunächst von furchen im feldbau, dann von schriftzeichen“, eine weitere auf, nämlich den „jagdausdruck reiszen“: „zur seite steht risz als bezeichnung für das von einem raubthiere erbeutete wild“99. Das Gefühl der Zerrissenheit, das im übertragenen Sinn den Eindruck einer inneren Verletzung ausdrückt, wird beim Wort genommen. Zwei Jahre nach der Penthesilea stellt Kleist die Begattungsszene der Zerreißung in einen weiteren militärhistorischen Zusammenhang. 1806 unterliegen die preußischen Truppen bei Jena und Auerstedt den Franzosen, die Niederlage ist vernichtend, das preußische Staatssystem infrage gestellt. Die Kleist-Forschung hat dies als Einbruch der 93 Ebd., S. 147. Vgl. Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 163: „Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend, / Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft: Penthesilea! Meine Braut! Was tust du? / Ist dies das Rosenfest, das du mir versprachst?“ 94 Vgl. Földényi: Kleist (wie Anm. 76), S. 247: „Kleist setzt nicht den Schrecken frei, sondern beschwört ihn nur, um mit seiner Hilfe das zu befreien, was bis dahin als Mysterium verdrängt wurde.“ 95 Ebd., S. 248. 96 Kleist: „Penthesilea“ (wie Anm. 1), S. 65. 97 Ebd., S. 21. 98 Ebd., S. 17. 99 Art. „Risz“, in: DWB, Bd. 14, Sp. 1043–1049, hier Sp. 1045, 1049.

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Politik in Kleists Werk gewertet.100 In der Herrmannsschlacht (1808) ist eine der Zerreißungsszenen dem alttestamentarischen Buch der Richter entnommen.101 Sie dient als Folie für die sechste Intrige des vierten Aktes. Kleist eignet sich hier Ovids Metamorphosen an und kritisiert implizit die Grundlegung der französischen Republik. Wie Penthesilea so treibt auch Herrmann das Quid pro quo von Jagd und Krieg auf die Spitze: „Von Hunden in Germanien zerrissen.“102 Angesichts des komplexen Bedeutungsfeldes mag es weniger erstaunen, dass auch der imaginäre Topos der Zerrissenheit zu den deutschen Erinnerungsorten gehört. Zeitgenossen wie Wieland und Herder reagierten darauf zweideutig: Die Klage über die territoriale Zersplitterung Deutschlands geht mit einem Lob auf hohe Bildung einher.103 Kleists Analyse der deutschen Politik sieht etwas anders aus. Die europäische Geschichte ist kein Versprechen sondern ein Fluch, ein „verstümmeltes Echo“104, das bei Kleist im „aporetischen Geklüft“ zur Darstellung kommt. Das Trauerspiel zeigt bereits Ähnlichkeiten zu Derridas Gattungsdenken. Wo Derrida von einer „inokklusiven Invagination“105 oder auch vom „Wahnsinn einer Fiktion“106 ausgeht, so finden wir in Penthesilea Wucherungen durch subversive Überschreitungen: tragisch in der Nichttrennbarkeit von übertragener und wörtlicher Sprache, mythologisch in Penthesileas aktiver Übergriffigkeit, politisch im radikalen Gründungsmythos und Staatsnarrativ der Amazonen, kulturkritisch im Rückfall der Zivilisation in Barbarei. Die Fokussierung durch Teichoskopien – „Berichte über Handlungen jenseits des Sichtbaren und dramatisch Gegenwärtigen“107 – stellt Kleists Tragödie der Zerreißung als eine obszöne – außerhalb der Szene – in einen weit gespannten ästhetisch-anthropologisch-kulturkritischen Zusammenhang um 1800. In der Nennung einer Gattung kündigt sich ihre Vielfalt und ihr Zerfall an: „Penthesilea. Ein Trauerspiel“. Kleists Urszenen der Zerreißung machen vor der Gattung nicht halt. Sie sind vielschichtige, verdichtete, vorübergehende und variable Gebilde. „Penthesilea, / Wie Sturmwind ein zerrissenes Gewölk“. 100 Vgl. Michalzik: Kleist (wie Anm. 2), S. 281. 101 Barbara Vinken: Bestien: Kleist und die Deutschen, Berlin 2011, S. 57. 102 Heinrich von Kleist: „Die Herrmannschlacht“, in: BKA I/7, S. 144. 103 Vgl. Jürgen Schramke: „Kulturpatriotismus im klassischen Weimar“, in: Interdependenzen zwischen kulturellem Wandel und nachhaltiger Entwicklung, hg. v. Gerhard Banse, Oliver Parodi und Axel Schaffer, Karlsruhe 2009, S. 127–136. 104 Vinken: Bestien (wie Anm. 101), S. 93. 105 Derrida: „Das Gesetz der Gattung“ (wie Anm. 12), S. 267. 106 Ebd., S. 270. 107 Rüdiger Campe: „Intensiv und extensiv. Kleists Penthesilea und falsche Alternativen der Literaturtheorie“, in: Penthesileas Versprechen (wie Anm. 17), S. 7−15, hier S. 14.

Koboldartig beieinander Märchenhaftes Geschlecht im Lustspiel Amphitryon K ATRIN P AHL

Dieser Beitrag untersucht aus einer queertheoretischen Perspektive anhand des Lustspiels Amphitryon, was bei Kleist aus der Art fällt und die Gattungen durcheinanderbringt. Damit liegt der Akzent im Folgenden mehr auf den Unarten als auf dem im Untertitel dieses Bandes angeführten Gesetz der Gattung.1 Das Wort ‚Geschlecht‘ meint zu Kleists Zeit durchaus auch noch ‚Sippe‘ oder ‚Familie‘ und ist noch nicht gänzlich auf die moderne Bedeutung der binären Differenz, die sich auf die Funktion bei der biologischen Fortpflanzung bezieht, reduziert. Dennoch schlägt der Zusammenhang von Gattung und Geschlecht durch und wirkt sich auf literarische und biologische Gattungen aus. Die literarischen Gattungen (re)produzieren Geschlechterrollen auf jeweils charakteristische Weise und werden ab dem 18. Jahrhundert von der sich etablierenden komplementären Geschlechterlogik vereinnahmt. Auch wenn es zweifellos biologische Gattungen gibt, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, wird ab demselben Zeitraum in gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskussionen oft die Biologie herangezogen, um die normative Behauptung zu stützen, dass zum Erhalt der Gattung Begattung und somit zwei Geschlechter notwendig sind. Zentral für eine queertheoretische Perspektive ist aber ein Unbehagen an den Geschlechtern. Dieses Unbehagen führt bei der Analyse von Amphitryon zur Entdeckung der Art der Kobolde, eines

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Wer die Frage der Gattung zu ernst nimmt, verstrickt sich in Geboten und Verboten. „Sobald man das Wort ‚Gattung‘ vernimmt, sobald es erscheint, sobald man versucht, es zu denken, zeichnet sich eine Grenze ab. Und wenn sich eine Grenze herausbildet, dann lassen Norm und Verbot nicht auf sich warten: ‚man muß‘, ‚man darf nicht‘ – das sagt ‚Gattung‘.“ Jacques Derrida: „Das Gesetz der Gattung“, in: Ders.: Gestade, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1994, S. 245–284, hier: S. 248.

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märchenhaften Geschlechts, das sich dieser Reproduktionslogik der Gattungen widersetzt.2 In der Philosophie wurde der Begriff der Gattung mit der Aristoteles-Übersetzung von Wolff eingeführt.3 Die transzendentale Bedeutung dieses Begriffs wurde

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Andere Arbeiten zur Verunsicherung der Kategorie Geschlecht bei Kleist: Wilhelm Amann: „Penthesilea, Phantasielea“, in: ,Geschlecht‘ in Literatur und Geschichte. Bilder – Identitäten – Konstruktionen, hg. v. Heinz Sieburg, Bielefeld 2015, S. 74–89; Anna Babka: „Reading Kleist Queer. Eine rhetorisch-dekonstruktive Lektüre von Kleists ,Über das Marionettentheater‘“, in: Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen, hg. v. ders. und Susanne Hochreiter, Wien 2008, S. 237–264; Heinz Blumensath: „Kleists ambivalente Haltung in der ,Geschlechterdefinition‘ im 18./19. Jahrhundert“, in: H. v. Kleist. Androgynie und preußischer Staat, hg. v. Thomas Bürow, Bad Segeberg 1986, S. 41–44; Heinrich Detering: „Amphibion, Kentaurin, Mestize. Heinrich von Kleist“, in: Ders.: Das Offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis Thomas Mann, Göttingen 2013, S. 117–156; Eleanor E. ter Horst: Lessing, Goethe, Kleist and the Transformation of Gender. From Hermaphrodite to Amazon, New York 2003; Julie Koser: „Treasonous Transgressions: A Nation of Women Warriors and the Politics of Desire“, in: Armed Ambiguity: Women Warriors in German Literature and Culture in the Age of Goethe, Evanston 2016, S. 149–172; Elisabeth Krimmer: „,Die Allmähliche Verfertigung Des Geschlechts Beim Anziehen‘: Epistemologies of the Body in Kleist's Die Familie Schroffenstein“, in: Body Dialectics in the Age of Goethe, hg. v. Marianne Henn und Holger A. Pausch, Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 55, New York 2003, S. 347–364; Bettine Menke: „Die Ordnung der Geschlechter und ihre Zerfällung“, in: Grenzüberschreibungen. „Feminismus“ und „Cultural Studies“, hg. v. Hanjo Berressem, Dagmar Buchwald und Heide Volkening, Bielefeld 2001, S. 181–207; Catriona MacLeod: „The ,Third Sex‘ in an Age of Difference: Androgyny and Homosexuality in Winckelmann, Friedrich Schlegel, and Kleist“, in: Outing Goethe and His Age, hg. v. Alice Kuzniar, Stanford 1996, 194–214; Grant P. McAllister: Kleist’s Female Leading Characters and the Subversion of Idealist Discourse, New York 2005; Joachim Pfeiffer: Die zerbrochenen Bilder. Gestörte Ordnungen im Werk Heinrich von Kleists, Würzburg 1989; Simon Richter: Missing the Breast: Gender, Fantasy, and the Body in the German Enlightenment, Seattle 2014, S. 216–247; Manfred Weinberg: „,… und dich weinen.‘ Natur und Kunst in Heinrich von Kleists Das Käthchen von Heilbronn“, in: DVjs 79 (2005), S. 568–601.

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Hans Michael Baumgartner: „Gattung, Genus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 3, Basel 1972, Sp. 24–30, hier Sp. 24.

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von Kant herausgearbeitet und von Hegel übernommen und weitergeführt.4 In der Logik heißt ‚Gattung‘ so viel wie ‚Oberbegriff‘. In philosophischen Aussagen – die klassischerweise Aussagen über das Wesen von etwas sind – wird ein Unterbegriff (oder ein Phänomen, das Mannigfaltige der Erfahrung) einem Oberbegriff untergeordnet bzw. es wird einem Subjekt ein Prädikat oder eine Eigenschaft zugeschrieben. Die Gattung ist dabei das vergleichsweise Allgemeine. Sie ist aber auch das Exemplarische oder die Identität (im Sinne des angelsächsischen identity), die nicht nur epistemologisch von Bedeutung ist, sondern auch in Anschlag gebracht wird, wo es um soziale Normen geht und wo Identitätspolitik gemacht wird. Logik hat soziale und politische Auswirkungen. Die Relevanz des queertheoretischen Ansatzes liegt darin, dass er nicht nur die Binarität der Geschlechter, sondern auch den Gegensatz von Gleichheit und Differenz (welcher der Dichotomie von Homo- und Heterosexualität zugrunde liegt) dekonstruiert und damit das Kategoriendenken sowie die Hierarchien und Machtstrukturen, die diesem inhärent sind, kritisiert.

V ORFALL Sosias, Amphitryons Diener in Kleists Komödie Amphitryon, ist wie ausgetauscht. Sein Herr, der Befehlshaber der thebanischen Armee, hat ihn nach Theben zurückgeschickt, um den Sieg der Thebaner über Athen zu verkünden und seiner Gemahlin Alkmene anzukündigen, dass ihr Mann bald nach Hause kommen wird. Nach einer anstrengenden Nachtwanderung durch den Wald stößt Sosias auf seinen Doppelgänger. Dieser zweite Sosias, der vorgibt, der Eigentliche zu sein, und unter den dramatis personae als Merkur aufgeführt wird, hält Wache vor dem Tor des Palasts und lässt ihn nicht durch. Er behauptet, dass sich das Ehepaar drinnen bereits miteinander vergnüge. Sosias versucht, seinen Doppelgänger dazu zu überreden, ihn seine Nachricht übermitteln zu lassen. Stattdessen wird er von ihm geschlagen und kehrt schließlich unverrichteter Dinge zurück, um Amphitryon Bericht zu erstatten. Amphitryon ärgert sich, dass sein Befehl nicht ausgeführt wurde, und findet, dass sich die Geschichte von Sosias wie eine schlechte Ausrede anhört. Sosias erwidert: „Es ist gehauen nicht und nicht gestochen, / Ein Vorfall, koboltartig, wie ein Mährchen, / Und dennoch ist es, wie das Sonnenlicht“.5

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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 2010, B 681f.; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. HansFriedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, S. 125.

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Heinrich von Kleist: „Amphitryon“, in: BKA I/4, Vs. 701–703.

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Etwas ist vorgefallen, das keinen Sinn ergibt. Ein zweiter Sosias ist vor Sosias gefallen und hat ihn durcheinandergebracht, sodass Sosias von nun an uneins mit sich ist.6 Trotzdem verspürt er Gewissheit. Als wäre er nicht gerade seiner Identität verlustig gegangen, ist er sich seiner Sache sicher („Es ist gehauen nicht und nicht gestochen, […] [u]nd dennoch ist es“), wie er sich seiner selbst sicher zu sein pflegt („weil ich bin“).7 Die Reaktion von Sosias zeugt nicht nur von einem besonderen Selbstbewusstsein, sondern auch von außerordentlicher Auffassungsgabe und Wendigkeit des Verständnisses. Er verleugnet den Vorfall nicht, sondern akzeptiert, dass dieser denselben Anspruch auf Wirklichkeit erhebt „wie das Sonnenlicht“. Der Vorfall ist, auch wenn kein Kupferstich und keine Bildhauerkunst ihm die Ehre geben. Der Vergleich mit dem Geltungsanspruch des Sonnenlichts ist interessant, weil er darauf hinweist, dass dieser Geltungsanspruch nicht absolut ist – dass es eben nicht nur Dinge gibt, die sich bei Licht betrachten lassen. Der Vergleich besagt, dass der übliche Verstand und die gängige Logik ihre Grenzen haben und dass jenseits dieser Grenzen nicht bloß Finsternis und Irrsinn liegen, sondern dass auf dieser anderen Seite etwas ist. Sosias kann Amphitryon keine bessere Geschichte erzählen, denn er hat selbst kein klares Bild vom Geschehnis: „Es ist gehauen nicht und nicht gestochen“. Nicht weil es ihm als einfachem Diener an Geisteskraft und Ausdrucksvermögen fehlte, hat Sosias Schwierigkeiten (Sosias kann gut reden und versteht schnell), und auch nicht weil er die Hälfte vergessen hätte (man kann davon ausgehen, dass der Vorfall in sein Gedächtnis gewissermaßen „gemeißelt“ oder „geätzt“ ist, also durchaus „gehauen“ und „gestochen“), sondern weil die Tatsachen durch den Vorfall durcheinander geraten und wie ausgetauscht sind. Seinem Bild von dem, was passiert ist, mangelt es an Festigkeit und an deutlichen Konturen. Es ist weder gestochen scharf noch in Stein gemeißelt. Der Vorfall kommt „koboltartig“ daher, er ‚fällt vor‘, anstatt für eine eingehende Untersuchung stillzuhalten, er schlägt Purzelbäume, ,kobolzt‘ oder ,schießt Kobolde‘.8 Kobolde sind ausgelassene Hausgeister. Sie necken einen und man bekommt sie, wenn überhaupt, nur flüchtig zu Gesicht. Sie mögen es auch gemütlich: Sie sitzen gerne in Nischen und hinter dem Ofen, dessen Wärme sie lieben wie das

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Im Französischen heißt Doppelgänger sosie. Der Eigenname – Sosie – hat sich nach den Bearbeitungen des Amphitryon-Stoffes von Rotrou (Les Deux Sosies, 1638) und Molière (Amphitryon, 1668) als Substantiv etabliert.

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Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 5), Vs. 230.

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„[D]ie purzelbäume gehören offenbar ursprünglich zu der lustigkeit der kobolde.“ Art. „Kobold“, in: DWB, Bd. 11, Sp. 1550.

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Essen, das dort gekocht wird.9 Meistens sind sie gutmütig und hilfreich: Sie flüstern den Menschen, bei denen sie leben, gute Ratschläge ins Ohr und, wenn sie mögen, verrichten sie deren Hausarbeit im Nu oder bringen dem Haus über Nacht große Reichtümer.10 Kobolde haben aber auch ihre Launen.11 Sie sind schnell verärgert und oft ohne erkenntlichen Grund aufgebracht gegen ihre menschlichen Hausgenossen. Sie sind dann wie ausgewechselt – gestern noch Engel, heute schon Teufel. Sie toben, poltern und zerschmeißen Geschirr.12 Manchmal nehmen sie auf sehr drastische Weise Rache und zerreißen Menschen, von denen sie sich beleidigt fühlen.13 Kobolde mögen es gar nicht, wenn Menschen versuchen, sie bei ihrem nächtlichen Leben zu beobachten.14 Sie toben, wenn jemand ihnen das hingestellte Essen wegnimmt. Sie werden schnell wütend, wenn sie sich verspottet fühlen.15 Und manche Kobolde zerreißen sich selbst vor Wut, wie beispielsweise Rumpelstilzchen.16 In der Regel jedoch treiben sie Späße und lachen viel – wenn auch bisweilen beunruhigend viel.17 Sie sind unartig, aber trotz allem sehr treu. Haben sie sich einen Menschen ausgesucht, lassen sie sich im Grunde nicht mehr abschütteln: „Verbreitet ist die Geschichte, daß der Bauer sein Haus anzündet, um den K[obold] loszuwerden. Auf einmal hört er den K[obold] auf dem Wagen

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„Der Kobold“, in: Deutsches Sagenbuch, hg. v. Friedrich von der Leyen, München 1919–1924, Bd. 4: Die deutschen Volkssagen, S. 159–175, hier S. 159.

10 Art. „Kobold“ (wie Anm. 8), Sp. 1548. 11 „Er ist reizbar und unzuverlässig, witzig und rührig, nur selten wird er als durchaus gutartig geschildert. Er ist sehr empfindlich, verträgt das Fluchen, Spotten, rauhe Rede, Necken und Befehlen nicht, ist sehr rachsüchtig.“ „Kobold“, in: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, hg. v. Eduard Hoffmann-Krayer und Hanns BächtoldStäubli, 10 Bde., Berlin, Leipzig 1927–1942, Bd. 5, S. 39. 12 „[E]r tritt auch im hause feindlich auf, wenn er erzürnt wird, mit poltern, geschirr zerbrechen u. dgl.“ Art. „Kobold“ (wie Anm. 8), Sp. 1549. 13 Heine gibt die Geschichte des Kobolds Hüdeken wieder, der einen Küchenjungen, der ihn mit Wasser bespritzt hat, erwürgt und zerreißt. Vgl. Heinrich Heine: „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 8/1, Hamburg 1979, S. 9–120, hier S. 24. 14 Vgl. Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (wie Anm. 11), S. 36: „Oft heißt es, den K. habe niemand gesehen, er lasse sich nicht gerne sehen.“ 15 Art. „Kobold“ (wie Anm. 8), Sp. 1549. 16 Vgl. das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm. 17 „[E]r macht nämlich arge streiche, gutmütige oder auch nicht, und lacht dann wie niemand lachen kann.“ Art. „Kobold“ (wie Anm. 8), Sp. 1549.

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sagen: Wären wir nicht so gerannt, wären wir fast verbrannt.“18 Mit Freud würde man sie als unheimlich bezeichnen. Bei aller Unfassbarkeit und Unart lassen sich Kobolde jedoch nicht verleugnen. Ihr nächtlicher Schabernack ist – so wie das Sonnenlicht ist. Sie gehören zum Haus und bringen ihm Glück, versetzen es aber auch in Angst und Schrecken. Sie mögen Geborgenheit, aber auch krasse Gewalt. Mit seinem widerspenstigen Verhältnis zu Identität, zu Kategorien im Allgemeinen, zum Geschlecht im Besonderen, zu Charakter und Organismus ist der Kobold insbesondere als Figur der Unstimmigkeit und Uneinheitlichkeit interessant. Mit seinen plötzlichen Launen spottet er den poetologischen und sozialen Geboten des guten Geschmacks, des Anstands und der Einheit des Charakters. Auch auf biologische Unversehrtheit oder die organische Einheit des Körpers gibt er nicht viel – es passiert ihm leicht, dass er Körper zerreißt (seinen eigenen oder den anderer).19 Das Koboldartige des Vorfalls, den Sosias kundtut, verhindert deutliche Unterscheidungen, eine eindeutige Bestimmung und damit ein klares Bild. Kobolde lassen sich nicht einfangen. Sie wollen nicht gesehen, nicht als etwas gesehen oder identifiziert, nicht in Schubladen gesteckt werden (obwohl sie dort gern schlafen, klettern sie auch immer wieder heraus).20 Die unartige Art der Kobolde macht den gleichen Anspruch auf ontologische und epistemologische Geltung wie das Sonnenlicht, aber sie kobolzen lieber bei Nacht. Ihr Vorfallen scheint „wie ein Mährchen“, aber sie setzen dem Licht der Aufklärung hartnäckig ihre Launen entgegen.

18 Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (wie Anm. 11), S. 44. Die Geschichte findet sich in Deutsche Sagen, hg. v. Brüder Grimm, Frankfurt a. M. 1994, S. 104, Sage 72, „Der Bauer mit seinem Kobold“, sowie bei von der Leyen: „Der Kobold“ (wie Anm. 9), S. 164. 19 Kobolde können auch ein Messer im Leib tragen – als wären sie immer bereit, zerstückelt zu werden. Vgl. Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (wie Anm. 11), S. 36: „Einige meinen, [der Kobold] hätte ein Messer im Rücken”. In einer ausführlichen Studie hat Joachim Pfeiffer die Rolle der Fantasie des zerstückelten Körpers bei Kleist untersucht. Vgl. Joachim Pfeiffer: Die zerbrochenen Bilder. Gestörte Ordnungen im Werk Heinrich von Kleists, Würzburg 1989, S. 104–131. Später hat er dies auch explizit in den Zusammenhang der Problematik der Geschlechterordnung und der Regulierung von Sexualität gerückt. Vgl. Ders.: „Friendship and Gender. The Aesthetic Construction of Subjectivity in Kleist“, in: Outing Goethe and His Age (wie Anm. 2), S. 215–227; Ders.: „Die Konstruktion der Geschlechter in Kleists Penthesilea“, in: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. v. Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 187–198. 20 „Aufenthalt: Der K. ist gerne im Haus, beim Ofen und Herd [], in einer kleinen Lade“, Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (wie Anm. 11), S. 38f.

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Kobolde erleben jede Kategorisierung als einen Vorwurf.21 Damit haben sie gar nicht so Unrecht, denn ‚Kategorie‘ bedeutet ursprünglich eine öffentliche Anklage oder das missbilligende Urteil der Öffentlichkeit.22 Kobolde sind ziemlich verquere und queere Wesen, die sich den sozialen Normen nicht unterordnen. Koboldartigkeit fungiert – ähnlich wie die bêtise, wie Derrida gezeigt hat – als ein Prädikat oder eine Kategorie, die der Prädikation oder Kategorisierung entschlüpft bzw. sie, wie Derrida es nennt, ‚quasi-transzendiert‘.23 Kobolde bleiben schwer zu fassen – zumindest für eine Denkweise, die ‚dumm‘ (bête) genug ist, sich auf Urteilssätze zu gründen und Sonnenklarheit zu fordern.24 Kobolde bringen die rigide Syntax des Urteils mit ihren Purzelbäumen durcheinander; darin besteht ihre Schlauheit, die keine Dummheit(en) von sich weist.

V ERWICKLUNG : E RDICHTETE G ATTEN

UND LITERARISCHE

G ATTUNGEN

Ein Kobold heckt den anderen. Durch den koboldartigen Vorfall wird Sosias selbst zum Kobold: Sosias purzelt Sosias in den Weg und findet, dass er ein Kobold ist: „Ich hielt mich für besessen, als ich mich / Hier aufgepflanzt fand lärmend auf dem Platze, / Und einen Gauner schalt ich lange mich“.25 „Gauner“ übersetzt das

21 Rumpelstilzchen ist sich sicher, dass niemand es treffend benennen wird, und wenn dies doch geschieht, ist es empört und zerstört das, worauf sich der Name bezieht. 22 Das Wort stammt aus dem Griechischen und ist zusammengesetzt aus kata (gegen) und agora (die öffentliche Versammlung). Vgl. Jacques Derrida: Das Tier und der Souverän I: Seminar 2001–2002, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Markus Sedlaczek, Wien 2015, S. 215–218. 23 Vgl. ebd., S. 217. 24 „Im Grunde genommen würde ich, die Darlegungen radikalisierend, sagen, dass die Definition, dort, wo sie stehenbleibt, beim S ist P, beim bestimmten Artikel [article défini] selbst, DER oder DIE, immer bêtise/Dummheit, Definition der bêtise/Dummheit ist.“ Vgl. ebd., S. 229f. Derrida geht es freilich um die unmögliche, weil sich selbst unterlaufende, und ethisch fragwürdige Abgrenzung zum Tier. Für dieses Anliegen eignet sich das deutsche Wort Dummheit nicht sehr. Meine Hinwendung zu den Dummheiten der Kobolde ergänzt aber Derridas Ausführungen, indem sie seine kritische Beleuchtung anthropozentrischen Denkens um die Frage der Stichhaltigkeit des Märchenhaften oder Sagenhaften erweitert und bestärkt. Zur Unübersetzbarkeit des verletzenden Urteils, siehe auch ebd., S. 233ff. 25 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 5), Vs. 707–709.

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griechische kobalos, das oft in den Etymologien des Wortes ‚Kobold‘ zu finden ist.26 „Lärmend“ weist auf einen für Kobolde typischen Wutanfall hin und erinnert an Rumpelstilzchen, das sich auch „auf[]pflanzt“ und dann – als wäre es eine Pflanze, die keinen Schmerz fühlt – zerreißt.27 In der koboldartigen Situation, in der sich Sosias befindet, bleibt es unklar, ob Sosias von sich selbst oder von dem anderen Ich spricht.28 Er lärmt und poltert und „zerwalkt“29 sich selbst. Seine Sätze fallen auseinander, sein komisches Gerede wird nicht ernst genommen – und die Rechenschaft, die er ablegt, nicht anerkannt.30 Auch die Launen des Kobolds kann man als eine Art auffassen, den Normen und Prädikaten zu entkommen. Kobolde lassen sich nicht disziplinieren. Sosias fordert von Sosias, dass der Stock eine „stumme Rolle spiele[]“.31 Hier zeigt sich die Wendigkeit seines Witzes. Stockschläge werden nicht nur zur Züchtigung, sondern auch zur Unterhaltung verwendet. Der Stock, der einem Genre der Komödie seinen Namen gegeben hat, der slap stick, eine Erfindung der Commedia dell’arte, zeichnet sich eben dadurch aus, dass er ein lautes Geräusch macht (also nicht stumm ist), aber nicht weh tut. Die Commedia dell’arte gehört zusammen mit der Pantomime und dem Melodram – die mit stummen Rollen arbeiten – zu den vermeintlich niederen Formen des Theaters, auf die Kleist gerne zurückgreift oder anspielt, weil sie das bürgerliche Projekt der Bildung stören und vereiteln. Da Kobolde sich nicht disziplinieren lassen, kann man nicht auf sie zählen. Ihr 26 „[M]an leitet es seit Wachter (1737) [] allgemein von gr. κόβαλος ab, gauner, possenreiszer, schmarotzer u. ä.“ Art. „Kobold“ (wie Anm. 8), Sp. 1550. Diese Ableitung ist aber wohl falsch. Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Anm. 11), S. 29. 27 „,Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt‘ schrie das Männlein, und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen, und riß sich selbst mitten entzwei.“ Brüder Grimm: „Rumpelstilzchen“, in: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, hg. v. Heinz Rölleke, Frankfurt a. M., Leipzig 2004, S. 250–253, hier S. 253. Ich bedanke mich bei Winfried Kudszus für den Hinweis auf das Pflanzenartige des Kobolds Rumpelstilzchen. 28 Sosias beschreibt Sosias als einen unartigen, vielleicht sogar bösartigen, auf jeden Fall lästigen Hausgeist: „das vermaledeite Ich vom Hause“, Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 5), Vs. 729; „dies Teufels-Ich, [] Das Ich vom Hause dort“, ebd., Vs. 743–746. 29 Ebd., Vs. 768. 30 Wie Sosias sich selbst zerwalkt und wie seine Sätze auseinanderfallen wird analysiert in: Katrin Pahl: „The Logic of Emotionality“, in: PMLA 130/5 (2015), S. 1457–1466, hier S. 1461f. 31 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 5), Vs. 258.

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moralischer Sinn bleibt fragwürdig, aber sie könnten als Vorbilder dienen für eine Politik des Unsichtbar-Werdens nach Deleuze und Guattari. Eine Politik, die nicht auf Identität, Repräsentation und Zielgerichtetheit setzt.32 Eine solche unsichtbare oder „unmerkliche“ Politik versucht, das Spiel zielloser Aktionen zu ermöglichen, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit, unsere Art zu fühlen und zu handeln, verändern könnten.33 Obwohl Kobolde nicht zu fassen sind, machen sie sich durch ihre nächtlichen Beschäftigungen bemerkbar. Das Treiben der Kobolde kann nicht ignoriert werden;34 es ist, „als eine Kraft, die die existierende Organisation herausfordert“.35 Koboldartig sind auch Kleists Texte. Carol Jacobs hat zur Analyse von Kleists Stil die Metapher des Griffels (stylus) herangezogen, der sowohl einprägt als auch löscht und ebenso schwer zu fassen ist wie ein Blitzstrahl.36 Der Kobold bzw. das Koboldartige, das Sosias benennt, eignet sich insofern noch besser als Figur für Kleists Schreibweise, als es zugleich auf ihre queerness hindeutet. Plötzliche Wechsel von spielerischem Einklang zu tödlicher Unpässlichkeit sind häufig. Dann wird die Syntax durcheinandergewirbelt und nicht selten werden Körper zerstückelt. Dabei kann aber auch die extremste Grausamkeit geradezu ulkig

32 „Becoming imperceptible is a political practice through which social actors escape normalizing representations and reconstitute themselves in the course of participating and changing the conditions of their material corporeal existence.“ Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos: „Imperceptible Politics“, in: Dies.: Escape Routes. Control and Subversion in the Twenty-First Century, London, Ann Arbor 2008, S. 71–84, hier S. 81. Antke Engel stellt den Bezug von imperceptible politics zu queer politics her. Antke Engel: „Queer/Assemblage. Begehren als Durchquerung multipler Herrschaftsverhältnisse“, in: transversal 1 (2011), URL: http://eipcp.net/transversal/0811/engel/de (Zugriff: 01.10.2018). 33 Ich bringe hier ein radikaleres Politikverständnis in Anschlag als Jauß, der Sosias für seine Fähigkeit zu intersubjektiver Anerkennung lobt und diese jakobinisch nennt. Vgl. Hans Robert Jauß: „Von Plautus bis Kleist. ,Amphitryon‘ im dialogischen Prozeß der Arbeit am Mythos“, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 114–143, besonders S. 134. 34 „The imperceptible politics emanating from the void cannot be ignored.“ Papadopoulos, Stephenson und Tsianos: „Imperceptible Politics“ (wie Anm. 32), S. 80. 35 Ebd. (eigene Übersetzung, KP). 36 „The style (stylus) of Kleist is impossible to get a handle on: in his own words, we find it as elusive as a flash of lightning.“ Carol Jacobs: „The style of Kleist“, in: Diacritics 9/4 (1979), S. 47–61, hier S. 47. Zum Griffel als Schreibinstrument, das löscht vgl. ebd., S. 48.

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wirken. Kleist vermischt das Tragische mit dem Komischen,37 das Ernste mit dem Leichten, das Gradlinige mit dem Verqueren, Gold und Eisen mit Kobalt und Nickel.38 Es gibt viele launische Gestalten bei Kleist – nicht nur in den Lustspielen und nicht nur unter den Nebenfiguren. Kleist führt die Unart der Kobolde in die höhere Sphäre der Held_inn_en ein. Man denke an Graf Wetter vom Strahl, dessen Name bereits auf seine Wutausbrüche hinweist, der aber bei all seinen unpassendunangepassten und undienlichen Unpässlichkeiten findet, dass nur die Tochter eines Kaisers zu ihm passe – auch hier: „wie ein Mährchen“.39 Man denke an Graf F... aus Die Marquise von O.... , der erst wie ein Engel, dann wie ein Teufel erscheint; oder an Penthesilea und Thusnelda, die sich, wie ausgewechselt, eben noch als angenehme Gefährtinnen und im nächsten Augenblick als Bestien zeigen, die ihre Partner zerreißen. Die Angst vor Entblößung zieht sich wie ein roter Faden durch Kleists Werk und seine Personen verlangen oft unbedingte Treue. Selbst das beständige Käthchen kann als Kobold gelesen werden: Es lässt sich nicht festhalten, bleibt lieber unscheinbar und antwortet nicht auf Fragen, die ihm mit einiger Autorität gestellt werden. Gleichzeitig gelingt es dem Grafen vom Strahl nicht, es abzuschütteln. Ob die Marquise von Locarno das Weiblein, das sie ins Haus gelassen und das der Marchese quer durch das Zimmer hinter den Ofen (ein Lieblingsplatz des Kobolds) geschickt hat, durch den Schlossbrand losgeworden ist,

37 Für einschlägige Untersuchungen der Chimärisierung literarischer Gattungen in Bezug auf Amphitryon vgl. Peter Szondi: „Fünfmal Amphitryon: Plautus, Molière, Kleist, Giraudoux, Kaiser“, in: Ders.: Lektüren und Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und Literatursoziologie, Frankfurt a. M. 1973, S. 153–184. Bianca Theisen sieht mit der Vermischung der Gattungen in Penthesilea (sie untersucht, wie das tragische Pathos ins Komische kippt) auch das Geschlechterverhältnis bearbeitet. Vgl. Bianca Theisen: „‚Helden, Köter und Fraun‘. Kleists Hundekomödie“, in: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. Rüdiger Campe, Freiburg i. Br. 2008, 153–164. Zur Komik des Trauerspiels Penthesilea siehe auch: Katrin Pahl: „What a Mess“, in: MLN 130/3 (2015), S. 528–553, besonders S. 538–543. 38 „Vgl. die Metallnamen Kobalt und Nickel, die man, weil sie nutzlos waren, als Erzeugnisse von boshaften K[obolden] ansah”. Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (wie Anm. 11), S. 40. 39 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 5), Vs. 702. Mit „unpassend-unangepassten“ gebe ich Trinhs geniale und einflussreiche Wortschöpfung „inappropriate/d“ wieder. Vgl. She, the Inappropriate/d Other, hg. v. Trinh T. Minh-ha, Sonderausgabe, Discourse 8 (1986/1987). Die Undienlichkeit seiner Anfälle zeugen von nicht-zielgerichtetem Verhalten.

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bleibt offen. Der intertextuelle Bezug zur Sage vom Kobold im Hause des Oberförsters ist jedenfalls deutlich.40 Ob Sosias bloß eine Nebenrolle spielt, ist auch unklar. Sein Drama dominiert den ersten Akt. Den Gattungskonventionen gemäß hätte Sosias den Protagonisten der Komödie stellen sollen. Plautus, der die erste uns überlieferte Komödie aus dem Amphitryon-Stoff bildet,41 sieht sich gezwungen, sein Werk eine ‚tragicomoedia‘ zu nennen, da seine Hauptpersonen Könige und Götter sind.42 Rotrou macht Sosias dann auch folgerichtig zum Titelhelden seiner Version Les Sosies (1638). Und Molière schreibt sich die Rolle des Sosie auf den eigenen Leib. In der Uraufführung spielt er den Sosie und nutzt so die Einheit von Autor und Schauspieler, um sich in der Rolle des Dieners über die Herrschenden lustig zu machen.43 Kleist nutzt Sosias nicht bloß als komischen Kontrapunkt zu Amphitryon, sondern involviert ihn in die zentrale Intrige, das eheliche Missgeschick. Der Kobold Sosias schleicht sich ein zwischen Alkmene und Amphitryon. Er sitzt wie der Schalk im

40 „Vor Zeiten war bei einem Oberförster zu Thalheim im sächsischen Erzgebirge ein Kobold im Hause. Der neckte die Leute so arg, daß niemand im Hause bleiben mochte. Zuletzt brannte sogar das ganze Haus ab. Einige meinten, der Kobold habe es angezündet; aber die anderen meinten, der Oberförster habe es selbst getan, um nur das Ungetüm loszuwerden. Wie sie aber ihre Sachen ausgeräumt und auf einen Wagen gepackt hatten und die Fuhre sich eben in Bewegung gesetzt hatte, hörten sie unter dem Wagen eine Stimme, die sprach: ‚Wären wir nicht so gerannt, / So wären wir wohl mit verbrannt.‘“ Deutsches Sagenbuch (wie Anm. 9), S. 164. 41 Alkmene, eine nicht-erhaltene Tragödie von Euripides, hat wohl schon im antiken Griechenland zu satirischen Komödien angeregt. Vgl. Franz Stoessl: „Amphitryon. Wachstum und Wandlung eines poetischen Stoffes“, in: Trivium 2 (1944), S. 109f.; Szondi: „Fünfmal Amphitryon“ (wie Anm. 37). 42 Siehe den Prolog von Plautus, besonders die Zeilen: „Es ganz ins Komische zu wenden, wäre / Nicht recht, da Helden hier und Götter spielen“. Titus Maccius Plautus: Amphitryon, übers. v. E. R. Lehmann-Leander, in: Amphitryon (Plautus, Molière, Dryden, Kleist, Giraudoux, Kaiser), hg. v. Joachim Schondorff, München, Wien 1964, S. 33– 90. 43 Die Anmerkungen zur Gesamtausgabe der Bibliothèque de la Pléiade geben an, dass Molière den Sosie gespielt hat. Vgl. Molière: Oeuvres Complètes, hg. v. Georges Forestier, Bd. 1, Paris 2010, S. 1519. Virginia Scott führt aus, dass die Satire dem König Louis XIV. gelte. „Molière is satirizing … Louis’s behavior. Jupiter is clearly a sexual predator and his justifications are undercut by Amphitryon’s silence and by the reactions of his valet, Sosie, played by Molière himself.“ Virginia Scott: Molière. A Theatrical Life, Cambridge 2000, S. 156.

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Herzen ihrer Ehe, der Alkmene hinter den Ohren und dem Amphitryon im Nacken.44 Während seiner nächtlichen Wanderung durch den Wald stellt sich Sosias vor, wie er von seiner Herrin besonders herzlich empfangen wird. Gemessen an den sozialen Gegebenheiten ist die Begrüßung, die er sie sprechen lässt, während er für seinen Auftritt probt, völlig übertrieben: „Ach, wahrhaftig, liebster / Sosias, meine Freude mäßg’ ich nicht, / Da ich dich wiedersehe“.45 Der Zeilenumbruch zwischen „liebster“ und „Sosias“ veranlasst zu einer kurzen Pause nach „liebster“ und erlaubt somit eine Lesart, in der Alkmene Sosias ihren Geliebten nennt: ‚Ach, wahrhaftig, Liebster‘. Noch bevor er sich selbst verdoppelt, doubelt Sosias also Amphitryon – und Amphitryon wird unwichtig. Sosias versichert Alkmene, dass Amphitryon noch eine Weile mit den Truppen beschäftigt sein wird, bevor er dann endlich nach Hause kommen kann. Weil der Ehemann seine militärischen Pflichten über seine ehelichen Freuden stellt, kann Sosias den Liebhaber spielen und zum Vorspiel aufreizend-genüsslich von der Schlacht erzählen. Auch wenn all dies nur in der Fantasie von Sosias stattfindet, lässt ihm der textliche Aufbau des Stücks ebenfalls den Vortritt vor Amphitryon. In der Rede des Sosias erhält Alkmene ihren ersten Auftritt mitsamt ihrem charakteristischen „Ach“.46 Während das letzte ‚Ach!‘, das so berühmte und für seine Uneindeutigkeit berüchtigte letzte Wort des Stücks direkt auf Amphitryon antwortet, aber auch eine verzögerte Reaktion auf die Enthüllung Jupiters darstellt, ruft Sosias das erste ‚Ach‘ hervor: „Ach, wahrhaftig, liebster / Sosias“. Amphitryon wird seine Gattin nicht nur von oben (von Seiten Jupiters, des Göttlichen) streitig gemacht, sondern auch von unten (von Seiten seines Dieners, des Koboldartigen).

A UFLÖSUNG Wenn Kleist die Gattungsgrenzen nicht einhält und die literarischen Gattungen miteinander verwickelt, so geht es dabei um Geschlecht. Kleists Verwicklungen sind methodisch und können sowohl die Gattung des Gesamttexts (wenn etwa das Lustspiel von Amphitryon mit der Tragödie des Sosias verwoben und Sosias in

44 „[D]er schalk im herzen“ und „da regt sich der schalck hinter den oren“, in beiden Fällen in Bezug auf Ehebruch. Art. „Schalk“, in: DWB, Bd. 14, Sp. 2072. Für unseren Kontext nicht irrelevant ist auch, dass bei Grimm das Wort Schalk „in der bedeutung knecht, diener“ auftaucht. Vgl. ebd., Sp. 2067. 45 Kleist: „Amphitryon“ (wie Anm. 5), Vs. 53–55. 46 Nachdem Sosias Alkmene auftreten lässt, sagt sie noch sieben Mal ‚Ach‘.

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die zentrale Intrige, das eheliche Missgeschick, eingebunden wird) als auch interne Bezugnahmen auf Kunstgattungen (wie z. B. den slap stick, der aber stumm sein soll) betreffen. Kleist respektiert die Grenze, die seit dem 18. Jahrhundert zunehmend schärfer zwischen den zwei als komplementär konstruierten Geschlechtern gezogen wird, nicht. Mit seinen märchenhaften Geschlechtern – den Kobolden, sowie den bisher bekannteren Amazonen und häufiger bemerkten Amphibien (man denke an seine Schwester Ulrike,47 an Kunigunde48 und an die Wassermänner und Sirenen aus den Berliner Abendblättern49) – entwickelt Kleist Figuren, die mehr oder weniger unmerklich die zu seiner Zeit massiv durchgesetzte binäre Geschlechterordnung auflösen und die normativ eingeschränkten Möglichkeiten bzw. Fähigkeiten, wahrzunehmen, zu verstehen, zu fühlen und zu handeln, erweitern und verändern.

47 „Wunsch am neuen Jahre 1800 / für Ulrike von Kleist. / Amphibion Du, das in zwei Elementen / stets lebet“. BKA III, S. 20. 48 In den im Phöbus vorveröffentlichten Fragmenten von Das Käthchen von Heilbronn hat Kunigunde einen Fischschwanz. 49 Vgl. „Wassermänner und Sirenen“, in: BA, Nr. 30 u. 31. Die Geschlechterdifferenz zwischen Wassermännern und Sirenen ist bei Kleist ironisch zu nehmen. Vgl. Andreas Kraß: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt a. M. 2010, S. 85–93.

Gräuel entdecken Genologische Demonstrationen im Käthchen von Heilbronn M ATTHIAS P REUSS

Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Problem der Gattung bildet eine Szene, die in Kleists Das Käthchen von Heilbronn nicht vorkommt. Anhand dieser Leerstelle wird im Folgenden ein Aspekt der Gattungsarbeit Kleists untersucht: der figurative Zusammenhang zwischen Unarten, verstanden als regelwidriges Verhalten, und der Unart, verstanden als uneindeutiges Ding.1 Im monströsen Körper Kunigundes manifestiert sich ein genologisches Problem, das durch die Streichung aus Rücksicht auf Darstellbarkeit erst ausgestellt wird. Der Gräuel dieser Figur, so lautet die Hypothese, bildet das negative Zentrum des Schauspiels. In Kleists paradoxem dramatischen Demonstrationsexperiment, bei dem es nichts zu sehen, aber viel zu entdecken gibt, verschränken sich verschiedene Kontexte des Gattungswissens um 1800. Nach einer genaueren Betrachtung der komplexen Wissensfigur Kunigunde im ersten Abschnitt dieses Beitrags wird diese in zwei anschließenden Lektüren je unterschiedlich verortet. Der zweite Abschnitt situiert die Figur in Naturgeschichte und Naturphilosophie, der dritte in Poetik und Ästhetik.

S CHRECKEN IM B ADE Im vierten Akt des Schauspiels überrascht Katharina, die Tochter des Waffenschmieds Friedeborn − sonst ‚das Käthchen‘ genannt − ihre adlige Gegenspielerin Kunigunde von Thurneck beim Bad in einer gotischen Grotte. Das Spektakel der entblößten Edeldame wird im Dramentext ausgespart. Dass es sich ereignet, lässt sich aus dem Botenbericht zweier Stellvertreter*innen schließen. Die parallel 1

Zum Bedeutungsspektrum der ‚Unarten‘ vgl. die Einleitung dieses Sammelbandes.

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stattfindende Begegnung von Fräulein Leonore und Rosalie vor der Grotte, die an die Stelle des Aufeinandertreffens von Katharina und Kunigunde in der Grotte rückt, gibt Anlass zu einem Dialog, in dem rekonstruiert wird, dass sich Katharina bereits in einer „Nebenkammer“ befunden haben muss, als Kunigunde in die unabgeschlossene Grotte eindringt und nackt ins Wasser steigt.2 Was Käthchen sieht, das Ereignis (Er-äug-nis3), wird ausgeblendet. Der sich im Dunkeln bietende Anblick ist nur spekulativ zu erfassen, nicht speläologisch.4 Der Text verstellt den Zugang zur Höhle. Sie wird im Gegensatz zum ersten Akt, der mit einer unterirdischen Sitzung des Femegerichts eröffnet,5 nicht zum Schauplatz. Lediglich die Wirkungen des Zusammentreffens lassen sich beobachten. Als Katharina wieder auftritt, ist sie äußerst mitgenommen. Der Anblick Kunigundes, der dem Publikum erspart bleibt, hat ihre Sensorik überlastet („Bist Du bei Sinnen?“6, fragt Eleonore) und ihr die Sprache verschlagen: „Ich will dir sagen − / (sie kann nicht sprechen)“7; „Und eben von dem Rand ins Becken steigend, / Erblickt mein Aug’ −“8. Katharina unternimmt eine Reihe solcher Versuche, das Gesehene darzustellen, ihre Rede bricht jedoch immer wieder ab. Diese Anläufe stellen ihr Unvermögen aus, das Ereignis zu verbalisieren. Gedankenstriche markieren die Grenzen des Sagbaren9 und weisen auf Auslassungen hin. Mit etwas Abstand gelingt es Käthchen später im Gespräch mit Eleonore, ihr Erlebnis versuchsweise auf den

2

Heinrich von Kleist: „Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel“, in: BKA I/6, S. 163f. Es handelt sich um den fünften Auftritt des vierten Akts.

3

„ERÄUGNEN, ereugnen, ereignen, contingere, accidere, steht nur reflexiv und bedeutet eigentlich erscheinen, sich offenbaren.“ Art. „Ereignis“, in: DWB, Bd. 3, Sp. 699.

4

Motivgeschichtlich lässt sich die vermiedene Szene als Variation der ‚Susanna im Bade‘ auffassen. In der zugrunde liegenden biblischen Erzählung (Dan 13, 1−64) wird anhand einer versuchten Vergewaltigung, die durch unabhängige Zeugenbefragung aufgeklärt wird, der Zusammenhang von Beobachtung, Sprechen und Wissen thematisiert. Ebenfalls nicht fern liegt Ovids badende Diana. Was Kleists Texte angeht, gibt es intertextuelle Verbindungen zur Idylle Schrecken im Bade.

5

„S c e n e : Eine unterirdische Höhle, mit den Insignien des Vehmgerichts, / von einer Lampe erleuchtet.“ Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 11.

6

Ebd., S. 68.

7

Ebd., S. 166.

8

Ebd., S. 167.

9

Über Kleists Gedankenstriche im Zusammenhang mit Sprachlosigkeit, Gewalt und Wissen: László F. Földényi: „Gedankenstrich“, in: Ders.: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter, München 1999, S. 154−160.

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Begriff des Gräuels zu bringen:10 „− Doch ihm nicht sagen, nein, um’s Himmels willen, / Daß es von mir kommt. Hörst du? Eher wollt’ ich, / Daß er den Gräuel nimmermehr entdeckte“11. Als ‚Gräuel‘ wird um 1800 erstens der „höchste Grad des sinnlichen Abscheues, der Ekel,“ bezeichnet und zweitens „ein Gegenstand dieses höchsten Grades des Abscheues“.12 Die Bedeutung schwankt zwischen Ursache und Wirkung. Dabei steht allerdings zu vermuten, dass das Wort etymologisch in erster Linie mit der Wirkung, d.h. der somatischen Reaktion auf Abscheu Erregendes, zusammenhängt. Denn ‚Gräuel‘, so betont Adelung, leitet sich vom Wort ‚Grauen‘ ab,13 das „eigentlich den Schauer auszudrucken“ scheint, der damit „alle Mahl verbunden“ ist und „die Haut rauh macht, oder ein Rieseln in derselben erwecket.“14 Die Semantik des Gräuels ist durch eine elliptische Struktur gekennzeichnet: Das affizierende Objekt wird nicht direkt bezeichnet, sondern die Bezeichnung nimmt einen metonymischen Umweg über das mit dem Sinneseindruck verbundene Grauen. Der vierte Akt von Das Käthchen von Heilbronn führt diese elliptische Struktur im Großen vor, indem der ‚Gegenstand des höchsten Grades des Abscheues‘ ausgelassen und stattdessen die körperliche Reaktion der sonst ätherischen Katharina fixiert wird. So wie das Wort ‚Gräuel‘ das Signifikat nur indirekt einholt, erscheint Kunigundes Körper nur in der Vermittlung der Rede.15 Nähere Informationen über dessen Anblick bleiben im Stück allerdings suspendiert. Kunigunde gibt gar einen Giftmord an Katharina in Auftrag, um sie an einer Aussage

10 Die ästhetische Problematik des Gräuels wurde in der Kleistforschung vor allem in Bezug auf die Zerreißungsszene in Penthesilea behandelt. Vgl. z. B. Gabriele Brandstetter: „Penthesilea“, in: Kleists Dramen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 75−115; Yixu Lü und Anthony Stephens: „‚Gewaltig die Natur im Menschen‘. Affekte und Reflexivität der Sprache in Kleists vollendeten Trauerspielen“, in: KJb 2008/2009, S. 214−231. 11 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 167. 12 Art. „Gräuel“, in: GWH, Bd. 2, Sp. 787. 13 Daher verwirft Adelung die Schreibweise ‚Greuel‘ als falsch. 14 Art. „Gräuel“ (wie Anm. 12), Sp. 788. 15 Die elliptische Struktur kehrt auch in Foucaults paradoxaler Bestimmung des Monströsen als unerkennbares Prinzip der Erkennbarkeit wieder. Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt a. M. 2007, S. 78. Menninghaus beschreibt aus ästhetischer Perspektive in seiner Studie über den Ekel die dieser Affektion eigene „Unterbrechung von Kontinuität und Kontiguität“, die „spontane Produktion einer Verwerfung“. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 15.

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zu hindern. Erst im fünften Akt entdeckt der Burggraf von Freiburg, ein Ex Kunigundes, das „Räthsel[]“16: So will ich es dir sagen. Sie ist eine mosaische Arbeit, aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt. Ihre Zähne gehören einem Mädchen aus München, ihre Haare sind aus Frankreich verschrieben, ihrer Wangen Gesundheit kommt aus den Bergwerken in Ungarn, und den Wuchs, den ihr an ihr bewundert, hat sie einem Hemde zu danken, das ihr der Schmidt, aus schwedischem Eisen, verfertigt hat. − Hast du verstanden?17

Zum einen wird deutlich, dass sich der Körper Kunigundes schwer einordnen lässt. Wie Freiburgs nachgetragene Detaillierung nahelegt, stellt dessen Zusammensetzung die anderen Figuren vor klassifikatorische Herausforderungen. Zum anderen aber erschwert dies auch die Gattungszuordnung des Stücks. Der ausgelassenen Szene der Begegnung im Bad korrespondiert werkgeschichtlich eine gestrichene Szene. Roland Reuß etwa thematisiert in Bezug auf Das Käthchen von Heilbronn „Eingriffe Kleists mit Blick auf eine größere Akkommodation an die Theaterpraxis“18, die aus Eduard von Bülows Kleist-Biografie hervorgehen. So habe Kleist auf Tiecks Kritik hin19 eine „merkwürdige Szene“ gestrichen („vernichtet“), in der die „karikirte Häßlichkeit“ Kunigundes „weit besser motivirt“ wurde, weil sie das Stück „gewissermaßen in das Gebiet des Märchens oder des Zaubers hinüberspielte.“20 Je nach Gewichtung der Karikatur changiert der Text zwischen Schauspiel oder Märchen und fordert auch die Unterscheidung der ‚Naturformen‘ Epik, Lyrik und Dramatik heraus. Anders als in Die Familie Schroffenstein geht es in Das Käthchen von Heilbronn nicht um einen „Gestank“, sondern um einen Anblick, also ein ‚Gesicht‘, das „die Gattung schreckt“.21 Der Titel der Kleistʼschen Idylle Schrecken im Bade

16 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 168. 17 Ebd., S. 178. 18 BKA I/6, S. 308. 19 Sein Bedauern über die Entscheidung drückt Kleist in einem von Wilhelm von Schütz überlieferten Brief an Marie von Kleist aus (vermutlich 1811). Vgl. Peter Staengle: „Kleist – in der Hand von Wilhelm von Schütz“, in: Brandenburger Kleist-Blätter 2 (1989), S. 46−49. Auch Tieck bereut später offenbar seinen Einfluss in dieser Angelegenheit. 20 Eduard v. Bülow: Heinrich von Kleist’s Leben und Briefe, Berlin 1848, S. 56. Zitiert nach: BKA I/6, S. 308. 21 Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein“, in: BKA I/1, S. 13.

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wäre daher auch passend für die ausgelassene Szene.22 Kunigunde trägt das ‚Schrecken der Gattung‘ im Namen. Dessen erster Bestandteil ist das althochdeutsche Substantiv ‚kunni‘ bzw. ‚kuni‘ (got.), das „Geschlecht, Stamm, Abstammung, Verwandtschaft, Generation, Nachwuchs; [Schlangen]brut; Gewächs; Stand; Art“23 bedeuten kann und häufig zur Übersetzung des lateinischen Ausdrucks ‚genus‘ herangezogen wurde.24 ‚Kuni‘ lässt sich also als althochdeutscher Gattungsbegriff verstehen, in dem sich semantische Felder überlagern. Der zweite Bestandteil geht auf das althochdeutsche ‚gunda‘ bzw. ‚gund‘ zurück, das sich mit ‚Kampf‘ übersetzen lässt.25 ‚Kunigunde‘ lässt sich in zweifacher Hinsicht als generischer Name auffassen: Zum einen ist die Gattung etymologisch in den Namen eingeschrieben und wird buchstäblich mit dem Kampf in Verbindung gebracht. Damit wird auch die Gattung zu einer umstrittenen Problematik. Zum anderen ist der Name Kunigunde spätestens seit Schillers Ballade Der Handschuh (1787) sowie durch ein kursierendes Volkslied zum „typischen Namen des Burgfräuleins“ geronnen.26 Es darf also davon ausgegangen werden, dass Kunigunde im Käthchen als erkennbares Klischee auftritt. Als solches ist die Figur überdeterminiert: Erstens markiert und stabilisiert sie die Gattung des ‚historische[n] Ritterschauspiel[s]‘. Zweitens transzendiert der Typus Kunigunde Gattungsgrenzen. Dafür spricht schon die Trajektorie Ballade – Volkslied – historisches Ritterschauspiel. Drittens rekrutiert sich Kunigunde aus dem Adel. Als Person von Stand verkörpert sie ein soziohistorisches Distinktionsmerkmal literarischer Gattungen.

22 Zu Kleists Schrecken im Bade vgl. Gerhard Neumann: „‚…Der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch‘. Goethe und Heinrich von Kleist in der Geschichte des physiognomischen Blicks“, in: KJb 1988/89, S. 259−275; Heinrich Ringleb: „Das Ende der Idyllendichtung“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 313−351. 23 Eintr. „KUNNI“, in: Jochen Splett: Althochdeutsches Wörterbuch, Berlin, New York 1993, Bd. I,1, S. 496−497, hier S. 496. 24 Eintr. „kunni“, in: Gerhard Köbler: Wörterbuch des Althochdeutschen Sprachschatzes, Paderborn u. a. 1993, S. 688. 25 Eintr. „GUNDA“, in: Splett: Althochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 23), Bd. I/1, S. 332; Lemma „gunda“ in: Köbler: Wörterbuch des Althochdeutschen Sprachschatzes (wie Anm. 24), S. 498. 26 Eintr. „Kunigunde“, in: Wilfried Seibicke: Historisches Deutsches Vornamenbuch, Berlin, New York 1998, Bd. 2, S. 718–720, hier S. 719. Ebenso: Eintr. „Kunigunde“, in: Lexikon der Vornamen, hg. v. Rosa Kohlheim und Volker Kohlheim, Mannheim, Leipzig u. a. 52007, S. 228.

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N ATURGESCHICHTE

UND

N ATURPHILOSOPHIE

Freiburgs Enträtselung Kunigundes stellt die monströse Figur nachträglich vor Augen und liefert mit dem Stichwort der drei Naturreiche („aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt“27) einen möglichen Interpretationsrahmen. Durch die Ekphrasis Freiburgs wird der epistemische Schauplatz präpariert, an dem die Figur Kunigunde nachträglich erscheinen und ein zweites Mal Effekt haben kann. Kunigundes Körper wird durch die Beschreibung von Zusammensetzung und Herkunft der Teile erweitert, entgrenzt und ersetzt. Nicht eine Verkleidung Kunigundes wird zum Thema, in dem Sinne etwa, dass hinter der Abscheu erregenden Maske ein ‚eigentlicher‘ Körper verborgen bliebe, sondern Kunigunde ‚ist‘ die Summe von Versatzstücken menschlicher (also tierlicher), mineralischer und, so legt es die Rede von den drei Reichen nahe, vegetabilischer Natur. Dabei lässt sich nicht mehr ausmachen, welche Züge wesentlich sind,28 d. h. es gibt kein Merkmal, aufgrund dessen Kunigunde sich einem der Reiche eindeutig zuordnen ließe. Ihre Gattung lässt sich nicht bestimmen. Sie ist, nach einer die spätere Entdeckung vorwegnehmenden Bemerkung Freiburgs, ein „wesenlose[s] Bild“29. Die hier zitierte Unterscheidung dreier Naturreiche nimmt bereits der Baseler Mediziner und Physiker Emanuel König (1658−1731) vor, in dessen Werken Regnum minerale und Regnum vegetabile et animale (1682) zwischen den Bereichen der pharmakologischen Iatrochemie (unbelebte, mineralische Natur; Pflanzenund Tierreich) differenziert wird.30 Ein Eintrag im Zedler zeigt, dass diese Unterscheidung Mitte des 18. Jahrhunderts präsent war.31 Die Unterscheidung der drei Reiche der Natur, d.h. der Mineralien (regnum lapideum), der Pflanzen (regnum vegetabile) und Tiere (regnum animale), bildet auch die strukturelle Grundlage der naturgeschichtlichen Klassifikation, die der schwedische Taxonom Carl von Linné in Systema Naturae (1735) vornimmt. In der 1740 in Halle veröffentlichten deutschen Übersetzung von Johann Joachim Lange heißt es:

27 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 178. 28 Das lässt sich auch so beschreiben, dass das Verhältnis zwischen Figur und Ornament unklar wird. Derrida behandelt dieses Problem im Zusammenhang von Sprache, Identität und Politik. Vgl. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 2002. 29 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 64. 30 Diese Sammlung fasst Emanuel König 1693 noch einmal zusammen in Κέρας Άμαλτείας. Thesaurus remediorum e triplice regno (nach dem Horn der Amalteia, der Ziege des Zeus). 31 Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., 1731−1754, Bd. 15, Sp. 1235f.

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14. Die natuerlichen Coerper werden in drey Reiche der Natur eingetheilet: nemlich in das Stein- Pflanzen- und Thierreich. / 15. Die Steine wachsen, Die Pflanzen wachsen und leben; die Tiere wachsen leben und empfinden.32

Die hier dargelegte fundamentale trinäre Struktur ermöglicht es nach Linnés Auffassung erst, Naturdinge zu erfassen, zu benennen und damit zu Gegenständen des Wissens zu machen: 10. Der erste Grad der Weisheit ist, die Sachen selber zu kennen, und diese Kenntniß besteht im wahren Begriff der vorkommenden Dinge. Diese aber werden unterschieden und erkannt durch eine ordentliche Eintheilung, und geschickte Benennung. Daher die Eintheilung und Benennung der Grund unserer Wissenschaft ist.33

Linné ist aufklärerisch darum bemüht, Mischformen, die Demarkationslinien zwischen den obersten Taxa (also den Reichen, regna) überschreiten, als Paradoxa („Irrige Meynungen“34) zu entlarven und einzuordnen. Strittige Fälle mythologischer oder populärer Provenienz bündelt ein Quasi-Taxon. Rubriziert werden beispielsweise das Baromez (auch das ‚Scytische Lamm‘ genannt), die Bernicla und der Satyr. Die Reinigungsarbeit findet aber auch im Bereich der doxa statt. So wird beispielsweise die Ordnung der ‚Pflanzenartigen‘ den Animalia zugeschlagen, wohingegen versteinerte Tiere und Pflanzen (Petrificata) ins Reich der Steine sortiert werden. 1747 reagiert Lessing in der Wochenzeitschrift Der Naturforscher mit einem persiflierenden Gedicht, das den Titel Die drey Reiche der Natur trägt,35 auf eine zuvor veröffentlichte Abhandlung über die drei Reiche, die Christlob Mylius in orthodox Linné’scher Manier verfasst. Auch Kleist bringt im Käthchen einen poetischen Einwand gegen eine als zu rigoros aufgefasste Ordnung der Naturdinge hervor. Zwischen August 1807 und April 1809, also während der Arbeit am

32 Carl von Linné: Natur-Systema, Oder Die in ordentlichem Zusammenhange vorgetragene Drei Reiche der Natur, nach ihren Classen, Ordnungen, Geschlechtern und Arten, 1. dt. und zugl. 3. Aufl. des lat. Orig., übers. v. Johann Joachim Lange, Halle 1740, S. 3f. 33 Ebd., S. 3. 34 Ebd., S. 69. 35 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: „Die drey Reiche der Natur“, in: Der Naturforscher, eine physikalische Wochenschrift auf die Jahre 1747 und 1748, Leipzig 1747−1748, 9. Stück, S. 71f.

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Käthchen,36 hört Kleist in Dresden die Vorlesungen Gotthilf Heinrich Schuberts (1780−1860),37 der darin seine Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft zu Gehör bringt, und kommt auch über diese Veranstaltung hinaus mit dem romantischen Naturphilosophen ins Gespräch.38 Schuberts Vorlesungen sind einerseits der trinären Grundstruktur der Linné’schen Taxonomie entsprechend angelegt, nehmen andererseits aber gerade die paradoxen Übergänge in den Blick und propagieren eine weniger rigide Ordnung der Natur. In der zehnten Vorlesung, die mit „Einige Bemerkungen über die Annäherungen des Pflanzen- zum Thierreich“ überschrieben ist,39 wird Linnés Systematik moduliert. Ihre Grenzlinien werden zu Grenzräumen ausgeweitet.40 Schubert gruppiert die Lebensformen nicht wie Linné nach Form und Anzahl bestimmter körperlicher Merkmale (Zähne und Hufen bei den Tieren, Sexualorgane bei den Pflanzen). Vielmehr wird der Grad der Vollkommenheit verschiedener Merkmale quer durch Tier- und Pflanzenreich zum Kriterium. Dadurch ergibt sich eine 36 Roland Reuß geht von einer Entstehung zwischen dem Druck des ersten Fragments im Phöbus im April/Mai 1808 und Ende September, Anfang Oktober 1808 aus. Die Annahme des Spätherbsts 1807 als Zeitpunkt des Beginns der Arbeit am Stück wird als zu unsicher verworfen. Vgl. BKA I/6, S. 303f. 37 Vgl. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biografie, Frankfurt a. M. 2012, S. 309; Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 88; Jürgen Daiber: „Naturwissenschaften“, in: KHb, S. 265−268, hier S. 267. Im KHb ist der Titel der Vorlesungen mit „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften“ (Plural) angegeben. 38 Daraus resultiert unter anderem die Beschäftigung mit dem tierischen Magnetismus, die sich im Käthchen niederschlägt. Vgl. Katharina Weder: Kleist magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008. 39 Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 242−269. Hier und im Folgenden habe ich die Schreibweise angepasst. 40 Derrida führt für verräumlichte Grenzen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der anthropologischen Differenz den Begriff ‚Limitrophie‘ ein. „[D]ie Limitrophie, das also ist das Sujet. […] Was ich sagen werde, wird vor allem nicht darin bestehen, die Grenze auszulöschen, sondern darin, ihre Figuren zu vervielfältigen […].“ Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, übers. v. Markus Sedlaczek, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2010, S. 55. Roland Borgards spricht im Anschluss daran von Theriotopien. Vgl. Roland Borgards: „Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus“, in: Politische Zoologie, hg. v. Anne von der Heiden und Joseph Vogl, Zürich, Berlin 2007, S. 131–147; Ders.: „Hund, Affe, Mensch. Theriotopien bei David Lynch, Paulus Potter und Johann Gottfried Schnabel“, in: Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, hg. v. Maximilian Bergengruen und ders., Göttingen 2009, S. 105–142.

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flexible Neuordnung.41 Die parallele Entwicklung der Naturdinge schlage an „Wendepunkte[n]“42 qualitativ um, woraus sich potenziell neue Taxa und eine andere Hierarchisierung ergeben.43 Laut Schubert gibt es zwei Arten von grenzüberschreitenden Naturerscheinungen: konkrete Übergangsformen (Mischkörper)44 und unbewusste kommunikative Wechselwirkungen zwischen Gattungen.45 Diesen „Aeußerungen, welche wunderbar ueber die gewoehnlichen Graenzen unsrer Natur hinüberreichen“46, misst er in der „Geschichte des allgemeinen Lebens“ eine „tiefe Bedeutung“ bei.47 Schubert publiziert 1808 im vierten Heft des von Kleist und Müller herausgegebenen Phöbus einen kurzen Text mit dem Titel Fragmente aus einer Vorlesung. Sieben Seiten danach folgt im gleichen Heft das erste Fragment des Käthchens,48 das den Anfang des Stücks bis Auftritt II/1 umfasst,49 und damit die zuvor erwähnten Stellen noch nicht enthält. Diese Koinzidenz dient nicht als Beweis eines historischen Rezeptionszusammenhangs, sondern bildet den Anlass dafür, die Texte miteinander zu lesen. In Schuberts Fragmenten geht es − wie in Kleists in Frag-

41 Schubert: Ansichten (wie Anm. 39), S. 242f. 42 Ebd., S. 264. 43 Ebd., S. 256. 44 Angeführt werden u.a. folgende Beispiele: „So findet sich von den Flechten aus, ein Uebergang in die starren Gestalten des Steinreichs“ (ebd., S. 242); „die korallenartigen Meeresprodukte […] sind allerdings halb von thierischer halb von pflanzenartiger Natur.“ (S. 243); „Uebergaenge von der Pflanze zum Thier“ finden sich bei den Mimosen, die sich bei Berührung „wie ein empfindliches Thier sich zusammenziehen.“ Eine „Uebereinstimmung der aeußern Gestalt einiger Pflanzentheile mit der gewisser Insekten“ (S. 247) wird geltend gemacht. Generell lasse sich bei Pflanzen „eine thierische Reizbarkeit und wie von einem Instinkt getriebene Beweglichkeit“ feststellen (S. 245), und zwar auch in Teilen z. B. beim Blütenstaub, der „nach neuen Versuchen“, bei denen Blütenstaub mit Weingeist (Ethanol) benetzt wird, „eine gewisse hüpfende Bewegung“ vollführe. Siehe dazu auch die Behandlung trinkender Pflanzen bei Lessing. Vgl. Lessing: „Die drey Reiche der Natur“ (wie Anm. 35). 45 So ist die Rede von „Vorahndung[en]“ künftiger Stufen (wobei der Mensch die Entwicklungsrichtung vorgibt, denn dem Menschsein gelte die „Sehnsucht“ in der Natur) und „Erinnrung[en] an einen vorhergegangnen Zustand“ (ebd.). Beides komme besonders im Traum vor. Schubert: Ansichten (wie Anm. 39), S. 268. 46 Ebd., S. 250. 47 Ebd., S. 249f. 48 Vgl. Phöbus. Ein Journal für die Kunst 4 (1808), S. 75−104. 49 Vgl. BKA I/6, S. 303.

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menten vor-veröffentlichtem Schauspiel − um einen Mischkörper, und zwar hier um „einen der merkwürdigsten Fälle von Menschenversteinerungen“: Man fand diesen ehemaligen Bergmann, in der schwedischen Eisengrube zu Falun, als zwischen zween Schachten ein Durchschlag versucht wurde. Der Leichnam, ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, war anfangs weich, wurde aber, sobald man ihn an die Luft gebracht, so hart wie Stein.50

Der die Naturreiche durchkreuzende Leichnam wurde ausgerechnet in einer ‚schwedischen Eisengrube‘ entdeckt. Aus einer solchen stammt auch das Eisen für Kunigundes panzerartige Korsage.51 Gleichzeitig verweist die Herkunft des Metalls auch auf die Heimat Linnés, der die Natur ‚in ein Korsett zwängt‘. In seinem Pariser Brief vom 28./29. Juli 180152 prangert Kleist die „zyklopische Einseitigkeit“ der Linnè’schen Taxonomie an und bemängelt explizit die Einteilung in Gattungen sowie die lineare Hierarchisierung in einer ‚Reihe der Dinge‘. Diese Aversion gegen die epistemische Unart des strengen Klassifizierens ist wenig originell.53 Sie entspricht dem Status Linnés als Antiheld, der für die Poetiken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur negativen Referenz schlechthin wird.54 Damit setzt sich die zeitgenössische Kritik an Linnés Systematisierung fort. Der ‚Kontrahent‘ Buffon hält in seiner Histoire naturelle (1749) Linné eine „unbändige Lust Classen zu machen“ vor, die ihn dazu treibe, „so unterschiedene Dinge zusammen[zu]setzen [], als der Mensch, das Faulthier, der Affe und die schuppige Eidechse sind“.55 Eine weitere epistemische Unart Linnés bestehe nach Buffon

50 Gotthilf Heinrich Schubert: „Fragmente aus einer Vorlesung“, in: Phöbus. Ein Journal für die Kunst 4 (1808), S. 67−68, hier S. 67. 51 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 178. 52 Vgl. dazu die Einleitung dieses Bandes. 53 Werner Michler: „Klassifikation und Naturform. Zur Konstitution einer Biopoetik der Gattungen im 18. Jahrhundert“, in: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, hg. v. Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg, Göttingen 2003, S. 35–50, hier S. 36. 54 Linné steht in puncto Antipathie allerdings noch Gottsched nach: „Wenn es in den Poetiken der Jahrhundertmitte eine bête noire gegeben hat, dann zwar gewiss Gottsched – aber dann muss wohl gleich Linné gekommen sein.“ Ebd. 55 Gorges-Louis Leclerc de Buffon: „Erste Abhandlung, von der Art die Historie der Natur abzuhandeln“, in: Ders., Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen, übers. v. Albrecht von Haller, Bd. 1.1, Hamburg, Leipzig 1750, S. 3−40, hier S. 27. Zitiert nach Michler: „Klassifikation“ (wie Anm. 53), S. 37. Michler weist darauf

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darin, dass er zusammenbringe, was nicht zusammengehört, und so ein ‚künstliches System‘ entwerfe.56 Vor diesem Hintergrund konvergieren die Figuren des Bergmanns bei Schubert und der Kunigunde bei Kleist. Kleist macht aus der Linné’schen Unart, Entferntes zusammenzusetzen, eine poetische Tugend und konstruiert mit analogen Mitteln einen paradoxen Mischkörper, eine ‚unsystematische‘ Lebensform. Kunigunde ist in diesem Kontext mindestens dreifach kodiert. Erstens erscheint sie als inkarnierte Überschreitung der sich an der göttlichen Ordnung der Natur orientierenden naturgeschichtlichen Wissensordnung, in der jedes Naturding (Tier, Pflanze oder Mineral) genau einem höheren Taxon eindeutig zugeordnet ist. Kunigunde wird als Körpermonster konstruiert, das aus dieser Systematik herausfällt. Dabei erweist sich Kleist als Meister des Hyperbolischen. Bereits Hybride, d.h. Mischungen zweier verschiedener Arten gelten als Monster; Kunigunde allerdings hat viele Bestandteile aus allen drei Reichen der Natur. Zweitens wird die Figur durch ein naturgeschichtliches Verfahren hervorgebracht. Die von Buffon kritisierte ‚Künstlichkeit‘ der Linné’schen Methode wird produktiv gemacht und mit abstoßendem Effekt eingesetzt. Während Kunigunde die epistemische Unart der wilden Kombination personifiziert, werden Katharina und mit ihr die gesamte Ständegesellschaft mit dem starren Ordnungsdenken assoziiert. Drittens tritt Kunigunde als Schöpferin ihrer selbst auf.57 Die prothetische Technik, mit der sie ihren künstlichen Körper hervorbringt, bekommt – naturgeschichtlich betrachtet – einen häretischen Zug, denn Linné denkt Gott mechanistisch als „Kuenstler“, der die „natuerlichen Coerper“ mit einem „verwunders- ja erstaunenswürdigen

hin, dass Buffon Eidechse und Ameisenbär verwechselt. Diese Verwechslung ließe sich als Hyperbel lesen, die den Vorwurf stützt. 56 Linnés Systematisierungszwang ist uneindeutiger, als es die Kritik vermuten lässt, die sich an einer Rigidität entzündet, die ‚Linnéismus‘ genannt werden könnte und zumindest teilweise von Linné gelöst betrachtet werden müsste. Zur einer anderen Seite Linnés, seiner Lust, Monster zu machen vgl. Matthias Preuss: „Zur Ordnungswidrigkeit der Dinge. Linnes marginale Monstrosität(en) und das kalligrammatische Verfahren“, in: Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, hg. v. Silke Förschler und Anne Mariss, Köln 2015, S. 193−207. 57 Dabei handelt es sich um eine mutwillige Verkehrung des anfangs für Kleist maßgeblichen humanistischen Bildungsideals, das Christoph Martin Wieland so auf den Punkt bringt: „[K]urz, der Mensch muß gewissermaßen sein eignener zweiter Schöpfer sein“. Zit. n. Walter Hinderer: „Ansichten von der Rückseite der Naturwissenschaft. Antinomien in Heinrich von Kleists Welt- und Selbstverständnis“, in: KJb 2005, S. 21−44, hier S. 22.

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Mechanismo zusammenfügt“.58 Kunigunde ist ein Konstrukt, allerdings setzt sie sich mit Unterstützung ihrer Bediensteten selbst zusammen.59 Wenn sie deshalb naturgeschichtlich nicht zu den „allerschoensten Wercke[n]“60 zählen kann, so würde Schubert ihr aus naturphilosophischer Perspektive als Mischform „tiefe Bedeutung“61 beimessen.

P OETIK

UND

Ä STHETIK

Stichwortgeber für die in diesem Abschnitt vorgenommene zweite Kontextualisierung ist Anthony Stephens mit der Einschätzung, dass die Tragödie die „Grundform der dramatischen Dichtungen Kleists“62 sei. Mit dieser Gattung verlege sich Kleist auf „kühnes Experimentieren“63, und auch seinen anderen Texten sei − unabhängig von ihren „Gattungsbezeichnungen“ − eine „tragische Dimension“64 eigen. Unabhängig von der Frage, inwiefern das Käthchen eine Tragödie ist, geht es darum, wie die Tragödie im Stück reflektiert wird. Um eine poetologische Pointe im Käthchen herauszuarbeiten, ziehe ich Aristoteles’ Poetik heran, die ihrem Erscheinungsbild nach selbst ein Gräuel − und damit Kunigunde nicht unähnlich − ist. Der Altphilologe Manfred Fuhrmann bezeichnet die Poetik als Theorie in „abstoßende[m] Gewande“65. Er bezieht sich damit sowohl auf den esoterischen Charakter als auch auf den Überlieferungszustand der als Vorlesungsgrundlage intendierten Schrift.66 Die Poetik kann als ‚erstes‘ Exemplar einer neuen theoretischen

58 Linné: Natur-Systema (wie Anm. 32), S. 2. 59 Walter Hinderer weist auf den Abendblätter-Artikel Wissen, Schaffen, Zerstören, Erhalten mit ungeklärtem Verfasser hin, in dem darum geht, „den Menschen selbst auf mechanischem und chemischem Wege hervorzubringen“. Die Voraussetzung dafür sei es, „die Urelemente aller Körper rein darstellen und beliebig zusammensetzen zu können“ (BA, Nr. 35−37). Vgl. Hinderer: „Ansichten“ (wie Anm. 57), S. 42−44. 60 Ebd. 61 Schubert: Ansichten (wie Anm. 39), S. 249f. 62 Anthony Stephens: „Tragödie, Trauerspiel, Schauspiel“, in: KHb, S. 15–21, hier S. 15. 63 Vgl. ebd., S. 16. 64 Ebd., S. 17. 65 Manfred Fuhrmann: „Nachwort“, in: Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 144–178, hier: S. 144f. 66 Die Poetik ist ein grundlegend beschädigter Text. Das zweite Buch zur Komödie und Jambendichtung ist nicht überliefert, der Rest ist verunstaltet, lückenhaft und irreparabel gestört. Vgl. ebd., S. 147.

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Gattung – eben der Poetik − verstanden werden, deren Ermöglichungsbedingungen in diesem Werk selbst liegen, denn mit der Poetik wird Dichtung theoriebedürftig und das zieht weitere Poetiken nach sich. Sie behandelt generell die Dichtkunst, ihre Gattungen, deren Wirkungen, die Konstruktion des plots, sowie ihre Teile − wobei nicht von ‚Gattung‘, sondern von ‚Art‘ (gr. eidos) die Rede ist.67 In den Ausführungen über die Tragödie wird eine poetische Unart thematisiert, der sich Euripides schuldig gemacht haben soll. Dessen Medea gilt Aristoteles als Anomalie und wird dementsprechend als schlechtes Beispiel herangezogen. Die Lösung des mythischen Knotens soll nach aristotelischer Auffassung aus der Handlung selbst hervorgehen und nicht mechanisch erfolgen. Die Medea verstoße gegen diese Regel.68 Die Diagnose des Regelbruchs zeigt den deskriptiv-präskriptiven Doppelcharakter der aristotelischen Poetik. In Kleists „große[m] historische[n] Ritterschauspiel“69 wird die Unart des Euripides zum Gestaltungsprinzip und als solches ausgestellt. Mechanische Lösungen kommen gleich zweimal zum Einsatz. Das erste Beispiel dafür ist die titelgebende ‚Feuerprobe‘. Im dritten Akt wird Schloss Thurneck von den Truppen des echauffierten Rheingrafen, der durch die Nachricht von Kunigundes bevorstehender Vermählung in Rage versetzt worden ist, infiltriert, in Brand gesteckt und belagert. Der Rheingraf ist ein Spiel- und Werkzeug Kunigundes. Er stellt so gewissermaßen eine prothetische Erweiterung ihres Körpers dar, die es ihr erlaubt, als Frau in die männlichen Territorialkonflikte einzugreifen. Während das Schloss in Flammen steht, schickt Kunigunde Katharina in ein brennendes Gebäude, um „das Bild mit dem Futtral“70 zu bergen. Als das Gebäude einstürzt und Katharina begräbt, erfolgt der göttliche Eingriff. Ein 67 Vgl. z. B. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, begr. v. Ernst Grumach, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 5: Poetik, übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 3 (1447a8). Eine engl. Übersetzung dieser Stelle lautet: „species“. Aristotle: Poetics, übers. v. Malcolm Heath, London 1997, S. 3. Das griech. eidos ließe sich auch mit ‚Gestalt‘ oder ‚Form‘ übersetzen, die Verwendung spricht hier für die Übersetzung ‚Art‘. Vgl. Art. „Eidos“, in: Otfried Höffe: Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 147−150. 68 „So ist klar, dass sich auch die Auflösung der Handlungsgefüge aus der Handlungsfügung selbst ergeben muss und nicht wie in der Medea durch einen ‚deus ex machina‘ geschehen darf.“ Aristoteles: Poetik (wie Anm. 67), S. 21 (1454a35−b1). Dennoch schließt sich Aristoteles dem Urteil des Publikums an: „Euripides ist offenbar doch, auch wenn die künstlerische Ökonomie bei ihm in anderer Hinsicht Mängel hat, der tragischste Dichter.“ Ebd., S. 18 (1453a25−a39). 69 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 7. 70 Ebd., S. 127. Kunigunde wiederholt die obskure Formel drei Mal.

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Engel reanimiert die Totgeglaubte: „D e r Ch e r u b (berührt ihr Haupt mit der Spitze des Palmenzweigs, und verschwindet.) / (Pause.)“71. Der mechanische Eingriff erfolgt, damit die prädestinierte Liebe zwischen Katharina und dem Grafen Wetter vom Strahl am Ende zu ehelicher Erfüllung gelangen kann. Kunigundes finanzielles Interesse wird so entlarvt und die verworrene Gefühlslage des Grafen geklärt. Gerade die Zwanghaftigkeit, mit der der „endgültige[] Triumph“ auf „geradezu penetrante Weise“ vorweggenommen wird,72 pervertiert das happy ending und die romantische Vorstellung, die diesem Schluss zugrunde liegt. Eine Ironie der Tragik besteht, wie Anselm Haverkamp gezeigt hat, darin, dass das Leiden mit dem Tod der Held*innen kein Ende hat, sondern sich nach der Katastrophe historisch perpetuiert und auf eine ganze Generationenfolge, also das gesamte Geschlecht oder die Gattung (z.B. der Atriden) nachwirkt.73 Es gibt also etwas, das „nicht endet in der Tragik, sondern weitergeht – und dies Weitergehen ist die Tragik – in der Geschichte, in der und für die das Theater gemacht wird.“74 Dieser tragische Zug spielt im Käthchen eine tragende Rolle, ohne dass dazu ein offenkundig tragischer Ausgang nötig wäre. Katharina wird vom ersten bis zum letzten Akt misshandelt, und die Gewalt wird sich, so lässt es die drastische Metaphorik des Grafen befürchten, auch über das Ende hinaus fortsetzen: Zuerst, mein süßes Kind, muß ich dir sagen, Daß ich mit Liebe dir, unsäglich, ewig, Durch alle meine Sinne zugethan. Der Hirsch, der von der Mittagsglut gequält, Den Grund zerwühlt, mit spitzigem Geweih, Er sehnt sich so begierig nicht, Vom Felsen in den Waldstrom sich zu stürzen, Den reißenden, als ich, jetzt, da du mein bist, In alle deine jungen Reize mich.75

71 Ebd., S. 135. 72 Yixu Lü: „Zur Schreibtechnik Kleists im ‚Käthchen von Heilbronn‘“, in: KJb 2003, S. 282–306, hier S. 283. 73 Vgl. Anselm Haverkamp: „Medea, Dea ex Machina. Aristoteles über Euripides“, in: Die Philosophie des Tragischen, hg. v. Lore Hühn und Philipp Schwab, Berlin 2010, S. 143–154. 74 Ebd., S. 144. 75 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 191f.

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Am Schluss des Schauspiels stellt sich Katharina als uneheliches Kind des Kaisers heraus. Nach Anerkennung der Vaterschaft steht einer Heirat zwischen ihr und dem Grafen nichts mehr im Wege. Was der Graf ‚Liebe‘ nennt, wird nicht mehr von Standesschranken eingehegt, es kann sich also gewaltsam Bahn brechen. Die Hochzeit ist vor diesem Hintergrund der Tiefpunkt des Dramas. Das zweite Beispiel für einen mechanischen Eingriff ist die technische Hervorbringung Kunigundes. Ein weiter Aspekt der tragischen Ironie besteht darin, dass die Charaktere durch ihre Handlungen eigenhändig ihr Ende herbeiführen.76 In Das Käthchen von Heilbronn ist Kunigunde die einzige, die zielgerichtet handelt. Sie wird als Figur konstruiert, die ihr Geschick selbst in die Hand nimmt, indem sie Hand an sich legt. Kunigundes Schönheit erweist sich als durch Rückgriff auf Surrogate technisch fabrizierte. Sie ist eine ‚Prothesen-Göttin‘, die sich mit künstlichen Mitteln hervorbringt, um sich im Konkurrenzkampf gegen ihre männlichen Kontrahenten durchzusetzen. Kunigunde gebraucht ihren Körper als Maschine, verstanden als „Ruest-Zeug“, d.h. als „kuenstlich Werck, welches man zu seinem Vortheil gebrauchen kann“. 77 Der griechische Ausdruck mechané kursiert „vornehmlich für Theater-und Kriegswerkzeug“.78 Aristoteles erwähnt zwei Maschinen. Zum einen den Kran im Theater, der den Gott auf die Bühne hievt, um dem Mythos eine schicksalhafte Wendung beizubringen und sich damit als rhetorisches Mittel (rhetoric device) herausstellt, und zum anderen das Katapult, das dazu dient, bei Belagerungen Felsbrocken gegen Befestigungen zu schleudern. Die Implikation der Täuschung spielt bereits in die frühesten Konkretisierungen des Begriffs hinein, mechanasthai heißt neben ‚aussinnen‘ und ‚verfertigen‘ auch ‚täuschen‘, Ränke schmieden. Diese Bedeutung hält sich, sodass noch in Zedlers Universallexicon zu lesen ist: „Ubrigens heißet Maschine unterweilen auch eine List oder Betrug, wenn man seinen Gegenpart durch allerhand Erfindungen aus dem Vortheil setzet.“79 76 „Die tiefer liegende ursächliche Verknüpfung setzt sich nicht etwa hinter dem Rücken der Akteure durch – das wäre die bloße dramatische Ironie – nein, sie setzt sich in deren eigenster Handlung […] – und das ist nun keine Ironie mehr, in der die Zuschauer sich gegenüber dem Geschehen versichert sehen, sondern eine Tragik, der sie sich schlagartig nicht entziehen können und die nach Philosophie geradezu schreit.“ Haverkamp: „Medea“ (wie Anm. 73), S. 147f. 77 Art. „Maschine“, in: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, hg. v. Johann Heinrich Zedler, Halle, Leipzig 1732−1754, Bd. 19, Sp. 1907. Vgl. auch die Einträge „Menschliche Maschine“ und „Hölzerne Maschine“. 78 Wilhelm Schmidt-Biggemann: „Maschine“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Basel 1971−2004, Bd. 5, Sp. 790. 79 Art. „Maschine“ (wie Anm. 77), Bd. 19, Sp. 1907.

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Der irreguläre Einsatz von Maschinerie zur Beförderung der Handlung stellt im Einzelnen eine Allegorie des Verfahrens dar, das Tragödiendichter*innen im Ganzen anwenden. Sie greifen eine abgeschlossene Handlung aus dem Mythos heraus, um daraus für die Bühne eine Sache mit Anfang, Mitte und Ende zu machen, das heißt sie bereiten den Ausschnitten mit technischen Mitteln ein künstliches Ende.80 Der mythische Zusammenhang selbst kennt keine Enden, in den Tragödien wird der Stoff handhabbar gemacht. Kunigunde, die im Käthchen als dea ex machina vorgeführt wird, lässt sich vor diesem Hintergrund als Allegorie zweiter Ordnung verstehen. Sie personifiziert die Unart des Abkürzens durch Kunstgriffe, wobei diese von Aristoteles geächtete Technik wiederum erkennen lässt, wie sich die Gattung der Tragödie insgesamt auf den Mythos bezieht. Kunigundes Körper lässt sich noch in einer weiteren Hinsicht als poetologische Reflexionsfigur lesen – und zwar in seiner Zusammensetzung. So spiegelt er erstens als „mosaische Arbeit“81 die Gestalt des Textes wieder, der sich, wenn man den zahlreichen intertextuellen Verbindungen folgt, selbst als „‚Mosaik‘ ambivalenter Anspielungen auf zeitgenössische literarische Vorbilder“82 entpuppt. Dementsprechend wird Kleist in einer Rezension auch vorgeworfen, dass sich in seinem Stück „einzelne Schönheiten mit den widersinnigsten Ausgelassenheiten in einem tollen Gemische durcheinander [treiben].“83 Der Text ist aus Versatzstücken unterschiedlichster Gattungen gebaut, ohne dass sich eindeutige Vorbilder identifizieren ließen, da diese durch die grauenhaft-komische Kombinatorik entstellt, übertrieben und verfremdet werden.84 Zweitens werden die Figuren Kuni80 „Die Kunst der méchané […], ist die Allegorie dieses Zugs der tragischen Ironie zur Geschichte, die sich aufspreizt und durchkreuzt noch im selben Zug.“ Haverkamp: „Medea“ (wie Anm. 73), S. 143. 81 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 178. 82 Yixu Lü: „Das Käthchen von Heilbronn“, in: KHb, S. 67−76, hier S. 73. 83 Rezension von D. G. Quandt im Allgemeinen Deutschen Theater-Anzeiger vom 26. Juli 1811, in: LS, Nr. 371. 84 Das Motiv des Doppeltraumes etwa scheint Erzählungen von Wieland zu entstammen, es erscheint jedoch „bizarr verkompliziert“. Die Gattung des „historischen Ritterschauspiels“ wird durch eklatante Anachronismen überschritten, das von Novalis im RomanFragment Heinrich von Ofterdingen (1802 postum von Schlegel veröffentlicht) entwickelte Prinzip „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt“ gegen dessen harmonisierende Tendenz vom Unbewussten unterminiert. Das Zueinanderfinden eines prädestinierten Liebespaares als Narrativ des zeitgenössischen Romans wird grundlegend gestört und darüber hinaus läuft Käthchens perverse Hörigkeit der romantischen Liebe zuwider. Lü: „Käthchen“ (wie Anm. 82), S. 72f. Der Text erscheint aus dieser Perspektive als dissonante Fügung disparater Elemente, als literarischer Gesetzesbruch. Das

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gunde und Katharina im Stück jeweils aus den Zuschreibungen anderer zusammengesetzt, die sie wahlweise als Tier85 oder Göttin86 fassen. In diesem Zusammenhang ist eine ambivalente Äußerung des enttäuschten und rachelustigen Freiburgs interessant: „Warum soll dies wesenlose Bild länger, einer olympischen Göttin gleich, auf dem Fußgestell prangen, die Hallen der christlichen Kirchen von uns und unsers Gleichen entvölkernd?“87 Diese rhetorische Frage, mit der Kunigunde in die Domäne des Heidnischen gebannt werden soll, suggeriert dennoch eine ‚Göttlichkeit‘ ihrer Erscheinung. Zugleich wird eine semantische Schicht des Gräuels aktualisiert, denn in der Bibel werden „Götzen und der ganze Götzendienst sehr häufig ein Gräuel genannt, so wie auch schändliche Laster und abscheuliche Handlungen mehrmahls mit diesem Nahmen beleget werden.“88 Mit dem Hinweis auf das ‚Fußgestell‘, also den Sockel einer Statue, wird die Figur auch im ästhetischen Diskurs verankert. Eine Pointe der monströsen Erscheinung Kunigundes besteht darin, dass sie sich off stage als das entpuppt, was Friedrich Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde eine „Toilettenschönheit“ nennt, die „am Putztisch aus Karmin und Bleiweiß, falschen Locken, fausses gorges, und Walfischrippen hervorgeht“89 und bei ästhetisch nicht versierten Beobachter*innen den Effekt (d.h. hier: nur den Effekt) von Schönheit hervorrufen kann: […] und ist die Kunst groß, so kann sie auch zuweilen den Kenner betrügen. Aber aus irgendeinem Zuge blickt endlich doch der Zwang und die Absicht hervor, und dann ist Gleichgültigkeit, wo nicht gar Verachtung und Ekel, die unvermeidliche Folge. […] Sobald wir merken, daß die architektonische Schönheit gemacht ist, so sehen wir gerade so viel von der Menschheit (als Erscheinung) verschwunden, als aus einem fremden Naturgebiet zu derselben geschlagen worden ist […].90

Käthchen von Heilbronn ließe sich also insgesamt ebenfalls mit Recht als Monster bezeichnen. 85 „Wenn die Teufel um eine Erfindung verlegen sind; so müssen sie einen Hahn fragen der sich vergebens um eine Henne gedreht hat, und hinterher sieht, daß sie, vom Aussatz zerfressen, zu seinem Spaße nicht taugt.“ Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 64. 86 Allein durch das Setting (die Grotte) wird das Motiv der Göttin im Bade aufgerufen. 87 Kleist: „Käthchen“ (wie Anm. 2), S. 64. 88 Adelung: „Gräuel“ (wie Anm. 12), Bd. 2, Sp. 787. 89 Friedrich Schiller: „Über Anmut und Würde“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Berliner Ausgabe, hg. v. Hans-Günther Thalheim, 10 Bde., Bd. 8: Philosophische Schriften, Berlin 2005, S. 168−224, hier S. 168. 90 Ebd, S. 187.

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Hier erscheinen kosmetische Kniffe als unzulässige und ‚unnatürliche‘ Abkürzung des klassischen Bildungsprogramms, dessen erklärtes Ziel es ist, eine Korrespondenz zwischen ‚schönen Seelen‘ und ‚schönen Körpern‘ herzustellen91 und beide einer griechischen Statuen abgeschauten Idealität zuzuführen. In dem Maße, in dem Gattungsfremdes (‚aus allen drei Reichen der Natur‘) dem Körper hinzugefügt wird, erscheint er ‚unmenschlich‘. Mode als Technik wird zu einem „Zeichen der Unmenschen“92, wie Britta Herrmann es formuliert. Ein Gräuel ist nach Schiller das Ausstellen der Gemachtheit im Werk selbst.93 In der Ablehnung mechanischer Lösungen zeigt sich die Poetik in der Ästhetik. Bei Kleist wird die Unart der mechanischen Lösung zur Figur und zum Formprinzip. Allerdings ist hier der damit verbundene Ekel nicht nur Effekt der Sichtbarkeit einer erzwungenen Zusammensetzung, denn Kunigundes Körper bleibt ja verborgen. Die Ursache des Affekts (als „unvermeidliche Folge“94) wird bei Kleist verstellt und verschoben. Es geht hier also weniger um die Rehabilitierung des monströsen Körpers als um die ästhetischen Regeln, die ihn hervorbringen. Der Effekt (laut Schiller: „Ekel und Verachtung“95) erfordert eine Reflexion von genologischen Zwängen, die sich mit Derrida als Gesetz und Gegengesetz der Gattung bezeichnen lassen.96

91 Britta Herrmann spricht von einer „semiotische[n] Unzulänglichkeit des kalokagathiaKonzepts“. Britta Herrmann: „Körper/formen: die Schönen, die Monster und die Kunst. Einige Überlegungen zum Verhältnis von Biopolitik und Ästhetik in Klassizismus und Romantik“, in: Monster. Zur ästhetischen Verfassung eines Grenzbewohners, hg. v. Roland Borgards, Christiane Holm und Günter Oesterle, Würzburg 2009, S. 169–190, hier S. 184. Vgl. auch Britta Herrmann: Über den Menschen als Kunstwerk. Zu einer Archäologie des (Post-)Humanen im Diskurs der Moderne (1750−1820), Paderborn 2018, S. 265−272. 92 Herrmann: „Körper/formen“ (wie Anm. 91), S. 186. 93 Die Hässlichkeit, die Kunigunde exemplifiziert, unterscheidet sich von der „Naturhässlichkeit“, für die im ästhetischen Diskurs Tiere als zentrale Beispiele herangezogen werden. Vgl. Jessica Güsken: „Kröten, Krokodile, Faultiere, Ratten und andere widerliche Mischungen. Über einige Beispiele des Naturhässlichen“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 134/4 (2015), S. 517−544. 94 Schiller: „Anmut und Würde“ (wie Anm. 89), S. 187. 95 Ebd. 96 Vgl. Jacques Derrida: „Das Gesetz der Gattung“, in: Ders.: Gestade, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt, Wien 1994, S. 245−283.

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In seinem Satz aus der höheren Kritik aus den Abendblättern legt Kleist dar, warum er – wie Aristoteles in der Poetik – die vertrackten oder ‚unreinen‘ Formen vorzieht: Schönheit und Wahrheit leuchten der menschlichen Natur in der allerersten Instanz ein; […] In einem trefflichen Kunstwerk ist das Schöne so rein enthalten, daß es jedem gesunden Auffassungsvermögen, als solchem, in die Sinne springt; im Mittelmäßigen hingegen ist es mit soviel Zufälligem oder wohl gar Widersprechenden vermischt, daß ein weit schärferes Urteil, eine zartere Empfindung, und eine geübtere und lebhaftere Imagination, kurz mehr Genie dazu gehört, um es davon zu säubern.97

Vor diesem Hintergrund erscheint Kunigundes Körper als ästhetische und epistemische Herausforderung.98 Dem impliziten poetischen Programm der (Gattungs-) Mischung, das Kleist formuliert, entspricht eine komplementäre Kritik, die ‚säubert‘ – also Grenzen zieht und Gesetze aufstellt. Mit seiner genieästhetisch fundierten Würdigung des ‚Mittelmäßigen‘ paraphrasiert Kleist noch einmal Schubert, der von der „höchsten Wichtigkeit“ der „unvollkommenen Mittelwesen“ 99 spricht.

F AZIT Wie in beiden aufeinanderfolgenden Lektüren gezeigt wurde, lassen sich anhand der genologischen Wissensfigur Kunigunde zwei wichtige Aspekte der Gattungsarbeit Kleists verdeutlichen. Erstens wird vor dem Hintergrund diskursiver Verschiebungen die Relativität von Unarten produktiv gemacht. Am Übergang von der Naturgeschichte zur Naturphilosophie kann eine epistemische Unart, die Zusammenstellung disparater Elemente, poetologisch gewendet bei der Herstellung eines Mittelwesens zum Einsatz kommen, das gegen rigide Ordnungsvorstellungen opponiert. Am Übergang von der Poetik zur Ästhetik kann eine poetische Unart, die mechanische Lösung, poetologisch gewendet zur Herausforderung werden, die den Gräuel genieästhetisch legitimiert. Zweitens führt Das Käthchen von Heilbronn die nachträgliche, kulturelle Konstruktion von Monstrosität als Ursache von Regelverstößen vor. Kunigunde etwa verletzt vehement die Normen der

97 BA, Nr. 1. 98 „Das Gefühl des Ekels macht einen Anspruch auf (theoretische) Erkenntnis seines Objekts […]“ Vgl. Menninghaus: Ekel (wie Anm. 15), S. 14. 99 Schubert: Ansichten (wie Anm. 39), S. 256.

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patriarchalen Feudalgesellschaft, indem sie es wagt, im eigenen Interesse zu handeln. Dass sie ihren Körper dabei als Werkzeug einsetzt, wird durch dessen Entdeckung sanktioniert: Sie kann keine Frau sein, weil eine Frau so nicht sein darf. Die Bildung und Behauptung von Gattungen werden an Macht und Wissen zurückgebunden. Die Produktion von Monstern auf der gegenständlichen und die Kultivierung von sozialen, epistemischen, poetischen und ästhetischen Unarten auf der operativen Ebene lassen sich weder eindeutig als radikal oder konventionell einordnen. Vielmehr lässt sich das Käthchen von Heilbronn als Studie der Konventionalisierung radikaler Gesten und der Radikalisierung von Konventionen lesen, in der sich Kleists Faszination für die vielschichtige Dynamik von Reinigung und Kontamination niederschlägt. Kunigunde stellt als genologische Wissensfigur einen Ausschitt der diskursiven Verflechtungen des Gattungsdenkens um 1800 dar. Diese Darstellung wird in der reflexiven Gattung des Schauspiels problematisiert. In Das Käthchen von Heilbronn materialisiert sich die Frage nach Zugehörigkeit in einem Körper, der verborgen bleibt. Diese dunkle Gegenständlichkeit arbeitet gegen eine vollständige diskursive Auflösung der Gattungsproblematik.

Schlachtung spielen Zum Fall unartiger Kinder in den Berliner Abendblättern A LEXANDER K LING

I Eine „Art“, so heißt es in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch, ergibt sich aus der „Ähnlichkeit einzelner Dinge in wesentlichen Eigenschaften“; die Art ist also ein Sammelbegriff, mit dem einzelne Dinge „zusammen genommen“ werden.1 Die „Unart“ hingegen wird folgendermaßen erläutert: 1) Mangel der guten sittlichen Art oder Beschaffenheit einer Person, ohne Plural. Die Unart eines Kindes. 2) Von Art, zufällige, angenommene Beschaffenheit oder Fertigkeit, ist die Unart, als ein Concretum, folglich mit dem Plural, eine unanständige, dem angenommenen Wohlstande zuwider laufende Fertigkeit. Ein Kind hat viele Unarten an sich, wenn es viele solche Fertigkeiten angenommen hat.2

Während die Dinge einer Art aufgrund ihrer Ähnlichkeit einer gemeinsamen Regel unterstehen, wird dagegen von einer Unart unter anderem bei Eigenschaften und Verhaltensweisen gesprochen, die Aberrationen von kulturellen Normen darstellen, das heißt von der „guten sittlichen Art“ und dem „Wohlstande“. Entscheidend dabei ist, dass die Unart nicht einfach als das Andere der Art zu verstehen ist. Vielmehr ist eine Unart dadurch gekennzeichnet, dass sie zur Art in einer Beziehung der Nicht-Beziehung steht: Als einzelner Fall ist eine Unart auf die Regel der Art bezogen; dieser Bezug ergibt sich aber daraus, dass die Unart der Regel der Art ‚zuwider läuft‘. Geht man nun von der Begriffsexplikation aus, dass eine Unart immer als Fall auf eine übergeordnete Regel ausgerichtet ist und von dieser 1

Art. „Art“, in: GWH, Bd. 2, Sp. 439.

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Art. „Unart“, in: GWH, Bd. 4, Sp. 830.

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abweicht, so lassen sich nicht nur Dinge, Eigenschaften und Verhaltensweisen, sondern auch Texte als unartig klassifizieren: Unartige Dinge, Eigenschaften und Verhaltensweisen sowie unartige Texte rufen gleichermaßen eine Gesetzmäßigkeit auf und unterlaufen diese. Die Überlegungen zu Art und Unart lassen sich auf Heinrich von Kleists Autorschaft und die Unarten seiner Literatur übertragen: Die Rede von Kleists Unarten impliziert, dass die Texte unter der Autorfunktion Kleist sowohl inhaltlich als auch formal Regeln aufrufen und diese zugleich subvertieren – dieser doppelte Vorgang lässt sich als Regel von Kleists Literatur verstehen.3 Um dies genauer in den Blick zu nehmen, soll im Folgenden ein exemplarischer Text in den Fokus der Untersuchung gestellt werden. Es handelt sich um „Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt“ aus der 38. Ausgabe der Berliner Abendblätter vom 13. November 1810. Der Text ist auch deshalb für die Untersuchung von literarischen Unarten von Interesse, weil sich mit ihm auf verschärfte Weise das Problem der Autorschaft stellt: Zum einen muten zwar Titel und Text des Abendblätter-Artikels kleistisch an, doch gehen beide auf Georg Wickrams Rollwagenbüchlin aus dem Jahr 1555 zurück. Und zum zweiten ist nicht sicher, ob Kleist selbst Wickrams Text für die Berliner Abendblätter aufgegriffen und mit einer Theatermeldung verknüpft hat; der Text ist nicht signiert und so wird in der Forschung neben Kleist auch Achim von Arnim als Textproduzent gehandelt. Im Zentrum des kurzen Textes steht ein Kinderspiel, das schließlich in einen Ernstfall mit tödlichen Folgen umschlägt: Anstatt nur Schlachten zu spielen, bringt ein Kind in der Rolle eines Metzgers ein anderes Kind in der Rolle einer Sau um. Im weiteren Textverlauf kommt es dann zu einer Gerichtssitzung, in der die Unschuld des Metzger-Kindes geprüft wird.4 Die folgende Analyse soll in drei Schritten erfolgen: Erstens sind Inhalt und Form des Handlungsgeschehens zu 3

Häufig thematisiert wurde die Unart von Kleists Literatur mit Blick auf die literarischen Gattungen, etwa die Tragödie oder die Novelle. Vgl. exemplarisch für die Tragödie, Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum „Fall“ der Kunst, Tübingen, Basel 2000, S. 148–173; Gabriele Brandstetter: „Penthesilea. ‚Das Wort des Greuelrätsels.‘ Die Überschreitung der Tragödie“, in: Interpretationen. Kleists Dramen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 75–115; vgl. weiterhin für die Novelle Ingo Breuer: „Erzählung, Novelle, Anekdote“, in: KHb, S. 90–97.

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Vgl. zu diesem Erzählmotiv sowie zu verwandten Motiven, die sich sowohl in antiken Erzählsammlungen als auch in Zeitungsmeldungen des 20. Jahrhunderts finden lassen, Otto Görner: Von der Memorabile zur Schicksalstragödie, Berlin 1931; Dieter Richter: „Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben. Von Schonung und Verschonung der Kinder – in und vor einem Märchen der Brüder Grimm“, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 27 (1986), S. 1–11.

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klären. Zweitens soll gezeigt werden, wie die Motive der Schlachtung spielenden Kinder und der Unschuldsprobe neben dem Abendblätter-Text in der Zeit um 1800 in verschiedenen anderen Texten und Textgattungen aufgegriffen werden. Drittens schließlich werden die inhaltlichen und formalen Aspekte des Textes mit Kleists Unarten in Beziehung gesetzt, sodass sich vom Text zum Werk und vom Werk zum Text Prozesse der Bedeutungsproduktion nachzeichnen lassen.

II Der Text „Von einem Kinde…“ nimmt in der Abendblätter-Ausgabe vom 13. November 1810 etwas mehr als eine Seite ein. Ebenfalls enthalten sind in dieser Ausgabe die Fortsetzung zur Übersicht der Kunstausstellung von Achim von Arnim, ein von Kleist verfasster Text mit der Überschrift Theater-Neuigkeit, das Distichon Glückwunsch sowie verschiedene Miszellen. Der Text zu den Schlachtung spielenden Kindern lautet folgendermaßen: Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt In einer Stadt Franecker genannt, gelegen in Westfriesland, da ist es geschehen, daß junge Kinder, fünf, sechsjährige, Mägdlein und Knaben mit einander spielten. Und sie ordneten ein Büblein an, das solle der Metzger sein, ein anderes Büblein, das solle Koch sein, und ein drittes Büblein, das solle eine Sau sein. Ein Mägdlein, ordneten sie, solle Köchin sein, wieder ein anderes, das solle Unterköchin sein; und die Unterköchin solle in einem Geschirrlein das Blut von der Sau empfahen, daß man Würste könne machen. Der Metzger gerieth nun verabredetermaßen an das Büblein, das die Sau sollte sein, riß es nieder und schnitt ihm mit einem Messerlein die Gurgel auf; und die Unterköchinn empfing das Blut in ihrem Geschirrlein. Ein Rathsherr, der von ungefähr vorübergeht, sieht dies Elend: er nimmt von Stund an den Metzger mit sich, und fuhrt ihn in des Obersten Haus, welcher sogleich den ganzen Rath versammeln ließ. Sie saßen all über diesen Handel, und wußten nicht, wie sie ihm thun sollten, denn sie sahen wohl, daß es kindlicher Weise geschehen war. Einer unter ihnen, ein alter weiser Mann, gab den Rath, der oberste Richter solle einen schönen, rothen Apfel in eine Hand nehmen, in die andere einen rheinischen Gulden, solle das Kind zu sich rufen, und beide Hände gleich gegen dasselbe ausstrecken; nehme es den Apfel, so solle es ledig erkannt werden, nehme es aber den Gulden, so solle man es tödten. Dem wird gefolgt; das Kind aber ergreift den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig erkannt. Diese rührende Geschichte aus einem alten Buche gewinnt ein neues Interesse durch das letzte kleine Trauerspiel Werners, der vier und zwanzigste Februar genannt, welches in

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Weimar und Lauchstädt schon oft mit einem so lebhaften Antheil gesehen worden ist, als vielleicht kein Werk eines modernen Dichters. Das unselige Mordmesser, welches in jener Tragödie der unruhige Dolch des Schicksals ist, (vielleicht derselbe, den Macbeth vor sich her zur Schlafkammer des Königs gehen sieht) ist dasselbe Messer, womit der eine Knabe den andern getödtet, und er empfängt in jener That seine erste blutige Weihe. Wir wissen nicht, ob Werner die obige Geschichte ganz gekannt oder erzählt hat, denn jenes treflichste und darstellbarste Werk Werners, zu dem nur drei Personen, Vater und Mutter und Sohn, nur eine doppelte durchgeschlagene Schweizer Bauerstube, ein Schrank, ein Messer und etwas Schnee, den der Winter gewiß bald bringen wird, die nöthigen Requisite sind, ist auf unsrer Bühne noch nicht aufgeführt worden. Gleichwohl besitzen wir mehr, als die Weimaraner, um es zu geben, einen Iffland, eine Bethmann und Schauspieler, um den Sohn darzustellen, im Ueberfluß. Möge diese kleine Mittheilung den Sinn und den guten Willen dazu anregen.5

Der Text ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste Teil vom Schlachtungsspiel sowie von der anschließenden Gerichtssitzung erzählt. Der zweite Teil lokalisiert diese „rührende Geschichte“ sodann in einem „alten Buch[]“ und verknüpft sie mit Zacharias Werners Schicksalstragödie Der vierundzwanzigste Februar. Formuliert wird dabei die an August Wilhelm Iffland adressierte Forderung, Werners Stück – das bereits von Goethe in Weimar erfolgreich auf die Bühne gebracht wurde – am Berliner Nationaltheater zu inszenieren. Der erste Teil lässt sich anhand der Motive des Schlachtungsspiels und der Unschuldsprobe nochmals in zwei Abschnitte gliedern. Beide Abschnitte gehen nahezu wörtlich auf Wickrams Rollwagenbüchlin zurück.6 Fragt man genauer, um 5

[Anonym]: „Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt“, in: BA, Bl. 38. Zitiert wird nach einer Faksimile-Ausgabe der Berliner Abendblätter, da auf diese Weise der Kontext und das Erscheinungsbild des Textes erkennbar bleiben. Dies ist nicht in allen Ausgaben der Fall, Helmut Sembdner etwa druckt die beiden Teile des Textes in unterschiedlichen Schrifttypen; zudem fügt er dem ersten Teil den Vermerk an, dass dieser von Wickram stammt – beides findet sich im originalen Abendblätter-Text nicht. Vgl. Heinrich von Kleist: „Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt“, in: Ders.: SW9 II, S. 413f.

6

Wickrams Rollwagenbüchlin ist eine Schwanksammlung und eine Art von frühneuzeitlicher Reiseliteratur – das heißt Literatur, die auf der Reise, im rollenden Wagen, gelesen und erzählt wird. Die Erzählungen dienen, so Wickram im Vorwort, zu „guter kurtzweil“; eine Unterweisungs- und Belehrungsabsicht weist er ausdrücklich zurück. Vgl. Georg Wickram: Rollwagenbüchlein, Schwanksammlung, Vollständiger, durchgesehener Neusatz mit einer Biographie des Autors bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger, Berlin 2013, S. 8.

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welche Textgattung es sich bei dem Text der Abendblätter handelt, so kann diese in Rückgriff auf André Jollesʼ Einfache Formen als Kasus bestimmt werden. Ein Kasus (oder ein Fall) ist eine einfache narrative Form und dadurch geprägt, dass er in einer Beziehung zu einem Gesetz (oder einer Norm) steht, dabei aber die Anwendbarkeit des allgemeinen Gesetzes auf den besonderen Fall bzw. die Sinnhaftigkeit des Gesetzes überhaupt als fraglich markiert wird. Der Kasus antwortet also nicht selbst auf die Frage, wie sich Fall und Gesetz zueinander verhalten, stattdessen wird dies dem/r Leser/in abverlangt: Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin, daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält – was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens. […] Und so ist es auch die Eigentümlichkeit des Kasus, daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird.7

Kennzeichnend für den Kasus ist, dass er den/die Leser/in vor eine Entscheidungsoder Urteilssituation stellt. Der gegebene Fall muss einem Gesetz (bzw. einer Norm) subsumiert werden. Dabei kann sich herausstellen, dass für den Fall kein Gesetz vorhanden ist, sodass der Fall gerade eine Lücke im Gesetz kenntlich macht.8 In Kleists Texten ist immer wieder von Fällen, insbesondere von Sünden-Fällen die Rede, auf die im Folgenden noch zurückzukommen ist.9 Wie bereits angeführt, besteht das Fall-Artige bei Kleist darin, dass seine Texte Normen aufrufen, 7

André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, 4. Aufl., Tübingen 1972, S. 191. Görner: Von der Memorabile zur Schicksalstragödie (wie Anm. 4), S. 30, weist dagegen – ebenfalls unter Rückgriff auf Jolles – das Erzählmotiv der Schlachtung spielenden Kinder als Memorabile aus, da sich in diesem Motiv das für die Memorabile typische Merkmal des „Tatsächlichen“ verwirkliche. Allerdings stellt Görner ebenfalls eine Nähe zum Kasus fest; zudem sind bereits bei Jolles Kasus und Memorabile stark aufeinander bezogen, beide weisen z.B. eine Nähe zur „Kunstform“ der Novelle auf. Vgl. Jolles: Einfache Formen, S. 191 sowie S. 217. Vgl. schließlich allgemein zur Verknüpfung von Novelle und Kasus Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle, Stuttgart, Weimar 1993, S. 196; Heinrich Bosse: „Geschichten“, in: Ders., Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. Br. 1999, S. 299–320, 311–314.

8

Vgl. hierzu Jolles: Einfache Formen (wie Anm. 7), S. 190.

9

Vgl. als Überblick zum „Fall“ bei Kleist László Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. München 1999, S. 121–125.

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sich diesen aber zugleich entziehen und derart die Reflexion auf diese Normen in Gang setzen – nicht zuletzt gilt das auch für die Poetologie literarischer Gattungen, die nach einer These dieses Bandes ebenfalls in Kleists Texten befragt werden.10. Im Besonderen kann weiterhin das Erzählmotiv der Schlachtung spielenden Kinder als Fall verstanden werden. Von Bedeutung ist hier das Alter der Kinder: Zum einen sind die fünf- und sechsjährigen Jungen und Mädchen eigentlich nicht straffähig und stehen somit zum Gesetz in einer Beziehung der Nicht-Beziehung. Es stellt sich damit weniger die Frage, wie das Metzger-Kind zu bestrafen ist, vielmehr ist grundsätzlich zu klären, ob es überhaupt bestraft werden kann.11 Zum anderen zeigen die Kinder mit dem Spiel ein typisches Verhalten,12 wobei die spielerische Nachahmung sowohl in der Aufteilung der Rollen als auch in den jeweiligen Verhaltensweisen der nachgeahmten Praktik der Schlachtung verpflichtet bleibt.13 Das Problem liegt dabei in der spielerischen Substitution sowie 10 Vgl. hierzu auch Sebastian Schönbeck: „Glückliche Fügung. Oder die Poetologie des Zufalls in Kleists ‚Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende)‘“, in: KJb 2016, S. 106–125, hier S. 125, der umgekehrt und in Anlehnung an Werner Michler feststellt, dass „um 1800“ noch „kein festes Gattungsgefüge unterschiedlicher Prosatypen wie Erzählung, Roman, Legende, Novelle oder Märchen vorlag.“ Indem Kleists Texte also die Reflexion auf die ‚Gattungshaftigkeit‘ anregen, tragen sie zu deren Konturierung bei. 11 Man kann hierbei mit Wickrams Rollwagenbüchlin oder Kleists Berliner Abendblätter von einem Rechtskontext des 16. Jahrhunderts oder der Zeit um 1800 ausgehen. In beiden Fällen stellt das Schlachtungsspiel der Kinder einen Grenzfall des Rechts dar. Vgl. in diesem Zusammenhang zur Straffähigkeit von Kindern und Jugendlichen in der Constitutio Criminals Carolina (1532) sowie im Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794) Brigitte Stump: „Adult time for adult crime“ – Jugendliche zwischen Jugendund Erwachsenenstrafrecht. Eine rechtshistorische und rechtsvergleichende Untersuchung zur Sanktionierung junger Straftäter, Mönchengladbach 2003, S. 23–26 sowie S. 34f. 12 Dass das Spielen bereits im 16. Jahrhundert eine für Kinder typische Verhaltensweise darstellt, belegt neben Wickrams Erzählung etwa Pieter Bruegels Gemälde Die Kinderspiele (1560) – hier sind eine Vielzahl von Kinderspielen abgebildet, zum Teil auch Illusionsspiele, zu denen das Schlachtungsspiel zu rechnen wäre. 13 Mit Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1997, S. 254, ließe sich sagen, dass die Praktik der Schlachtung noch nicht „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlagert“ wurde – insofern wird sie im Text der Abendblätter noch als sichtbar und nachahmbar dargestellt.

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im Ernstnehmen des Gespielten: An die Stelle der Sau, die nach den kulturellen Regeln für die Schlachtung vorgesehen ist, tritt ein Kind, das nicht für die Schlachtung vorgesehen ist; möglich wird diese Ersetzung durch den Illusionscharakter des Kinderspiels; der Illusionscharakter verschwindet aber mit der tatsächlichen Tötung. Das Kinderspiel ist damit durch eine Entdifferenzierung geprägt – Mensch und Tier, Simulation und Wirklichkeit, Fiktion und Fakt fallen auf tödliche Weise zusammen. Der zweite Abschnitt des Textes überführt das Handlungsgeschehen in einen juristischen Kontext: Ein Ratsherr, der das Geschehen als Augenzeuge beobachtet hat, bringt das Metzger-Kind in das „Oberste[] Haus“, sodass dort über sein Handeln entschieden werden kann. Einerseits heißt es in diesem Zusammenhang, dass die Ratsmitglieder sehen, dass alles „kindlicher Weise“ – also ohne Wissen und Schuld – erfolgt ist; andererseits reicht dies aber offenbar für eine Urteilsfindung nicht aus, sodass es zu einer Unschuldsprobe kommt, die erstaunlicherweise selbst einen spielerischen Zug aufweist. Nach dem Vorschlag eines „alte[n] weise[n] Mann[es]“ wird das Metzger-Kind zur Ermittlung von Schuld und Unschuld, kindlicher Unwissenheit oder bestialischer Bosheit vor die Wahl zwischen einem „schönen roten Apfel“ auf der einen, einem „rheinischen Gulden“ auf der anderen Seite gestellt. Mit Apfel und Gulden, so das implizite Skript der Probe, muss das Metzger-Kind wählen zwischen einem Gegenstand, der eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung herbeiführt, und einem Gegenstand, der die Bedürfnisbefriedigung aufschiebt, dafür aber maximiert. Die Wahl betrifft also die Unterscheidung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, Gebrauchswert und Tauschwert, Ding und Zeichen.14 Indem sich das Kind unschuldig lachend für den Apfel entscheidet, demonstriert es, dass es Apfel und Gulden gleichermaßen nach dem Maßstab der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und nach dem Gebrauchswert als Ding (und nicht nach dem Tauschwert als Zeichen) bewertet – hier siegt eindeutig der Apfel. Hätte sich das Kind indessen für den Gulden entschieden, wäre dies der Nachweis gewesen, dass es zur Unterscheidung zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, Gebrauchswert und Tauschwert, Ding und Zeichen fähig ist. Und in diesem Fall hätte es im Fall des Schlachtungsspiels auch dazu fähig sein müssen, Simulation und Wirklichkeit, Fiktion und Fakt, die Schlachtung als Praktik der Erwachsenenwelt und das Spiel als Praktik der Kinderwelt, schließlich Mensch und Tier auseinanderzuhalten. Hätte das Kind mit der Wahl des Guldens also dieses 14 Vgl. zu einer Beschreibung des Geschehens bei der Apfelprobe, zum Hinweis auf deren Hintergrund in der Rechtsprechung des Mittelalters sowie zur Symbolik des Apfels W. Eckehart Spengler: „Apfelprobe“, in: Enzyklopädie des Märchens, hg. v. Kurt Ranke u.a., Bd. 1, Berlin, New York 1977, Sp. 626ff.

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Differenzierungsvermögen zu erkennen gegeben, dann wäre die Mordtat nicht „kindlicher Weise“ geschehen und dann hätte das Kind für seine Tat mit dem Tode bestraft werden müssen. Die Unschuldsprobe testet damit letztlich die Kindlichkeit des Kindes, und diese Kindlichkeit zeichnet sich durch eine Unfähigkeit zur Differenzierung aus.

III Der zweite Teil des Abendblätter-Textes, der nicht mehr auf Wickram, sondern entweder auf Kleist oder Arnim zurückgeht, ist insofern interessant, als er das kindliche Schlachtungsspiel in einen Theaterkontext stellt: Dass die „rührende[] Geschichte“ aus dem „alten Buch“ in der Zeit um 1800 auf ein „neue[s] Interesse“ stößt, wird auf Werners Schicksalstragödie Der vierundzwanzigste Februar sowie deren Inszenierung von Goethe in Weimar zurückgeführt. Der erste Teil des Abendblätter-Textes enthält also eine sensationelle Fallgeschichte; im zweiten Teil zeigt sich sodann mit dem Appell nach einer Inszenierung von Werners Stück am Nationaltheater unter Iffland die eigentliche Stoßrichtung des Textes.15 Sämtliche im zweiten Teil getroffenen Aussagen dienen dementsprechend zur Veranschaulichung der materiellen Anforderungen und künstlerischen Erfolgsaussichten einer solchen Inszenierung: Für die geringe Zahl von Figuren stehen die passenden Schauspieler zur Verfügung, der knappe Bühnenraum und die wenigen Requisiten erleichtern den Inszenierungsaufwand, in Hinsicht auf die Konkurrenz mit den Weimarern ist ein künstlerischer Triumph zu erwarten; selbst die Bezeichnung des Falls als „rührende[] Geschichte“ steht mit dem Inszenierungsappell in Verbindung, schließlich ist Iffland für seine Rührstücke bekannt.16

15 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Fehde zwischen Kleist und Iffland Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003, S. 182–190. Peters thematisiert hier auch knapp den Artikel Theater-Neuigkeit sowie das Distichon Glückwunsch, die beide neben dem Fall der Schlachtung spielenden Kinder in der Abendblätter-Ausgabe vom 13. November 1810 zu finden sind. 16 Interessant wäre es, die Rede von der „rührenden Geschichte“ mit der Thematisierung der Rührung neben dem Schönen und dem Erhabenen in den zeitgenössischen ÄsthetikKonzeptionen in Verbindung zu setzen. Nach Schiller handelt es sich bei der „Rührung“ um eine „gemischte Empfindung des Leidens und der Lust an dem Leiden. […] Rührung enthält ebenso wie das Gefühl des Erhabenen zwei Bestandteile, Schmerz und Vergnügen.“ Friedrich Schiller: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen

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Die Verknüpfung von Theater/Ästhetik und Schlachtungsspiel wird im Folgenden genauer zu betrachten sein. Zuvor soll das „neue Interesse“ am Fall der Schlachtung spielenden Kinder in der Zeit um 1800 untersucht werden, und zwar ausgehend von zwei Konstellationen: zum einen Werners Schicksalstragödie und Goethes Beschreibung von deren Uraufführung in Weimar; zum anderen der Übernahme des Falls in die Erstausgabe der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen (1812) und der darauf folgenden Auseinandersetzung zwischen den Grimms und Achim von Arnim. Schließlich wird noch Arnims Kronenwächter-Roman (1854, posthum) knapp herangezogen, da auch hier der Fall der Schlachtung spielenden Kinder aufgegriffen wird. 1. Werner/Goethe. Werners Schicksalstragödie wird erst 1812 publiziert, doch schon – dieser Witz ist nicht zu leugnen – von Goethe am 24. Februar 1810 in Weimar uraufgeführt. Die Handlung besteht darin, dass eine Familie in Folge eines Fluchs über mehrere Generationen hinweg immer am selben Tag von massiven Unglücks- und Gewaltereignissen heimgesucht wird. So verflucht am 24. Februar 1776 der Vater seinen Sohn Kunz, weil dieser die arme Trude geheiratet hat. In Folge der Beleidigungen wirft Kunz ein Messer nach seinem Vater, woraufhin dieser stirbt. Sieben Jahre später ereignet sich eine weitere Katastrophe, als Kunz’ siebenjähriger Sohn Kurt seiner zweijährigen Schwester im Zuge der Nachahmung eines zuvor beobachteten „Huhnabschlachten[s]“ den Hals aufschneidet und sie tötet.17 Da der Junge aufgrund seines Alters nicht juristisch belangt werden kann – „[w]eil er ein Kind noch war, es straft‘ ihn nicht“18 –, wird er vom Vater verflucht und verbannt. Kurt reist dann während der Französischen Revolution Gegenständen“, in: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden, hg. v. Wolfgang Riedel, Band V, München 2004, S. 358–372, hier S. 363. Überträgt man Schillers Ausführungen auf den Fall der Schlachtung spielenden Kinder, so ergibt sich die gemischte Empfindung der Rührung auf der einen Seite aus dem Leiden und dem Schmerz aufgrund der Mordtat, auf der anderen Seite aus der Lust und dem Vergnügen an der durch die Unschuldsprobe ermittelten Kindlichkeit des Kindes, die eben nicht auf eine Bosheit des Kindes schließen lässt und schließlich zum erlösenden Freispruch führt. Ähnliche Überlegungen ließen sich in Hinsicht auf Kleists Thematisierung der Rührung fortsetzen, so findet sich z.B. die Empfindung der Rührung bei Jeronimo und Josephe in Das Erdbeben in Chili nach ihrer Rettung vor dem und durch das Erdbeben. Vgl. Heinrich von Kleist: „Das Erdbeben in Chili“, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, 4 Bde., hg. v. IlseMarie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Bd. 3, hg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt a. M. 1990, S. 201. 17 Zacharias Werner: Der vierundzwanzigste Februar. Eine Tragödie in einem Akt, hg. v. Johannes Krogoll, Stuttgart 1967, S. 40. 18 Ebd., S. 41.

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nach Paris, wo er, nach Gerüchten, die den Eltern zu Ohren kommen, als Soldat stirbt. Am 24. Februar 1804 – der Handlungsgegenwart des Stückes – kehrt (der noch lebende) Kurt schließlich zu seinen mittlerweile völlig verarmten Eltern zurück. Er gibt sich allerdings nicht zu erkennen und führt so die Katastrophe herbei: Die Eltern überfallen ihren schlafenden Gast, um ihm seinen Geldsack zu rauben. Kurt erwacht und wird von seinem Vater mit jenem Schicksalsmesser erstochen, das Kunz auf seinen Vater geworfen und mit dem Kurt seine Schwester getötet hat. Das Drama endet damit, dass sich Kunz der Justiz stellt. Die ungeklärte Schicksalsmächtigkeit der Ereignisse zusammen mit den verschiedenen Tötungs- und Gewaltereignissen verleihen Werners Stück eine auf Schrecken und Schauer kalkulierte Wirkung. Auch für Goethe ist diese Wirkung im Hinblick auf die Aufführung des Stückes von Bedeutung. Zur Uraufführung schreibt er: Der vierundzwanzigste Februar von Werner, an seinem Tage aufgeführt, war vollends ein Triumph vollkommener Darstellung. Das Schreckliche des Stoffs verschwand vor der Reinheit und Sicherheit der Ausführung, dem aufmerksamen Kenner blieb nichts zu wünschen übrig.19

Auf der einen Seite betont Goethe das „Schreckliche des Stoffs“ von Werners Stück; auf der anderen Seite aber ist für ihn entscheidend, dass dieses Schreckliche durch die „Reinheit und Sicherheit der Aufführung“ zum Verschwinden gebracht wird. Goethe formuliert damit an dieser Stelle einen programmatischen Kernpunkt seiner ‚klassischen‘ Ästhetik: Der Bann des Schrecklichen – und zwar jenes Schrecklichen, das im Zentrum der Handlung von Werners Stück steht – führt dazu, dass die Aufführung und die darstellerische Leistung der Schauspieler zu einem „Triumph“ werden. Die Darstellung, also das, was in der Hand oder dem Körper der Schauspieler liegt, siegt über das Grauen des Schicksals. Die Autonomie des Spielens erhebt sich über die Heteronomie des Gespielten. Goethes knappe Ausführungen lassen sich auf den Fall der Schlachtung spielenden Kinder zurückbeziehen, sodass zwischen dem Spiel der Kinder und dem von Goethe beschriebenen Spiel der Schauspieler eine Differenz sichtbar wird. Das Schlachtungsspiel ist ein Nicht-Spiel, eine Unart des Spiels, denn die Kinder sind sich der von Goethe hervorgehobenen Unterscheidung von Simulation und Wirklichkeit, Fiktion und Fakt nicht bewusst. Das Spiel der Schauspieler dagegen, mit dem das Schreckliche des Dargestellten und die „Reinheit und 19 Johann Wolfgang Goethe: „Tag- und Jahres-Hefte“, in: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter u.a., Bd. 14, hg. v. Reiner Wild, München 2006, S. 7–323, hier S. 218.

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Sicherheit“ der Darstellung voneinander getrennt werden, ist durch das Wissen über diese Differenz geprägt. Das Spiel der Schauspieler ist – mit Goethes eigener Formulierung gesprochen – eine „selbstbewusste[] Illusion“, das heißt eine „Nachahmung“, die als solche erkennbar bleibt und beim Beobachter den „Gedanke[n] an Kunst immer lebhaft“ hält. Ästhetisches „Vergnügen“, so nochmals Goethe, stellt sich dann ein, wenn „nicht die Sache selbst sondern ihre Nachahmung zu sehen“ ist.20 Mit den Schlachtung spielenden Kindern und Goethes Schauspielern lassen sich, so wäre zu folgern, zwei Formen des Spiels in Opposition zueinander stellen: zum einen ein unartiges Spiel, bei dem – entgegen den Regeln des Illusionsspiels – das Gespielte und das Spielen ineinanderfallen; zum anderen ein artiges Spiel, bei dem das Gespielte und das Spielen getrennt bleiben. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass diese Unterscheidung für Kleists Literatur von kardinaler Bedeutung ist – Kleists Antiklassizismus und seine in der Literaturgeschichtsschreibung kanonische Oppositionsstellung zu Goethe ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er gegen das Spielkonzept der Differenz ein Spielkonzept der Indifferenz bzw. der Entdifferenzierung stellt. 2. Brüder Grimm/Arnim. Wilhelm und Jacob Grimm publizieren im Jahr 1812 die Erstfassung ihrer Kinder- und Hausmärchen. Im Zuge dieser Publikation kommt es zu einer Auseinandersetzung mit Achim von Arnim, die sich in erster Linie um die Frage dreht, ob es sich bei den Märchen um Naturpoesie (diesen Standpunkt vertreten die Grimms) oder um Kunstpoesie (diesen vertritt Arnim) handelt.21 Neben dieser gattungstheoretischen Auseinandersetzung thematisiert der Briefwechsel aber auch den Fall der Schlachtung spielenden Kinder – die Grimms haben diesen, auf der Grundlage des Abendblätter-Textes, in die Erstfassung ihrer Märchensammlung aufgenommen; aus späteren Ausgaben wurde er dann wieder gestrichen.22 20 Johann Wolfgang Goethe: „Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt“, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 19), Bd. 3.2, hg. v. Hans J. Becker u.a., München 2006, S. 171–175, hier S. 173ff. 21 Vgl. Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Dritter Band. Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, hg. v. Reinhold Steig und Hermann Grimm, Stuttgart, Berlin 1904, S. 213–262. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung in Hinsicht auf die Gattung des Märchens auch Jolles: Einfache Formen (wie Anm. 7), S. 221–226. 22 Vgl. Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm, Berlin 1812, S. 101f. Dem aus den Berliner Abendblättern bekannten Fall ist in der Märchensammlung ein zweiter zugeordnet, der ebenfalls das Motiv des Schlachtungsspiels aufgreift, dieses aber insofern radikalisiert, als hier – ähnlich wie bei Werner – das Geschehen in die schicksalhaft anmutende Selbstauslöschung einer Familie mündet. Vgl. ebd., S. 102.

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Arnims Einwand gegen die Aufnahme des Falls in die Märchensammlung ergibt sich daraus, dass das Handlungsgeschehen seiner Ansicht nach für Kinder nicht angemessen ist: „Schon habe ich eine Mutter darüber klagen hören, daß das Stück, wo ein Kind das andere schlachtet, darin sei, sie könnt es ihren Kindern nicht in die Hand geben.“23 Indem er die Klage einer Mutter zitiert, vertritt Arnim zugleich eine Nachahmungsthese, nach der die Rezeption von Gewalt zur Produktion von Gewalt führt. Als Lösung des Nachahmungsproblems schlägt Arnim vor, dass die Grimms den Titel ihrer Märchensammlung mit dem Zusatz „für Aeltern zum Wiedererzählen nach eigner Auswahl“ ergänzen.24 Nicht die Kinder, sondern die Eltern sollen also auswählen, was die Kinder rezipieren und was nicht. In unterschiedlichen Briefen und mit unterschiedlichen Argumenten verteidigen Wilhelm und Jacob Grimm die Aufnahme des Falls in ihre Märchensammlung. „Das Märchen von dem Schlachten hab ich“, so zum einen Wilhelm Grimm, „in der Jugend von der Mutter erzählen hören, es hat mich gerade vorsichtig und ängstlich bei Spielen gemacht.“25 Wilhelm weist den Fall als eine Warnerzählung aus und stellt auf diese Weise Arnims Nachahmungsthese eine Anti-Nachahmungsthese entgegen – die Rezeption von Gewalt führt nach dieser gerade nicht zu deren Verwirklichung. Nach Arnims Logik, so fügt zum anderen Jacob Grimm hinzu, müsste man die Kinder in eine „Cammer“ sperren oder ihnen die Augen verbinden, wenn man sie vor gefährlichen Nachahmungen schützen will. Dies sei allerdings deshalb nicht notwendig, weil Kinder über einen „menschliche[n] Sinn“ verfügen, der sie vor der gefährlichen „Aefferei“ einer unreflektierten Nachahmung bewahrt. Damit argumentiert auch Jacob Grimm für eine Anti-Nachahmungsthese, die er mit der menschlichen Reflexionsfähigkeit zudem anthropologisch begründet. Des Weiteren könnten selbst die größten Vorsichtsmaßnahmen „tragische Fälle“, wie den der Schlachtung spielenden Kinder, nicht verhindern, denn „das Böse“ finde trotz aller „Vorsicht“ stets einen Weg.26 Im Zentrum der Debatte zwischen Arnim und den Grimms stehen wirkungsästhetische Fragen: Führt die Rezeption von Gewalt zu deren Nachahmung Vgl. weiterhin als Überblick zum Fall der Schlachtung spielenden Kinder in den Kinder- und Hausmärchen sowie zur Auseinandersetzung zwischen den Grimms und Arnim Richter: „Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben“ (wie Anm. 4), S. 1–11; Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation, 2. Aufl., Berlin, Boston 2013, S. 402ff. 23 Achim von Arnim und die ihm nahe standen (wie Anm. 21), S. 263. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 266. 26 Ebd., S. 269f.

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(Arnim) oder zu deren Vermeidung (Wilhelm Grimm)? Muss die kindliche Rezeption durch Eingriffe der Eltern gesteuert werden (Arnim), oder verfügen die Kinder über einen „menschlichen Sinn“, der eine ausreichende Distanz zum rezipierten Geschehen schafft (Jacob Grimm)? Dass sich diese Fragen gerade am Fall der Schlachtung spielenden Kinder entzünden, lässt sich dadurch erklären, dass dieser selbst anhand des Spiels die Folgen einer unreflektierten Nachahmung – und damit eines Rezeptionsprozesses – zeigt. Die Debatte zwischen Arnim und den Grimms greift also einen Aspekt des Falls auf und überführt ihn in einen anderen Kontext, nämlich den der bürgerlichen Familie. Die Frage von Rezeption und Nachahmung stellt sich bei Arnim und den Grimms insofern auch weniger in Hinsicht auf die Beobachtung einer kulturellen Praktik, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend aus dem öffentlichen Raum verschwindet, sondern in Hinsicht auf die kindliche Lektüre.27 Es ist erstaunlich, dass die Grimms einerseits den Fall nicht mehr in die zweite Fassung ihrer Märchensammlung (1819) aufnehmen, obwohl sie die Aufnahme zuvor gegenüber Arnim verteidigt haben, und andererseits Arnim den Fall für den zweiten Teil seines Kronenwächter-Romans adaptiert, obwohl er ihn zuvor gegenüber den Grimms unter das Verdikt der Nachahmungsgefahr gestellt hat. Für die Grimms ist festzustellen, dass die Streichung in Zusammenhang steht mit einer grundlegenden Überarbeitung der Märchensammlung;28 bei Arnim wiederum 27 Das „neue Interesse“, das dem Fall der Schlachtung spielenden Kinder um 1800 zukommt, ließe sich zum einen damit in Verbindung setzen, dass sich in diesem Zeitraum in den europäischen Großstädten zunehmend Tendenzen zeigen, die Schlachtung aus dem öffentlichen Raum auszuschließen – dafür plädiert auch der Fall der Kinder, schließlich stellt sich hier die Katastrophe aufgrund der öffentlichen Sichtbarkeit und der daraus resultierenden Nachahmbarkeit ein. Vgl. zum Ausschluss der Schlachtung aus dem öffentlichen Raum Matthias Preuss: „Pferche. Der Gemeinplatz als (Nach-)Lebensraum“, in: Tierstudien 6 (2014), Thema: Tiere und Raum, S. 108–117, hier S. 111– 114. Zum anderen könnte das Interesse am Fall der Schlachtung spielenden Kinder mit der Entstehung der bürgerlichen Familie verknüpft werden. So wird bei Wickram noch von keinerlei Verwandtschaftsverhältnissen berichtet, weder zwischen den Kindern untereinander, noch zwischen den Kindern und den Erwachsenen. Bei Werner dagegen sind die Kinder Geschwister, das ganze Geschehen ist im familiären Binnenraum verortet. Und auch im Briefwechsel zwischen Arnim und den Grimms ist deutlich zu erkennen, dass sie die Aufnahme des Falls in die Märchensammlung mit Blick auf die familiäre Ordnung debattieren. 28 Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (wie Anm. 22), S. 427, vermutet, dass die Streichung des Falls deshalb erfolgt, weil dieser – entsprechend Arnims Kritik – „nicht als Warngeschichte[] aufgefaßt [wird]“, „sondern die

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muss beachtet werden, dass sich seine Kritik vor allen Dingen aus der Adressierung der Märchen an Kinder ergibt – eine solche liegt bei seinem Roman aber nicht vor. Im Hinblick auf den Fall der Schlachtung spielenden Kinder sind an Arnims Roman zwei Aspekte interessant. Erstens ergibt sich die Motivation des Geschehens hier weder aus der Beobachtung einer Schlachtung noch aus der Rezeption gewalthaltiger Texte. Auslöser ist vielmehr die unbedachte Aussage einer Mutter, die ihren jüngeren Sohn aufgrund von dessen Enurese ein Schwein nennt und dementsprechend ihren älteren Sohn dazu auffordert, den jüngeren bei abermaligen Bettnässen zu schlachten.29 Wieder steht der Fall damit im Kontext einer verfehlten Rezeption: Die Mutterworte richten sich eigentlich an den jüngeren Sohn, der vom Einnässen abgehalten werden soll. Vorausgesetzt ist dabei, dass der ältere Sohn dazu in der Lage ist, diese Adressierung zu durchschauen und die Worte der Mutter dementsprechend in einem übertragenen Sinn zu verstehen. Doch genau dies ist offenbar nicht der Fall, stattdessen nimmt der ältere Sohn die Worte wörtlich: Er beobachtet eine Schlachtung, um sich deren Ablauf einzuprägen, und vollzieht sodann die Handlung bei der nächsten Gelegenheit an seinem Bruder. Zweitens ist sodann an Arnims Gestaltung der folgenden Gerichtssitzung auffällig, dass die impliziten Spielregeln der Unschuldsprobe explizit thematisiert werden: Es soll entschieden werden, ob das Kind „geistig noch unentwickelt“ ist, oder ob es den Mord aufgrund einer „versteckte[n] Tücke“ begangen hat. Zu treffen sei die Entscheidung durch die Erprobung des kindlichen Differenzierungsvermögens: Wenn das Kind erkennen würde, dass es mit dem „VierundzwanzigKreuzerstück“ (eine Anspielung auf Werners Der vierundzwanzigste Februar) Handlung zu fataler Nachahmung führen könnte.“ Zu bedenken ist dabei allerdings, dass die Grimms zwischen der ersten und zweiten Fassung eine Vielzahl von Texten streichen – von den 156 Märchen der Erstausgabe werden aus der Zweitausgabe 34 Märchen entfernt. Vgl. Richter: „Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben“ (wie Anm. 4), S. 2. Die Herausnahme des Falls der Schlachtung spielenden Kinder steht damit im Kontext einer umfassenden Editionspraxis, mit der parallel zur Ausscheidung des Unartigen überhaupt erst die Gattung Grimmsches Märchen hervorgebracht wird. 29 Erzählt wird dies anhand eines Berichts über die Gerichtssituation nach der Mordhandlung: „[D]er Ratsherr aber habe den Anton gefragt: Wie er denn seinen Bruder ein Schwein nennen könne. Der Kleine habe darauf geantwortet, die Mutter hätte ihn immer so genannt, wenn er das Bett verunreinigt hatte, und ihm gesagt, wenn er es wieder täte, sollte er ihn schlachten; da habe er sich nun heut das Schlachten genau abgesehen, und als der Bruder, der krank war, wieder das Bett verunreinigt, habe er mit einem Messerchen ihn abgestochen.“ Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Band 2. Die Kronenwächter, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1989, S. 455.

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einen „Scheffel Äpfel“ erwerben könnte, dann wäre es dazu in Lage, zwischen dem Apfel als Ding (das „den Wunsch […] unmittelbar befriedigt“) und dem Kreuzerstück als Zeichen (das die Befriedigung zwar nur über einen „Umweg[]“ erreichen lässt, dafür aber maximiert) zu unterscheiden. Folglich wäre das Kind, falls es den Kreuzer wählen würde, mit dem Tod zu bestrafen.30 Arnims Roman legt präzise dar, wie der Spieleinsatz der Unschuldsprobe zu verstehen ist. Unreflektiert bleibt dabei indessen, dass die Probe einen problematischen Zug aufweist: Wenn das Kind tatsächlich über eine „versteckte Tücke“ verfügte, warum sollte es dann nicht auch dazu fähig sein, den Sinn der Probe zu durchschauen und zur Täuschung der Ratsherren gerade den Apfel zu wählen, um so – eben auf tückische Weise – Unschuld zu simulieren?

IV Da der Fall der Schlachtung spielenden Kinder in den Berliner Abendblättern keine Signatur aufweist, findet sich in der Forschung eine Reihe von Spekulationen zur Autorschaft. Rudolf Köpke hat den Text im 19. Jahrhundert Kleist zugeordnet und ihn unter der Rubrik „Kunst und Theater“ in den Band Heinrich von Kleists politische Schriften (1862) aufgenommen.31 Kritisiert wurde dieses Vorgehen von Reinhold Steig, der in diesem Zusammenhang von einem „arge[n] Mißgriff“ spricht, denn Kleist habe „diese Sätze nie geschrieben“; stattdessen wiesen sämtliche „Umstände“ – etwa der „Stil“ sowie die persönlichen Beziehungen zu Werner und Goethe – auf Arnim hin.32 Erneut infrage gestellt wurde diese Zuordnung von Helmut Sembdner, der gegen Steig wieder für eine Autorschaft Kleists argumentiert, und zwar ebenfalls auf der Grundlage von stilistischen Merkmalen sowie biografischen Beziehungen.33 Sembdners Zuordnung sind spätere Kleist-

30 Ebd., S. 457. 31 Vgl. Heinrich von Kleist’s Politische Schriften und andere Nachträge zu seinen Werken. Mit einer Einleitung zum ersten Mal herausgegeben von Rudolf Köpke, Berlin 1862, S. 133ff. 32 Reinhold Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin, Stuttgart 1901, S. 203. 33 Vgl. Helmut Sembdner: „Kleine Beiträge zur Kleist-Forschung“, in: DVjs 27 (1953), S. 602–610, hier 602–607. Aufgenommen hat Sembdner den Fall in seine zweibändige Kleist-Ausgabe unter der Rubrik „Theater“. Vgl. zur problematischen Weise der Textwiedergabe bei Sembdner Anm. 5.

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Ausgaben wie die von Klaus Müller-Salget gefolgt.34 Eine nicht auf den Fall der Schlachtung spielenden Kinder, sondern auf die gesamte Autorschaft der Berliner Abendblätter bezogene Überlegung findet sich sodann bei Roland Reuß: Die einfache Alternative: der Text ist vom Autor Kleist oder er ist es nicht, taugt […] für eine nähere Beschäftigung mit Kleists Zeitung, geschweige denn für die Edition der „Berliner Abendblätter“, nicht. Und das Tagewerk von Kleists Händen, Produkt auktorialer Intuition und Redaktion, Originalität und Rezeptivität zugleich, die „Berliner Abendblätter“, ist eines, ein Werk.35

Nach Reuß’ (editionsphilologischem) Argument dürfen die einzelnen Texte der Berliner Abendblätter nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden, wie dies häufig in Kleist-Ausgaben geschieht. Zudem tritt mit der Bestimmung der Abendblätter als „ein Werk“ die Suche nach einzelnen Textproduzenten hinter eine umfassendere Autor-Funktion Kleist zurück, die als Gesetz und einheitsstiftendes Prinzip sämtliche Texte einschließt und so, wie Sibylle Peters festgestellt hat, ein für die Bedeutungsproduktion relevantes Netz von Verweisen generiert: Wenn ein Text in den Berliner Abendblättern erscheint, so ist er schon deshalb ein anderer geworden, weil sein Erscheinen räumlich, zeitlich, material anders bedingt ist. Diese Bedingungen „rahmen“ den Text, lesen sich in den Text ein und lassen ihn als einen anderen erscheinen.36

Peters beschreibt, wie die Rahmung der Berliner Abendblätter für den gerahmten Text zu einer Vervielfältigung von Bedeutungsebenen führt – paradoxerweise wird derselbe Text unter der Autor-Funktion Kleist zu einem anderen. Dieser Überlegung soll nun zum Abschluss in dreifacher Weise nachgegangen werden: erstens in Hinsicht auf die Inszenierung des Falls der Schlachtung spielenden Kinder in der Abendblätter-Ausgabe vom 13. November 1810; zweitens in Hinsicht auf die Verknüpfung des Falls mit anderen Texten der Berliner Abendblätter; drittens schließlich – den Fokus noch einmal erweiternd – in Hinsicht auf die Beziehung des Falls zu anderen Texten Kleists, die nicht den Berliner Abendblättern entstammen. 34 Vgl. Klaus Müller-Salget: „Kommentar“, in: DKV III, S. 1159f. Auch hier steht der Text unter der Rubrik „Theaterberichte“. 35 Roland Reuß: „Geflügelte Worte. Zwei Notizen zur Redaktion und Konstellation von Artikeln der ‚Berliner Abendblätter‘“, in: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (1997), S. 3–9, hier S. 9. 36 Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 15), S. 85.

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1. Von einer Inszenierung des Falls der Schlachtung spielenden Kinder in der Abendblätter-Ausgabe vom 13. November 1810 ist insofern zu sprechen, als der Fall auf eine Weise in Szene gesetzt wird, die gerade nicht die eigentliche Thematik des Zeitungsartikels – die an Iffland adressierte Theaterforderung – zu erkennen gibt. Vielmehr wirken die Überschrift und der erste Teil aufgrund der Machart des Textes wie eine sensationelle Schreckensmeldung: Dass der Fall aus Wickrams Schwanksammlung nahezu wortgetreu wiedergegeben wird, führt dazu, dass zwar ein Handlungsort genannt („Franecker“, „Westfriesland“) wird, eine Zeitangabe sowie ein Verweis auf die Quelle (eben das Rollwagenbüchlin) aber fehlen. Die temporale und modale Distanz wird also – durch das unmarkierte direkte Zitat – für den Leser unkenntlich gemacht, sodass der Artikel als zeitgenössische Berichterstattung über einen tatsächlichen Fall erscheint.37 Die Inszenierung des Falls entspricht einem zentralen Merkmal von Kleists Ästhetik – das Darstellende (der Abendblätter-Text) ist aus dem Dargestellten selbst (dem Wickram-Text) gefertigt.38 Die Folge davon ist eine Distanzreduzierung, die sich in Hinsicht auf den Fall des Schlachtungsspiels auch an der – wiederum von Wickram übernommenen – Erzählweise erfassen lässt. Vor allem die im Text verwendeten Diminutive („Mägdlein“, „Büblein“, „Geschirrlein“) schaffen einen Modus naiver Unmittelbarkeit. Auf dieser Grundlage generiert sich das Schreckliche des Schlachtenspiels nicht nur durch den bloßen Vorgang (die histoire), sondern auch durch dessen Präsentation (den discours): Der Leser wird zunächst an die Kinderwelt herangeführt und von hier aus mit einer äußerst blutigen und dabei zugleich unreflektierten Gewalttat konfrontiert. Ein letzter Aspekt der Inszenierung ergibt sich daraus, dass dem Fall des Schlachtungsspiels ein Text zur Kunstausstellung vorausgeht (Übersicht der Kunstausstellung) und ein Text zum Theater (Theater-Neuigkeit) nachfolgt. Bei einer kursorischen Überschriftenlektüre führt eine solche Rahmung zu dem Eindruck, dass man es beim Fall der Schlachtung spielenden Kinder gerade nicht mit einer künstlerisch-fiktiven, sondern mit einer faktualen und aktuellen Thematik zu tun hat, was zudem durch den Textbeginn bestätigt wird. Erst der zweite Teil des Textes markiert mit der „rührenden Geschichte“ und dem „alten Buch“ eine 37 Es handelt sich hierbei um einen Vorgang, der mit der Verschleifung der Differenz von Faktizität und Fiktionalität insgesamt typisch ist für die Berliner Abendblätter. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. auch Johannes Lehmanns Beitrag in diesem Band. 38 Formuliert wird diese Ästhetik im Aufsatz „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“, wo von dem Bild einer Landschaft die Rede ist, die aus „ihrer eignen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser“ gemalt ist. Heinrich von Kleist: „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“, in: BA, Bl. 13, S. 47f., hier S. 48. Vgl. hierzu auch Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 3), S. 34ff. und passim.

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Fiktionalisierung und Historisierung des Falls. Zum einen geht damit eine Depotenzierung des Schreckens einher, zum anderen führt die Zusammenstellung von erstem und zweitem Teil dazu, dass die Thematik des Theaters mit dem Kinderspiel verbunden wird. Es ist dementsprechend nachvollziehbar, dass sowohl von den Zeitgenossen als auch von der Forschung das Schlachtungsspiel in einen Theaterkontext gesetzt wurde – so spricht Jacob Grimm von einer „Tragödie“; in der Forschung ist von einem „entgleisenden Theaterspiel“39 die Rede. 2. Verbindungen lassen sich über das einzelne Abendblatt hinaus zwischen dem Fall der Schlachtung spielenden Kinder und anderen Texten der Berliner Abendblätter herstellen. Ungefähr einen Monat nach dem Fall der Schlachtung spielenden Kinder findet sich in den Abendblättern – über vier Ausgaben verteilt – Kleists Über das Marionettentheater. Beide Texte sind über den Topos des Sündenfalls miteinander verknüpft, mit dem auch die Oppositionen Unschuld und Schuld, Unwissenheit und Reflexion aufgerufen werden. In der berühmten Schlusspassage des Marionettentheaters wird der Sündenfall mit dem Hervortreten des Bewusstseins, und das Hervortreten des Bewusstseins mit dem Verlust der Grazie verknüpft.40 Bewusstsein und Sündenfall sind auch für den Fall der Schlachtung spielenden Kinder von Bedeutung; die Apfelprobe führt in jedem Fall zu dem Ergebnis, dass die Handlung des Metzger-Kindes in „kindlicher Weise“ und damit ohne Wissen und Reflexion erfolgt ist. Auf dieser Grundlage ließe sich das Metzger-Kind neben den Figuren des Marionettentheaters – etwa dem Gliedermann und dem Bären – als Verkörperung von Kleists Grazie-Konzeption lesen, die gegenüber Goethes Vorstellung einer „selbstbewussten Illusion“ gerade durch eine bewusstlose Illusion geprägt ist: Während bei Goethe Gespieltes und Spiel, Dargestelltes und Darstellung, die „Sache selbst“ und ihre „Nachahmung“ auseinander gehalten werden sollen, fallen sie bei Kleist immer wieder ununterscheidbar zusammen, und zwar – anders als der Begriff der Grazie es zunächst vermuten lässt – auf höchst problematische Weise, schließlich ergeben sich aus diesen Entdifferenzierungen häufig Gewalteskalationen wie im Fall des kindlichen Schlachtungsspiels. Eine andere Verknüpfung ergibt sich zwischen dem Fall der Schlachtung spielenden Kinder und der nur zwei Tage später in den Berliner Abendblättern publizierten ersten Fassung der Heiligen Cäcilie. Das für Kleist wichtige Thema von Differenzierung und Entdifferenzierung steht hier insofern von Anfang an im Zentrum, als die vier Brüder an Fronleichnam mit ihrem geplanten Bildersturm gegen die katholische Lehre der Realpräsenz Gottes in den Zeichen vorgehen 39 Joachim Harst: Heilstheater. Figur des barocken Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist, München 2012, S. 196. 40 Vgl. Heinrich von Kleist: „Ueber das Marionettentheater (Beschluß)“, BA, Bl. 66.

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wollen – gegen die katholische Indifferenz von Signifikant und Signifikat soll also eine protestantische Differenz gewaltsam durchgesetzt werden, wobei der Gewaltakt selbst als „Schauspiel“ bezeichnet wird.41 Mit Blick auf den weiteren Handlungsverlauf ist diese Schauspielmetaphorik deshalb hervorzuheben, weil nach der Messe und der rätselhaften Bekehrung der Brüder wiederum von einer „sonderbaren und auffallenden Aufführung“ die Rede ist, in der sie „gegen die Mitternachtsstunde, […] mit einer schauerlichen und grauenhaften Stimme, das gloria in excelsis [intonieren].“42 Erneut hat man es mit einem unartigen Spiel, also mit einer bewusstlosen Illusion zu tun, denn mit ihrer „Aufführung“ inszenieren die Brüder ein „Klosterleben“,43 das zwar gespielt wird, dabei aber keine Differenz mehr zu ihrem eigentlichen Leben aufweist. Darüber hinaus ist ihr Gesang außerhalb der Kirche fehlplatziert, er wirkt wie eine sinnlose, mechanische Nachahmung und für eine solche Verhaltensweise steht ein gesonderter Ort zur Verfügung – das Irrenhaus, in dem die Brüder bis an ihr Lebensende den Fall ihrer Konversion nachspielen werden. 3. Die Kindheit im Fall des Schlachtungsspiels und der Wahnsinn der Brüder in der Heiligen Cäcilie verweisen auf die eminente Bedeutung von Normbrüchen und Ausnahmesituationen für Kleists Literatur, wobei zu bedenken ist, dass Kindheit und Wahnsinn bereits Erklärungsmuster darstellen, die dazu dienen, rätselhaften Handlungen durch Klassifikation einen Sinn zuzuschreiben, um so den Abgrund des Nicht-Verstehens zu bannen.44 Die anhand der Kinder im Schlachtungsspiel sowie der Brüder der Heiligen Cäcilie konturierten Entdifferenzierungsprozesse lassen sich nun über die Berliner Abendblätter hinaus in weiteren Texten Kleists beobachten. Zu denken wäre zum Beispiel an Penthesilea: Wenn Achilles Penthesilea im 20. Auftritt zum Zweikampf auf Leben und Tod herausfordert, so ist das nicht ernst gemeint; Achilles will sich – in einem Kampfspiel, das gleichermaßen Liebesspiel ist – Penthesilea geschlagen geben. Er geht dabei auch davon 41 Heinrich von Kleist: „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. Eine Legende (Zum Taufgebinde für Cäcilie M….)“, BA, Bl. 40. Vgl. weiterhin die Ausführungen von Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 3), der feststellt, dass die Brüder – zur Unterscheidung zwischen der „Realpräsenz des Göttlichen“ und dem „irdischen Zeichen“ (ebd., S. 399) – als „militante Protestanten“ ein „Prinzip der Spaltung“ in die „katholische Gemeinde“ einführen wollen, die sich wiederum „geschichtsphilosophisch noch vor der Etablierung [dieses] Prinzips […] befindet“ (ebd., S. 412f.). 42 Heinrich von Kleist: „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Beschluß)“, in: BA, Bl. 42. 43 Ebd. 44 Vgl. speziell mit Blick auf die Heilige Cäcilie zur Sinnproduktion als Fügung von Zufällen Schönbeck: „Glückliche Fügung“ (wie Anm. 10).

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aus, dass Penthesilea diese Absicht durchschauen und mitspielen wird. Anstatt aber tatsächlich so zu handeln, reagiert Penthesilea auf Achillesʼ Zweikampfangebot mit einer „unerbittliche[n] Wörtlichkeit“, der Überführung von „Metaphorik in Buchstäblichkeit“, die auf der Figurenebene in die kannibalische Zerreißung von Achilles und auf der Textebene in die Regression der Tragödie auf ihren Ursprung einmündet.45 Wieder ist es ein als Ernst genommenes Spiel, das in die Katastrophe führt. Eine andere Art von Entdifferenzierung, die sich mit dem Fall der Schlachtung spielenden Kinder in Verbindung setzen lässt, findet sich schließlich in Kleists letzter Novelle Der Zweikampf. Als Wahrheitsprobe soll mittels des Zweikampfs ein Gottesgericht zur Aufklärung eines undurchsichtigen Geschehens bewirkt werden; hierbei tritt jedoch in verschärfter Weise das Problem der Zeichenhaftigkeit hervor: Um eine letztgültige Entscheidung herbeizuführen, so zeigt der Text, müsste das Mittel, mit dem die Wahrheit erprobt werden soll, selbst auf seine Leistungsfähigkeit getestet werden46 – über das Mittel der Urteilsfindung muss geurteilt werden, sodass sich in Hinsicht auf den Prozess des Urteilens ein Regress abzeichnet. Um zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, bräuchte es ein eindeutiges Zeichen, doch ist der Versuch, ein solches zu generieren, stets mit dem Problem behaftet, das auch dieses Zeichen trügerisch sein kann – oder gar ein kontingentes Ereignis ohne jede Bedeutung. Kleists Unarten sind, wie die einzelnen Beispiele zeigen, nicht zuletzt durch eine problematische Beziehung von Wirklichkeit und Zeichenordnung geprägt: Sei es, dass nicht sicher ist, ob eine Zeichenordnung vorliegt wie im Fall des Zweikampfes, sei es, dass eine Zeichenordnung kollabiert wie im Fall der Penthesilea, sei es, dass sich eine Zeichenordnung totalisiert wie im Fall der Brüder in der Heiligen Cäcilie, sei es, dass die Zeichenordnung einer kulturellen Praktik in einen 45 Johannes F. Lehmann: Einführung in das Werk Heinrich von Kleists, Darmstadt 2013, S. 87. Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 3), S. 162, spricht von einem „Absolutismus der Wirklichkeit, in dem es keine Unterscheidung gibt [...], d.h. Lieben und Töten, Küssen und Zerfleischen eins sind.“ Zudem zeigt er, dass mit Penthesileas Verweigerung des Spiels die Tragödie auf ihren Ursprung zurückgebogen und damit aufgehoben wird – insofern die Tragödie als zeichenhafte Distanznahme, als „differenzierendes Spiel“ vom „Absolutismus der Wirklichkeit“ aufzufassen ist, betreibt Penthesilea gerade eine Entdifferenzierung, eine „Rückkehr in Ungeschiedenheit“ (ebd., S. 163). 46 Der Text markiert dies zum Ende mit dem Hinweis auf die kaiserliche Korrektur der bestehenden „Statuten des geheiligten göttlichen Zweikampf[s]“ – die „Schuld“ wird nach dieser Änderung mit dem Zweikampf nur mehr dann bewiesen, „wenn es Gottes Wille ist“. Heinrich von Kleist: „Der Zweikampf“, in: DKV III, S. 349.

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vorreflexiven, das heißt kindlichen Zustand überführt wird und derart zu einer nicht-zurechenbaren Handlung führt wie im Fall der Schlachtung spielenden Kinder – in allen Fällen wird die Beziehung von Wirklichkeit und Zeichenordnung zum Problem. Dies macht es notwendig, die Beziehung von Wirklichkeit und Zeichenordnung zu erproben, doch erweisen sich dabei die Wahrheitsproben selbst als mehrdeutig und störanfällig. So wird im Fall der Schlachtung spielenden Kinder mit der Probe danach gefragt, ob das Metzger-Kind Apfel und Gulden als Dinge oder als Zeichen wahrnimmt; dass es sich für den Apfel entscheidet, belegt eine Orientierung an der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung, also am dinghaften und nicht am zeichenhaften Wert der Gegenstände. Während damit für die Ratsherren die Begründung der Mordhandlung geklärt ist (sie ist „kindlicher Weise“ erfolgt), stellt sich indessen für den/die Leser/in mit dem Apfel erneut das Problem der Zeichenhaftigkeit: Äpfel stehen in Kleists Texten stets mit dem Sündenfall in Beziehung.47 Und tatsächlich wird mit der Apfelprobe ja getestet, ob das Kind sich noch in einem vorreflexiven Zustand der Unschuld – also in einem Zustand vor dem Sündenfall – befindet oder nicht. Da nun aber der Apfel aufgrund der Verknüpfung mit dem Sündenfall mehr als ein bloßes Ding ist, wird die Wahl des Kindes zu einer mehrdeutigen Geste: Zum Ersten könnte der Griff nach dem Apfel gemäß der Interpretation der Ratsherren als Zeichen für eine noch vorliegende Unschuld bewertet werden, wodurch einerseits das Kind entschuldet, andererseits aber der Zustand der Unschuld als Zustand potenzieller Gewalttaten ausgewiesen würde. Zum Zweiten ließe sich der Griff nach dem Apfel in Anlehnung an den biblischen Sündenfall als Moment des Verlassens der paradiesischen Unschuld verstehen, sodass der Text den Übergang vom Kind zum Erwachsenen als Szenario einer Verschuldung beschreiben würde. Zum Dritten schließlich wäre zu überlegen, ob das Kind nicht über eine Kenntnis der Zeichenhaftigkeit des Apfels verfügt und die Wahl des Apfels somit als Demonstration der Unschuld zu lesen wäre. Dies wiederum würde heißen, dass das Kind das von den Ratsherren inszenierte Spiel versteht und die Erprobung der Fähigkeit des Zeichenerkennens durch ein als Nicht-Zeichen getarntes Zeichen kontert. Nochmals mit Blick auf das Marionettentheater betrachtet, stünde das Metzger-Kind damit in einer Analogie zum

47 Besonders deutlich wird dies in Die Familie Schroffenstein formuliert: Die Aussage „der Apfel gehöre nicht zum Sündenfall“ wird hier in einem sprichwörtlichen Sinn zur Kennzeichnung falscher Behauptungen herangezogen. Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“, in: DKV I, S. 131. Auch Harst: Heilstheater (wie Anm. 39), S. 196f., stellt fest, dass das Geschehen bei der Gerichtssitzung auf den Sündenfall verweist.

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fechtenden Bären – es wäre, mit Paul de Man gesprochen, ein „Über-Leser“48, der den Sinn des Handlungsgeschehens durchschaut und zum eigenen Vorteil steuert. In einem solchen Sog der Mehrdeutigkeit wäre schlussendlich das Lachen des Kindes nach der Probe nicht mehr eindeutig als Zeichen kindlicher Naivität zu lesen, ebenso ließe es sich als ein höhnisches Verlachen des Gerichts auffassen. Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des Apfelgriffs markieren eine Polysemie des Textes, mit der auch die scheinbar eindeutig verlaufende Wahrheitsprobe der Ratsherren als Interpretation eines rätselhaften Geschehens erkennbar wird, die ihre sinnhafte Eindeutigkeit nur durch den Ausschluss anderer Möglichkeiten erreichen kann, sich dadurch aber der Gefahr der (Selbst-)Täuschung aussetzt. Im Kontext von Kleists Autorschaft führt jede Sinnfindung die Gefahr einer Sinnerfindung mit sich; dies gilt selbst noch für einen Text wie dem der Schlachtung spielenden Kinder, der möglicherweise gar nicht von Kleist stammt und nur deshalb in die Berliner Abendblätter aufgenommen wurde, um leere Seiten mit möglichst geringem Aufwand zu füllen. Aus dieser Perspektive könnte man für die hier vorgenommene Untersuchung von der Unart einer Überinterpretation sprechen, die versucht, noch aus dem schlichten Fehlen einer Signatur die Funken der Signifikation zu schlagen. Zu bedenken wäre dabei allerdings, dass ein solcher Vorwurf der Überinterpretation indessen gerade nicht aus dem Gravitationsfeld von Kleists Literatur herausführt, sondern den Trugbildern von Kontingenz und Signifikanz im Spiegelkabinett seiner Unarten verhaftet bleibt.

48 Paul de Man: „Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater“, in: Ders.: Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 205–233, hier S. 223f.

II. Briefverkehr Einstiege, Unfälle, Übersprünge

The Fast and the Furious, Juni 1801 M ARCEL B EYER

I Ein Esel schreit – und der Tag ist gelaufen. An einem Morgen Anfang Juni 1801 sehen wir den „armen Kauz aus Brandenburg“1 (Kleist über Kleist) und seine „Amphibie“2 (Kleist über seine Halbschwester Ulrike), wie sie, noch viele Tagesreisen von ihrem Ziel Paris entfernt, in aller Seelenruhe, oder, so Kleists Wortwahl, „sorglos“ den ruhenden Verkehr „in Butzbach, einem kleinen Städtchen“ im Hessischen genießen oder über sich ergehen lassen, indem sie, da die Pferde getränkt und gefüttert werden, im Wagen sitzenbleiben, während ihr Bursche, Diener, Kutscher namens Johann „in dem Hause“, nämlich in einer der Viehtränke benachbarten Brauerei verschwindet.3 Kaum hat dieser Johann sich von der Szene entfernt, tritt, als wohnten wir einer Aufführung auf dem Bauerntheater bei, ein gänzlich anderer Akteur auf. Das heißt, wir bekommen ihn im Grunde gar nicht zu Gesicht, sondern erleben eine akustische Teichoskopie, da er sich lediglich in Form eines von jenseits der Szene ertönenden, unzweifelhaft aus einer tierischen Kehle stammenden Schreis bemerkbar macht.

1

Brief an Heinrich Zschokke, 1. Februar 1802, in: DKV IV, S. 297–299, hier S. 298.

2

Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801, in: DKV IV, S. 248–258, hier S. 253.

3

Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801, in: DKV IV, S. 243–248, hier S. 246.

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II Ein Esel schreit – ungefähr zwanzig Sekunden lang tut er dies durchschnittlich, wenn er einmal angefangen hat, und viel mehr Zeit dürfte auch das Kleist und seine Schwester aus ihrer gelösten Stimmung reißende Ereignis kaum in Anspruch genommen haben: Von hinten nähert sich ein Zug Esel der Tränke, eines der Tiere gibt – nach deutscher Transkription – die zwei Vokale von sich, die zu äußern es mächtig ist, die Kutschpferde scheuen, bäumen sich auf, gehen mit dem Wagen durch, der Wagen fällt, samt seiner zwei Insassen, um. Glücklicherweise entsteigen die beiden dem Wrack unversehrt.

III Ein Esel schreit – was für ein absurd blöder Tod wäre das gewesen. Man stelle sich vor, hier, neben dem Eingang des Gasthauses ,Zum Roßbrunnen‘ wäre heute eine Gedenktafel angebracht: „An dieser Stelle starb – vermutlich – am 7. Juni 1801 der Dichter Heinrich von Kleist.“ Eine Gedenktafel, die einen kleinen, allerdings entscheidenden Fehler enthielte, nämlich den „Dichter“, der Heinrich von Kleist im Sommer 1801 noch überhaupt nicht ist – womit sich, folgerichtig, auch die Sache mit der Gedenktafel von vornherein erledigt hätte, da es, sofern überhaupt, höchst selten vorkommt, dass im öffentlichen Raum an Menschen erinnert wird, deren Lebenslauf wenig mehr aufweist als eine abgebrochene Militärkarriere, eine abgebrochene Verwaltungskarriere, den Wunsch, sich in Paris zu bilden, den Wunsch, Bauer zu werden, sowie den Wunsch, einmal größer als Goethe zu sein. Keine Tafel mit der offenen Gleichung „Gott : Weltall = Mensch : x“, neben der die Butzbacher Dorfsprayer ein neongrünes „ESEL“ als Lösung hätten anbieten können, vermutlich nicht einmal eine Tafel des erratischen Wortlauts „ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes (Goethe, 1810)“4, den heute wohl kein Lokalhistoriker, geschweige denn ein Mitglied der das Gasthaus ,Zum Roßbrunnen‘ seit 2007 führenden Familie Cetrangolo als Anspielung auf das Butzbacher Eseldrama anno 1801 zu erklären imstande wäre. Und alles wegen eines dummen Missverständnisses zwischen Pferd und Esel. Was für ein – „Parken nur für Gäste“ – absurder Tod.

4

„J. Falk, Goethe aus persönl. Umgange dargestellt (1832)“, in: LS, Nr. 384.

T HE F AST

AND THE

F URIOUS , J UNI 1801

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IV Ein Esel schreit – an diesem Vormittag im Juni 1801 jedoch bleibt es bei einem Tod im Konjunktiv. Der Tod verbleibt im Irrealis, bleibt in der Schwebe, ungreifbar, bedrohlich, wie der Schrei des Esels. Zwanzig Sekunden Eselsgeschrei, durchdringend, schrill, ohrenbetäubend – diese zwanzig Sekunden aber dehnen sich aus, über einen Zeitraum von sechs Wochen. Als Kleist sich am 18. Juli in Paris an den Butzbacher Morgen erinnert, wirkt er, als habe er sich vom Schreck noch immer nicht erholt, so präsent scheint ihm das Geschehen zu sein, bis in das dramatische Präsens hinein, in das Kleists briefliche Schilderung gleitet. Der wie aus dem Nichts ertönende, jäh über seine Schwester und ihn hereinbrechende Schrei eines Esels steckt ihm nach wie vor im Gehörgang – hartnäckiger als die nach der Reparatur wieder gleichmäßig dahinrollenden Wagenräder oder das Hufgetrappel der Kutschpferde, lauter als alle rauschenden Rheinwellen und beständiger als der ihn unablässig umgebende Pariser Gassenlärm.

V Ein Esel schreit – und scheint sich mit seinem akustischen Kurzauftritt auch sogleich in Luft aufzulösen. In Kleists Bericht zumindest taucht er kein zweites Mal auf und erweist sich so als dem Kutscher täuschend ähnlich, der, nachdem Kleist ihn wenige Tage zuvor, am 3. Juni, in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge noch gelobt hat („Johann leistet uns dabei treffliche Dienste, wir sind sehr mit ihm zufrieden“5), am Butzbacher Vormittag das Brauhaus scheinbar überhaupt nicht mehr verlässt. Keine Rede davon, das Eselsgeschrei, die davonpreschenden Kutschpferde oder der aufs Straßenpflaster stürzende Wagen hätten ihn aus der Gaststube gelockt. Damit reicht Kleists allein der Erzählökonomie und -dramaturgie seines Berichts geschuldete Auslassung auf eigentümliche Weise in die zukünftige Wirklichkeit hinein: Nicht nur, dass Johann in den Briefen aus Paris nicht mehr erwähnt wird, also offenbar abgetaucht ist – nach der Rückkehr bleibt Kleist nichts weiter, als seiner Verlobten aus Frankfurt am Main mitzuteilen: „daß dieser Mensch mich auf eine unwürdige Art, 2 Tage vor der Abreise, da schon die Pferde gekauft waren, in Paris verlassen hat.“6

5

Brief an Wilhelmine von Zenge, 3. Juni 1801, in: DKV IV, S. 228–233, hier S. 230.

6

Brief an Wilhelmine von Zenge, 2. Dezember 1801, in: DKV IV, S. 283–286, hier S. 286.

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VI Ein Esel schreit – und setzt damit etwas in Gang. In Butzbach zwei Pferde, den Wagen, die Geschwister Kleist, in Paris einen Schreibprozess, der, nachdem er scheinbar bereits ans Ende gelangt ist, erneut an Fahrt gewinnt. Im Nachsatz zu seinem Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli lobt Kleist zunächst ausführlich eben jene Kutschpferde, die ihn nach Paris geführt haben, um daraufhin, als käme ihm der Zwischenfall erst in diesem Augenblick wieder in Erinnerung, da der Schreibvorgang ihn aus tieferen Schichten an die Oberfläche zieht, zu berichten, es habe lediglich einmal Anlass gegeben, „ein wenig böse“ auf die Pferde zu sein: Wir hatten ihnen nämlich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirthshause, sie zu tränken u. mit Heu zu futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblieben, als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade so vernünftig sein mußten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe u giengen spornstreichs mit uns in vollem Carriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich grif nach dem Zügel, aber die hiengen ihnen, aufgelöset, über der Brust, u. ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, u. wir stürzten –7

Die Lautäußerung eines Vierbeiners fordert Heinrich von Kleist offenbar heraus. Ihn, das vernunft- und sprachbegabte Wesen – „indessen das Thier“, wie Kleist einmal bemerkt, „auf seiner Rohrpfeife, nichts mehr als den einzigen Ton hören lassen soll, den sie enthält.“8 Denn alles an dieser Briefpassage deutet darauf hin, daß wir es keineswegs mit dem Protokoll eines Erinnerungsprozesses zu tun haben, der im Schreibvorgang angestoßen wurde und nun über einige Zeilen hinweg vor unseren Augen abläuft. Dramaturgisch geschickt setzt Kleist Akzente, webt feine Echos wie das zwischen „abscheulich“ und „scheu“9 ein, baut einen Spannungsbogen, der vom ersten bis zum letzten Wort hält. Ein Text, glaubt der Leser, der aus nichts weiter als aus der Mitteilung aller zum Verständnis der Ereignisse nötigen Tatsachen besteht – was sich jedoch nur wieder als Kunstfertigkeit des Schreibenden erweist: Damit

7

Brief an Karoline von Schlieben, 18. Juli 1801, in: DKV IV, S. 234–243, hier S. 242f.

8

Brief an Wilhelmine von Zenge, 29. u. 30. November 1800, in: DKV IV, S. 171–176, hier S. 173.

9

Brief an Karoline von Schlieben, 18. Juli 1801 (wie Anm. 7), S. 242f.

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nämlich gelingt es Kleist, den Eindruck zu vermitteln, die Dauer des Beschriebenen und die Lesedauer fielen in eins. In dieser Geschichte vom bloßen Zufall bleibt nichts dem Zufall überlassen. So inszeniert man Erinnern. So zieht Kleist uns ins Geschehen hinein, um uns nacherleben zu lassen, wie das unartikulierte Tier seine konkrete Wirkmacht an ihm, dem zukünftigen Schriftsteller, erprobt.

VII Ein Esel schreit – und Heinrich von Kleist reagiert darauf mit einer Briefpassage, die sich als klug komponierte, konzise Binnenerzählung erweist, ja, die sich ausnimmt, als hätten wir es mit einem frühen Paradebeispiel des New Journalism zu tun. Unser Reporter verletzt nicht etwa leichtfertig die Sorgfaltspflicht, indem er mangelnde Distanz zu seinem Gegenstand erkennen lässt – es gehört zu seinem Selbstverständnis, sich mitten ins Geschehen hineinzubegeben, auf die Gefahr hin, in Mitleidenschaft gezogen zu werden, auf die Gefahr hin, das Geschehen zwar aus unmittelbarer Nähe erleben, nachher jedoch nicht mehr davon berichten zu können: „u. wir stürzten –“. „Und an einem Eselsgeschrei hieng ein Menschenleben?“ lautet die vielzitierte, sich an den Sturz ins Leere anschließende Frage, und: „Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt?“10 Worauf aber bezieht sich das hervorgehobene „darum“ genau – auf das Geschrei des Esels, auf den Unfall, auf das Erleben der Todesangst in dem Moment, da der Wagen umstürzt, auf die Verknüpfung aller drei mit rasender Geschwindigkeit aufeinanderfolgenden Ereignisse, von denen Kleist, wäre der äußerste Fall eingetreten, nicht mehr hätte Bericht erstatten können? Nach einer Antwort zu suchen hieße, die vorangegangenen Formulierungen noch einmal zu lesen, Kleist jedoch gewährt dem Leser keine Atempause, während der er sich Klarheit über den Sinnzusammenhang des „darum“ verschaffen könnte, Kleist erhält den hohen Erregungszustand seines Texts aufrecht, hat die Szene bereits verlassen und lenkt mitten hinein in eine „diesem dunkeln, räthselhaften, irrdischen Leben“11 gewidmete Reflexion. Unser Reporter hält die Zügel fest in der Hand.

10 Ebd., S. 243. 11 Ebd.

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Das Leben: so rätselhaft wie ein im Text hervorgehobenes „darum“. Als hätte Kleist mit seiner Beschreibung des Butzbacher Eselzwischenfalls den Ausgangspunkt eines Romanvorhabens umrissen, dessen Schreibimpuls die Journalistin und Schriftstellerin Joan Didion – wenn auch erst 1976 und mit Blick auf einen eigenen Roman – so fasst: „Ich hatte lediglich zwei Bilder im Sinn [...] und eine handwerkliche Absicht, die darin bestand, einen derart elliptischen und schnellen Roman zu schreiben, daß er zu Ende wäre, bevor man es merkt, einen derart schnellen Roman, daß er kaum überhaupt auf dem Papier existieren würde.“12

VIII Ein Esel schreit – und gibt Kleist Gelegenheit, das unentwegt auf das Ungesündeste zwischen Belehrung und Infragestellung, Demütigung und Selbstdemütigung, Sorge und Selbstmitleid, Auskunftsverpflichtung und Auskunftsverweigerung wechselnde Briefprogramm, das er seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge gegenüber verfolgt, für einige Zeilen aus den Augen zu verlieren und in derselben Bewegung – wir haben es schließlich mit Heinrich von Kleist zu tun – auf die Spitze zu treiben. Drei Tage, nachdem er Karoline von Schlieben aus Paris geschrieben hat, wendet Kleist sich am 21. Juli 1801 an seine Verlobte, quält, wie gewohnt, zunächst vordergründig sich selbst, in erster Linie aber Wilhelmine ausführlich mit der Frage, ob er der richtige Mann für sie sei, lies: sie die richtige Frau für ihn, um dann, als hätten ihn seine Ausführungen ungeheuer ermüdet, einen Augenblick innezuhalten, woraufhin er sich für einen kurzen Satz in einen Reiseberichterstatter verwandelt, allerdings nur, um Wilhelmine sogleich mit einer alles bis hierhin Geschriebene außer Kraft setzenden Frage in Aufruhr zu versetzen: „Weißt Du wohl, daß Dein Freund einmal dem Tode recht nahe war?“13 Nun, möchte man zurückfragen, wie sollte sie es nicht wissen? Schließlich gehören Todesbilder, Todeserörterungen, Todesahnungen nahezu von Anfang an zum Standardrepertoire seiner Korrespondenz mit Wilhelmine, die sich insgesamt eher liest, als richte jemand nicht Briefe an eine zukünftige Gattin, sondern an eine Witwe in spe. Nicht weniger als fünfmal erwähnt Kleist in den ersten drei Briefen, die er zwischen dem 18. und dem 28. Juli 1801 aus Paris schreibt, Momente aus jüngerer Zeit, in denen sein Leben auf dem Spiel gestanden habe: Im selben Brief an

12 Joan Didion: „Why I Write“, in: The New York Times Book Review (5. Dezember 1976), Übersetzung d. Verf. 13 Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801 (wie Anm. 3), S. 245.

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Wilhelmine ist zu lesen, wie auf dem Rhein zwischen Koblenz und Köln, „als wieder ein so unerhörter Sturm loßbrach, daß die Schiffer das Fahrzeug gar nicht mehr regieren könnten“, die Wellen das Postschiff „so gewaltig“ „schleuderten“, „daß es durch sein höchst gefährliches Schwanken, die ganze Gesellschaft in Schrecken setzte“.14 Bei einer Bootsfahrt „auf einem See bei Fürstenwalde“ sei, wie er Adolfine von Werdeck am 28. Juli wissen läßt, „[m]itten in einer großen Gefahr“ seine „ganze Familie im Nachen dem Sturme ausgesetzt“ gewesen, „u. Alles weinte und schrie“ in dieser Situation, bedrohlich genug, daß „selbst die Männer die Besinnung verloren“.15 Erzählökonomisch nicht ganz durchgearbeitet, lässt Kleist unmittelbar darauf einen weiteren dramatischen Höhepunkt folgen, indem er eine Überfahrt „auf der Ostsee zwischen Rügen u. dem festen Lande“ anführt, „im Sturme auf einem Bote mit Pferden u. Wagen“, als die Passagiere „dem Untergange nahe waren“.16 Dreimal den ‚Tod durch Wasser‘ beschworen – da kommt Kleist ein schreiender Esel in Butzbach gerade recht, möchte man meinen, um die Erfahrung seiner diesmal an Absurdität kaum zu übertreffenden Todesnähe zunächst Karoline von Schlieben, wenige Tage darauf dann Wilhelmine von Zenge schriftlich auszumalen. „Ach, es ist nichts ekelhafter, als diese Furcht vor dem Tode“17, schreibt er am 21. Juli an Wilhelmine – aber hat er ihr nicht erst am 3. Juni, als vom Schrei eines Esels noch keine Rede sein konnte, geschrieben: „Ach, es ist ekelhaft, zu leben“18? „Weißt Du wohl, daß Dein Freund einmal dem Tode recht nahe war? Erschrick nicht, bloß nahe, und noch steht er mit allen seinen Füßen im Leben.“19 – Doch wer spricht hier überhaupt, wenn er nicht wie ein Mensch mit beiden, sondern mit „allen“ Füßen im Leben steht?

IX Ein Esel schreit – ein Abschiedsruf. „Du weißt daß ich mich jetzt für das schriftstellerische Fach bilde“20, teilt er Wilhelmine im November 1800 mit und glaubt,

14 Ebd., S. 247. 15 Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 2), S. 254. 16 Ebd. 17 Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801 (wie Anm. 3), S. 247. 18 Brief an Wilhelmine von Zenge, 3. Juni 1801 (wie Anm. 5), S. 230. 19 Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801 (wie Anm. 3), S. 245. 20 Brief an Wilhelmine von Zenge, 16./18. November 1800, in: DKV IV, S. 157–165, hier S. 164.

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dies sei Rechtfertigung genug, um seiner Verlobten Brief für Brief einen ausufernden Katalog fadester Gleichnisse zukommen zu lassen, die näher betrachtet nichts weiter darstellen als sein für eigene Zwecke verfasstes Schreibschulenmaterial, das es, einmal bewältigt, irgendwo abzuladen, einem geduldigen Packesel aufzuladen gilt. Nun aber, am 21. Juli 1801, feilt er, der noch im Januar gemeint hat, seine Seele sei wie die Rose, die nach einem Gedanken dürste, der wie die Orange sei,21 nun also feilt Heinrich von Kleist am Text. Im Brief an Karoline von Schlieben hat es zu Beginn über die Pferde noch geheißen: „Wir hatten ihnen nämlich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirtshause“22, und erst gegenüber Wilhelmine von Zenge präzisiert Kleist, indem er dem Kutscher zu seinem Kurzauftritt verhilft: „wobei Johann ihnen die Zügel abnahm u. wir beide sorglos sitzen blieben.“23 Möglich, Kleist möchte sich nicht fragen lassen, wem die Lockerung des Zaumzeugs anzulasten sei, möglich, er braucht den sogleich ins Wirtshaus verschwindenden Johann nur, um das Personal demonstrativ zu reduzieren und damit den Effekt des Bevorstehenden klarer herausarbeiten zu können: Für einen Augenblick richtet sich alle Aufmerksamkeit auf zwei Menschen und zwei Pferde. Zieht man nun zusätzlich eine im Brief an Karoline vorgenommene Sofortkorrektur heran, zeigt sich, mit welcher Akribie Kleist an der dramatischen Szene feilt, welcher dramaturgischen Kniffe er sich bedient. Ursprünglich tritt nämlich nicht etwa „ein Esel“, sondern „ein Haufen von Eseln“ akustisch in Erscheinung, eine anonyme, gestaltlose Masse, die zwar durchaus in der Realität, nicht aber im Text eine ähnlich bedrohliche Wirkung entfalten mag wie der einzelne Esel, der, Solist statt Chormitglied, in den Rang einer über Leben und Tod entscheidenden Person aufrückt. Und dies, obwohl er, Kleists Vorstellung vom Tier gemäß, von Natur aus nicht in der Lage ist, derart komplexe Entscheidungen zu treffen. Kleist, ein Medienprofi durch und durch, lässt den „Haufen“ von der Butzbacher Bühne verschwinden, übrig bleibt „ein Esel“: So gibt er dem Grauen ein Gesicht – und rückt sich selbst als Regisseur der Szene ins Bewusstsein, indem er uns den Anblick dieses Gesichts vorenthält.

21 Brief an Wilhelmine von Zenge, 11./12. Januar 1801, in: DKV IV, S. 177–182, hier S. 179. 22 Brief an Karoline von Schlieben, 18. Juli 1801 (wie Anm. 7), S. 242. 23 Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801 (wie Anm. 3), S. 246. Die Briefe vom 18. und 21. Juli 1801 (Anm. 7 und 3) werden in der Folge im stetigen Wechsel zitiert; um welchen der beiden Briefe es sich jeweils handelt, lässt sich aus den Seitenzahlen ableiten.

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Im Brief an Karoline bricht der Esel in diese Welt aus dem Nichts herein: „als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob“24, wogegen im Brief an Wilhelmine die Spannung nach und nach gesteigert wird, ins dramatische Präsens wechselnd: „Während Johann in dem Hause war, kommt ein Zug von Steineseln hinter uns her, u. Einer von ihnen erhebt ein so gräßliches Geschrei, daß“25 –. Im Brief an Karoline heben die Pferde „sich hoch in die Höhe“26, im Brief an Wilhelmine „kerzengrade in die Höhe“27, das „Steinpflaster der Stadt“28 wird zu „Steinpflaster“29 verknappt, aus „Ich grif nach dem Zügel, aber die hiengen ihnen“30 wird, richtiger, „Ich grif nach der Leine – aber die Zügel lagen den Pferden, aufgelöset, über der Brust“31. „u. ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken“32, schreibt Kleist an Karoline, die Szene noch enger umreißend, in Konzentration auf eine einzelne, das Zentrum eines von drei Tieren ausgelösten Tumults bildende Person, was allerdings die Größe der Gefahr – es geht hier nicht um ein, es geht um zwei Menschenleben – in für die Erzählung unvorteilhafter Weise mindert, sodass es an Wilhelmine heißt: „u ehe wir Zeit hatten, an die Größe der Gefahr zu denken“33, schlug nun nicht mehr einfach „der Wagen“34, sondern „unser leichter Wagen“35 um. „Kurz, wir standen beide ganz frisch u. gesund von dem Steinpflaster auf u. umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das Alles kostete uns 3 Louis dʼor u. 24 Stunden“36 – so die in beiden Briefen annähernd gleichlautende, den Schluss vorbereitende Passage. Den Schluss selbst jedoch überarbeitet Kleist grundlegend, indem er statt eines zeitlichen einen räumlichen Fluchtpunkt wählt. An Karoline heißt es: „am andern Morgen gieng es

24 Ebd., S. 242. 25 Ebd., S. 246. 26 Ebd., S. 243. 27 Ebd., S. 246. 28 Ebd., S. 243. 29 Ebd., S. 246. 30 Ebd., S. 243. 31 Ebd., S. 246. 32 Ebd., S. 243. 33 Ebd., S. 246. 34 Ebd., S. 243. 35 Ebd., S. 246. 36 Ebd., S. 243.

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weiter – Wann wird der letzte sein?“37, den Blick auf die Endlichkeit des Lebens richtend und so das rasante Geschehen ausbremsend. Wilhelmine dagegen bekommt einen Schluss geliefert, der genaugenommen keiner ist, weil die chaotische, höchst gefährliche Fahrt durch die hier andeutungsweise geöffnete Landschaft schlichtweg kein Ende kennen kann: „dann gieng es weiter – wohin? Gott weiß es.“38 In einer – hypothetischen – dritten Fassung des Texts hätte der Autor, da bin ich mir sicher, auch den Schlussschlenker noch gestrichen, das „Gott weiß es“, und den Leser ganz ohne umsichtigen Wagenlenker und ordentlich aufgezäumte Kutschpferde ins Offene entlassen: „dann gieng es weiter – wohin?“ Denn an dieser Stelle schreibt, noch ehe er zum Schriftsteller geworden ist, schon gar kein Heinrich von Kleist mehr, an dieser Stelle schreibt jemand, der sich zu einem illegalen Rennen mit Franz Kafka verabredet hat: „Ich schwang mich aufs Pferd. Die Riemen lose schleifend, ein Pferd kaum mit dem andern verbunden, der Wagen irrend hinterher, der Pelz als letzter im Schnee. ,Munter!‘ sagte ich, aber munter ging’s nicht; langsam wie alte Männer zogen wir durch die Schneewüste.“39 Und, wie das vorige Zitat aus dem Schluss von Ein Landarzt: „Niemals komme ich so nach Hause“. Und: „Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher.“40 Im Vergleich zu dem atemlosen, ohnehin schon atemberaubenden Text, den Kleist drei Tage zuvor im Brief an Karoline von Schlieben verfasst hat, erhält Wilhelmine von Zenge also eine noch einmal um entscheidende Details verbesserte Fassung. Die bittere Ironie der Geschichte: Mit dem ersten Brief an Wilhelmine, dessen literarisch ambitionierte Passagen die Adressatin nicht zu Tode gelangweilt haben dürften, setzt Kleists langer Abschied von seiner Briefpartnerin ein.

37 Ebd. 38 Ebd., S. 246. 39 Franz Kafka: „Ein Landarzt“, in: Ders.: Ein Landarzt, Faksimilenachdruck der Erstausgabe des Buchdrucks von 1920 (Kurt Wolff Verlag, München und Leipzig), hg. v. Roland Reuß, Frankfurt a. M., Basel 2006, S. 6–33, hier S. 31f. 40 Ebd., S. 32f.

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X Ein Esel schreit – und Heinrich von Kleist nimmt Abschied von dem rhetorischen Ponyhof, den er bislang brieflich bewirtschaftet hat.

XI Ein Esel schreit – denn es ist seine angeborene Art, nichts als den Augenblick ergreifen zu können, was wiederum den großen Zauderer Heinrich von Kleist – entgegen seiner Selbstbeschreibung „Ach, es ist meine mir angebohrne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können“41 – dazu bringt, für die Dauer eines Augenblicks zu vergessen, dass er eben jener große Zauderer ist. Einmal in seinem bisherigen Leben, könnte er sich selber zugutehalten, handelt er, ohne nachzudenken, ohne abzuwägen, und ohne jeden Fluchtinstinkt, da er mit seiner blitzschnellen Reaktion versucht, den vom Eselsschrei ausgelösten Fluchtinstinkt der sich aufbäumenden Kutschpferde zu bändigen. Die dubiose Figur des Kutschers Johann ist nicht zur Stelle. Ulrike, der Kleist bescheinigt, sie verliere üblicherweise in lebensbedrohlichen Situationen als letzte den Kopf, reagiert in dieser Situation offenbar nicht so schnell wie ihr Bruder: Heinrich von Kleist greift nach der Leine. Er ergreift den Augenblick – und greift ins Leere. Im Grunde zeichnet Kleist damit Wilhelmine von Zenge und Karoline von Schlieben gegenüber ein Selbstbildnis als klägliche Figur: Er weiß in diesem Augenblick nicht mehr, dass Johann den Pferden das Zaumzeug gelockert hat, er ist sich dessen so wenig bewusst, wie er Kutschpferden das Zaumzeug anzulegen wüsste, sofern man jene Anekdote aus Paris als glaubwürdig betrachtet, nach der sich – der untreue Johann ist davongelaufen – Kleist in Vorbereitung der Abreise so lange und umständlich und vergeblich mit dem Anschirren abmüht, dass sich bald eine Gruppe amüsierter Schaulustiger um ihn gebildet hat. Kleist greift ins Leere – und doch hat seine Geste etwas Heroisches. Sie ist der Geste eines anderen großen Zauderers, Michel Leiris, verwandt, der zur Jahreswende 1945/1946 im Vorwort zu seiner Autobiografie Mannesalter von dem Wunsch spricht, sich „entschlossen von gewissen peinlichen Vorstellungen loszumachen und gleichzeitig“ seine „Züge mit einem Höchstmaß von Reinheit hervortreten zu lassen“42. „Ein Buch machen, das eine Tathandlung sein sollte, dies war,

41 Brief an Adolphine von Werdeck, 28./29. Juli 1801 (wie Anm. 2), S. 255. 42 Michel Leiris: Mannesalter, übers. v. Kurt Leonhard, Frankfurt a. M. 1975, S. 10.

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im groben gesehen, das Ziel, das mir vor Augen stand“43, schreibt Leiris, und es erscheint mir bezeichnend, dass er, um dieses Schreiben ins Bild zu fassen, die Auseinandersetzung mit einem unbändigen Tier ausmalt: Literatur als Stierkampf lautet die Überschrift des Vorworts. Als hätte er dabei nicht nur Kleists Werk im Sinn, sondern, viel konkreter, das Butzbacher Eseldrama im Blick, erwartet Leiris „ein direktes, vom Autor eingegangenes Risiko“, ganz gleich, welche Gattung, welches Genre er bevorzugt, „wenn er nur der menschlichen Bedingtheit – der ,condition humaine‘ – offen gegenübertritt oder sie ,bei den Hörnern nimmt‘“44.

XII Ein Esel schreit – doch warum hallt der Schrei eines hessischen Kleinstadtesels noch Wochen später so deutlich nach, in der Weltstadt Paris, aus der Heinrich von Kleist – „die matte, fade, stinkende Stadt“45, „alle diese Häuser durchgängig von jener blassen, matten Modefarbe, welche man weder gelb noch grau nennen kann“, und zwischen den Häusern „enge, krume, stinkende Straßen, in welchen oft an einem Tage Koth mit Staub u. Staub mit Koth abwechseln“46, kurzum: „die Unnatur“47 – aus der also Heinrich von Kleist mit der Reflexhaftigkeit des Provinzlers so mies gelaunt berichtet wie nach ihm erst wieder Rolf Dieter Brinkmann aus Rom? Was bringt ihn ausgerechnet an seinem Pariser Schreibplatz dazu, sich jenseits der leerlaufenden Merksprüche, der variabel einsetzbaren Ansichtskartenklischees und des ansonsten in der Korrespondenz mit Wilhelmine herrschenden Gleichnisterrors der Herausarbeitung des Butzbacher Eseldramas mit solcher Sorgfalt zu widmen, und dies gleich zweifach? Der Butzbacher Beinahetod der Geschwister Kleist verdoppelt sich auf dem Papier, Kleist erfasst das Ereignis mit seiner Feder, als wolle er es mithilfe einer Stereokamera einfangen, sodass es an Plastizität gewinnt, aus der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität rückt, denn: „Der Deutsche geht um das Ding

43 Ebd., S. 12. 44 Ebd., S. 20. 45 Brief an Luise von Zenge, 16. August 1801, in: DKV IV, S. 264–271, hier S. 269. 46 Ebd., S. 264. 47 Ebd., S. 269.

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herum“, während, laut Kleist, „der zweite Gedanke über ein u dasselbe Ding den Franzosen langweilig“48 ist. „Verrath, Mord u Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht niemanden afficirt“, meldet Kleist aus Paris, und: „fast täglich fallen Mordtaten vor, ja vor einigen Tagen starb eine ganze Familie an der Vergiftung, aber das Alles ist das langweiligste Ding von der Welt, bei deren Erzählung sich jedermann ennuyirt.“49 Indem er sich vor diesem Hintergrund der condition humaine stellt und sie ,bei den Hörnern nimmt‘, formt der deutsche Noch-Nicht-Schriftsteller Heinrich von Kleist nicht etwa einen tatsächlichen, sondern lediglich einen Beinahetod von einer Erzählung im Sinne einer Mitteilung zu einer knappen Erzählung im Sinne einer literarischen Gattung um, bei deren Lektüre seine Adressatinnen sich alles andere als langweilen werden. Und es könnte sein, dass ihm dabei ein anderer Beinahetod aus der jüngsten Vergangenheit präsent ist, der selbst die seiner Meinung nach angesichts des Äußersten gelangweilten Pariser keineswegs unberührt gelassen hat.

XIII Ein Esel schreit – er ist eine Höllenmaschine. Am Abend des 24. Dezember 1800 sitzt Napoleon, Erster Konsul der Republik, in seiner Kutsche auf dem Weg in die Oper, wo Haydns Schöpfung ihre französische Premiere erleben soll. In einigem Abstand folgt eine weitere Kutsche mit den weiblichen Familienmitgliedern und General Rapp. Auf der Fahrt soll Napoleon eingeschlafen sein, was sich nur schwer mit der Mitteilung in Einklang bringen lässt, sein offenbar angetrunkener Kutscher habe das Gefährt mit einem Affenzahn durch die engen Straßen dirigiert. Der Opernbesuch ist in der Presse angekündigt worden, kein Mensch aber kann vorhersehen, in welchem Tempo César – die Liste mediokrer Kutscher ist lang – an diesem Abend durch Paris jagt. Auch jene Attentäter nicht, die es auf Napoleon abgesehen haben und eine Höllenmaschine zünden, ein mit Schwarzpulver, Feuerwerkskörpern und Eisenkugeln gefülltes, auf einen Pferdekarren geladenes Fass, das zur Explosion gebracht wird – kurz nachdem Napoleons Kutsche die für den tödlichen Anschlag vorausberechnete Stelle passiert hat, und noch ehe die zweite Kutsche sie erreicht. Die Detonation ist allerdings derart heftig, dass die Familienkutsche von der Druckwelle erfasst wird und umstürzt. Ein Pferd des Gespanns stirbt, Gattin Josephine, Tochter Hortense, Schwester Caroline sowie

48 Ebd., S. 266. 49 Ebd., S. 264f.

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der General aber entsteigen ihrem demolierten Wagen, ohne größere Blessuren davongetragen zu haben. Als Napoleon in der Oper ankommt, wird er frenetisch gefeiert. Anhand der Überreste der Stute, die der Höllenmaschine vorgespannt war, lässt sich ihr Besitzer ausfindig machen. Guillotinierungen tatsächlicher wie vermeintlicher Verschwörer dauern bis weit in den April 1801 an. Wenige Wochen später setzt im hessischen Butzbach die Natur selbst das zuerst auf der weltpolitischen Bühne aufgeführte Stück mit ihren im Vergleich zur in Paris herrschenden Opulenz bescheidenen Mitteln als Bauerntheateraufführung erneut in Szene: Ein einzelner offener Wagen muss hier zwei prächtige Kutschen ersetzen. Zwei – immerhin reale – Pferde genügen, um einen Eindruck von zwei Gespannen und der napoleonischen Kavallerieeskorte zu vermitteln. Die Rollen der Verschwörer, der Höllenmaschine und der bei der Explosion zerfetzten Stute werden von einem einzelnen Esel übernommen. Ulrike, das mühelos zwischen den Geschlechtern wechselnde „Amphibion“, stellt sowohl die weiblichen Mitglieder der Familie Napoleon dar – Gattin, Schwester, Tochter – als auch einen mitfahrenden General. Offen bleibt, in welcher Rolle wir Heinrich von Kleist zu sehen bekommen: als friedlich schlafenden, glücklich geretteten Ersten Konsul der französischen Republik, oder als betrunkenen, mit Napoleon davonjagenden Kutscher.

XIV Ein Esel schreit – es sei denn, wir hörten bereits den Schrei eines Kaufmanns, der sich insgesamt vier multiple Rippenbrüche sowie eine schwere Gehirnerschütterung zuzieht, den Schrei seiner Tochter, die eine Hüftverletzung erleidet, oder den Schrei des vierzehnjährigen Enkels, der einen Stoß vor den Magen erhält, als die drei eines Abends im November 1810 nicht wie Napoleon auf dem Weg ins Theater, sondern nach Ende der Vorstellung auf dem Heimweg in einen Verkehrsunfall verwickelt werden, wobei die „Folgen der Beschädigung des Knaben“ nach Auskunft des Arztes „von keiner Bedeutung zu sein“ scheinen, die Verletzungen des Kaufmanns dagegen, obwohl jede einzelne von ihnen keineswegs „absolut letal“ sei, in der Kombination durchaus „leicht den Tod herbeiführen könnten“, wie die Berliner Abendblätter am 27. November 1810 unter der Rubrik Polizeiliche Tages-Mittheilungen melden.50 Dem Kutscher, mutmaßen die Berliner

50 Heinrich von Kleist: „Polizeiliche Tages-Mittheilungen, 26. November 1810“, in: BKA II/7, S. 260–261, hier S. 261.

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Abendblätter, sei „wahrscheinlich die Leine zerrissen“51. Er sei, heiße es, vom Wagen herabgefallen. Seine „Ausforschung“52 stehe noch bevor. Anders aber als im Charité-Vorfall, jener berühmten Anekdote, deren Zentrum ein „von einem Kutscher kürzlich übergefahrne[r] Mann, Namens Beyer“53 bildet, anders auch als in den restlichen Mitteilungen von Kutschunfällen, die sich in den Berliner Abendblättern finden und deren Zentrum, wie mir scheint, vorzugsweise junge Knaben bilden, die mal leichter, mal schwerer ,beschädigt‘ werden, rücken am 27. November 1810 weniger die in den Unfall verwickelten Menschen, als die ihn auslösenden Tiere in den Mittelpunkt, und zwar ganz konkret: „indem die Pferde mehrmals einen sehr engen Kreis beschrieben und zuletzt mit dem Vorderwagen weiter gegangen sind.“54 Eine unerforschliche Kreisbewegung, aus der die Pferde wie in einer Übersprungshandlung ausbrechen, indem sie einer voranfahrenden Kutsche folgen, weil sie sich, wären sie konsequent ihren einmal eingeschlagenen Weg gegangen, irgendwann um die eigene Achse hätten drehen müssen. ,Ausforschen‘ wie einen vom Bock gefallenen Kutscher – womöglich der dritte angetrunkene Kutscher im vorliegenden Text – kann man diese Pferde nicht, so wenig wie man aus einem Esel herausbekommt, was ihn dazu gebracht hat, an jenem Morgen in Butzbach zu schreien: eine dem menschlichen Auge entgangene Störung innerhalb seiner Wahrnehmungswelt? Schlicht Ausdruck von Freude? Die einsetzende Brunft? Das Tier gibt auf solche Fragen keine Antwort, gibt auf gar keine Fragen Antwort, nicht nur, weil es, wie Kleist bemerkt, über keine Vernunft verfügt, sondern weil es gar nicht wüsste, was eine Frage sein soll – ein Tier besteht aus Aussagesätzen. Und bleibt damit ein Fragezeichen. Kleist hätte, handelte es sich beim Butzbacher Eseldrama um ein fiktionales Geschehen, keinen besseren Auslöser erfinden können als diesen Esel. Man stelle sich nur einmal vor, statt des Esels hätte Johann den beinahe tödlich ausgehenden Unfall verursacht, er wäre nach einem schnellen Frühschoppen auf die Szene zurückgekehrt und in irgendeiner die Pferde scheu machenden Weise aufgefallen. Eine lahme moralische Erzählung um Pflichtverletzung und Schuld, Trinkverhalten von Untergebenen und Störung der öffentlichen Ruhe hätte sich daraus entwickeln lassen. – Kleist aber wäre nicht Kleist, hätte er auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken gespielt, sie schriftlich auszuarbeiten.

51 Ebd., S. 260. 52 Ebd., S. 261. 53 Heinrich von Kleist: „Charité-Vorfall“, in: BKA II/7, S. 63. 54 Kleist: „Tages-Mittheilungen“ (wie Anm. 50), S. 260f.

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XV Ein Esel schreit – und noch bevor das Jahr zu Ende gegangen sein wird, ist Kleist auf dem Weg in die Schweiz, wo er sich – so sein verwegener Plan – als Bauer versuchen will. Kann sein, er malt sich aus, in Thun jeden Morgen von der kleinen Aareinsel, auf der er leben wird, in Gesellschaft eines Lastesels auf den Acker hinauszuziehen. Tatsächlich aber werden die Thuner nie zu sehen bekommen, wie ein aus Preußen stammender Bauer seinen Esel vor sich hertreibt oder gar am unergründlichen Wechselspiel von lässigem Dahintrotten und störrischem Verharren zu verzweifeln droht, durch das sich Esel auszeichnen, als seien sie von der Absicht geleitet, ein Zeichen gegen den geregelten Lauf der Welt zu setzen, oder als hätten sie sich – wie Kleist – vorgenommen „abzuwarten, wie sich die Dissonanz der Dinge auflösen wird.“55 Statt eines Esels wird Heinrich von Kleist in der Thuner Zeit vielmehr seine eigene Stimme als Kumpan und Widerpart erleben. Sie treibt er vor sich her, sie holt er ein, sie zieht er wie an einem unsichtbaren Strick nach, an ihrer Seite läuft er umher, wie ein unbekannter Beobachter mit leichtem Befremden berichtet, der ihn oft „stundenlang“ auf der Scherzliginsel „auf und ab rennen und deklamieren“56 sieht. Kleist spricht vor sich hin, spricht sich nach, er erprobt das Dahinfließen der Verse, setzt sich der Widerspenstigkeit der Sprache aus, die es zu erfahren, zu durchdringen gilt, ohne ihr damit jedoch ihren Eigensinn zu nehmen. Vom eigentlichen Wortlaut der Deklamationsgänge ist nichts bekannt. Der als „junger Mann aus Kleists Thuner Bekanntschaft“ geführte Beobachter wird nämlich aus der Distanz nichts weiter vernommen haben als eine mehr oder weniger rhythmische Abfolge von Vokalen. Greift man der Einfachheit halber den Eingangschor der Mädchen zur Familie Ghonorez heraus: Niedersteigen Glanz umstrahlet Himmelshöhen zur Erd' herab' Sah ein Frühling Einen Engel. Nieder trat ihn ein frecher Fuß.57

55 Brief an Heinrich Zschokke, 2. März 1802, in: DKV IV, S. 300–301, hier S. 301. 56 „Junger Mann aus Kleists Thuner Bekanntschaft“, in: LS, Nr. 77a. 57 Heinrich von Kleist:

ÂY, in: DKV I, S. 15.

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– dann dürfte Kleists Deklamation über die Entfernung ungefähr so geklungen haben: i-e-ei-e, a-u-a-e, i-e-ö-e a-ei-ü-i ei-e-e-e, i-e-a-i

u-e-e-a,

ei-e-e-u.

Kein Zweifel, Heinrich von Kleist hat zu schreiben begonnen.

XVI Ein Esel schreit – er schreibt. In seinem Brief vom Montag, dem 13. März 1804 an Ulrike stellt Heinrich von Kleist in Aussicht, sich in naher Zukunft wie ein Esel zu verhalten – nicht im übertragenen Sinne, sondern so, als wolle er buchstäblich in die Haut eines Esels schlüpfen. In die Haut eines ausgesprochen fröhlichen Esels überdies: „Ein einziges Wort von euch, und ehe ihrs euch verseht, wälze ich mich vor Freude in der Mittelstube. Adieu! Adieu! Adieu!“58

58 Brief an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803, in: DKV IV, S. 312–315, hier S. 315.

III. Spezifika (Un-)Arten und kleine Formen

1. Schreibarten Anekdote, Novelle, Essay

Prosa der Welt Kleists Journalismus und die Anekdoten R ÜDIGER C AMPE

K LEISTS LETZTES W ERK Das letzte Werk Heinrich von Kleists war eine Zeitung, ihr Titel Die Berliner Abendblätter. Kleist übernahm bei diesem journalistischen Unternehmen viele Rollen selbst. Er war Herausgeber mit der Verantwortung für Richtung und Auswahl der Beiträge. Er sorgte aufgrund familiärer Beziehungen und seiner gesellschaftlichen Stellung für Nachrichten aus der Berliner Polizeidirektion und zumindest zeitweise für Zugang zum Hof. Er warb wichtige Autoren aus Kultur und Wissenschaft an. Er überwachte den Druck und die Verteilung der Abendblätter. Er war für die Finanzen zuständig. Vor allem verfasste er viele Beiträge selbst, und der Anteil dieser selbstverfassten Notizen, Essays und Erzählungen stieg immer weiter an.1 Sicher arbeitete Kleist in den letzten sieben Monaten seines Lebens, nachdem die Abendblätter mit der Ausgabe vom 30. März 1811 das Erscheinen eingestellt hatten, auch hektisch an weiteren Vorhaben. Im August des Jahres erschien der zweite Band der Erzählungen. Dieser Seite der literarischen Produktion verdankt 1

Grundlegend für die Erschließung der Abendblätter in zeitungsgeschichtlicher Sicht und als Teil von Kleists Werk ist Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter Heinrichs von Kleist, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939. Für die Verwicklungen mit Regierung und Zensur siehe Dirk Grathoff: „Die Zensurkonflikte der ‚Berliner Abendblätter‘. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist“, in: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I, hg. v. Klaus Peter u.a., Frankfurt a. M. 1972, S. 35–168. Die Diskussion des Zeitungsprojekts im Rahmen des Werks und der Ästhetik der Zeit beginnt Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003.

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Kleist letztlich seinen Platz in der Weltliteratur. Kafka – um das bekannte Beispiel zu nennen – hat im Kohlhaas und in den Anekdoten Kleists neben den Romanen Dostojewskis und Flauberts das Vorbild dafür gefunden, was es heißt, Prosa zu schreiben. Man kann in diesem Zusammenhang von reiner Prosa sprechen: Prosa als Manifestation dessen, was Kafka auch ‚das Schreiben‘ genannt hat und was unter diesem Namen in unsere Art und Weise Eingang gefunden hat, über Literatur nachzudenken und zu sprechen.2 Zwei der fünf Stücke im zweiten Teil der Erzählungen sind zuerst in den Berliner Abendblättern erschienen, einer weiteren geht eine kurze anekdotische Fassung in den Abendblättern voraus.3 Gewissermaßen sind also auch sie Teil der Zeitung, des letzten Kleist’schen Werks. Kleist versuchte in den Monaten nach dem Ende der Abendblätter noch mehr: Er schickte seine Preußentragödie Prinz von Homburg mit dem Angebot der ideologischen Zusammenarbeit an den Hof. Eine Antwort erhielt er nie. Er bewarb sich wieder um eine Staatsanstellung, zu militärischer oder ziviler Verwendung, und wurde in diesem Zusammenhang vom König empfangen. Ergebnisse brachte diese Bemühung aber nicht. Kleist begann einen Roman zu schreiben, von dem sich keine Spur erhalten hat. Das alles bedeutet: Will man nicht geradezu den Doppelselbstmord vom 26. November zusammen mit Henriette Vogel so verstehen, dann bleiben die Berliner Abendblätter Kleists letztes vollendetes Werk. Dabei scheint journalistisches Arbeiten denkbar weit entfernt von Kleists ersten Versuchen, sich einen Namen als Dichter und Autor zu machen. Diese Anfänge spielen sich auf einem ganz anderen Gebiet ab: Es gibt die Bemühungen um 2

Siehe Franz Kafka: Briefe, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 1999, Bd. 2, S. 84, und Bd. 1, S. 167. Zur Geschichte der Konstellation: Peter André Alt: „Kleist und Kafka. Eine Nachprüfung“, in: KJb 1995, S. 97–120; zu ihrer Deutung im Rahmen der literaturtheoretischen und philosophischen Kafka-Lektüren: Anna-Lena Scholz: Kleist/Kafka. Diskursgeschichte einer Konstellation, Freiburg i. Br. 2016; dort zu Kafkas Rezension der Ausgabe von Kleists Anekdoten von 1911, S. 184−187. Über Kafkas Wort und Idee des Schreibens vgl. Rüdiger Campe: „Schreiben im Process. Kafkas ausgesetzte Schreibszene“, in: „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen.“ Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, hg. v. Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2005, S. 115–132.

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In den Berliner Abendblättern erschienen zuerst Das Bettelweib von Locarno und Die Heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik; Der Zweikampf hatte einen anekdotischen Vorläufer in der Zeitung. Die Verlobung in St. Domingo erschien zuerst in einer literarischen Berliner Zeitschrift, Der Findling und die Langfasssung von Der Zweikampf nur im zweiten Teil der Erzählungen von 1811. Die meisten Erzählungen im ersten Teil der Erzählungen von 1810 waren zuerst in Kleists literarisch-kunstphilosophischer Zeitschrift Phöbus gedruckt worden.

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die Schicksalstragödie mit Familie Schroffenstein und das Historiendrama Robert Guiskard. Es gibt Der zerbrochne Krug, eine Komödie im holländischen Stil und ein neuer Ödipus gleichzeitig. Dazu kommt der Wettbewerb mit der klassizistischen Komödie im Amphitryon nach Molière und mit der klassischen Tragödie in der Penthesilea, die sich mit ihren vierundzwanzig Szenen außerdem noch am epischen Modell der Ilias abarbeitet. Käthchen von Heilbronn ist romantisches Zaubermärchen und Biedermeierstück, das passender Weise im Wien Ferdinand Raimunds uraufgeführt wurde. Zuletzt folgt, schon in zeitlicher Tuchfühlung mit den Abendblättern, der Prinz von Homburg, eine Art Schiller’sches Historien- und Zeitstück. Der Abstand zu der Art von Werk, wie es die Zeitung ist, könnte nicht größer sein.4 Der Unterschied ist zunächst der zwischen Unterhaltungsliteratur und Literatur als Kunst.5 Aber etwas Anderes und noch Wichtigeres spielt mit: Es geht auch um den Unterschied zwischen den wohldefinierten Gattungen der Literatur in der Epoche der Dichtkunst und dem Schreiben von Prosa in der neuen Zeit – wobei die Prosa der neuen Zeit dann Schreiben von Erzählungen und Romanen einerseits bedeuten kann oder Schreiben für die Zeitung andererseits. Kleist war es allerdings auch schon bei den Versuchen in den klassischen Gattungen der Literatur kaum darum gegangen, einen Kanon zu erfüllen. Dass ihm wenig daran lag, den Gattungen und ihren Gesetzen um ihrer selbst willen nachzugehen, zeigt sich schon daran, dass er es bei den Werken für das Theater bei jeweils einem einzigen Versuch in einer bestimmten Gattung beließ. Offenbar wollte er jedes Mal die größtmögliche Wirkung und das letztgültige Gelingen. Das Maximum in der jeweiligen Gattung, nicht sie selbst, war der Einsatz. Man kann soweit gehen zu sagen, dass Kleist nicht als ein homme de lettres in die Literatur eintrat. Das soll nicht heißen, dass es ihm an literarischer Bildung oder Geschmack fehlte. Aber es heißt, dass Bildung oder Geschmack ihn nicht zurückhielten, wo es darum ging, Maxima zu erreichen. Vielleicht konnte Kleist darum am Ende seines Lebens und mit seinem letzten Werk die Literatur in ihrer Existenzweise als Dichtung überhaupt hinter sich lassen.6 Wie mit einem Schlag wischte er nicht nur die traditionalen Gattungen der 4

Damit sind nur die beiden Enden von Kleists Werk und seiner Stellung zur Literatur bezeichnet. Die Erzählungen liegen ebenso zwischen diesen Außenposten wie die Arbeit an literarisch-kunstphilosophischen Zeitschriften wie dem Phöbus und die propagandistischen Schriften.

5

Zu Kleists Stellung im Feld der sich um 1800 abzeichnenden Unterscheidung von high and low siehe Shengzhou Lu: Hat Heinrich von Kleist Unterhaltungsliteratur geschrieben? Zu einer Schreibweise in den Berliner Abendblättern, Würzburg 2016, S. 22–43.

6

Sibylle Peters zufolge liegt die Verwandtschaft des Zeitungsprojekts mit dem literarischen Werk darin, dass beide in ihrer Weise auf die Zeitstruktur von Zufall und Ereignis

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Literatur als Kunst fort, sondern er verließ den Raum, in dem solche Gattungen definiert worden waren und ihre Bedeutung hatten. Was er verließ, das war anders gesagt der Raum der Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa. In dieser Unterscheidung hatte die Literatur seit der Antike, und in noch einmal bekräftigter Form seit der Renaissance ihren Grund gehabt: die Literatur also, die wir als Dichtung verstehen. Was Kleist am Ende seines Lebens schreibt (in dem Sinn von ‚Schreiben‘, den Kafka in der Literatur und Roland Barthes für die Literaturkritik entwickeln werden), ist Prosa überhaupt; Prosa, die nicht mehr von ihrem Anderen – der Poesie – her zu verstehen ist, sondern Prosa, die entweder selbst den Rang von Dichtung einnimmt oder sich um Poesie nicht mehr kümmert.7 Für die gegensatzlose Prosa, die nicht mehr von der Differenz zwischen Poesie und Prosa gekennzeichnet ist, wird eine ganz andere Unterscheidung wichtig: die zwischen Prosa als Information und reiner Prosa. Im Folgenden wird es um diese neue Art der Differenz in Kleists Abendblättern gehen. Sie tritt besonders im Verhältnis zwischen den Nachrichtentexten und den Anekdoten zu Tage. Um sich das verständlich zu machen, muss man Kleists Schreiben zuerst in einem etwas genaueren Bezug zur gegensatzlosen Prosa seiner Zeit charakterisieren. Die verallgemeinerte, d.h. gegensatzlose, Prosa – so die These – entsteht dann, wenn eine andere, traditionale Zweiteilung aufgehoben wird, diesmal eine dem alten Verständnis von narratio eigene Zweiteilung. Gemeint sind die beiden Arten der narratio, das Erzählen von Ereignissen im engeren Sinne und das Beschreiben von Zuständen. Verallgemeinerte Prosa ist nicht mehr konzentriert sind. Dennoch bestehe zwischen beidem der Unterschied des ästhetischen vom nicht-ästhetischen Unterfangen (Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 1), S. 47f.). Die Zeitung lässt sich aber als Kleists letztes Werk verstehen, wenn man Prosa ohne Gegensatz vom herkömmlichen Verständnis von der Dichtung und ihren Gattungen abhebt. 7

Vorarbeiten zu einer aus der Literatur entwickelten Theorie der Prosa hat im Anschluss an Giorgio Agamben Ralf Simon vorgelegt: Ralf Simon: Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul, München 2013; vgl. Rüdiger Campe: „Das Problem der Prosa und die Form des Romans, Überlegungen zu Friedrich Schlegels Theorie und Praxis um 1800“, in: Die Farben der Prosa, hg. v. Eva Eßlinger, Heide Volkening und Cornelia Zumbusch, Freiburg i. Br. 2016, S. 45–63. Simon ist an einem Kanon poetischer Prosa interessiert, die vor den Gattungen und vor der Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa liegt. Dagegen sehe ich im Zusammenhang einer Geschichte des Literarischen in der Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa die Begründungsfigur der traditionalen Dichtung. Prosa ist damit als Überschreitung der Dichtung jenseits dieser Unterscheidung aufgefasst. Die Überlegungen ergänzen sich.

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entweder beschreibend oder erzählend, sondern eine konstitutive Überkreuzung der beiden Zweige der Narration, des Erzählens von Ereignissen und des Beschreibens von Zuständen.8 Wenn diese beiden Funktionen des Erzählens in einer einzigen aufgehen, kann sich die Prosa vom Schatten ihres Gegensatzes, der Poesie, lösen. Sie kann dann entweder selbst den Rang des Dichterischen einnehmen oder die Kategorie des Poetischen ganz auslöschen. Es bleibt dann das unterschiedslose Schreiben der Literatur übrig.

J OURNALISTISCHE K UNSTPROSA AM E NDE DES 18. J AHRHUNDERTS : M ERCIER UND R ÉTIF DE LA B RETONNE Woran lässt sich ein so weitreichender Vorgang festmachen, wie es der Wechsel auf dieser grundlegenden Stufe des literarischen Diskurses ist? Hier geht es nicht nur um veränderte Gattungsbestimmungen oder andere Verständnisweisen, sondern es geht um eine andere Stellung der Literatur im Gesamtzusammenhang von Künsten und Wissen; um eine andere Existenzweise der Literatur. Man kann im Gattungssystem der traditionalen Dichtung, die durch die Unterscheidung von Poesie und Prosa bestimmt war, zum Beispiel Formen der Intensivierung des Zusammenspiels von Beschreiben und Erzählen beobachten. Diese Formen laufen auf eine neue Art von Prosa zu. Fälle dieser Art entwickeln sich vor und während der Französischen Revolution zwischen Roman, Erzählung und journalistischen bzw. im alten Sinne statistischen Darstellungen. Die Beispiele, die hier herangezogen werden, sind Louis Sébastien Mercier und sein Tableau de Paris (1781-1788) und die eingelegten Kurzgeschichten in den Nuits de Paris von Nicolas-Edme Rétif de la Bretonne (1788-1794). Mercier, der von 1789 an für die Annales politiques, civiles, et littéraires arbeitete und mit dieser journalistischen Arbeit die Fortsetzung des statistisch-enzyklopädischen Tableau für die nachrevolutionäre Zeit vorbereitete, und der Romancier Rétif sind heute berühmt, waren in ihrer Zeit aber eher berüchtigt für ihre Darstellung von Paris vor und während der Revolution.9 Beide sind fruchtbare und ehrgeizige Autoren des Dix-huitième. Ihre Sache ist es, die Grenzen der alten Dichtung in größter Zuspitzung zu erforschen. Mercier nimmt geradewegs eine

8

Für die Überlegungen zu Mercier und Rétif siehe Martin N. Wagner: Narrate, Describe, or Observe. Scientific Observation and Narrations of the Visual from Alain-René Lesage to Arthur Conan Doyle, Dissertation Yale 2014.

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Robert Darnton: The Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France, New York 1996, S. 217–246.

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Verkehrung in der Wertung von Poesie und Prosa gegen die französische Klassik vor: Für ihn ist auch in der Tragödie nicht mehr die Poesie das Idiom der Dichtung, sondern die Prosa. Diese Kritik verbindet ihn mit Diderot, und sie bestimmt das Bürgerliche Trauerspiel. Man erkennt aber auch Motive einer regelrechten Umwertung, die auf Heinrich Heine und die politische Romantik zwischen Frankreich und Deutschland vorausdeuten. Heine wird seinen Abschied von der Poesie erklären und im Namen der Forderungen des Tages zur Prosa übergehen (auch wenn ihn das nicht daran hindert, weiter Gedichte zu schreiben).10 Rétif betreibt in den Nuits dagegen eine innere Kritik der erzählenden Prosa: Die Kürzestgeschichten aus dem zeitgenössischen Paris, um die es im Folgenden gehen wird, sind in ihrer unvermittelt zugreifenden Prosa wie Einschüsse in das galante und gelehrte Gewebe eines griechischen Philosophenromans namens Histoire d’Epiménide. Die Erzählung dieses Romans bietet den Anlass für dieses Werk von dreitausend Seiten, und sie sorgt für seinen Zusammenhang. Journalistisch ist diese Anlage der Nuits in einem indirekten Sinn: Sie zerlegt den epischen Text in das Kontinuum eines literarischen Romans einerseits und Rapports von der Straße, die den Wechsel von Tag zu Tag markieren, andererseits.  Im herkömmlichen Schema der Dichtung ist Prosa die Nullform der Literatur. Was übrigbleibt, wenn alle poetischen Funktionen eines Textes fortgefallen sind, ist die Prosa der aristotelischen historia: Rede ohne Schmuck oder Figuration. Über die merkmalslose Redeweise der historia lässt sich außer der Bestimmung durch den grammatischen Satz nur eine weitere Aussage machen: Die historische Rede kann erzählen oder beschreiben.11 Diese Unterteilung ist seit Aristoteles und in der antiken Poetik und Rhetorik wichtig, hat aber auch nur die Bedeutung einer inneren Zweiteilung der narratio und ihrer Aufgabe. Denn aristotelische historia meint nicht Geschichte im Sinne von Handlungen oder auch Dingen, die vor dem Hintergrund einer raumzeitlichen Welt stattfinden. Sondern es gibt nur entweder belebte oder nichtbelebte Entitäten, die immer in der Welt sind und ihre Vorkommensweise sozusagen immer mit sich führen. Erzählen und Beschreiben sind keine Verfahren des wissenschaftlichen Wissens – der episteme, der es um das Dauernde und Gesetzhafte geht –, sondern des Verzeichnens und Anordnens von Einzelnem. Erst seit Galileo und Descartes, kann man sagen, kommen die historia und ihre Zweiteilung unter eine andere Art der Beobachtung und Bewertung. Denn im 10 Siehe u.a. das Vorwort zur 3. Ausgabe des Buch der Lieder von 1839; Heinrich Heine: „Vorwort“, in: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. I/1, Hamburg 1975, S. 11–15. 11 Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976.

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Laufe des 17. Jahrhunderts mehren sich die philosophischen und wissenschaftlichen Gründe für eine grundlegende Revision. Es ist nun nicht mehr einfach so, dass wie bei Aristoteles historiae die diskursiven Verfahren der artes bilden, während die scientia, die eigentliche Wissenschaft, vom substanzhaft Dauernden und entelechisch Seienden in der logischen Form des Satzes spricht. Mit den neuen Operationen der überwachten und vergleichbaren Beobachtung entsteht ein Wissen, das Einzelnes betrifft und trotzdem Gesetzliches formuliert. Beispielhaft ist das Bemühen der Naturforscher um die Experimentalbeschreibung in der Mitte des 17. Jahrhunderts: Wie ist der Typus einer Welt beschaffen, in der bestimmte Ereignisabfolgen wiederholbar sind?12 Nach Galileo und mit Kant wird die Welt, in der sich Dinge ereignen und vorkommen, die Raum-und-Zeit-Welt der transzendentalen Ästhetik. Die Ereignisse in dieser Welt der Erscheinungen werden dagegen Gegenstand des Verstandesurteils und seiner Kategorien. Unter den Bedingungen solcher Diskussionen wird aber die Beschäftigung mit den beiden Funktionen der Prosarede – das heißt, mit Erzählen und Beschreiben – offenkundig eine Sache von dringendem epistemischem Interesse. Die Erforschung der Prosarede wird zur Untersuchung dessen, was Kant die Erfahrung nennt. Wie beschäftigten sich die literarischen Autoren mit der Beziehung zwischen Beschreiben und Erzählen in einer Zeit, in der diese Beziehung indirekt auch im Brennpunkt des epistemischen und sogar des philosophischen Interesses stand? Unter dieser Frage lohnt im vorliegenden Zusammenhang der Blick auf Mercier und Rétif. Die erste extreme Position in diesem Zusammenhang nimmt Mercier ein. Im Tableau de Paris arbeitet er unter der Überschrift Coup d’œil die Art eines ,tableau éloquent‘, eines ,sprechenden Bildes‘, heraus.13 Wer immer in Paris auf die Straße tritt und seine Augen offen hält, kann nicht anders, so beginnt Mercier sein Argument, als kraft seiner Einbildungs- und Reflexionskraft ein Bild der ganzen Stadt, ja der Welt zu empfangen – denn Paris enthält die Welt in sich. Erst nennt Mercier gegensätzliche Eindrücke, die aufeinanderfolgen und dadurch zu Bildern einer ganzen Welt zusammenschießen: die Taufe und das Begräbnis; der Priester, der eben noch zur letzten Ölung unterwegs war und jetzt eilt, den Hochzeitssegen zu 12 Siehe von Seiten der Wissenschaftsgeschichte: Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007; von der Seite der Literatur: „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen.“ Experiment und Literatur I. 1580–1790, hg. v. Michael Gamper, Martina Wernli und Jörg Zimmer, Göttingen 2009 (besonders die Beiträge von Wolfgang Krohn, Hans-Christian von Herrmann und Cornelia Wild). 13 Zum „coup d’œil“ im Tableau de Paris siehe Eva Kimminich: „Chaos und Struktur – Schritt und Blick in L.-S. Merciers Tableau de Paris“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18 (1994), S. 263–282, hier S. 276f.

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spenden. Dann gibt es einzelne Ereignisse, die auf dem Hintergrund von allgemeinen Bedingungen zu umfassender Bedeutung gelangen: der Ehebund, über den, wenn er geschlossen wird, das bürgerliche Gesetz wacht; die Vorsorge für das Leben der Neugeborenen, noch bevor sie zur Welt kommen. Schließlich arbeitet Mercier eine Szene aus, die den Beobachter selbst mit dem Gesehenen zusammenführt: Un carrosse vous arrête, sous peine d’être moulu sur le pavé; voici qu’un pauvre couvert de haillons tend la main à un équipage doré, où est enfoncé un homme épais qui, retranché derrière ses glaces, paraît aveugle et sourd; une apoplexie le menace, et dans dix jours il sera porté en terre, laissant deux ou trois millions à d’avides héritiers qui riront de son trépas, tandis qu’il refusait de légers secours á l’infortuné qui l’implorait d’une voix touchante.14

Mercier nennt das ein „sprechendes Bild“, offenbar weil zwei kleine Narrationen mit einem besonderen Effekt ineinanderfügt sind: Eine im engeren Sinn erzählende Narration wird in eine beschreibende integriert und durchdringt damit die Beschreibung von innen. Die Deskription, die so vom Erzählen erfasst wird, ist in diesem Fall wieder von der Art der Gegensatzbilder, diesmal mit moralischer Zuspitzung. Gemäß der großen Verkehrung der Dinge, die das Leben der Welt ist, erblickt man den Reichen, der eben noch über den Armen hinwegsah, im Grab, verlacht und vergessen von den feiernden Erben. Die andere Narration ist die Geschichte, wie es für den Beobachter zum Bild vom reichen Mann überhaupt gekommen ist. Es ist der Schock des unmittelbar bevorstehenden und gerade noch vermiedenen Zusammenstoßes. Es ist der Augenblick, in dem der Passant mit knapper Mühe vermeiden konnte, Opfer eines Unfalls zu werden. Mit diesem Schock und in diesem Augenblick brennt sich ihm das Bild der Szene ein. Mit dem hinzufantasierten Ende vom reichen Mann, der unter die Erde kommt, teilt sich der drohende Unfall des Beobachters dem Bild mit, das er sieht. Die Beschreibung des Gesehenen nimmt die Geschichte vom Sehen als ihre Motivation in sich auf. Auch wenn die meisten Bilder im Tableau de Paris statisch nach Art der Gegensatz- und Hintergrundgeschichten sind, gibt das tableau éloquent im Kapitel Coup d’œil doch das innere Maß für die in ihnen wirkende Beziehung zwischen Betrachter und Bild vor. Die andere Extremposition für das Verhältnis von Erzählen und Beschreiben ist von Rétif de la Bretonne in den Nuits de Paris ausgearbeitet. Hier sieht man im Gegensatz zum sprechenden Bild die Erzählung, in die 14 Louis-Sébastien Mercier: „Le tableau de Paris“, in: Paris le jour, Paris la nuit. Tableau de Paris, Le nouveau Paris de Louis Sébastien Mercier, hg. v. Michel Delon; Les nuits de Paris de Restif de la Bretonne, hg. v. Daniel Baruch, Paris 1990, S. 31.

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als Mittel- oder Wendepunkt eine Beschreibung eingefügt ist. Ein Beispiel dafür ist die folgende Passage: Je débouchais par la rue Culture-Sainte-Catherine, quand je frappai du pied quelque chose de mollasse. Je ma baisse, et je touche: cʼétait un homme! … Je veux le remuer: il était froid: je le traînai à quelque distance, sous la lanterne. Il était plein de sang. Je frissonne d’horreur. L’idée que je m’exposais ne me vint pas. Je ne puis voir du sang, que je ne mʼévanouisse, et je me sentis ferme. Je désirais qu’une patrouille passât: mais à trois heures, les patrouilles dorment. Dans ce moment, jʼentends rouler un carosse. Je cours au bruit: je l’atteins, et je prie le cocher de se détourner de quelques pas, pour secourir un malheureux. Le maître y consentit: les flambeaux des laquais nous éclairent: c’était un homme pris de vin, qui sʼétait blessé à la tête: il était mort-ivre: le maître de la voiture était un jeune seigneur de la Cour; le C.D.C.T. Sa jeune épouse était à côté de lui; tous deux descendirent: nous mîmes le moribond dans la voiture, les laquais et moi; on le conduisit à l’Hôtel-Dieu, tandis que le maître et sa délicate compagne suivaient à pied. Ce trait est beau! mais il n’est pas unique; la haute noblesse en France est pleine de sensibilité. Arrivé chez moi, j’écrivis ce trait généreux.15

Geschichten dieser Art wiederholen sich in den Nuits de Paris wieder und wieder: Der Ich-Erzähler verlässt das Haus um die-und-die Nachtstunde. Meistens wird ein Grund nicht genannt, manchmal ist der Erzähler auf dem Weg, der geheimnisvollen Marquise die nächste Fortsetzung der Histoire d’Epiménide zu überbringen. Die Geschichten, die auf der Straße spielen, sind im Gegensatz zum endlos weiterlaufenden Roman kurz und pointiert und wiederholen bei aller Vielfalt von Personen und Geschehnissen dasselbe Muster. Der Ich-Erzähler trifft auf dem Weg, den er durch die Stadt nimmt, unversehens auf irgendwen oder irgendetwas. Er stößt im buchstäblichen Sinn daran, wie im Fall der Geschichte vom Betrunkenen und dem hilfreichen Aristokratenpaar; ihm fällt ein überraschender Anblick in die Augen; er belauscht eine Unterhaltung, die Gefährliches in Aussicht stellt; oder er wird in eine Auseinandersetzung hineingezogen. Und das, worauf er durch Tasten, Sehen und Hören stößt oder in was seine Teilnahme ihn hineinzieht: diese Dinge, Personen oder Geschehnisse werden Gegenstand nachdrücklicher Beschreibung. Eine solche Beschreibung bildet das Zentrum der kurzen Geschichte auf der Straße. In der angeführten Erzählung ist es zunächst nur das Wort „molasse“, die elastisch nachgebende, aber konsistente Masse (um diese Zeit ein neu in die Geologie eingeführtes Wort für feinkörnigen Sandstein); dann kommt die Kälte des Körpers und, wenn er ins Licht der Laterne gezerrt worden ist, der An15 Nicolas-Edme Rétif de la Bretonne: „Les Nuits de Paris“, in: Paris le jour, Paris la nuit (wie Anm. 14), S. 643.

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blick einer blutbespritzten menschlichen Gestalt dazu. Ist der Gegenstand der Beschreibung in dieser blitzhaften Weise aufgetaucht und beleuchtet, dann nimmt die eigentliche Erzählung von da aus ihren weiteren Verlauf. Aus dem Passanten auf den nächtlichen Straßen von Paris wird der Retter und Freund, der sich der Verunglückten, in Not Geratenen, Bedrohten annimmt und Hilfe für sie herbeiholt. Am Ende der meistens erfolgreichen, manchmal vergeblichen Rettungsversuche kehrt der Ich-Erzähler nach Hause zurück oder setzt seinen Weg zur Marquise und die Geschichte seines philosophischen Romans fort. Merciers Beschreibungen sind Aufzeichnungen eines Statistikers im Sinne der frühen Moderne, als Statistik im Unterschied zur Geschichte eines Landes einfach bedeutete, dessen status praesens festzuhalten.16 Mercier weiß aber eben auch, dass das Bild, das er zeichnet, die Sache eines Augenblicks ist. Dieser Augenblick, das Präsens im festgehaltenen status praesens, ist die innere Voraussetzung des Tableaus, das der Statistiker entwirft. Dass Mercier das weiß und im Schock der kleinen Erzählung vom Sehen des Gesehenen festhält, ist es, was ihn vom landläufigen Statistiker abhebt. Dagegen schreibt Rétif wie der Agent einer Polizei, deren Bericht vom Geschehen auch immer evidence im englischen Wortsinn, den Aufweis des corpus delicti und des Beweisstücks, braucht. Man hält im Übrigen für wahrscheinlich, dass er tatsächlich auch von der Pariser Polizei für Spitzeldienste bezahlt wurde („espion de police, non pour le beurre, un luxe, mais pour les épinards, une nécessité“ 17). Jedem Rapport über das, was sich zugetragen hat, ist dieses materiale Ding, dieser Körper mit seiner Lage in der raumzeitlichen Welt eingeschrieben. Und wieder kann man anfügen: Dass Rétif das weiß und es in seinen kurzen Erzählungen zum deskriptiven Angelpunkt macht, unterscheidet seine Geschichten letztlich vom Bericht der Patrouille der Polizei im gerade zu Ende gehenden ancien régime. Die Experimente, denen Mercier und Rétif das Beschreiben und das Erzählen in ihrem Verhältnis zueinander unterwerfen, bedeuten die Zuspitzung des Unterschiedes zwischen diesen beiden Zweigen der Narration. Damit laufen sie auf eine neue, kunstvolle Verfugung zu. Entweder ergibt sich eine beschreibende Narration, die ausdrücklich oder unausdrücklich die Erzählung in sich enthält, wie es zum Sehen des Gesehenen gekommen ist. Das realisiert Mercier im tableau éloquent. Oder man liest eine Erzählung, deren innerer Wende- und Bezugspunkt die Beschreibung der raumzeitlich verankerten Sachlage ist, die für die Geschichte einsteht und um die es in ihr geht. So liest man es in den kurzen Geschichten in 16 Arno Seifert: „Staatenkunde. Eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort“, in: Statistik und Staatenbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.-18. Jahrhundert, hg. v. Mohammed Rassem und Justus Stagl, Paderborn 1980, S. 217–244. 17 Daniel Baruch: Nicolas Edme, Restif de la Bretonne, Paris 1996, S. 135f.

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den Nuits de Paris. Diese Geschichten können je nach Interessenlage des Lesers als Intermezzi eines großen gräzisierenden Romans wirken, den sie immer wieder unterbrechen; oder wir begegnen in ihnen den ersten Kurzgeschichten der europäischen Literatur, die von einem altmodischen Erzählrahmen zusammengehalten werden.18 Bei Mercier wie bei Rétif hat man es im Ergebnis mit einer Prosa der Stadt Paris und ihrer Bevölkerung zu tun, einer Prosa der Lebensverhältnisse in den Jahren vor der Revolution und der „chose de molasse“, auf die der Erzähler mit seinen Füßen stößt. Trotzdem bleibt es bei einander entgegengesetzten Arten, die beiden Funktionen der Prosa ineinander zu verschränken: Beschreibung, die ein Erzählen einschließt, und Erzählen, das sich um eine Beschreibung dreht, bleiben der alten Prosa verpflichtet, die durch ihren Gegensatz zur Poesie gekennzeichnet war. Es handelt sich um kunstvolle Zuspitzungen der literarischen Prosa, die aber immer noch dem Reich der Dichtung angehören: Das Erzählen gibt dem Beschreiben der Welt seinen eigentlichen Inhalt, auch wenn es sich ihm ganz einund unterordnet; oder das Beschreiben von Dingen und Personen in der Welt verleiht dem Erzählen Anhalt in Raum und Zeit, auch wenn es ganz zur Funktion des Erzählens wird. Beschreiben und Erzählen, deren Aufgaben deutlich unterschieden gewesen waren, haben sich zu kunstvollen Figuren verschränkt. Trotzdem bleiben sie in ihrer Gegensätzlichkeit erkennbar. So eng Erzählen und Beschreiben aneinanderrücken: die Unterscheidung selbst ist in ihnen nicht ausgelöscht. Inhaltlich gesagt: es handelt sich im Tableau de Paris und den Nuits de Paris um Kunstprosa über den Alltag von Bevölkerungen, wie es sie davor nicht gegeben hat und wohl auch danach nicht wieder geben wird. Eine verallgemeinerte Prosa, die die neue Sprache des Alltags wird, bedeutet aber eine andere Existenzweise von Literatur.

H EBELS

UND

K LEISTS A NEKDOTEN

UND DIE REINE

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Etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre nach Merciers und Rétifs journalistischer Kunstprosa über Paris vor bzw. während der Revolution kann man in Journalen und Periodika auf der anderen Seite des Rheins eine Art von Antwort in Form einer besonderen, neu aufkommenden Gattung lesen. Gemeint ist die große Zahl von Anekdoten, die von Schriftstellern, die wir der Literatur zurechnen, und von

18 Es gibt in den Nuits also zwei Ebenen der Schachtelung: So wie innerhalb der kleinen Geschichten die Beschreibung die Erzählung auslöst, so motivieren im größeren Maßstab die eingelegten Kurzgeschichten mit ihrem Nachdruck auf der Sache und dem Geschehen die Verwebung von Reflexion und Geschichte im Roman.

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journalistischen Autoren veröffentlicht werden.19 Nicht durchweg, aber auffallend häufig stammen die Anekdoten aus dem Zusammenhang der Revolutionskriege in Europa.20 Diese Anekdoten werden gedruckt und neu abgedruckt, bearbeitet und mit oder ohne Angabe der Quellen verbreitet. Die Behauptung ist im Übrigen nicht, dass die Verfasser der Anekdoten auf Tendenzen in der französischen Prosa reagieren wollten; nur dass sie mit den Anekdoten in eine Gattung mit literarischen Ansprüchen für die periodisch erscheinende Presse investierten, die mit Mercier oder Rétif vergleichbar ist in ihrer Stellung zur Frage der Prosa. Anekdoten entziehen sich von vornherein der herkömmlichen Grundunterscheidung der Literatur zwischen Poesie und Prosa: Entweder fällt die Anekdote in ihrer Bestimmung, nicht öffentlich bzw. nicht veröffentlicht zu sein, gar nicht in das Gebiet des eigentlich Literarischen, und ihr Auftauchen in der periodischen Presse unterläuft einfach jede Differenz zwischen dem Poetischen und Prosaischen. Oder literarische Autoren verwandeln sie sich auf eine Art und Weise an, die sich dieser Differenz entzieht, von der die Literatur in der Epoche der Dichtung herkommt. Noch vor Kleist, Fouquet, Arnim und anderen Autoren der Romantik ist an Johann Peter Hebel und die Kalendergeschichten zu denken. Bei ihm kann 19 Die Bezeichnung Anekdote für kurze Erzähltexte kam im Lauf des 18. Jahrhunderts auf; dazu Walter Ernst Schäfer: „Anekdotische Erzählformen und der Begriff der Anekdote im Zeitalter der Aufklärung“, in: ZDP 104 (1985), S. 185–204. Vom Anfang der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Anekdoten an – der in der zugleich formtheoretischen und völkisch-nationalen Germanistik der zwanziger und dreißiger Jahre liegt (Hans Franck, Robert Petsch) – hat die Konstellation Hebel/Kleist eine bedeutende Rolle gespielt. In einer Art Antwort auf Heideggers Rede zur Verleihung des Hebelpreises von 1960 hat Robert Minder dieser Tradition die folgende, richtigstellende Fassung gegeben: „Nichts zeigt besser die Spannweite der deutschen Dichtung um 1810 als ein Vergleich zwischen der apollinischen, auf Vermittlung und Friede bedachten Prosa Hebels und der dionysischen, von Kampf und Untergang gezeichneten Kleists.“ (Robert Minder: Hebel und Heimatkunst von Frankreich gesehen, Karlsruhe 1963, S. 17f.) Für eine von Blumenberg inspirierte Revision der Debatte um die Anekdote als einfache Form und die Bedeutung Hebels und Kleists für sie siehe Volker Weber: Anekdote: die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Tübingen 1993. 20 Noch in den Jahren der Revolution war Friedrich Nikolais um Friedrich II. zentrierte Anekdotensammlung vorausgegangen (1788−1792). Allerdings handelt es sich hier im Sinne der Göttinger pragmatischen Geschichtswissenschaft der Zeit um unterschiedlichste Memorabilien, die jenseits der politischen Geschichte Licht auf den Charakter der handelnden Person werfen. Anekdoten im modernen Sinn stehen neben Briefen, Erinnerungen, Aktenstücken usw.

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man leicht ausmachen, was in den Anekdoten die herkömmliche Frage nach Erzählen und Beschreiben gegenstandslos macht oder auch gezielt umgeht. In seinen Anekdoten geht es nämlich gar nicht um die Frage, was sich in welcher Art von Welt zuträgt. Denn der Erzähler behandelt seine Gegenstände – das ist jedenfalls eine vorläufige Kennzeichnung – didaktisch.21 In lehrhafter Narration stellt sich aber nicht die Frage, wo und unter welchen Umständen ein Geschehen stattfindet, sondern der Lehre geht es um das vorbildliche oder verfehlte Handeln in der jeweils vorausgesetzten Welt. Damit sind Handeln und Welt nicht so aufeinander bezogen, dass sie sich in Vorder- und Hintergrund aufspalten und dann wieder zusammengefügt werden müssen. Die für die Literatur als Dichtung begründende Unterscheidung zwischen der Welt, in der Dinge geschehen, und dem, was in ihr vorfällt, trifft die Verhältnisse der Didaxe nicht. Für Hebel, der Kalendergeschichten in dem langen Zeitraum zwischen 1803 und 1826 schrieb, ist diese Ausgangslage charakteristisch. Darum stehen Beispiele aus den Kalendergeschichten am Anfang der Überlegung. Weitergeführt wird sie dann im Vergleich mit Kleists Anekdoten aus der kurzen Zeitspanne der Berliner Abendblätter 1810 bis 1811. Für den Weg von Hebel zum Kleist der Abendblätter und der Anekdoten sollen hier außerdem zwei Theorien des Erzählens und der Prosa helfen zu klären, worum es dabei geht. Auf den ersten Blick liegen diese Theorien weit auseinander, auf den zweiten haben sie aber viel miteinander zu tun. Die eine findet sich in Martin Heideggers Vortrag Hebel – der Hausfreund. Dort spricht Heidegger von einer Grundstufe der dichterischen Sprache, die man jedenfalls auch als reine Prosa verstehen kann22 und die er auf die Lehrhaftigkeit der Geschichten des Hausfreunds und den Kalender als Rückzugsort gegenüber

21 Vgl. Robert Minder: Hebel und Heimatkunst von Frankreich gesehen (wie Anm. 19). 22 Hebel, sagt Heidegger, prägt die Welt, die wir kennen, „durch das dichterische Sagen“ um „in den Überfluß des Geheimnisvollen“, und das Umprägen „geschieht durch gesteigerte Sprache“. „Aber die Steigerung geht ins Einfache.“ (Martin Heidegger: Hebel – der Hausfreund, Pfullingen 1957, S. 16) Man kann das als Analyse der gegensatzlosen Prosa – Prosa nach dem Ende ihrer Entgegensetzung zur Poesie – verstehen. Kurz vor der angeführten Stelle hatte Heidegger gesagt: für den, der Dichten mit „der Hervorbringung von Gedichten“ gleichsetze, höre Hebel in dem Moment auf, Dichter zu sein, als er die Herausgabe des Rheinländischen Kalenders annahm. In Wahrheit sei es „der Beginn seines weltweiten Dichtertums“ (Ebd., S. 14). Heidegger will also in Hebels Prosa das Auftreten der ursprünglichen Dichtung der Welt erkennen. Der Vorschlag hier lautet, in den Kalendergeschichten eine stilistisch konservative Tendenz auf die Moderne hin zu erkennen.

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dem Zeitungswesen bezieht.23 Für Heidegger ist die Prosa des Hausfreunds das Gegenteil zum Journalismus und zur Moderne der informationellen Prosa.24  In seinem Aufsatz Der Erzähler, der dem russischen Schriftsteller Nikolai Lesskow gilt, setzt Walter Benjamin dem modernen Roman einen Typus des Erzählens entgegen, den er zwar nicht als didaktisch beschreibt, aber mit ähnlichen Vorstellungen als ein Ratgeben vorstellt. Auch dieses Erzählen kann man in einigen seiner Züge als eine Erscheinungsform der reinen Prosa auffassen.25 Denn auch der Ratgebende trennt Handeln und Welt nicht. Er erzählt von allem Handeln nur, insofern es für die in Rede stehende Welt bedeutsam ist – beispielhaft oder verfehlt, der Nachahmung wert oder zur Warnung vorgestellt. Wie Heidegger Hebels Weltprosa, so setzt Benjamin das ratgebende Erzählen der journalistischen und der romanhaften Information entgegen;26 allerdings anders als Heidegger in einem geschichtlichen und einem politischen Sinn. Von Hebel und Gotthelf ist öfter die Rede, der Name Kleist fällt nicht. Aber bei Kleists 23 Heidegger entwickelt sein Verständnis der lehrhaften Geschichte durch eine Entwicklung des Titelworts vom „Hausfreund“. Für das Verständnis von „Hausfreund“ ist aufklärerische Didaktik, Heidegger zufolge, nur eine erste Näherung. Diesem vorläufigen Verständnis nach macht die Kalendergeschichte die Welt dem Bewohner des Hauses, das die Welt ist, verständlich. Es geht aber darum, durch die Geschichte die Welt durch und für sich selbst verständlich zu machen (Ebd., S. 14–16). 24 „Heute hat die ‚Illustrierte Zeitung‘ den alten Kalender abgelöst und vernichtet.“ (Ebd., S. 13) Allerdings hat der Journalismus die Herrschaft ökonomisch und mediengeschichtlich nicht erst „heute“, sondern schon zur Zeit Hebels angetreten. Darum wird hier die reine Prosa der Kalendergeschichten auch eher als Reaktion auf die Moderne verstanden und weniger als ungebrochenes Weiterleben des alten Kalenders. 25 Das lässt sich beispielsweise dann vermuten, wenn Benjamin im Erzählen eine „keusche Gedrungenheit“ erkennt, die die Geschichten des Erzählers „der psychologischen Analyse entzieht“. (Walter Benjamin: „Der Erzähler“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M., S. 438–465, hier S. 446) Auch hier gilt aber wieder, dass von einer vormodernen, in Benjamins Fall sogar mündlich gedachten Form die Rede ist und nicht, wie es hier verstanden wird, von einer Reaktionsform in der Moderne selbst. (Auch Benjamins Beispiele führen übrigens fast ausnahmslos Autoren der Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Beispiele des Erzählens an.) 26 Zu „den wichtigsten Instrumenten des Hochkapitalismus“, schreibt Benjamin, gehöre „die Presse“. Durch die Presse gelange aber die Mitteilungsweise der Information zur Herrschaft und löse die epische Form des Erzählens ab. Information als Mitteilungsform präge dann wieder die vorherrschende moderne Erscheinung des Epischen, den Roman (Ebd., S. 444).

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Anekdoten liegt es besonders nah, an Benjamins Überlegungen zu denken. Denn so wie Benjamin sich durchaus für beide Seiten, die ratgebende Erzählung und die journalistische Information, interessiert, so ist Kleist, der Autor der Anekdote, zuerst auch Herausgeber und Redakteur der Zeitung. Wie so oft sind Heidegger und Benjamin sich im Befund nah, in den Rahmenüberlegungen und in den Folgerungen aber liegen sie weit auseinander. In der Charakteristik der Grundstellung einer welthaltig lehrhaften bzw. ratgebenden Prosa sind sie sich so verwandt wie in der Entgegensetzung von beidem zur Information und zur Zeitung.27 Aber was für Heidegger ein klarer, seinsgeschichtlicher Gegensatz in der Verfasstheit des Weltverständnisses wird, war bei Benjamin eine einigermaßen komplexe und nicht ganz eindeutige Verstrebung von Arten des Literarischen mit mediengeschichtlichen und politisch-sozialen Wirkungsbedingungen.  Es gibt eine Anekdote, die Hebel und Kleist gemeinsam ist. Hebel und Kleist fanden sie unabhängig voneinander in der Ausgabe des Korrespondenten von und für Deutschland vom 3.10.1808, einer von zwei Zeitungen, die im deutschen Sprachraum täglich erschienen, als Kleist ein solches Format mit den Abendblättern zum ersten Mal nach Berlin brachte.28 Bei Hebel heißt im Rheinländischen Hausfreund 1809 die Überschrift Schlechter Lohn. Kleist folgt in den Berliner Abendblättern 1810 mit Franzosen-Billigkeit. Die Geschichte hat ihren Ursprung in Napoleons Preußenfeldzug und der Besetzung Berlins im Jahr 1806. Ein Bürger der besetzten Stadt führt den französischen Kommandanten (im Korrespondenten sind weder der Name der Stadt noch des Kommandanten genannt) zu einem Hofplatz, wo Bauholz, das königliches Eigentum ist, verwahrt liegt. Der Kommandant macht aber keinen Gebrauch von der Gelegenheit, die ihm angeboten wird. Stattdessen sagt er – alle Fassungen lassen ihn am Ende in direkter Rede zu Wort kommen –, Holz dieser Art werde nach dem Krieg gebraucht, um Verräter daran zu erhängen. Hebels Anekdote beginnt das so zu erzählen: „Als im letzten Krieg der Franzos nach Berlin kam, in die Residenzstadt des Königs von Preußen, da wurde unter anderm viel königliches Eigentum weggenommen, und fortgeführt oder verkauft. 27 Mit der Frontstellung gegen die Zeitung, den Journalismus und – ein neueres Wort in diesem Zusammenhang – die Information ist eine Orientierung in der Theorie der reinen Prosa im zwanzigsten Jahrhundert bezeichnet, die nicht nur Heidegger und Benjamin teilen, sondern beide wieder mit Karl Kraus oder Paul Valéry gemeinsam haben. 28 Die eine Zeitung war Cottas Allgemeine Zeitung, die seit 1798 zuerst in Tübingen, dann in Stuttgart erschien. Der Korrespondent wurde 1804 unter dem Namen Der fränkische Kreiscorrespondent von und für Deutschland gegründet, war seit 1807 mit einem Feuilleton ausgestattet; siehe Helmut Sembnder: „Eine wiederentdeckte Kleist-Anekdote“, in: Euphorion 45 (1950), S. 478–484.

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Denn der Krieg bringt nichts, er holt.“29 Sie endet: Das Verhalten des französischen Kommandanten müsse „der Rheinländische Hausfreund loben und wollte gern aus seinem eigenen Wald ein paar Stämmlein auch hergeben, wenns fehlen sollte“30. Berlin liegt in Hebels Geschichte für den Rheinischen Kalender so nah oder so weit und zählt so viel oder wenig wie der eigene Wald. Etwas anders gewendet: die große Welt, in der die Franzosen Krieg gegen Preußen führen und in der Berlin, die Residenz des Königs von Preußen, liegt, ist dieselbe wie die kleine Welt, der eigene Wald des Rheinischen Hausfreunds. Damit wird gegenüber der namenlosen Stadt im Krieg der Franzosen gegen die Preußen aus dem Korrespondenten von und für Deutschland hervorgehoben, dass die Welt, in der sich diese Dinge abspielen, zwar eine besondere, aber zuletzt doch immer eine einzige Welt ist. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen Schreiber und Leser, Berliner Bürger und französischem Kommandanten. Alle leben in derselben Welt, weil sie in der Welt leben. Die Unterscheidung zwischen der Handlung in der Welt und der Welt, in der sie stattfindet, zwischen Erkenntnis und Anschauung, hat, anders gesagt, keine Bedeutung und keinen Anhalt in der Anekdote. Der Befund geht mit Heideggers Auffassung zusammen, auch wenn die theoretischen Rahmungen unterschiedlich sind: In den Geschichten des Hausfreunds, sagt Heidegger, spricht die Sprache als das Medium selbst, in dem sich die Welt in ihrer Bedeutsamkeit erschließt, bevor die Kunst der Literatur so etwas wie die Differenz zwischen Erzählen und Beschreiben aufstellen kann. Hebel sichert diesen, je nach Sichtweise, vorliterarischen oder nachliterarischen Charakter der Anekdote durch die Einstellung des Erzählers auf Didaxe. Gnomisch heißt es im zweiten Satz zu Anfang der Anekdote: „Denn der Krieg bringt nichts, er holt.“ In der Einleitung zum letzten Satz heißt es: „Das muß der Rheinländische Hausfreund loben [...].“31 Das Anliegen der Anekdote, eine Lehre zu erteilen, bedeutet aber nicht, dass eine Stellung bezogen wird. Man darf Lehrhaftigkeit sicher nicht im Sinne einer politischen oder nationalen Erziehung verstehen. Für die Anekdote des Korrespondenten, die von „einem französischen Kommandanten in den preußischen Staaten“32 gesprochen hatte, kann man das dagegen annehmen. In der zugleich engen und weiten Anekdotenwelt, in der Preußen und 29 Johann Peter Hebel: „Schlechter Lohn“, in: Ders.: Werke, hg. v. Eberhard Meckel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1968, S. 100f., hier S. 100. Die Anekdote ist in der Werkausgabe nach der leicht überarbeiteten Fassung des Schatzkästlein von 1811 abgedruckt. 30 Ebd., S. 101. 31 Ebd. 32 Zitiert nach dem Kommentar in DKV III, S. 929.

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der Wald des Hausfreunds nebeneinander liegen, ist die Zeit, in der „der Franzos nach Berlin kam“33, nur Episode und Beispiel. Hebels Anekdotenwelt ist nicht franzosenfreundlich oder preußischpatriotisch. Sie ist rheinisch und der Welt überhaupt verpflichtet. Es geht um die Welt als Horizont, der umgibt, ohne eine Grenze im Sinn eines Territoriums zu haben. Wie man an diesen weiteren Versuchen Hebels, die Anekdote weiter auszuformulieren, sieht, ist der didaktische Gestus des Erzählers nicht einfach ein traditionaler Zug der Kalendergeschichte. Es handelt sich aber auch nicht im Gegenteil um einen gezwungenen Archaismus Hebels. Die didaktische Einstellung des Erzählens (mehr noch als des Erzählers) ist bei Hebel ein Grundelement der Anekdote. Es ist die Art dieser Prosa, Geschichte der Welt zu sein, anstatt von Geschehnissen so zu erzählen, dass sie den Hintergrund einer beschriebenen Welt verlangen. Darum ist Lehrhaftigkeit dem Verständnis dieser Prosa auch nur bedingt angemessen. Denn an die Einübung einer bestimmten Weltsicht zu denken, führt von Hebel weg. Heidegger hat dieses Missverständnis ausgeschlossen, als er statt von einem didaktischen Erzähler vom Freund des Hauses sprach, das die Welt ist. Das passt gut, wenn man daran denkt, wie oft Hebels Geschichten die Nähe zu den alltäglichen Dingen der Welt suchen und finden. In der gedanklichen Größenordnung erscheint Heideggers Interpretation aber zu schroff. Sie katapultiert Hebels Sinn für die relativen Lebenssphären – hier der rheinische Hausfreund und sein Wald, dort das ferne Berlin und die historischen Ereignisse – in ein apersonales Geschehen zwischen der Sprache und der Welt. Deshalb ist Hebel vielleicht besser gedient, wenn man in dieser Hinsicht stattdessen an Benjamins Ratgeben erinnert. Ratgeben umgeht die zu eng bestimmte Kategorie der Didaxe sozusagen in umgekehrter Richtung zu Heideggers Weltdichtung. Es greift nicht ins Ontologische aus, sondern in eine Vielfalt abgetönter und flexibler Verhältnisse zurück. Auch wenn Benjamin in seinem politisch-sozialen Interesse am Gegenpol der Presse und der Information zu Kleist hinführt, passt seine Theoriesprache in dieser Beziehung eher für Hebel. Für Kleist, der – wie Benjamins Theorie des Erzählers es im Allgemeinen nahegelegt – seine Prosa auch in der Anekdote in nächster Nähe zum politischen und historischen Kontext praktiziert, passt dagegen der gewaltsame Zug in Heideggers Hebel-Deutung. Kleists Prosa ist weder im Fall der Franzosen-Billigkeit didaktisch noch in irgendeiner anderen Anekdote der Abendblätter.34 Bei ihm ist die angestammte Lehrhaftigkeit der Anekdote nicht wie bei Hebel durch Aufmerksamkeit auf die vielgestaltigen Verhältnisse der Einzelnen zu ihrer Welt 33 Hebel: „Schlechter Lohn“ (wie Anm. 29), S. 100. 34 Anna Maria Carpi: „Kleists Anekdoten: Fabeln ohne Moral“, in: Akten des 6. Internationalen Germanistenkongresses, Bern, Frankfurt a. M. 1980/1981, Bd. 4, S. 399–404.

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geschmeidiger gemacht: Kleists Anekdoten vergessen die Lehre. Sie geben dem Leser ein Weltverhältnis zu sehen, aus dem das Individuum herausgekürzt ist. Seine Anekdote Franzosen-Billigkeit beginnt Kleist mit einer Namensnennung, die man bei Hebel nicht findet. Danach verfährt er aber sogar anonymisierender als der Redakteur des Korrespondenten: „Zu dem französischen General Hulin kam, während des Kriegs, ein .... Bürger, und gab, Behufs einer kriegsrechtlichen Beschlagnehmung, zu des Feindes Besten, eine Anzahl, im Pontonhof liegender, Stämme, an.“35 Das hat die Kargheit und Schärfe eines Experimentalberichts. Von Berlin ist keine Rede, von Preußen hört man erst in der Schlussreplik des Generals, der Krieg ist nicht genauer bezeichnet. Man liest dagegen den Namen des Generals, um dessen außerordentliche Reaktion es geht; dieser Namensnennung steht aber die ausdrückliche Löschung des Namens des Bürgers gegenüber. Das sind klare Markierungen in einer Geschichte, von der der Untertitel mit horazischem Anflug auf den Ruhm der Dichtung sagt: „wert in Erz gegraben zu werden.“ Während also Ort, Zeit und Umstände auf den ersten Blick völlig zurücktreten, tritt das Paar aus General, dessen Namen es zu nennen gilt, und Bürger, der das Vergessen verdient, in helles Licht. Statt Hebels rheinischer Unparteilichkeit ist hier gewissermaßen höchste Parteilichkeit am Werk. Nun weiß natürlich jeder Leser der Berliner Abendblätter, die den in der Anekdote nicht genannten Stadtnamen im Titel führen, dass es sich mit der nationalen Parteilichkeit genau anders herum verhält: Es geht gegen die Franzosen, die der General kommandiert, und für die Preußen, die hier der infame Bürger vertritt. Man könnte also denken, der Anekdote gehe es jenseits der nationalen Parteilichkeit um die ethischen Werte des Noblen und des Gemeinen. Aber dagegen spricht die auffallende Auslassung eines weiteren Namens in diesem Text, diesmal in dem Einschub: „[...], während des Kriegs, [...].“ Dass dieser Krieg der von Napoleon gegen Preußen ist, bleibt ungesagt (wenn auch im Namen Hulin für Leser der Zeit bezeugt). Umso mehr tritt hervor, dass man sich im Krieg befindet. Das ist nun die Kleistʼsche Anekdote: Die Welt, in der wir Leser der Abendblätter uns alle befinden, ist die des Krieges – nicht einfach und nur dieses Krieges, sondern des Krieges selbst. Die Welt, in der wir leben, ist der Krieg. Parteilichkeit ist der grundlegende Zug dieser Welt; so grundlegend, dass die nationalen Namen dabei keine begründende Rolle spielen. „[...], während des Kriegs, [...]“ ist eine Art verallgemeinerte Konkretion bzw. faktische Allgemeinheit: In der Welt sein, bedeutet hier und jetzt im Krieg sein. Diese Zeit- und Umstandsbestimmung ist, so könnte man es noch einmal etwas anders erläutern, zunächst entweder ganz empirisch zu verstehen − alle Leser 35 Heinrich von Kleist: „Franzosen-Billigkeit“, in: DKV III, S. 354.

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des Satzes sind Berliner Leser des Jahres 1810 und leben auch nach dem Friedensschluss im preußischen Reststaat nach der Niederlage von 1806 immer noch ‚während des Kriegs‘ −, oder es ist, wenn wir an den literarischen Autor Kleist und eine verallgemeinerte Leserschaft denken, so, dass Kleist in einer Art Carl Schmittscher Theorie des Politischen den Feind zum Existenzial der Anekdotenwelt macht. Aber die Anekdote in der Zeitung legt eine dritte Lesart noch näher als die beiden ersten: Immer und im Allgemeinen leben wir, Schreiber, Leser, General Hulin und infamer Bürger, in der einen Welt, in der wir in unserer Zeit leben – und diese Zeit ist, wie so oft bei Kleist, durch die Zeit und die Bedingung ‚während des Kriegs‘ bestimmt. Wenn man überhaupt von Kleists Meinungen sprechen mag, kann man ihn vom Revanchismus gegen das Frankreich Napoleons nicht lossprechen. Dass er die Rollen von Freund und Feind in der Anekdote umbesetzt findet, macht seine scheinbar unparteiische Rede von der ‚Franzosen Billigkeit‘ nur tückischer. Aber daraus wird bei Kleist keine Lehre für das Leben in der Welt. Was wir lesen, ist kein Rat mehr für oder gegen irgendetwas. Es ist statt einer Lehre über oder für die Welt eine Prosa, die sagt, dass wir in einer Welt des Kriegs leben. Man kann das am Schluss der Anekdote noch einmal gut sehen: Die Schlusspointe ist, vorgegeben durch den Korrespondenten von und für Deutschland, in allen Fassungen der in wörtlicher Rede gegebene Satz des französischen Kommandanten. In der Korrespondenten-Fassung: „Lassen Sie Ihrem guten König dieses Holz, damit er einst Galgen bauen könne, um solche niederträchtigen Verräther, wie Sie sind, daran aufzuhängen.“36 Dieser Witz, im Sinne der alten Theorie vom Bemerken unerwarteter Verbindungen, ist die Pointe und auch der Ansatz zum Gnomischen der Geschichte. Wie schon angeführt, ergreift bei Hebel an dieser Stelle der Erzähler das Wort, um sich in das besondere Allgemeine des eigenen Waldes zurückzuziehen: „Das muß der Rheinländische Hausfreund loben, und wollte gern aus seinem eigenen Wald ein paar Stämmlein auch hergeben, wenn’s fehlen sollte.“37 Kleist unterlässt nicht nur eine solche Verdeutlichung der gnomischen Möglichkeiten, die in den Worten des Generals liegen. Er holt diese Worte im Gegenteil in das allgemein Besondere des Augenblicks zurück, in dem sie gesprochen werden. Bei ihm antwortet der Satz nämlich auf das nun auch wörtlich angeführte Angebot des ungenannten Bürgers. Warum man die Stämme nicht nehmen solle, hatte der gefragt, da sie doch Eigentum des geflohenen Königs seien. „Eben darum, sprach der General, indem er ihn flüchtig ansah. Der König von Preußen

36 Zitiert nach dem Kommentar der Klassiker-Ausgabe: DKV III, S. 920. 37 Hebel: „Schlechter Lohn“ (wie Anm. 29), S. 101.

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braucht dergleichen Stämme, um solche Schurken daran hängen zu lassen, wie er.“38 ‚Indem er ihn flüchtig ansah‘ ist Gegenstück zu ‚während des Kriegs‘. Sicher ist die temporale oder konditionale Bestimmung des flüchtigen Blicks nicht grundlegend für das, was hier geschieht; sie betrifft nur einen weiteren Umstand, dessen Bedeutung nicht ohne Weiteres anzugeben ist. Die Flüchtigkeit des Blicks weitet die Anekdote für diesen Moment darum in eine Art von Erzählung aus, wie ja in der Tat solche Züge in Kleists Erzählungen des Öfteren vorkommen.39 Aber weil eine solche Situierung in einer Erzählwelt nur dieses eine Mal und dann im letzten Augenblick in der Anekdote vorkommt, wird ihre Eigenschaft, eine weitere Umstandsbestimmung ohne zwingende Bedeutung für das Geschehen zu sein, auch besonders herausgestellt. Man kann meinen, dass die Geste des flüchtigen Blicks die Verachtung des Generals ausdrückt, indem sie dem Bürger ohne Namen gilt. Sie gilt aber zumindest auch dem Sentenziösen der eigenen Worte. Was immer an Lehre oder Rat aus der Situation herauszupressen ist, ist an die Flüchtigkeit des Augenblicks gebunden, in dem es gilt. Die Welt der Anekdote, in der Schreiber, Leser und Figuren zusammen vorkommen, ist eine des Krieges, aber noch genauer eine des flüchtigen Augenblicks, in dem jeweils die Welt so ist, wie sie ist. Ihre Seinsweise ist im Allgemeinen der Augenblick der Lage.

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Kleist kommt in Franzosen-Billigkeit zu seiner Prosa der Lage aber auch gar nicht durch die sorgsame Reduktionsbewegung, mit der Hebel aus der Anekdote des Korrespondenten von und für Deutschland die Lehre vom Schlechten Lohn er-

38 Kleist: „Franzosen-Billigkeit“ (wie Anm. 35), S. 354. 39 Das Verhältnis von Kleists Anekdoten zu den Erzählungen braucht eine eigene Bestimmung. Hier kann nur eine These dazu stehen: Die Erzählungen bilden eine Art von mittlerem Grund zwischen Kleists genrebezogener Dichtung in den Tragödien und Komödien und der gegensatzlosen Prosa von Zeitung (informationelle Prosa) und Anekdote (reine Prosa). Für den Unterschied zwischen Erzählungen und Anekdoten kann die rhetorische Figur des historischen Präsens gelten. Diese poetische Figur der Aktualität und der Aktualisierung spielt in fast allen Erzählungen (und Dramen) Kleists eine hervorragende Rolle, und sie fehlt in fast allen Texten, die wir als Anekdoten bezeichnen. Den Anekdoten liegt der Bezug zur Aktualität und zum Neuesten nämlich nicht mehr poetisch, sondern ganz anders zugrunde – durch ihre Beziehung zur Nachricht und zur Zeitung.

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arbeitet hatte. Kleist formuliert die Anekdote stattdessen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Information und als deren andere Seite. Dieser Umstand macht ihn eher zum Zeitgenossen eines Mercier und Rétif als des Hausfreunds Johann Peter Hebel. In den Berliner Abendblättern stehen die Anekdoten mit den Tagesnachrichten wortwörtlich Seite an Seite. Sie sind besonders mit den Rubriken Tagesbegebenheiten und Polizeiliche Tages-Mitteilungen verbunden.40 Andere zusammenfassende Überschriften heißen Stadt-Neuigkeiten, Theater-Neuigkeit, Neueste Nachricht und Politische Neuigkeit.41 Der Nachdruck auf der Neuigkeit hat seinen Grund: Anders als Berliner Zeitungen bis dahin, die im heutigen Verständnis darum auch eher Zeitschriften oder Periodika waren, erschienen die Abendblätter täglich. So steht unter der Rubrik Polizei-Ereignis am 8.10.1810 eine Meldung, die fünf Tage später als Anekdote umgeformt unter dem Titel Charité-Vorfall wieder auftaucht. Die Meldung („Polizei-Ereignis“) erhebt den Anspruch, fast gleichzeitig mit dem Geschehen und der laufenden Bearbeitung des Falls über beides schon zu berichten: Erst „gestern“ wurde ein Arbeiter „in der Königstraße vom Kutscher des Professor Grapengießer übergefahren“; und der „Name“ dieses Arbeiters ist „noch nicht angezeigt“42. Am 13.10.1810 nimmt die Anekdote CharitéVorfall das, was vorher am Abend nach dem Geschehen und gleichzeitig mit der polizeilichen Bearbeitung gemeldet worden war, als Vorfall in gemäßigter zeitlicher Nähe auf: „Der von einem Kutscher kürzlich übergefahrne Mann, Namens Beyer“, um dann die anekdotische Entwicklung einzuleiten: „hat bereits dreimal in seinem Leben ein ähnliches Schicksal gehabt“. Diese Entwicklung verdankt sich allerdings Erkenntnissen aus einer weiteren Untersuchung, jetzt nicht mehr der Polizei, sondern der Klinik: „dergestalt, daß bei der Untersuchung, die der Geheimerat Hr K., in der Charité mit ihm vornahm, die lächerlichsten Mißverständnisse vorfielen.“43 Die Missverständnisse sind der Inhalt der schließlich ausgearbeiteten Anekdote. Sie handelt von drei Unfällen, bei denen der Arbeiter Beyer unter die Räder von Wagen kam, die alle Doktoren gehörten. Das Ende setzt in ungewohnt spielerischer Art die Rückkehr in die Meldung und den märchenhaften Ausklang der Anekdote nebeneinander: „Der Berichterstatter hat den Mann selbst über diesen Vorfall vernommen“ heißt es zuerst und dann: „[...] und falls er

40 DKV III, S. 620–662; vgl. BA, für „Tagesbegebenheiten“ siehe z. B. S. 4, 10, 17 usw.; für „Polizeiliche Tages-Mittheilung“ S. 26. 41 DKV III, S. 574, 578, 599, 604. 42 BA, Bl. 7; zitiert nach dem Kommentar in DKV III, S. 925. 43 Heinrich von Kleist: „Charité-Vorfall“, in: DKV III, S. 359.

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sich vor den Doktoren, wenn er auf die Straße geht, in Acht nimmt, kann er noch lange leben“.44 Es gibt einen Fall, in dem Information und Anekdote zusammenfallen. Am 2.10.1810 erscheint unter der Rubrik Tagesbegebenheit mit zwei weiteren Einträgen der Bericht über den Arbeiter Brietz (eigentlich Pritz), den der Blitz erschlug. Die zwei wichtigsten Berliner Periodika melden den Vorfall am selben Tag. Es sind die Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (nach Vorläufern im frühen 17. Jahrhundert 1721 unter diesem Namen zugelassen, seit 1751 bekannt als Vossische Zeitung) und die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (unter diesem Namen auf Betreiben Friedrichs II. als Konkurrenz 1740 gegründet, bekannt als Spenersche Zeitung). Diese beiden älteren Blätter sind nicht eigentlich Zeitungen, wie man es erst von den Abendblättern sagen kann: Sie bringen aktuelle Nachrichten, haben aber anders als Kleists Zeitung den Auftrag, Verlautbarungen der Regierung zu drucken, und erscheinen nur dreimal in der Woche.45 Dass die Geschichte vom Arbeiter Brietz in den Abendblättern unter der Rubrik Tagesbegebenheit steht und gleichzeitig in den konkurrierenden Blättern ähnlich lautende Meldungen erscheinen, weist den Text in jedem Sinn des Worts als informationelle Prosa aus.46 Verglichen mit den Berichten in den beiden älteren, periodisch erscheinenden Zeitungen bietet Kleist jedoch wieder eine Erweiterung zur anekdotischen Geschichte. Eine zweite Person kommt neben dem Arbeiter als Beteiligter und als Zeuge hinzu. Ähnlich wie beim Charité-Vorfall sorgt der hinzugewonnene Informant auch für die Geschichte, die aus der Meldung die Anekdote macht. In diesem Fall sind die Dinge aber aufs Engste zusammengezogen: kein doppeltes Erscheinen erst als Meldung, dann als Anekdote; kein Hinweis darauf, dass der „Berichterstatter“ die Erweiterung zur anekdotischen Geschichte durch weitere Recherche eingeholt hat;47 und darum natürlich auch kein Doppelschluss als Meldung und als Märchen. Man findet aber Spuren der Umarbeitung aus der im Text der Anekdote sozusagen vorausgesetzten Information. Im ersten Satz ist nämlich in auffallender Weise angenommen, dass der Tod des Arbeiters schon gemeldet worden ist: „Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauentzien, sagte der, auf der

44 Ebd. 45 Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 1959, S. 27−49; Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000. 46 DKV III, S. 919 (Kommentar). 47 Die Kleist-Forschung vermutet, dass Kleist die Geschichte des zweiten Beteiligten, des Capitain (von) Bürger, von diesem selbst erfahren hat; vgl ebd.

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neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: [...]“.48 Weil der Arbeiter Brietz vom Baum erst noch erschlagen werden wird, kann sich das Partizip der Vergangenheit nur auf ein vorausgehendes Wissen beziehen. Es ist das Wissen von der Unglücksnachricht, die man schon gelesen haben muss. Der zweite Satz bzw. Teilsatz (es handelt sich um die indirekte Rede des Capitain v. Bürger) zeichnet sich durch eine Auslassung aus. Diese Ellipse ermöglicht zwei Lesarten, die Lesart der vorausgegangenen Nachricht oder die der radikal anekdotischen Prosa der Welt: „der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen Andern stellen“49. Gegen welche Art von Gefahr Schutz zu suchen und für zwei unter einem Baum nicht zu finden ist, ist in der Idee des Unterstellens unter einen Baum zwar impliziert, aber nicht beim Namen genannt. Ob Sturm oder Blitz oder Angriffe anderer Art, ist völlig offen. Entweder man muss das schon wissen – etwa, weil man Leser der Vossischen oder Spenerschen Zeitung ist. Oder man lebt mit dem erzählenden Berichterstatter, Capitain v. Bürger und Arbeiter Brietz zusammen in einer Welt, die grundlegend der Gefahr ausgesetzt ist – in einer Welt, in der es immer und im Allgemeinen gilt, sich unter einen Baum zu stellen. Herr von Bürger, Stabskapitän im Tauentzienschen Regiment, das in der Schlacht von Jena und Auerstedt die Vorhut bildete, ist der leidgeprüfte Fachmann für Gefahr, gegen die man Unterstand sucht; und in dem Umstand, dass er diesen Satz sagt, ist die politische und, wenn man so sagen darf, anekdotisch-existenziale Welthaftigkeit enthalten. Der dritte Satz enthält Witz und Pointe der Geschichte. Und mit ihm stellt die Anekdote die Meldung, die sie am Anfang stillschweigend vorausgesetzt hatte, erst ans Licht: „Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf der etc. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getötet ward.“50 Mit der Formulierung ‚worauf (der Arbeiter Brietz getötet wird)‘ wird die Meldung, von der man eigentlich schon gewusst haben muss, um das Vorangehende zu verstehen, ausdrücklich gemacht. Im selben Satz wird diesem ‚worauf (der Arbeiter Brietz getötet wird)‘ noch in scheinbarer Verdopplung ein ‚unmittelbar darauf‘ hinzugefügt. In Wahrheit aber ist es ein Hinweis auf den Zusammenhang des zu berichtenden Todes mit dem Wortwechsel zwischen Capitain Bürger und Brietz. Und das heißt ein Hinweis auf die Anekdote und auf die Welt der Gefahr, in der die Leser der Anekdote und die Insassen der Welt gemeinsam leben. Kleist versagt sich auch nicht eine ganze Reihe von puns mit den Namen der beiden beteiligten Personen. Das schlingt die Nachricht und die aus ihr gewonnene 48 BA, Bl. 2; DKV III, S. 354. 49 DKV III, S. 354. 50 Ebd.

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Anekdote weiter ineinander. Aus dem „Capitain v. Bürger“ im ersten Satz wird im letzten „Capitain Bürger“ – der stille und bescheidene Adlige ist der wahre Citoyen, in der Sprechweise der Französischen Revolution: ein Bürger-General. Der „Arbeitsmann Brietz“ heißt am Ende im Gegenzug „etc. Brietz“ – was in einigermaßen ressentimenthafter Weise andeutet, dass dieser Arbeiter den Edelmann spielt. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass Kleist aus dem richtigen Namen der Nachricht Pritz, ein Name, der sich offen mit dem so lange verschwiegenen Blitz gereimt hätte, den Decknamen Brietz geformt hatte. Intrikat wird das quid pro quo von Nachricht und Anekdote, informationeller und reiner Prosa aber schließlich in einem auffälligen Tempusgebrauch im letzten Satz. Von „Capitain Bürger“ heißt es mitten in der im Präteritum erzählten Geschichte, dass er „ein stiller und bescheidener Mann ist“51. Dieses Präsens macht entweder nur in strikt aktueller Verbindung mit der Nachricht oder nur ganz allgemein Sinn. Entweder es zeichnet sich hier wie im Charité-Vorfall ein ‚Berichterstatter‘ als Garant der Erweiterung ab. Sein Hinzukommen macht die Nachricht dann zur Anekdote. Aber das heißt eben auch, dass die Anekdote einfach nur die Fortsetzung und nachrecherchierte Fassung der Nachricht ist. Dieser Berichterstatter kennt – wie man es bei Kleist in der Tat vermuten kann – den Herrn von Bürger und hat in der Sache mit ihm selbst gesprochen. Das Präsens bezeichnet in diesem Fall aktuell die Gegenwart des ungenannten Berichterstatters im Text der Nachricht. Oder der „Capitain Bürger“ – das ist die andere und die zugleich einfachere und weiterreichende Lesart – ist eben ein Bürger-General, der in der Welt der Gefahr, die die der Anekdote ist, als der stille und bescheidene Mann schlechthin zu Haus ist. Er weiß, wie und wo sich einer und eine unterstellt. Das Präsens ist in dieser Lesart die Gegenwart der Welt schlechthin. Die reine Prosa der Kleistʼschen Anekdote ist himmelweit verschieden von der informationellen Prosa der Nachrichten und Meldungen. Aber sie ist ihr auch nahe. Reine und informationelle Prosa stehen auf den zwei Seiten desselben Blatts. Es ist lohnend, noch einmal die beiden unterschiedlichen Arten der Unterscheidung zwischen reinem Erzählen und Information bei Heidegger und Benjamin ins Spiel zu bringen. In gewohnt kühnem Sprung hatte Heidegger an seine Analyse der Sprache in Hebels Geschichten als einem Ent-Sprechen der Sprache das Gegenbild „des alltäglichen Redens und Sprechens“ im „gegenwärtigen Zeitalter“ angeschlossen. „Die Vorstellung von der Sprache als einem Instrument der Information“, schrieb er auf der Höhe der ersten Auseinandersetzung mit Computertechnologie und Informationstheorie, „drängt heute ins Äußerste.“52 Dieser Satz 51 Ebd. 52 Heidegger: Hebel – der Hausfreund (wie Anm. 22), S. 34–38, hier S. 35.

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ist aus der Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts heraus gesagt. Mit dem Anklang an Shannon und Weaver geht Heideggers Begriff der Information über das Verständnis von Journalismus und Kommunikation durch Massenmedien hinaus.53 Heidegger meint die Eigenheit und Verfasstheit von Sprache und Sprechen in der technisch-wissenschaftlichen Welt (als Ausdruck und Kommunikationsmittel in der Zeit des Weltbilds), aber er spricht von Sprache hier auch als einem Gegenstand und einem Ergebnis der elektronischen Datenverarbeitung (als Sprache, die als Information gerechnet und theoretisch verstanden wird). Den Sprung von Hebel zum Informationsbegriff der fünfziger Jahre macht Heidegger in dem klaren Bewusstsein, dass für Hebels Zeit der Volkskalender bei aller Verbreitung und allem Erfolg in der Provinz eine Wahl im Angesicht des modernen Journalismus und das heißt gegen ihn war. Als Walter Benjamin in der Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts seinen Aufsatz über den Erzähler schrieb, war die Informationstheorie nicht auf dem Stand von Shannon und Weaver. Wenn Benjamin also das Erzählen gegen die „Information“, die „neue Form der Mitteilung“, absetzt, dann ist damit der Sache nach nicht dasselbe gemeint wie bei Heidegger.54 Benjamin bringt ältere Überlegungen über die Erfahrung und ihr Absterben in der Moderne mit seiner späteren Theorie von der epochalen Wirkung der technischen Reproduktion zusammen. Mehr oder weniger verborgen zugrunde liegt die geschichtsphilosophische Idee von Erfahrung und ihrer Verstellung in der Philosophie seit Kant. Erfahrung bedeutet für Benjamin rezeptiv unbegriffliches Erkennen, das vor die kantische Trennung zwischen Anschauung und Erkenntnis zurückreicht. An diese Kritik, die in Benjamins Auseinandersetzung mit Neukantianismus und Phänomenologie gehört,55 wird das Konzept von der „Mitteilungsform“ der „Information“ als eine zunächst rein systematische Gegenbewegung angelagert. Das Erzählen steht für Benjamin auf der Seite dessen, was er als Erfahrung verstehen möchte. Dagegen schneidet die Intention auf Information Benjamin zufolge endgültig von der Möglichkeit ab, sich zu einer solchen Erfahrung vor der Trennung von Begriff und Anschauung zurückzutasten. Als Mitteilungsform fordert Information Plausibilisierung, Nachprüfung und intersubjektive Idealisierung. Zu einer historischen Macht wird sie – und das ist das Verständnis von Information nach den Arbeiten zur technischen Reproduktion – durch die Presse. Die Presse ist Journalismus als technisch-ökonomischer Komplex. Die Presse ist aber auch die Maschine, die mit beweglichen Lettern druckt. Der moderne Roman wird für Benjamin aus diesem Grund die historische Gegenmacht zum 53 David J. Gunkel, Paul A. Taylor: Heidegger and the Media, Cambridge 2014, S. 32−38. 54 Benjamin: „Der Erzähler“ (wie Anm. 25), S. 444. 55 Peter Fenves: Messianic Reduction. Benjamin and the Shape of Time, Stanford 2011.

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Erzählen: Denn im buchgestützten und journalismusanalogen Roman wird die Intention auf Information nach Benjamin zur Tendenz der Epik. Man kann das folgende Resümee ziehen: Benjamins Theorie des Erzählens fehlt noch das Verständnis von Information, zu dem Heideggers Auffassung vom welthaften Sagen der Dichtung jenseits der Gedichte mit der Datenverarbeitung und nach Shannon und Weaver Zugang hat. Aber die Umwege, die Benjamin geht, um Literatur, Information und Journalismus zusammenzudenken, haben auch den Vorteil, dass sie Vermittlungsschritte ins Spiel bringen, die Heideggers Großtheorie einfach auslässt.56 Darum ist Benjamins Entwurf in der hier versuchten Rekonstruktion wichtig. Und das obwohl oder gerade weil es unmöglich ist, hinter Heideggers Analyse der modernen Grundlagen des Schreibens und der Literatur zurückzugehen. Das Konzept einer Prosa der Welt, wie es hier vorgeschlagen wird, unterscheidet sich von den Konzepten Benjamins und Heideggers darin, dass reine Prosa und informationelle Prosa als zusammen auftretende Erscheinungen der Moderne gesehen sind. Als zwei Formen der gegensatzlosen Prosa treten beide erst nach dem Ende der traditionalen Literatur auf, die sich aus der Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa herleitete. Heidegger und vor ihm Benjamin werden von der in Deutschland tief verankerten Kulturkritik am Journalismus zu Konstruktionen verleitet, die nicht zur Geschichte des Literarischen und seiner Stellung im Wissen passen. Das ändert aber nichts an der Bedeutung der Verbindungen, die sowohl Heidegger als auch Benjamin zwischen Zeitung und Prosa, also der Literatur nach der Dichtung und der technischen Verfasstheit der Information, hergestellt haben. Um zu verstehen, wie parallel zur reinen Prosa die informationelle Prosa mit dem Ende der traditionalen Literatur zusammenhängt, kann man auf die Befunde zur Zuspitzung der Prosa noch im Regime der Dichtung bei Mercier und Rétif zurückgreifen. Entscheidend für Merciers erzähltes Beschreiben ist, so zeigte sich, die Statistik. Sie kam als Staatsbeschreibung in der Mitte des 17. Jahrhunderts und

56 Die Herausgeber der Gesammelten Schriften führen zum Erzähler-Aufsatz diese Aufzeichnung Benjamins an: „Man kann all diese Dinge als ewig ansehen (Erzählen z.B.) man kann sie aber auch als durchaus zeitbedingt und problematisch, bedenklich ansehen. Ewiges im Erzählen. Aber wahrscheinlich ganz neue Formen. Fernsehen. Grammophon etc. machen all diese Dinge bedenklich. Quintessenz: So genau wolln wirs ja garnicht wissen. Warum nicht? Weil wir Furcht haben, begründete: daß das alles desavouiert wird: die Schilderung durch den Fernseher, die Worte des Helden durchs Grammophon, die Moral von der Geschichte durch die nächste Statistik, die Person des Erzählers durch alles, was man von ihr erfährt.“ Benjamin: Gesammelte Schriften (wie Anm. 25), Bd. II.3, S. 1282.

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als political arithmetic in England am Ende des 17. Jahrhunderts auf.57 Hinter Rétifs Erzählen, das um eine Beschreibung kreist, wurde der Polizeibericht sichtbar, wie er im ancien régime in Frankreich verwurzelt war und seine moderne Entwicklung nicht zuletzt in Österreich und in den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts nahm.58 Polizeibericht und erzählende Statistik sind am Ende des 18. Jahrhunderts wichtige Zulieferer der Zeitung, gegen die Hebel anzutreten sucht, indem er noch einmal auf den Kalender setzt. Auf der Rückseite dieser neuen, zur Zeitung gehörenden Techniken verfasst Kleist schließlich die Anekdoten der Berliner Abendblätter. Mit der Information und ihrer Prosa zeichnen sich zwei Konzepte ab, die mit der informationellen Prosa verbunden sind: das Faktum und die Daten. Diese Verbindung ist Gegenstand ausführlicher Forschungen gewesen: Mary Poovey hat zum Beispiel das Zusammengehen von Faktizität, Datenverarbeitung und neuartigen Darstellungstechniken in der Buchhaltungslehre und -praxis in Oberitalien seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts herausgearbeitet. Lorraine Daston und Ann Blair haben die Darstellungsform des Faktums auf die Zitationsund Referenzpraxis etwa bei Francis Bacon bezogen.59 Für die Konstruktion von Daten im Sinne der Statistik hat man auf die pragmatische Historie und Statistik der Göttinger Schule im 18. Jahrhundert hingewiesen.60 Eine weitere bedeutsame Tendenz in der Ausarbeitung einer informationellen Prosa bilden die „literary

57 Für eine kurze Zusammenfassung dieser Frühgeschichte der modernen Statistik vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 215−222. Zum Stand der Statistik in Europa und in Preußen im Besonderen vgl. Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990, S. 16−46. 58 Catherine Denys: „La territorialisation policière dans le villes au XVIIIe siècle“, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 50 (2003), S. 13−25; Joseph Vogl: „Staatsbegehren. Zur Epoche der Polizei“, in: DVjs 73 (2000), S. 600−626. 59 Mary Poovey: A History of the Modern Fact. Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago 1998, S. 29−90 (über doppelte Buchhaltung und die Schreibweise des Faktums); Lorraine Daston: „Taking Note(s)“, in: Isis 95 (2004), S. 443−448 (über die Kürze des Faktischen beim Zitieren und Exzerpieren); Ann Blair: Too Much to Know. Managing Scholarly Information Before the Modern Age, New Haven, London 2010, S. 62−172 (über Techniken des Exzerpierens, Zitierens und Referierens). 60 Zur Definition der Daten in der statistischen Historiografie vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit (wie Anm. 57), S. 401f.

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technologies“ des Experimentalberichts seit der Gründung der Londoner Royal Society.61 Diese Überlegungen auf der Ebene der Mitteilungsformen kommen der Sache nach auf den Zusammenhang zurück, von dem zu Beginn auf der Ebene der literarischen Verfahren Beschreiben und Erzählen und im Kontext der reinen Prosa die Rede war: die Krise des Verhältnisses zwischen historia und scientia, die um 1700 ihren ersten Höhepunkt erreicht.62 Hebels Kalendergeschichten und Kleists Anekdoten sind in einer Art von Prosa und in einem Stil des Erzählens gehalten, wo die Unterscheidung zwischen Erzählen und Beschreiben, die dem alten Begriff der historia inhärent ist, nicht mehr gilt. Es geht nicht mehr um die herkömmliche Frage des Erzählens: wie Ereignisse und Handlungen so mit den Rahmenbedingungen einer Welt ausgestattet werden, dass sie in dieser Welt wie auf einer Bühne überhaupt erst stattfinden können. Informationelle Prosa und reine Prosa, die die Prosa der Welt ist, sind beide gleichermaßen jenseits dieser herkömmlichen Frage angesiedelt. Information ist die technische und szientifische Gegebenheit einer Mitteilungsform (Benjamin) und – noch einmal weitergeführt – einer Maschine (Heidegger), die alle möglichen Welten mithilfe ein und desselben raumzeitlichen Koordinatenkreuzes für vorstellbare Ereignisse darstellen kann. Alles Aushandeln von Beziehungen zwischen Ereignissen in einer Welt und der Welt, in der sie stattfinden, wird in dem Augenblick hinfällig, in dem die Maschine der Information in Gang gesetzt wird. Erfahrung, die ihre besondere Art im Zusammenspiel von Begriffen und Anschauungen noch vor ihrer unhintergehbaren Verschaltung hat, ist in der Kommunikationsweise der Information unzugänglich geworden. Doch wie verhält sich die Weltkonstruktion der Information zur reinen Prosa, die davon spricht, dass Erzähler, Leser und Figuren ein und dieselbe Welt miteinander teilen – diejenige Welt nämlich, in der sie jeweils leben? Wenn man Heideggers Seinsgeschichte vertraut, ist die Informationsmaschine nicht nur das Andere der einen Welt, in der die Sprache der Welterschließung spricht, sondern auch Voraussetzung und Bedingung ihrer Rückkehr nach der Technik. Von Benjamin ist eine solche Großgeschichte nicht zu haben: Die Information ist als Mitteilungsform die Zerstörung jeder Erfahrung, von der erzählt werden kann. Und weil mit dem Roman die Information beginnt, das Epische zu beherrschen, geht mit seiner 61 Steven Shapin, Simon Shaffer: Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1989, S. 22−79 (über die literary technologies des Experiments und seines Berichts). 62 Vgl. Rüdiger Campe: „‚Unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit‘. Evidenz im 18. Jahrhundert“, in: Die Ordnungen des Kontingenten. Beiträge zur zahlenmäßigen Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, hg. v. Alberto Cevolini, Wiesbaden 2014, S. 83−106.

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Übermacht im 19. Jahrhundert das Erzählen seinem Ende entgegen. Aber auch wenn die Geschichte der Erfahrung nach Benjamin ausweglos ihrem Untergang entgegensieht, kann trotzdem immer und in jedem Augenblick innerhalb dieser Geschichte das Gegenteil, die Erzählung, wieder einsetzen. In Heideggers und Benjamins Überlegungen gewinnt die Beziehung zwischen Information und Dichtung bzw. zwischen Information und Erzählen ihre Bedeutung jeweils in großen geschichtlichen Arenen. Wenn man dagegen nach dem Wissen der Literatur fragt – so wie es hier geschieht –, lautet der Befund anders: Dort wo die traditionale Unterscheidung von Poesie und Prosa zu wirken aufhört, treten informationelle Prosa und reine Prosa als zwei mögliche Formen des Literarischen gleichzeitig und mit gleicher Konsequenz nach der Dichtung auf. Ob man beiden Seiten einer Prosa, die keine Entgegensetzung mehr kennt, in der Tradition eines Karl Kraus die Werte von Verfall und Rettung überhaupt zuschreiben will, bleibt dahingestellt. Näher liegt es, mit Paul Valéry solche Metahistorisierungen zu unterlassen. Aber der Verzicht auf dramatische Geschichten des Verfalls oder der Rettung heißt nicht, dass es bei der Alternative nicht ums Ganze ginge. Denn die Entscheidung für die Prosa jenseits der Unterscheidung von Poesie und Prosa ist radikal. Die Radikalität dieser Entscheidung erkennt man, wenn Kleist sein letztes Werk, die Abendzeitung, in Angriff nimmt – das Werk, das hier als ein Werk nach der Dichtung verstanden wurde. Kleists Welt der Information – seine, mit Heidegger gesprochen, planetarische Welt – ist sicher äußerst klein. Es ist das Berlin am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, das immer noch eher eine deutsche Residenzstadt als eine europäische Metropole ist. Seine Informationsmaschine ist auch ziemlich beschränkt. Sie besteht gerade einmal in seiner Bekanntschaft mit dem Polizeipräsidenten von Berlin, Karl Justus Gruner. Was Kleists Fall beispielhaft macht und ihm sein eigenes Gewicht gibt, ist die subtile – d.h. sowohl fein gearbeitete wie auch hochbesetzte – Nähe zwischen Meldung und Anekdote, informationeller und reiner Prosa. Die Anekdote ist im Grenzfall nichts Anderes als eine Meldung. Und die Meldung ist ihrerseits bereits eine Anekdote. Dass wir in der Welt der Tagesbegebenheit leben, ist zur gleichen Zeit und mit gleichem Rang Effekt der kleinen Informationsmaschine Kleist-Gruner. Und es zeigt uns das, was die Prosadichtung der Anekdote über die Welt, in der wir leben, im Allgemeinen sagt. Kleist spitzt das allerdings noch weiter zu. Die Welt, in der wir in den Anekdoten-Meldungen immer und grundsätzlich leben, ist nicht nur allgemein die der Tagesbegebenheit, sondern genauer die der Gefahr und des Krieges. Es ist, so hat sich gezeigt, die Welt der Lage in ihrer Jeweiligkeit. Die Lebenswelt, die sich in der reinen Prosa von Kleists Anekdoten zeigt, ist also nicht eine Zuspitzung oder raffinierte Version der Kantischen Welt, in deren Raum- und Zeitkoordinaten Handlungen geschehen und Dinge vorkommen. So war es bei Mercier und Rétif

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der Fall. Bei Kleist geht es um die Weltnachrichten einer Informationsmaschine, die uns schockartig begreifen lässt: Bei der Welt, der die Nachricht gilt, handelt es sich immer und grundsätzlich um meine Welt.

(Un-)Arten des Faktischen Tatsachen und Anekdoten in Kleists Berliner Abendblättern J OHANNES F. L EHMANN

A NEKDOTEN Die Anekdote gilt ursprünglich und sehr lange nicht als genuin literarische Gattung. Der Name Anekdote meint in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die Publikationsform nicht herausgegebener Geschichten im Feld der Geschichtsschreibung. Als Begriff für derlei Erzählungen selbst erscheint das Wort ‚Anekdote‘ erst im 18. Jahrhundert.1 Entwickelt in der Spätantike von Historikern wie Prokop und Plutarch als historische Schreibweise, existierte die Textgattung Anekdote außerhalb und neben den Poetiken oder Dichtungslehren der Frühen Neuzeit.2 Ihre Zuordnung zur Historie entspricht dabei ganz und gar der aristotelischen Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung. Wenn Dichtung berichtet, was geschehen könnte, und damit das Allgemeine mitteilt und Historie das, was wirklich geschehen ist, nämlich das Besondere, dann gehört die Anekdote als spezifische Form historischer Rede nicht zur Dichtung. Allerdings unterläuft die Anekdote die so gezogene Grenze zwischen Dichtung und Geschichte, Allgemeinem und Besonderem selbst, insofern sie zwischen beiden gerade vermittelt und durch den besonderen Einzelfall von dem, was tatsächlich geschehen ist, auf das Allgemeine hindeutet. „Das Allgemeine“, so Aristoteles, „besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der

1

Hierzu grundlegend: Walter E. Schäfer: „Anekdotische Erzählformen im Zeitalter der Aufklärung“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh) 104 (1985), S. 184–204.

2

Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Strukturund Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 150.

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Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut“.3 Auf eben dieses Allgemeine zielt die Anekdote, indem sie die bestimmte Beschaffenheit durch eine historisch beglaubigte Erzählung darlegt und sie als Material für Verallgemeinerung bereitstellt. „Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben“4, heißt es bei Nietzsche. Die Anekdote basiert als Gattung selbst auf der logischen Operation der Verallgemeinerung, auf der Bezugnahme von dem erzählten Einzelfall oder der erzählten einzelnen Begebenheit einer Person auf das Allgemeine bzw. auf etwas Typisches.5 In diesem Sinne ist der Gattung Anekdote immer wieder ihre besondere Signifikanz bzw. „Repräsentativität“ zugesprochen worden. Die Gattung Anekdote prozessiert diesen der Signifikanz zugrunde liegenden Prozess der Signifikation, indem sie implizit darauf gerichtet ist, den Fall auf das Gesetz, das Besondere auf das Allgemeine und das Individuum auf die Gattung zu beziehen. Diese Bezugnahme wiederum, die Realisierung der Signifikanz, geschieht dann durch jene „Nachdenklichkeit“6, die die Anekdote ebenfalls kennzeichnet. Eine Anekdote über das individuelle Handeln eines preußischen Soldaten etwa stellt zugleich die Frage, wie dieses Handeln auf die Gattung der preußischen Soldaten insgesamt zu beziehen ist. Die Anekdote ist die Gattung, die eine Reflexion des Verhältnisses von Individuum und Gattung voraussetzt und betreibt. Zentral für die Anekdote ist dabei ihr reklamierter Bezug auf die historische Faktizität des Erzählten. Anekdoten handeln von historischen Personen in historischen Situationen, zumindest ist das das Setting, das Anekdoten in ihrer Erzähl3 4

Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1989, S. 29–31. Friedrich Nietzsche: „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873, München 1988, S. 799–872, hier S. 803.

5

Vgl. Rüdiger Zill: „Minima historia. Die Anekdote als philosophische Form“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, VIII/3 (2014), S. 33–46. Zill lotet das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, wie es in Theorie und Praxis der Anekdote manifest wird, im Hinblick auf das Spannungsfeld aus, das sich zwischen Carl von Linné, dessen Anekdoten eine göttliche Nemesis beweisen sollen und daher jeweils funktionieren wie das „Exemplar einer Pflanzengattung im Herbarium“ (S. 41), und Hans Blumenberg, der der Anekdote den Bezug auf das Allgemeine gerade abspricht, spannt. Siehe hierzu auch: Paul Fleming: „The Perfect Story. Anecdote and Exemplarity in Linnaeus and Blumenberg“, in: Thesis Eleven 104/I (2011), S. 72–86.

6

Hans Peter Neureuter: „Zur Theorie der Anekdote“, in: Jahrbuch des deutschen Hochstifts (1973), S. 458–480, hier S. 463. Neureuter rekonstruiert die Anekdote als Erzähltypus mit vier Merkmalen: Faktizität, Repräsentanz, Kürze und Nachdenklichkeit.

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form auch da noch simulieren, wo es sich nicht mehr um im engeren Sinne historische Anekdoten, sondern um moralische Anekdoten handelt. Für den Status der Anekdote ist unverzichtbar, dass sie der Form nach behauptet zu erzählen, was sich tatsächlich vor Zeugen ereignet hat. Niehaus schreibt: Es muss also nicht nur die Geschichte, die in der Anekdote erzählt wird, möglich (wenngleich unwahrscheinlich) sein, sondern sie muss auch auf eine mögliche Weise an ihren ersten Erzähler gelangt und dann weitererzählt worden sein. Anekdoten haben nur einen Erzähler, einen Autor haben sie nicht. Sie kursieren. Im Prinzip implizieren sie die (meist unhaltbare) Behauptung, dass es eine ununterbrochene Kette gibt zwischen einem, der ‚dabei war’, und dem, der sie erzählt. Dieser Unterstellung darf die Präsentation der Anekdote nicht widersprechen, da sie für ihren Status wesentlich ist.7

Indem Anekdoten als bisher unveröffentlichte und nicht bekannte inoffizielle Geschichten erzählt werden, beziehen sie sich zugleich auf ihnen vorgängige Erzählungen oder Texte – und behaupten ihnen gegenüber Faktizität. Anekdoten sind Reden oder Texte, die andere Reden oder Texte immer schon voraussetzen, sie erzählen die andere, die noch unbekannte, bisher nicht erzählte und ‚wahrere‘ Geschichte. Zugleich aber, und das unterminiert den erhobenen Anspruch auf Faktizität in dem Maße, wie er erhoben wird, setzen sie voraus bzw. „wissen“ gleichsam, dass das Wissen um Faktizität narrativ verhandelt wird, dass Fakten immer nur als und in Geschichten erscheinen. Anekdoten beziehen sich als solche bisher unveröffentlichte Geschichten auf den Stand des öffentlichen Wissens – und mischen sich ein, indem sie sozusagen Einspruch erheben oder anders sprechen. Vom spätantiken Historiker des Kaisers Justinian, Prokop, bis zu den vielen Anekdotensammlungen des späten 18. Jahrhunderts zu Friedrich II., Katharina der Großen und Joseph II. changieren die Anekdoten dabei zwischen Entlarvung und Idealisierung. Indem Anekdoten ein Bild erzählen und sowohl dessen Wahrheit als auch die Allgemeinheit bzw. Übertragbarkeit dieser Wahrheit behaupten, wissen sie längst, dass Wirklichkeiten kommunikativ erzeugt werden. Sie bewegen sich damit an der Grenze von Faktizität und Narrativität, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Gerücht und Beglaubigung, Unautorisiertem und Autorität. Eben deshalb sind die Gesten und Akte der Authentifizierung für die Gattung Anekdote zentral.8 7

Michael Niehaus: „Die sprechende und die stumme Anekdote“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh) 132 (2013), S. 183–202, hier S. 196f.

8

Nun sind die Gesten und Akte der Authentifizierung und der Beglaubigung selbst nicht Teil der erzählten Geschichten. Vgl. Niehaus: „Die sprechende und die stumme Anekdote“ (wie Anm. 7), S. 197. Die Anekdoten müssen aber doch immer diese Faktizität

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Im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wächst die Zahl der publizierten Anekdoten erheblich an. Das betrifft zum einen ihr Vorkommen in der Historiografie und zum anderen ihre Präsenz in der Publizistik. ‚Anekdote‘ heißt hier allerdings vielerlei: Nachricht, kurze Mitteilungen über bedeutende Persönlichkeiten, Charakterzug. Anekdoten sind „im Verständnis der Zeit unveröffentlichte, durch Augenzeugen in ihrer Faktizität bestätigte Berichte ‚neben der Geschichte‘ […].“9 Das kann auch die Naturgeschichte betreffen, wie etwa die vielen Anekdoten aus dem Tierreich. Es sind aber auch oft einfach moralische Erzählungen, die ein bestimmtes Problem in Dialogform erzählen und durch eine überraschende Pointe veranschaulichen. Was aber die entscheidende Relevanz der Anekdote im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts kennzeichnet, ist, dass Anekdoten sich zu einer Erzählform entwickeln bzw. zunehmend als solche gebraucht werden, die Ereignisse der ‚Gegenwart‘ und Gegenwärtiges aufnimmt bzw. aufnehmen kann. Anekdoten dokumentieren ihre eigene Zeit, sie sind in ihrer Kürze und ihrer Momenthaftigkeit gewissermaßen Aufschreibemedien für und von Zeitgenossen und für und von noch laufenden Prozessen und Geschehnissen. Anekdoten sind in dieser Gebrauchsweise Ende des 18. Jahrhunderts, so möchte ich behaupten, textuelle Medien des Dokumentarischen – sie zeichnen in einprägsamer Weise ‚Gegenwart‘ auf und beteiligen sich – mit den Potenzialen ihrer Form – an der Politik kursierender Bilder und Geschichten über Personen und Ereignisse. Exakt in diesem Sinne werden Anekdoten Ende des 18. Jahrhunderts diskutiert und auf Zeit und Medienverhältnisse bezogen. In seinem Text Ueber Anekdoten, insonderheit über die Anekdoten unserer Zeit (1787) schreibt der Ökonom und Mathematiker Johann Georg Büsch: Die Geschichte unsrer Zeiten ist gewiß eine der wichtigsten, welche in dem ganzen Laufe menschlicher Begebenheiten vorkömmt. Wenn wir dies nicht genugsam erkennen, so wird es die Nachwelt erkennen. Sie wird es uns, ihren Vorfahren, recht sehr danken, wenn wir sie ihr getreu, vollständig und so belehrend überliefern, als sie es dann insonderheit werden kann, wenn man alle kleine Umstände, welche in die großen Vorfälle unsrer Zeit eingewirkt haben, und alle Nebenvorfälle, die unter der Benennung Anekdoten gehen, richtig auf sie bringt. Denn sie ist nicht nur reich an wichtigen Vorfällen, sondern auch an schleunigen

voraussetzen bzw. implizit oder explizit behaupten – und insofern gehören die beglaubigenden Paratexte, wie zum Beispiel die Vorreden von Anekdotensammlungen, in denen begründet wird, in welcher Weise der Autor Augenzeuge der berichteten Anekdoten war, zu den Anekdoten als ihr konstituierender Rahmen doch dazu. 9

Hilzinger: Anekdotisches Erzählen (wie Anm. 2), S. 78.

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Veränderungen, die zum Theil durch Ursachen bewirkt oder veranlaßt worden sind, die noch nicht klar am Tage liegen.10

Das sich hier artikulierende Bewusstsein einer transitorischen Gegenwartszeit, die geprägt ist von Veränderungen, die eben jetzt stattfinden, ist zugleich geknüpft an die Absicht, eben diese eigene Zeit für die Nachwelt, als dessen Vorfahre Büsch sich selbst begreift, zu dokumentieren. Eben hierfür werden die Anekdoten vorgesehen. Als Berichte von Nebenumständen, die auf die großen Veränderungen eingewirkt haben, liegen vielleicht in den durch Anekdoten zu dokumentierenden kleinen Umständen die Schlüssel zur historischen Erklärung und in jedem Fall die Bilder, die die eigene Zeit charakterisieren. Büsch diskutiert im weiteren Verlauf des Textes, und das ist für die theoretische Beschäftigung mit der Gattung um 1800 repräsentativ, das Problem der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit von Anekdoten. Dies wiederum bezieht er auf die historischen Veränderungen der medialen Bedingungen in der Gegenwart, namentlich auf Buchdruck und Pressefreiheit. Dass Anekdoten wahr sein können, hat Augenzeugenschaft der gleichzeitig Lebenden zur Voraussetzung. In einer Zeit, in der lange mündliche Überlieferungsketten die Regel waren, ist die Glaubwürdigkeit nicht gesichert. Aber auch wenn ein dem Ereignis gleichzeitiger Schriftsteller, der nicht Augenzeuge war, die Sache aufschreibt, ist die Glaubwürdigkeit fraglich, denn es sind gar nicht genug Schriftsteller da, die die potenziell falsche Geschichte widerlegen könnten. „Für unsere Zeiten aber“, so Büsch, gilt das nicht mehr: Wir können auf das Zeugniß jeder gleichzeitigen Schrift alsdann schon viel bauen, wenn sie Aufmerksamkeit genug erweckte, um von Zeitgenossen gelesen zu werden, die auch über eben diese oder verwandte Gegenstände schrieben, und von diesen nicht widerlegt sind.11

Die Wahrhaftigkeit der Anekdoten wird gleichsam kommunikativ hergestellt, durch Lektüre und ggf. Widerlegung. Alle, die wollen, sind aufgrund der „Preßfreiheit“ in der Lage, „von demjenigen zu schreiben, wovon sie gültige Zeugen gewesen sind.“12 Die Anekdote wäre somit die gedruckte Geschichte einer Begebenheit der eigenen Gegenwart, die man selbst bezeugen kann und die man durch 10 Johann Georg Büsch: „Ueber Anekdoten, insonderheit über die Anekdoten unserer Zeit“, in: Historisch-politisches Magazin, nebst litterarischen Nachrichten, Bd. 1, 1787, S. 272–286, hier S. 279f. 11 Ebd., S. 281. 12 Ebd., S. 272: „[…] da der jetzige Zustand Europens einem jeden Wege genug öfnet, bekannt zu machen, was er Geheimes in der Geschichte seiner Zeiten weiß“.

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die Anekdote für die Öffentlichkeit und die Nachwelt, d.h. für die Geschichte, dokumentiert.13 Der Optimismus, dass eine solche Kommunikation von Anekdoten als Dokumentation der eigenen Zeit tatsächlich wahre Anekdoten produziert, ist bei Büsch allerdings begrenzt. Immer besteht die Gefahr, dass eine falsche Anekdote nicht als solche wahrgenommen wird, dass sie in Büchern umherschleicht und nachher doch in wichtigen Schriften erscheint, „aber zu spät, um noch widerlegt zu werden.“14 Auch die Widerlegung setzt Zeitnähe voraus. Da es aber Anekdoten – als Berichte über Erlebtes – immer gibt, seien sie wahr oder nicht, so kann man ihnen auch nicht ausweichen, man kann allenfalls versuchen, ihre Wirkung in der Öffentlichkeit zu kontrollieren, indem man einen öffentlichen Ort bestimmt, an dem sie erscheinen. Büsch meint mit diesem Ort die Zeitschrift selbst, in der sein eigener Text erscheint, wo diese Anekdoten „zur Schau“15 gestellt werden, um dann gegebenenfalls widerlegt werden zu können, solange noch Zeit dazu ist. Dass Anekdoten als kommunikatives und dokumentarisches Medium der Gegenwartserfassung diskutiert werden, zeigt auch ein kurzer Text des Historikers Albert Christoph Kayser, Ueber den Werth der Anekdoten, der 1784 im Teutschen Merkur erschien.16 Kayser problematisiert zunächst die Signifikanz der Anekdote, indem er zeigt, dass die situativ bedingte Momentaufnahme einer anekdotischen 13 Büsch unterscheidet fünf Stufen der Relevanz von Anekdoten nach dem Kriterium ihrer Erklärungskraft für die geschichtliche Entwicklung. Christian Garve begreift seinerseits Anekdoten als Erfahrungsprodukt des Weltmannes, der mit den Großen seiner Gegenwart in Kontakt kommt: „Durch den Umgang mit der großen Welt, – worunter ich entweder einen sehr ausgebreiteten, oder den mit den Vornehmsten des Landes verstehe, – kann man zuförderst Anekdoten und einzelne kleine Züge aus der Zeitgeschichte, Aufklärungen über den Charakter der Regenten, Minister, Heerführer, und aller auf die Staatsgeschäfte Einfluß habenden Personen, Aufschlüsse über die geheimen Ursachen bekannter Begebenheiten, kurz Unterricht über die Verbindung des Moralischen mit dem Zufälligen in den Auftritten der Politik erhalten.“ Christian Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur, Bd. 3, Breslau 1797, S. 25. 14 Büsch: „Ueber Anekdoten, insonderheit über die Anekdoten unserer Zeit“ (wie Anm. 10), S. 282. 15 Ebd. 16 A. C. Kayser: „Ueber den Werth der Anekdoten“, in: Der Teutsche Merkur (1784), 2. Viertelj., S. 82–86. Diesen Text stellte Karl Müchler seinem Anekdotenlexikon voran. Siehe hierzu Alexander Košenina: „Kriminalanekdote. Literarisiertes Rechtswissen bei Kleist, Meißner und Müchler“, in: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, hg. von Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg, Göttingen 2013, S. 96–108.

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Szene leicht zu falschen Verallgemeinerungen verleiten kann. Augenblickliche Stimmung, Affekt, Situation etc. sind so entscheidend, dass eine einzelne Handlung oder Sprechhandlung einer Person keine Verallgemeinerung auf deren Charakter zulässt. Dieses Wissen wiederum, so allgemein es sein mag, hilft aber nicht gegen die Macht der Anekdote: „indessen wird doch alle Tage nach Anekdoten geurtheilt, und noch nie als jetzt wurde so geflissentlich darauf Jagd gemacht.“17 Diese Jagd auf Anekdoten ist eben eine Jagd unter Zeitgenossen; die Anekdote ist das kleine narrative Bild, das überall aufgenommen und aufgrund seiner Kürze und szenischen Einprägsamkeit schnell im Druck oder im Mündlichen verbreitet werden kann. Ist die Anekdote gleichsam der fotografische Schnappschuss des 18. Jahrhunderts, dann ist der Anekdotenjäger der Paparazzo. Kayser schreibt: „Drum wehe dem Manne, der wichtig genug ist, Stof zu öffentlichen Erzählungen und Schilderungen abgeben zu können! Er darf in unsern Tagen jeden seiner Schritte doppelt vorsichtig messen und seine Worte ängstlich wägen.“18 Die Anekdote erscheint in dieser Diskussion als Medium der politischen Gegenwartsdokumentation. Dokumentiert wird Faktisches in narrativer Form, sodass zugleich die Macht des Narrativen zur Erscheinung kommt. Dass um 1800 die Anekdoten in diesem Sinne Gegenwartsereignisse gleichsam begleiten, belegen Sammlungen wie: • Anekdoten, Karakterzüge und Reflexionen zur Beleuchtung merkwürdiger Per-

sonen und Begebenheiten der neusten Zeitgeschichte. Jena 1800. • Authentische Geschichte des jetzigen Krieges zwischen Dänemark und Eng-

land, dessen Entstehung, Ursachen und wahrscheinlichen Folgen, nebst gesammelten Anekdoten, herausgegeben von Carl Friedrich Primon, Translateur. Kopenhagen und Leipzig 1801. • Sammlung von Anekdoten und Charakterzügen auch Relationen von Schlachten und Gefechten aus den merkwürdigen Kriegen in Süd- und Norddeutschland in den Jahren 1805–9. Leipzig 1807–1814. • Anekdoten und Charakterzüge aus dem Leben des Prinzen Louis Ferdinand von Karl Stein. Berlin 1807.

17 A. C. Kayser: „Ueber den Werth der Anekdoten“ (wie Anm. 16), S. 84. 18 Ebd. Die Anekdote gehört so insgesamt in den Kontext verschiedener Medien Klios, insbesondere auch Bildmedien. Vgl. Uwe Hebekus: Klios Medien, Tübingen 2003.

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Die Zeit der Gegenwart, die überhaupt als eigene Zeit erst seit Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Namen ‚Gegenwart‘ als solche reflektiert wird,19 ist die Phase der noch möglichen kommunikativen Bestimmbarkeit und Dokumentation von Geschehnissen, die jetzt laufen und die laufend erzählt werden – und die kausal diese eigene Zeit als Bedingung der Zukunft begründen. Die Zeit der Gegenwart ist als Zeitraum, in dem die Begebenheiten und ihre Erzählungen (und ihre Deutungen) gleichzeitig sind, zugleich eine Zeit innerhalb der laufenden, der einen Geschichte, wie sie etwa Schiller zur Grundlage der Geschichtsforschung macht.20

A NEKDOTEN

BEI

K LEIST

In den Berliner Abendblättern ist Kleist mit seinem Schreiben in einem Medium angekommen, in dem seine Obsession für Fragen des Er- und Verkennens des Faktischen, für Gerichts-, Wahrheits-, Prüfungs-, Beglaubigungs- und Verhörszenen, die in seinen Dramen und Novellen meist Szenen auf Leben und Tod sind, auf ihre mediale Realität trifft. Kleists Entscheidung, eine Zeitung zu machen, die sechs Mal pro Woche erscheint und die statt politischer Berichte aus der Ferne, Nachrichten aus der unmittelbaren Umgebung bringt, ist eine Entscheidung für das offensive Spiel mit der Faktizität. Mit der so bedingten raum-zeitlichen Nähe von Nachricht und Referenz setzt Kleist sich der Möglichkeit aus, dass seine Nachrichten überprüfbar sind und dass sie als überprüfbare Informationen auch unmittelbar in die Lebenswelt der Leser*innen eingreifen. „Die Information“, so schreibt Walter Benjamin im Erzähler-Aufsatz, „macht den Anspruch auf prompte Nachprüfbarkeit.“21 Im Schreiben über Geschehnisse der unmittelbaren Umgebung, die Autor*innen bzw. Redakteur*innen mit Leser*innen teilen, rückt die

19 Vgl. zur reflexiven Verzeitlichung von Gegenwart um 1800: Ingrid Oesterle: „,Es ist an der Zeit!‘ Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800“, in: Goethe und das Zeitalter der Romantik, hg. v. Walter Hinderer, Alexander von Bormann und Gerhart von Graevenitz, Würzburg 2002, S. 91–121; Johannes F. Lehmann: „,Ändert sich nicht alles um uns herum? Ändern wir uns nicht selbst?‘ Zum Verhältnis von Leben, Zeit und Gegenwart um 1770“, in: LebensWissen. Poetologien des Lebendigen im langen 19. Jahrhundert, hg. v. Peter Schnyder, Freiburg i. Br. 2016, S. 51–73. 20 Vgl. hierzu: Johannes F. Lehmann: „Die Zeit der Gegenwart bei Schiller“, in: Schillers Zeitbegriffe, hg. v. Helmut Hühn und Dirk Oschmann, Hannover 2018, S. 287˗303. 21 Walter Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1991, S. 438–465, hier S. 444.

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Frage nach der Wahrheit bzw. der Faktizität der Berichte und ihrer Nachprüfbarkeit in völlig anderer Weise in den Mittelpunkt als bei den sogenannten politischen Nachrichten aus der Ferne. So wie die Anekdoten als Medien der Zeitgeschichtsschreibung und der Gegenwartserfassung versuchen, wahre Geschichten über Zeitgeschichte zu erzählen und Zeitgeschichte in und mittels wahrer Anekdoten oder berichtigter Anekdoten zu dokumentieren, so versucht Kleist mit den polizeilichen Tagesmitteilungen, wie es im vierten Blatt heißt, „die oft ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse zu berichtigen“.22 Die Zeitung als solche verpflichtet sich auf Faktizität, indem sie Medium der Korrektur von Gerüchten und ungegründeten Ängsten sein will. Man muss allerdings hier fragen, was in dem zitierten Satz mit „an sich gegründeten Thatsachen“ eigentlich gemeint ist. Geht es im Gegensatz zu den „entstellten Erzählungen“ dieser Tatsachen um ihre richtige Erzählung – oder geht es einfach um Fakten jenseits der Erzählung, sozusagen um die faktischen Rohdaten vor jeder Erzählung? So wie Sach- und Wortgeschichte der Anekdote gehört auch die Sach- und Wortgeschichte der Tatsache selbst nicht nur zur Epistemologie der Tatsächlichkeit, sondern auch zur Geschichte faktografischer Gattungen. Schaut man sich die Verwendungsgeschichte des Wortes ‚Thatsache‘ um 1800 an, dann sieht man, dass das Wort, das in Deutschland überhaupt erst 1756 durch Johann Jacob Spalding eingeführt wurde,23 selbst in erstaunlicher semantischer Nähe zu ‚Erzählung‘ und ‚Anekdote‘ gebraucht wurde. So wie die Zeitgeschichte Faktisches in Form von Anekdoten berichtet oder zu berichten vorgibt, in Form von Erzählungen von Augenzeugen über Handlungen und Ereignisse, die diese dokumentieren, so findet sich das Wort ‚Thatsache‘ als Begriff für Erzählungen von erlebten bzw. bezeugbaren Handlungen, denen zugleich eine Evidenz oder Repräsentativität zukommt. 22 BA, Bl. 4. 23 Spalding benutzt in seiner Übersetzung von Butler erstmals das Wort ,Thatsache‘ für den englischen Begriff ‚matter of fact‘. Vgl. Joseph Butler: The analogy of religion, natural and revealed, to the constitution and course of nature, London 1750; Ders.: Joseph Butlers Bischofs zu Durham Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung und dem ordentlichen Laufe der Natur: Nebst zwo kurzen Abhandlungen, übers. v. Johann Joachim Spalding, 2. Ausg., Tübingen 1779, S. 60. Vgl. hierzu auch Reinhart Staats: „Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffs ‚Tatsache‘“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 70/1 (1973), S. 316–345. Sowie Johannes F. Lehmann: „Faktum, Anekdote, Gerücht. Zu Begriffsgeschichte der ,Thatsache‘ und Kleists ‚Berliner Abendblättern‘“, in: DVjs 89 (2015), S. 307–322.

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Ich gebe einige Beispiele: 1804/1805 erschien in Berlin ein zweibändiges Werk mit dem Titel Thierseelen-Kunde auf Thatsachen begründet, oder 156 höchst merkwürdige Anekdoten von Thieren.24 So begründet die hier erzählten ‚Thatsachen‘ auch sein mögen, mit dem Begriff der ‚Thatsache‘ sind hier nicht bloße Fakten gemeint, nicht isolierte Sachverhalte, sondern wie der mit ‚oder‘ eingeleitete Alternativuntertitel zu verstehen gibt, die Erzählungen selbst, die Anekdoten von wirklich vorgefallenen Handlungen der Tiere – Anekdoten, die zugleich als Einzelfälle für eine Theorie der ‚Thier-Seelenkunde‘ verallgemeinerbar sein sollen. Demselben Begriffsgebrauch folgt die im Jahr 1800 in Berlin erschienene Schule der Erfahrung für alle, welchen Zufriedenheit, Leben und Gesundheit etwas werth sind. Warnende Thatsachen, zur Verhütung alltäglicher Unglücksfälle.25 Die „warnenden Thatsachen“ sind hier wiederum kurze Erzählungen und Anekdoten, die als wirklich geschehene Handlungen erzählt werden. Dass mit ‚Thatsachen‘ hier nicht die vielen, isolierten Sachverhalte gemeint sind, auf die die Geschichten warnend verweisen, sondern die Geschichten selbst, geht auch daraus hervor, dass die ‚Thatsachen‘ genau beziffert werden. In einer Anzeige in der Zeitung für die elegante Welt (3. Jahrgang, 16. July 1803) wird zudem gemeldet, dass das Buch auch unter einem alternativen Titel erhältlich sei – und dieser lautet: Aus Schaden wird man klug. 2. Theil, 134 Geschichten aus der wirklichen Welt enthaltend. Das ist Klartext: ‚Thatsachen‘ sind nicht Sachverhalte, Daten, rohe Fakten, sondern Geschichten aus der wirklichen Welt, die erzählt werden, um die erzählten Handlungen zu beglaubigen und mit ihnen etwas evident zu machen.26 ‚Thatsachen‘ sind so selbst der Name für eine Textgattung, zumindest gibt 24 Vgl. N. N.: Thierseelen-Kunde auf Thatsachen begründet, oder 156 höchst merkwürdige Anekdoten von Thieren, 2 Bde., Berlin 1804/1805. 25 Samuel Christoph Wagener: Die Schule der Erfahrung für Alle, welchen Zufriedenheit, Leben und Gesundheit etwas werth sind. Warnende Thatsachen, zur Verhütung alltäglicher Unglücksfälle, 2. Teil, 2. Ausg., Berlin 1800. 26 Kant benutzt den Begriff ‚Thatsache‘ ebenfalls, wie Spalding in seiner Übersetzung, mit dem erläuternden Zusatz „res facti“, überschreitet aber diesen Sprachgebrauch von ,Thatsache‘ als erzählter und erfahrbarer Handlung, indem er den Aspekt der Darstellung, der Evidenz bzw. der Anschauung isoliert und sogar von der Erfahrung abstrahiert: „Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität (es sei durch Vernunft, oder durch Erfahrung, und, im ersteren Falle, aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen korrespondierenden Anschauung) bewiesen werden kann, sind (res facti) Tatsachen.“ In der Anmerkung heißt es hierzu: „Ich erweitere hier, wie mich dünkt mit Recht, den Begriff einer Tatsache, über die gewöhnliche Bedeutung dieses Wortes. Denn es ist nicht nötig, ja nicht einmal tunlich, diesen Ausdruck bloß auf die wirkliche Erfahrung einzuschränken, […] da eine bloß

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es Texte, die erzählte ‚Thatsachen‘ als ihren Inhalt ankündigen: Wilhelm Ludwig Leißning veröffentlicht 1812 in Berlin das Buch Systematische Darstellung zu einer neuen Kriegslehre für Infanterie, Cavallerie und Artillerie: nach dem jetzigen Zeitgeist und aus dem wirklichen Kriege gefolgert; Nebst Mittheilung vieler noch unbekannten, als Augenzeuge erlebten Thatsachen aus dem Kriege in Preußen von 1806 und 1807. Man kann also ‚Thatsachen‘ als Augenzeuge der eigenen, charakteristischen Gegenwart erleben – dies entspricht exakt dem, was auch für Anekdoten gilt. Diesem Sprachgebrauch folgt, ähnlich wie Kleist in der oben zitierten Formel von „an sich gegründete[n] Thatsachen und Ereignissen“, auch die Zeitschrift Janus aus dem Jahr 1800, die im Untertitel „eine Zeitschrift, auf Ereignisse und Thatsachen gegründet“27 genannt wird und zu der auch Goethe und Schiller literarische Beiträge beisteuerten, die aber über zwei Bände nicht hinauskam. Der Herausgeber und spätere Schwager Goethes, Christian August Vulpius, publizierte hier einen munteren Reigen feuilletonistischer Korrespondenznachrichten über Theaterereignisse in europäischen Städten sowie Schwänke, Erzählungen, Witze, Theaterszenen und natürlich Anekdoten. Anekdoten sind ‚Thatsachen‘ und ‚Thatsachen‘ sind Anekdoten. Anekdoten gehören damit in die Epistemologie des Faktischen ebenso wie der Begriff ‚Thatsache‘, wenn er zur Bezeichnung von Anekdoten und Erzählungen gebraucht wird. Wie sehr Kleist den Status der Anekdote im Hinblick auf ihre Rolle in der Geschichtsschreibung, ihre Aktualisierung für die eigene Gegenwart sowie als Gattung zur Erfassung des Faktischen reflektiert, zeigt etwa die Rolle der Froben-Anekdote im Drama Prinz Friedrich von Homburg.28 Was heißt dieser Befund nun für die Kleist’schen Abendblätter und seine eigenen hier publizierten Anekdoten? Kleist berichtet in seiner Zeitung über noch mögliche Erfahrung schon hinreichend ist, um von ihnen, bloß als Gegenständen einer bestimmten Erkenntnisart, zu reden.“ Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1990, §91, S. 342. Zum Begriffsgebrauch von ‚Thatsache‘ bei Kant vgl. Sebastian Maly: Kant über die symbolische Erkenntnis Gottes, Berlin, Boston 2012, S. 77–81. 27 Janus. Eine Zeitschrift, auf Ereignisse und Thatsachen gegründet, No. I, Weimar 1800. Nimmt man das Inhaltsverzeichnis zur Hand, dann sieht man, dass etwa Texte wie „III. Die Gräfin. Eine Erzählung“ (S. 7), „IV. Der Ring und der Brief. Eine wahre Begebenheit“ (S. 10), „X. Die Rache. Eine Erzählung“ (S. 44) die Ereignisse und ‚Thatsachen‘ sind, auf die sich die Zeitschrift gründet. 28 Vgl. zur Froben-Anekdote Christian Moser: „Die supplementäre Wahrheit des Anekdotischen: Kleists Prinz Friedrich von Homburg und die europäische Tradition anekdotischer Geschichtsschreibung“, in: KJb 2006, S. 23–44.

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laufende polizeiliche Ermittlungen. Indem er das tut, sind seine Berichte nicht Erzählungen von abgeschlossenen Handlungen, nicht Geschichten, die vom Ende her erzählt werden können, sondern Informationen, die sich, wenn überhaupt, allererst in Zukunft zu einer Geschichte fügen. Es sind Berichte, die womöglich die Handlungen und Ereignisse, das jetzt gerade Laufende, von dem sie berichten, selbst verändern oder verhindern. Kleist fordert das Publikum im vierten Blatt eigens auf, „seine Bemühungen mit den Bemühungen der Polizei zu vereinigen, um gefährlichen Verbrechern auf die Spur zu kommen, und besorglichen Uebelthaten vorzubeugen.“29 Jenseits der ‚Thatsache‘, die als Handlung eines Menschen, als Tat-Sache und damit als Anekdote erzählt werden kann, wird der Blick durch derlei Informationen auf in der Gegenwart noch laufende Prozesse, auf Tatsachen im Sinne isolierter Sachverhalte gerichtet, die in Geschichten und deren Plausibilität dann erst eingelesen werden können. Wenn Kleist im achten Blatt die in der Stadt kursierende Behauptung anführt, dass die „berüchtigte Louise, von der Mordbrenner-Bande“ sich womöglich „noch in diesem Augenblick in der Stadt befindet“,30 dann geht es in diesem Sinne um die Möglichkeit eines bloßen Faktums – nicht um eine Thatsache. In diesem Sinne etabliert sich in der zeitgenössischen juristischen Theorie zeitgleich ein semantischer Differenzierungsprozess zwischen ‚Thatsache‘ im Singular (hier sucht man den Urheber der ‚Thatsache‘) und Tatsachen31 im Plural, d.h. Indizien, Zeichen, Spuren, die in Erzählungen der Thatsache eingelesen werden müssen. Die logische Unterscheidbarkeit von Narration und Indizien, von Thatsache und Tatsachen bei gleichzeitiger Untrennbarkeit hat Kleist in seinen literarischen Texten immer wieder vorgeführt.32 Andererseits hat Kleist in seine Abendblätter viele Anekdoten eingerückt, die er teilweise selbst geschrieben, selbst bearbeitet oder auch einfach aus anderen Zeitungen unverändert übernommen hat. Diese Anekdoten sind nur zum Teil Anekdoten der unmittelbaren Zeitgeschichte, dies sind vor allem jene, die sich mit dem preußischen Kriege beschäftigen oder mit Zuständen in Berlin (z.B. Charité-Vorfall, Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege, Anekdote aus dem letzten Kriege), es gibt aber etliche von der Gegenwartszeit abstrahierte oder in der Vergangenheit spielende Anekdoten, die wiederum oft moralische Erzählungen sind (z.B. Bach, 29 BA, Bl. 4. 30 BA, Bl. 8. 31 Ich verwende hier die moderne Orthografie ohne ‚Th‘, um anzudeuten, dass dieser Begriff von Tatsachen im Plural dem heutigen Verständnis des Begriffs entspricht. 32 Vgl. Antonia Eder: „Dynamik des Verdachts. Indizien in Kleists Hermannsschlacht und Familie Schroffenstein“, in: Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, hg. v. Hans-Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe, Göttingen 2013, S. 245– 273.

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Kapuziner-Anekdote, Diogenes, Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfes etc.). In diesem Sinne bilden die Anekdoten einen Gegenpol zu den laufenden Nachrichten über Laufendes und zur Temporalisierung der Information über bloße Tatsachen im Sinne von Spuren und Indizien. Sie erscheinen demgegenüber als unterhaltsame, witzige oder überraschende, für sich stehende Miniatur-Erzählungen. Zugleich aber kann man sehen, dass Kleists Anekdoten in erheblichem Maße selbst auf Probleme einer Epistemologie des Faktischen bezogen sind, insofern sie selbst entweder Prozeduren von Überprüfungen behaupteter oder bestrittener Faktizität ins Zentrum stellen oder gerade die Zeitknappheit, die eine solche Prüfung unmöglich macht. Diese Gruppe könnte man Anekdoten der Nachzeitigkeit nennen, in ihnen geht es um die nachträgliche Untersuchung von Fakten. Darüber hinaus gibt es Anekdoten der Gleichzeitigkeit – und vielleicht sogar solche der Vorzeitigkeit. In ihnen geht es um die Erzeugung und Deutung von Fakten in der Gegenwart und um die Reflexion von Gegenwart und Gegenwärtigkeit selbst. Diese verschiedenen Zeitlichkeiten müssten im Sinne einer Epistemologie von Anekdote und Faktizität eingehend untersucht werden. Zumindest einer dieser Anekdoten aus der letzten Gruppe möchte ich mich abschließend zuwenden, um zu zeigen, dass Kleist auch die abgeschlossenen Anekdoten in den Prozess der Berichterstattung von Fakten und Tatsachen über noch laufende Ereignisse einbezieht und sie somit insgesamt in die noch laufende Gegenwart und ihre Politik der Bilder und Deutungen einliest.

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VERLEGENE

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Der Text Der verlegene Magistrat. Eine Anekdote, abgedruckt im bereits zitierten vierten Blatt, ist die erste als solche auch betitelte Anekdote in den Abendblättern. Die Anekdote, die Kleist von Achim von Arnim übernommen hat,33 lautet in Kleists Version wie folgt: Der verlegene Magistrat. Eine Anekdote. Ein H…r Stadtsoldat hatte vor nicht gar langer Zeit, ohne Erlaubniß seines Offiziers, die Stadtwache verlassen. Nach einem uralten Gesetz steht auf ein Verbrechen dieser Art, das

33 Zur Vorlage von Arnim siehe: Reinhold Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin, Stuttgart 1901, S. 351–355.

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sonst der Streifereien des Adels wegen, von großer Wichtigkeit war, eigentlich der Tod. Gleichwohl, ohne das Gesetz, mit bestimmten Worten aufzuheben, ist davon seit vielen hundert Jahren kein Gebrauch mehr gemacht worden: dergestalt, daß statt auf die Todesstrafe zu erkennen, derjenige, der sich dessen schuldig macht, nach einem feststehenden Gebrauch, zu einer bloßen Geldstrafe, die er an die Stadtcasse zu erlegen hat, verurtheilt wird. Der besagte Kerl aber, der keine Lust haben mochte, das Geld zu entrichten, erklärte, zur großen Bestürzung des Magistrats: daß er, weil es ihm einmal zukomme, dem Gesetz gemäß, sterben wolle. Der Magistrat, der ein Mißverständniß vermuthete, schickte einen Deputirten an den Kerl ab, und ließ ihm bedeuten, um wieviel vortheilhafter es für ihn wäre, einige Gulden Geld zu erlegen, als arquebusirt zu werden. Doch der Kerl blieb dabei, daß er seines Lebens müde sei, und daß er sterben wolle: dergestalt, daß dem Magistrat, der kein Blut vergießen wollte, nichts übrig blieb, als dem Schelm die Geldstrafe zu erlassen, und noch froh war, als er erklärte, daß er, bei so bewandten Umständen am Leben bleiben wolle. rz.34

In dieser Anekdote geht es um eine dreifach gestaffelte Zeitlichkeit: Auf der ersten, ältesten Zeitstufe gibt es das uralte Gesetz, das die Todesstrafe vorsieht. Auf der zweiten Zeitstufe gibt es den Brauch der Geldstrafe, der seinerseits bereits sehr alt ist, denn von der Todesstrafe ist schon „seit vielen hundert Jahren“ kein Gebrauch mehr gemacht worden.35 Die dritte Zeitstufe schließlich ist die Gegenwart („vor nicht gar langer Zeit“), in der der Stadtsoldat straffrei ausgeht, weil er, wie er sagt, lieber sterben als zahlen und der verlegene Magistrat die Todesstrafe nicht vollziehen will. Es geht daher, wie Fritz Breithaupt für andere Anekdoten Kleists gezeigt hat, auch in diesem Beispiel darum, dass die Struktur der Institution (Gesetz und Gericht), ihr Anspruch auf überzeitliche Geltung, „selbst Gegenstand

34 BA, Bl. 4. 35 Desertion wurde in Hamburg im 18. Jahrhundert in der Tat mit einer Geldstrafe belegt, „die der Invalidenkasse zugute kommen sollte.“ Siehe hierzu Joachim Ehlers: Die Wehrverfassung der Stadt Hamburg im 17. und 18. Jahrhundert, Boppard 1966, S. 54. Der in der Anekdote verhandelte Fall betrifft allerdings nicht die Desertion im engeren Sinne, sondern das Verlassen des Postens der Stadtwache. Diese Soldaten unterstanden ebenfalls der Militärgerichtsbarkeit, aber bei diesem Delikt waren die Strafen erheblich dramatischer. In einem Fall aus dem Jahr 1750, in dem ein Soldat seinen Posten verlassen hatte, um nächtens zu zechen, plädierten drei der fünf Mitglieder des Oberkriegsgerichts für „Arkebusieren“, zwei für „Degradieren“. Der Delinquent wurde schließlich degradiert und mit zehnjähriger Zuchthausstrafe sowie anschließendem Stadtverweis bestraft. Siehe ebd., S. 67.

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eines Ereignisses wird.“36 Der Wechsel von der Anwendung des uralten Gesetzes zum alten Brauch der Substitution der Todesstrafe durch Geldstrafe wird im Text mit der Veränderung sozialer Verhältnisse erklärt. Zu Zeiten der Anwendung des uralten Gesetzes war dieses von großer Wichtigkeit wegen der Streifereien des Adels – ebenso wichtig, könnte man sagen, wie die Verteidigungsanlage, die Hamburg seit dem 16. und dann vor allem im 17. Jahrhundert für insgesamt mehr als 1,5 Millionen Mark erbaute.37 Die dritte Stufe müsste dann der Analogie nach ebenfalls durch soziale Veränderungen, und zwar solche der Gegenwart, erklärbar sein – es gibt aber in der Anekdote, außer der individuellen Singularität des Kerls, lieber sterben zu wollen, hierauf zunächst keinen Hinweis. Im selben Abendblatt gibt es aber auch eine Tagesbegebenheit, die den Text der Anekdote gleichsam in die unmittelbare Gegenwart der jetzt noch laufenden Ereignisse holt und sie sowohl auf die laufende Ermittlung in der Mordbrennersache als auch auf die Frage der im Text thematisierten Faktizität selbst bezieht. Sie steht zudem im unmittelbaren Bezug zur bereits zitierten Absichtserklärung der Abendblätter insgesamt, die „ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen zu berichtigen“, die ebenfalls im vierten Blatt zu lesen ist. Tagesbegebenheiten. Wie grundlos oft das Publicum beunruhigt wird, beweisʼt die, in der Stadt bereits bekannte Aussage eines kürzlich aufgefangenen Militär-Deserteurs: „er sei auf eine Bande Mordbrenner gestoßen, welche ihm Anerbietungen gemacht, sich in ihr aufnehmen zu lassen“ u.s.w. Dieser Kerl hat, dem Vernehmen nach, nunmehr gestanden, daß dieser ganze Bericht eine Erfindung war, um sich dadurch Befreiung von der verwirkten Strafe zu verschaffen.38

Einerseits geht es in diesem Text um die Fortsetzung der Berichterstattung über die Serie der Brandstiftungen. Im dritten Blatt war von einem „Vagabonden“, der laut Extrablatt des ersten Blattes verhaftet worden war, gesagt worden, er sei in Untersuchung gesetzt worden, eine Untersuchung mithin, die „ein für das Publicum beruhigendes Resultat geben [dürfte].“39 Zugleich war im dritten Blatt von einem Brandbrief berichtet worden, demgemäß Berlin „an 8 Ecken zugleich 36 Fritz Breithaupt: „Kleists Anekdoten und die Möglichkeit von Geschichte“, in: Literarische Trans-Rationalität, hg. v. Wolfgang Wirth und Jörn Wegner, Würzburg 2003, S. 335–351, hier S. 338. 37 Johann Friedrich Voigt: „Einige Nachrichten betr. den Bau der Festungswälle 16151625“, in: Mitteilungen des Vereins für Hamburger Geschichte 10 (1910), S. 468–471. 38 BA, Bl. 4. 39 BA, Bl. 3.

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angezündet werden“ sollte. Die Versicherung, das Publikum brauche „keinen unzweckmäßigen Besorgnissen Raum zu geben“,40 erreicht natürlich das genaue Gegenteil, worauf im vierten Blatt noch einmal explizit mit der Erklärung Bezug genommen wird, es sei nicht die Absicht, „Besorgnisse bei dem Publiko“41 zu erwecken. Darauf bezieht sich nun auch die Meldung von der ‚grundlosen Beunruhigung‘ angesichts eines Deserteurs, dessen Geständnis, zur Bande zu gehören, reine Erfindung gewesen sei.42 Diese Tagesbegebenheit steht nun – andererseits – in einer auffälligen Beziehung zur Anekdote vom verlegenen Magistrat. In beiden Geschichten geht es um einen Deserteur, der durch das, was er sagt, seiner Strafe als Deserteur entkommt bzw. entkommen will. In beiden Geschichten wiederum wird der Deserteur in seinem waghalsigen Verhalten ‚Kerl‘ genannt. Während nun der Deserteur der Anekdote tatsächlich straffrei ausgeht, so gelangt der Deserteur der Tagesbegebenheit durch die Behauptung, sein Bericht sei gelogen, hierzu vermutlich nicht. Wenn außerdem seine erste Aussage, sein Bericht über die Bande, eine Lüge war, vielleicht sogar eine durch die Berichterstattung der Abendblätter über die Mordbrennerbande selbst ermöglichte und angereizte Lüge, dann kann natürlich auch das zweite Geständnis, dass dies eine Lüge war, eine Lüge sein. Und wenn man dann von dieser Tagesbegebenheit auf die Anekdote zurückblickt, fragt man sich erst recht, ob womöglich auch dieser Deserteur einfach aus Kalkül, um der Geldstrafe zu entgehen, gelogen hat, als er sagte, er wolle sterben und sei seines Lebens müde. Es stellt sich die Frage, ob er also womöglich von Anfang an auf Straffreiheit spekuliert hat. Dass er nach strafloser Freilassung doch gerne weiterlebt, deutet zumindest darauf hin, dass seine Lebensmüdigkeit nicht so fundamental ist wie die des Marquis in Das Bettelweib von Locarno.43 Die gesuchte soziale Veränderung in der Gegenwart, die den Übergang von der Geldstrafe zur Straffreiheit plausibilisieren könnte, läge also nicht nur in einem Magistrat, der kein Blut vergießen möchte, sondern zugleich in einem Kerl, der dies voraussieht und es bereits in sein eigenes Handeln einrechnet oder doch zumindest testet. Sie läge in der durch diesen Test reflexiv gemachten Zeitlichkeit

40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. zur Beziehung von Faktum und Gerücht und dem Verhältnis des Bettelweibs von Locarno zu den Berliner Abendblättern: Johannes F. Lehmann: „Geste ohne Mitleid. Zur Rolle der vergessenen Marquise in Kleists ‚Das Bettelweib von Locarno‘“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 16 (2006), S. 57–76.

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selbst,44 in der Forcierung der Reflexion der temporalen Differenz zwischen dem uralten Gesetz und dem alten Brauch, deren merkwürdige Gleichzeitigkeit aus buchstäblicher Geltung und gewohnheitsmäßiger Nicht-Aktualisierung in der Gegenwart zur Erscheinung gebracht wird. Das Beharren des Kerls auf dem Tod als gesetzmäßige Strafe adressiert die Gegenwärtigkeit des Magistrats in seiner Abständigkeit zum ursprünglichen Gesetz. Es testet gleichsam die Gegenwart im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Vergangenheit und im Hinblick auf ihre Fundierung in uraltem Gesetz und altem Brauch. Ursprünglich war die rechtmäßige Strafe für das Vergehen der Tod. Diese wurde durch eine Geldstrafe ersetzt, ohne dass aber das Gesetz geändert wurde. Die Geldzahlung ist also nicht eine andere, mildere gesetzmäßige Strafe, sondern fungiert in ihrem Bezug auf die eigentliche Strafe als Loskauf, da das Gesetz nicht abgeschafft wurde. Genau diese Logik formuliert der Magistrat, wenn er dem Kerl durch einen Deputierten ausrichten lässt, „wieviel vortheilhafter es für ihn wäre, einige Gulden Geld zu erlegen, als arquebusirt zu werden.“45 Diesen hier noch einmal aufgerufenen Tausch von Lebensverlust und Geldzahlung versucht der Kerl mit seiner Forderung gleichsam in umgekehrter Richtung zu machen und testet dabei, ob dem zu zahlenden Geld wirklich der Tod als Gegenwert korrespondiert. Das Ergebnis ist aber, dass das Geld gar nicht tatsächlich die Funktion des Freikaufs hat, dass ihm gar keine Todesstrafe mehr als durch Loskauf abzuwehrende Drohung zugrunde liegt, dass dieses Geld also ein Zeichen ohne Referent ist und damit nur Schein. Da der Tod schon längst nicht mehr wirklich droht, ist auch die Geldstrafe – als Loskauf von der Todesstrafe – eigentlich grundlos. Der Magistrat muss Farbe bekennen (die Schamesröte der Verlegenheit), der Kerl zwingt den Magistrat zum (performativen) Eingeständnis, dass die Gegenwart tatsächlich nicht mehr in Bezug zur Vergangenheit von Gesetz und Brauch steht. Einmal als Handlungsoption in der Welt, ist von nun an – und wiederum ohne jede Änderung des Gesetzes – auch die Geldstrafe de facto abgeschafft, da nun jeder nach dem Vorbild des Kerls die Erschießung verlangen und wissen kann, dass er daraufhin weder erschossen noch geschröpft wird. Es geht in der 44 Vgl. Peter Fenves: „Anecdote and Authority. Towards Kleist’s Last Language“, in: Arresting Language. From Leibniz to Benjamin 2001, S. 152–173, hier S. 160. Fenves liest die Anekdote vom verlegenen Magistrat ebenfalls im Zusammenhang mit der Tagesbegebenheit des vierten Blattes. Dabei stellt er das Verhältnis von Anekdote und Gesetz ins Zentrum, das als Frage nach dem Bezug des (alten) Gesetzes auf den jeweils neuen Fall immer auch das Problem der Neuigkeit adressiert, das Autoritäten, die sich auf die Vergangenheit berufen, in Verlegenheit bringt und das Kleist zum Programm seiner Zeitung macht. 45 BA, Bl. 4.

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Anekdote somit um die Erzwingung der Reflexion einer Gegenwart, die sich selbst nicht gegenwärtig ist und die durch die Gegenwärtigkeit des lebensmüden Soldaten zur Selbstreflexion gezwungen wird. Damit ist die Anekdote selbst eine Geschichte über die Gegenwart als Zeit jenseits von uraltem Gesetz und Brauch und über eine Form von Gegenwärtigkeit im Handeln, die solche Gegenwarts- und Selbstreflexion paradoxerweise ermöglicht. Es ist ja genauso gut möglich, dass der Deserteur wirklich jeweils ganz gegenwärtig ist und er zunächst wirklich lieber sterben und nach der verweigerten Todesstrafe und der erlassenen Geldstrafe wirklich wieder leben will – es geht um das Sein im gegenwärtigen Augenblick. Das verbindet ihn auch mit dem ebenfalls ‚Kerl‘ genannten Soldaten aus der Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege. Auch hier findet das unerwartete und erstaunliche Handeln des Kerls sozusagen jenseits von Gesetz und Brauch statt. Er reitet, als ob das Hohenlohische Korps hinter ihm her wäre, allein auf drei französische Reiter zu und eben dies, das Imgegenwärtigen-Augenblick-Sein, das zugleich jede Erwartbarkeit innerhalb eines zeitlichen Zusammenhangs sprengt, entsetzt die französischen Reiter aus ihrer Gegenwart des Handelns, setzt sie gleichsam in tödliche Verlegenheit, indem sie – wider ihre Gewohnheit – einen Moment zu lange zögern, da sie das bloße Faktum eines auf sie allein zustürmenden Preußen nicht unmittelbar in eine plausible Geschichte bringen können.46 Man kann nun abschließend noch einmal von der Anekdote zur Tagesbegebenheit zurückkehren und angesichts der – laut Anekdote – angeblich seit Jahrhunderten ausgesetzten Todesstrafe fragen, welcher Strafe der Berliner Deserteur durch die vorgeblichen Auskünfte über die Brandstifterbande eigentlich entgehen wollte? Das führt dann in die unmittelbare Gegenwart der preußischen Militärreformen, die 1808 in Kraft traten und insbesondere die Prügel- und Leibesstrafen abschafften, wie sie in der Anekdote Der Branntweinsäufer und die Berliner Glocken thematisch sind.47 Während in der Anekdote vom verlegenen Magistrat der 46 Vgl. David Wellbery: „Kleists Poetik der Intensität“, in: Kleist revisited, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und Friederike Knüpling, München 2014, S. 27–46. Wellbery beschreibt Kleists motivische und sprachliche Insistenz auf die „Aktualität“ des gegenwärtigen Augenblicks, die „sprengende Energie der Gegenwart“ und die „Offenheit des Jetzt“ in überzeugender Weise als Kleists Poetik der Intensität. Intensität sei die Form, die das Göttliche oder Mythische (etwa das plötzliche Auftreten des Kerls in der „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“) bei Kleist annehme. Kleists Poetik des Jetzt und seine Insistenz auf Gegenwart und Gegenwärtigkeit gehört aber darüber hinaus in den Kontext der Verzeitlichung der Gegenwart um 1800. 47 Breithaupt: „Kleists Anekdoten“ (wie Anm. 36), S. 335–338. Vgl. zu den Reformen der Militärstrafen in Preußen: Heinz G. Nitschke: Die Preußischen Militärreformen 1807-

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Brauch an die Stelle der Gesetzesanwendung tritt, das Gesetz aber nicht geändert wird, wird in Kleists unmittelbarer Gegenwart das Gesetz sehr wohl geändert – im Hinblick auf die politischen Ziele der unmittelbaren napoleonischen Gegenwart. Dass es in Hamburg selbst wiederum der Erzfeind Napoleon ist, der im Dezember 1810 für die „Departemente der Elbe- und Weser-Mündungen und der Ober-Ems“ neue Gesetze erlässt (und dabei auch schärfere Strafen für all diejenigen vorsieht, die die gesetzliche Strafe für Deserteure nicht anwenden),48 konnte Kleist im Oktober 1810 wahrscheinlich gar nicht wissen. In der Anekdote jedenfalls geht es nicht mehr allein darum, ob sie wahr oder falsch ist, nicht mehr nur darum, ob sie die eigene Zeit korrekt dokumentiert, sondern darum, die Zeit der Gegenwart als Moment der Entscheidung zu reflektieren. Betrachtet man Anekdote und Tagesbegebenheit zusammen, ergibt sich schließlich eine letzte Beobachtung: Zwischen beiden Texten besteht ein Verhältnis der Verkehrung zwischen Strafe und jeweiligem Ersatz. Während der Kerl der Anekdote sich durch den (wirklichen oder vorgeblichen) Einsatz seines Lebens der Geldstrafe entzieht, so will der Berliner Deserteur seiner nicht genannten Militärstrafe (vermutlich Haft oder doch Degradierung in die zweite Klasse) durch die Preisgabe von Informationen über Tatsachen entkommen, hier allerdings, wie es im Polizeibericht heißt, erzählt er nur Märchen. Kleist wiederum, der entlaufene preußische Offizier, tauscht mittels Polizeinachrichten und Anekdoten, die er zirkulieren lässt, diese in Form der verkauften Abendblätter wieder zurück in Geld – auch in diesem Sinne bilden Anekdote und Tagesbegebenheit zusammen einen Meta-Text der Abendblätter selbst.49

1813. Die Tätigkeit der Militärreorganisationskommission und ihre Auswirkungen auf die preußische Armee, Berlin 1983, S. 127–133. 48 Sammlung von Gesetzen, Decreten, und Gutachten des Staatsraths, welche in den Departementen der Elbe- und Weser-Mündungen und der Ober-Ems durch die Sorge der, durch die Kraft des Decrets vom 18ten December 1810 zu Hamburg errichteten Regierungs-Commission verkündet worden sind, Paris 1811. Dort heißt die Überschrift einer Gruppe von aus Frankreich übernommenen Bestimmungen: „Gesetz, betreffend die Vollziehung der Gesetze, welche auf die Deserteurs und jene welche Dienste zu nehmen schuldig sind Bezug haben.“ Ebd., S. 55. Vgl. zum Kontext Jan Jelle Kähler: Französisches Zivilrecht und französische Justizverfassung in den Hansestädten Hamburg, Lübeck und Bremen (1806–1815), Frankfurt a. M. 2007. 49 Siehe hierzu die grundlegende Arbeit von Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003, bes. S. 211–219.

Exemplum und Novelle Überlegungen zu einer Mängelgattung bei Cervantes und Kleist P ABLO V ALDIVIA O ROZCO

P ARADIGMA N OVELLE Unter dem Gattungsnamen der Novelle lassen sich mit Boccaccio, Cervantes und Kleist illustre Autoren in eine Konstellation bringen. In gattungstheoretischer Hinsicht aber steht diese Konstellation nicht ganz zu Unrecht im Verdacht, sich lediglich einem wenig aussagekräftigen Gattungsnamen zu verdanken. Die Novellen der Autoren unterscheiden sich in Stil oder Länge zu sehr, um ein formales Gattungsprinzip erkennen zu lassen. So prominent die Autornamen also auch sein mögen – das Korpus der Novellen scheint keine „tragfähige Grundlage für die Beschreibung der Gattung zu schaffen.“1 Wozu also an einem Gattungsnamen festhalten und einer Gattungsgeschichte nachgehen, wenn am Ende „Novelle ist, was Novelle heißt“2? Eine naheliegende Konsequenz aus dieser Ausgangslage besteht darin, sich auf die wenigen prominenten Motive der Novellentradition zu konzentrieren. Statt der Novelle eine Gattungstheorie und -geschichte aufzuzwängen, empfiehlt sich, die Novellen auf der Grundlage eines theoretisch weniger belasteten „Intertextualitätsparadigmas“3 zu gruppieren. Kleists Novellen etwa stünden aufgrund moti1

Garindo Miñabres: Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie, Würzburg 2009, S. 13.

2

Werner Strube: „Die komplexe Logik des Begriffs der Novelle“, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 32 (1982), S. 379–386, hier S. 379.

3

Claudia Liebrand: „Pater semper incertus est. Kleists ‚Marquise von O ...‘ mit Boccaccio gelesen“, in: KJb 2000, S. 46–60, hier S. 49. Für die Konstellation Cervantes/Kleist ist die Die Marquise von O ... das klassische Beispiel für eine motivische Nähe

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vischer Anleihen legitimerweise in der Tradition eines Boccaccio oder Cervantes. Und wie Claudia Liebrand in ihrer auf Boccaccio Bezug nehmenden Lektüre der Marquise von O… darlegt, schließt ein solches Verfahren nicht aus, anhand bestimmter Motive gattungstheoretische Überlegungen zu formulieren. So erhellend dies im Einzelnen auch sein mag: fraglich bleibt, ob diesen motivischen Lektüren der Status einer Gattungstheorie im traditionellen Sinne zugesprochen werden sollte. Eine zweite und das „Intertextualitätsparadigma“ gewissermaßen noch weitertreibende Möglichkeit, die Novelle gattungstheoretisch zu rehabilitieren, besteht darin, den Gattungsbegriff neu zu bedenken und so die Gattungstheorie für die Herausforderung einer höchst heterogenen Gattung zu öffnen. Es ist durchaus denkbar, dass die Gattung der Novelle nur deshalb als ein Nominalismus erscheint, weil speziell die literarische Gattungstheorie nach wie vor von einem strukturellen Denken bestimmt ist, wie es exemplarisch in der Theorie der Tragödie zum Ausdruck kommt.4 Diese lässt keinen Raum für eine Gattung, die auf formaler Ebene keine verbindlichen Strukturprinzipien aufweist. Gelänge es jedoch, einen auf einem anderen Prinzip basierenden Gattungsbegriff zu formulieren, wären Kleists Novellen nicht nur mit der – gattungstheoretisch gesehen – Verlegenheitslösung der Motivkontinuität in eine Beziehung zu Cervantes (bzw. Boccaccio) zu stellen. Dass eine Gattung anders als strukturell bzw. als Strukturproblem gedacht werden kann, ist in vielen Ansätzen der Novellentheorie zumindest angedacht. Hannelore Schlaffer etwa hat in ihrer Poetik der Novelle wertvolle Hinweise für eine solche andere Gattungslogik formuliert, wenn sie die implizite Poetik und Geschichte der Novelle als eine Variation über den „einen Archetyp“5 des Decameron definiert: „Die Novelle ist die Gattung, die nach seinem [Boccaccio, PV] Vorbild, nicht aber nach einer festgeschriebenen Regel entstanden ist.“6 Eine „Nachahmung“, die „willkürlich, okkasionell und daher schwer nachvollziehbar [verläuft]“,7 produziert eine zwar ungeregelte, aber deshalb nicht beliebige Gattungsgeschichte. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, die Figur des Archetyps als eine Alternative zu einem (tiefen-)strukturellen Gattungsbegriff zu be-

zwischen diesen beiden Autoren. Vgl. hierzu: Gerhard Dünnhaupt: „Kleists Marquise von O. and its Literary Debt to Cervantes“, in: Arcadia 10 (1975), S. 147–157. 4

Vgl. die Einleitung von Andrea Allerkamp, Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck.

5

Ebd.

6

Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle, Stuttgart, Weimar 1993, S. 6.

7

Ebd., S. 7.

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greifen.8 Wenn Schlaffer zufolge Boccaccio ein (wie ich ergänzen würde: archetypisches) Problem des Erzählens mit der Gattung der Novelle verbindet, ließe sich dies methodologisch dahingehend präzisieren, dass eine Gattung und ihre Geschichte auch für ein (archetypisches) Problem stehen können und eben nicht nur für ein Strukturprinzip. Die Geschichte der Novelle, die das Neue schon in ihrem Namen trägt, wäre dementsprechend nicht Variation der einen Urstruktur, sondern – wie hier an der Konstellation Cervantes und Kleist aufgezeigt werden soll – Beleg für die selbst nicht regelhaften Metamorphosen eines grundsätzlichen Strukturproblems. Was aber begründet das Strukturproblem der Novelle und inwiefern ist es archetypisch? Einen traditionellen Begriff der Novellenforschung rehabilitierend, bietet sich das ‚Exemplum‘ an, um dieses konstitutiv-archetypische Strukturproblem der Novellenerzählung zu präzisieren. Die Exempla rücken das gattungstheoretisch, gattungshistorisch und auch moralisch höchst bedeutsame Problem des Singulären in den Vordergrund. Dies wusste nicht nur Cervantes, der seine Novellen mit feiner Ironie exemplarische genannt hat, sondern auch Kleist, der seine Novellen unter dem Titel Moralische Erzählungen versammelt wissen wollte und der in diesen kaum etwas so sehr verdeckt hat wie deren moralische Exemplarität. Das Exemplum, das gerade nicht exemplarisch ist, ist schon in einem Gründungstext9 zur (romanistischen) Novellentheorie Gegenstand. In der Novelle, so Walter Pabst, begehrt das Erzählen gegen seine normpoetische und moralische Vereinnahmung auf: „Autorität der Schaffenden [steht] gegen ‚Gesetz‘ […].“10 Dass die Novelle eine Gattung ist, die sich wie kaum eine andere gegen die Gattungstheorie auflehnt, zeige sich am Verhältnis von Rahmenhandlung und Erzählung. Nur einer schulmeisterlichen Lektüre, die dem im Rahmen Behaupteten Glauben schenkt, könne entgehen, dass die Erzählung sich antinomisch zu diesen Behauptungen verhalte. Die ingeniöse Lektüre hingegen erkenne sogleich, wie die Exempla diese Pseudo-Poetiken und Pseudo-Moral unterwandern. Das Exemplum der Novelle ist eben nicht der veranschaulichende Fall des allgemeinen moralischen Diskurses. Die bloße Existenz einer Rahmeninstanz ist deshalb weniger 8

Dieses methodologische Potenzial des Archetypenbegriffs ist in Schlaffers Entwurf allenfalls angedeutet, weil sie sowohl bei Cervantes (den sie als Alternative zu Boccaccio nennt) als auch bei Kleist (dessen Novellen sie allein auf Boccaccio bezieht) vor allem darum bemüht ist, eindeutige Bezugnahmen auf Boccaccio auszumachen. Die Figur des Archetyps jedoch verweist methodologisch auf weit mehr als das Nachleben des einen archetypischen Modells.

9

Walter Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Hamburg 1953.

10 Ebd., S. 1.

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Rückversicherung einer Moral, sondern belegt vielmehr, dass das, was die einzelne Erzählung zu erkennen gibt, zu wenig oder zu niedrig ist, um eine Gesetzeshaftigkeit preiszugeben. Es bedarf der Zu- und Nachsätze, damit das jeweilige Exemplum ein Gesetz affirmieren kann. Dieses prekäre Verhältnis kann dazu führen, dass auch die im Rahmen vorgetragene Deutung zweifelhaft und selbst zum problematischen Einzelfall wird. Die deutende Instanz kann moralisch verdächtig sein und falsche Fährten legen.11 Das prekäre Verhältnis zum Gesetz erweist sich als ein ebenso bestimmendes wie archetypisches Problem der Novellenerzählung. Pabsts These ließe sich in dem Sinne verallgemeinern, dass die Antinomie von Rahmenhandlung und Erzählung nur eine Möglichkeit ist, um das Verhältnis des Singulären zum Gesetz zu problematisieren. Die vor allem in den frühneuzeitlichen Novellen anzutreffende Rahmenhandlung ist aber deshalb kein Gattungsmerkmal, sondern Ausdruck eines konstitutiven Problems, das sich auch anders artikulieren kann. Dafür spricht schon der Schwund der Rahmenhandlung – Cervantesʼ Novellen werden von keiner Rahmenhandlung, sondern nur von einem Vorwort zusammengehalten, und die Kleist’schen sind nicht einmal mit einem Vorwort oder einer begründenden Vorrede versehen worden. Dass es sich hierbei nur um einen oberflächlichen Schwund handelt, der das Problem nicht verschwinden lässt, wird einsichtig, wenn man unter Rahmung in einem abstrakteren Sinne all jene metatextuellen und extradiegetischen Einlassungen versteht, die das Exemplum in der Novellenerzählung begleiten.12 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, besteht deren hauptsächliche Funktion darin, die problematische, weil mangelhafte Beziehung des Erzählens zum Gesetz zu demonstrieren. Die Schwierigkeit, über das Singuläre zu urteilen, verweist insofern auf ein strukturelles Problem, als das singuläre Exemplum nicht bestimmt genug ist, um mit ihm eine Regelhaftigkeit zu entwerfen. Wenn sich die ‚wilden Geschichten‘ der Novelle einem allgemeinen Gesetz entziehen, dann ist dies noch nicht ein Plädoyer für Gesetzlosigkeit. Im Verlauf von Kleists Erdbeben in Chili wird scheinbar jedes Gesetz aufgelöst, nur um am Ende wieder eingesetzt zu werden. Es wird also geradezu verstörend vorgeführt, dass die Novelle weniger die Auflösung thematisiert als die Unverfügbarkeit und Unvermittelbarkeit des Gesetzes, wenn man

11 Im Decameron etwa werden – in einem denkbar drastischen Kontrast zu der in der Rahmenhandlung wütenden Pest – die Novellen allesamt aus einer geschützten Position heraus und zur oft erotisch aufgeladenen, in vielerlei Hinsicht provozierenden, frivolen Unterhaltung erzählt. 12 Diese Erweiterung wäre durchaus im Sinne von Pabst, sofern die Antinomie „kein Gesetz“ oder gar ein „Gattungsmerkmal“ (Ebd., S. 2.) ist.

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es grundsätzlich vom Singulären her bedenkt.13 Hierin liegt die gattungstheoretische Provokation der Novelle. Damit nämlich steht die Novellenerzählung in direkter Opposition zum aristotelischen mythos. Dieser steht für eine gelungene Vermittlung mit dem Gesetz. In ihm wird erzählt, wie es sein sollte, und nicht umsonst autorisiert sich die dichterische Darstellung in der aristotelischen Poetik als das Besondere des Allgemeinen. Narratologisch liegen demzufolge zwei Erzählmodelle und damit zwei unterschiedliche Gattungslogiken der Erzählung vor: Entweder man begreift eine Narration im Sinne des aristotelischen mythos als eine in sich geschlossene und vollständige Struktur, die einer strukturalen Analyse14 verfügbar ist; oder aber die Erzählung wird als ein Akt verstanden.15 Ein Akt wiederum muss weder eine geschlossene Struktur aufweisen noch die Konkretion eines Allgemeinen sein. Der Erzählakt affirmiert in seiner Performanz nicht eine Ordnung des Besonderen und Allgemeinen; der besondere Akt bedarf nicht notwendigerweise eines allgemeinen Gesetzes. Er mag im Extremfall sein eigenes Gesetz sein. In Anlehnung an Roland Barthes ließe sich behaupten, dass die Novelle mit ihren Exempla einen Erzählakt inszeniert, der nichts weniger als die „Gesamtheit von Vorschriften, nach denen eine Erzählung aufgenommen wird“,16 infrage stellt. Das Gesetz erscheint im Falle der Novellenerzählung lediglich als das Versprechen einer Gesetzeshaftigkeit, die – und an dieser Stelle zeigt sich, inwiefern der Begriff des Archetyps eine Alternative zum tiefenstrukturellen Denken darstellt – im Konkreten zwar adressiert wird, aber nicht entzifferbar ist. Das Motiv des Archetyps ermöglicht schließlich auch einen anderen Blick auf die Geschichte dieser Gattung. Wenn das Verhältnis zwischen singulärem Exemplum und allgemeinem Gesetz das archetypische Problem der Novelle darstellt, wäre konsequenterweise auch die besonders im deutschsprachigen Raum etablierte These zu revidieren, wonach der Vorläufer der modernen Novelle die 13 Es überrascht daher nicht, dass die traditionelle Novellenforschung die Kontingenz zum Thema der Novelle erklärt hat. So etwa Karlheinz Stierle: „Three Moments in the Crisis of Exemplarity: Boccaccio-Petrarch, Montaigne, and Cervantes“, in: Journal of the History of Ideas 59/4 (Oktober 1998), S. 581–595. Wenn ich im Folgenden diesen Begriff vermeide, dann weil das Erzählproblem der Novelle präziser als Mangel beschrieben ist. Und nicht überraschend sind in den nachfolgenden Lektüren zwei Mangelmetaphern bestimmend: Cervantes‘ Verkrüppelung und Kleists Erscheinungen stehen beide für ein nur begrenzt einsehbares Exemplum. 14 Vgl. Roland Barthes: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier S. 130. 15 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München 1994. 16 Barthes: „Einführung“, (wie Anm. 14), S. 130.

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mittelalterliche Gattung des Exemplum sei, die im Gegensatz zu Ersterer von einem einfachen und lehrreichen Beispiel kündet.17 Die Novelle ist in der europäischen Neuzeit einer der prominenten Schauplätze, in der ein grundsätzlicher, aber prinzipiell auch anders formulierbarer Konflikt zum Ausdruck kommt: Wie können das Singuläre der Erzählung und das Allgemeine des Gesetzes18 sich überhaupt zueinander verhalten?19

C ERVANTES : D AS

VERSTÜMMELTE

E XEMPLUM

Die Art und Weise, wie Cervantes sich der Novelle als Gattung annimmt, steht paradigmatisch für eine nicht-kontinuierliche, aber auch nicht beliebige Gattungsgeschichte. Zwar trägt sich der Spanier in eine Tradition ein, behauptet dabei aber, etwas ganz Neues zu tun, indem er auf nunmehr spanische Weise Novellen schreibt. Eine erste offenkundige Veränderung gegenüber Boccaccios Novellen stellt der Schwund des Rahmens dar. Diese Veränderung jedoch bedeutet nicht, dass die im Rahmen manifeste und oftmals zweifelhafte Außenposition kein Problem mehr für die Novellen des Spaniers darstellt. Vielmehr ist diese Problematik nunmehr in die Novelle selbst bzw. ihre Exempla eingelassen. Das Vorwort zu den Novelas ejemplares, das den exemplarischen Status der Novellen erläutern soll, unterstreicht, wie sehr auch in diesen Novellen das

17 Diese These beruft sich nicht vollkommen zu Unrecht auf einen frühen Aufsatz von Karlheinz Stierle zum Verhältnis von Geschichte und Exemplum. Vgl. Karlheinz Stierle: „Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte“, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. v. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 347−375. Stierle hat diese genetische Erzählung etwa 20 Jahre später relativiert, wenn er darlegt, dass die italienische Renaissance sowohl ein problematisches als auch ein einfaches Exemplum kennt und somit beide Formen koexistieren können. Vgl. dazu: Stierle: „Three Moments in the Crisis of Exemplarity“ (wie Anm. 13). 18 Vgl. hierzu: Jacques Derrida: „Préjugés – Devant la loi“, in: La faculté de juger, Paris 1985, S. 87–140. 19 Für eine eher logische als historische Differenz spricht, dass schon die Antike die Herausforderung des Besonderen in der Rhetorik verhandelt. Ein Topos ist der Disput darüber, ob die Rhetorik lediglich anschaulich vermitteln soll oder ob sie nicht im Grunde eine (oft sophistisch genannte) Darstellungskunst ist, die allein auf partikulare Erfordernisse und weniger auf allgemeine Gesetze zurückzuführen ist. Vgl. hierzu: John Poulakos: Sophistical Rhetoric in Classical Greece, South Carolina 1995.

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Verhältnis von Exemplum und deutender Rede zum Problem wird. Die Exemplarität – und das ist schon ein Hinweis auf die Schwierigkeit der Deutung – wird nicht direkt, sondern über einen Umweg erörtert. Im Zentrum steht die Frage, wie der Autor Cervantes sich besser, mithin exemplarischer hätte darstellen können als im Vorwort des Quijote. Die Diskussion des Exemplarischen erfolgt am Exemplum Cervantes. Ideal wäre ein gemaltes Porträt mit folgender Bildunterschrift gewesen: Er heißt, wie allgemein bekannt, Miguel de Cervantes Saavedra, war viele Jahre Soldat und fünf und ein halbes in Gefangenschaft, wo er lernte, Geduld zu haben auch im Unglück. In der Seeschlacht von Lepanto wurde ihm die linke Hand von einer Musketenkugel unbrauchbar gemacht; diese Verstümmelung erachtet er trotz ihrer scheinbaren Häßlichkeit für schön, weil er sie davontrug aus der denkwürdigsten und erhabensten Begebenheit, die verflossene Jahrhunderte nie zu sehen bekamen und zukünftige nicht zu sehen erwarten dürfen, als er unter den siegreichen Fahnen kämpfte, die der Sohn Karls V. anführte, der Sohn des Kriegsherrn rühmlichen Angedenkens, der stets gleich dem Blitze über seine Feinde herfiel.20

Diese Selbstbeschreibung ist nicht nur eine implizite Leseanleitung für die Novellen, sondern inszeniert schon an dieser Überlagerung von Bildbeschreibung und Kommentierung jene problematische Beziehung von Text und Metatext, von Exemplum und Deutung, die für das Strukturproblem der Novellenerzählung charakteristisch ist. Die Leseanleitung, die wie ein Argumentum fungiert, unterläuft die eigentliche Aufgabe der Bildunterschrift: die Evidenz des so detailgetreuen Porträts wird geradezu umgedeutet. Nachträglich wird scheinbar Hässliches als schön (bzw. exemplarisch) beschrieben. Gerade weil das hier in einem ganz literalen Sinne verstümmelte Exemplum nicht unmittelbar als Schönheit erkennbar ist, bedarf es einer weiteren und metatextuellen Erzählung, um es ‚richtig‘ zu deuten. Die sodann folgende Minimaldefinition des Exemplarischen betont ihrerseits, dass die Verstümmelung zum Paradigma des Exemplarischen21 wird:

20 Miguel de Cervantes Saavedra: „An den Leser“, in: Ders.: Exemplarische Novellen. Die Mühen und Leiden des Persiles und der Sigismunda, übers. v. Anton M. Rothbauer, Stuttgart 1964, S. 88. 21 Im Vorwort wird noch das Argument angeführt, dass diese Novellen insofern exemplarische sind, als sie exemplarisch spanische Novellen sind und nicht einfach italienische Vorgaben übersetzen. Ich kann hier nur andeuten, dass sich schon bei Cervantes die Geschichte der Novelle keineswegs als eine schlichte Gattungsgeschichte artikuliert, sondern auch die höchst politische Frage stellt, wer aus welchen Gründen und für wen exemplarisch sein kann.

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Ich habe diese Novellen ‚Exemplarische‘ genannt, weil, wenn du sie recht bedenkst, keine einzige darunter ist, der sich nicht irgendeine nützliche Lehre abgewinnen ließe. Müßte ich nicht befürchten, allzu weitschweifig zu werden, dann könnte ich dir sogar noch zeigen, welche schmackhafte Nutzanwendung [sabroso y honesto fruto] man aus allen und aus jeder einzelnen ziehen kann.22

Es wird nicht gesagt, dass man einen moralischen Nutzen aus diesen Novellen ziehen kann, sondern dass man es nicht nicht kann.23 Man muss nur dazu imstande sein, eine „scheinbare Hässlichkeit“ nachträglich und kurzerhand zu einer Schönheit zu erklären. Ein solches Verfahren ist aufwändig und weitschweifig. Denn wenn eine Erzählung nur durch eine weitere gedeutet werden kann, da nur so die Deutung zu der nutzbringenden Umdeutung gelangen kann, dann liegt hier ein potenziell unendliches Verfahren vor. Das liegt in der Struktur, genauer: der verstümmelten Struktur der Exempla begründet. Die offenbar anti-aristotelischen Novellen nämlich „haben […] weder Fuß, noch Kopf, noch Eingeweide oder sonst dergleichen.“24 Solche Exempla sind keine Elemente, die einer Ordnung folgen oder diese zumindest antizipieren. Sie sind in einem sehr grundsätzlichen Sinne verstümmelte Erscheinung. Das erklärt auch die fehlenden Eingeweide: So wie es keine vollwertige Struktur gibt, gibt es auch kein Innen, in dem das Wahre hinter dem Schein zu lesen wäre. Dessen ungeachtet sollen sie „so sehr mit der Vernunft und christlichen Anschauung übereinstimmen, daß sie weder den oberflächlichen noch den nachdenklichen Leser auf üble Gedanken bringen können.“25 Wie aber können solche Exempla mit der Vernunft und der Moral übereinstimmen? Im spanischen Originaltext ist die Rede von einer Vermittlung („medidos“); dies ist die eigentliche Herausforderung und Prüfung. Klar ist, dass eine einfache Zuordnung – und das wäre der Weg einer formalen Gattungslogik bzw. formalen Moral, die ihre Exempla aufgrund spezifischer Merkmale eindeutig als Element 22 Ebd., S 89. Die Übersetzung ist mit dem „weil“ etwas überexplizit. Im spanischen Original ist die Begründung weitaus unbestimmter gehalten. Genauer müsste es lauten: „Ich habe diese Novellen ‚Exemplarische‘ genannt, und wenn du sie recht bedenkst […].“ 23 Insofern wäre Stephen Boyds Deutung zu widersprechen, wonach in diesem Statement „nothing surprising“ vorzufinden sei. Die doppelte Negation ist nicht nur bemerkenswert, sondern durchaus unüblich. Vgl. Stephen Boyd: „Cevantes’s [sic] exemplary Prologue“, in: A Companion to Cervantes’s Novelas ejemplares, hg. v. dems., Woodbridge 2005, S. 53. 24 Cervantes: „An den Leser“ (wie Anm. 20), S. 51. 25 Ebd., S. 88.

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einer Gattung zuordnen und deuten kann – ausgeschlossen ist. Stattdessen soll die Lektüre des Exemplarischen entweder auf der Ebene der Erzählung selbst verharren – das wäre die oberflächlich-unachtsame Lektüre, die im Grunde nur Einzelfälle, aber kein Gesetz jenseits des Falles kennt. Oder aber – und das wäre das Prinzip der zuvor am Porträt vorgeführten aufmerksamen Lektüre – die Lektüre deutet die hässlichen Details um. Dieses Verfahren mag zwar Schönheit ausfindig machen, wo man sie nicht vermutet, entzieht jedoch dem Exemplum sein vermittelnd-veranschaulichendes Potenzial. Die Verstümmelung des Exemplarischen erweist sich in der Tat als eine Art metaliterarisches Leitmotiv, das die unzureichende Aussagekraft des Phänomenalen und auch die Schwierigkeit, es allein aus sich heraus zu deuten, allegorisiert. Am Ende des Vorworts taucht nicht überraschend erneut das Motiv der abgeschlagenen Hand auf. Sie ist hier aber nicht mehr verborgene Schönheit, sondern potenzielles Schandmal: Eines möchte ich wohl wagen, dir noch mitzugeben: sollte ich irgendwie dahinterkommen, daß die Lektüre [lección, PV] dieser Novellen auch nur einen Leser zu bösen Begierden oder Gedanken verleitet, dann wollte ich mir eher die Hand abschlagen, mit der sie geschrieben wurden, als sie der Öffentlichkeit zu übergeben.26

Die ironische Pointe, wonach der einarmige Cervantes sich nicht die andere Hand abhacken kann, liegt sprichwörtlich auf der Hand und verweist auf eine Nachträglichkeit und Vergeblichkeit, die sowohl auf die Lektüre als auch auf die Belehrung (beide im Homonym „lección“ aufgerufen) bezogen werden können. Der am Ende des Vorwortes betonte „geheime Vorzug“ [„misterio […] escondido“] der Novellen liegt deshalb nicht in einem positiv zu entschlüsselnden Geheimnis begründet – es handelt sich ja um Novellen ohne Eingeweide –, sondern in dem Verfahren der nachträglichen Deutung, die das Hässliche verschwinden lassen kann. Das Ende der Novelle El celoso extremeño illustriert dies besonders eindringlich. Zunächst scheint diese Novelle eine einfache Lehrparabel zu sein, deren Moral lautet, dass im Leben nicht alles und schon gar nicht der freie Wille Anderer kontrolliert werden kann. Doch gerade bei der Vermittlung dieser Moral meldet sich unvermittelt eine Erzählinstanz in der Ich-Form zu Wort und stellt die Möglichkeit, einen solchen Lehrspruch aus diesem Exemplum zu ziehen, performativ infrage. Denn es ist diese Erzählinstanz, die das scheinbar so klare Exemplum nachträglich verstümmelt: „Und ich bleibe mit dem Wunsch [„deseo“] zurück, dieses Ereignis zu seinem Ende zu führen, das Beispiel [„ejemplo“] und Spiegel

26 Ebd., S. 89.

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dafür ist, wie wenig man Schlüsseln [...] vertrauen kann [...].“27 Der Schlüssel, der hier zunächst ganz wörtlich den Schlüssel zu dem vom eifersüchtigen Ehemann zur Festung umfunktionierten Haus der jungen Ehefrau meint, bezieht sich auch auf die Entschlüsselung der Moral dieses ‚ejemplo‘. Auch dieser ist wenig zu trauen, zumal wenn sie sich auf ein verstümmeltes Exemplum bezieht. Die Verstümmelung von Exemplum und Entschlüsselung koinzidiert nämlich darin, dass die Begebenheit durch diese narrative Intervention in einem doppelten Sinne nicht natürlich beschlossen wird: Der plötzliche Tod des eifersüchtigen Ehemanns („die Eile, die er hatte zu sterben“) ist ebenso abrupt wie das Auftreten der Erzählinstanz und ihr Begehren, an ein voreiliges Ende zu kommen: So hat die Erzählinstanz nicht ermitteln können, weshalb die zu Unrecht verdächtigte Laura sich nicht mit mehr Emphase vom ungerechten Vorwurf freigesprochen hat.28 So wie die Verwirrung („turbación“) Laura die Zunge gelähmt hat, vermag auch die Erzählung nicht, diese Begebenheit vollständig und richtig darzustellen. Auch sie endet mit einer Verwirrung. Die Novelle selbst ist Beispiel und Spiegel dafür, dass die Verfahren der Entschlüsselung ebenso eigentümlich sind wie der menschliche Wille bzw. das menschliche Begehren und ebenso vorschnell und uneinsichtig wie ein von Unwissenheit belastetes Urteil. Das Exemplum bewahrt sein Geheimnis, und die Souveränität jener Außenposition, von der aus sicher und abschließend geurteilt werden kann, erweist sich schon deshalb als Illusion, weil auch diese von einem Begehren getrieben ist. Das Begehren (des Exemplarischen) verstümmelt und ist doch produktiv. Es geht hier nicht um ein Begehren der Vollendung, sondern um ein Begehren des Erzählens und Deutens. Cervantes spricht dies im Vorwort deutlich aus, wenn er gesteht, trotz seines fortgeschrittenen Alters weitere Werke verfassen zu wollen: „[W]er aber könnte seinen Wünschen Zügel anlegen?“29 Keine Gattung scheint dem Begehren so sehr verpflichtet wie die Novelle. Sie steht – das Motiv der Verstümmelung mit einer anderen Valenz versehend – für die Lust am endlosen Erzählen und auch für die Lust an der endlosen Deutung. Die Verstümmelung ist auch Widerstand gegen das Endgültige. 27 Meine Übersetzung. Die vorliegende Übersetzung von Rothbauer verändert den Text an entscheidenden Stellen dermaßen, dass das Argument nicht nachzuvollziehen wäre: „Und ich tröste mich damit, daß ich mit dieser Begebenheit zu Ende komme, einer Begebenheit, die ein Beispiel und eine Lehre dafür ist, wie wenig man sich auf Schlüssel, Drehtüren und Mauern verlassen kann […].“ Miguel de Cervantes Saavedra: „Der eifersüchtige Estremadurer“, in: Exemplarische Novellen (wie Anm. 20), S. 431. 28 „Die Ursache aber, weshalb Leonora sich nicht nachdrücklicher entschuldigte […] kenne ich nicht.“ Ebd. 29 Cervantes: „An den Leser“ (wie Anm. 20), S. 90.

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Dass auch Kleist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Aporien jener traditionell im Metatext des Rahmens manifest werdenden Deutungsinstanz hatte, belegen in seinen Novellen die vielen rudimentären Spuren jener Sprechinstanz, die besser in einem Rahmen aufgehoben wären. Ein Grund für den Rätsel-, ja Fragmentcharakter von Kleists Novellen ist auch, dass diese Sprechinstanz nur noch als Spur zugegen ist. Wenn Stefanie Marx betont, dass sich in Kleists Novellen die vielen angebotenen Perspektiven gegenseitig aufheben,30 liegt das nicht nur an der agonalen Anlage der Figurenkonstellation, sondern auch daran, dass sie durch keine stabilisierende und integrierende Sprechinstanz vermittelt werden. Wie bei Cervantes, wo die extradiegetische Sprechinstanz am Ende nur eine unter vielen ist, kennen auch Kleists Novellen kein souveränes Wort. Oder genauer: das Souveräne ist hier nur noch als eine ins Leere verweisende Spur angedeutet. Kleists erste Novelle Das Erdbeben in Chili führt zwar keinen Rahmen an, zitiert aber mit dem katastrophischen Setting das bekannteste Motiv des Decameron. Allerdings rahmt die Katastrophe die Erzählung nicht, sondern ist Teil der Erzählung selbst. Die Spur des Rahmens ist hier motivisch gegeben, seine Position aber aufgelöst. Die Novelle Michael Kohlhaas beginnt mit einem kommentierenden Absatz, wie man ihn vom Argumentum diverser Belehrungserzählungen kennt. Dieser Absatz kann als eine Art verstümmelter Rahmen gelesen werden. Die Erzählerinstanz berichtet von einem Mann, der, statt gut aristotelisch das richtige Maß zu finden, durch das Ausschweifen „in einer Tugend […] zum Räuber und Mörder“31 wurde. Diese Zitate und Andeutungen einer extradiegetischen Erzählinstanz geben bereits eine Ahnung davon, wie Kleist das Strukturproblem der Novelle verhandelt. Die intertextuelle oder strukturelle Anleihe ist hier weniger Anerkennung einer Tradition, sondern macht aus diesen Spuren ein Motiv des Mangels. Das Ende von Das Erdbeben in Chili ist darin konsequent. Ganz so als wollte Kleist die Folgen dieser strukturellen Verschiebung des Rahmens in die Erzählung auch grammatikalisch anzeigen, wartet die Novelle mit einem alles andere als beschließenden Schlusssatz auf: „[…] so war es ihm [Don Fernando] fast, als müßt er sich freuen.“32 Dieser Konjunktiv insinuiert verheißungsvoll das Auftreten einer Klarsprache, um sie dann zu enttäuschen. Dieser Schluss verweigert eine Sprache, in

30 Stefanie Marx: Beispiele des Beispiellosen: Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral, Würzburg 1994, S. 18. 31 Heinrich von Kleist: „Michael Kohlhaas [1810]“, in: BKA II/1, S. 64. 32 Heinrich von Kleist: „Das Erbeben in Chili“, in: BKA II/3, S. 43.

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der im Indikativ die Logik und Folgen des neuen Gesetzes zu formulieren wären. Der Konjunktiv lässt sich insofern als eine besondere Form virtuellen Scheins33 deuten, als mit ihm nicht nur eine Distanz zu einem nicht zur Gänze geschilderten Geschehen markiert ist, sondern auch die Absenz jener Instanz, die mit Bestimmtheit sich artikulieren kann. Diese Absenz ist sowohl ästhetischer Effekt – die Dinge werden nur andeutungsweise dargestellt – als auch Ausdruck einer narrativen Strategie der Novelle, der zufolge immer etwas außen vor bleibt. Auch in anderen Novellen ist der Charakter des Scheinhaften bestimmend. In der Novelle Die Marquise von O… ist von einer Protagonistin die Rede, die am Schein ebenso zu zerbrechen droht wie an ihm festhält. Die Ambivalenz von Cervantesʼ verstümmelten Arm wird hier noch gesteigert: Nur der Gedanke war ihr unerträglich, daß dem jungen Wesen, das sie in der größten Unschuld und Reinheit empfangen hatte, und dessen Ursprung, eben weil er geheimnißvoller war, auch göttlicher zu seyn schien, als der anderer Menschen, ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte.34

Der Schein und das Geheimnis bedingen einander und begründen in diesem Verweis die abgründige Ambivalenz des Scheins. Einerseits gilt es, den „vortrefflichen Ruf“35 mit dem Schein des Geheimnisvollen, ja Göttlichen zu autorisieren. Andererseits trägt genau dieser Bezug auf den Schein, auf das „Geheimnißvolle“ dazu bei, die Marquise von O…. zu diskreditieren. Nicht überraschend beschließt die Ambivalenz des Scheins auch die Novelle:

33 Roland Reuß hat das Motiv des Scheinens bzw. Erscheinens bereits 1988 als einen zentralen poetologischen Aspekt Kleist’scher Prosa bestimmt. Auch Reuß geht in seiner Analyse von den Interventionen der Erzählinstanz aus: „[…] sein [Kleists, PV] bedeutendster Beitrag zur immanenten Poetik der Erzählung ist darin zu sehen, daß er alle vorige (und auch künftige) Rede in seiner scheinbar fraglosen Verweisungskraft suspendiert und als Bestandteil einer geschriebenen Erzählung ausspricht. Der Schein einfacher Bezugnahme auf Wissen und allgemein bekannte Sachverhalte, der zu Anfang der Erzählung noch ungebrochen auftreten konnte, wird ‚an diese[r Stelle]‘ […] als Schein gestellt. Die Erzählung emanzipiert sich von seiner Herrschaft.“ Vgl. Roland Reuß: „Die Verlobung in St. Domingo – eine Einführung in Kleists Erzählen“, in: BKA II/4, Berliner Kleist-Blätter 1, Basel, Frankfurt a. M. 1988, S. 34. 34 Heinrich von Kleist: „Die Marquise von O...“, in: BKA II/2, S. 61–62 (eigene Hervorhebung, PV). 35 Ebd., S. 102.

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[…] und da der Graf, in einer glücklichen Stunde, seine Frau einst fragte, warum sie, an jenem fürchterlichen dritten, da sie auf jeden Lasterhaften gefaßt schien, vor ihm, gleich einem Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen seyn, wenn er ihr nicht bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.36

Die Wirklichkeit als Schein ist nur hyperbolisch zu deuten. Eine vom Schein befreite Sicht auf die Wirklichkeit ist nicht verfügbar. Die Novelle präsentiert die Ereignisse als nicht restlos entzifferbare Erscheinungen, die jene Wahrheit, die hinter dem Schein zu vermuten wäre, immerzu verstellen. Und auch hier sind das Erleben und das Begehren und ihre Gewalt der Grund dafür, dass die Dinge sich nicht als solche zu erkennen geben. In Der Zweikampf, einem der letzten Werke Kleists, findet sich das Scheinen in geradezu obsessiver Weise. Im Zentrum dieser Novelle steht die Allegorie der kleinen, am Ende alles faulen lassenden Wunde, die ein denkbar drastisches Bild für die Unzuverlässigkeit der menschlichen, auf das Erscheinen bezogenen Auffassungsgabe liefert. Was sich dem Menschen zeigt, mag anfangs eine Kleinigkeit sein: am Ende aber lässt es alle Ordnung fragwürdig werden. Doch nicht nur in der Allegorie der Wunde wird das Scheinen thematisch. Gleich zu Beginn ist die Rede von einer Gräfin „die unter seinem [des Herzogs Wilhelm von Bresach, PV] Rang zu sein schien.“37 Daran schließt folgende Vorstellung des Grafen (Jakob der Rothbart) unmittelbar an, welche die dem Scheinen so eigene Unruhe und Ungewissheit fortsetzt: Die Herzogin bestieg nun, ohne Weiteres, unter einer bloßen Anzeige, die sie, durch einige Abgeordnete, an ihren Schwager, den Grafen Jacob den Rothbart, thun ließ, den Thron; und was mehrere Ritter des Hofes, welche die abgeschlossene Gemüthsart des letzteren zu durchschauen meinten, vorausgesagt hatten, das traf, wenigstens dem äußeren Anschein nach, ein […].38

Auch bei der nächsten entscheidenden Figur, dem Kanzler, wird das meinende Wissen überexplizit mithilfe eines Einschubs betont: „[…] zum Theil kannte er, wie er meinte, […].“39 Das Meinen ist ein Wissen, dem nur der Schein verfügbar

36 Ebd., S. 147 (eigene Hervorhebung, PV). 37 Heinrich von Kleist: „Der Zweikampf“, in: BKA II/6, S. 7. 38 Ebd., S. 9 (eigene Hervorhebung, PV). 39 Ebd., S. 13.

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ist, und auch die Herzogin wird nach Kenntnis des Vorfalls lediglich „der Meinung sein“.40 Und selbst der Zweikampf bringt nicht die erhoffte Eindeutigkeit: Aber schon in den ersten Momenten dieses dergestalt veränderten Kampfs, hatte Hr. Friedrich ein Unglück, das die Anwesenheit höherer, über den Kampf waltender Mächte nicht eben anzudeuten schien; er stürzte […].41

Das Ende des Kampfes, den der nicht tödlich verletzte Hr. Friedrich überleben sollte, ist also nur scheinbar eindeutig: Der zunächst siegreiche Jakob wird einer „dem Anschein nach unbedeutenden Wunde“42 erliegen. Nachträglich kann „durch eine besondere Fügung des Himmels“43 bzw. durch „die furchtbare Hand Gottes“44 die Wahrheit über den bloßen Schein obsiegen. Doch wie schon bei Cervantes führt ein Zusatz am Ende der Novelle dazu, diese Beruhigung wieder zurückzunehmen. Die Wahrheit (der Schuld) kommt nur dann „unmittelbar ans Tageslicht […] wenn es Gottes Wille ist.“45 Dies ist eine höchst ironische Aussage: Wenn etwas in dieser Novelle tatsächlich nicht unmittelbar ans Tageslicht kommt, dann ist es die Wahrheit. Und wenn unmittelbar nur der Schein bleibt, so wird letztlich nebensächlich, ob Gott vollends abwesend oder lediglich undurchschaubarer Weltenlenker ist. Diese abgründige ‚Moral‘ der Geschichte hat sich in dieser Novelle durchweg angedeutet. Überall finden sich Spuren einer Erzählinstanz, die darüber urteilt, was zu wissen ist, ohne diese Andeutungen einzulösen. Mehrfach tritt die erzählende als erklärende Instanz auf: „Nun muß man wissen“46 bzw. „Man muß nämlich wissen“.47 Doch statt Vertrauen in das Wissen der Erzählinstanz zu wecken, haben diese Einschübe einen verunsichernden Effekt. Nicht nur bleibt unklar, worauf sich dieses „müssen“ bezieht. Ebenso bleibt rätselhaft, weshalb jene Instanz, die immerhin weiß, was zu wissen sein muss, sich nicht als allwissende Instanz zu erkennen gibt und die Lesenden mit einer Floskel („wenn es Gottes Wille ist“) vertröstet. In dieser floskelhaften Verwendung eignet sich der göttliche Wille kaum, die Überwindung des Scheins zu garantieren. Der Schein der Dinge hält vielmehr den beunruhigenden Verdacht am Leben, dass vielleicht doch noch eine 40 Ebd., S. 15. 41 Ebd., S. 49 (eigene Hervorhebung, PV). 42 Ebd., S. 69. 43 Ebd., S. 52 44 Ebd., S. 70. 45 Ebd., S. 84 (eigene Hervorhebung, PV). 46 Ebd., 22. 47 Ebd., 72.

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verborgene Wahrheit und ein göttlicher Wille sich zu erkennen geben, die den Schein durchbrechen. Die besondere Abgründigkeit des Scheincharakters aller Wirklichkeit besteht in Kleists Novellen darin, dass sie die Möglichkeit eines höchsten Gesetzes, einer göttlichen Intervention und gerechten Wende an keiner Stelle ausschließen. Der Schein evoziert das unsichere Versprechen einer möglichen Durchbrechung des Scheins. Auf dieses nicht einlösbare Versprechen rekurriert die Erzählinstanz in den Kleist’schen Novellen. Es ist geradezu Kleist’sche Eigenart, die Erzählinstanz als eine höchst ambivalente Wissensinstanz erscheinen zu lassen, wie es ein (später hinzugefügter) Einschub in der Heiligen Cäcilie nahelegt: Dies und noch Mehreres sagte Veit Gotthelf, der Tuchhändler, das wir hier, weil wir zur Einsicht in den inneren Zusammenhang der Sache genug gesagt zu haben meinen, unterdrücken; und forderte die Frau nochmals auf, ihn auf keine Weise, falls es zu gerichtlichen Nachforschungen über diese Begebenheit kommen sollte, darin zu verstricken.48

Gotthelf – der Name ist Programm – mag etwas gesagt haben, was vielleicht doch wesentlich ist; die Erzählinstanz aber, die am Ende keine befriedigende Antwort wird geben können, richtet darüber, was zu wissen ist. Die Erzählinstanz bricht die Erzählung vorzeitig ab, kürzt, wählt aus und forciert eine Deutung („meinen“). Dass der „innere Zusammenhang“ sich also nicht wie von selbst und unmittelbar zu erkennen gibt, zeigt sich schon daran, dass Erzählinstanz und Erzählung, Deutung und Sache nicht sauber auseinandergehalten werden. Die Beziehung von Erzählinstanz und Erzählung ist wie schon bei Cervantes‘ Bildunterschrift eine der Verstrickung. In Die Heilige Cäcilie zeigt sich diese Verstrickung auch in der Interpunktion. Die Rede von Veit Gotthelf wird mit Anführungszeichen eingeführt.49 Sie endet unmittelbar vor dem oben zitierten Einsatz der auktorialen Erzählstimme. Ihr offenkundiges Ende jedoch wird nicht von den entsprechenden Satzzeichen bestätigt. Es scheint so, als würde die Binnenrede Gotthelfs mit der Erzählinstanz verschmelzen, die Gotthelfs Rede gewissermaßen fortsetzt. Die Ordnung von Innen und Außen, von Binnenerzählung und Erzählung wird unterlaufen: Erst nachdem sich das erzählende „wir“ zu Wort gemeldet hat, werden schließende Anführungszeichen angeführt. Mit dieser diskreten Verletzung jener in der traditionellen Novelle eigentlich absoluten Grenze, die (Binnen-) Erzählung und (Binnen-)Rahmen klar voneinander scheidet, wird ein weiteres Mal unterstrichen, wie sehr die Erzählung nicht einfach nur Strukturierung, sondern ein 48 Heinrich von Kleist: „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende)“, in: BKA II/5, S. 96. 49 Ebd., S. 87.

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intervenierender Akt ist, der jedoch nicht gerecht und allmächtig, sondern verdächtig interveniert. Oder anders: in Kleists Novellen ist die Erzählinstanz nur scheinbar heterodiegetisch. Die Binnenerzählung wird auf eine Weise kommentiert, die es rechtfertigt, den „inneren Zusammenhang der Sache“ metaliterarisch und gattungstheoretisch zu lesen und nach der Sache bzw. dem Exemplum zu fragen. Es geht also auch um die Frage, wann über die Einsicht in den inneren Zusammenhang eines Falles in der Novelle genug gesagt ist. An dieser Stelle gewinnt das Verlegenheitsmerkmal der mittleren Länge, dessen erste Formulierung Emil Staiger zugesprochen wird, eine besondere Relevanz. Mit Kleists Novellen lässt sich die Halblänge als eine qualitative (und eben nicht als eine quantitative) Eigenschaft bestimmen. Halblang ist das, was für eine Deutung genügend ist und eine Meinung ermöglicht. Der „innere[...] Zusammenhang der Sache“ ist nicht wirklich der der Sache. Der innere Zusammenhang meint vielmehr jene Zurüstung der Sache, die eine alles andere als gewisse Deutung ermöglichen soll. Es ist also nicht die Begebenheit, die den Fall zum Exemplum macht, sondern die Möglichkeit zur Deutung. Dass Kleist sehr bewusst eine traditionell mit dem Rahmen assoziierte Sprechinstanz (heterodiegetische Instanz) und Sprechweise (Deutung) schwinden lässt und zugleich als Erzählproblem weiter verschärft, kann man seinen beiden Fabeln entnehmen.50 Kleist hat unter dem Gattungsnamen Fabel zwei kurze Texte zusammengefasst.51 In ihnen zeigt sich auf engstem Raum, wie im Verlauf dieser Mikrosammlung der Rahmen als manifeste Instanz nur verschwindet, um seine Problematik in die Erzählung selbst einzutragen. Ja mehr noch: man kann diese Texte als Kleists persönliche Umschreibung der Geschichte der neuzeitlichen Novelle bezeichnen. In der ersten Fabel, Die Hunde und der Vogel, wird der Witz als Vogel allegorisiert, der von „zwei ehrliche[n] Hühnerhunden“52 nicht erfasst werden kann und die ihm am Ende nur nachgaffen können. Die Moral der Geschichte: „Witz, wenn du dich in die Luft erhebst: wie stehen die Weisen und blicken dir nach.“53 Diese Moral ist auch typografisch durch einen Spiegelstrich abgesetzt; es wird – 50 Die Fabel ist eine zur Novelle oft synonym verwendete Gattungsbezeichnung. Dies gilt auch für den von Kleist vorgeschlagenen Gattungsnamen der „Moralischen Erzählungen“, der sich möglicherweise Cervantes verdankt. Vgl. KHb, S. 92. 51 Zu diesen Fabeln vgl. den Beitrag von Jonas Teupert in diesem Band. 52 Heinrich von Kleist: „Die Hunde und der Vogel“, in: BKA II/9, S. 47. Ich kann hier nur andeuten, dass dies offenkundig auf die Novelle El coloquio de los perros von Cervantes Bezug nimmt: Auch diese beiden Hunde sind „in der Schule des Hungers zu Schlauköpfen gemacht“ (ebd.) worden. 53 Ebd.

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anders als im vorigen Beispiel – sehr deutlich zwischen Erzählung und Moral unterschieden. Doch welchen Status soll dieser letzte Satz haben? So wie die Hühnerhunde nicht auf Flugvögel abgerichtet sind, verfehlt auch dieser Satz das, was es einzufangen gilt. Der Spiegelstrich fungiert hier als textlich sichtbar gemachte Grenze. Die Sprache der Moral kann nur konstatieren, was sich ihr entzieht, nicht aber den Witz selbst erfassen. In dieser Beschränkung gemahnt die Sentenz an die Widersprüchlichkeit einer Erzählinstanz, die zwar das Notwendige zu wissen vorgibt, aber dies nicht einlösen kann, weil das Entscheidende sich ihr entzieht. Nicht überraschend ist auch in der zweiten von Kleists Fabeln, Die Fabel ohne Moral, das nicht Feststellbare, das Sich-Entziehende zentrales Thema. Wenn hier jedoch schon der Titel darauf verweist, dass keine extradiegetische Erklärung des Textes zu erwarten ist, dann scheint es fast so, als würde diese zweite Fabel die Konsequenz aus der ersten ziehen und die Moral nur noch als Mangel benennen. Wozu auch eine Moral formulieren, die das Entscheidende nicht erfassen kann? Dieser Mangel äußert sich auch grammatikalisch. Wie schon der letzte Satz der Novelle Das Erdbeben von Chili ist auch in dieser Fabel ein bestimmendes Merkmal der in der ersten und mit einer Moral versehenen Fabel vollkommen fehlende Konjunktiv („Wenn ich dich nur hätte“, „und ich müsste“54), der durch den Konditional noch bestärkt wird. Die Auflösung des konjunktivischen Konditionals ist in einer Fabel ohne Moral aber nicht vorgesehen. Was auch immer an Wahrheit in der Fabel enthalten sein mag – die indikative Klarsprache (der Moral) ist zu schwerfällig für sie. Und es ist sicher kein Zufall, dass auch in dieser Fabel ein Vogel („Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel,“) auftaucht. Als eine Art Leitmotiv, das beide Fabeln zusammenhält, ist die dem Vogel assoziierte Bewegung in die Lüfte Ausdruck eines Widerstandes gegen die Fest-Stellung, also just das, worin Hühnerhunde und der Indikativ koinzidieren. Die Moral wird als Zücht(ig)ung entlarvt. Hühnerhunde und Rennpferde sind abgerichtet, erzogen. Ihre „Künste“ – schnell das Ziel zu erreichen und festzustellen – verstellen das, was „zuerst“ da war: „das unerzogene Kind der Natur“, mithin: den Witz, das Spezifische des Exemplum bzw. all das, was allenfalls im Schein zugegen sein kann. Sollte das Paradigma der Erscheinung für die Novellenerzählung tatsächlich diese Zentralität aufweisen, erwiese sich Kleist zudem als ein sehr genauer Cervantes-Leser. Cervantes’ erste Novelle (La novela de la gitanilla), die unmittelbar an das Vorwort anschließt, in dem der hässliche Schein zur Schönheit erklärt wurde, beginnt mit der Wendung „Es scheint“55 [parece que]. Was bei Cervantes’ 54 Heinrich von Kleist: „2. Die Fabel ohne Moral“, in: BKA II/9, S. 47. 55 Miguel de Cervantes Saavedra: „Das Zigeunermädchen“, in: Exemplarische Novellen (wie Anm. 20), S. 93.

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Novellen, die Kleist bekannt waren, als das versteckte Mysterium bezeichnet wird, wird in Kleists Novellen zur unhintergehbaren Erscheinung. In beiden Fällen erweist sich die Novelle als eine Gattung des Mangels.

G ESCHICHTE

UND

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DER

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Dass die Novelle von singulären, ‚unerhörten Begebenheiten‘ berichtet, hat auch für die Geschichte der Novelle Folgen: „Denn es gibt weder die ‚romanische Urform‘ […] noch die Novelle überhaupt. Es gibt nur Novellen.“56 So wie die Gattung der Novelle ein anderes Verfahren erforderlich macht, literarische Gattungen zu begründen, setzt auch eine mögliche Geschichte der Novelle einen anderen Begriff von Gattungsgeschichte voraus. Schon Walter Pabst hat betont, dass die Geschichte der Novelle eine Ausdifferenzierung von unterschiedlichen „Darbietungsformen und Erzählhaltungen […]“ ist, die „unmöglich […] entwicklungsgeschichtlich voneinander abzuleiten“ sind.57 Der hier angedeutete Schwund des Rahmens ist deshalb nicht als eine Entwicklung zu verstehen. Der Schwund ist ja auch nicht Variation einer Grundstruktur, sondern Beleg dafür, wie facettenreich sich eine Grundproblematik artikulieren kann. Für welche Geschichte also kann die Konstellation Cervantes/Kleist überhaupt stehen? Auch wenn davon auszugehen ist, dass Kleist Cervantes gelesen hat, sind die Bezüge keineswegs zahlreich genug, um eine Einflussgeschichte zu formulieren. Ebenso wenig erlauben es die wenigen gemeinsamen Motive, eine Motivgeschichte der Novelle zu entwerfen. Eine Alternative bietet die beiden gemeinsame Figur des Mangels an. Der Mangel ist weder ein klares Strukturmerkmal noch ein Motiv, auch wenn er sich durchaus auf Struktur und Motivik auswirkt. Im gattungsgeschichtlichen Sinne ist mit dem Mangel eine Geschichte aufgerufen, die nicht einmal theoretisch dem Phantasma einer vollständigen Geschichte verpflichtet ist. Die mangelhafte Geschichte ist eine ebenso selektive wie prekäre, weil erst von einer bestimmten Konstellation ausgehend eine Geschichte rückwirkend entworfen wird. Schon die Novellenerzählung belastet Abstammungen mit Ungewissheit. Sie nimmt Stoffe auf, ohne ihren Ursprung zu kennzeichnen und ohne ihnen treu zu sein. Aus gutem Grund hat Boccaccio nur für eine der 100 Novellen die Autorschaft explizit beansprucht und nur folgerichtig besteht eine der tradierten Übungen der Novellenforschung in Stoff- und Motivgeschichte. Diese jedoch kaschiert

56 Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung (wie Anm. 9), S. 245. 57 Ebd., S. 241.

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nur oberflächlich, dass die Novellenform, so Liebrand, eine Gattung der ungewissen Vaterschaft ist: pater semper incertus est. Liebrands These, wonach Boccaccio die Novelle als „[…] ‚weibliche‘ Gattung [etabliert hat]“,58 wäre auch als metaliterarische Bestimmung und Ausdruck einer bestimmten Gattungspolitik zu begreifen. Die undisziplinierte Proliferation der Novelle, die Liebrand mit den erotischen Eskapaden der Frauen motivisch verknüpft, präfiguriert eine Gattungsgeschichte prekärer Zuordnungslogiken. Jede Geschichte erscheint hier nur unter der Bedingung unzureichender (väterlicher) Strukturmerkmale formulierbar, auf Widerruf und als Form einer möglichen, aber nicht notwendigen Zusammenkunft singulärer Exemplare. Ihre Geschichte ist kein Stammbaum, sondern eine Konstellation, deren Konstitution nur eine mehr oder weniger überzeugende Deutung eines begründenden Problems sein kann. Ist das aber nicht ein Plädoyer für die Beliebigkeit? Mit Jorge Luis Borges, der ein Vorwort zu Cervantesʼ Novelas ejemplares verfasst hat59 und ein überzeugter Verfechter kürzerer Erzählgattungen war, lässt sich darauf differenzierter antworten. In seinem Essay Kafka y sus precursores stellt sich Borges am Exemplum Kafka der Frage des Singulären. Anfangs erscheint ihm der deutschsprachige Autor eine solch singuläre Erscheinung, dass er ihn für ebenso unvergleichlich hält wie – so das bedeutungsschwangere simile – den „Phönix der rhetorischen Preisungen“60 („el fénix de las alabanzas retóricas“61). Kafka scheint keine Vorläufer zu haben, sein Werk aus keiner Tradition heraus lesbar. Doch Borges gibt sich mit dieser Diagnose nicht zufrieden und kehrt das Traditionsdenken um. Kafka ist solange ein singulärer Autor, solange sein Werk entwicklungsgeschichtlich aus einer eindeutigen Tradition heraus verstanden werden soll, die ihn, den Singulären, notwendig macht. Doch wie es mit dem immer in neuen Kontexten auferstehenden Phönix scharfsinnig angedeutet ist, verlangt eine solche Singularität eine Geschichte, die nicht nach einer Abstammung fragt, sondern nach den Metamorphosen jenes Problems, das das Singuläre so singulär macht. Kafka wird für Borges zur historischen Figur, weil er die Lektüre anderer, ihm vorgängiger Texte verändert. Das Fazit des Essays lautet deshalb nicht, dass jeder Autor in einer Tradition steht, sondern dass jede Autorschaft sich ihre Tradition schafft. Und wenn für Borges das eigentlich bedeutsame Faktum bei seiner Zusammenstellung möglicher 58 Liebrand: „Pater semper incertus est“ (wie Anm. 3), S. 60. 59 Jorge Luis Borges: „Miguel de Cervantes. Novelas ejemplares“, in: Ders.: Obras completas, Bd. IV, Buenos Aires 1996, S. 45–47. 60 Jorge Luis Borges: „Kafka und seine Vorläufer“, in: Inquisitonen, Berlin 1992, S. 118– 122, hier S. 118. 61 Jorge Luis Borges: „Kafka y sus precursores“, in: Ders.: Obras completas (wie Anm. 59), Bd. II, S. 88–90, hier S. 88.

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Kafka-Vorläufer darin besteht, dass sich diese untereinander nicht ähneln,62 dann weil eine Problemgeschichte eine andere Form der Geschichte darstellt als eine kontinuierliche Entwicklung. Unter einem Problem können sich sehr heterogene Elemente wiederfinden. Die Geschichte der einander Unähnlichen steht für eine Gruppierung, deren Paradigma auch für die Novelle bestimmend ist: die Sammlung. Wollte man aus der Erfahrung der Novelle eine generelle Folgerung ziehen, dann vielleicht die, dass für den homo narrans Gesetz und Geschichte nur ansatzweise und nachträglich einsichtig werden. Dieser Mangel an Einsicht – und auch davon zeugen Kleists und Cervantesʼ Novellen – bedeutet jedoch nicht nur einen Verlust, sondern sichert dem Erzählen das verdächtige Privileg, mehr als bloß das Gesetz und die Geschichte zu sagen. Freud – einer der ingeniösesten Novellenleser der westlichen Tradition und ein Theoretiker, der exemplarisch in Fällen gedacht hat – hat dies in seiner Deutung der Gesetze und Geschichte von Kultur wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es muß noch etwas anderes im Spiele sein.“63

62 Borges: „Kafka und seine Vorläufer“ (wie Anm. 58), S. 120: „Wenn ich mich nicht irre, ähneln die unterschiedlichen Stücke, die ich aufgezählt habe, Kafka; wenn ich mich nicht irre, ähneln sich nicht alle untereinander. Dieser letzte Umstand ist der wichtigere.“ 63 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930, S. 55.

Experimentelle Maieutik Kleists Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden als literarisch-naturwissenschaftlicher Hybrid D AN G ORENSTEIN

E INLEITUNG : K LEISTS F ASZINATIONEN Im Juni des Jahres 1804 kehrt Kleist nach längerem Aufenthalt in Frankreich und der Schweiz, noch immer völlig erschöpft von seiner gescheiterten Arbeit am Robert Guiskard, nach Berlin zurück und beginnt sich um eine Anstellung im zivilen Staatsdienst zu bemühen.1 Im Januar 1805 tritt er unter Karl Freiherr von Stein zum Altenstein zunächst eine Stelle im Finanzdepartement in Berlin an und reist dann schließlich nach Königsberg, wo er unter dem Chef der litauisch-ostpreußischen Kriegs- und Domänenkammer als Diätar2 tätig ist. Dort hört er Vorlesungen über Nationalökonomie bei Christian Jakob Kraus, dessen freier und eloquenter Vortragsstil ihn nachhaltig beeindruckt. In einem Brief an Altenstein schreibt Kleist über den Professor der Moral und Politik: Vorgestern habe ich nun auch einer finanz-wissenschaftlichen Vorlesung des Professors Krause beigewohnt: ein kleiner, unansehnlicher Mann, der mit fest geschlossenen Augen, unter Gebährden, als ob er im Kreisen begriffen wäre, auf dem Katheder sitzt; aber wirklich Ideen, mit Hand und Fuß, wie man sagt, zur Welt bringt. Er streut Gedanken, wie ein

1

Zu den biografischen Angaben vgl. Jens Bisky: Kleist: Eine Biographie, Berlin 2007.

2

Der Diätar ist dem Beamten ähnlich, bekommt aber sein Gehalt täglich ausgezahlt und wird nur zeitweise beschäftigt.

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Reicher Geld aus, mit vollen Händen, und führt keine Bücher bei sich, die sonst gewöhnlich, ein Nothpfennig, den öffentlichen Lehrern zur Seite liegen.3

Obwohl mittlerweile nahezu vollkommen vergessen, ist Kraus zu seiner Zeit eine Berühmtheit. Ein Werk im eigentlichen Sinne hat er nicht hinterlassen und trotzdem ist es ab 1800 für jeden, der einen Posten in der Verwaltung Ostpreußens anstrebt, obligatorisch, einen Nachweis über den erfolgten Besuch seiner Vorlesungen zu erbringen. Kraus will durch seine Schüler wirken, die er im Vortrag für sich einzunehmen und nachhaltig zu bilden weiß.4 Und dieser Gestus ist es auch, der Kleist so sehr beeindruckt. Zwei auf den ersten Blick heterogene Aspekte von Kraus’ Vortragsstil hebt er in seinem Brief an Altenstein hervor, indem er sie mit jeweils diskreten Metaphern belegt: Zum einen die Beobachtung, dass Kraus seinen Hörern keine vorgefertigten und einstudierten Reden präsentiert, sondern denkt „als ob er im Kreisen begriffen wäre“ und auf diese Weise „Ideen mit Hand und Fuß […] zur Welt“ bringt, also gewissermaßen Maieutik an sich selbst betreibt, und zum anderen die überbordende Gedankenfülle der Vorlesungen, die Kleist in der Metaphorik eines verschwenderischen Reichtums beschreibt. In Krausʼ Vorlesungen verbinden sich für ihn demnach zwei sehr gegensätzliche Tendenzen des abendländischen Denkens: Die reduktionistische Gedankenstrenge der sokratischen Methode trifft in der Person des Königsberger Professors auf einen ganz und gar unökonomischen gedanklichen Eklektizismus. Dass diese Faszination für Kraus’ Vorlesungsstil auch Einfluss auf Kleists Denken und seine schriftstellerischen Ambitionen hatte, lässt sich anhand seines Textes Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden nachvollziehen, in dem ebenjene freie und ergebnisoffene Vortragsweise sowie deren erkenntnistheoretische Implikationen den zentralen Gegenstand der Erörterung abgeben. Wie tief beeindruckt Kleist von seinem Lehrer gewesen sein muss, zeigt sich daran, dass er dessen Vortragsweise nicht allein zum Thema des kurzen Textes macht, sondern diese auch formell reproduziert. Kleist baut seine Argumentation nicht Schritt für Schritt auf, er mäandert, retardiert, umkreist seinen Gegenstand. Er überzeugt seine Leser nicht systematisch, sondern erdrückt sie mit einer Masse von Beispielen aus den unterschiedlichsten Bereichen, die er scheinbar willkürlich ins Feld zu führen weiß. Kleist schließt oder argumentiert nicht, er präsentiert. Er reiht eine Fülle von Bildern, Geschichten, Beispielen und Anekdoten aneinander, führt das gewonnene Wissen in immer neue Konstellationen

3

Brief an Karl Freiherr von Stein zum Altenstein, 13. Mai 1805, in: DKV IV, S. 338– 341, hier S. 340f.

4

Bisky: Kleist (wie Anm. 1), S. 240f.

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zusammen und kommt doch immer wieder auf die eine Gesetzmäßigkeit zurück, dass Denken und Sprechen untrennbar miteinander verbunden seien. Ein Großteil der Bilder und Beispiele, derer Kleist sich in der Verfertigung bedient, stammt aus der Naturwissenschaft. Sein Zugriff auf diese Wissensbestände erklärt sich aus seinem kurzen Studium an der brandenburgischen Landesuniversität Viadrina in seiner Heimatstadt Frankfurt an der Oder, wo er Vorlesungen und Collegia in Mathematik, Physik, Jura, Philosophie und Kulturgeschichte besucht hat. Besonders faszinierte ihn die Experimentalphysik, die er bei Christian Ernst Wünsch gehört hat. Dieser hat Kleist vor allem eines gelehrt: Es gibt keine absolute Ruhe, denn die Erde und mit ihr der ganze Kosmos ist durch ewig wirkende Kräfte stets in Bewegung. Ein Eindruck von Ruhe entsteht einerseits dadurch, dass die Kräfte, die einen Körper in Beschlag nehmen, sich gegenseitig neutralisieren, und andererseits durch die beschränkte Perspektive des Menschen, welcher Erdrotation und Planetenbewegung nicht im Stande ist wahrzunehmen.5 Diese Auslegung von Newtons Himmelsmechanik ist in einer derartigen Drastik zwar nicht zeittypisch, der Bezug auf sie ist es aber durchaus. Noch immer gilt das Werk des Begründers der klassischen Mechanik als vorbildlich in Inhalt und Durchführung. Das Ideal einer Wissenschaft, die ihren Gegenstand sowohl mathematisch als auch experimentell erfassen kann, findet nicht nur in verwandte Disziplinen Eingang. Von der Newtonʼschen Himmelsmechanik her ist auch das Grundgefüge des mechanischen Begriffsapparates zu denken: Materie, Kraft und Bewegung prägen die zeitgenössische Vorstellung von Kausalität.6 Kant beispielsweise, dessen kritische Schriften unter anderem der gedanklichen Strenge der Principia geschuldet sind, formuliert das Widerspiel der Kräfte in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft als einen Antagonismus von Attraktions- und Repulsionskraft.7 Die Trias aus Materie, Kraft und Bewegung bildet die maßgebliche Grundlage der „epistemischen Praxis“8 der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Dank seines Studiums ist Kleist nicht nur epistemologisch in die wissenschaftlichen Weltbeschreibungen seiner Zeit eingebunden, er kennt zudem das Fachvokabular und die vorwiegend mechanische Begriffskultur. 5

Vgl. Christian Ernst Wünsch: Kosmologische Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß, Leipzig 1794, S. 73.

6

Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie. Zur Einführung, Hamburg 2008, S. 16.

7

Vgl. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Ders.: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, S. 11–135.

8

Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a. M. 2006, S. 29.

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Die Vielzahl dieser literarischen, philosophischen, wissenschaftlichen und rhetorischen Einflüsse sowie Kleists ungewöhnliche Art einer nichtargumentativen Schreibweise machen dessen Text Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden nur schwer klassifizierbar. Die Widmung an Johann Jacob Otto August Rühle von Lilienstern, einen Freund aus der Zeit beim Militär, sowie die persönliche Anrede am Anfang lassen zunächst an den „(halb fingierten) Brief eines Mannes an einen anderen“9 denken. Für diese Klassifikation scheint zu sprechen, dass Kleist viele seiner frühen theoretischen Überlegungen, wie beispielsweise den Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden oder den von der Forschung nachträglich Über die Aufklärung des Weibes betitelten Aufsatz, in Briefen, zum Beispiel an seinen Hauslehrer Christian Ernst Martini, seine damalige Verlobte Wilhelmine von Zenge oder seine Schwester Ulrike entwickelt hat und sich auch später, etwa im Brief eines jungen Dichters an einen jungen Maler oder im Brief eines Dichters an einen anderen, explizit dieser Form bedient hat. In der Verfertigung jedoch lässt Kleist die persönliche Anrede im Verlauf des Textes immer weiter in den Hintergrund treten und gibt sie schließlich ganz auf, sodass es in diesem Fall näherliegender ist, die Briefform als ein Beispiel unter vielen für das im Text erörterte dialogische Prinzip ohne Gegenrede zu beschreiben und damit der inhaltlichen Seite des Textes zuzuschlagen. Auch als Aufsatz kann die Verfertigung nicht bezeichnet werden, denn sie „argumentier[t]“, wie Neumann weiterhin feststellt, „nicht systemphilosophisch oder streng diskursiv, sondern vielmehr assoziativ und dialogisch“10. Da die Verfertigung in der Kleist-Forschung oftmals mit Michel de Montaignes Essay Du parler prompt ou tardif verglichen worden ist11, ist es für den gattungstheoretischen Zugriff auf Kleists Text naheliegend, ebenfalls von einem Essay zu sprechen. Mit dieser Bezeichnung allein ist allerdings nicht viel gewonnen, denn „[m]it Montaigne ist zwar der Urvater des Essays namentlich exakt zu bestimmen und damit der Zeitpunkt des Auftauchens dieser Schreibweise in der Neuzeit“12, wie Christian Schärf in seiner maßgeblichen Studie zum Essay schreibt. Allerdings gibt Montaigne seiner neuartigen Schreibweise keinerlei formale Konturen13 und prägt demnach mit dem Begriff des Essays eine literarische 9

Gerhard Neumann: „Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie“, in: Heinrich von Kleist. Kriegsfall, Rechtsfall, Sündenfall, hg. v. dems., Freiburg i. Br. 1994, S. 13–29, hier S. 14.

10 Ebd. 11 Vgl. Giesela Schlüter: „Kleist und Montaigne“, in: Arcadia 22/3 (1987), S. 225–233. 12 Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999, S. 8. 13 Vgl. ebd.

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Gattung, die sich in erster Linie durch einen bestimmten Schreibgestus auszeichnet. Um dem aus dieser Konstellation resultierenden literaturwissenschaftlichen Problem der bestimmten Unbestimmtheit des Essays gerecht zu werden, führt Schärf den Begriff des Essayismus ein, mit dem er weniger formelle Kennzeichen eines Textes, als vielmehr eine gewisse Schreibhaltung von dessen Autor charakterisieren kann: „Der Essayismus […] bildet das Experimentierfeld des Menschen ohne normatives Weltbild, des sich selbst perspektivisch erforschenden Subjekts […].“14 Insbesondere die Bestimmung des Essayismus als „Experimentierfeld des Menschen“ erweist sich in Hinblick auf Kleists theoretische Prosa als äußerst anschlussfähig, zumal damit nicht nur der allgemeine Versuchscharakter von Texten wie Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, Allerneuester Erziehungsplan oder Über das Marionettentheater beschrieben, sondern zugleich auch Kleists konkreten metaphorischen Entlehnungen aus den Naturwissenschaften genüge getan ist. Dem spezifischen Essayismus Kleists attestiert Schärf einen „grenzüberschreitende[n] Impuls […] zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Gelehrtentum und Artistik, zwischen Wissensvermittlung und produktivem Rausch“15. Unter dieser Prämisse und in Hinblick auf die Verfertigung lässt sich die Schreibweise Kleists als experimentelle Maieutik bezeichnen. Zur genaueren Konturierung dieser experimentellen Maieutik soll im Folgenden Kleists Essay gleichermaßen auf naturwissenschaftliche sowie auf rhetorische Kontexte hin gelesen werden.

D ER E INFALL

ALS

F IGURATION

DES

F ALLENS

Vom Fallen im eigentlichen Sinne des Wortes scheint in der Verfertigung nicht die Rede zu sein, wohl aber vom Einfall oder Geistesblitz. „Mir fällt“, schreibt Kleist, „jener ‚Donnerkeil‘ des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte […].“16 Was hier so nonchalant als Übergangsformel von der einen Anekdote zur anderen präsentiert wird, kann als Hinweis auf das Zentrum eines Geflechtes von naturwissenschaftlichen Metaphern verstanden werden, welches Kleist durch den gesamten Text spinnt: Der Einfall, so ließe sich die den Text

14 Ebd., S. 10. 15 Ebd., S. 140. 16 Heinrich von Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: DKV III, S. 534–540, hier S. 536.

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durchziehende Leitmetapher17 beschreiben, kann als Fallbewegung im physikalischen Sinne aufgefasst werden.18 Für diese Lesart spricht auch Kleists Bestehen auf „eine[r] merkwürdige[n] Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt“19. Die in der Verfertigung beschriebene „weitgehende Synthese von Kognition und Kommunikation betrachtet die mündliche Sprache als bildendes Organ der Gedanken, als – im Sinne Humboldts – wirkende Kraft, Tätigkeit, Energeia“20, wobei die Kommunikation, in Kleists Terminologie, der „physischen“ und die Kognition der „moralischen“ Welt zugeschlagen werden kann. Der Einfall lässt sich demnach als allmähliche Zustandsveränderung eines bis zu seinem Eintreten in der Schwebe gehaltenen Gefüges von disparaten Einzeltatsachen und unausgereiften Gedanken beschreiben, die sich einer durch die Rede in Bewegung gesetzten Kombinatorik verdankt. „Denn nicht wir wissen“, schreibt Kleist, „es ist allererst ein gewisser Zustand unserer, welcher weiß.“21 Dieser Zustand ist keinesfalls als ein statischer aufzufassen, sondern, im Gegenteil, als konstante „Bewegung der Sprache als Inzitament der Einbildungskraft“22. Dafür spricht jedenfalls, dass Kleist der idealen Gedankenverfertigung in allen von ihm beschriebenen Episoden eine motorische Qualität verleiht. Schon bei der Beschreibung Krauses legt er besonderen Wert auf dessen Mimik und Gestik. Auch die Redner in Kleists Text sprechen aus der „Erregung des Gemüts“23 heraus und wo nicht der Körper mitgeht, da nimmt die Sprache die Bewegung der Gedanken in sich auf:

17 Insgesamt sieben Mal bringt Kleist das kleine Wörtchen „Fall“ in ähnlich unscheinbarer Weise und in zum Teil sehr unterschiedlichen Kontexten in der Verfertigung unter. 18 Vgl. Christian Moser: „Abgelenkte Falllinien: Kleist, Newton und die epistemische Funktion anekdotischen Erzählens“, in: Wissensfiguren im Werk Heinrich von Kleists, hg. v. Yixu Lü, Anthony Stephens, Alison Lewis und Wilhelm Voßkamp, Freiburg i. Br. 2012, S. 169–191. 19 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 537. 20 Peter Philipp Riedel: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R. v. L.“, in: KHb, S. 150–152, hier S. 150. 21 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 540 (Hervorhebungen im Original, DG). 22 Neumann: „Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers“ (wie Anm. 9), S. 14. 23 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 539.

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Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemütsakten für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.24

Die Radachse, ein Bild aus der Mechanik, bezeichnet für Kleist genau den Punkt, an dem Kommunikation und Kognition, d. h. die Erscheinungen der physischen und moralischen Welt, miteinander in Einklang gebracht werden. Das Bild vom „Hemmschuh“ macht deutlich, worum es Kleist geht: Der Einfall kommt keineswegs aus dem Nichts, sondern er liegt als träge, „dunkle Vorstellung“25 im Unbewussten des für sich Überlegenden bereit. Indem dieser nun durch Reden die Gedanken in Bewegung versetzt, werden sie in immer neue Konstellationen geführt und fallen schließlich an ihren Platz. Der Einfall wäre demnach das Produkt, welches aus der Überwindung der Trägheitskraft der disparaten Einzeltatsachen und unausgereiften Gedanken hervorgeht. Schreibt man der im Bild der Radachse konfigurierten physikalischen Qualität des Zusammenhanges von Gedanken und Rede eine paradigmatische Funktion für den gesamten Text zu, was Kleist durch das Absetzen der Passage vom restlichen Text zumindest andeutet, so lassen sich auch die anderen von ihm angeführten Beispiele, selbst wenn sie oberflächlich ohne physikalische Metaphorik auskommen, in die hier beschriebene mechanische Grundkonstellation von Bewegung und Trägheit überführen. Nach Newton kann das Beharrungsvermögen der vis insita oder Trägheitskraft, je nach Perspektive, auf zwei unterschiedliche Weisen beschrieben werden: Allerdings übt ein Körper diese Kraft nur bei Veränderung seines Zustandes aus, die durch eine andere in ihn eingeprägte Kraft hervorgerufen wird; und diese Ausübung äußert sich je nach Standpunkt als Widerstand oder als impetus: als Widerstand insofern, als sich ein Körper einer eingeprägten Kraft zu widersetzen versucht, um seinen Zustand beizubehalten; als impetus insofern, als derselbe Körper dadurch, daß er nur schwer der Kraft eines Widerstand leistenden Hindernisses nachgibt, bestrebt ist, den Zustand jenes Hindernisses zu verändern.26

Kleists Beispiele erweisen sich bei näherer Betrachtung als literarische Paraphrasen Beschreibungsweisen der Trägheit, als Widerstand und als impetus. Aus dieser 24 Ebd., S. 538. 25 Ebd., S. 535. 26 Isaac Newton: Die mathematischen Prinzipien der Physik, übers. v. Volkmar Schüller, Berlin, New York 1999, S. 24 (Hervorhebungen im Original, DG).

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Perspektive lässt sich der verhinderte Salonlöwe, der in der Verfertigung kurz nach der Achsen-Analogie angeführt wird, als das Opfer der nicht überwundenen Trägheit seiner eigenen Gedankengänge beschreiben, welche es ihm nicht erlaubt, das erdachte Bonmot auf die Ebene der Sprache zu überführen. Kleist beschreibt das Gespräch in dessen Umfeld als „kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen“27. In mechanischen Begriffen ließe sich diese Gedankenzirkulation im Medium der Sprache als stetige Kreisbewegung beschreiben.28 Der Salonlöwe nun ist nicht dazu in der Lage, seinen Redebeitrag in dieses Zirkulationssystem einzubringen, stattdessen wird dessen impetus für ihn zum Widerstand, sodass der unglückliche Redner in spe nur eine „zuckende[] Bewegung […] und etwas Unverständliches zur Welt“29 bringt. Auch die Prüflinge, das letzte Beispiel des Textes, glänzten dagegen nur dann, wenn sie sich vor dem Examen „in einer Gesellschaft befunden hätten, wo man sich vom Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeitlang unterhalten“30 und damit das Prüfungswissen sprachlich in Bewegung versetzt hätten. Wenn Kleist also feststellt, das Wissen sei ein Zustand, so lässt sich dieser Zustand in Analogie zur Himmelsmechanik Newtons als stetige Gedankenzirkulation im Gespräch beschreiben. Diese Zirkulation bedarf eines ersten impetus, um in Bewegung zu kommen, wie das Beispiel mit den Prüflingen nahelegt, sie kann sich gegen konträre Kräfte als widerständig erweisen, wie die Szene im Salon illustriert, und sie ist dennoch permanent der Gefahr ausgesetzt, durch einen plötzlichen Einfall (einen das System überfordernden impetus) zum Zusammenbruch gebracht zu werden. Als Beispiel für einen solchen das Zirkulationssystem überfordernden impetus kann die Episode mit Mirabeau und dem Zeremonienmeister verstanden werden. Die Kette von Mirabeaus Einfällen führt dazu, dass sein Gegenüber und mit diesem die gesamte Gesprächssituation kollabiert: „Wenn man sich den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen […].“31 Und auf diesen Kollaps im Kleinen führt Kleist dann „in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge“32 zurück.

27 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 538. 28 Vgl. Alexander Honold: „Die Sonne steigt, der Apfel fällt. Bewegte Körper und ihre Bahnen auf Kleists astronomischem Theater“, in: KJb 2005, S. 79–91, hier S. 79. 29 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 538. 30 Ebd., S. 539. 31 Ebd., S. 537. 32 Ebd.

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Hier schließlich führt er einen explizit physikalischen Vergleich an, allerdings nicht aus dem Bereich der Himmelsmechanik, sondern aus der Elektrizitätslehre: [N]ach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem in einem Körper, der von dem elektrischen Zustand Null ist, wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird. Und wie in dem elektrisierten dadurch, nach einer Wechselwirkung, der ihm innewohnende Elektrizitäts-Grad wieder verstärkt wird, so ging unseres Redners Mut, bei der Vernichtung seines Gegners zur verwegensten Begeisterung über.33

Versteht man Mirabeau als geladenen Körper, wie Kleists Analogie nahelegt, so ist dieser von sich aus unfähig, seinen Zustand zu verändern, d. h. seine Gedanken auf die Ebene der Sprache zu überführen. Erst durch das Hinzukommen des neutral geladenen Zeremonienmeisters hat er eine Gegenkraft, der es ihm erlaubt, seine Ladung zunächst durch die „Wechselwirkung“ zu erhöhen und anschließend komplett abzugeben. Das Ergebnis einer solchen Entladung ist ein starker Funkenschlag34, der „Donnerkeil“35 oder Geistesblitz Mirabeaus. Mit der Auflösung der Polarität kehrt auch hier Ruhe ein: „Denn dadurch, daß er [Mirabeau] sich, einer Kleistischen Flasche gleich, entladen hatte, war er nun wieder neutral geworden, und gab, von der Verwegenheit zurückgekehrt, plötzlich der Furcht vor dem Chatelet, und der Vorsicht, Raum.“36 Das Gegenüber wird nicht als Gesprächspartner verstanden, nicht einmal als Zuhörer, sondern zunächst als Ursprungs-impetus gebraucht, um die Trägheit der „dunkle[n] Vorstellung“37 zu überwinden und so die Zirkulation von Gedanken und Rede anzustoßen. Ist diese Rede-Denk-Bewegung jedoch angestoßen, so wird das Gegenüber zum potenziellen Stör-impetus, gegen den der Widerstand des Redners und der Rede mobilisiert werden muss. Unterhalb der Metaphern und Anekdoten scheint ein allgemeineres Gesetz zu walten, das die Grundlage der „allmählichen Verfertigung der Gedanken“ bildet: der Antagonismus von entgegengesetzten Kräften bzw. die agonale Konstellation von Sprecher und Zuhörer.

33 Ebd. 34 Vgl. Johann Christian Polykarp Erxleben: Anfangsgründe der Naturlehre, 6. Aufl., mit Verbesserungen und vielen Zusätzen von G. C. Lichtenberg, Göttingen 1794, S. 482f. 35 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 536. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 535.

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D AS G ESPRÄCH ALS ZWISCHEN Z WEIEN

ENTSCHIEDENES

G EGENEINANDER

Das Werk des ehemaligen Berufsoffiziers Heinrich von Kleist ist voll von Kampfbeschreibungen. Sicherlich haben die sechs Jahre beim preußischen Militär ihre Spuren hinterlassen. In der Verfertigung gibt es zwei Stellen, an denen Kleist die Gesprächssituation in eine militärische Metaphorik hinübergleiten lässt. Die erste Stelle ist das Gespräch mit seiner Schwester, in dem das Gemüt durch die Anspannung, die ein möglicher Verlust des Wortes mit sich bringt, als „ein großer General, wenn die Umstände drängen“38 beschrieben wird. Die andere Stelle findet sich in der Salonszene. Das Scheitern seines Protagonisten veranlasst Kleist zu einer kurzen Reflexion über das Meistern der Sprache: In solchen Fällen ist es um so unerläßlicher, daß uns die Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei, um dasjenige, was wir gleichzeitig gedacht haben, und doch nicht gleichzeitig von uns geben können, wenigstens so schnell, als möglich, auf einander folgen zu lassen. Und überhaupt wird jeder, der, bei gleicher Deutlichkeit, geschwinder als sein Gegner spricht, einen Vorteil über ihn haben, weil er gleichsam mehr Truppen als er ins Feld führt.39

Das Gemüt als General und die Wörter als Truppen, so findet bei Kleist das Gespräch als Kriegszustand zusammen. „Kampf“, schreibt Florian Klinger in einer jüngeren Relektüre der Verfertigung, „ist der Archetypus von Interaktion bei Kleist.“40 Unterhaltungen als ein erquickliches Miteinander, wie sie noch bei Garve41 oder Schleiermacher42 beschrieben werden, weichen bei Kleist der Vorstellung eines Gegeneinanders von Kontrahenten. Sämtliche Situationen, die Kleist schildert, sind geprägt vom Antagonismus der Kommunizierenden. Mirabeau und der Zeremonienmeister Ludwigs XVI. stehen in offenem Konflikt. Auch der Fuchs aus Lafontaines Fabel befindet sich nach eigenem Ermessen in Lebensgefahr, während er den Löwen von der Schuldigkeit des Esels zu überzeugen sucht. Ebenso die Prüflinge und die Examinatoren, deren

38 Ebd., S. 536. 39 Ebd., S. 539. 40 Florian Klinger: „Kleist phatisch-dramatisch“, in: Kleist revisited, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und Friederike Knüpling, München 2014, S. 103–110, hier S. 108 (Hervorhebung im Original, DG). 41 Vgl. Christian Garve: Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, Breslau 1797. 42 Vgl. Friedrich Schleiermacher: „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, in: Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke, Bd. 10, München 1983.

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Verstand „eine gefährliche Musterung passieren“43 muss. Einzig im Salon gibt es kein klares Gegenüber und dementsprechend scheitert der Protagonist dieser Szene auch, weil er seine Gedanken in aller Ruhe entfalten kann und dementsprechend dem existenziellen Druck des Kampfes nicht ausgesetzt ist. Seiner Schwester möchte Kleist nicht das Wort überlassen und flüchtet sich in regelrechte Guerillataktiken, um zum Erfolg zu kommen: Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Ideen auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.44

Nach vielen Jahren des Militärdienstes in der preußischen Armee weiß Kleist, dass Kriege nicht nur in offenen Schlachten oder in ehrbaren Zweikämpfen gewonnen werden. Manchmal ist man dazu gezwungen, in die Rolle des Partisanen zu schlüpfen.45 Wer im Krieg oder im Gespräch etwas erreichen will, der muss bereit sein, mitunter regelwidrig zu kämpfen. Kleists agonales Weltbild äußert sich aber nicht nur in dessen Verwendung militärischer Metaphorik. Man kann diese Haltung auch in der Struktur von Kleists Schreibstil aufsuchen. Jürgen Stenzel, der Kleists Periodenbaustil exemplarisch an der Marquise von O.... untersucht hat, weist auf die kräftebündelnde Funktion des Doppelpunktes in Kleists Prosa hin: Auch der Doppelpunkt, der die Kaskaden einer Periode gesammelt weiterreicht zu deren Schlußteil, der Apodosis, gehört dem sicherstehenden Urheber der Periode an, der der Satzflut Einhalt gebietet und sich ihr gegenüber gestaltgebend behauptet. Er staut den fließenden Strom, um ihn dann haushälterisch über seine Fluren zu leiten oder mit geballter Wucht auf die Adressaten seiner Rhetorik niederstürzen zu lassen.46

Die Perioden Kleists zeichnen sich durch äußerste Gespanntheit aus. Oft setzt er Appositionen und Verbindungswörter nicht zur Verzögerung ein, sondern

43 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 540. 44 Ebd., S. 535. 45 Vgl. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. Br. 1987. 46 Jürgen Stenzel: Zeichensetzung. Stiluntersuchungen an deutscher Prosadichtung, Göttingen 1966, S. 60.

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umgekehrt zur Beschleunigung. Die „dreist[e]“47 Setzung des Anfanges erzeugt die Notwendigkeit, zum Schluss zu kommen. Die Dehnung der Periode durch Einschübe verlangsamt den Ablauf nicht, sondern verleiht ihm im Gegenteil den Eindruck von Dringlichkeit. Das Geschehen entspannt sich nicht mit dem Ende der Periode, denn die gewonnene Energie wird an die nächste Periode weitergegeben. Auf diese Weise wird der Leser durch den Text getrieben wie Kleists Figuren durch die Widrigkeiten, die sich ihnen entgegenstellen. So wie sich die Trägheitskraft erst durch impetus oder Widerstand bemerkbar macht, ist auch der Periodenbaustil ein Mittel, ungenutzte Kräfte durch das bewusste Aufbauen von Hindernissen zu mobilisieren. Die derart erzeugte Geschwindigkeit ist dieselbe, die Kleist für die Verfertigung der Gedanken beim Reden einfordert. Ausschlaggebend ist dabei, dass die Bewegung aus dem Antagonismus zweier Kräfte heraus entsteht. Letztlich ist es also das entschiedene Gegeneinander zwischen Zweien, welches die Grundlage der Kleist’schen Poetik bildet. Ob es im Streit stehende Figuren, Satzteile oder ganze Textteile sind, am Ende setzt sich eine Fraktion durch und bringt die andere zu Fall. Die Bilder, in denen Kleist diesen Fall ausdrückt, nimmt er in seinen Essays hauptsächlich aus den Naturwissenschaften, allerdings bemüht er dabei selten nur eine Disziplin.

K ALKULIERTE Ü BERLASTUNGEN Auf den gesamten Text verteilt finden sich in der Verfertigung Metaphern aus der Kochkunst, dem Tischlerhandwerk, dem Militärwesen, der Elektrizität, der Physiologie, der Mechanik, dem Handelswesen, der Medizin und schließlich, obwohl nicht explizit genannt, aus der Deklamation. Man kann den nicht mehr als sieben Druckseiten umfassenden Essay also sowohl in literarischer wie auch in physikalischer Hinsicht als überladen bezeichnen. Manche Bereiche schöpft Kleist tiefer aus, andere nennt er nur ein einziges Mal. Entscheidend ist, dass in dem gesamten Text das Prinzip vorherrscht, anstelle eines Arguments ein Bild anzuführen. Schon der Aufbau des Textes macht diese Tendenz deutlich: Kleist hangelt sich von Bild zu Bild und von Periode zu Periode. Auch die ominöse Ankündigung einer Fortsetzung am Ende des Essays unterstreicht die offene Strukturierung des Textes. Jedes Bild könnte für das andere eintreten, und auch die einzelnen Szenen lassen keine klare Dramaturgie erkennen. Streng genommen macht Kleist nichts anderes, als er im Essay zu beschreiben versucht: Er verfertigt Gedanken, und zwar in einer

47 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 535.

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Schreibweise, die der Rede sehr nahe steht.48 Die beschriebenen Szenen, Beispiele, Vergleiche und Metaphern dienen weniger der Argumentation als vielmehr der Illustration eines in der Überschrift bereits voll entfalteten Gedankens. Anthony Stephens bezeichnet diese Tendenz Kleists, dieselben Gedanken oder Figuren mit mehreren unterschiedlichen Metaphern zu belegen, als eine „vorübergehende Dominanz der Metonymie gegenüber der Metaphorik“49. Der Bildwert der einzelnen Metapher, so Stephens, wird dahingehend eingeschränkt, dass diese nicht mehr dazu in der Lage ist, den vollständigen Gedanken auszudrücken oder die jeweilige Figur vollständig zu beschreiben. Aus dem einfachen Ersetzungsverhältnis der Metaphorik wird auf diese Weise eine Beschreibung von Teilaspekten, die strukturell der Metonymie ähnelt.50 Diese Metaphernketten Kleists, so Stephens weiter, funktionieren deshalb, weil sich die einzelnen Metaphern durch eine, für gewöhnlich metonymisch konnotierte, Kontiguität in Position halten.51 Indem Kleist mehreren Metaphern die Last seiner Ideen aufbürdet, stützen sich die für sich genommen fragwürdigen Bilder gegenseitig. In der Verfertigung lässt sich dieses Verfahren anhand der Episode zwischen Mirabeau und dem Zeremonienmeister illustrieren: Nachdem Mirabeau seine Rede gehalten hat, vergleicht Kleist ihn mit einer Kleist’schen Flasche und fährt dann fort: „Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“52 In kürzester Zeit bewegt sich das Geschehen durch drei unterschiedliche Referenzbereiche: Da es sich bei dieser Situation um eine Rede vor den Generalständen handelt, befinden wir uns zunächst im Bereich der Rhetorik, dann wechselt Kleist das Register und drückt den Sachverhalt mit Begriffen aus der Elektrizitätslehre aus. Zuletzt geht er auf den

48 Vgl. Wolfram Groddeck: „Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache. Zu Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden‘“, in: Kleist lesen, hg. v. Marianne Schuller und Nikolaus Müller-Schöll, Bielefeld 2003. 49 Anthony Stephens: „‚Menschen | Mit Tieren die Natur gewechselt‘. Zur Funktionsweise der Tierbilder bei Heinrich von Kleist“, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 36 (1992), S. 115–142, hier S. 137. 50 Zum Verhältnis von Metapher und Metonymie vgl. Roman Jakobson: „Two Aspects of Language and Two Types of Aphastic Disturbances“, in: Ders.: Selected Writings II, Den Haag 1971, S. 239–259, hier S. 254ff. 51 Stephens: „‚Menschen | Mit Tieren die Natur gewechselt‘“ (wie Anm. 49), S. 138. 52 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 537.

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Zeremonienmeister ein, dessen zuckende Oberlippe als Reflex und das „zweideutige Spiel an der Manschette“ als Habitus in den Bereich der Physiologie fallen. Dieses von Stephens beschriebene Verfahren Kleists, einen Sachverhalt durch eine kalkulierte Überlastung mit vielen Metaphern zu beschreiben und auf diese Weise einen vorübergehenden Ausnahmezustand, ein Hinübergleiten der Metapher in die Struktur der Metonymie, zu erzeugen, hat ein Pendant in dessen poetologischer Bildwelt, nämlich die Beschreibung des Würzburger Torbogens. Im Dezember 1800 schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge: Ich gieng an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spatzieren. Als die Sonne herabsank war es mir als ob mein Glück untergienge. […] Da gieng ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine aufeinmal einstürzen wollen – u ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, […] daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt.53

Zweierlei lässt sich hier beobachten: Erstens Kleists Tendenz, wissenschaftliche Beobachtungen mit einer moralischen Wendung zu versehen.54 Der sich kontinuierlich selbst aufgehaltene Fall der einzelnen Steine spendet ihm Trost „vor dem wichtigsten Tage [][s]eines Lebens“. Zweitens der Hang, die Bilder, die er auf diese Weise moralisiert, aus der Mechanik zu entlehnen bzw. auf diese zurückzuführen. Der Beschreibung der fallenden Steine lässt er die unscheinbare Bemerkung vorausgehen, dass „die Sonne herabsank“. Dies lässt sich als Anknüpfung an den Anfang des Briefes verstehen, in dem er vor Wilhelmine eine Auswahl ebenfalls moralisierter kurzer Wissenschaftlerprofile ausbreitet. Im ersten dieser Profile erzählt Kleist die wohl berühmteste Anekdote der Wissenschaftsgeschichte auf seine Weise: Newtons Einfall nach der Beobachtung des berühmten Apfelfalls führt „durch eine Reihe von Schlüssen zu dem Gesetze […], nach welchem die Weltkörper sich schwebend in dem unendlichen Raume erhalten.“55 Der in dem Brief zweifach beschriebene Schwebezustand als Effekt eines auf Dauer gestellten Kräfteausgleiches, eine Basiskonstellation der Kleist’schen Poetologie56, findet sich andeutungsweise auch in der Verfertigung. Wenn Kleist am 53 Brief an Wilhelmine von Zenge, 16./18. November 1800 (mit Zusatz vom 30. Dezember 1800), in: DKV IV, S. 157–165, hier S. 159. 54 Vgl. Bernhard Greiner: „Sturz als Halt: Kleists dramaturgische Physik“, in: KJb 2005, S. 67–78, hier S. 68. 55 Brief an Wilhelmine von Zenge (wie Anm. 53), S. 156. 56 Vgl. Tina-Karen Pusse: „Sturz und Fall“, in: KHb, S. 367–369, hier S. 368.

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Anfang des Textes den Zustand der Gedankenwelt seines Redners vor deren Restrukturierung durch den Einfall beschreibt, erklärt er, dass die „dunkle Vorstellung“ des Gesuchten mit diesem „von fern her in einiger Verbindung steht“57. In Anbetracht der die gesamte Verfertigung durchziehenden naturwissenschaftlichen Metaphorik lässt sich diese Bemerkung als poetische Paraphrase der von Newton beschriebenen Fernwirkung der Gravitationskräfte lesen. Es sind vor allem die statischen Grenzen der einzelnen Disziplinen, die den jungen Studenten Kleist davon abgeschreckt haben, sich vollends einer Wissenschaft zu widmen. Im Februar 1801 schreibt er an seine Schwester Ulrike: Alle Männer, die mich kennen, rathen mir, mir irgend einen Gegenstand aus dem Reiche des Wissens auszuwählen u diesen zu bearbeiten – Ja freilich, das ist der Weg zum Ruhme, aber ist dieser mein Ziel? Mir ist es unmöglich, mich wie ein Maulwurf in ein Loch zu graben u Alles Andere zu vergessen. Mir ist keine Wissenschaft lieber als die andere, und wenn ich eine vorziehe, so ist es nur wie einem Vater immer derjenige von seinen Söhnen der liebste ist, den er eben bei sich sieht. – Aber soll ich immer von einer Wissenschaft zur andern gehen, u immer nur auf ihrer Oberfläche schwimmen u bei keiner in die Tiefe gehen? Das ist die Säule, welche schwankt.58

Noch bevor er sich für eine Karriere als Schriftsteller entscheidet, interessiert sich Kleist mehr für das Wissen als die Wissenschaften. Er möchte nicht weniger als „Alles“ in der Wissenschaft finden und tut sich schwer damit, nur einzelne Bereiche erforschen zu können. Erst als Schriftsteller hat er Zugriff auf den „Baum“, auf dessen Blättern die gelehrte Welt wie „Raupen“59 sitzt, ohne sich um das Ganze zu bekümmern. Trotz seiner Abkehr von den Wissenschaften in Form einzelner Disziplinen behält Kleist das Interesse an der Wissenschaft bei. Noch ein halbes Jahr bevor er im November 1811 seinem Leben ein Ende macht, schreibt er an seine Kusine Marie von Kleist, er habe in einigen Wissenschaften noch etwas nachzuholen.60 Als literarischer Autor, der sich keinem naturwissenschaftlichen Fachpublikum zu stellen hat, ist er frei, auf sämtliche Disziplinen zuzugreifen und sie mithilfe von Analogien zu vernetzen. Denn wo sich Kleist wissenschaftlicher Metaphorik bedient, da nennt er selten nur eine Disziplin. Auf diese Weise bewegt er sich zwischen Argumentation und Evidenz: Seine Texte bilden gewissermaßen ein 57 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 535. 58 Brief an Ulrike von Kleist, 5. Februar1801, in: DKV IV, S. 195–201, hier S. 200. 59 Ebd., S. 198. 60 Brief an Marie von Kleist, ‹Mai (?) 1811›, in: DKV IV, S. 485–485, hier S. 485.

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„Experimentalsystem“, welches sowohl auf unterschiedliche naturwissenschaftliche Disziplinen als auch auf literarische Methoden ausgerichtet ist. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger bezeichnet zielorientierte, kommunikative und methodische Zusammenschlüsse von Wissenschaftlern und Institutionen als „Experimentalsysteme“.61 Das Forschungsinteresse dieser Experimentalsysteme richtet sich auf so genannte „epistemische Dinge“, welche sich im Wesentlichen durch eine „für sie charakteristische, irreduzible Verschwommenheit und Vagheit“ ausdrücken.62 Das epistemische Ding ist gewissermaßen das antizipierte Forschungsergebnis, welches durch sein Antizipiert-werden das Experimentalsystem gliedert und zusammenhält. Das Gegenstück zum epistemischen Ding ist das „technische Ding“.63 Als technische Dinge bezeichnet Rheinberger materielle Niederschläge von Forschungsergebnissen, also ehemalige epistemische Dinge, beispielsweise Laborgeräte. So sedimentiert sich der wissenschaftliche Fortschritt durch das Auffinden epistemischer Dinge, welche, sobald sie ausgeforscht sind und ihre Zukunftsorientiertheit abgelegt haben, im Laufe der Zeit zu technischen Dingen umgearbeitet werden. Diese Konstellation zieht eine weitere Dimension des Forschungsexperimentes nach sich, die Rheinberger als „Repräsentationsraum“64 bezeichnet. Das epistemische Ding, welches, weil es ein stets zukünftiges ist, seine wissenschaftliche Signifikanz nur ex post zugeschrieben bekommen kann, kann nur „in Ketten von Darstellungen Bedeutung erhalten.“65 Die Darstellung eines epistemischen Dinges muss unvollständig bleiben, sie verweist immer auf die nachfolgende Darstellung: „Die Besonderheit wissenschaftlicher Repräsentation liegt in dieser Besonderheit ihrer differentiellen Iteration.“66

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ALS LITERARISCH NATURWISSENSCHAFTLICHER H YBRID Die entscheidende Neuerung in Kleists Konzept von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden ist die vorübergehende Entkopplung von Material und Ergebnis. Das Material, d. h. Argumente, Einwände, Beispiele etc., wird in

61 Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (wie Anm. 8), S. 168. 62 Ebd., S. 27. 63 Ebd., S. 33. 64 Ebd., S. 9f. 65 Ebd., S. 130 (Hervorhebungen im Original, DG). 66 Ebd., S. 132.

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der Rede nicht strukturiert und durchgearbeitet vorgetragen, sondern in deren Verlauf so lange in immer neuen Konstellationen zusammengeführt, bis sich das Ergebnis gewissermaßen von alleine einstellt. Es geht Kleist also nicht darum, zwei Datensätze miteinander zu verbinden oder abzugleichen: „Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen.“67 Das Gegenüber trägt zum Gespräch nichts weiter bei, als seine bare Präsenz, die den Redner zum Reden zwingt. Der Druck, den das Gegenüber dabei auf den Redner ausübt, zwingt diesen dazu, von der Vorbereitung des Gedankens zu dessen Produktion überzugehen. Und weil diese Produktion physisch, d. h. beim Reden vor sich geht, greifen die mechanischen Bewegungsgesetze und „[d]ie Sprache ist alsdann keine Fessel […] an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.“68 Indem Kleist die Produktion des Gedankens von der Vorbereitung löst und stattdessen mit der Präsentation verbindet, unterläuft er die Tradition der antiken Rhetorik und stellt sie vom Kopf auf die Füße: In der Rhetorik geht der Redner vom Auffinden des Stoffes (inventio) über dessen Gliederung (dispositio) und stilistische Ausarbeitung (elocutio) nach dem Einprägen des fertigen Vortrages (memoria) zuletzt erst zum Halten der Rede (actio) über. Bei Kleist steht zuerst die actio, welche über eine unstrukturierte elocutio und dispositio zur inventio hinführt: Der Redner hat den Stoff beisammen, anstatt ihn aber zu gliedern und stilistisch zu bearbeiten, führt er ihn ex tempore in unterschiedliche Konstellationen zusammen.69 Das Ergebnis dieses Prozesses, so die Prämisse Kleists, ist dem Redner genauso verborgen wie seinem Gegenüber. Der entscheidende Einfall liegt in Form einer vom Redner nicht antizipierbaren „dunkle[n] Vorstellung“70 im Material bereit und erscheint erst, wenn das ungeordnete Wissen durch unterschiedliche Konstellationen geführt worden ist. Die Stehgreifrede, von Quintilian als der wertvollste Ertrag einer langjährigen Beschäftigung mit der Redekunst (proventus quidam plenus longi labori)71 angepriesen, wird bei Kleist zum Regelfall.

67 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 534. 68 Ebd., S. 538. 69 Vgl. Groddeck: „Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache“ (wie Anm. 48), S. 103f. 70 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 535. 71 Vgl. Quintilian: Institutio oratoria X/Lehrbuch der Redekunst 10. Buch, übers. v. Franz Loretto, Stuttgart 1995, S. 114ff.

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Die andere antike Redetradition, die Kleist mit seinem Konzept aufruft, ist das sokratisch-platonische Verständnis von der maieutischen Methode. Maieutik, zu Deutsch: Hebammenkunst, bezeichnet ein Lehrgespräch, welches nicht allen Teilnehmern als solches bewusst sein muss, in dem der Lehrende den Lernenden nicht durch ausformuliertes Wissen belehrt, sondern durch gezieltes Fragen auf die Lösung hinführt.72 Weil der Schüler das Wissen bereits in sich trägt, muss sich der Lehrer einerseits als Hebamme betätigen, um dem Schüler durch Fragen bei der Entbindung des Gedankens behilflich zu sein. Andererseits muss er als Kontrollinstanz auftreten, um Scheinlösungen herauszustellen und durch erneutes Nachfragen zu kritisieren. In Kleists Konzept allerdings tritt der Zuhörer nicht als maieutischer Lehrer auf, sondern als Projektionsfläche für eigene Korrekturen und Nachfragen. Der Redner antizipiert die Reaktionen seines Gegenübers, reagiert in seiner Rede auf diesen antizipierten Einwand und produziert auf diese Weise eine gewissermaßen autopoietische Maieutik: „Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte [...].“73 Mit dem „Als-ob“ des Gegenübers erzeugt sich der Redner einen Widerstand, gegen den er ankämpfen muss. Das Gegenüber bleibt dabei weitestgehend passiv. Der Sprecher ist sich also in maieutischen Kategorien Lehrer und Schüler zugleich. Obwohl Kleist sich sowohl an der klassischen Rhetorik und der sokratischen Maieutik für sein Redekonzept orientiert, stammt der maßgebliche Einfluss für seine Konzeption einer Verfertigung der Gedanken beim Reden aus einem ganz anderen Bereich: nämlich aus der sich verändernden naturwissenschaftlichen Experimentalkultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einbildungskraft und Fiktion geraten durch den steigenden Einfluss der messenden und mathematisierenden Naturwissenschaften zunehmend unter Druck.74 Die Funktion des Experiments differenziert sich weiter aus, sodass neben dem Bestätigungs- und Demonstrationsexperiment immer mehr das Forschungsexperiment ins Zentrum der wissenschaftlichen Methodik rückt.75 Im Gegensatz zu den anderen beiden Experiment72 Vgl. H. Meinhardt: „Maieutik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, 13 Bde., Darmstadt 1971–2007, Bd. 5, S. 637– 638, hier S. 637. 73 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 535f. 74 Vgl. Michael Gamper: „Experimentelle Differenzierung im 19. Jahrhundert. Eine Einleitung“, in: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“. Experiment und Literatur II, hg. v. Michael Gamper, Martina Wernli und Jörg Zimmer, Göttingen 2010, S. 9–23, hier S. 12. 75 Vgl. Gerhard Wiesenfeldt: „Was demonstriert ein Experiment? Überlegungen zum Verhältnis von Erkenntnisgewinn und Wissensvermittlung in der Frühen Neuzeit“, in:

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typen steht der gewünschte Ausgang des Forschungsexperiments nicht von vornherein fest. Ein solches Experiment kann weder gelingen noch misslingen, denn sein Ausgang gibt dem Experimentator die Möglichkeit, auf die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten der Natur zu schließen. Durch das Forschungsexperiment werden keine Hypothesen verifiziert oder falsifiziert, sondern es werden Daten gesammelt. Rheinberger zufolge hat ein solches experimentell orientiertes Forschen eine völlig neue Qualität. Ob Kleist während seiner Studienzeit experimentell gearbeitet hat, ist nicht zu ermitteln. Die Experimente, die er bei Wünsch in den Vorlesungen zur Experimentalphysik zu sehen bekommen hat, fallen wahrscheinlich eher in die Kategorie der pädagogisch orientierten Demonstrationsexperimente. Betrachtet man jedoch seine literarischen Werke, so lässt sich ein Gestus nachweisen, der mit den von Rheinberger beschriebenen forschungsorientierten Experimentalstrukturen große Ähnlichkeit hat. Die Verfertigung kann als Paradigma einer solchen Übertragung naturwissenschaftlicher Verfahren auf die Literatur gelesen werden, weil es in diesem Text nicht nur um die Ausstellung und Verarbeitung wissenschaftlich konnotierten Wissens geht, sondern auch um eine literarische Fassung der Frage nach der Wissensgenerierung überhaupt: Die plötzliche Idee des Redners ist, ebenso wie das „epistemische Ding“, einerseits das Gesuchte und andererseits, bis zu ihrem Erscheinen, fundamental unbekannt. Zugleich wird im hypothetischen Wettstreit mit dem Gegenüber jedes erreichte Ergebnis zum Material. Die Redner Kleists benutzen ihre Ergebnisse als Trittsteine zu neuen Ideen und müssen ihre Kraft mitunter in erster Linie dafür aufwenden, ihr Rederecht zu behaupten. Die Makrostruktur des Textes gleicht schließlich der Durchführung jener „differentiellen Iteration“, die für die wissenschaftliche Repräsentation in einem Experimentalsystem charakteristisch ist. Die ständigen Registerwechsel und die Verschiebung von Metaphern ins Metonymische zeugen von diesem Umstand. Die Ergebnisse Kleists in der Verfertigung sind Zwischenergebnisse bzw. vorläufige Darstellungen eben jener allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden, die als Forschungsgegenstand des Textes bezeichnet werden kann. Kleist führt allerdings keine Forschungsexperimente im physikalischen Sinne durch. Es ist kein Zufall, dass es in der zumeist poetologisch gelesenen Verfertigung um die Rede geht. Kleists Material ist das Wort und demzufolge sind seine Experimente zwar von den forschungsorientierten Laborexperimenten seiner Zeitgenossen informiert, sie verbleiben jedoch wie Gedankenexperimente in der Sphäre der Sprache. Die traditionelle Funktion, die dem Gedankenexperiment Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig, Berlin, New York 2006, S. 260–278 , hier S. 260f.

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zugewiesen wird, so der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, ist das Infragestellen des durch die sozialen und materiellen Zwänge der Laborsituation eingeschliffenen geistigen Apparates des Forschers.76 Durch die Neuordnung bereits vorhandener Daten im Gedankenexperiment wird das Wissen in immer neue Konstellationen geführt. Randerscheinungen, Kuhn spricht im wissenschaftlichen Kontext von „Anomalien“77, können mithilfe von Gedankenexperimenten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und so ein bereits vorhandenes Datenkonvolut neu ordnen. Insofern kann das Gedankenexperiment durchaus dazu dienen, neue Aussagen über die Welt zu treffen, denn es kann den Blickwinkel des Betrachters verändern: Indem das Gedankenexperiment die dunkel empfundene Anomalie zu einem konkreten Widerspruch machte, zeigte es den Versuchspersonen, was nicht in Ordnung war. Diese erste deutliche Wahrnehmung der Unstimmigkeit zwischen Erfahrung und unausgesprochener Erwartung lieferte die Gesichtspunkte zur Behebung der Schwierigkeit.78

Aus dieser Perspektive betrachtet, kann das Gedankenexperiment ähnlich funktionieren wie das von Rheinberger beschriebene Forschungsexperiment. Dabei wird die unbekannte Seite des „epistemischen Dinges“ ins Innere des Forschers verlegt, mit anderen Worten: ins Unbewusste. Der Forscher weiß etwas Neues über die Welt auszusagen, ohne sich dessen bewusst zu sein, und wird somit gewissermaßen zum Experimentator an sich selbst. Im Gedankenexperiment verschränken sich die Experimentalkultur um 1800 und die maieutische Methode: Einerseits ist das Ergebnis offen und andererseits liegt das Material dem Befragten bereits vollständig vor. Dem entspricht Kleists Sprachauffassung in der Verfertigung. Der Redner schafft sich durch den Einbezug eines Gegenübers in die Produktion eines unfertigen Gedankens eine experimentelle Situation, deren Ausgang nicht vorhersagbar ist. Gleichzeitig betreibt er, da das Material, aus dem die Idee geboren wird, bereits vollständig vorliegt, Maieutik an sich selbst. Ausgehend von einer „dunklen Vorstellung“ bringt sich der Redner bei Kleist durch den Widerstand des Anderen in 76 Thomas Samuel Kuhn: „Eine Funktion für das Gedankenexperiment“, in: Ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Lorenz Krüger, Frankfurt a. M. 1978, S. 327–356, hier S. 339. 77 Vgl. Thomas Samuel Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt a. M. 1976, S. 65f. 78 Kuhn: „Eine Funktion für das Gedankenexperiment“ (wie Anm. 76), S. 351f. (eigene Hervorhebung, DG).

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mehreren Iterationen in einen „gewisse[n] Zustand […], welcher weiß.“79 Doch genauso wie das ausgeforschte epistemische Ding nur noch als technisches Ding im Experimentalsystem erhalten bleibt, sind auch die Ergebnisse der Gedankenexperimente Kleists niemals endgültig: „Die Fortsetzung folgt“80. So wie die einzelnen Episoden in der Verfertigung miteinander kommunizieren, durch Verschiebungen von Emphasen, Registerwechsel und Kontiguität zeitweise für einander eintreten, stehen auch die anderen Texte Kleists durch gemeinsame Motive, Figurenkonstellationen und Bewegungsgesetze miteinander in Verbindung: „So unterschiedlich die Erzählungen inhaltlich sind, der strukturelle Aufbau sowie der erzählerische Fokus auf der Bewegung der Figuren (was sie ‚gethan‘ bzw. was sie ‚nun tun wollen‘) verbindet die einzelnen Erzählungen Kleists.“81 Die Gedankenexperimente Kleists verbinden literarische und naturwissenschaftliche Verfahren zu einer Zwischenform, für die ich den Namen experimentelle Maieutik vorschlagen möchte.

S CHLUSS : A PORETISCHE S CHWEBEZUSTÄNDE Anstatt Fragen zu beantworten, problematisiert Kleist scheinbar gesichertes Wissen und sprachliche Normen. Seine literarischen Texte beschreiben Problemkonstellationen, die sich einer eindeutigen und endgültigen Ausdeutung entziehen. Die distanzierte Erzählhaltung, die den Leser in die Position eines Beobachters versetzt, evoziert einen Problemkomplex, der im Text nicht aufgelöst wird, sondern an den Leser in den typisch aporetischen Schlusssätzen Kleists weitergegeben wird.82 Auch in dieser Hinsicht gleicht Kleists Schreibweise dem naturwissenschaftlichen Forschungsexperiment: „Experimentalsysteme sind nicht Anordnungen zur Überprüfung und bestenfalls zur Erteilung von Antworten, sondern

79 Kleist: „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (wie Anm. 16), S. 540 (Hervorhebungen im Original, DG). 80 Ebd. 81 Viola van Beek: „Experimentelle Ästhetik bei Kleist? ‚Plötzliche Wendungen‘, ‚drängende Umstände‘ und ‚sonderbare Erscheinungen‘ in Heinrich von Kleists Erzählungen“, in: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ (wie Anm. 74), S. 100–120, hier S. 101. 82 Vgl. Ruth Klüger: „Freiheit, die ich meine. Fremdherrschaft in Kleists Herrmannschlacht und Verlobung in St. Domingo“, in: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur, Göttingen 2009, S. 145–175, hier S. 171.

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insbesondere zur Materialisierung von Fragen.“83 Die aufgeworfenen Fragen müssen grundsätzlich unbeantwortbar sein, sie sind nicht auf eine Antwort hin ausgelegt, sondern dienen dazu, ein Problembewusstsein zu schaffen, wo vorher keines war. In diesem Punkt stimmen Experimentalsystem und Maieutik überein: Beide Methoden sind Verfahren zur Destabilisierung und Restabilisierung vermeintlich gefestigten Wissens.84 Kleist verbindet diese Tendenzen im Fallmotiv und seinem Verfahren der experimentellen Maieutik. Der Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden lässt sich als Paradigma für eine solche experimentelle Maieutik lesen, die sich zwischen den Verfahren naturwissenschaftlicher und literarischer Wahrheitsfindung positioniert. Ausgehend von einer solchen Lektüre lässt sich auch das Gesamtwerk Kleists als komplexes Experimentalsystem verstehen, in dem der einzelne Text als Fallgeschichte den differenziellen Iterationen eines Forschungsexperimentes entspricht.

83 Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (wie Anm. 8), S. 25. 84 Vgl. ebd., S. 97.

2. Tierarten Bären, Hunde, Pferde

Die Adresse des Bären Kleists Marionettentheater und die Anekdoten der Tierseelenkunde D IETMAR S CHMIDT

Mit einer ganz kurzen Bewegung seiner Tatze pariert der Bär sämtliche Stöße von C. […] Die Instinktsicherheit des Bären scheint sich zu einer magisch-animalischen Telepathie zu steigern, die ihn unbesiegbar macht. Aus Australien werden von den Boxkämpfen der Menschen mit Kängu1

rus ähnlich überraschende Dinge berichtet.

„Glauben Sie diese Geschichte?“2 Die Frage, die Herr C., erster Tänzer der Oper in M., seinem Gegenüber stellt, kommt plötzlich. Sie unterbricht das Erzählen. Man hat den Eindruck, dass Herr C. mit seiner Anekdote noch gar nicht zum Ende gekommen ist. Deutlich steht die eben entworfene Szene vor Augen: der elegante, gewandte Fechter auf der einen Seite, und auf der anderen Seite der angekettete Bär, der jeden möglichen Stoß mit dem Degen, den der Fechter gegen ihn anbringt, mühelos pariert. Der Kampf mag im Grunde entschieden sein, zugunsten des Bären, aber der Schluss der Erzählung fehlt, die Szene wird stillgestellt. Die metasprachliche Wendung greift ein, bevor die Anekdote ausformuliert ist, sodass ein letzter Satz, ein letztes Wort und also der vielleicht wesentliche Teil der Geschichte vorenthalten bleiben.

1

Gisela Dischner: „der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele“. Die Briefe

2

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater“, in: BKA II/7, S. 317–319, 321–

Heinrich von Kleists als Teil seines Werks, Bielefeld 2012, S. 99. 323, 325–327, 329–331, hier S. 330.

330 | S CHMIDT

Dies wird als Hinweis auf die eigentümliche Beschaffenheit anekdotischen Erzählens zu lesen sein. Der Begriff der Anekdote akzentuiert das ‚Nicht-Herausgegebene‘, das noch nicht Veröffentlichte, die ,geheime Geschichte‘. Ihrem Begriff nach lässt also die Anekdote etwas einstmals Vorenthaltenes endlich dauerhaft zirkulieren. Vielleicht aber entfaltet sich die Anekdote bei Kleist im Gegenteil als eine Form des vorenthaltenden Erzählens – indem sie etwas preisgibt, dessen Glaubhaftigkeit im Erzählen zugleich fraglich wird, gerade weil sie mit Beweismitteln und Bezeugungen nicht geizt. Während die Anekdote üblicherweise einen Vorfall betrifft, der als „glaubwürdig, aber nicht bezeugt“ tradiert wird,3 erscheinen die Ereignisse in Kleists Anekdoten umgekehrt oft als unglaubwürdig, aber bezeugt. Für jene Bären-Anekdote in Kleists Erzählung Über das Marionettentheater, die mit der ausdrücklichen Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit abbricht, sollen die konstitutiven Verfahren der Verunsicherung im Folgenden genauer betrachtet werden. Im Marionettentheater als Fragment markiert, ist das offene Ende dieser Anekdote auf wissensgeschichtliche Kontexte zu beziehen, um seine historische Bedingtheit erhellen zu können. Vor allem die sogenannte Tierseelenkunde ist dabei bedeutsam, die – bevor sich eine experimentell verfahrende Verhaltenskunde etabliert – als biologische Protowissenschaft wesentlich anekdotisch verfährt. Die tierseelenkundlichen Anekdotensammlungen, die um und nach 1800 Interesse erlangen, bilden einen möglichen Lektüre-Zusammenhang, zu dem die Bären-Anekdote ins Verhältnis gesetzt werden kann. Wie die Tierseelenkunde sich aus alten Quellen speist und diese mit neuesten Beobachtungen, Mutmaßungen und Folgerungen vereint, ohne je ein kanonisiertes Feld gesicherten Wissens daraus gewinnen zu können, so gibt Kleists Anekdote vom fechtenden Bären, möglicherweise früheren Erzählungen folgend, einen Vorfall zu denken, dessen allgemeinere Bedeutung zwar unabweisbar scheint – aber doch dahingestellt bleibt. Die Bären-Anekdote von Kleist bietet keine Gewissheit, sondern sie zeigt stattdessen – indem sie abbricht und verschweigt; indem sie sich von anderen Teilen des Marionettentheaters unterscheidet; indem sie wissensgeschichtliche Resonanzen erzeugt – Verfahren der Darstellung und Deutung. Sie ist dem Begehren anekdotischen Erzählens auf der Spur. So verweist sie auf einen historischen Ort der Literatur, der sich im 19. Jahrhundert, wie es scheint, tierseelenkundlich herleitet.

3

Vgl. Heinz Schlaffer: „Anekdote“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 87–89, hier S. 87.

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Die Anekdote vom Bären, der beim Fechten jede Finte des menschlichen Gegners ignoriert, jede ernste Attacke mühelos abwehrt und daher als unbesiegbar erscheint, bildet den Höhepunkt von Über das Marionettentheater. Als eine mögliche Quelle gilt die Anekdote Der Bärentreiber, die im Jahre 1802 im Brennus, Zeitschrift für das Nördliche Teutschland veröffentlicht worden ist.4 In einer Rezension aus dem gleichen Jahr, welche sich insgesamt wohlwollend über den Brennus äußert, stößt gerade diese Geschichte auf Kritik: Man möge es doch unterlassen, eine solche „uralte Zeitungs-Legende“ wie den Bärentreiber zu verbreiten.5 Dem Rezensenten erscheint die Bären-Geschichte als eine durchaus zwielichtige ‚Zeitung‘ oder Nachricht, die, trotz ihres Anspruchs auf Neuheit und Wahrhaftigkeit, eigentlich ‚uralt‘ ist. Wenn die im Brennus erzählte Bären-Geschichte, diesem Urteil zufolge, dem Wesen des Mediums, in dem sie kursiert, geradezu widerspricht (der ‚ZeitSchrift‘), dann fragt sich, was Kleist (den „,geborene[n] Redakteur‘“6) dazu bewogen haben mag, eine ähnliche Geschichte in seiner Zeitung, den Berliner Abendblättern, unterzubringen. Die Anekdote über den fechtenden Bären verweist auf die komplexe Beschaffenheit von Kleists „Zeitschriftstellerei“7, wie sie sich im Projekt der Abendblätter zeigt.

4

Horst Häker: „Neue Quellen zu Beiträgen Heinrich von Kleists in seinen ,Berliner Abendblättern‘“, in: Ders.: Überwiegend Kleist. Vorträge, Aufsätze, Rezensionen 19802002, Heilbronn 2003, S. 24–29, hier S. 25f. Dass der Brennus-Text Kleist als Vorlage gedient hat, ist möglich, aber keineswegs evident. Zu neueren Versuchen, die Herkunft des fechtenden Bären plausibel zu machen und daraus umfassendere Deutungsmöglichkeiten zu gewinnen, vgl. etwa Kevin M. F. Platt, Andrej Rossomachin: „Kleists InsiderWitz. ,Über das Marionettentheater‘ und der russische Bär“, in: Kleist revisited, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und Friederike Knüpling, München 2014, S. 123–134.

5

Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen 1 (1802), S. 266.

6

Klaus Kanzog: „Alternativer Journalismus. Heinrich von Kleist als Herausgeber und Redakteur der ‚Berliner Abendblätter‘“, in: Ders.: Heinrich von Kleist. Spurensuche, Textzugänge, Aneignungen. Gesammelte Schriften aus den Jahren 1968-2011, Heilbronn 2012, S. 205–217, hier S. 206.

7

Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003, S. 181.

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Im Brennus hat die Anekdote vom ‚Bärentreiber‘ tatsächlich eine nachrichtliche Beschaffenheit. Es handelt sich jedoch keineswegs um eine ganz „einfache[] Anekdote“, wie behauptet wurde.8 Der Bärentreiber Eine wahre Anekdote (Aus dem Ansbachischen eingesandt) Vor wenigen Wochen kam ein Bärentreiber, bei einem schrecklichen Schneegestöber, mit seinem, den Landleuten wunderbaren Ernährer, dem Bären, Abends in der G*** Mühle an, unweit dem Pfarrdorfe S** im Uffenheimer Kreise. Er bat den Müller mehr für seinen Bären, als für sich, um Nachtquartier. Dieser sah auch ein, wie unmöglich es dem Bärentreiber sey, jetzt noch weiter zu ziehen; bedauert aber, wenn gleich für ihn, doch nicht für seinen zottigen Begleiter ein Nachtlager zu besitzen. ‚Wenn Ihr nur einen Tag später gekommen wäret‘, fuhr der Müller gutmüthig fort, ,so hätte ich wohl auch Euren Bären beherbergen können. Morgen schlachte ich mein Schwein, und in dessen Stall hätte er guten Platz gefunden.‘ Der Bärentreiber, besorgt um die Pflege seines Wohlthäters, drang mit Vorstellungen und Bitten in den Müller, diese Nacht sein Schwein wo anders unterzubringen, und dessen Stall doch dem Bären einzuräumen. Es geschah. Um Mitternacht kam ein Dieb, um das Schwein zu stehlen. Er wagte einen lebhaften Anfall, den der Bär noch kräftiger erwiederte. Der Dieb, dadurch nur allzusehr von der Größe seiner zu hoffenden Beute überzeugt, verdoppelte seine Angriffe; ohne Murren schlug der Bär, ruhig und derbe, jeden derselben ab. Kein Mißverständnis ahnend, und muthig genug, sein angefangenes, so viel versprechendes Werk nicht unvollendet zu lassen, erneuerte der Dieb, nach einer Pause, den Kampf. Aber der Bär, der unterdessen eine vorteilhafte Stellung genommen hatte, brachte seinen Gegner, nach einem Angriff, in seine Tatzen, drückte ihn fest eingeschlossen sehr unsanft an seine Brust und begann ein fürchterliches Brummen als Siegesgeschrei. Der Dieb, jetzt den Irrthum zwischen des Müllers Schwein und seinem Sieger so schrecklich gewahr werdend, stimmte in den kläglichsten Tönen mit ein. Dieses treffliche Unisono weckte gar bald den Müller, der den Bärentreiber sogleich davon benachrichtigte. Man ging zum Stall. Da lag der Besiegte fast halb entseelt, noch fest eingeklammert, zwischen den Füßen seines zottigen Siegers. Das gerettete Schwein wurde am Tage geschlachtet, der Bärentreiber blieb beim festlichen Schmause; und der Bär behauptete zum Lohn, auch die andere Nacht, den siegreich erkämpften Platz.9

8

Christian-Paul Berger: Bewegungsbilder. Kleists Marionettentheater zwischen Poesie

9

Zit. nach: Häker: „Neue Quellen“ (wie Anm. 4), S. 25f.

und Physik, Paderborn 2000, S. 281.

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Zunächst treten Züge einer Nachricht hervor: ein Einbruch hat stattgefunden, ein Diebstahl wurde versucht, der Dieb wurde überwältigt. Warum aber trägt die Anekdote im Brennus den Titel Der Bärentreiber? In erster Linie geht es hier offenbar weder um den Dieb noch um das Tier, sondern um den Halter des Bären und dessen besondere Weise, ein Tier zu nutzen, mit ihm zu wirtschaften. Indem er das Tier pflegt, wird es zu seinem „Wohlthäter[]“, es sichert seinen Lebensunterhalt und verschafft ihm sogar eine festliche Mahlzeit. Diese ökonomische Beziehung unterscheidet den Bärentreiber vom Müller, der einem ganz anderen Erwerb nachgeht und sein „gerettete[s] Schwein“ einfach schlachtet und isst (sodass eigentlich nicht das Schwein, sondern der Braten gerettet wird). Zur Anekdote, die über die bloße Nachricht hinausweist, wird der Bärentreiber insofern, als er die Verschiedenheit der Nutzverhältnisse mit der Differenz tierischer Gattungen zusammenbringt. Es scheint, als seien der Umgang des Bärentreibers und des Müllers mit ihrem jeweiligen Tier in der besonderen Beschaffenheit der animalischen Gattungen (‚Sus‘ und ‚Ursus‘) begründet. Ein Schwein, das ist ein potenziell guter Braten; ein Bär hingegen lässt sich für Schaustücke dressieren. Nach dem besten Wissen der Menschen sind die Orte dieser tierischen Gattungen innerhalb der Ordnung der Natur kulinarisch oder theatral markiert. Die Verbindungen zwischen Naturgeschichte und Ökonomie,10 zwischen Wesen und Gebrauchswert der Tiere erweisen sich in der Anekdote dadurch als stabil, dass sie von zufälligen Umständen auf die Probe gestellt werden: Der Bär erhält vorübergehend den Schweinestall als seinen Ort zugewiesen. Er ist zu Gast bei einer anderen tierischen Gattung. Die Adresse des Bären ändert sich. Diese Adressenänderung wird dem Dieb zum Verhängnis. In der Dunkelheit der Nacht, auf das Adressbuch der Natur blind vertrauend, hält er den Bären für ein Schwein. Doch auch im Schweinestall kann der Bär sein Wesen nicht verleugnen, indem er durch Kraft und Gebrumm auf sich aufmerksam macht; wodurch zugleich die menschliche und die natürliche Ordnung (die Regeln des Wirtschaftens und die Unterscheidungen der Taxonomie) glücklich bestätigt sind. Das Festmahl würdigt die Natur von Schwein und Bär: während jenes zum Schmaus wird, erhält das Theatertier Gastrecht am fremden Ort. Bei dieser Feier menschlicher und natürlicher Ordnung, die miteinander im Einklang sind, verharrt die Anekdote freilich nicht. Wenn sie im Titel auf den Bärentreiber verweist, dann deshalb, weil er derjenige ist, der diese doppelte Ordnung zum Vorschein bringt: Er ist derjenige, der den Bären dressiert, und der ihn dazu bringt, sich (als Exemplar seiner Gattung) aufzuführen. Damit aber entsteht 10 Zur Konstellation von Naturgeschichte und Ökonomie im Zusammenhang der „Episteme der Repräsentation“ vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 211–268.

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der Verdacht, dass die gefeierte Ordnung auf ihre theatrale Darstellung angewiesen sein könnte. Auch der Untertitel: „Eine wahre Anekdote“ verweist zwar auf die Tatsächlichkeit des Erzählten, geht aber zugleich von einem Spannungsverhältnis zwischen dem ,Wahren‘ und dem ,Anekdotischen‘ aus (andernfalls müsste die ‚Wahrheit‘ nicht eigens betont werden). Sowohl auf der Ebene des (innerhalb der erzählten Geschichte) zur Schau Gestellten, Gezeigten, als auch im Hinblick auf die Erzählweise gerät die Übereinkunft von Naturgeschichte und Ökonomie in einen Schwebezustand, der ihre Geltung von innen her bedroht. Sie wird auf seltsame Weise verzeitlicht, indem sie von bestimmten Kulissen – einer Landschaft in „schreckliche[m] Schneegestöber“ – sowie von Kommunikationswegen (es handelt sich um eine ‚Einsendung‘ aus dem „Ansbachischen“) abhängig wird. Das zur Schau Gestellte wird weitergesagt und zirkuliert als vergängliche Wirklichkeit. Vielleicht konnte die Geschichte vom Bärentreiber gerade aufgrund dieser Relativierung für Kleist als Anregung dienen.11

A NTHROPOMORPH

VS . ANTHROPOZENTRISCH

Auch im Verhältnis des Bärentreibers zum Marionettentheater von Kleist findet eine Änderung der Adresse des Bären statt. Bei Kleist geht es nicht mehr darum, dass der Bär seinen Platz in der naturgeschichtlichen ,Kette der Wesen‘ auf die Probe stellt, sondern hier steht der Bär einem Menschen, sogar dem Menschen gegenüber. Es handelt sich um eine Änderung der Adresse, die den Wechsel von einer Ordnung des Wissens zu einer anderen mit sich bringt. Alles, was im Marionettentheater über den Bären ausgesagt wird, ergibt sich im Lichte einer anthropologischen Perspektive.12 Die Fähigkeiten des Bären kommen nun als allgemein tierische in Betracht, die imstande sind, ein Licht auf den Menschen zu werfen.

11 In einer anderen Version der Geschichte fehlt diese selbstreflexive Dimension. Auch das Zweikampf-Motiv gibt es dort nicht, sodass keine Ähnlichkeit mit Kleists Erzählung erkennbar ist. Vgl. William Bingley: Biographien der Thiere, oder Anekdoten von den Fähigkeiten, der Lebensart, den Sitten und der Haushaltung der thierischen Schöpfung, Bd. 2, Leipzig 1805, S. 79. Im englischen Original findet sich die Erzählung nicht. Vgl. William Bingley: Animal Biography; Or, Anecdotes of the Lives, Manners, and Economy of the Animal Creation, Arranged According to the System of Linnæus, Vol. I, London 1803, S. 330–342 (dort die Ausführungen zum ‚gemeinen Bären‘). 12 Mit Foucault könnte man sagen, dass die beiden Anekdoten – die aus dem Brennus und die von Kleist – zwei verschiedenen Epistemen angehören (der Episteme der

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Und auch das menschliche Gegenüber des Bären wird nicht mehr in erster Linie hinsichtlich seiner Unterschiedenheit von anderen menschlichen Akteuren ausgewiesen. Es geht hier nicht mehr, wie im Brennus, um den Bärentreiber, den Müller oder gar den Dieb mit ihren je verschiedenen Metiers. Vielmehr steht eine anthropologische Fragestellung im Fokus der Aufmerksamkeit, sodass alle menschlichen Unterschiede in den Hintergrund treten. Auf dem Gebiet der Fechtkunst wird zwar zunächst die Überlegenheit des einen über den anderen festgestellt; aber die Unterscheidung erfolgt nicht im Zeichen des Berufs oder der Abstammung, sondern auf Grundlage eines Kontrakts unter Gleichen, im ,fairen Wettbewerb‘, um schließlich eine allgemein menschliche Grenze in der Konfrontation mit dem Tier zu verdeutlichen: Ich befand mich, auf meiner Reise nach Rußland, auf einem Landgut des Hrn. v. G..., eines Liefländischen Edelmanns, dessen Söhne sich eben damals stark im Fechten übten. Besonders der Ältere, der eben von der Universität zurückgekommen war, machte den Virtuosen, und bot mir, da ich eines Morgens auf seinem Zimmer war, ein Rappier an. Wir fochten; doch es traf sich, daß ich ihm überlegen war; Leidenschaft kam dazu, ihn zu verwirren; fast jeder Stoß, den ich führte, traf, und sein Rappier flog zuletzt in den Winkel. Halb scherzend, halb empfindlich, sagte er, indem er das Rappier aufhob, daß er seinen Meister gefunden habe: doch alles auf der Welt finde den seinen, und fortan wolle er mich zu dem meinigen führen. Die Brüder lachten laut auf, und riefen: Fort! fort! In den Holzstall herab! und damit nahmen sie mich bei der Hand und führten mich zu einem Bären, den Hr. v. G., ihr Vater, auf dem Hofe auferziehen ließ. Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einen Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur. Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah; doch stoßen Sie! stoßen Sie! sagte Hr. v. G... und versuchen Sie, ob Sie ihm Eins beibringen können! Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem Rappier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parirte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verführen; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parirte den Stoß. Jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Hr. von G.... Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parirte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) gieng er gar nicht einmal ein: Aug’ in Auge, als ob er meine Seele lesen Repräsentation und der Episteme der Humanwissenschaften). Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 10).

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könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.13

Es geht hier weder um Unterschiede zwischen den Menschen noch um Gattungsunterschiede zwischen Tieren, sondern um jenen bedeutungsvollen Abstand, der exemplarisch durch die Gestalt und das Gebaren des Bären zwischen Mensch und Tier im Allgemeinen eröffnet wird – ein Abstand, der Mensch und Tier in ihrer Generalisierung nicht voneinander entfernt, sondern einander annähert. Dies wird insbesondere gegen Ende der zitierten Passage in zwei Parenthesen kenntlich. Zunächst heißt es, dass der Bär „wie der erste Fechter der Welt“ alle Angriffe pariert. Dies ist einerseits als rhetorische Figur lesbar (als ein Vergleich), andererseits als ein mimetisches Verhältnis (es scheint, als ob der Bär die menschliche Fechtkunst nachahme). In dem Wie und dem Als ob wird ein Abstand markiert, der aber zugleich die Bezeichnung größter Nähe ermöglicht. Die zweite Parenthese – die sich zur ersten als Steigerung verhält – gilt dann dem Umstand, dass der Bär auf Finten nicht reagiert: „was ihm kein Fechter der Welt nachmacht“. Hier gibt es kein Wie, keine rhetorische Übertragung, sondern nur noch deren bestimmte Negation (hier endet die Möglichkeit des Vergleichs). Und hier gibt es auch kein Als ob, keine Nachahmung: denn ‚Nachmachen‘ bedeutet mehr als bloßes ‚Nachahmen‘,14 eine tatsächliche Nachfolge; die aber, wird hier gesagt, ist nicht möglich. Sie würde zudem in umgekehrter Richtung verlaufen: Während zunächst das Tier den Menschen nachzuahmen scheint, kann nun der Mensch das Tier tatsächlich nicht nachmachen. Dem ‚realen‘ Abstand zwischen Mensch und Tier gilt hier anscheinend der Hauptakzent – als verlockende Nähe, die uneinholbar bleibt (was das Tier kann, will der Mensch können können).15 Die komplexe Verkettung der beiden Parenthesen, die von der Figuralität der Rede und vom Schein der Mimesis ausgeht und im Realen der Negation und mit einem daraus entspringenden Verlangen endet, verdeutlicht beispielhaft die Matrix eines um 1800 neuen Wissens. Jetzt geht es nicht mehr um herkömmliche Anthropomorphismen, die die Fauna in eigentümlichen tierischen Repräsentanten vorführen, um durch solche Figuren auf ihnen entsprechende menschliche Charaktere zu zeigen. Stattdessen formiert sich ein Anthropozentrismus, dem sich alle 13 Kleist: „Über das Marionettentheater“ (wie Anm. 2), S. 329f. 14 Vgl. die Unterscheidung verschiedener Praktiken des Nachahmens bei Karl Philipp Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen“, in: Ders.: Werke, hg. v. Horst Günther, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981, S. 549–578, hier S. 551. 15 Der Bär wird zur „Verkörperung der Prolepsis“. Stefan Rieger: „Bär“, in: Ders. und Benjamin Bühler: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2006, S. 35–46, hier S. 35.

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Figurenlehre als unzulänglich erweist. Alle Beobachtungen der Tierwelt richten sich nun bedeutsam auf ein allgemeines Wissen vom Menschen aus, das jedoch aufgeschoben bleibt.16 Auch die erstaunlichen Geschichten von Tieren, wie sie seit Langem kursieren, werden im Zeichen dieser zentrierenden, verallgemeinernden Kräfte umgewertet, sodass der Bär nun in diesem Sinne eine neue, transzendentale Adresse erhält.

V ERAUSGABEN

VS . BEWAHREN

Dies ergibt den ganz eigenen ‚Neuigkeitswert‘ der Tieranekdote. Stärker als im Brennus wird das Moment der Augenzeugenschaft betont. Während die Bärentreiber-Geschichte den Weg der Nachrichtenübertragung hervorhebt und nur Erzählerstimmen kennt, die am Geschehen nicht beteiligt gewesen sind, handelt es sich hier um einen homodiegetischen Erzähler, der selbst Protagonist der erzählten Geschichte ist. Bei Kleist beruft sich die Anekdote auf eigenes Erleben17 und kann daher nicht einfach (wie der Bärentreiber) als eine lang bekannte Geschichte unklarer Herkunft angefochten werden. Die Folge davon ist jedoch, dass die Erzählung den Charakter einer Nachricht verliert. Es wird kein Geschehen geschildert, das einem größeren Publikum zu ‚melden‘ wäre, sondern eine ‚Lebenserfahrung‘, deren Bedeutsamkeit dem Zusammenhang einer persönlichen Geschichte angehört. Sie besteht darin, ‚seinen Meister zu finden‘ (so die Formel, die die Anekdote selbst dafür liefert). Im Text wird diese subjektive Geltung des Erzählten ganz deutlich, denn für die Söhne des Herrn von G... ist der Vorfall wohl kaum der Rede wert. Sie wissen längst und haben erlebt, dass der Bär jeden menschlichen Fechter besiegt, sodass die

16 Entsprechend konstatiert Stephens, dass „Tierbilder eine tradierte rhetorische Codierung aufweisen, auf die Kleist […] anspielt, deren Auflösung er jedoch immer wieder in Szene setzt“ (Anthony Stephens: „,Menschen / Mit Tieren die Natur gewechselt‘. Zur Funktionsweise der Tierbilder bei Heinrich von Kleist“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 115–142, hier S. 141). Die Auflösung rhetorischer Codierungen geschieht im Zeichen einer epistemischen Neuausrichtung, mit der die animalischen Figuren ihre (scheinbar) stabile Signifikanz verlieren. 17 Man könnte sagen, dass die Anekdote bei Kleist ‚im Entspringen‘ gezeigt wird, wenn man davon ausgeht, dass eine Anekdote eigentlich keinen Erzähler in der ersten Person aufweisen kann, sofern die Anekdote erst im Weitererzählen zur Anekdote wird. Vgl. dazu Michael Niehaus: „Die sprechende und die stumme Anekdote“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 132 (2013), S. 183–202, hier S. 197.

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Niederlage des Herrn C. aus ihrer Sicht keine Neuigkeit, ja nicht die Spur eines Ereignisses enthält. Ohne Ereignis aber gibt es kein Erzählen, und wo keine Neuigkeit ist, gibt es nichts zu berichten. Der Stoff der Anekdote wird demnach in das Licht einer doppelten und konträren Wertung gerückt: Auf der einen Seite birgt er eine Erfahrung, die durch die Erzählstimme dessen verbürgt und übermittelt wird, dem sie zuteilgeworden ist; auf der anderen Seite aber veranlasst er keinen Bericht (keine „Indiskretion“, wie sie für die Anekdote typisch ist18) – weil er keine Information mit sich bringt. Diese Polarität zwischen erzählter Erfahrung und mitgeteilter Information19 nimmt einen Antagonismus vorweg, wie ihn später Walter Benjamin reflektiert. Dort betrifft dieser Gegensatz eine Realität der Massenmedien, die zu Kleists Zeiten noch kaum absehbar gewesen ist: Die Information hat ihren Lohn mit dem Augenblick dahin, in dem sie neu war. Sie lebt nur in diesem Augenblick, sie muß sich gänzlich an ihn ausliefern und ohne Zeit zu verlieren sich ihm erklären. Anders die Erzählung; sie verausgabt sich nicht. Sie bewahrt ihre Kraft gesammelt und ist noch nach langer Zeit der Entfaltung fähig.20

Kleists Berliner Abendblätter gehören zur Vorgeschichte einer solchen melancholischen Entgegensetzung des ‚wahren Erzählens‘ und des bloß informativen Berichts; sie „ordnen sich auf spezifische Weise in den allgemeinen Beschleunigungsprozess beginnender Industrialisierung ein“21. Bevor sich der Code der Massenmedien in der Binarität von Information/Nichtinformation ausprägt22 (und bevor die kleinen Formen ‚Anekdote‘ und ‚Nachricht‘ sich deutlich voneinander scheiden), versuchen die Abendblätter, Tagesaktualität und literarische Autorschaft in eine Konstellation zu bringen.23 Wesentlich ist, dass in der Anekdote vom 18 Schlaffer: „Anekdote“ (wie Anm. 3), S. 87. 19 Eine solche Polarität ist der Anekdote als Gattung – folgt man der Theorie Neureuters – grundsätzlich eingeschrieben, insofern sie sich einerseits auf zeitspezifische Umstände bezieht und andererseits an ein übergeschichtliches Interesse appelliert. Hans Peter Neureuter: „Zur Theorie der Anekdote“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 458–480, hier S. 466. 20 Walter Benjamin: „Der Erzähler“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1991, S. 438–465, hier S. 445f. 21 Sibylle Peters: „Wie Geschichte geschehen lassen? Theatralität und Anekdotizität in den ‚Berliner Abendblättern‘“, in: KJb 2000, S. 67–86, hier S. 67. 22 Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 21996. 23 Vgl. Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 7). Zum Verhältnis von kurzlebiger Information und der auf die Geschichte bezogenen Anekdote

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fechtenden Bären ausgerechnet die Tierwelt diesem Spannungsverhältnis ausgesetzt wird. Es scheint, als würde sie (nicht zufällig am Ende des ‚Zeitalters der Entdeckungen‘) als eine mögliche Quelle von ‚Neuigkeiten‘ den Erwartungen immer weniger entsprechen und als würde die Fauna vor allem in Erzählungen ihre alte Dignität behaupten können – genauer: in Form der „wahren Erzählung“24, wie Benjamin bewusst paradox formuliert, dabei auf ein Erzählen verweisend, das sein Geheimnis ‚bewahrt‘. Nach Benjamin wäre die Anekdote (griech. anékdotos: nicht herausgegeben) als ‚wahre Erzählung‘ gerade nicht ‚wahre Anekdote‘ im Sinne einer Geschichte, die das tatsächlich Geschehene in Umlauf gibt (wie im Brennus), sondern stünde vielmehr im Zeichen einer „verschwiegenen Dichtung“25. So verwundert es nicht, wenn der Eindruck der Authentizität des Erzählten in Kleists Marionettentheater gleich wieder zurückgenommen wird. Mit der Frage: „Glauben Sie diese Geschichte?“26 fällt Herr C. seinem eigenen Erzählen ins Wort, die Geschichte wird nicht zu Ende geführt. So bleibt die zuvor recht ausführlich dargestellte Begegnung mit den Söhnen des livländischen Edelmannes in der Schwebe, als käme es auf diese Umstände gar nicht an und als könnte alles auch anders gewesen sein. „Jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Hr. v. G…“27 – so lautet die letzte Bezugnahme darauf, die eine Fortsetzung erwarten lässt. Indem sich diese Erwartung nicht erfüllt, sondern stattdessen nach der Glaubwürdigkeit bei Kleist vgl. auch Johannes Lehmann: „Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsgeschichte der ‚Thatsache‘ und Kleists Berliner Abendblättern“, in: DVjs 89 (2015), S. 307–322. Wie die Unterscheidung von ‚Tagesbegebenheit‘ und Anekdote in den Abendblättern implodiert, zeigt Marianne Schuller: „Zu klein für zwei. Eine Anekdote von Kleist“, in: Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, hg. v. ders. und Gunnar Schmidt, Bielefeld 2003, S. 113–123. – Kleists historischer Ort lässt sich im Kontrast zu Moritz bestimmen, der das Ideal der Vollkommenheit nicht nur auf dem Gebiet der Ästhetik, sondern auch im Bereich des Zeitungswesens zur Geltung bringen wollte, ohne dass dabei die Kategorie der Aktualität eine Rolle spielte. Karl Philipp Moritz: „Ideal einer vollkommnen Zeitung“, in: Ders.: Werke, hg. v. Horst Günther, 3. Bd., Frankfurt a. M. 1981, S. 171–177. Zur Problematisierung von Autorschaft in Bezug auf die Abendblätter vgl. Pál Kelemen: „Erklärungen der Redaktion. Kleists Autorschaftspraktiken in den Berliner Abendblättern“, in: Kleist revisited (wie Anm. 4), S. 169–182. 24 Benjamin: „Der Erzähler“ (wie Anm. 20), S. 445. 25 Joachim Harst: „Steuermann und Marionette. Kontrolle, Theatralität und Begehren in Kleists Briefsprache“, in: KJb 2013, S. 95–119, hier S. 113. 26 Kleist: „Über das Marionettentheater“ (wie Anm. 2), S. 330. 27 Ebd.

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der Geschichte gefragt wird, ist die Gewissheit des Mitgeteilten anheimstellt. Der Redner plaudert die Möglichkeit der Skepsis aus und konterkariert den eigenen rhetorischen Erfolg. Die Antwort, die Herr C. erhält, erscheint daher als Übertreibung: „Glauben Sie diese Geschichte? – Vollkommen! rief ich, mit freudigem Beifall“28. Augenzeugenschaft oder gar Täterschaft, wie sie Herr C. mitbringt, scheinen gar nicht mehr nötig. Der Glaube, der hier bekundet wird, ist nicht in irgendeiner vermeintlich stabilen Referenz, sondern rein im Ästhetischen gegründet: Die Geschichte überzeugt, so die Behauptung, aus sich heraus, weil sie „so wahrscheinlich ist“. Wie sehr hier das zuvor zur Geltung gebrachte Prinzip der Zeugenschaft wieder eingeschränkt wird, zeigt sich im Vergleich zu jener Anekdote, die in Kleists Marionettentheater der Geschichte vom unbesiegbaren Bären vorausgeht. Wenn nämlich der Ich-Erzähler dem Herrn C. ein eigenes Erlebnis berichtet, so hält er es durchaus für angebracht, mit folgender Formel zu schließen: „Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte.“29 Sein eigenes Erleben glaubt der Erzähler mit der Berufung auf eine weitere Instanz, einen anderen lebendigen Augenzeugen, der aber ungenannt bleibt, absichern zu müssen. Ein „unendliche[r] Regreß“30 kündigt sich an, in dem jede Augenzeugenschaft durch noch eine weitere gestützt werden müsste. Das Erzählen scheint hier ganz von der Bewahrheitung eines äußeren Sachverhalts, auf den es verweist, abhängig zu sein und ist nicht schon durch eigene interne Stimmigkeit gerechtfertigt. Dass hier das Register der Referenzialität und nicht das des Ästhetischen gilt, fällt umso mehr auf, als gerade diese Geschichte um ästhetische Fragen kreist: um die „wunderbare Anmuth“ eines Jünglings, die sich mit dem Einsatz kritischen Bewusstseins mehr und mehr verliert. Die Erzählung von diesem Jüngling behauptet keine ästhetische Autonomie (wie auch der Protagonist dieser Erzählung seine „Lieblichkeit“31 verspielt) – anders als die Geschichte vom Bären, dessen „Instinkt“ sich, entgegen dem Diktum von Schiller, „mit Grazie äußer[t]“32. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 327. 30 Paul de Man: „Ästhetische Formalisierung. Kleists ,Über das Marionettentheater‘“, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 205–233, hier S. 216f. 31 Kleist: „Über das Marionettentheater“ (wie Anm. 2), S. 326. 32 Friedrich Schiller: „Über Anmut und Würde“, in: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u.a., Bd. 8, hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992, S. 330– 394, hier S. 333. Dazu auch Bernhard Greiner: „Freies Spiel und Kunst des Fechtens. Das Schöne und die Grazie als Sprachmodelle Kleists“, in: Heinrich von Kleist. Ein radikaler Klassiker?, hg. v. dems., Roland Reuß, Peter Staengle und Jan Philipp

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Drei Differenzen sind demnach im Spiel, die auf seltsame Weise koinzidieren: Unterscheidungen zwischen dem Referenziellen und dem Ästhetischen, zwischen ‚Verausgabung‘ und ,Bewahrung‘, zwischen Mensch und Tier. Wie ist es möglich, dass die in der Vielzahl dieser Differenzen überdeterminierte Adresse des Bären gerade in der Gattung der Anekdote ausgeprägt wird, die doch im literarischen Kontext der Goethezeit „als Relikt aus einer überlebten Epoche“33 erscheint? Es ist das Gebiet der sogenannten Tierseelenkunde, auf dem Anekdoten seit dem frühen 19. Jahrhundert tatsächlich weiterhin gedeihen.

D ER W ITZ

DER

T IERSEELENKUNDE

Im Jahre 1804 erscheint in Berlin anonym34 der erste Band der Thierseelen-Kunde auf Thatsachen begründet. Oder 156 höchst merkwürdige Anekdoten von Thieren. Ein zweiter Band folgt im Jahr darauf.35 Das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes stellt unter anderem folgende ,Merkwürdigkeiten‘ in Aussicht: 1. Die zu Postboten abgerichteten Hunde des Ackermanns Wesche zu Athenstädt 2. Ein Hund ruft seinem verunglückten Herrn Hülfe herbei 3. Zwei Pudel retten einem verunglückten Dachshunde das Leben 4. Ein Hund berichtet einem Postmeister den Tod seines Herrn, und zeigt den Mörder desselben an 5. Ein Hund stirbt im freudigen Erstaunen, seinen Herrn wieder zu sehen.36

Reemtsma, Dößel 2004, S. 9–30, hier S. 20: „Im Essay ,Über das Marionettentheater‘ scheint Grazie […] grundlegend umgedacht“; sie ist nicht mehr „geglückte Übereinstimmung von Körper und Geist, sondern [ist] monistisch an das Fehlen von Geist als Bedingung ihrer Möglichkeit geknüpft“. Zum „strikt materialistischen Gebrauch des Grazie-Begriffs“ bei Kleist vgl. Ulrich Johannes Beil: „,Kenosis‘ der idealistischen Ästhetik. Kleists ,Über das Marionettentheater‘ als Schiller-reécriture“, in: KJb 2006, S. 75–99, hier S. 83. 33 Sonja Hilzinger: „Anekdote“, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 7–26, hier S. 21. 34 Herausgebracht wurde das Buch von Carl August Matzdorff, dem Verleger Jean Pauls. 35 Thierseelen-Kunde auf Thatsachen begründet. Oder höchst merkwürdige Anekdoten von Thieren, Zweiter Theil, Berlin 1805. 36 Thierseelen-Kunde auf Thatsachen begründet. Oder 156 höchst merkwürdige Anekdoten von Thieren, Erster Theil, Berlin 1804, S. I.

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Die Hunde sind offensichtlich privilegierte Objekte dieses Beitrags zur Tierseelenkunde. Die Anekdoten 1-65 sind ihnen gewidmet, knapp die Hälfte der Erzählungen des ersten Bandes. Aber auch andere Tiere kommen in Betracht. Dabei etabliert der Aufbau des Buches zwar eine Aufzählung tierischer Gattungen, jedoch keine erkennbare naturgeschichtliche Systematik. Die Hunde werden gefolgt von den Pferden (Anekdoten 67-74, z. B. Nr. 71: „Ein Pferd hilft seinem trunkenen Reiter aus dem Steigbügel“) und den Katzen (Nr. 76-86, z.B. 82: „Eine Katze verklagt die Magd ihrer Gönnerin“). Genannt werden außerdem Elefanten, Löwen, Affen, Hirsche, Wölfe und andere Säugetiere, außerdem Vögel, Spinnen und Ameisen. Zur Anschauung sei die Anekdote 9 (ihrer Kürze halber) zitiert: Ein Hund kauft sich eine Pastete Zu Edinburg – schreibt Smellin [sic!] in seiner Philosophie der Naturgeschichte (Theil 2) ist ein Hund, der einem dortigen Gewürzkrämer gehört, und welcher seit einiger Zeit dem Volke in der Nachbarschaft viel Vergnügen machte, und Jedermann in Erstaunen setzte. Ein Mann, der auf den Straßen mit einer Glocke klingelte und Pfennigspasteten verkaufte, gab eines Tages von ungefähr diesem Hund eine Pastete. Das nächstemal hörte der Hund die Glocke des Pastetenmannes; er lief mit Heftigkeit auf ihn zu, und wollte ihn nicht loslassen. Der Pastetenverkäufer verstand, was das Thier wollte, zeigte ihm eine Pastete, und wies auf seinen Herrn, der in der Hausthür stand und dieß sah. Der Hund bat seinen Herrn sogleich mit den demüthigsten Stellungen und Geberden. Der Gewürzhändler gab dem Hunde einen Pfennig in den Mund, den er sogleich dem Pastetenmanne übergab, und wofür er seine Pastete empfing.37

Diese Anekdote gibt eine Reihe von Hinweisen auf die Charakteristika der tierseelenkundlichen Empirie. Erstens gibt es (neben den für die Anekdote unerlässlichen örtlichen und zeitlichen Bestimmungen) häufig eine Berufung auf Zeugen oder auf eine bestimmte Autorität, hier William Smellie, den Verfasser der Philosophy of Natural History, die in der Übersetzung des Braunschweiger Professors für Naturgeschichte Eberhard August Wilhelm Zimmermann im Jahre 1791 auf Deutsch erschienen ist.38 Demnach wird kein Hehl daraus gemacht, dass die sogenannten Tatsachen der Tierseelenkunde zu großen Teilen aus Lektüren gewonnen sind; die schriftlich verbürgten Zeugenschaften sind für dieses Wissen konstitutiv. 37 Ebd., S. 17f. 38 Die Anekdote findet sich auch (enthalten in einem Auszug aus Smellie, aber in anderer Übersetzung als die deutsche Buchausgabe der Philosophy of Natural History) in: Neue Auswahl der nützlichsten und unterhaltendsten Aufsätze für Deutsche. Aus den neuesten Brittischen Magazinen, Bd. 1, Leipzig 1792, S. 147f.

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Zweitens fällt auf, dass die Beteiligung der menschlichen Zeugen an dem erzählten Geschehen oft eine erhebliche Rolle spielt. Es geht fast immer um Begebenheiten, die sich in Vergesellschaftungen von Tieren und Menschen ereignen, sodass Letztere nicht nur als unbeteiligte Beobachter, sondern, wie in Kleists Marionettentheater, selbst als Akteure fungieren und in den tierseelenkundlichen Anekdoten als homodiegetische Erzähler, die die Geschichten ursprünglich in Umlauf gebracht haben, impliziert sind.39 Drittens handelt es sich häufig um die Erzählung einer Merkwürdigkeit, die sich als Übertragung zwischen kulturellen Verkehrsformen und tierischen Verhaltensweisen darstellt (hier: der Erbeutung von Nahrung und ihr Kauf). Dieser mehrfach hybriden Beschaffenheit der Tieranekdoten – in ihrer Durchmischung von Naturbeobachtungen und Lektüren, von Deskriptionen und Interventionen, von menschlichem und tierischem Benehmen – korrespondiert ihr eigentümlich changierender Status, der sie – viertens – zugleich als Dokument des Wissens und als populäre Erzählung erscheinen lässt. Einer der maßgeblichen Autoren, die im Vorwort der anonymen ThierseelenKunde genannt werden, ist Hermann Samuel Reimarus, dessen Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere zuerst 1760 erschienen. Es ist interessant zu beobachten, wie Reimarus sein Projekt der Erforschung und Systematisierung tierischer Triebe auf sehr andere Weise begründet, als dies nach ihm die Tierseelenkunde versucht. Bei ihm spielen Anekdoten eine weitaus geringere Rolle. Es ist weniger die einzelne Merkwürdigkeit in den Verhaltensweisen der Tiere, die ihn interessiert, als die allgemeine Systematik der verschiedenen Triebe, wie sie im Tierreich zu beobachten sind. Diesem klassifikatorischen Interesse bleiben Anekdoten – wie sie später zur Grundlage tierseelenkundlichen Wissens werden – fremd. Reimarus beschäftigt die Vollkommenheit einer Schöpfung, die „nimmer auf einmal von einer Classe in die andere oder von einer Gattung in die andere überspringt“, sondern jeweils durch „bewunderungswürdige Nachbarschaft und Angränzung“40 den Gesamtzusammenhang der verschiedenen Ordnungsstufen sichtbar werden lässt, ohne dass jemals die signifikanten Unterschiede in und zwischen den Naturreichen verschwimmen. Merkwürdige Begebenheiten, zur 39 Bei Smellie findet sich noch der folgende Schlusssatz angefügt: „Dieser Handel zwischen dem Pastetenmanne und des Gewürzhändlers Hunde hat Monate lang täglich gedauert, und dauert noch immer fort“ (William Smellie: Philosophie der Naturgeschichte, Bd. 2, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von E. A. W. Zimmermann, Berlin 1791, S. 213. Zur Originalstelle vgl. William Smellie: Philosophy of Natural History, Edinburgh 1790, S. 453.) 40 Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe, hg. v. Jürgen von Kempski, 2 Bde., Göttingen 1982, Bd. II, S. 593.

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Hauptsache erklärt, müssen solchem Ordnungssinn widersprechen. Es geht um „zuverläßige Wahrheiten, nicht aber Fabeln und Mährlein“. Deswegen werden von Reimarus nur solche Schriftsteller als „Gewährsleute“ angeführt, die sich „durch behutsame und bewährte Beobachtungen[] Glauben erworben haben“41. Für die Verfahren des Beobachtens gelten bestimmte Regeln. Einer der wichtigsten Grundsätze ist, dass die Tiere in ihrer „natürlichen Freyheit“ studiert werden müssen. Sind die Tiere gezähmt oder gefangen, dann „kann man die natürlichen Triebe aus ihren Handlungen nicht schließen, weil sie in der außernatürlichen Lebensart theils erlöschen, theils abgeändert werden“42. Der menschliche Beobachter muss sich also aus dem Geschehen, das erfasst werden soll, heraushalten. Es geht darum, „die Thiere in ihren natürlichen verborgenen Kunstverrichtungen zu belauschen“43. Was aus der Sicht der Allgemeinen Betrachtungen des Reimarus als Narration allenfalls gerechtfertigt sein könnte, wäre von der Stimme eines heterodiegetischen Erzählers geprägt. Der Unterschied zur Tierseelenkunde könnte größer nicht sein: Für sie ist, wie sich gezeigt hat, im Gegenteil ein homodiegetischer Erzähler typisch, der am Geschehen beteiligt ist. Dies gilt auch für die Anekdote von Kleist, in der Herr C. von seinem Fechtkampf mit dem Bären erzählt. Noch eine weitere Differenz zwischen Reimarus und der späteren Tierseelenkunde springt ins Auge. Die Tiere – bei allem, was sie können, was sie verrichten, was sie empfinden und möglicherweise sich vorstellen – zeigen eine bloß entfernte Ähnlichkeit mit den „Seelenkräften“ des Menschen. Für Reimarus gibt es keine Vermischung, keine Verquickung von menschlichen Verkehrsformen und tierischen Verhaltensweisen. Ich will gern zugestehen, daß die Seelenkräfte und Vorstellungen der Thiere, in der Wirkung und dem Nutzen, eine Analogie oder entfernte Aehnlichkeit mit den unsrigen haben; das ist, die andern Thiere richten gewisser Maßen durch ihre ganz undeutliche und verworrene Vorstellung eben dasselbe aus, und erreichen dadurch denselben Zweck und Nutzen, welchen wir Menschen durch unser Denken, durch Begriffe, Urtheile und Schlüsse, durch Witz, Verstand und Vernunft, ja sogar durch überlegte Wahl und Freyheit erhalten.44

Was sich in den Resultaten tierischen Handelns mit den Ergebnissen des von Überlegung geleiteten menschlichen Handelns deckt, bringt nur eine „entfernte Aehnlichkeit“ mit den geistigen Fähigkeiten der Menschen hervor. Die Vermögen der Tiere und Menschen bilden kein Kontinuum, in dem durch graduelle 41 Ebd., Bd. I, S. 70f. 42 Ebd., S. 71. 43 Ebd., S. 72. 44 Ebd., S. 101.

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Steigerung aus animalischen Fähigkeiten menschliche werden und die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen könnten.45 Dabei ist die Unterscheidbarkeit von Mensch und Tier exemplarisch für die Gesamtheit der Differenzen, durch deren Bestand und deren Aufrechterhaltung die naturgeschichtliche Ordnung als solche überhaupt möglich ist. Das Wissen, um das es Reimarus geht, betrifft weniger die privilegierte Position des Menschen als vielmehr „die Absicht der ganzen Schöpfung und den Zusammenhang der sichtbaren Welt“46. Die Figur der entfernten Ähnlichkeit hält die Dinge auseinander und verhindert, dass der naturgeschichtliche Wissensraum kollabiert. Die Formel der Herstellung entfernter Ähnlichkeiten dient schon seit Aristoteles zur Bestimmung des menschlichen Witzes.47 Wenn der Witz Dinge zusammenbringt, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören, so ist dies eine wesentliche geistige Leistung, ein Vermögen des Scharfsinns. Aber darin besteht zugleich auch eine Gefahr: das Verhängnis eines maßlosen Scharfsinns, der Ähnlichkeiten hervorbringt, die in die Irre führen. Schon die Überschrift der zitierten Anekdote – Ein Hund kauft sich eine Pastete – ist, aus dieser Perspektive, von täuschendem Witz geprägt. Sie zeigt eine Ähnlichkeit zwischen dem Treiben eines fressgierigen Hundes und einer wohlüberlegten ökonomischen Transaktion. Die tiermenschliche Differenz wird unklar; gravierender noch: Die im Tierreich anekdotisch grassierende Menschenähnlichkeit lässt auch die Unterschiede zwischen den tierischen Gattungen verschwimmen. Die Anekdoten der Tierseelenkunde bilden ein Archiv, in dem der Plural „die Tiere“ erzählerisch als ein unberechenbares, undifferenziertes Gewimmel realisiert wird. In jedem Augenblick ist es möglich, dass eine tierische Gattung in einem ihrer Exemplare hervortritt, um ihre Menschenähnlichkeit48 vorzuführen. Das

45 Vgl. dagegen wiederum Smellie: „Obgleich kein Thier so hohe Geisteskräfte besitzt wie der Mensch, so trifft man doch keine Eigenschaft der menschlichen Seele an, wovon nicht deutliche Spuren in irgend einem Thiere zu finden wären.“ Smellie: Philosophie der Naturgeschichte (wie Anm. 39), Bd. 1, S. 185. 46 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (wie Anm. 40), Bd. I, S. 437. 47 Vgl. Ekkehard Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten. Zur Geschichte von Witz und ‚ingenium‘, München 2007. 48 Vgl. J. A. Bergk: „Vorrede des Übersetzers“, in: Bingley: Biographien der Thiere, 2. Bd. (wie Anm. 11), S. V: „[E]s gibt viele Geisteseigenschaften, die sich bei den Thieren reiner und unverfälschter ausprägen als bei den Menschen, und wem es um eine genaue Einsicht in die Natur des menschlichen Gemüthes zu thun ist, der kann unmöglich die Bekanntschaft der Thierseelenkunde entbehren.“

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ist der ,Witz‘ der Tierseelenkunde, wie er sich im Unterschied zu älteren Wissensdiskursen ergibt; und genau dieser Witz wird in Kleists Marionettentheater zitiert.

A NEKDOTE

UND

E XPERIMENT

Eine komplexe historische Konstellation zeichnet sich ab, die die Tier-Anekdote einerseits (aus der Perspektive von Reimarus) als tendenziell veraltet und bedenklich, andererseits aber (aus der Sicht der jüngeren biologischen Wissenschaften) als signifikant erscheinen lässt. Dabei kann zugleich kein Zweifel bestehen, dass auch im 18. Jahrhundert Tier-Anekdoten ein durchaus verbreitetes Genre gewesen sind (die Geschichten der anonymen Thier-Seelenkunde von 1804 sind ja überwiegend von Autoren des 18. Jahrhunderts übernommen worden), und ebenso sicher ist, dass auch im 19. Jahrhundert die Vorbehalte gegenüber den Anekdoten nicht abreißen. Man gelangt jedoch zu dem Befund, dass die Anekdoten ab 1800 in einer Weise für tierkundliches Wissen produktiv werden, die sich zuvor nicht beobachten ließ: Denn es etabliert sich eine Relation zwischen Anekdote und Experiment. Wenn ein Bibliotheksstempel in dem von Google gescannten Exemplar der Thier-Seelenkunde darauf verweist, dass dieses Buch um 1900 dem Experimentalpsychologen Hugo Münsterberg gehört hat, dann eröffnet dies eine überraschende Genealogie: Das anekdotische Erzählen, in dem sich die Empirie tierischen Seelenlebens konstituiert, bildet einen Teil der Vorgeschichte einer sich um 1900 experimentell begründenden Psychologie, welche alle Vorstellungen vom tierischen Instinkt und seiner Zielgerichtetheit als imaginäre Konstrukte verwirft und die so adressierten Phänomene als Verkettungen von Reizreaktionen durchsichtig machen will.49 Wilhelm Wundts Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele von 1863, in denen der spätere Gründer des ersten Instituts für experimentelle Psychologie in Leipzig – dessen Schüler Münsterberg gewesen ist – sein künftiges Forschungsprogramm skizzierte, liefern für eine solche Genealogie reichlich Belege. Für die von Wundt betriebene rückhaltlose Experimentalisierung psychologischen Wissens hängt viel davon ab, dass ‚Bewusstsein‘ nicht nur beim Menschen, sondern, in Abstufungen, durch die gesamte Tierwelt hindurch zu finden sei. Anekdoten liefern dafür willkommene Belege. In der 29. Vorlesung führt Wundt etwa die hohe Intelligenz des Elefanten an: „Sein Handeln geschieht nicht nach einem ihm ein für alle Mal gegebenen Muster“, lässt sich also nicht auf Instinkt zurückführen, sondern beruht, so Wundt, auf „verständiger Erwägung“.

49 Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychologie, Bd. 1, Leipzig 1900, S. 465.

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„Eine Menge von Anekdoten bezeugt dies, von denen wenigstens ein Theil ohne Zweifel wahr ist, weil sie leicht durch ähnliche Beobachtungen bestätigt werden können.“50 Ein Pariser Maler wollte einen Elephanten mit offenem Maule abmalen und hielt ihm deßhalb fortwährend Aepfel so hin, als wolle er sie ihm zuwerfen; der Elephant, den das wahrscheinlich verdroß, goß aber plötzlich einen Strom Wasser aus seinem Rüssel auf die Malerei herab, die damit total zerstört war. Eine solche Handlung ist offenbar nicht bloß verständig, sondern witzig. Der Witz ist vielleicht die seltenste Eigenschaft der Thiere, der Elephant teilt sie nur noch mit dem Pudel und einigen Affenarten.51

Anders als bei Reimarus, für den der ‚Witz‘ eine gefährliche Fehlleistung menschlichen Erkennens sein kann, die zu Verwechslungen und falschen Gleichsetzungen führt, ist ‚Witz‘ hier – und sei es nur bei wenigen tierischen Arten – eine Eigenschaft der Tierwelt selbst. Wenn auch das Begriffsverständnis sich bei Wundt, dem modernen Wortgebrauch entsprechend, auf das Moment des Komischen verengt hat, so wird doch klar, dass ein Wissen von den geistigen Fähigkeiten des Menschen nicht mehr im Zeichen seiner Unterscheidung vom Tierischen, sondern im Gegenteil allein durch Einbeziehung der gesamten Fauna zu erlangen ist. Für die Tierseelenkunde des 19. Jahrhunderts war das Konzept des Instinkts noch nicht obsolet.52 Doch ist eine Tendenz zur Experimentalisierung bemerkbar, die auf dem Weg anekdotischen Erzählens ausgeprägt wird. Betrachtet man den Artikel ,Instinct‘ von 1841 in der von Brockhaus verlegten Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, so lässt sich nachvollziehen, welche Funktionen die Anekdote erfüllt. Der Autor, Karl Friedrich Heusinger (der als Begründer der vergleichenden Pathologie in Erinnerung geblieben ist), geht ausführlich auf die Anekdotenliteratur ein und bezieht sich dabei auch auf eine der Geschichten, die in der tierseelenkundlichen Anekdotensammlung von 1804 nacherzählt wird:

50 Wilhelm Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, Bd. 1, Leipzig 1863, S. 454. 51 Ebd. 52 Vgl. jedoch die frühe Kritik des Instinkt-Begriffs bei Johann Gottfried Herder: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher u.a., Bd. 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989, S. 100– 105 („Von den Trieben der Thiere“).

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Es existirt eine sehr große Anzahl von Geschichten, denen absichtliche Täuschung zum Grunde liegt, eine ebenso große Anzahl, wo die Beobachtungen mangelhaft sind, und daher die natürliche Erklärung nicht gegeben werden kann. Zu den ersteren gehört z. B. der so oft von Neuem aufgetischte sprechende Hund von Leibnitz; mag die Autorität auch noch so groß sein, Leibnitz ist betrogen worden; als ich mich im J. 1832 der Cholera wegen einige Zeit in Schlan in Böhmen aufhielt, hatte der Wirth, der überhaupt ein Tausendkünstler war, einen recht gut dressirten, geschickten Pudel, der viele Kunststücke machte; sein Herr war aber zugleich ein recht guter Bauchredner, und er benahm sich mit seinem Hunde so gescheit, daß eine Menge Reisender mit dem Glauben weggingen, der Hund könne sprechen. Die berühmten Hunde Munito, Fido, Bianco, die buchstabirten, rechneten, Karte, Schach spielten, und die Leuret noch so hoch stellt, horchten nur auf unmerkliche Zeichen, die ihnen ihre Herren mit den Nägeln gaben. Wir können die feinen Sinne und die Abrichtungsfähigkeit dieser Thiere bewundern, aber Zeichen von Überlegung gaben sie so wenig, wie exercirende Canarienvögel und Flöhe, oder die singenden Hunde Bennati’s und Guerry’s. […] Wenn Dupont de Remours und Leuret meinen, die Elster könne nur bis fünf, nicht bis sechs zählen, so ist das lächerlich.53

Heusinger sieht sich durch die Anekdoten geradezu herausgefordert. Es gilt zu verdeutlichen, wo der Bereich seriöser Wissenschaft verlassen wird. Auch der gute Name von Leibniz zählt nichts, dessen Erlebnis mit einem sprechenden Hund sich auch in der Anekdotensammlung von 1804 wiederfindet. Heusingers Text gerät außer Kontrolle, indem er die notorische Leibniz-Anekdote mit einer eigenen Anekdote neutralisieren und sogar widerlegen will. Das anekdotische Erzählen, so scheint es, ist unausweichlich, und zwar selbst dort, wo man ihr Skepsis entgegenbringt. Das Zwingende des Anekdotischen liegt darin begründet, dass in den erzählten Merkwürdigkeiten Unerklärtes gegeben ist, das dem Denken keine Ruhe lässt. Ihre größte Kraft entfalten sie dort, wo sie nicht einfach Beispiel sind für etwas, das man schon weiß, sondern aufgeschobene Exempel, deren Beispielhaftigkeit das tierseelenkundliche Wissen künftig erst noch wird einlösen müssen. Heusinger sagt das sehr deutlich: Die Anekdoten, die er verwirft, sind solche, für die eine „natürliche Erklärung nicht gegeben werden kann“. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich das Denken nicht zuletzt im Medium des Anekdotischen bewegt, wenn es damit beschäftigt ist, natürliche Erklärungen zu finden. Die Anekdote ist eine Erscheinungsweise des Neuen auf dem Feld des tierkundlichen Wissens. Dies kennzeichnet ihre Nähe zum Experiment.

53 C. F. Heusinger: Art. „Instinct“, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hg. v. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Zweite Section, Leipzig 1841, S. 112.

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Für diese Nähe scheint eine weitere Gemeinsamkeit zu sprechen: die bedeutsame Vielheit der Anekdoten, die in Sammlungen, und der Experimente, die in Reihen organisiert sind. Daraus ergeben sich in beiden Fällen Überlagerungen und Differenzen, die versprechen, fortschreitend bestimmtere Konturen jeweiligen Wissens hervorzubringen. Die Anekdote ist aber dennoch selbst nicht Experiment, oder nur in einem übertragenen Sinne. Denn es zeichnet sie aus, dass der von ihr erzählte Vorfall sich nicht ohne Weiteres reproduzieren lässt. Die Erzählung hört auf, Anekdote zu sein, wenn das Ereignis, von dem sie handelt, mehrmals oder immer wieder geschehen könnte – im Gegensatz zum Experiment, das als gescheitert gelten muss, wenn es nicht wiederholbar ist. Die tierseelenkundliche Anekdote zielt auf ein Allgemeines, das bislang nur im Singulären, im Unwahrscheinlichen greifbar wird. Warum bezieht sich Wundt überhaupt auf Anekdoten, wenn sie, wie er behauptet, „leicht durch ähnliche Beobachtungen bestätigt werden können“?54 Es scheint, als habe die Anekdote dort Geltung, wo Experimente noch nicht stattfinden, wo spezifische Versuchsanordnungen noch nicht zu denken sind. Und sie ist wohl mehr als eine Verlegenheitslösung, die mit der Entfaltung der experimentellen Psychologie und mit den Verfahren der neueren Verhaltensforschung überboten wird und einfach verschwindet. Vielmehr lässt sich im Archiv der Anekdoten ein eigenständiges Wissensdispositiv erkennen, in dessen Rahmen narrative Praktiken eine vielfältige Empirie hervorbringen können.55 All die singenden Hunde und exerzierenden Kanarienvögel und Flöhe, die Heusinger nennt, haben etwas Spektakuläres. Darin offenbart sich eine szenische oder theatrale Qualität der Anekdote, die sie mit der experimentellen Anordnung teilt, sofern sich in beidem etwas zeigen soll: eben das Neue. Gerade diese Vorführungsdimension macht die Genese des Wissens prekär; sie lässt dessen Bedingtheit durch spezifische Darstellungspraktiken kenntlich werden.

54 Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele (wie Anm. 50), S. 454. 55 Vgl. die anachronistische Zusammenführung von Anekdote und Experiment Anfang des 20. Jahrhunderts bei Karl Krall: Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Der kluge Hans und meine Pferde Muhamed und Zarif, Leipzig 1912.

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K LEIST

UND DAS

B EGEHREN

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A NEKDOTISCHEN

Die Verfahren der Verunsicherung, die im anekdotischen Erzählen des Marionettentheaters am Werk sind, geben diese darstellerische Bedingtheit des Wissens zu spüren. Darin bekundet sich eine literarische Nähe zum Experiment. Das in mehreren Folgen (und nicht etwa als textuelle Einheit) in den Berliner Abendblättern veröffentlichte Marionettentheater kann als eine Versuchsreihe gelesen werden, deren Interesse den erzählerischen Darstellungsformen als solchen gilt. Anekdote ist dort nicht gleich Anekdote. Wie sich gezeigt hat, bedarf die Geschichte vom Jüngling, der seine Anmut verliert, indem er sie bewusst zur Schau stellen will, der ausdrücklichen Zeugenschaft. Anders die Geschichte vom fechtenden Bären: Nimmt man die ostentative Zustimmung des Erzählers beim Wort, so besteht diese Geschichte für sich selbst, sie benötigt keine Beglaubigung. Die Tieranekdote erhält – im Lichte der Differenz der Erzählungen – eine besondere Qualität, auf die auch die Tierseelenkunde zielt: das augenblickliche Auftauchen eines merkwürdigen Vorfalls in der Welt des Lebendigen, der aus den klaren Unterscheidungen der alten naturgeschichtlichen Ordnung sowie aus den rhetorischen Codierungen, die sie begleiten, ausbricht und einer anderen Gesetzlichkeit folgt, deren Wahrheit noch nicht ergründet ist – die sich jedoch hier, bei Kleist, im ästhetischen Eigenwert des Erzählten annonciert. Dieser behauptete Eigenwert bedingt aber zugleich, dass Kleists Anekdote das tierseelenkundliche Wissen unterläuft. Die ihr zugesprochene Wahrscheinlichkeit ironisiert das Unwahrscheinliche der Tier-Anekdoten, das ihr Erzählen und Weitererzählen antreibt. Der Witz der Bären-Anekdote, die Ähnlichkeit mit dem Menschen, beruht gerade nicht auf der erstaunlichen Fechtkunst des Bären, die aus tierseelenkundlicher Sicht wohl am meisten interessieren würde. Der Bär ficht ja gar nicht, er kämpft ohne Florett, er pariert nur. Was ihn menschenähnlich macht, und was seinen menschlichen Gegner aus der Fassung bringt, ist vielmehr sein Ernst: „Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben“56. Ernst meint hier den Gegensatz zum Spiel. Der Bär spielt nicht, verfolgt keine Absichten, er tut nicht ,als ob‘, er täuscht nichts vor und lässt sich nicht täuschen. Er tritt dem Menschen nahe, weil er über dessen Fähigkeit, sich zu verstellen, nichts weiß. Er ist gerade nicht jenes Tier, von dem noch Wundt, auf Anekdoten gestützt, behaupten kann: „[D]er Bär weiß Scherz und Ernst wohl zu unterscheiden.“57 Das Gegenteil ist bei Kleist der Fall. Gerade weil der Bär diesen Unterschied nicht kennt, erscheint er als ernst. Der Auftritt des Bären wird zu einer Szene, die man

56 Kleist: „Über das Marionettentheater“ (wie Anm. 2), S. 330. 57 Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele (wie Anm. 50), S. 455.

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vollkommen glauben kann, denn in der Figur des Tiers ist aller Unernst des bloß Vorgespielten, alles merklich Theatrale dissimuliert. Das Tier verspricht Menschenkenntnis,58 es erhält transzendentale Qualität. So sieht man, wie Evidenz zustande kommt, und zwar gerade jene Evidenz, die sich die Tierseelenkunde träumt: eine Naturerfahrung, die dem Subjekt der Erkenntnis (dem homodiegetischen Erzähler) einfach zustößt und die in dieser (erzählerisch fingierten) Unvermitteltheit als unabweisbar erscheint. Indem Kleists Bären-Anekdote zeigt, wie die ‚Tatsachen‘ der Tierseelenkunde zustande kommen, setzt sie zugleich deren wesentliches Motiv aufs Spiel: die Annahme, dass die Tiere Seele, „viel Seele“59 haben könnten. Das absichtslose Handeln des Bären setzt keinerlei Seele voraus, wenn er in der Nachbarschaft einer Marionette (und gar einer mit einer Kurbel anzutreibenden Marionette) angesiedelt ist.60 Maßgeblich sind zunächst die Bewegungsgesetze der durch ihren Schwerpunkt bestimmten Körper, wie sie mathematisch beschrieben werden können (und die, nach Kästners Anfangsgründen der angewandten Mathematik aus dem Jahre 1780, für „Thiere und leblose[] Körper“ gleichermaßen gelten).61

58 Vgl. dazu allgemein Dietmar Schmidt: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, München 2011. Zur Menschenkenntnis, über die mutmaßlich der Bär selbst verfügt, vgl. auch Bingley: Biographien der Thiere (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 76: „Großmuth ist indessen diesem Thiere nicht fremde, es verschont das Leben eines jeden Menschen, von dem es weiter nichts zu fürchten hat; so soll, zum Beispiel, kein Bär jemals ein Frauenzimmer angefallen haben.“ 59 Peter Scheitlin: Versuch einer vollständigen Thierseelenkunde, Stuttgart, Tübingen 1840, Bd. 2, S. 182: „Alle Säugethiere haben viel Seele […]. Sie stehen alle mit ihresgleichen, mit Freunden und Feinden, in einem mehr oder minder deutlich erkannten Verhältnisse, und haben ein Bewußtseyn oder etwelche Persönlichkeit.“ 60 „Entgegen dem idealistisch-romantischen Konzept von Schöpfung, das Kleist umkehrt, gibt es keine vorgängige Innerlichkeit, die sich in einem Kontinuum nach außen hin manifestieren würde; es gibt keine Seele vor dem Tanzen, vielmehr wird sie erst durch den Tanz hergestellt: dargestellt.“ Helmut J. Schneider: „Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ,Über das Marionettentheater‘ und der Diskurs der klassischen Ästhetik“, in: KJb 1998, S. 153–175, hier S. 167. 61 Abraham Gotthelf Kästner zit. nach Wolf Kittler: „Falling after the Fall. The Analysis of the Infinite in Kleist’s Marionette Theater“, in: Heinrich von Kleist and Modernity, hg. v. Bernd Fischer und Tim Mehigan, Rochester, New York 2011, S. 279–294, hier S. 283.

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Dennoch wird das Handeln des Bären damit nicht (cartesianisch) auf einen bloßen Mechanismus reduziert.62 Die einzelnen Episoden von Kleists Text – die Lobrede des Herrn C. auf die Marionetten, die Geschichte vom schönen Jüngling, der seine Anmut verspielt, sowie die Anekdote vom wehrhaften Bären – bilden ein Paradigma, mit dem die alten ideologischen Entgegensetzungen von göttlich beseelten und mechanisch konstruierten Körpern ihre Unterscheidungskraft verlieren. Sie werden abgelöst von Denkfiguren der Anthropologie. In Kleists Marionettentheater wird diese anthropologische Wendung allererst durch die Bären-Anekdote besiegelt: Erst hier, wo ,der Mensch‘ im Zweikampf mit ,dem Tier‘ ein Gegenüber findet und zugleich an sich selbst irre wird, ist der anthropologische Problemhorizont ausdrücklich eröffnet.63 Proleptisch und analeptisch zugleich – vorgreifend auf ein Wissen, das erst noch zu verwirklichen ist64, und rückgreifend auf Erzählungen – verfährt Kleist wie die Narrationen der Tierseelenkunde. Bei ihm aber insistiert ein ästhetischer Schein, dem keinerlei tierkundliches Wissen, keine Referenz auf animalisches Leben entspricht. Der Bär firmiert unter einer anderen, transzendentalen Adresse. Über die Tierseele erfährt 62 Vgl. dagegen die Idealisierung „perfekt mechanische[r]“ Kunst bei Berger, die dort freilich nur möglich ist, indem die Figur des Bären erst gar nicht in Betracht gezogen wird. Karol Berger: „Die unheimliche Grazie. Eine Bemerkung über Kleists Marionetten“, in: Kleist revisited (wie Anm. 4), S. 111–122, hier S. 122. 63 In Anknüpfung an die Bären-Anekdote – und nicht etwa mit Bezug auf andere Passagen von Kleists Text – argumentiert etwa Helmuth Plessner: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u. a., Bd. 7, Frankfurt a. M. 1982, S. 399–418, hier S. 416f. Daran anschließend vgl. auch Malda Denana: Ästhetik des Tanzes. Zur Anthropologie des tanzenden Körpers, Bielefeld 2014, S. 19–40. 64 Zur Frage, was für ein Wissen das sein könnte, wird gelegentlich recht konkret spekuliert: „Als erfahrener Kämpfer scheint Kleist hier zu umreißen, was kulturübergreifend für sportliche Konzentration zu gelten scheint […]. Die gegenwärtige Neuro-Psychologie lokalisiert dieses Problem in einer speziellen Aktivität des präfrontalen Cortex. […] Kleist würde ein beachtliches Interesse an solchen Studien gezeigt haben, wären sie in seiner Zeit entstanden.“ Jan Söffner: „Lüge – Finte – Fiktion. Die zwei Gesten des fechtenden Bären in Kleists ,Marionettentheater‘, in: Kleist revisited (wie Anm. 4), S. 135– 146, hier S. 139. Ähnlich auch Klaus Kanzog: „Heinrich von Kleists Marionettentheater – wirklich eine Poetik?“, in: Ders.: Heinrich von Kleist (wie Anm. 6), S. 182–196, hier S. 189–191. Prägend für literaturtheoretisch wenig reflektierte biowissenschaftliche Aktualisierungen Kleists war vor allem Herbert Plügge: „Grazie und Anmut. Ein biologischer Exkurs über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist“, in: Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, hg. v. Frederik J. J. Buytendijk, Paul Christian und Herbert Plügge, Schorndorf bei Stuttgart 1963, S. 45–77.

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man nichts. Sie wird nicht zu lesen gegeben (,nicht herausgegeben‘). Es ist dem Herrn C. nur so, als ob der Bär seine Seele lesen könnte. Weil das Tier im Marionettentheater absichtslos zu handeln scheint und daher an ihm nichts zu deuten ist, wird es zu jener Instanz, der sich die Regungen der menschlichen Seele unabsichtlich zu erkennen geben. Bei Kleist hat das Denken der Anekdote sein Objekt nicht in der Seele des Tiers, sondern es stößt auf seinen eigenen Grund, das Begehren des Anekdotischen, wie es sich im 19. Jahrhundert, mit der Entstehung der Humanwissenschaften, in einer merkwürdigen Nachzeitigkeit artikuliert. Wo sich die Genese des Wissens vom Menschen zeigt, dort ist zugleich der Ort der Literatur, die dieses Wissen mitvollzieht, reflektiert und bezweifelt.

Off Cage Kleists Herrmannsbärin R OLAND B ORGARDS

G ATTUNGSFRAGEN Dass Kleists Herrmannsschlacht ein Tierdrama ist, ist offensichtlich.1 1

Vgl. grundlegend Barbara Vinken: Bestien. Kleist und die Deutschen, Berlin 2011; die folgende Argumentation ruht auf den Beobachtungen, die Vinken in ihrer Studie zu Kleists Herrmannsschlacht vorgestellt hat. Vgl. zu diesem Drama darüber hinaus insbesondere Niels Werber: „Das Recht zum Krieg. Geopolitik in ‚Die Herrmannsschlacht‘“, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hg. v. Nicolas Pethes, Göttingen 2001, S. 42–60; Antonia Eder: „Dynamik des Verdachts. Indizien in Kleists ‚Herrmannsschlacht‘ und ‚Familie Schroffenstein‘“, in: Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, hg. v. Hans-Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe, Göttingen 2013, S. 245–273; Johannes F. Lehmann: „Zorn, Hass, Entscheidung. Modelle der Feindschaft in den Herrmannsschlachten von Klopstock und Kleist“, in: Historische Anthropologie 14/1 (2006), S. 11–29; Klaus Müller-Salget: „Die Herrmannsschlacht“, in: KHb, S. 76–79. Zu den Tieren bei Kleist vgl. auch Sebastian Schönbeck: „Auf, auf, auf. Die wilden Hunde ‚Penthesileas‘“, in: Tierstudien 8 (2015), S. 17–27; Martin Bartelmus: „Kleists Teichoskopie auf die Moderne. Über Kollektive, Meuten, Subjekte und das Tier-Werden im Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Journal of Literary Theory 9/2 (2015), S. 161–185; Roland Borgards: „Geheul und Gebrüll. Ästhetische Tiere in Kleists ‚Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft‘ und ‚Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik‘“, in: Ausnahmezustand der Literatur (wie zuvor), S. 307–324; Tim Mehigan: „Kleist und die Tiere. Zur Frage des ausgeschlossenen Dritten im Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. Rüdiger Campe, Freiburg i. Br. 2008, S. 291–312; Bianca Theisen: „‚Helden und Köter und Fraun‘. Kleists

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Es beginnt mit einer Jagd, die erste sprechende Person trägt den Tiernamen Wolf2, und es endet mit Herrmanns Aufruf zu einer allgemeinen Wolfsjagd auf die Römer, diese „Brut der Wölfin“, deren „Raubnest ganz zerstört“3 werden muss. Innerhalb dieser wölfischen Rahmung findet sich eine Vielzahl weiterer Tiere. Von besonderer Prägnanz ist dabei der Tierbestand rund um Thusnelda, die zunächst von Herrmann und/oder Ventidius mit einem Tier assoziiert wird – „Eine Bestie,/ Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft!/ Ein Thier, das, wo der Jäger es erschaut,/ Just einen Pfeilschuß werth, mehr nicht,/ Und ausgeweidet und gepelzt dann wird!“4 – , um sich schließlich rächend selbst mit einem Tier zu assoziieren: mit einer Bärin.5 Diese Bärin ist eines der wenigen Tiere des Dramas, von dem nicht nur geredet wird, sei es in wörtlicher oder metaphorischer Manier, sondern das ganz konkret als körperliche Gestalt die Bühne betritt. Mit Bären verbinden sich um 1800 Gattungsprobleme. Dies lässt sich z.B. dem Bären-Kapitel in Buffons Histoire naturelle entnehmen: „Die Unzuverläßigkeiten, die sich bey ihm finden, und sogar ihre Widersprüche über die Natur und die Sitten dieses Thieres sind meines Erachtens daher entstanden, daß sie die Naturkundler, R.B. die Gattungen nicht unterschieden haben, und der einen bisweilen etwas zuschrieben, was der andern eigenthümlich ist.“6 Um dem Problem der Gattungsverwirrung entgegenzuwirken, bemüht sich Buffon um möglichst klare Unterscheidungen. Zunächst einmal dürfe man „den Landbär nicht mit dem Seebäre verwechseln, der gemeiniglich der weiße Bär ... genennet wird.“7 Des Weiteren, so Buffon, müsse man zum Unterschiede unter den Landbären zwo Gattungen, nämlich eine braune und eine schwarze annehmen, indem diese weder einerley Neigungen und dieselben natürlichen

Hundekomödie“, in: Penthesileas Versprechen, S. 153–164; Anthony Stephens: „‚Menschen / Mit Tieren die Natur gewechselt‘. Zur Funktionsweise der Tierbilder bei Heinrich von Kleist“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 115–142. 2

Heinrich von Kleist: „Die Herrmannsschlacht. Ein Drama“, in: BKA I/7, S. 9.

3

Ebd., S. 187. Die Wölfin taucht nur in einer Variante der Schlussszene auf.

4

Ebd., S. 69.

5

Vgl. ebd., S. 150.

6

Georges-Louis Leclerc de Buffon: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich, Hamburg, Leipzig 1765, Bd. 4/2, S. 143.

7

Ebd.

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Triebe haben, und daher nicht als Abfälle von einer einzigen und derselben Art, sondern als zwo verschiedene und besondere Gattungen betrachtet werden müssen.8

Kleists „zottelschwarze Bärin“9 mit ihren „Borsten ... schwarz und starr“10 scheint sich hier eindeutig zuordnen zu lassen: Sie gehört physiologisch zur Gattung der Schwarzbären. Nun unterscheiden sich laut Buffon Schwarz- und Braunbären aber nicht nur hinsichtlich ihrer Fellfarbe und ihrer Habitate, sondern auch hinsichtlich ihres Verhaltens: „Der braune ist grimmig und fleischfressend, der schwarze ist bloß wild, und zeiget einen beständigen Widerwillen gegen den Genuß des Fleisches“.11 Der Schwarzbär, so betont Buffon, ist kein Raubtier, sondern ein friedlicher Vegetarier: „Es ist nie geschehen, daß diese Thiere Menschen gefressen haben“.12 So seien diese Bären zwar „ungemein schwarz, aber eben nicht gefährlich“.13 Dass die „zottelschwarze Bärin“ bei Kleist „nicht gefährlich“ ist, kann man wahrlich nicht behaupten. Kleists Bestie verhält sich trotz ihres schwarzen Fells eher wie ein Braunbär, dem Buffon ein aggressives Verhalten dezidiert zuschreibt: „Er ist sehr jähzornig und sein Zorn hat allemal etwas von Wuth ... an sich.“14 Bei Kleist herrscht also offenbar genau die Gattungsverwirrung, die Buffon kritisch vermerkt: Seine Bärin hat entweder die falsche Fellfarbe, oder sie zeigt das falsche Verhalten. Oder aber sie ist mit der heterogenen Kombination von schwarzem Fell und grimmigem Verhalten ein unscheinbares aber veritables Monster: „Das Monster ist,“ so definiert Michel Foucault, „im Wesentlichen ein Mischwesen“, z.B. „ein Mischgebilde aus zwei Arten, ein Mixtum zweier Arten.“15 Als Mixtum von Schwarz- und Braunbär ist Kleists unartige Monster-Bärin ein phantastisches Tier. Doch ihrer theatralen Präsenz tut dies keinen Abbruch: Als phantastisches Tier betritt sie dennoch die Bühne. Was heißt es nun, wenn ein Tier die Bühne betritt? „Bühnentiere“ können nach einem Vorschlag der Theaterwissenschaftlerin Esther Köhring funktional in drei Gruppen aufgeteilt werden:

8

Ebd.

9

Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 155.

10 Ebd., S. 156. 11 Buffon: Allgemeine Historie (wie Anm. 6), S. 144. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 147. 15 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975), übers. v. Michaela Ott, Frankfurt a. M. 2003, S. 86.

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Tiere, die in Bezug auf kulturelle Praktiken auf die Bühne gestellt werden (insbesondere Zirkus, Zoo, Tierexperiment, Schlachthaus und Ritual), lassen sich als ‚Pragmatiere‘ beschreiben



Tiere, die auf der Bühne als Denk-, Argumentations- und Evidenzfiguren in thiertheoretischen Diskursen auftauchen, zeigen sich als ‚Theorietiere‘



Tiere, die die Übertragbarkeit von Wissen zwischen Kontexten und Theorien ermöglichen, könnte man als ‚Passagetiere‘ bezeichnen16

Darüber hinaus ist ein jedes Bühnentier, ob es sich nun auf kulturelle Praktiken, theoretische Positionen oder die Verbindung von Praxis und Theorie bezieht, potenziell skandalös:17 Bühnentiere treiben die Institution des Theaters an ihre Grenzen. Kleists „zottelschwarze Bärin“18 ist ein Beispiel dafür, dass ein einzelnes Bühnentier diese vier Aspekte in sich vereinen kann.19 Als ‚Pragmatier‘ verweist die Bärin auf die Vor- und Frühgeschichte des Zoos sowie auf die römische Praxis der damnatio ad bestias, der öffentlichen Hinrichtung von Verbrechern durch hungrige Raubtiere in den antiken Arenen. Als ‚Theorietier‘ verweist Kleists Bärin auf die Debatten um die anthropologische Differenz sowie auf Denkfiguren einer politischen Zoologie. Als ‚Passagetier‘ ermöglicht es die Aufladung des Politischen mit dem Zoologischen und umgekehrt des Zoologischen mit dem Politischen, eine „Quasi-Koinzidenz“, so Jacques Derrida, „die uns ... unter den Zügen des Souveräns das Gesicht des Tiers bête erblicken, projizieren, wahrnehmen lässt; oder umgekehrt ... durch das Maul der unzähmbaren Bestie bête eine Figur des Souveräns“.20 Und als Skandalon schließlich setzt der Auftritt der Bärin die Gattung des historischen Dramas21 auf eine Weise unter Druck, die die Konturen einer im historischen Drama eingelagerten Gattung erkennbar werden lässt: der Gattung des politischen Dramas. Das politische Drama, wie Kleist es entwirft, zeichnet sich, so soll im Folgenden gezeigt werden, dabei durch eine Reflexion 16 Esther Köhring: „Tiere und Theater, Performance, Tanz“, in: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, hg. v. Roland Borgards, Stuttgart 2015, S. 245–261, hier S. 247f. 17 Zum „Bühnentier als Skandalon und Anderes des Theaters“ vgl. ebd., S. 248. 18 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 155. 19 Auf diese Möglichkeit weist auch Köhring hin; vgl. Köhring: „Tiere und Theater, Performance, Tanz“ (wie Anm. 16), S. 247f. 20 Jacques Derrida: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002, übers. v. Markus Sedlaczek, hg. v. Michel Lisse, Marie-Louise Mallet und Genette Michaud, Wien 2015, S. 42. 21 Vgl. zu dieser Gattung den Überblick von Wolfgang Düsing: „Einleitung. Zur Gattung Geschichtsdrama“, in: Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun, hg. v. dems., Tübingen, Basel 1998, S. 1–10.

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des Politischen aus und nicht durch eine Darstellung aktueller politischer Ereignisse.22 In Zentrum des politischen Dramas steht bei Kleist keine Ereignispolitik, sondern eine Theorie des Politischen. Wenn Kleists Bärin vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Naturkunde in ein taxonomisches Gattungsproblem führt, insofern sie das Aussehen einer Schwarzbärin mit dem Verhalten einer Braunbärin verbindet, dann lässt sich dies mithin als Hinweis auf die Gattungsfrage nach dem politischen Drama bzw. dem Drama des Politischen lesen. Und nur um diese dramentheoretische Frage soll es im Folgenden gehen.

A UFTRITT

EINER

B ÄRIN

Den Szenen, in denen die Bärin ihren Auftritt hat, ist eine komplexe Beschreibung der räumlichen Konstellation vorangestellt: „Garten hinter dem Fürstenzelt. Im Hintergrund ein eisernes Gitter, das in einen, von Felsen eingeschlossenen, öden Eichenwald führt.“23 Ein doppeltes ‚hinter‘: Hinter dem Fürstenzelt ist der Garten, hinter dem Garten ist der Eichenwald. Zunächst einmal wirkt dies wie die gängige Zwischenposition, die dem Garten als Schwellenraum zwischen Innen und Außen, zwischen Kultur und Natur, zwischen Repräsentation und Präsenz, zwischen dem Semiotischen und dem Materiellen häufig zugewiesen wird. Im Vergleich zum Fürstenzelt ist der Garten ein Außen voller Natur, in dem sich die Präsenz des Materiellen erfahren lässt; im Vergleich zum Eichenwald ist der Garten ein Innen voller Kultur, in dem die Repräsentation des Semiotischen herrscht. Doch die Situation, die Kleist entwirft, ist vertrackter, insofern der Eichenwald nicht nur durch ein Gitter vom Garten abgetrennt, sondern darüber hinaus auch „von Felsen eingeschlossen“ ist. Dieser Wald teilt also mit dem Garten die Eigenschaft, kein offenes, sondern ein umgrenztes Territorium zu sein. Entsprechend wird er auch von den Figuren wahrgenommen, wenn die Zofe Gertrud, der Wärter Childerich, der römische Legat Ventidius und Thusnelda ihn als „Park“24 bezeichnen, wo, so Gertrud, „zwischen Felsenwänden,/ Das Volk sich oft vergnügt, den Uhr zu hetzen“.25 Der öde Eichenwald ist – zumindest für die Germanen – ein

22 Dies gegen die Abgrenzung zwischen politischem und historischem Drama bei Elfriede Neubuhr: „Einleitung“, in: Geschichtsdrama, hg. v. ders., Darmstadt 1980, S. 1–37, hier S. 21: „Aktuelle Geschichte wird im politischen, RB Drama dargestellt“. 23 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 148. 24 Ebd., S. 149, 151, 153, 155. In der Szenenanweisung dann auch: S. 152. 25 Ebd., S. 149.

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Vergnügungspark. Deshalb wiederholt sich wie in einem topologischen Echo im Wald der Garten, und zwar gerade in seiner unentschiedenen Ambivalenz. Auch er ist ein Außen/Innen, eine ‚natureculture‘, eine materiell-semiotische Mischexistenz.26 Neben dem Echo des Fürstenzelts im Wald gibt es zudem einen Rückkopplungseffekt des Waldes in das Fürstenzelt: Wenn sogar der Wald ein Innen ist, dann gilt auch umgekehrt, dass sogar das Fürstenzelt ein Außen ist, voll von materiellen Naturpräsenzen. Folgt man dieser sorgsam inszenierten Raumordnung, dann macht es offenbar keinen Sinn, das Politische und die Natur einander entgegenzustellen: Politik und Natur, Werte und Fakten, Zeichen und Dinge sind nicht voneinander getrennt, sondern ineinander gespiegelt.27 In diese Raumstruktur hinein, die Materielles und Semiotisches von vornherein vielfältig ineinander blendet, vollzieht die Bärin nun eine fünfphasige Serie von Auf- und Abtritten, bei denen sie mal auf der Bühne erscheint, mal hinter der Bühne verschwindet, mal im Käfig verschwindet, mal außerhalb des Käfigs erscheint. So entsteht eine dynamische Kombinatorik von on und off, von stage und cage: Phase I Phase II

off stage on stage

Phase III

off stage/ in cage on stage/ off cage off stage/ off cage

Phase IV Phase V

„Childerich, der Wärter, führt sie schon heran!“28 „ Childerich (tritt auf, eine Bärin an einer Kette führend).“29 „(er läßt die Bärin in den Park und schließt ab.)“30 „( […] Childerich mit der Bärin.)“31 „(Alle ab.)“32

26 Vgl. Donna Haraway: When Species meet, Minneapolis 2008. 27 Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2001; Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007; Ders.: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne, Frankfurt a. M. 2014. 28 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 150. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 152. 31 Ebd., S. 159. 32 Ebd.

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In diesen fünf Phasen passiert mit der Bärin etwas Ähnliches wie mit dem Eichenwald: Sie wird als materiell-semiotische Mischexistenz ausgewiesen. In Phase I ist die Bärin noch nicht auf der Bühne, aber es wird schon von ihr geredet. Diese Reden verweisen darauf, dass dieses Tier ein der Natur entnommenes Naturwesen ist: die „Bärin ...,/ Die Herrmann jüngst im Walde griff“.33 Diese Bärin ist ein diegetisches Tier,34 ein Lebewesen des fiktionalen Universums, in dem Kleists Herrmannsschlacht spielt. In Phase II kommt die Bärin auf die Bühne. Aus einem diegetischen Erzähltier wird damit ein diegetisches Bühnentier. Gertrud betont die wilde Natur der Bärin („Gott möge ewig mich vor ihr bewahren!“35), Childerich ihre bezähmte Natur („so zahm, wie eine junge Katze“36); beide sehen in ihr Natur. Die Bärin ist eine Bärin. Dies lässt sich in der theatralen Situation aus zwei Perspektiven beschreiben: Von den Figuren des Dramas wird die Bärin als Naturwesen eingeführt; für die Zuschauer*innen/Leser*innen jedoch ist sie nicht einfach Natur, sondern bezeichnet vor allem Natur. In Phase III verlässt die Bärin die Bühne dann wieder. Allerdings kehrt sie nicht in das gleiche Off zurück, aus dem sie gekommen ist, sondern verschwindet hinter dem Gitter, also in einem Raum, der zwar für die Zuschauer*innen nicht einsehbar ist, der aber mit der Bühne räumlich in Berührung und akustisch in Austausch steht. Kleist legt viel Wert darauf, diese optische Abgeschlossenheit des Gitters zu betonen: Die Szene spielt nachts; es ist fast nichts zu sehen; der Hintergrund, in dem sich das Gitter abzeichnet, ist eine Grenze, hinter die sich nicht blicken lässt. Man könnte, in Abwandlung einer gängigen theatertheoretischen Terminologie, sagen: Die Bärin verschwindet hinter der dritten Wand, die die Bühne von der Hinterbühne trennt.37 Wenn nun die Bühne zugleich Garten und die Hinterbühne zugleich Eichenwald ist, dann wird damit auch eine Identifikation von Zuschauerraum und Fürstenzelt nahegelegt. Diese Identifikation von Fürstenzelt und Zuschauerraum hat zwei wichtige Implikationen: Erstens weist sie Herrmann als impliziten Beobachter des Geschehens aus; und zweitens rückt sie die Zuschauer*innen in die Position des Fürsten, d.h. sie produziert moderne Bürger*innen als neue Souveräne des Theaters, des Staates und damit des Staatstheaters. Impliziter Beobachter (der 33 Ebd., S. 149. 34 Vgl. zur heuristischen Unterscheidung von diegetischen und semiotischen Tieren: Roland Borgards: „Tiere und Literatur“, in: Tiere (wie Anm. 16), S. 225–244, hier S. 226ff. 35 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 151. 36 Ebd., S. 151. 37 Zur Theoriegeschichte der ‚vierten Wand‘ vgl. Johannes F. Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i. Br. 2000.

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vormoderne Herrmann) und faktische Zuschauer*innen (moderne Bürger*innen) hören also zuerst die Erzählung von der Bärin (Phase I), sehen dann diese Bärin auf der Bühne auftreten (Phase II) und anschließend in ein off stage verschwinden, das zugleich ein in cage ist (Phase III). Off stage / in cage wird die Bärin nun wieder von einem diegetischen Bühnentier zu einem diegetischen Erzähltier. Für die Zuschauer*innen ist sie nicht mehr zu sehen, doch der mit der Bärin in den Käfig gesperrte Ventidius ruft laut aus, was er sieht: „Was für ein Höllen-Ungethüm erblick’ ich? ... Die zottelschwarze Bärin von Cheruska,/ Steht, mit gezückten Tatzen, neben mir!“38 Was Ventidius erblickt, ist, seiner eigenen Aussage nach, also nicht einfach irgendeine Bärin, sondern „die ... Bärin von Cheruska“. Sowohl die Wahl des bestimmten Artikels (die Bärin, nicht: eine Bärin) als auch die Zuordnung der Bärin zu einer politisch agierenden Einheit, dem Stamm der Cherusker, statt zu einem Naturraum (die Bärin von Cheruska, nicht: eine Bärin aus dem Wald) weisen darauf hin, dass dieses Tier nicht nur ein Naturwesen, sondern auch ein Zeichenwesen ist: ein semiotisches Tier, das als Zeichen stellvertretend für etwas anderes einstehen kann. Die politische Stammeseinheit wird dann durch die Assoziation mit der Bärin ihrerseits wieder naturalisiert, d.h. als eine naturgegebene Größe in Szene gesetzt. Nun war die Bärin auch schon in der Erzählung der Phase I und dem Auftritt der Phase II nicht einfach nur eine Bärin, sondern wurde als Natur-Bärin, als Zeichen für die Natürlichkeit der folgenden Handlungen eingeführt. Aber das geschah erstens recht beiläufig und entsprach zweitens ganz den gängigen Erwartungen, die man als Zuschauer an Bären hat: Was sonst sollten sie sein, wenn nicht Naturwesen? Die Bedeutungszuweisung im Käfig folgt hingegen weder beiläufig, noch entspricht sie den gängigen Erwartungen. Es ist vielmehr äußerst überraschend, dass Ventidius noch die Nerven hat, die politische Dimension der ihn bedrohenden Bärin zu erfassen und auch noch zu artikulieren. Der Unterschied zwischen diesen beiden Bärenzeichen – die Bärin bezeichnet Natur, die Bärin bezeichnet Politik – wird auch deutlich, wenn man jeweils die Figurenperspektive einnimmt: Für Gertrud und Childerich in Phase II ist die Bärin Natur, kein Zeichen, sie ist Materielles, nicht Semiotisches; für Ventidius und auch für Thusnelda (wie gleich noch zu zeigen ist) in Phase III ist die Bärin, bei aller Natur, bei aller Materialität, vor allem ein Zeichen, vor allem Semiotisches. Thusnelda weist zwar die von Ventidius vorgenommene Verknüpfung von Bärin und Cheruska zunächst zurück („Die Bärin von Cheruska?“39), bestätigt aber zugleich die grundsätzliche Zeichen- und Stellvertretungsstruktur, wenn sie die

38 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 155f. 39 Ebd., S. 156.

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Bärin als ein quid pro quo40 – oder genauer: als ein qui pro quo41 – ihrer selbst präsentiert: „Thusnelda, bist Du klug, die Fürstin ist’s,/ Von deren Haupt, der Livia zur Probe,/ Du jüngst die seidne Locke abgelös’t!“42 Stellvertretung ist nun aber nicht mehr allein eine Sache des Bedeutens, sondern auch eine Sache des Handelns. Stellvertretend tötet die Bärin Ventidius. Thusnelda nutzt den Bärenkörper als Avatar, dem sie, ans Gitter geschmiegt, ihre Stimme aufpfropft, um so aus dem Körper der Bärin heraus selbst reden zu können: „T h u s n e l d a (durch das Gitter)./ Ach, wie die Borsten, Liebster, schwarz und starr,/ Der Livia, Deiner Kaiserin, werden stehn,/ Wenn sie um ihren Nacken niederfallen!“43 Nachdem Ventidius zerfleischt und Thusnelda in Ohnmacht gefallen ist, wird die Bärin wieder aus dem Käfig geholt, und das heißt, vom Eichenwald in den Garten, von der Hinterbühne auf die Bühne. Die Bärin ist damit wieder on stage, jetzt aber erst wirklich off cage. Denn zwischen den beiden Auftritten ist mit der Bärin off stage / in cage etwas passiert: Sie ist – auch für die Figuren des Dramas – zu einem Zeichentier geworden. Ihren ersten Auftritt hatte sie als diegetisches Bühnentier; ihren zweiten Auftritt hat sie als diegetisch-semiotisches Tier: als ein Lebewesen im diegetischen und zugleich als ein Zeichenwesen im semiotischen Universum von Kleists Herrmannsschlacht. Diese sehr kurze, nur fünf Repliken dauernde Präsentation der Bärin als Lebeund Zeichenwesen hat zwei komplementäre Funktionen. Einerseits führt sie das Zeichenwesen vor: Seht diese Stellvertreterin! Andererseits sorgt sie dafür, dass dieses Zeichenwesen sich nicht in bloße Zeichenhaftigkeit verflüchtigt, sondern gleichzeitig ein materielles Lebewesen bleibt: Seht diesen Körper! Insofern verhindert diese Szene, dass das Tier einfach durch Bedeutung ersetzt wird44. Tier 40 Zum quid pro quo in Kleists Herrmannsschlacht vgl. Vinken: Bestien (wie Anm. 1), S. 44ff. 41 Zum qui pro quo als Element einer politischen Zoologie vgl. Derrida: Das Tier und der Souverän (wie Anm. 20), S. 100: „Das Tier bête, das ist ‚wer‘ oder ‚was‘? Wenn es Substitution gibt, kann es immer qui pro quo geben, ein qui für ein wer, aber auch ein qui für ein was oder ein was für ein wer.“ 42 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 156. 43 Ebd., S. 156f. 44 Vgl. zu diesem „disappearing animal trick“ der Literaturwissenschaften Susan McHugh: „Animal Farm’s Lessons for Literary (and) Animal Studies“, in: Humanimalia. A journal of human/animal interface studies 1/1 (2009), http://www.depauw.edu/ humanimalia/issue01/pdfs/Susan%20McHugh.pdf (Zugriff: 01.10.2018). McHugh fährt fort: „Reading animals as metaphors, always as figures of and for the human, is a process that likewise ends with the human alone on the stage. Now you see the animal in the text, now you don’t.“

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und Bedeutung werden vielmehr miteinander verschränkt: Ohne das Tier gäbe es keine Bedeutung; und das Tier gibt es nicht ohne Bedeutung. Jetzt erst wird die Bärin wieder – und diesmal endgültig – von der Bühne entlassen (Phase V). Damit ist die Bärin einerseits wieder dort, wo sie hergekommen ist: off stage. Andererseits hat sie im Verlauf der Auf- und Abtritte einiges auf sich versammelt. Sie ein diegetisches Tier (Phase I), ein Bühnentier (Phase II), ein semiotisches Tier (Phase III), ein materiell-semiotisches Tier (Phase IV) und nun schließlich all dies zugleich: ein diegetisch-semiotisch-materielles Erzähl- und Bühnentier (Phase V).

P OLITISCHES D RAMA

UND

D RAMA

DES

P OLITISCHEN

Kleists Herrmannsschlacht gehört offensichtlich zur Gattung des historischen Dramas. Stellt man aber die Szenenfolge mit dem Auftritt der Bärin ins Zentrum der Interpretation, dann führt dies zur Gattungsfrage nicht des historischen, sondern des politischen Dramas. Der gattungskonstitutive Konflikt des politischen Dramas zeigt sich in der Unentscheidbarkeit der Frage, ob die Herrmannsschlacht chauvinistische Propaganda ist oder die Mechanismen chauvinistischer Propaganda reflektiert. Gattungstypologisch formuliert: Zielt das politische Drama auf die affirmative Durchsetzung einer bestimmten Politik45 oder auf die kritische Reflexion des Politischen? Oder noch einmal allgemeiner gefasst: Ist das politische Drama Teil der politischen Praxis oder Teil der politischen Theorie? Ausgehend von Kleists Herrmannsbärin lässt sich diese Frage neu fassen. Hilfreich ist dabei die von Köhring vorgeschlagene terminologische Unterscheidung zwischen Bühnentieren und Theatertieren: Bühnentiere sind bestimmt durch die Matrix des Theaters mit ihren semiotischen und phänomenologischen Effekten: Durch die Rahmung wird die Präsenz des Bühnentiers zum Zeichen, und doch durchschlägt es das Regime der Repräsentation. .... Wo sie zugleich als Reflexionsfiguren des Theaters über sich, seine Tiere, seine Historizität, seine Praxis, seine

45 Vgl. insbesondere zur Frage, warum die „nationalsozialistische Germanistik ... Kleist als Wegbereiter deutscher Geopolitik feiern“ konnte, Werber: „Das Recht zum Krieg“ (wie Anm. 1), S. 45f.; sowie Niels Werber: „Kleists ,Sendung des Dritten Reiches‘. Zur Rezeption von Heinrich von Kleists Hermannsschlacht im Nationalsozialismus“, in: KJb 2006, S. 157–170. Zum Politischen bei Kleist vgl. auch Johannes Lehmann: Einführung in das Werk Heinrich von Kleists, Darmstadt 2013, S. 5766.

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Theorie, seine Ethik und seine Epistemologie (inszeniert und) wahrnehmbar werden, avancieren sie zugleich zu Theatertieren.46

Für Kleists politisches Drama formuliert: Ist die Herrmannsbärin ein Bühnentier, mit dem politische Propaganda betrieben wird, oder ist sie ein Theatertier, mit dem das Funktionieren politischer Propaganda reflektiert wird? Als Bühnentier steht die Bärin von Anfang an in der „Spannung zwischen Zeichen und Körper“,47 und zwar schon allein deshalb, weil sie auf der Bühne erscheint. Sie ist ein Zeichen, insofern sie auf der Bühne erscheint, als gerahmtes Kunstwesen; und sie ist ein Körper, insofern sie auf der Bühne erscheint, als konkretes Lebewesen.48 Für die Wirksamkeit politischer Propaganda ist diese konstitutive Doppelexistenz der Bärin wichtig. Die Zeichenhaftigkeit macht es möglich, dass sich mit der Bärin etwas sagen lässt, was nicht einfach die Bärin selbst ist. Denn es geht ja nicht darum, das Tötungsverhalten einer Bärin zu erkennen, sondern darum, eine Analogie zwischen dem Tötungsverhalten der Bärin und dem Verhalten Thusneldas zu erkennen: Die Bärin handelt an der Stelle von Thusnelda; es ist ein stellvertretendes Handeln, ein qui(d) pro quo, das von einer impliziten „metamorphischen Analogie“49 getragen wird. Die Anlage des fünften Aktes sorgt nun im Verbund mit der räumlichen Anordnung der Bärin-Szenen dafür, dass die Zuschauer*innen in die Stellvertretungen einbezogen werden. Denn der fünfte Akt stellt die Bärin-Szene an die Stelle, an der im Handlungsverlauf eigentlich die Schlacht im Teutoburger Wald stehen müsste:50 V/1–9 Varus vor der Schlacht

V/10–14 Herrmann vor der Schlacht

V/15–19 Bärin-Szenen

V/20–24 Herrmann nach der Schlacht

46 Köhring: „Tiere und Theater, Performance, Tanz“ (wie Anm. 16), S. 247. 47 Ebd. 48 Was sich übrigens nicht grundsätzlich ändert, wenn die Bärin von einem Menschen gespielt wird oder gar von einem Automaten, es wird nur etwas komplizierter; vgl. hierzu nochmals Köhring: Ebd. 49 Derrida: Das Tier und der Souverän I (wie Anm. 20), S. 46. 50 Vgl. Peter Michelsen: „,Wehe, mein Vaterland, dir!‘. Heinrich von Kleists Die Herrmannsschlacht“, in: KJb 1987, S. 115–137, hier S. 133; Vinken: Bestien (wie Anm. 1), S. 71.

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Die Architektur des fünften Aktes ist deutlich: Kleist zeigt erst den einen Gegner (Varus), dann den anderen Gegner (Herrmann), dann zeigt er nicht, wie Varus und Herrmann, sondern wie Ventidius und Thusnelda aufeinandertreffen, und dann zeigt er schließlich den siegreichen Herrmann. Damit ist klar, dass nicht nur die Bärin eine Stellvertreterin für Thusnelda, sondern auch Thusnelda eine Stellvertreterin für Herrmann ist, wobei die erste Stellvertretung innerhalb des diegetischen Universums der Herrmannsschlacht angesiedelt ist (die Bärin handelt an der Stelle von Thusnelda), die zweite Stellvertretung hingegen im semiotischen Universum der Herrmannsschlacht (die Bärin-Szenen stehen an der Stelle der Schlacht). Die Bärin-Szenen stehen mithin stellvertretend ausgerechnet für das Ereignis, das der Titel des Dramas ankündigt: Die Herrmannsschlacht. In konsequentem Verstoß gegen mit dem Titel aufgebaute Erwartung präsentiert Die Herrmannsschlacht also gerade keine Herrmannsschlacht, sondern eben eine Herrmannsbärin. Dieses komplexe System an Stellvertretungen steht in Verbindung mit der gleichfalls komplexen räumlichen Anordnung der Bärin-Szenen. Diese Anordnung sorgt, wie gezeigt, zum einen dafür, dass Herrmann als impliziter Zuschauer der Bärin-Szenen mitgedacht werden kann. Herrmann ist zwar explizit abwesend, implizit aber anwesend. Dabei wird er sowohl über die Architektur des fünften Aktes, als auch über die räumliche Anordnung der Bärin-Szenen mit den Ereignissen zwischen Thusnelda und Ventidius assoziiert. Zum anderen sorgt die räumliche Anordnung der Bärin-Szenen für eine Identifikation der Position der Zuschauer*innen mit der Position Herrmanns. Entscheidend ist dabei, dass die Bärin als Bühnentier eben nicht nur Zeichen ist, sondern auch Körper: Sie steht auf der Bühne. Ihre Bühnenpräsenz impliziert zugleich die Präsenz der Zuschauer*innen: Auch sie sind anwesend. Das teilen sie in materieller Hinsicht mit der Bärin, in struktureller Hinsicht mit Herrmann. Implizit sieht Herrmann also der Stellvertretung seiner eigenen Schlacht zu; und implizit werden die Zuschauer*innen an die Stelle Herrmanns gerückt; implizit sehen die Zuschauer*innen mithin der Stellvertretung der eigenen Schlacht zu. Oder als These formuliert: Die materiell-semiotische Doppelexistenz des Bühnentiers als Zeichen und Körper macht es möglich, dass die Zuschauer*innen die Schlacht Herrmanns gegen die Römer als die eigene Schlacht begreifen können; sie ermöglicht, befördert oder erzwingt eine identifikatorische Rezeption. So gesehen ist das Bühnentier ein zentrales Element der politischen Propaganda, die Kleist mit seinem Drama betreibt. Nun gilt es allerdings, die besondere Dynamik zu berücksichtigen, mit der Kleist seine Herrmannsbärin auftreten lässt. Die Bärin wird angekündigt (Phase I), sie zeigt sich auf der Bühne (Phase II), sie handelt auf der Hinterbühne (Phase

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III), sie zeigt sich noch einmal (Phase IV) und sie verschwindet wieder von der Bühne (Phase V). Phase I bis III bewegen sich in der Logik der Propaganda: In Phase I wird die Bärin als Naturwesen angekündigt und das folgende Handeln damit als ein Natürliches ausgewiesen. In Phase II wird diese Natur als bedrohlich, gezähmt und zudem manipuliert vorgeführt: „Die Petze hat, wie Ihr befahlt,/ Nun seit zwölf Stunden nichts gefressen“.51 Die Bärin ist eine geformte Naturwaffe, sie ist Element einer biologischen Kriegsführung. In Phase III handelt die Bärin dann stellvertretend für Thusnelda, während die ganze Szene in der Architektur des fünften Aktes stellvertretend für die Herrmannsschlacht steht und der Zuschauer durch die räumliche Anordnung von Fürstenzelt, Garten und Eichenwald in die Identifikation mit Herrmann und dessen Schlacht getrieben wird. So weit, so propagandistisch. Was aber passiert, wenn die Bärin in Phase IV wieder auf die Bühne kommt? Die Szenenanweisung ist hier sehr präzise: „(die Cherusker stürzen in den Park. Pause.  Bald darauf die Leiche des Ventidius, von den Cheruskern getragen, und Childerich mit der Bärin.)“52 Für die Bewertung der Szene hängt viel davon ab, wie absonderlich man sie findet. Absonderlich ist zum einen die auffällige Präsentation zweier Körper: einer Leiche, präsentiert von den Cheruskern, und einer Bärin, präsentiert von Childerich. Das ist Körperlichkeit auf Englisch: corporeality, Körperwirklichkeit. Absonderlich ist zum anderen die Tatsache, dass die Bärin überhaupt noch einmal auf die Bühne gebracht wird. Für den Verlauf der Handlung ist das völlig unnötig; für die Bedeutung der Ereignisse ist das völlig unnötig; für das Funktionieren der Stellvertretungen ist das völlig unnötig. Und trotzdem ist sie noch einmal zu sehen. Und gerade weil dieser zweite Auftritt der Bärin so unnötig ist, reflektiert er, was im ersten Auftritt schon angelegt ist: die Semiotizität des Tierkörpers. Es hat immer schon eine Hinterbühne gegeben, auf der der Tierkörper mit Zeichenhaftigkeit versetzt wurde; der Ablauf von Phase II, III und IV setzt dies nur mit großer (und blutiger) Geste in Szene. Insofern wird die Bärin in diesen Szenen nicht nur vom diegetischen Lebewesen in ein Bühnentier, sondern zudem auch von einem Bühnentier in ein Theatertier transformiert: Die Bärin wird „(inszeniert und) wahrnehmbar“ „als Reflexionsfigur.. des Theaters“.53 Aus dem Bühnentier wäre damit ein Theatertier geworden und aus einem politischen Drama ein Drama des Politischen, das für propagandistische Zwecke nur noch bedingt tauglich bleibt.

51 Kleist: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 2), S. 152. 52 Ebd., S. 159. 53 Köhring: „Tiere und Theater, Performance, Tanz“ (wie Anm. 16), S. 247.

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G ATTUNGSKONTUREN Dies sind also die Konturen, die Kleists Herrmannsbärin der literarischen Gattung des politischen Dramas verleiht. Auf dem Spiel steht, ob das politische Drama Politik macht oder das Politische reflektiert, ob es ein Element der propagandistischen Praxis oder der politischen Theorie ist. Der Auftritt der Bärin weist in einem für Kleist typischen Widerstreit in beide Richtungen zugleich. Von Anfang an arbeitet dieser Auftritt mit Elementen, die als konstitutiv für die Gattung des politischen Dramas bezeichnet werden könnten. Dies beginnt schon damit, dass sich der ganze Auftritt als ein quid pro quo präsentiert. Er steht stellvertretend für das, was der Titel des Dramas ankündigt, das Drama selbst dann aber nicht zeigt: die Herrmannsschlacht. Entsprechend erscheint die Bärin als ein qui pro quo. Sie handelt stellvertretend für Thusnelda, die tötet, ohne selbst zu töten. Darüber hinaus markiert das stellvertretende Handeln der Bärin das Tötungshandeln Herrmanns und der Cherusker als etwas, das natürlich ist, das aus der Natur kommt. Es ist ein explizit tierliches Handeln, man könnte sagen: eine Bio-Action. Wenn Ventidius von der Bärin zerfleischt und die Römer von den Germanen aufgerieben werden, dann scheint es so, als nähme lediglich die Natur ihren Lauf. Zudem sorgt die räumliche Anordnung der Szene für eine Identifikation der Zuschauer*innen mit Herrmann. Herrmann und die Zuschauer*innen können und sollen sowohl über die tötende Bärin als über die tötenden Germanen denken: Das ist mein Kampf, und zwar: mein Bio-Kampf.54 Die Bärin, Herrmann, die Germanen und die Zuschauer*innen werden so als Naturgemeinschaft, als ein Bio-Corps von Bestien formatiert. Damit sind Herrmann, die Germanen und die Zuschauer*innen nicht nur als animalische Bestien vereint, sondern treffen sich auch in einer Bestialität, die dem Menschen eigen ist. Derrida hat darüber nachgedacht, ob genau darin eine neue Fassung der anthropologischen Differenz liegen könnte: der Mensch als eine Bestie, die sowohl eine bestialité als auch eine bêtise, sowohl eine Grausamkeit als auch eine Dummheit begehen kann.55 Paradox formuliert: In ihrer Bestialität behaupten sich die Germanen als Menschen. So zeigt sich die diffamierende Fremdzuschreibung durch die Römer (die Römer als Kulturvolk, das auf die Germanen als Bestien herabschaut) zugleich als eine affirmierende

54 Vgl. hierzu nochmals Werber: „Das Recht zum Krieg“ (wie Anm. 1), S. 60, mit Blick auf das Ende des Dramas: „Kleists Geopolitik schlägt um in eine rassistische Biopolitik.“ 55 Vgl. Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, übers. v. Markus Sedlaczek, Wien 2010, S. 70.

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Selbstbeschreibung der Germanen, als germanische Zoo-Politik: Wir sind bestialische Bestien, also sind wir Menschen. Bis zu diesem Punkt entfaltet sich eine propagandistische Logik. Nun aber wird, mit dem Wiederauftritt der Bärin nach ihrem Angriff auf Ventidius, die Entfaltung dieser Logik unterbrochen durch eine reflexive Wendung. Denn der Wiederauftritt macht die Mechanismen sichtbar, die zuvor nur wirksam waren. Die Präsenz des Tierkörpers verweist nun nicht mehr auf die Natürlichkeit einer BioAction, sondern darauf, dass auch diese Natürlichkeit der Effekt einer theatralen Rhetorik ist: Sie ist nicht gegeben, sondern wird gemacht. Man kann das als Reflexion der propagandistischen Verfahren und als Ironisierung der propagandistischen Inhalte deuten, als bêtise-Werden der Bestialität der Bestie Mensch (‚devenir bêtise de la bestialité de la bête humaine‘56). Kleist bietet damit eine spezifische Spielart der Gattung des politischen Dramas, die erstens Elemente einer politischen Propaganda enthält, zweitens die Prämissen des Politischen reflektiert und drittens das Verhältnis zwischen der Politik und dem Politischen als einen Widerstreit nachvollziehbar macht. Das politische Drama, wie Kleist es hier in die Welt setzt, ist, als sei dies in einem Zuge so ohne Weiteres möglich, brutal, nachdenklich und inkonsistent zugleich. Ob man Kleists Herrmannsschlacht als Propaganda bewertet oder als kritische Reflexion propagandistischer Techniken, hängt also auch davon ab, wie man den Wiederauftritt der Bärin inszeniert, die nun erst, in Phase IV, in einem starken Sinn off cage ist.57 Die Inszenierung ist in diesem Fall eine Wertung. Man könnte die Bärin weiterhin als brutales Bühnentier vorführen und die reflexive Wendung zum kritischen Theatertier einfach überspielen. Man könnte die reflexive Wendung herausstellen und das Theatertier an die Stelle des Bühnentiers treten lassen. Oder man könnte das kritische Theatertier hervortreten lassen, ohne das brutale Bühnentier ganz zum Verschwinden zu bringen. Ich würde die Bärin vom gleichen Schauspieler spielen lassen, der auch den Herrmann spielt (Zeit hat er ja in diesen Szenen), das Kostüm dann aber so realistisch machen, dass man dies als Zuschauer*in nicht erkennen kann. Das wäre dann vielleicht die perfekte Metapher für die Gattung des politischen Dramas: ein Tier, in dem ein Mensch steckt, aber keiner weiß es.

56 Vgl. ebd. 57 Bezeichnenderweise wurden die Bärin-Szenen in der Uraufführung des Dramas gestrichen, vgl. Müller-Salget: „Die Herrmannsschlacht“ (wie Anm. 1), S. 77. Mit dieser Streichung wurde eine bis in den Nationalsozialismus reichende Rezeptionstradition begründet, die das Kritisch-Reflexive zurücknimmt und das Affirmativ-Propagandistische forciert.

Tolle Hunde Kleists Poetologie und der Tollwutdiskurs S EBASTIAN S CHÖNBECK

In Heinrich von Kleists Werk sind Hunde in viele Handlungen involviert. Man denke an den „Haushund“ in Das Bettelweib von Locarno, den die Marquise und der Marchese als etwas „Drittes, Lebendiges“ mit in das unheimliche Fremdenzimmer nehmen1; an Amphitryon, der Sosias beschimpft („Hund, Nichtswürdiger!“2), weil dieser seine Pflicht gegenüber seinem Herrn versäumen würde; an Penthesilea, die ihre Hunde anruft und sich mit ihnen auf Achilles stürzt3 („PENTHESILEA sich zu den Hunden wendend: Auf, Tigris, jetzt, dich brauch 1

Heinrich von Kleist: „Das Bettelweib von Locarno“, in: DKV III, S. 261–264, hier S. 263.

2

Heinrich von Kleist: „Amphitryon“, in: DKV I, S. 377–461, hier S. 407.

3

Zu den Hunden im Werk von Kleist sowie insbesondere im Trauerspiel Penthesilea liegt bereits eine Reihe von Forschungsbeiträgen vor: Vgl. Sebastian Schönbeck: „Auf, auf, auf. Die wilden Hunde Penthesileas“, in: Tierstudien 8 (2015), S. 17–27; Martin Bartelmus: „Kleists Teichoskopie auf die Moderne. Über Kollektive, Meuten, Subjekte und das Tier-Werden im Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Journal of Literary Theory 9/2 (2015), S. 161–185; Jonathan Kassner: „Der Tod als solcher. Kreatürliche Konfusionen in Kleists Das Bettelweib von Locarno“, in: Tierstudien 05 (2014), S. 151–162; Tim Mehigan: „Kleist und die Tiere. Zur Frage des ausgeschlossenen Dritten im Trauerspiel ‚Penthesilea‘“, in: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. Rüdiger Campe, Freiburg i. Br. 2008, S. 291–312; Bianca Theisen: „‚Helden und Köter und Fraun‘. Kleists Hundekomödie“, in: Penthesileas Versprechen, S. 153–164. Zu den Tierbildern bei Kleist vgl. grundlegend Anthony Stephens: „‚Menschen / Mit Tieren die Natur gewechselt‘. Zur Funktionsweise der Tierbilder bei Heinrich von Kleist“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 115– 142.

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ich!“4) oder an den Junker Wenzel von Tronka, der nach der Hasenhetze mit seinen Hunden zu Michael Kohlhaas in den Schlosshof „sprengt[]“.5 In diesen und anderen Fällen stehen die Hunde im Dienst der menschlichen Figuren und agieren mit ihnen gemeinsam. Dieses streng hierarchische und doch enge Verhältnis von Menschen und Hunden kommt auch in naturgeschichtlichen Texten und Wörterbucheinträgen um 1800 zum Ausdruck. Diese zeugen zum einen von einer individuellen Kooperation von Menschen und Hunden und allgemeiner von einer Funktion der Hundegattung innerhalb der menschlichen Kultur. Comte de Buffon geht in seiner Histoire naturelle (1749-1789) ausführlich auf die Dienstbarkeit des Hundes für den Menschen, seine Bedeutung für die menschliche Kultur und die damit verbundenen Kultivierungspraktiken ein.6 Wörterbücher wie Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart7 oder das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm8 verzeichnen diese Zusammenhänge ebenfalls. Adelung etwa beschreibt die verschiedenen Arten der Hundegattung im Hinblick auf ihre kulturelle Vereinnahmung: Der Hund, […] der Nahme eines bekannten vierfüßigen fleischfressenden Hausthieres mit fünf Zehen und einem nach der linken Seite umgekrümmten Schwanze. 1. Eigentlich, wo es eine Menge besonderer Arten dieses Thieres gibt, welche durch allerley Zusammensetzungen näher bestimmt werden. Jagdhund, Schooßhund, Haushund, Hofhund, Leithund, Wasserhund, Spürhund, Dachshund, Hühnerhund, Windhund, Kettenhund, Schäferhund, u. s. f.9

Das Wort ‚Hund‘ bezeichnet für Adelung vor allem ein „Hausthier“, das sich durch seinen jeweiligen Nutzen näher spezifizieren lässt.10 Eine ähnliche

4

Heinrich von Kleist: „Penthesilea“, in: DKV II, S. 143–256, hier S. 232.

5

Heinrich von Kleist: „Michael Kohlhaas“, in: DKV III, S. 11–142, hier S. 25.

6

Für Buffon bildet die Würde des Hundes eine Voraussetzung für den Einsatz der erzieherischen Fähigkeiten des Menschen zur Domestizierung. Vgl. Georges-Louis Leclerc de Buffon: „Der Hund“, in: Ders.: Allgemeine Historie der Natur. Nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; Nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich, übers. v. Albrecht von Haller, 12 Bde., Bd. 3.1, Hamburg, Leipzig 1756, S. 104–125, hier S. 104.

7

Art. „Hund“, in: GWH, Bd. 2, Sp. 1318–1321.

8

Art. „Hund“, in: DWB, Bd. 4.2, Sp. 1910–1920.

9

Art. „Hund“ (wie Anm. 7), Sp. 1318.

10 Aufgrund der „viele[n] Gemeinschaft“ des Hundes mit den Menschen werde der Ausdruck zudem „figürlich“, als auch in Form von „Sprichwörter[n]“ verwendet. Ebd.

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‚kulturelle Klassifikation‘ findet sich auch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm: [Z]usammensetzungen bezeichnen die einzelnen racen, entweder nach ihrer ähnlichkeit mit andern thieren in kopfbildung oder fell, vgl. wolfshund, löwenhund, tigerhund; oder häufiger nach ihrer verwendung: schäferhund, hirtenhund, metzgerhund, haushund, hofhund, jagdhund, jägerhund (hühnerhund, wachtelhund, dachshund zur jagd auf solche thiere), kettenhund u. s. w.11

Hunde werden – so fahren die Grimms fort – zudem durch Adjektive näher bestimmt; sie werden landläufig als „treu, falsch, böse, munter, faul, bissig“12 beschrieben. Diese Anthropomorphismen können zugleich als besondere Charakterisierungen der Hunde verstanden werden, die sich einerseits der kulturellen Klassifikation der „racen“ zuordnen lassen, die aber dieser Zuordnung andererseits auch widersprechen können. Ein fauler Jagdhund, ein bissiger Haushund, ein falscher Hirtenhund erscheinen als Widersprüche in sich. Die Besonderheit von ‚tollen Hunden‘ („der hund ist toll, wüthend: rapidus canis wutender o. tobendiger hundt“13, heißt es bei den Grimms) liegt nun darin, dass sie vollständig aus der kulturellen Klassifikation herausfallen und diese gewissermaßen von außen stören. Diese Störung erfolgt vor allem durch das den ‚kulturellen‘ Hundearten und der menschlichen Kultur insgesamt widersprechende Verhalten der tollen Hunde. Zudem wird die Tollheit der Hunde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Krankheit, als „Tolle“ oder „Wuth“ pathologisiert.14 Diese Pathologisierung lässt sich als Versuch einer kulturellen Reintegration der ‚tollen Hunde‘ begreifen und zugleich als Rationalisierung des Todes, der die unvermeidliche Folge der Krankheit darstellt. Das Wort ‚Tollwuth‘ wird erstmals in Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache aus dem Jahr 1810 geführt und als „eine tolle Wut“, als „hoechste[r] Grad der Wut“ bezeichnet, als etwas, das ein Lebewesen haben oder äußern kann.15 Menschen sind in diese Bestimmung inbegriffen; auch sie können Tollwut oder Tollheit haben oder äußern, können „aus Beraubung des Verstandes und Bewusstseins ungestüm auf tobende und auch unzusammenhangende und 11 Art. „Hund“ (wie Anm. 8), Sp. 1911. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Vgl. Heinrich Wilhelm Doebel: Neueroeffnete Jaeger-Practica, oder der wohlgeübte und erfahrene Jaeger, Leipzig 1754, S. 110. 15 Joachim Heinrich Campe: „Die Tollwut“ u. „Tollwuetig“, in: Ders.: Wörterbuch der deutschen Sprache, vierter Theil, Braunschweig 1810, S. 845.

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dem Zwecke ganz widersprechende Art“ reden und handeln; und zwar – wie Campe betont – „gegen sich selbst und andere“.16 Die historische Semantik verdichtet sich also in der Zeit von Kleists schriftstellerischer Tätigkeit zu einem Terminus. Kleists Texte über ‚tolle Hunde‘ arbeiten an dieser Semantik mit, indem sie dem unartigen Verhalten oder der Krankheit der Hunde die Form literarischer Handlungen geben, und damit gewissermaßen an der begrifflichen Verfestigung der Tollwut partizipieren. Gleichzeitig rühren Kleists ‚tolle Hunde‘17 auch an das kulturelle Selbstverständnis des Menschen und stören damit auch die kulturellen Klassifikationen, wie sie bei Adelung und den Grimms zum Ausdruck kommen.18 Das der Gattung (Canis19) widersprechende Verhalten macht die Unart der tollen Hunde aus. Kleists tolle Hunde lassen sich an einer Hand abzählen: Ein toller Hund kommt in Die Familie Schroffenstein vor, zwei weitere in den Polizeilichen-Tagesmittheilungen der Berliner Abendblätter vom neunten Oktober und vom fünften November 1810 und einer schließlich in der ebenfalls in den Abendblättern (am neunten Januar 1811) erschienenen Anekdote Mutterliebe. In allen Fällen sind die tollen Hunde auch poetologisch mit Blick auf die jeweilig verfertigte literarische Gattung von Bedeutung. Im Fokus steht im Folgenden die Frage, welche Rolle sie im Trauerspiel, in der Polizei-Nachricht und in der Anekdote spielen. Der Beitrag 16 Campe: „Toll“, in: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 4 (wie Anm. 15), S. 844. 17 Ich verzichte im Folgenden zum Zweck einer besseren Lesbarkeit darauf, den Ausdruck ‚tolle Hunde‘ stets in einfache Anführungszeichen zu setzen. 18 Zum Hund und Affen als Spiegel- oder Zerrbilder des Menschen vgl. Gerhard Neumann: „Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 87–122. Allgemeiner zu Hunden in der Literatur vgl. Roland Borgards, Aline Steinbrecher: „Doggen, Bologneser, Bullenbeißer. Hunde in historischen Quellen um 1800 und in Danton’s Tod von Georg Büchner“, in: Tierisch! Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen, hg. v. Meret Fehlmann u. Rebecca Niederhauser, Zürich 2015, S. 151–171; Manfred Schneider: „Das Notariat der Hunde. Eine literaturwissenschaftliche Kynologie“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 4–27. Zur Kulturgeschichte des Hundes vgl. die zahlreichen Forschungsbeiträge von Aline Steinbrecher, etwa: Aline Steinbrecher: „Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben (1750–1850)“, in: Historische Anthropologie 19/2 (2013), S. 192–210. 19 „Canis“ bezeichnet nach der linnéischen Terminologie sowohl eine Art als auch eine Gattung. Vgl. Carl von Linné: Natur-Systema, Oder Die in ordentlichem Zusammenhange vorgetragene Drei Reiche der Natur, nach ihren Classen, Ordnungen, Geschlechtern und Arten, 1. dt. und zugl. 3. Aufl. des lat. Orig., übers. v. Johann Joachim Lange, Halle 1740, S. 45.

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ist darüber hinaus ein ausführlicher Kommentar zu den Texten aus den Berliner Abendblättern, zu ‚Toller Hund‘ und Mutterliebe, da ein solcher in der Forschung bislang fehlt bzw. die erhellenden Darlegungen von Reinhold Steig auf das Jahr 190120 und von Helmut Sembdner auf das Jahr 193921 zurückgehen und die Texte danach nur vereinzelt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben.22

T RAUERSPIEL UND K OMÖDIE (D IE F AMILIE S CHROFFENSTEIN ) Am Ende von Kleists erstem Trauerspiel Die Familie Schroffenstein (1801) finden sich die Figuren in jener Höhle wieder, in der sich Ottokar und Agnes der schwelenden Feindschaft der Häuser Rossitz und Warwand zum Trotz wiederholt getroffen haben, um ihrer Liebe im Verborgenen nachzugehen. Am Ende wird nicht nur der soziale Konflikt der beiden Häuser in einem Spiel zwischen Er- und Verkennen in einem tragischen Höhepunkt ausgetragen, sondern es werden auch die Möglichkeiten der Tragödie und ihr Kippen ins Komische vorgeführt.23 Als die Leichen identifiziert werden sollen, wendet sich Rupert an seine Kontrahenten: RUPERT (richtet sich halb auf). Bleibt fern, ich bittʼ euch. – Sehr gefährlich ist’s,

20 Reinhold Steig: Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe, Berlin u. Stuttgart 1901, S. 365– 367. 21 Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939, S. 72f. 22 Vgl. etwa Jill Bühler: Vor dem Lustmord. Sexualisierte Gewalt in Literatur und Forensik um 1800, Stuttgart 2018, S. 101ff.; Peter Horn: Verbale Gewalt oder Kleist auf der Couch. Über die Problematik der Psychoanalyse von literarischen Texten, Oberhausen 2009, S. 29f.; Lothar Jordan: „Todesarten im Werk Heinrich von Kleists“, in: Beiträge zur Kleistforschung 18 (2004), S. 101–124, hier S. 117; Guido Bee: „Fürchterliche Kämpfe, schreckliche Mordtaten. Das Exzeptionelle als Gegenstand der Massenkommunikation bei Hebel und Kleist“, in: Lebendige Tradition und antizipierte Moderne. Über Johann Peter Hebel, hg. v. Richard Faber, Würzburg 2004, S. 63–82, hier S. 69; Dirk Grathoff: „Antike und Moderne im Werk Heinrich von Kleists“, in: Ders.: Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists, Wiesbaden 22000, S. 112–124, hier S. 120. 23 Vgl. die Einleitung zu diesem Band.

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Der Ohnmacht eines Rasenden zu spotten. Ist er in Fesseln gleich geschlagen, kann Er euch den Speichel noch ins Antlitz spein, Der seine Pest euch einimpft. Geht, und laßt Die Leiche mindstens mir von Ottokar. JOHANN. Du toller Hund! Geh gleich fort! Ottokar Ist dort – komm, Alter, glaub mir hier ist Agnes.24

Rupert, der den Mord an Jeronimus verschuldet und der seinen eigenen Sohn Ottokar in der Verkleidung Agnes’ erdolcht hat, ruft halb aufgerichtet eine Warnung in das Dunkel der Höhle. Dabei überrascht er mit einer selbstreflexiven Volte. Seine Selbst-Beschreibung umfasst dreierlei. Erstens beschreibt er sich selbst als Rasenden, den – wohl zusätzlich zu seiner Raserei – eine Ohnmacht ergriffen hat. Zweitens sieht er sich selbst in seinen Handlungsoptionen beschränkt, wenn er die Beschreibung in der dritten Person fortsetzt und sich „in Ketten“ sieht. Drittens scheint diese Ankettung die Gefahr, die von dem ohnmächtigen Rasenden ausgeht, nicht zu verringern, sondern sie noch zu verstärken. So könne er seinen Kontrahenten einen analogen Wahnsinn mit seinem Speichel ,einimpfen‘, wie er sagt. Die potenzielle Ansteckung korrespondiert mit Johanns Replik, mit der er die Selbstbeschreibung Ruperts zusammenfasst und auf den Punkt bringt, indem er ihn metaphorisch als „tollen Hund“ anredet und bezeichnet. Johanns Verwendung der metaphorischen Anrede ‚du toller Hund‘ reagiert auf Ruperts Selbstbeschreibung, denn eine der Ursachen der sogenannten „Hundswuth“, also Tollwut, wird um 1800 darin gesehen, dass die tollen Hunde zu lange an der Kette gehalten werden und folglich ihrem Geschlechtstrieb nicht nachgehen können.25 Auch wird die Tollwut bekanntlich durch den „wilden Hundebiss“26 (so 24 Heinrich von Kleist: „Die Familie Schroffenstein“, in: DKV I, S. 123–233, hier S. 231. 25 Vgl. Franz Christian Karl Krügelstein: Die Geschichte der Hundswuth und der Wasserscheu und deren Behandlung. Von dem ersten Erscheinen der Krankheit an bis auf unsere Zeiten, Gotha 1826, S. 322. 26 Gottfried Ludwig Brauer: Der tolle Hund, nach seinen charakteristischen Kennzeichen dargestellt. Nebst den nöthigsten und zweckmäßigsten Mitteln wider den tollen Hundebiß, Leipzig 1812. Auch Brauer unterscheidet zwei Arten von „Hundswuth“, einerseits die durch einen Biss übertragene, und andererseits die durch äußere Einwirkungen verursachte (ebd., S. 11f.). Weiterhin ist Brauers Annahme bemerkenswert, dass vor allem die sogenannten „Schooßhündchen“ häufig der Wut verfallen (ebd., S. 13). Brauer lässt sich über die irrigen Ursachen der Tollwut aus, etwa zu große Hitze oder Kälte, schlechtes Futter, mangelnde Befriedigung des Geschlechtstriebes etc. (ebd., S. 11f.)

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ein Titel eines einschlägigen Buches) und damit durch Speichel übertragen. Einig scheint man sich ferner darüber zu sein, dass die Tollwut-Krankheit entweder durch diesen Biss, oder aber durch eine bestimmte Behandlung des Hundes entsteht.27 Als eines der besonderen Symptome der Tollwut wird die vermehrte Schleimabsonderung infolge einer Entzündung des Rachens angeführt.28 Der notwendig letale Ausgang der Infektion und der Infizierung der anderen prädestiniert die Krankheit und die Anrede ‚du toller Hund‘ für die Tragödie. Rupert kondensiert in seiner Selbstbeschreibung also bereits mindestens zwei der gängigen Ursachen der Krankheit und dazu ein Symptom. Darüber hinaus spielen weitere Symptome wie eine eingeschränkte Sicht (bei Hunden durch die Entzündung der Augen) bzw. eine grundsätzlich verringerte Sinnesfähigkeit in der Szene eine Rolle. Die unzureichenden Sinne der Figuren führen hier zu einer erschwerten Identifizierung der Leichen von Agnes und Ottokar. Mit seiner Anrede29 schreibt Johann Rupert die Tollwut oder Tollheit zu, dieser schreibt sie sich aber auch selbst zu. Beides zusammengenommen macht sie zur Diagnose der schrecklichen Taten, aber auch zur Prognose, zur Warnung in Richtung der Umstehenden, die Infizierung weiterer Figuren zu verhindern. In jedem Fall geht mit der Tollwut die Vorstellung von Furchtbarem und Schrecklichem einher. Auch dies findet sich in der Mehrzahl der zahlreichen Studien zur Tollwut in den Zehnerjahren des 19. Jahrhunderts wieder, etwa am Beginn von Johann Wendts Buch Ueber den tollen Hunds-Biß und die Schrecknisse seiner unglücklichen Folgen aus dem Jahr 1811.30 27 Vgl. Carl Paulus: Die einzige Ursache der Hundswuth und die Mittel, dies Uebel ganz auszurotten, Rinteln 1798, S. 15. Auch Paulus argumentiert gegen die vermeintlichen Ursachen des Klimas und vermutet den Grund dementsprechend in der „Behandlung des Hundes“. 28 Brauer: Der tolle Hund (wie Anm. 26), S. 13. 29 Man kann diese Form der Anrede auch mit Borgards als „theriophore Wendung“ beschreiben. Dieser ist eine „metaphorische Struktur“ eigen: Rupert agiert wie ein toller Hund. Roland Borgards: „Tiere in der Literatur – eine methodische Standortbestimmung“, in: Das Tier an sich – Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, hg. v. Herwig Grimm und Carola Otterstedt, Göttingen 2012, S. 87–118, hier S. 90. 30 Johann Wendt: Ueber den tollen Hunds-Biß und die Schrecknisse seiner unglücklichen Folgen, Breslau 1811, S. 3. Dass nahezu alle Abhandlungen über die Tollwut auf diesen Schrecken verweisen, darauf verweist Klaus Burghard: Hundswuth und Wasserscheu. Die Tollwuttherapie im Jahrhundert vor Pasteur, Berlin 2000, S. 11; vgl. etwa auch Christian Friedrich Harles: Ueber die Behandlung der Hundswuth und insbesondere über die Wirksamkeit der Datura Strammonium gegen dieselbe, Frankfurt a. M. 1809,

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Bemerkenswert an der metaphorischen Anrede der Tollheit an Rupert und an seiner Selbstbeschreibung ist, dass mit ihr eine Schnittmenge von tiermedizinischer Diagnose und menschlichem Verhalten markiert ist. Tollheit, darauf weist auch Carl Paulus in seinem 1798 erschienenen Buch Die einzige Ursache der Hundswuth und die Mittel, dies Uebel ganz auszurotten hin, ist das Resultat der Behandlung des Hundes durch den Menschen. So wird die Tollwut etwa auf die Nähe des Hundes zum Ofen und die damit verbundenen Temperaturwechsel zurückgeführt.31 Aus diesem Grund würden sich vorwiegend „Bauer- und Schäferhunde“32 mit der Krankheit infizieren, so Paulus. Diese Hunde müssten die Nächte außerhalb menschlicher Behausungen verbringen und dürften sich erst morgens an den Ofen legen, sodass sie täglich starken Temperaturschwankungen ausgesetzt seien. Das Tollwerden der Hunde ist für Paulus ein Resultat ihrer Dienstbarkeit für den Menschen. Tatsächlich wird in Die Familie Schroffenstein auch auf die Präsenz von Hunden im Schloss des Hauses Rossitz hingewiesen. In der zweiten Szene des dritten Aufzugs lockt Rupert Jeronimus von Wyk in einen Hinterhalt, da er ihn für den Mörder seines vermeintlich getöteten Sohns Johann hält (der in Wirklichkeit eingekerkert in Warwand sitzt): RUPERT (pfeift; zwei Diener erscheinen). […] DER DIENER: Herr, Wir haben eine Klingel hier gekauft, Und bitten dich, wenn du uns brauchst, so klingle. (Er setzt die Klingel auf den Tisch.) RUPERT: S’ist gut. DER DIENER: Wir bitten dich darum, denn wenn Du pfeifst, so springt der Hund jedwedes mal Aus seinem Ofenloch, und denkt, es gelte ihm.33

S. 1; Philibert Chabert: Ueber die Tollehundeswuth und deren Heilung durch zweckmäßigen Gebrauch des Gauchheils, hg. v. J. C. Ribbe, übers. v. G. F. Sick, Berlin 1806, S. IIIf. 31 Vgl. Paulus: Die einzige Ursache der Hundswuth (wie Anm. 27), S. 18: „Ist’s Wunder, daß der Hund, das einzige Thier, das unter dem Ofen liegt, auch das einzige Thier ist, daß ohne Mittheilung durch den Biß toll wird?“ 32 Ebd., S. 16. 33 Kleist: „Die Familie Schroffenstein“ (wie Anm. 24), S. 183.

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An dieser Stelle wird die Präsenz einer Hundefigur in der Handlung angedeutet. Dass sich der Hund offenbar in einem Ofenloch aufzuhalten pflegt, erinnert an die von Paulus wenige Jahre zuvor angedeutete Ursache der Tollwut. Einerseits ist der Hund, wie sich zeigt, Ruperts Dienern untergeben, andererseits reagiert er auch auf den Pfiff Ruperts, sodass er sich auch als dessen Untergebener zeigt. Der Hund kann nicht unterscheiden, ob der Pfiff ihm gilt oder nicht. Mit einer solchen Unsicherheit gegenüber der Deutung von menschlichen Lauten ist der Hund nicht allein, auch Ruperts Gehör („EUSTACHE: Hier ist der Mann. – Hör’ es nun selbst, / Ob ich Dir falsch berichtet.“34) wird durch die fragwürdigen Berichte herausgefordert und zu der Fehldeutung verleitet, Johann sei erschlagen worden. Rupert und seine Hunde teilen also eine gewisse Unsicherheit gegenüber akustischen Reizen und ihrer Deutung. Rupert nennt Santing, der den Mord nach dem Bericht dreier Männer schildert, zwar „toll“35, leitet dann jedoch den Mord an dem vermeintlichen Mörder seines Sohnes, nämlich Jeronimus, ein. Am Ende der Szene will Rupert jenen zum Tode verurteilen, der „zuerst ihn tödlich / Getroffen hat.“36 Daraufhin pfeift er erneut; dieses Mal gilt der Pfiff den Hunden: „Wo sind die Hunde wenn / Ich pfeife?“37 Das Problem der Herrschaft, der Zugehörigkeit zu Autoritäten und der inneren Dynamik der Zeichen wird offenbar anhand des Verhältnisses von Rupert zu seinen Hunden durchdacht. Wenn also die von Johann am Ende des Trauerspiels verwendete Anrede die Symptomatik der Tollwut aufführt, dann gelingt dies, da auch hier die Wahrnehmung und Deutung von Zeichen problematisiert wird. Weiterhin wird auch der gemeinhin mit der Tollwutkrankheit verbundene Schrecken ausgespielt, das heißt, für das Trauerspiel genutzt. Allerdings führt das abschließende, zwischen Erkenntnis und Verkennung changierende Spiel nicht zu einer Steigerung der Tragik des Trauerspiels, sondern zur Emergenz einer karnevalesken Komik.38 Die Anrede 34 Ebd. 35 Ebd., S. 185. 36 Ebd., S. 194. 37 Ebd., S. 195. 38 Auf das Ineinander von Trauerspiel und Komödie weisen die meisten der Forschungsbeiträge hin, vgl. exemplarisch Louis Gerrekens: „‚Die Familie Schroffenstein‘. Das Trauerspiel und seine Dekonstruktion“, in: Kleist in der Schweiz – Kleist und die Schweiz, hg. v. Anett Lütteken, Carsten Zelle und Wolfgang de Bruyn, Hannover 2015, S. 289−304; Nicolas Pethes: „Poetik der Adoption. Illegitime Kinder, ungewisse Väter und juristische Elternschaft als Figurationen von Kleists Ästhetik“, in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hg. v. dems., Göttingen 2011, S. 324−346, hier S. 333–336; Anthony Stephens: „Tragödie, Trauerspiel, Schauspiel“, in: KHb, S. 15−21. Ders. und Yixu Lü: „‚Gewaltig die Natur im Menschen‘.

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des tollen Hundes markiert im Trauerspiel den Moment, an dem die Sinne versagen und an dem dieses Versagen zur tragisch-komischen Unfähigkeit gesteigert wird. Im selben Moment wird der durch den „Erbvertrag“ verursachte Dissenz der beiden Familienzweige in der Höhle verdichtet, in einer überdeterminierten Szene zur Aufführung gebracht und aufgehoben: „So seid ihr nun versöhnt.“39 Einen tollen Hund nennt Johann Ottokar an der Stelle im Trauerspiel, an der die Peripetie und die Anagnorisis40 sich mehrfach wiederholen und an der Komisches und Tragisches sich permanent abwechseln. In der Anrede verdichtet sich dieses Wechselspiel, sie konnotiert die absolute Tragik der Tollwut („das Furchtbarste, was den Sterblichen treffen kann“41) und die komödiantische Tollheit im Sinne des Unsinns und des Närrischen. Mit der Anrede des tollen Hundes überlagern sich die Felder der Veterinärmedizin (Tollwut), der Politik (Herrschaft/Unterwerfung), des Sozialen (der Familien und ihre Feindschaft) und der Gattungspoetologie (Trauerspiel/Komödie). Die Anrede ‚du toller Hund‘ markiert eine Unart, da sie diese Überlagerung und das damit verbundene Changieren innerhalb der Register zum Ausdruck bringt.42 Die Analyse dieser Überlagerung lässt sich anhand von Texten aus den Berliner Abendblättern vertiefen, in denen tolle Hunde im Zentrum stehen.

F AKT UND G ERÜCHT (P OLIZEILICHE T AGES -M ITTEILUNGEN ) Zweifellos handelt es sich trotz der angedeuteten Präsenz eines Hundes in Die Familie Schroffenstein bei Johanns Ausruf in Richtung seines leiblichen Vaters nicht um einen Hund im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um eine

Affekte und Reflexivität der Sprache in Kleists vollendeten Trauerspielen“, in: KJb 2008/2009, S. 214−231. Vgl. zudem die Einleitung zu diesem Band. 39 Kleist: „Die Familie Schroffenstein“ (wie Anm. 24), S. 152. 40 Damit werden die Elemente, die Aristoteles in seiner Poetik als zentral für die Tragödie erachtet, multipliziert und auf die Spitze getrieben. Hierdurch treten sie selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit und werden als poetologische Aspekte selbst inszeniert. Vgl. hierzu Peter-André Alt: „Das ‚pathologische Interesse‘. Kleists dramatisches Konzept“, in: Kleist – ein moderner Aufklärer, hg. v. Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel, Göttingen 2005, S. 77–100, hier S. 78f.; vgl. Aristoteles: Poetik, hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 19 [1449b]. 41 Wendt: Ueber den tollen Hunds-Biß (wie Anm. 30), S. 3. 42 Zum Bedeutungsspektrum des Ausdrucks ‚Unart‘ vgl. die Einleitung zu diesem Band.

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metaphorische Anrede, um uneigentliche Rede also, die auf einer metaphorischen Struktur beruht: Rupert ist toll wie ein toller Hund. Damit ist zugleich eine Ähnlichkeit zwischen dem Trauerspiel und den tiermedizinischen Schriften markiert.43 Im Folgenden werde ich diese Ähnlichkeit ausgehend von Stellen beleuchten, an denen von ‚tollen Hunden‘ im eigentlichen Sinne die Rede ist. Der von Sembdner mit ‚toller Hund‘ betitelte Text findet sich unter den Polizeilichen Tages-Mitteilungen, die in Extrablättern den einzelnen Ausgaben der Berliner Abendblätter beigelegt sind.44 Es handelt sich um einen von mehreren Texten, die sich dem kriminellen Berliner Tagesgeschehen widmen. Kleist verdankt seine Informationen zu diesem Geschehen der Unterstützung des königlichen Präsidenten der Polizei, Justus Gruner. Mit welchen poetologischen Hintergedanken Kleist die Berichte von Gruner aufnimmt, umarbeitet und anonym publiziert, lässt sich indes nur anhand der einzelnen in den Berichten dargestellten Fälle bemessen. Fest steht, dass der Vergleich der Polizei-Rapporte mit den tatsächlich von Kleist veröffentlichten Texten ergibt, dass zwischen beiden Varianten nur sehr geringe Abweichungen nachweisbar sind.45 Dies spricht jedoch weniger für die Bedeutungslosigkeit der Umarbeitungen von Kleist, sondern vielmehr für eine akribische Arbeit an Details. Auffällig ist der grundsätzliche Unterschied, wie auch Jörg Schönert feststellt, dass Gruner seine Texte jeweils am „Faktum der Tat“ orientiert, während Kleists Varianten „am Leser-Interesse für das Merkwürdige, Überraschende, Unerhörte und Außerordentliche ausgerichtet“ 43 Damit eignet der Anrede ähnlich wie der Metapher in Penthesilea eine materielle Komponente. Vgl. Schönbeck: „Auf, auf, auf“ (wie Anm. 3), S. 17–27. Zur materiellen Metapher vgl. auch Roland Borgards: „Stubb kills a Whale. Asche“, in: Neue Rundschau 1 (2015), S. 173–185. 44 Der Text selbst trägt in den Berliner Abendblättern keinen Titel, über ihm erscheint lediglich der Name der Rubrik Polizeiliche Tagesmitteilung. Im Register zu den reprografischen Nachdrucken der Berliner Abendblätter betitelt Helmut Sembdner den Text provisorisch als ‚toller Hund‘. Ich folge Sembdner in dieser Betitelung. 45 Jörg Schönert: „Kriminalität und Devianz in den ,Berliner Abendblättern‘“, in: Kriminalität erzählen. Studien zur Kriminalität in der deutschsprachigen Literatur (1570−1920), hg. v. dems., Berlin und Boston 2015, S. 99–114, hier S. 105; zu den Berliner Abendblättern vgl. grundlegend Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003; Arno Barnert, Roland Reuß und Peter Staengle: „Polizei – Theater – Zensur. Quellen zu Heinrich von Kleists ,Berliner Abendblättern‘“, in: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (1997), S. 29–353; Jochen Marquardt: „Der mündige Zeitungsleser – Anmerkungen zur Kommunikationsstruktur der ‚Berliner Abendblätter‘“, in: Beiträge zur Kleist-Forschung (1986), S. 7–36.

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sind.46 Gleichwohl setzt sich Kleist in seinen redaktionellen Erklärungen das Ziel der Authentizität, er will „Merkwürdige[m] und Interessante[m] […] ungesäumten, ausführlichen und glaubwürdigen Bericht“47 abstatten. Die Schilderungen der Geschehnisse vom tollen Hund könnten laut Kommentar der Klassiker-Ausgabe den Grund dafür darstellen, dass Kleist bei Gruner in Misskredit gerät, dass er in seinen Umarbeitungen also womöglich zu weit geht.48 Am 3. d. M. hat sich in Charlottenburg ein fremder Hund mit einem Stricke um den Hals eingefunden, und ist nachdem er sich mit mehrern Hunden gebissen hatte, und aus mehrern Häusern verjagt war, auf den Hof des Herrn Geh. Kommerz. Rat Pauli geraten. Daselbst wurde er von sämtlichen Hunden angefallen, und weil er sich mit ihnen herumbiß, so hielt man ihn für toll, erschoß ihn, und alle Paulische, von ihm gebissene Hunde, und begrub sie ehrlich. Dieses Faktum hat zu dem Gerücht Anlaß gegeben, daß in Charlottenburg ein toller Hund Menschen und Vieh gebissen habe. Menschen sind gar nicht gebissen, das Vieh aber, das er biß, ist teils getötet und begraben, teils in Observation gesetzt. Zudem da er sich gutwillig aus mehreren Häusern verjagen ließ, ist nur zu wahrscheinlich, daß der Hund gar nicht toll gewesen.49

Die präzise Datierung der geschilderten Ereignisse verweist auf den Wunsch, den Lesern das Berliner Tagesgeschehen zugänglich zu machen, wobei der Zeitraum zwischen den Ereignissen (3. Oktober 1810) und der Veröffentlichung (9. Oktober) bereits sechs Tage beträgt. Damit verfährt der Text nicht wie die Texte über die Mordbrennerbande im Modus der Tagesaktualität.50 Wenn nicht eine solche Gleichzeitigkeit der Darstellung zu den dargestellten Ereignissen, was bewegt Kleist dann zur Auswahl der Ereignisse um das Erscheinen und Ableben des tollen Hundes? Auffällig ist, dass sich die Darstellung an der Chronologie der Geschehnisse orientiert und sich der Text in zwei Teile untergliedern lässt: in einen, der dem Faktum gilt, und einem, der den Umschlag desselben in ein Gerücht thematisiert. Dabei ist die von Johannes Lehmann am Beispiel der Berliner Abendblätter herausgearbeitete Pointe von Bedeutung, dass Kleist auf die räumlich-zeitliche Nähe der Texte zu den Berliner Ereignissen selbst setzt und damit entscheidend an einer für seine Zeit neuen Differenzierung zwischen tatsächlichen und 46 Schönert: „Kriminalität und Devianz“ (wie Anm. 45), S. 102. 47 Heinrich von Kleist: „Extrablatt zum ersten Berliner Abendblatt“, in: DKV III, S. 616. 48 Vgl. DKV III, S. 1203. Vgl. auch Peters: Gebrauch der Zeit (wie Anm. 45), S. 171. 49 Heinrich von Kleist: „Toller Hund“, in: BA, Bl. 8; SW8 II, S. 429; BKA II/7, S. 45; DKV III, S. 622. 50 Vgl. Heinrich von Kleist: „Rapport vom 1. Oktober“, in: DKV III, S. 617: „In Lichtenberg brennt in diesen Augenblick (10 Uhr Morgens) ein Bauernhof.“

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dargestellten ‚Thatsachen‘, zwischen Information und Text, mitschreibt. Eine solche hat schließlich einen Bedeutungswandel in der Begriffsgeschichte der ‚Thatsache‘ zur Folge, von einer erzählten Handlung zum isolierten Sachverhalt.51 Indem Kleist diese Unterscheidung zum Gegenstand seiner Polizei-Mitteilung vom tollen Hund macht, schreibt er an der Ausdifferenzierung von Gattungen der Kurzprosa wie der Anekdote, der Novelle oder der journalistischen Formate der Nachricht oder der Meldung mit. Dass er eine Reflexion über das Spiel von Faktizität (Faktum) und Fiktionalität (Gerücht) in einem Text zu tollen Hunden reflektiert, ist kein Zufall. Denn was in ihm auf dem Spiel steht, ist tatsächlich die Frage, ob es sich um einen schrecklichen und gewissermaßen tragischen Vorfall handelt, der den Tod von vielen Menschen und Hunden rekapituliert und antizipiert, oder schlicht um ein Gerücht, dessen Wirkmächtigkeit zum Tode einiger Hunde führt und das sich eventuell den Vorwurf von Lächerlichkeit zuzieht.52 Ein Ernstfall wäre der Vorfall dann, wenn es sich bei der Tollwut um einen Fakt handelt. Faktisch gewiss ist nach der Mitteilung, dass der Hund bereits in zahlreichen Haushalten zugegen war, bevor er in den Hof des geheimen Kommerzienrats Pauli gerät. Dort greift er nicht etwa Paulis Hunde an, sondern vielmehr greifen sie ihn an; die Hunde geraten in einen Kampf, was offenbar zu der Vermutung führt, der Hund und alle von ihm gebissene seien toll gewesen. An der Geschwindigkeit der Tötung aller Hunde wird erkennbar, dass die kursierenden Schrecken der Tollwut eine äußerst zügige Deutung provozieren; schnelles Handeln wird einer sachgerechten, veterinärmedizinischen Anamnese vorgezogen, mit der bekannten Folge der Tötung und Observation aller beteiligten Hunde.53 Hiervon ausgehend berichtet der zweite Teil des Textes von einem Gerücht, das auf der Basis des Faktums entstanden sei und von einer Anreicherung und Fortschreibung kündet. Plötzlich erzählt man sich, Menschen seien gebissen worden; dabei handelt es sich um eine Fiktionalisierung, die der nunmehr wertende und deutende Erzähler markiert. Gleichzeitig votiert er dafür, die Behauptung der 51 Johannes Lehmann: „Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsgeschichte der ,Thatsache‘ und Kleists Berliner Abendblättern“, in: DVjs 89 (2015), S. 307–322, hier S. 319. Vgl. auch Johannes Lehmanns Beitrag in diesem Band. 52 Der Kommentar von Klaus Müller-Salget erkennt in Kleists Wiedergabe der Geschehnisse den „leisen Spott“ einer „offenbar überzogenen Reaktion“. Vgl. DKV III, S. 1206. 53 Lehmann unterscheidet zwei Modelle, einerseits „zeitaufwändige Prozeduren“ in längeren Texten, zum anderen die „Schnelligkeit, in der Deutungen an die Stelle von Überprüfungen rücken.“ Kleists Nachricht vom tollen Hund handelt vom zweiten Modell. Wie in anderen Fällen, etwa in der Anekdote aus dem letzten Preußischen Kriege, ist hier „für lange Untersuchungen […] keine Zeit.“ Lehmann: „Faktum, Anekdote, Gerücht“ (wie Anm. 51), S. 320.

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Tollwut der betroffenen Hunde als unwahrscheinlich zurückzuweisen. Damit spricht er sich gegen die Entscheidung der Staatsgewalt, die betroffenen Hunde zu töten, aus, schließt sich aber in der Sache auch der Meinung Gruners an, wie sie in seinem Bericht für das preußische Innenministerium zum Ausdruck kommt.54 Dass das Hundemorden nicht auf der Basis wahrscheinlicher Fakten vollzogen wurde, sondern aufgrund eines womöglich unbegründeten Verdachts, diese von Kleist offen zur Schau gestellte Möglichkeit mag Pauli zu einer Beschwerde bei Gruner veranlasst und zu dessen Verstimmung gegenüber den Berliner Abendblättern geführt haben. Wenn der Schilderung dagegen tatsächlich ein Fall von Tollwut zugrunde liegt, dann handelt der Text auch von der Bedrohung der menschlichen Kultur, der städtischen Einwohnerschaft durch den tollen, unartigen Hund, vom Schrecken seines Einzugs in menschliche Behausungen und von der drohenden Ansteckung von kulturell fest verankerten Kettenhunden, die im Dienst des Menschen stehen. Es scheint, als würde der Schrecken angesichts der tollen Hunde dadurch potenziert werden, dass bei der Polizei-Nachricht unklar ist, ob sie auf Faktizität oder Fiktionalität beruht. Die Berliner Leserschaft muss die Unsicherheit, ob es mit Kleists Text seine Richtigkeit hat oder nicht, aushalten. Gerade aus dieser Unsicherheit resultiert das poetologische Wirkungspotenzial des Textes. Durch das vom Text offen ausgestellte Spiel von Faktizität und Fiktionalität rücken sowohl der Erkenntnisprozess als auch die Poetologie des Textes in den Vordergrund.55 Es ist davon auszugehen, dass Kleists Umarbeitung in diesem Fall eine erhebliche Wirkung zumindest bei seinen Informanten nach sich gezogen hat; eine Wirkung, durch die er sich zu einem Dementi gezwungen sah: Druckfehler In dem gestrigen Abendblatte ist aus einem Versehen die Rubrik: Polizeiliche TagesMitteilungen über dem Artikel vom tollen Hunde in Charlottenburg gedruckt, anstatt nach

54 Gruner schreibt: „Mit Sicherheit ist nicht mehr auszumitteln, ob dieser Hund wirklich toll gewesen. Der Anschein ist dagegen, da er vorher in mehreren Häusern sich gezeigt hat und hinausgejagt ist, ohne sich böse zu zeigen. Er hat sich vorher mit mehreren Hunden gebissen, ohne daß Jemand auf den Gedanken gerathen wäre, daß er toll sei und selbst die Geheimräthin Pauli will in seinem äußeren Ansehen keine Spuren der Tollheit bemerkt haben.“ Polizei-Rapport zitiert nach Barnert, Reuß, Staengle: „Polizei – Theater – Zensur“ (wie Anm. 45), S. 122f. Vgl. Steig: Berliner Kämpfe (wie Anm. 20), S. 365ff. 55 Vgl. Marquardt: „Der mündige Zeitungsleser“ (wie Anm. 45), S. 70.

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diesem Artikel zu folgen; der Artikel ist keine Tages-Mitteilung und seine Fassung beruht bloß auf der Redaktion.56

Das Dementi behebt allerdings nicht die Unsicherheit, die gegenüber der Faktizität und Fiktionalität des Textes besteht, sondern es verstärkt diese noch. Wenn die Geschehnisse um den Hund tatsächlich bloß auf die Fassung der Redaktion zurückgehen, dann ist dies vor allem als Hinweis auf die redaktionellen Verfahren selbst zu verstehen, die durch die Zurücknahme der Tagesmitteilung noch stärker in den Fokus rücken. Die Frage nach den mit dem tollen Hund verbundenen redaktionellen und damit poetologischen Verfahren führt auch zurück zur oben ausgeführten Untersuchung der Anrede ‚du toller Hund‘ aus Die Familie Schroffenstein. Demnach eignen sich die tollen Hunde aufgrund des mit ihnen einhergehenden absoluten Schreckens der Infizierung, des Entsetzens, das sich durch sie verbreitet und des notwendigen Todesausgangs57 in besonderem Maße als tragischer Gegenstand, der allerdings im Fall des Endes von Kleists erstem Trauerspiel zwischen Tragik und Komik changiert. Dieses Dazwischen resultiert aus der Form der Anrede und deren Bezügen zu den Geschehnissen des Trauerspiels. Ein analoges Changieren lässt sich anhand des tollen Charlottenburger Hundes in den Berliner Abendblättern ausmachen, hier gibt es sich jedoch als eines zwischen Faktizität und Fiktionalität zu erkennen. An der Entscheidung, in welche Richtung der Text tendiert, hängt auch der potenziell tragische oder komische Gehalt der Nachricht.

L EBEN

UND

T OD (M UTTERLIEBE )

Nach dem vollständigen Dementi Kleists und dem vermeintlichen Eingeständnis der reinen Fiktionalität der Geschehnisse um den tollen Hund taucht ein solcher noch an zwei weiteren Stellen in den Berliner Abendblättern auf, in einer PolizeiMitteilung vom 5. November 181058 und in der Anekdote Mutterliebe. Zunächst zur ersten Stelle:

56 Heinrich von Kleist: „Druckfehler“, in: BA, Bl. 9; SW8 II, S. 429; BKA II/7, S. 50; DKV III, S. 623. 57 Vgl. nochmals Burghard: Hundswuth und Wasserscheu (wie Anm. 30), S. 10. 58 In der Auswahl von Sembdners Sämtlichen Werken sowie in der Klassiker-Ausgabe und der Münchner-Ausgabe ist diese „Polizeiliche Tagesmitteilung“ nicht aufgenommen worden.

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Am 1sten November Nachmittags wurde in Charlottenburg ein toller Hund erschossen. Er hatte bereits ein Kaninchen zerrissen und mehrere Personen, auch eine Katze, wüthend angefallen. Ein Dienstmädchen entging ihm nur durch Geschwindigkeit, jedoch befindet sich auf ihrer Hand ein kaum bemerkbarer Punkt, welcher möglicher Weise von einem Bisse herrühren kann, und deshalb chirurgisch untersucht wird.59

Auch diese Polizeinachricht, die bislang kaum das Interesse der Forschung geweckt hat, speist sich aus einem Polizei-Rapport, den Kleist umarbeitet. Allerdings vermeidet er hier durch das Unkenntlichmachen des Hundebesitzers eine erneute Beschwerde der Betroffenen: „Am 1sten November wurde in Charlottenburg der tolle Hund des Kuchenbäckers Zipfer erschossen.“60 Wichtiger noch als die Tilgung des Namens Zipfer ist die Streichung der angewiesenen medizinischen Untersuchung des Bisses. Im Rapport hieß es noch „so ist deshalb eine nähere ärztliche Besichtigung angeordnet worden.“61 Der abgedruckte Text lässt demnach unerwähnt, dass es sich bei der Untersuchung um eine Anordnung handelt, und umgeht damit den Verweis auf die Berliner Justiz. Auch enthält der Text keine Reflexionen über das Zusammenspiel von Faktizität und Fiktionalität im Hinblick auf die Tollheit der Hunde, diese wird durch den Hinweis auf das Erschießen des Hundes vorausgesetzt und durch die berichtete Zerreißung eines Kaninchens unterstrichen. Am Ende der Nachricht liegt der Fokus vielmehr darauf, ob es sich bei dem Punkt auf der Hand des Dienstmädchens um eine Bisswunde handelt und sie demnach infiziert worden ist. Hier wird also nicht eine schnelle Deutung vollzogen, sondern auf eine Untersuchung Bezug genommen, die noch in dem Moment andauert, da die Berliner Leserschaft die Ausgabe der Abendblätter in den Händen hält, in welcher der Text erscheint. Die dargestellte Wut des tollen Hundes, die zur Attacke mehrerer Personen und einer Katze geführt hat, steht in Kontrast zur minimalen Versehrtheit des Dienstmädchens, die aufgrund ihrer Schnelligkeit entkommen war. Der Text handelt insgesamt von drei Arten der Auseinandersetzung zwischen dem tollen Hund und seinen Kontrahenten, von denen sich die letzten beiden auch im Trauerspiel Penthesilea wiederfinden62: Erstens um eine Hinrichtung des tollen Hundes durch 59 Heinrich von Kleist: „Polizeiliche Tages-Mittheilungen“, in: BA, Bl. 31; BKA II/7, S. 161. 60 Polizei-Rapport zitiert nach Barnert, Reuß, Staengle: „Polizei – Theater – Zensur“ (wie Anm. 45), S. 122f. 61 Ebd., S. 123. 62 Die Hunde Penthesileas sind keine ,tollen Hunde‘ im Sinne der Charlottenburger Hunde; vielmehr handelt es sich bei ihnen um mythologische Jagdhunde, die gemäß ihrer Herrin Penthesilea als ,wild‘ bezeichnet werden können.

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eine von einem Menschen betätigte Waffe, zweitens um einen Kampf, der mit einer Zerreißung einhergeht, und drittens um die Verfolgung des Dienstmädchens, die möglicherweise eine minimale Bissspur an der Hand zur Folge hat. Während die ersten beiden Auseinandersetzungen als abgeschlossen gelten können, der Hund „wurde“ erschossen, er „hatte bereits“ angefallen und zerrissen, steht die Entscheidung darüber, ob es sich bei dem Punkt um die Spur eines Bisses handelt, noch aus. Mit der Entscheidung, ob das Indiz überhaupt eine Tatsache, eine Sache der Tat darstellt, steht und fällt auch die Qualität des Textes als Nachricht. Es steht dabei infrage, ob die dargestellten schrecklichen Handlungen als abgeschlossen gelten können. Über dieses Hineinragen des Textes in die Gegenwart des Berliner Zeitungslesers generiert er seine Spannung. Im Gegensatz zu der offenen Aushandlung der Frage nach der Faktizität des Symptoms stellt Kleists Text Mutterliebe die Notwendigkeit der Auseinandersetzung eines tollen Hundes mit mehreren Menschen in der Form der Anekdote in den Vordergrund: Zu St. Omer im nördlichen Frankreich ereignete sich im Jahr 1803 ein merkwürdiger Vorfall. Daselbst fiel ein großer toller Hund, der schon mehrere Menschen beschädigt hatte, über zwei, unter einer Haustür spielende, Kinder her. Eben zerreißt er das jüngste, das sich, unter seinen Klauen, im Blute wälzt; da erscheint, aus einer Nebenstraße, mit einem Eimer Wasser, den sie auf dem Kopf trägt, die Mutter. Diese, während der Hund die Kinder losläßt, und auf sie zuspringt, setzt den Eimer neben sich nieder; und außer Stand zu fliehen, entschlossen, das Untier mindestens mit sich zu verderben, umklammert sie, mit Gliedern, gestählt von Wut und Rache, den Hund: sie erdrosselt ihn, und fällt, von grimmigen Bissen zerfleischt, ohnmächtig neben ihm nieder. Die Frau begrub noch ihre Kinder und ward, in wenig Tagen, da sie an der Tollwut starb, selbst zu ihnen ins Grab gelegt.63

Der Text handelt von einem wenige Jahre zuvor im nödlichen Frankreich vorgefallenen und merkwürdigen Ereignis, das sich um ein Aufeinandertreffen eines tollen Hundes und einer Mutter mit ihren Kindern dreht.64 Die Bezeichnung der Ereignisse als ‚Vorfall‘ ist dabei insofern von Bedeutung, als der Terminus einerseits die Kontingenz innerhalb von Geschehnissen verbalisiert, er andererseits aber auch die kontingenten Vorfälle in eine Reihe gleicher oder zumindest ähnlicher Fälle setzt.65 Es geht bei den für Kleist typischen Vorfällen immer auch um 63 Heinrich von Kleist: „Mutterliebe“, in: BA, Nr. 7; SW8 II, S. 277, BKA II/8, S. 39, DKV III, S. 375. 64 Zu den literarischen Quellen von Kleists Anekdote vgl. Sembdner (wie Anm. 21), S. 72f. 65 Vgl. dazu etwa Michael Gamper: „Elektrische Blitze. Naturwissenschaft und unsicheres Wissen bei Kleist“, in: KJb 2007, S. 254–272.

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Kontinuitäten innerhalb des Kontingenten, um die Gewöhnlichkeit des Außergewöhnlichen.66 Bei Kleist ist der Vorfall zweifelsohne ein poetologisches Prinzip, das er in verschiedenen Gattungen wie der Novelle oder der Tragödie produktiv macht und das auch für die Gattung der Anekdote zentral ist,67 insofern, als es in ihr um das Verhältnis zwischen dargestelltem Fall und seiner Verallgemeinerung geht. Das Aufeinandertreffen von tollen Figuren stellt einen besonderen Vorfall dar. Die Konfrontation mit einer tollen Figur führt – so scheint es – zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung auf dem Scheitelpunkt von Leben und Tod. Dies mag eine der Ursachen sein, weshalb die Krankheit im Geflecht des Tollwutdiskurses mit einem hyperbolischen Schrecken assoziiert wird.68 Die Initiation einer Interaktion selbst ist an die Selbsteinschätzung, an das Geschick, den Mut oder die Vorsicht des Menschen gebunden. So heißt es bei Brauer, man solle im Aufeinandertreffen mit tollen Hunden „den Kopf nicht […] verlieren“69, und weiter: Wenn man daher einem Hunde auf der Straße begegnet, den man fuer toll erkennt, […] so muß man ihm sogleich ausweichen und alle Umstehende aufmerksam machen und warnen, sich dem gefaehrlichen Thier nicht zu nähern. Wenn man selbst nicht vermoegend ist, das gefährliche Thier zu tödten, und wer dazu nicht Muth und Geschicklichkeit genug besitzt, der unterlasse es lieber […].70

Wichtig ist es in einem solchen Fall, jemanden zu finden, „der es [das ‚Thier‘] durch einen Schuß oder auf andere Art“ umzubringen weiß und die Vorgänge der „Obrigkeit“ anzeigt.71 Wird der Konflikt zwischen Menschen und tollen Hunden ausgetragen, setzt sich notwendigerweise eine Handlung in Gang, an deren Ausgang der Tod der einen und das Leben der anderen Kontrahenten steht.

66 Die Liste der von Kleist erwähnten Vorfälle ist lang, exemplarisch ist hierfür der für die Berliner Abendblätter wohl paradigmatische Charité-Vorfall. Vgl. Heinrich von Kleist: „Charité-Vorfall“, in: DKV III, S. 359. Vgl. dazu Birgit R. Erdle: Literarische Epistemologie der Zeit. Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka, Paderborn 2015, S. 151– 196. 67 Walter Hinderer: Vom Gesetz des Widerspruchs. Über Heinrich von Kleist, Würzburg 2011, S. 180; Ders.: „Prinz Friedrich von Homburg. ‚Zweideutige Vorfälle‘“, in: Kleists Dramen, hg. v. dems., Stuttgart 1997, S. 144–185. 68 Zum ‚absolut Bösen‘ vgl. Lázló F. Földényis Beitrag im vorliegenden Band. 69 Brauer: Der tolle Hund (wie Anm. 26), S. 17. 70 Ebd. 71 Ebd.

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Die Darstellung von Handlungen, in welcher Gattung auch immer, die ein Aufeinandertreffen von tollen Hunden und Menschen thematisiert, hat qua Symptomatik der Tollwut einen dramatischen Kern, insofern, als der Tod als notwendige Folge des Konflikts erscheint. Im Text Mutterliebe wird dieser Zusammenhang in der und für die Gattung der Anekdote zum Einsatz gebracht. Nach den ersten beiden Sätzen wechselt der Text in das historische Präsens und vergegenwärtigt damit die vorgefallenen Geschehnisse. Während der tolle Hund zwei Kinder zerreißt, betritt die Mutter den Schauplatz. Die Mutter demonstriert, indem sie noch den Eimer neben sich niedersetzt, die von Brauer geforderte Bedachtsamkeit, das Abwägen über den Mut und das Vermögen, den tollen Hund zu töten. Dass sie den tollen Hund erwürgt, mag jedoch für ihre eigene metaphorische Tollheit sprechen, ihre „Wut und Rache“72, die durch die Tötung ihrer Kinder initiiert worden sind. Ihre Raserei führt daraufhin zur Ansteckung und zum tödlichen Ausgang der Anekdote. Dass der Hund in Mutterliebe an Tollwut erkrankt ist, zeigt nicht nur die Zerfleischung der Kinder, sondern auch die Infektion und der Tod der Mutter nach ihrem Kampf mit demselben. Die ‚Unart‘ des tollen Hundes, der sich qua Verhalten gegen den Menschen und seine Unterwerfung und Einsortierung in eine kulturelle Klassifikationen richtet, wird durch die Bezeichnung „Untier“73 markiert; eine Bezeichnung, die den mit ihm verbundenen unsagbaren Schrecken kategorisieren soll. Dass es sich um ein Verhalten „gegen sich selbst und andere“74 handelt, steht außer Frage. Die Opposition der tollen Hunde gegen den Menschen (in diesem Fall: gegen die Familie) greift im Fall von Mutterliebe aber noch auf einer höheren Ebene. In der ausgemalten Szene stehen sie – wie der Charlottenburger Hund75 – an der Schwelle einer menschlichen Behausung („unter einer Haustür“76). Dies spricht für die Entgegensetzung von menschlicher Kultur und tollgewordener Natur. Erst das proleptische Tollwerden der Mutter – ihr Erwürgen des tollen Hundes vor ihrer Ansteckung – führt zu einer Restituierung der kulturellen Ordnung, zum ‚ehrlichen‘ Begräbnis der Beteiligten.

72 Zur Wut vgl. grundlegend Johannes Lehmann: Im Abgrund der Wut. Zur Literatur- und Kulturgeschichte des Zorns, Freiburg i. Br. 2012. Lehmann behandelt an einer Stelle auch die Tollwut, nicht aber in Bezug auf die von mir diskutierten Texte. Vgl. ebd., S. 297ff. 73 Kleist: „Mutterliebe“ (wie Anm. 63). 74 Campe: „Toll“ (wie Anm. 16), S. 844. 75 Kleist: ‚Toller Hund‘ (wie Anm. 49). 76 Kleist: „Mutterliebe“ (wie Anm. 63).

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F AZIT Setzt man Kleists Texte, in denen tolle Hunde im eigentlichen und uneigentlichen Sinne eine Rolle spielen, in eine Reihe, so resultiert daraus der Befund, dass sie in den entsprechenden Fällen (in Die Familie Schroffenstein, in den Polizeilichen Tages-Mitteilungen und in Mutterliebe) jeweils an zentrale Aspekte der jeweiligen literarischen Gattung rühren. Dass mit ihnen poetologische Verfahren korrespondieren, macht sie zudem im Hinblick auf den Tollwutdiskurs um 1800 bedeutsam. Wie eingangs beschrieben, fallen tolle Hunde aus der kulturellen Klassifikation der Hunde, in welcher der Nutzen maßgeblich ist, heraus. Tolle Hunde sind nutzlos für den Menschen, mehr noch, ihre Handlungen sind anderen und sich selbst gegenüber als feindlich zu bezeichnen, sie bedrohen also sich selbst und den Menschen, und zwar als Lebewesen und in seinem kulturellen Selbstverständnis. Hinzu kommt, dass sie eine Auseinandersetzung auf dem Scheitelpunkt von Leben und Tod provozieren. Ein Aufeinandertreffen mit ihnen kennt nur den Ausgang des Überlebens oder des notwendigen Sterbens. Tolle Hunde stellen eine Unart dar, die in den literarischen Texten Kleists mit einer Reflexion über die Gattung verknüpft ist. In Die Familie Schroffenstein bezeichnet Johann Rupert als tollen Hund und bringt dabei seine metaphorische Selbstbeschreibung auf den Punkt. Die Anrede ‚du toller Hund‘ thematisiert das für das Ende des Trauerspiels paradigmatische Changieren zwischen tragischen und komischen Elementen, zwischen Anagnorisis und Peripetie – ein Changieren, das nicht nur den Tod von Agnes und Ottokar und eine erschwerte Identifizierung der Leichen zur Folge hat, sondern das auch zur Versöhnung der beiden verfeindeten Familien führt. Auch im Fall des tollen Hundes aus den Berliner Abendblättern wird ein Wechselspiel vollzogen, das für die Gattung der Nachricht oder Mitteilung von großer Bedeutung ist. Kleists Text stellt die Faktizität und Fiktionalität der sich um den tollen Hund drehenden Ereignisse aus und hinterfragt damit auch das Vorgehen von politischen Autoritäten. Mit seinem Dementi treibt er dieses Spiel auf die Spitze. In der Anekdote Mutterliebe konzentriert sich Kleist auf die Anekdote als Darstellung eines Vorfalls und damit auf das Verhältnis von Einzigartigkeit und Verallgemeinerbarkeit der Ereignisse. Die tollen Hunde bilden in ihrer Besonderheit eine Reihe in Kleists Werk. Sie sind mit poetologischen Aspekten verbunden, die für die Gattungen Trauerspiel, Nachricht und Anekdote zentral sind. Tolle Hunde sind tragisch-komische, fiktivfaktische und singulär-gewöhnliche, ja unartige Gestalten. Sie fordern nicht nur die Menschen, auf die sie treffen, heraus, sondern auch die Gattungen, in denen sie auftreten.

Dressieren, Führen, Erziehen Zur Kritik von Gewaltverhältnissen in zwei Fabeln von Kleist J ONAS T EUPERT

Die Mühe mit seinem Schüler auf die Jagd zu gehen, kann sich der Lehrer ersparen, wenn er in die alten Fabeln selbst eine Art von Jagd zu legen weiß […]. GOTTHOLD EPHRAIM LESSING1

Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Fabeln. Ausgerechnet diese in der antiken Rhetorik als Überzeugungsmittel genutzte Gattung verspricht den aufklärerischen Anspruch zu erfüllen, die Unmündigen zur Nutzung ihres eigenen Verstandes zu bewegen,2 zumindest wenn man darunter verstehen möchte, durch Gebrauch des eigenen Reflexionsvermögens und angeregt durch Anschauung zu einem moralischen Urteil zu kommen.3 So räumt Jean-Jacques Rousseau ins1

Gotthold Ephraim Lessing: „Abhandlungen über die Fabel“, in: Ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, hg. v. Jörg Schönert, Darmstadt 1996, S. 352–418, hier S. 418.

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In der einschlägigen Stelle bei Immanuel Kant heißt es: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Ders.: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 62005, S. 53–61, hier S. 53. Es bleibt jedoch vorerst offen, ob Fabeln in Kants Sinne zum Gebrauch des Verstandes anregen, ohne selbst diesen Gebrauch auf mechanische Art und Weise zu leiten.

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So heißt es in Lessings Abhandlung über die Fabel: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den

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besondere solchen Fabeln einen Platz in seinem Erziehungsgebäude ein, die den Geist des Zöglings aus der Passivität heraus und in die Selbsttätigkeit führen. „Er muss sich sagen können: Ich begreife, ich verstehe, ich handle, ich unterrichte mich.“4 Dieser Vorgang steht bei Rousseau im Kontext der Herausbildung moralischer Begriffe.5 Die Fabel ohne Moral, die Heinrich von Kleist im dritten Stück des Phöbus vom März 1808 zusammen mit der Fabel Die Hunde und der Vogel publiziert, trifft vor diesem Hintergrund auf wenig Verständnis bei den Kritikern. Karl August Böttiger dichtet den Titel Fabel ohne Moral entsprechend weiter, indem er behauptet, „man könnte ebensogut auch hinzusetzen: ohne wahren Sinn.“6 Die Kleist-Forschung hat sich diesem Urteil stillschweigend angeschlossen, gibt es doch bis heute keine zusammenhängende Interpretation der beiden Fabeln. Aus einer gattungstheoretischen Perspektive stellt der Verzicht auf eine eindeutige Moral allerdings eine bedenkenswerte Transformation der aufklärerischen Fabel insbesondere Lessings dar. Während der Titel Die Fabel ohne Moral die Gattungsbezeichnung explizit aufruft, subtrahiert er doch zugleich deren wichtigstes Erkennungsmerkmal und wirft so die Frage nach dem Stellenwert der Moral in der Fabel und deren möglicher Kritik auf. Was kann eine Fabel leisten, wenn sie keine eindeutige Moral transportiert? Welche Lektüreverfahren werden dabei angeregt und wie unterscheiden sich diese von den Verfahren solcher Aufklärer wie Lessing? Fabeltheorie wird dabei in der Fabel selbst betrieben, anstatt wie noch bei Lessing Gegenstand einer separaten Abhandlung zu sein. Diese implizite Fabeltheorie soll in einer diskursanalytischen Lektüre der beiden Fabeln und in Hinblick auf das historische Tierwissen um 1800 ausgefaltet werden. Kleists Fabeln partizipieren an den Diskursen der Dressur von Hühnerhunden und der Jagd, im Folgenden exemplarisch dargestellt an den Schriften Carl Schneiders, sowie am Diskurs um die Domestizierung und Führung von Pferden, welcher um 1800 besonders von einer Wiederentdeckung von Xenophons Buch über die allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ Lessing: „Fabel“ (wie Anm. 1), S. 385. 4

Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, übers. v. Ludwig Schmidts, Paderborn 131998, S. 255.

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Moralbegriffe wie Gerechtigkeit und Güte sind für Rousseau „wirkliche, durch die Vernunft erhellte Seelenregungen, die nichts anderes sind als ein geordneter Fortschritt unserer primitiven Neigungen.“ Ebd. S. 239. Der Zögling bedarf dieser beim Eintritt in die gesellschaftliche Ordnung: „Er soll wissen, daß der Mensch von Natur aus gut ist, daß er aber sieht, wie die Gesellschaft den Menschen verdirbt und widernatürlich macht […].“ Ebd. S. 242.

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LS, Nr. 254.

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Reitkunst geprägt ist. Zudem verschalten die beiden Fabeln die Programmatik von Dressieren und Führen metaphorisch und metonymisch mit dem Diskurs der Erziehung. Der Frage nach der Möglichkeit der Erziehung des Menschen zur Mündigkeit sowie zur moralischen Handlungsfähigkeit kommt im Rahmen des Projekts der Aufklärung ein zentraler Stellenwert zu. Gerade an Kants Schrift Über Pädagogik zeigt sich jedoch, wie ein solches Erziehungsprogramm entgegen Rousseaus Idealvorstellung im Emil in Macht- und Gewaltverhältnisse verstrickt ist. Vor diesem Hintergrund führt die Lektüre der Kleist’schen Fabeln zur kritischen Einsicht, dass Dressur, Führung und Erziehung um 1800 in ähnlicher Weise disziplinierend wirken und so Tiere und Kinder gleichermaßen betreffen. Die Fabel als Instrument der moralischen Erziehung wird dabei selbst der Kritik unterzogen – einer Metakritik zumal, die in ihrer Selbstreflexivität gerade durch die grundlegende Transformation der Gattung ermöglicht wird.

L ESARTEN : V ERABSCHIEDUNG UND G EWALT DER D RESSUR

DER

M ORAL

Die Hunde und der Vogel Zwei ehrliche Hühnerhunde, die, in der Schule des Hungers zu Schlauköpfen gemacht, Alles griffen, was sich auf der Erde blicken ließ, stießen auf einen Vogel. Der Vogel, verlegen, weil er sich nicht in seinem Element befand, wich hüpfend bald hier, bald dorthin aus, und seine Gegner triumphierten schon; doch bald darauf, zu hitzig gedrängt, regte er die Flügel und schwang sich in die Luft: da standen sie, wie Austern, die Helden der Triften, und klemmten den Schwanz ein, und gafften ihm nach. –––––– Witz, wenn du dich in die Luft erhebst; wie stehen die Weisen und blicken dir nach!7

Auf den ersten Blick entspricht Die Hunde und der Vogel dem aufklärerischen Fabelverständnis, insofern der Text eine Moral zu transportieren scheint, die in

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Heinrich von Kleist: „Die Hunde und der Vogel“, in: DKV III, S. 353.

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einem fabula docet8 an den diegetischen Teil9 der Fabel angehängt ist. Für Böttiger scheidet der Querstrich die Handlung der Fabel zwar klar von ihrer Selbstdeutung,10 wobei im Ausgang von dieser Deutung die Handlung rückwirkend im Modus der Uneigentlichkeit lesbar wird.11 Eine solche Lesart setzt allerdings voraus, dass es sich bei dem Satz nach dem Trennstrich überhaupt um eine Moral handelt. Liest man den Fabeltext jedoch genauer, stellt sich heraus, dass sich die geschilderte Begegnung zwischen Hunden und Vogel nicht reibungslos auf die Bedeutungsebene vom Witz und den Weisen übertragen lässt. Vielmehr ruft der Text das Gattungsmerkmal „Moral“ im fabula docet zwar explizit auf, jedoch nur, um es in einer performativen Geste aus der Fabel zu verabschieden. Um dies zu zeigen, soll zuerst eine Lektüre der Fabel unternommen werden, die von der Annahme geleitet ist, dass der letzte Satz tatsächlich den Sinn der Fabel explizieren werde. Das Scheitern dieser Lektüre wird anschließend als implizite Problematisierung der Fabeltheorie Lessings ausgelegt. Bei der erstmaligen Lektüre mag sich das Fabelgeschehen in der Einbildung der Leser_innen noch als eine Begegnung zwischen diegetischen – also in der erzählten Welt wirklich existierenden – Tieren abzeichnen. Sobald jedoch der Strich bei der Lektüre überschritten wird, regt das fabula docet dazu an, den Fabeltext gleich noch einmal zu lesen und die Tiere dabei jeweils mit deren Bedeutungskorrelaten zu vertauschen. Die beiden Hunde verkörpern demnach die Weisen, oder 8

„Fabula docet“, auch „Epimythion“ genannt, meint die eine Fabel abschließende explizite Formulierung der Moral. Dazu bemerkt Grubmüller: „Je situationsenthobener erzählt wird und je konkreter ein gemeinter Sinn bestimmt sein soll, umso mehr ist die Fabel-Erzählung auf ihre explizite Selbstdeutung angewiesen.“ Klaus Grubmüller: Art. „Fabel“ in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin 2007, S. 555–558, hier S. 556.

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Roland Borgards kondensiert den Begriff der Diegese bei Gérard Genette folgendermaßen: „Diegese ist hier der Begriff für die Welt, von der erzählt wird.“ Roland Borgards: „Tiere in der Literatur – Eine methodische Standortbestimmung“, in: Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, hg. v. Herwig Grimm und Carola Otterstedt, Göttingen 2012, S. 87–118, hier S. 91. In diesem Sinne spricht Borgards von diegetischen Tieren, die „nicht bloße Zeichen [sind], sondern […] in literarischen Texten als Lebewesen [erscheinen].“ Ebd. S. 90. Im fabula docet werden die diegetischen Tiere durch deren moralische Bedeutungskorrelate ersetzt.

10 Vgl. LS, S. 254. 11 Zum Modus der Uneigentlichkeit sowie zu dessen Signalen und Direktiven vgl. Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zur Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn, München u.a. 1991.

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anders gesagt: Sie stehen als semiotische Tiere für einen bestimmten Typus Mensch.12 Es sind also im eigentlichen Sinne die Weisen, denen das Attribut der Schlauheit zugeschrieben wird, welches nach Adelung die praktische Fertigkeit bezeichnet, „verborgene Mittel schnell zu seinen Absichten zu gebrauchen“13. Diese Fertigkeit reicht allerdings nicht aus, um den diegetischen Vogel zu stellen, welcher davonfliegt und damit seine Überlegenheit beweist. Im übertragenen Sinne, so scheint uns die Fabel belehren zu wollen, kann es der Weise trotz seiner Schlauheit nicht mit dem Gewitzten aufnehmen, dessen intellektuellem Höhenflug er nur noch nachgaffen kann. Witz bezeichnet im 18. Jahrhundert ein besonderes Vermögen des Dichters: den Scharfsinn.14 Gottsched schreibt in der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst: „Dieser Witz ist eine Gemüthskraft, welche die Ähnlichkeit der Dinge leicht wahrnehmen, und also eine Vergleichung zwischen ihnen anstellen kann.“15 Die Kraft des Witzes wird nach Gottsched gerade dann beansprucht, wenn sich der Poet „in der glücklichen Erfindung verblümter Redensarten“ versucht, das heißt, wenn er uneigentliche Rede produziert: „Denn ist [der Witz] eine Kraft der Seelen, das Ähnliche leicht wahrzunehmen: so merket man, daß in jedem uneigentlich verstandenen Worte ein Gleichniß stecket, oder sonst eine Ähnlichkeit vorhanden ist, weswegen man eins für das andere setzt.“16 In diesem Sinne ist der Witz das Vermögen, dessen sich auch der Fabeldichter bedient, wenn er es unternimmt, eine allgemeine Moral mit einem konkreten Geschehen dadurch zu vermitteln, dass beide durch Ähnlichkeit aufeinander bezogen werden. Wenn der Vogel der Kleist’schen Fabel als verlegen beschrieben wird, „weil er sich nicht in seinem Element be[findet]“, steht dies in der übertragenen Lesart dafür, dass sich das Vermögen des Witzes noch nicht im Element des Sinnhaften bewegt. Die hüpfende Bewegung „bald hier, bald dorthin“ steht für ein Suchen des Witzes nach einer möglichen Richtung der Übertragung des Geschehens in 12 Roland Borgards reserviert den Begriff der semiotischen Tiere für solche „die in Texten ausschließlich als Zeichen, als Träger von Bedeutungen erscheinen.“ Borgards: „Tiere in der Literatur“ (wie Anm. 9), S. 89. Liest man die Fabel in Hinblick auf die Moral, so treten die Tiere zwar nicht ausschließlich aber doch in erster Linie als Stellvertreter für menschliche Eigenschaften auf. 13 Art. „Schlau“, in: GWH, Bd. 3, Sp. 1507. 14 Zum Begriff des Witzes in den Poetiken des 18. Jahrhunderts und bei Heinrich von Kleist vgl. Michael Moering: Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists, München 1972. 15 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, unveränderter reprografischer Nachdruck der 4., vermehrten Auflage, Darmstadt 1977, II, 11, S. 102. 16 Ebd., VIII, 6, S. 262.

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einen moralischen Satz. Schließlich ist der Witz erfolgreich und hebt ab, was mit dem Übergang von der Diegese zum fabula docet korreliert. Bei der erstmaligen Lektüre wurde an dieser Stelle jener Lektüremodus aktiviert, bei dem versucht wird, hinter dem Uneigentlichen das eigentlich Gemeinte zu entdecken. Insofern bringt die Fabel mit dem Abflug des Vogels gleichzeitig die Prozesse der Produktion eines moralischen Satzes als auch der Explikation des Fabeltextes in Bezug auf diesen Satz zur Darstellung. Sowohl beim Dichten als auch bei der Lektüre von Fabeln muss dieser Abflug von der einen Ebene hin zur anderen vollzogen werden. Dabei führt die Fabel in erster Linie jene Aktivität des Witzes vor, die im Suchen und Finden von Ähnlichkeiten zwischen den Sphären der Natur und der Moral besteht. Gerade diese Fähigkeit ist es, die die Gewitzten vor denen auszeichnet, die auf dem Boden der Tatsachen zurückbleiben. Der Vorgang der Moralisierung wird dabei als ein sich Erheben dargestellt, wodurch eine klare Hierarchie zwischen der Ebene des naturhaften Geschehens unter Tieren bzw. des basalen Überlebenskampfes und der sublimen Ebene der Moral gesetzt wird. Der Witz als Garant der Moral fliegt jedoch davon und wird so gleichsam performativ aus der Fabel verabschiedet. Schließlich liefert die Selbstdeutung der Fabel keine allgemeine lebenspraktische Moral, die vielleicht sogar das Problem des Hungers lösen könnte, sondern führt lediglich vor Augen, wie sich der Witz erhebt und aus der Lebenswelt der Ungewitzten entfernt. Indem der Erzähler erst den Abflug des Vogels schildert, abschließend unseren Blick jedoch auf die Zurückbleibenden lenkt, lädt er uns dazu ein, nicht der Moralisierung durch den Witz zu folgen, sondern bei einer erneuten Lektüre auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens zu verweilen und dieses genauer zu betrachten. Anders formuliert sind mehrere Lesarten in der Fabel angelegt. Indem der Text als Fabel markiert ist, ruft er die moralisierende Lesart auf, die konsequent zu Ende gedacht jedoch in eine wörtliche Lektüre mündet. Diese liegt auch deshalb nahe, da der Text keine Signale der Uneigentlichkeit aussendet. Die Tiere sprechen nicht, das Geschehen bleibt stets im Bereich des uneingeschränkt Möglichen und kann ohne Weiteres als eine tatsächliche Begegnung unter Tieren gelesen werden, die von einem Beobachter nacherzählt wird. Dabei ergibt sich ein neuer Gebrauch der Tiere in der Fabel, der sich insbesondere von Lessings Überlegungen in dessen Abhandlung zur Fabel abgrenzen lässt.17 Tiere zeichnen sich für Lessing durch „die allgemein bekannte Bestandheit

17 Zu Lessing vgl. Dietmar Schmidt: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, München 2011, S. 202, sowie Dietmar Schmidt: „‚Was aber will er mit seiner Allegorie‘. Merkwürdigkeiten von Lessing über das

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der Charaktere“18 aus. Zwar könnte der Fabeldichter auch auf das Reservoir der Geschichtsschreibung zurückgreifen, wenn er nach exemplarischen Charakteren sucht, mit denen er eine allgemeine Moral transportieren möchte. Würden aber, so fragt Lessing, durch das historische Personal bei jedem, „auch bei den Unwissendsten“,19 die gleichen Ideen und Bilder hervorgerufen werden? Um als Mittel zur moralischen Volkserziehung eingesetzt werden zu können, muss die Fabel allgemein verständlich sein. Die Tiere fungieren dabei als konventionelle Bedeutungsträger. Sie zirkulieren in der Fabelliteratur als „allgemein bekannte[] und unveränderliche[] Charaktere“,20 die in den Worten Christian Wolffs „in der breiten Masse alle kennen“.21 Dabei spielt es für Lessing keine Rolle, ob die den Tieren zugeschriebenen Eigenschaften tatsächlich nachweisbar sind: „Als ob man in den Fabelbüchern die Naturgeschichte studieren sollte! Wenn dergleichen Eigenschaften allgemein bekannt sind, so sind sie wert gebraucht zu werden, der Naturalist mag sie bekräftigen oder nicht.“22 Indem Die Hunde und der Vogel nun die Vermittlung einer Moral als zentrales Moment der Fabel verabschiedet, löst der Text die Fabeltiere von deren Funktion, diese Moral allgemeinverständlich aufzubereiten. Es geht bei der Lektüre deshalb nicht mehr darum, die moralische Bedeutung der Tiere mithilfe eines unveränderlichen Wissens um deren Charaktere zu erschließen. Wenn man die Fabel vielmehr als Schilderung einer beobachteten Begegnung zwischen Tieren liest, dann stellt sich vielmehr die Frage, wie das Verhalten der Tiere in Hinblick auf das zeitgenössische Tierwissen zu beurteilen ist. „Hühnerhund“ bezeichnet ein dressiertes Tier, das bei der Jagd eingesetzt wird. Der Hühnerhund dient dazu, Geflügel und Hasen durch seinen ausgeprägten Geruchssinn aufzuspüren und diese dem Jäger anzuzeigen. Dabei muss er regungslos auf seinem Platz verharren und darf die Beute des Jägers nicht anfallen oder gar fressen. Wie die Dressur dieses Tiers zu bewerkstelligen sei, erklärt die Gründlich-zweckmäßige Anleitung zur Erziehung eines jungen Hühnerhundes von Carl Schneider aus dem Jahr 1795. Um die Hitzigkeit des jungen Hundes abzukühlen, sollen strenge Methoden angewendet werden. Der junge Hund, der zum Unwesen der Fabel“, in: Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugier, hg. v. Christoph Hoffmann und Caroline Welsh, Berlin 2006, S. 229–244. 18 Lessing: „Fabel“ (wie Anm. 1), S. 389. 19 Ebd., S. 390. 20 Ebd., S. 392. 21 Christian Wolff: „Philosophia practica universalis II 2, § 302-316 (1738) (Auszug)“, übers. von Hermann Kleber und Josef M. Werle, in: Texte zur Theorie der Fabel, hg. v. Erwin Leibfried und Josef M. Werle, Stuttgart 1978, S. 34–42, hier S. 42. 22 Lessing: „Fabel“ (wie Anm. 1), S. 392.

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Hühnerhund erzogen werden soll, darf nicht frei herumlaufen. Er wird eingesperrt und schließlich mit der sogenannten „Koralle“ gezüchtigt23 – einem Halsband, welches mit Stacheln versehen „dem Hunde einen [...] empfindliche[]n Schmerz am Halse verursachen kann“.24 Die „Schule des Hungers“, von der in der Fabel die Rede ist, kann also in zweierlei Hinsicht aufgefasst werden. Sie verweist auf die gewaltvollen Methoden der Dressur und zugleich auf das Ziel der Abrichtung. Schließlich lernen die Hunde, dass sie auf dem Felde hungern und auf die erlegte Beute verzichten müssen. Vor dem Hintergrund der Dressur-Anleitung wird ersichtlich, dass sich Kleists Hühnerhunde höchst eigensinnig verhalten. Nicht nur drängen sie forsch auf die Beute ein, während von ihnen doch Beherrschung gefordert ist. Sie greifen sich in ihrer Hitzigkeit alles, „was sich auf der Erde blicken [lässt]“. In ihrer Wahllosigkeit stürzen sie sich dabei auf ein Tier, welches ihnen eigentlich verboten ist. So gibt Carl Schneider an, dass man die jungen Hunde „mit Worten beschämen“ muss, wenn sie „Lerchen oder andere[] Vögel[]“25 jagen, anstatt Hasen und Geflügel nachzustellen. Es stellt sich allerdings die Frage, wieso der Erzähler in der Fabel dann von zwei „ehrlichen“ Hühnerhunden spricht. Adelung gibt für das Wort „ehrlich“ folgende Definition: „den Pflichten der bürgerlichen Gesellschaft gemäß [...]. Besonders so fern die Haltung der Treue [...] eine dieser Pflichten ist.“26 Auch Carl Schneider schreibt dem Hühnerhund eine ‚ehrliche‘ und ‚treue‘ Gemütsart zu. In seinem Lobgedicht „An meinen Hühnerhund“ aus dem Jahr 1795 spricht er das Tier als den „Gefährte[n] meiner Streitereien/ nimmer müder, folgsamer Turin“27 an. Anschließend wird dieser als ein Hund portraitiert, der, stets geduldig, auch die Schläge seines Herrn demütig entgegennimmt, „und kaum ist’s vorbei,“ springe er „voll Freude/ an [ihm] auf“.28 Er folgt seinem Herrn gänzlich domestiziert „im Feld’, im Wald’, und auch zu Haus.“29 Schließlich wird dem Hund sogar 23 Vgl. Carl Schneider: Gründlich-zweckmäßige Anleitung zur Erziehung eines jungen Hühnerhundes mit der Anweisung solchen par force zu dressieren. Nebst einem Anhange vom Lerchen- und Becassinenfange, einer kurzen Beschreibung der dazu gehörigen Netze und deren Stickerei, Braunschweig 1795, S. 3–23. 24 Georg Ludwig Hartig: Lexikon für Jäger und Jagdfreunde oder waidmännisches Conversations-Lexikon, zweite vielfach vermehrte und verbesserte Auflage, hg. v. Theodor Hartig, Berlin 21861, S. 122. 25 Schneider: Anleitung zur Erziehung eines jungen Hühnerhundes (wie Anm. 23), S. 34. 26 Art. „Ehrlich“, in: GHW, Bd. 1, Sp. 1658. 27 Carl Schneider: Poetische Versuche, Prag 1817, S. 129. 28 Ebd., S. 134. 29 Ebd., S. 133.

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eine gemeinschaftsstiftende Geste angetragen: „Entweiche/ nimmermehr von meiner Seit’ und reiche/ mir die Pfote noch zu guter lezt.“30 Man darf bei diesem Lobgesang, der ein harmonisches Zusammenleben von Jäger und Hund suggeriert, nicht vergessen, dass es sich bei der Ehrlichkeit des Tiers um eine Zuschreibung handelt, die die Gewaltanwendung, mit der das ehrliche Verhalten des Tiers konditioniert wurde, nur verschleiert. Während die Dressuranleitung primär von jener Gewaltanwendung auf den Körper des Tieres handelt, verweist das Gedicht zudem auf ein wesentlich subtiler wirkendes Machtverhältnis. Das Tier wird im Jagddiskurs subjektiviert und befindet sich somit in einer Machtbeziehung, die sich nach Michel Foucault „durch eine Form von Handeln [definiert], die nicht direkt und mittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt.“31 Der Hühnerhund wird somit nicht lediglich als Körper betrachtet, auf den Gewalt ausgeübt wird. Er wird in einer Machtbeziehung subjektiviert, in der es darum geht, sein zukünftiges Handeln zu bestimmen und zu regulieren. Indem dem Hühnerhund bei Schneider eine eigene Subjektivität zugeschrieben wird, erscheint er zumindest für den Jäger auch als Subjekt im Foucault’schen Sinne: „Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht […].“32 Diese Konzeption impliziert jedoch, dass in der Subjektivität zugleich eine Widerständigkeit gegen jene Herrschaft angelegt ist, die stetig gegen die Machtausübung wirkt. Die Hunde in Kleists Fabel erscheinen zugleich als abhängige Subjekte der Dressur und als handelnde Subjekte mit einem eigenen Willen. In der Fabel wird ihnen nicht nur Ehrlichkeit, also ihre Treue zum Herren, sondern zugleich auch Schlauheit zugeschrieben, die Fähigkeit, Mittel zur Verfolgung eigener Absichten zu gebrauchen. Diese soll der Hund ausgerechnet in der Schule des Hungers, also der Schule der Dressur gelernt haben. Legt der Erzähler nahe, dass gerade der Versuch, die Tiere abzurichten, zu deren eigensinnigem Verhalten geführt hat? Oder nutzen die Hunde vielleicht gar die in der Dressur gelernten Fähigkeiten, um nun alles als Beute zu greifen, was sich auf der Erde blicken lässt? Der weitere Verlauf der Fabel zeigt schließlich, dass die Hühnerhunde als domestizierte Wesen trotz dieser Fähigkeiten vom Menschen abhängig bleiben. Sie freuen sich zu früh und der Vogel entkommt, da eben kein Jäger bereitsteht, um den Entfliehenden mit der Flinte zu erlegen. Dies wird vom Erzähler entsprechend hämisch kommentiert. Ironisch nennt er sie die „Helden der Triften“, also der

30 Ebd., S. 135. 31 Michel Foucault: „Subjekt und Macht“, übers. v. Michael Bischof, in: Ders.: Analytik der Macht, hg. v. Daniel Defert, Frankfurt a. M. 2005, S. 240–263, hier S. 255. 32 Ebd., S. 245.

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Wege, die für das Vieh angelegt werden, wo sie doch „dumm wie Austern“33 sind. Die Auster wird hier als ein semiotisches Tier eingesetzt, welches jedoch nicht zur Beschreibung menschlicher Akteure, sondern zur Charakterisierung diegetischer Tiere anhand von menschlichen Eigenschaften dient. Die semiotische Operation, die hier vorgenommen wird, ist dreigliedrig und muss entsprechend ergänzt werden: Die Hunde sind wie Austern in ihrer menschenähnlichen Dummheit. Die Logik der Zuschreibungen, die bei Mensch-Tier-Vergleichen zum Tragen kommt, wird in dieser Verschachtelung gleichsam ad absurdum geführt. Mit der Auster kann allerdings noch mehr als die menschliche Eigenschaft der Dummheit verbunden werden. Bei René Descartes wird sie zu einer exemplarischen Art, an der sich die anthropologische Differenz festmachen lassen soll.34 Nach Markus Wild liegt deren Grund bei Descartes „in einer scharfen Gegenüberstellung von Leib und Seele“.35 Wenn Tiere eine Seele hätten, so müsste dies laut Descartes für alle Tiere gelten. Gerade an der Auster zeige sich allerdings die Unwahrscheinlichkeit dieser Annahme.36 Mit der Auster wird die Descartes’sche Kluft zwischen Mensch und Tier in das dichte Bedeutungsnetz von Kleists Fabel eingetragen. Die unüberwindbare Trennung kehrt dort wieder als Scheidung der Elemente der Erde bzw. des Bodens und der Luft, der tierischen und der moralischen Sphäre. Damit veranschaulicht die Fabel eines der Grundprinzipien, nach dem die Textgattung bei Lessing operiert, also die Darstellung eines moralischen Lehrsatzes durch ein Geschehen unter Tieren. Indem sich die Tiere bei Kleist jedoch entgegen der im Jagddiskurs etablierten Konventionen verhalten, verunmöglicht der Text zugleich jegliche Fundierung der Moral auf dem Grund des Tierischen und zeigt vielmehr auf, dass das Verhalten der Fabeltiere selbst vom Diskurs produziert ist bzw. im Spannungsverhältnis zum Diskurs betrachtet werden muss. Die beiden Ebenen von Tierwelt und moralischem Seelenleben lassen sich damit

33 So die vollständige Redensart, die in der Fabel verkürzt wiedergegeben ist. Vgl. den Kommentar in DKV III, S. 918 (353, 10). 34 Für diesen Hinweis danke ich Roland Borgards. 35 Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin 2006, S. 209. 36 Im Brief an den Marquis von Newcastle vom 23. November 1646 schreibt Descartes: „[S]i elles [les bêtes] pensaient ainsi que nous, elles auraient une âme immortelle aussi bien que nous; ce qui n’est pas vraisemblable, à cause qu’il n’y a point de raison pour le croire de quelques animaux, sans le croire de tous, et qu’il y en a plusieurs trop imparfaits pour pouvoir croire cela d’eux, comme sont les huîtres, les éponges, etc.“ René Descartes: Oeuvres philosophiques. Tome III – 1643–1650, hg. v. Ferdinand Alquié, Paris 2010, S. 696.

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nicht in cartesianischer Manier trennen, sondern durchdringen sich, wie weiter unten gezeigt werden soll, gegenseitig. In der übertragenen Lesart verhandelt Die Hunde und der Vogel Theorien des Witzes und der Fabel, während in der wörtlichen Lesart der Dressur- und Jagddiskurs der Zeit aufgerufen wird, wobei Theorien und Diskurse in der Fabel in eine Kontiguitätsbeziehung gebracht werden. Die Tatsache, dass sich Fabeltheorie auf engem Raum mit dem Diskurs der Dressur berührt, kann zu weiteren Überlegungen anregen, die so im Text selbst höchstens implizit angelegt sind. Könnte man das Schreiben einer Fabel als semiotische Dressur bezeichnen, insofern die Fabeltiere in der Art ihres Bedeutens abgerichtet werden? Oder wird die moralische Erziehung durch die Fabel mit Methoden der Dressur ins Verhältnis gesetzt? Weiterverfolgen lässt sich diese Fragestellung anhand der Fabel ohne Moral, die im Folgenden zuerst wörtlich in Bezug auf den Dressurdiskurs der Zeit und dann im übertragenen Sinne als Kommentar zum Erziehungsdiskurs gelesen werden soll.

C HIASMUS : F ÜHRUNG VON P FERDEN UND E RZIEHUNG VON K INDERN Die Fabel ohne Moral Wenn ich dich nur hätte, sagte der Mensch zu einem Pferde, das mit Sattel und Gebiß vor ihm stand, und ihn nicht aufsitzen lassen wollte; wenn ich dich nur hätte, wie du zuerst, das unerzogene Kind der Natur, aus den Wäldern kamst! Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mich gut dünkte; und dir und mir sollte dabei wohl sein. Aber da haben sie dir Künste gelehrt, Künste, von welchen ich, nackt, wie ich vor dir stehe, nichts weiß; und ich müßte zu dir in die Reitbahn hinein (wovor mich doch Gott bewahre) wenn wir uns verständigen wollten.37

Die Situation, die hier von einem außenstehenden Beobachter erzählt wird, lässt sich schnell zusammenfassen. Ein Pferd verweigert „dem Menschen“,38 von dem man wohl annehmen kann, dass es sich um einen Reiter handelt, diesen aufsitzen zu lassen. Diese körperliche Verweigerung, die man auch als gestische Äußerung des Tiers bezeichnen könnte, wird im Text nicht weiter veranschaulicht. Die Fabel besteht beinah ausschließlich aus einem Monolog, mit dem der Mensch die

37 Heinrich von Kleist: „Die Fabel ohne Moral“, in: DKV III, S. 353. 38 Der unbestimmte Artikel legt zugleich nahe, dass es sich um ein allgemeineres Problem handelt, dass gleichsam alle Menschen betrifft.

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Äußerung des Pferdes erwidert, was Fragen nach der eigentümlichen Kommunikationssituation im Text aufwirft.39 Der Mensch wünscht sich, das Pferd in dessen Naturzustand zu besitzen, und imaginiert einen Urzustand, in dem er das „unerzogene“, also nicht dressierte Pferd nach eigenem Gutdünken führen könne, wobei der Konjunktiv des „wenn ich dich nur hätte“ zugleich eine Trauer um die Unverfügbarkeit dieses Zustands ausdrückt. Die Insignien der Dressur, der Sattel, das Gebiss und die Reitbahn zeigen zudem an, dass das Pferd bereits abgerichtet wurde und „die Künste“ gelernt hat.40 Die Bezeichnung der Dressur- und Reitpraktiken als Kunst lässt an Xenophons Abhandlung über die Reitkunst denken, in der unter anderem geschildert wird, wie ein Pferd zu Kriegszwecken abzurichten sei. Xenophons Grundlagentext wurde zwischen 1780 und 1825 mehrmals ins Deutsche übersetzt.41 Seine Bedeutung für den Dressurdiskurs um 1800 lässt sich aus dem Vorwort des Übersetzers Friedrich Jacobs herauslesen, der Xenophons Anweisungen zuspricht, dass diese „auch jetzt noch, nach mehr als 2000 Jahren, als gültig betrachtet werden müssen“.42

39 Hans Jürgen Scheuer und Ulrike Vedder verweisen auf die Teilhabe von Mensch und Tier an einer gemeinsamen Ausdruckssphäre: „Bevor überhaupt von Sprache die Rede sein kann, stehen Lebewesen schon in einer Dimension, in welcher die Gestalt und das Zucken eines Körpers (Physiognomie, Kinästhesie), der Klang einer Stimme oder die Schärfe eines Geruchs sich Geltung verschaffen – und zwar als sinnlicher Eindruck beim jeweiligen Gegenüber. Dadurch kommt jeglicher Sinneseindruck als möglicher Bedeutungsträger ins Spiel und verlangt nach Deutung noch dort, wo keinerlei Absicht oder Bewusstsein unterstellt werden kann.“ Tiere im Text. Exemplarizität und Allegorizität literarischer Lebewesen, hg. v. Hans Jürgen Scheuer und Ulrike Vedder, Bern 2015, S. 11–12. 40 Man kann die Fabel entsprechend historisch lesen, wobei das „zuerst“ auf die Zeit vor der Abrichtung des Pferdes verweist, während die technischen Hilfsmittel des Sattels und des Gebisses die lange Geschichte der Dressur und Nutzung des Pferdes durch den Menschen aufrufen. Zur Geschichte der Nutzung des Pferdes durch den Menschen vgl. Heinz Meyer: Der Mensch und das Pferd. Zur Geschichte und Gegenwart einer Mensch-Tier-Beziehung, Hamburg 2014, S. 41–142. Insofern weist Kleists Fabel eher zurück als voraus auf das Ende des sogenannten Pferdezeitalters, welches beschrieben wird in Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 52016. 41 Vgl. Klaus Widdra: „Einleitung“, in: Xenophon: Reitkunst, übers. v. Klaus Widdra, Berlin 1965, S. 1–33, hier S. 28f. 42 Xenophons Buch über die Reitkunst, übers. und mit Anmerkungen versehen v. Friedrich Jacobs, Gotha 1825, S. VI.

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Bereits Xenophon rät, beim Kauf eines Pferdes Augenmerk darauf zu legen, „wie es den Reiter aufsitzen lässt. Denn viele Pferde lassen dasjenige ungern zu, wovon sie wissen, dass der Zwang zur Arbeit darauf folgen wird.“43 Mit dem Zugeständnis einer Eigenwilligkeit, die darauf abzielt, der Ausübung von Zwang von Seiten des Menschen zu entgehen, wird dem Pferd ein gewisses Maß an Handlungsmacht zugeschrieben.44 So wirft auch das Verhalten des Pferds in Kleists Fabel die Frage nach der Führbarkeit und der möglichen Steuerung des Pferdes durch den Menschen auf. Der Mensch, der sich seiner Führungsqualitäten versichern muss,45 reagiert auf die Widerständigkeit des Pferdes mit der Imagination von dessen totalem Gehorsam in einem Verhältnis jenseits der Dressur. Wenn er das Pferd im ursprünglichen und unverbildeten Zustand besäße, so wäre er in der Lage, es zu „führen, leicht wie ein Vogel, dahin über Berg und Tal“. Der Vogel wird hier als semiotisches Tier eingesetzt, wobei die ambige Konstruktion offenlässt, welches Satzelement mit dem Vogel verglichen wird. Nimmt man an, dass es sich dabei um das Pferd handelt, also wie oben ein Tier mit einem anderen Tier verglichen wird, so könnte man sich das Pferd leicht dahingleitend und eben frei wie einen Vogel vorstellen. Oder nimmt der Mensch an, dass er sich selbst leicht wie ein Vogel fühlen würde, wenn er auf dem unerzogenen Pferd reiten könnte? Eine dritte Lesart hebt schließlich auf den symbiotischen Charakter der Passage ab.46 Im gemeinsamen Ausritt würden sich Mensch und Pferd demnach fühlen wie ein Vogel. 43 Ebd., S. 17. 44 Die Historikerin Simone Derix schreibt: „Die Möglichkeit eigenwilligen Handelns ist ein Kernthema der Schriften zum Umgang mit Pferden.“ Dabei bezeichnet sie Widerständigkeit als „klassische[n] Indikator für menschliche wie nicht-menschliche Handlungsmacht“. Simone Derix: „Das Rennpferd. Historische Perspektiven auf Zucht und Führung seit dem 18. Jahrhundert“, in: Body Politics 4/2 (2014), S. 397–429, hier S. 423. 45 Simone Derix beschreibt das Pferd als „ein Medium, über das Konzepte von Führung, von Kommunikation und Beeinflussung entwickelt und erprobt werden.“ Ebd., S. 422. 46 Auch das Titelkupfer der Ausgabe des Phöbus, in der die Fabeln enthalten sind, behandelt die Symbiose von Mensch und Pferd. Zu sehen ist das in der Kunstgeschichte immer wieder aufgegriffene Motiv des Achill, der von seinem väterlichen Lehrmeister Cheiron, einem Kentauren, im Bogenschießen unterrichtet wird. Der Kentaur ist selbst ein Mischwesen aus Mensch und Pferd, aus Kultur und Natur. Bezeichnenderweise lernt Achill von Cheiron jene Künste, die ihn zur Unterwerfung der Natur bzw. des Tierreichs befähigen. Der Akt der Beherrschung wird dabei naturalisiert. Vgl. Feodor Iwanow: „Chiron unterrichtet Achilles im Bogenschießen“, in Phöbus. Ein Journal für die Kunst, hg. v. Heinrich von Kleist und Adam H. Müller, Dresden, 3. Stück, März

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Die Imagination einer Symbiose wird durch die Unterstellung des Menschen verstärkt, dass beiden, also auch dem Pferd, bei diesem Ausritt wohl sein würde. Was hier evoziert wird, ist das Phantasma einer unmittelbaren Kommunikation zwischen Mensch und Pferd, bei der die Kette von Befehlen und Gehorchen gleichsam ausgeblendet und durch die Einheit des gemeinsamen Flugs ersetzt wird. Die Vorstellung, dass es eine Art der Führung gäbe, die dem Wesen des Pferdes dermaßen entspricht, dass es vollständig im Befehl des Reiters aufgeht, findet sich auch bei Xenophon: „Wenn man nun das Pferd dahin bringt, sich so zu tragen, wie es sich selbst geberdet, wenn es sich am meisten brüstet, so wird man bewirken, dass es des Reitens froh, prächtig, stolz und sehenswert erscheint.“47 Dass es sich hierbei mit den Worten von Paul Patton um eine „rhetoric of dialogue and partnership“48 handelt, die die fundamentale Asymmetrie in der Übertragung von Befehlen verdeckt, legt Kleists Fabel selbst offen, indem sie jene Rhetorik in starken Kontrast zu den technischen Hilfsmitteln der Dressurpraxis Sattel und Gebiss stellt, die die Befehlsübertragung überhaupt erst auf mechanischem Wege ermöglichen.49 Das Pferd hat die Künste gelernt, wurde abgerichtet und dressiert, um beritten werden zu können. Den Naturzustand, in dem der Mensch in seiner Nacktheit vorgibt, sich noch zu befinden, kann es für das Pferd, welches dermaßen kultiviert wurde, nicht mehr geben. Zu Recht wurde in der Forschung auf Rousseaus Einfluss auf diese Passage hingewiesen.50 Im zweiten Discours unternimmt es Rousseau, den Naturzustand des Menschen zu rekonstruieren: „Indem ich dieses so geartete Wesen aller empfangenen übernatürlichen Gaben und aller künstlichen Fähigkeiten […] entblöße, indem ich es also betrachte, wie es aus den Händen der 1808, Reprint 1924, Titelkupfer. Zu Achill und Cheiron vgl. Robin Hard: The Routledge handbook of Greek mythology based on H.J. Rose’s „Handbook of Greek mythology“, London, New York 2004, S. 458. 47 Xenophons Buch über die Reitkunst (wie Anm. 42), S. 63. 48 Paul Patton: „Language, Power, and the Training of Horses“, in: Carry Wolfe (Hg.): Zoontologies. The Question of the Animal, Minneapolis 2003, S. 83–99, hier S. 90. Er fügt hinzu: „Horse trainers often speak as though it were a matter of horse and rider becoming one body, in which the human is the head that commands while the horse is the body that executes the movements.“ 49 Xenophon beschreibt, wie diese Hilfsmittel anzulegen seien, und hebt mehrmals hervor, dass diese das Pferd davon abhalten „Schaden zu thun“. Bevor das Pferd geführt werden kann, muss also dessen bedrohliche Kraft kanalisiert werden. Xenophons Buch über die Reitkunst (wie Anm. 42), S. 25–37. 50 Vgl. Moering: Witz und Ironie (wie Anm. 14), S. 156–157, sowie den Kommentar zur Fabel ohne Moral in DKV III, S. 918.

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Natur hervorgegangen sein mußte, sehe ich ein Tier […].“51 In Bezug auf Kleists Fabel spricht Michael Moering in diesem Sinne von einer „Umkehrung gewohnter Perspektiven im Text: Nicht das Tier ist – gegenüber dem Menschen – Vertreter des Natürlichen, Unverdorbenen, Ungezierten, sondern der Mensch ist es gegenüber dem Tier.“52 Genau wie bei Rousseau ist der Naturzustand, der bei Kleist auch in der Symbiose zwischen Mensch und Pferd anklingt, jedoch nur im Modus der Fiktion aufrufbar.53 Der Mensch imaginiert zwar seine eigene Nacktheit, müsste beim Gang in die Reitbahn aber einsehen, dass er im Prozess der Abrichtung des Pferdes selbst diszipliniert und kultiviert wurde. Die Reitbahn ist ein „langer ebener Platz, auf welchem so wohl Pferde zugeritten, als auch unerfahrne Personen im Reiten unterrichtet werden.“54 Nicht nur das Pferd muss dressiert werden, auch der Reiter unterwirft seinen Körper einer rigiden Ausbildung, um sich an den Pferdekörper anzupassen. Ausführlich beschreibt Xenophon, wie sich der Reiter nach der Beschaffenheit und den Bewegungen des Pferdes richten muss.55 Zum Teil durchläuft er sogar den gleichen Parcours wie das Pferd: „Da nun ein Pferd bald bergauf, bald bergab, bald auf schrägem Boden laufen, hier über Gräben setzen, dort herausspringen, dann auch abwärts springen muss, so muss sowohl der Reiter als das Pferd dieses alles lernen und üben.“56 Dies mündet in der oben angesprochenen und für Xenophon typischen Rhetorik der Partnerschaft: „Denn so werden sie gegenseitig einander helfen und nützlicher seyn.“57 Vor dem Hintergrund dieser Praxis wird klar, inwiefern die Reitbahn ein Ort möglicher Kommunikation sein könnte. Da sich hier Mensch und Pferd aneinander anpassen müssen, besteht die Möglichkeit eines körperlichen Austauschs, der nicht nur auf die einseitige Übertragung von Befehlen ausgerichtet ist. In der Fabel verweigert der Mensch jedoch den Gang in die 51 Jean-Jacques Rousseau: „Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in: Ders.: Schriften zur Kulturkritik, eingeleitet, übers. u. hg. v. Kurt Weigand, Hamburg 31978, S. 61–269, hier S. 85. 52 Moering: Witz und Ironie (wie Anm. 14), S. 156. 53 Rousseau stellt dies zu Beginn des zweiten Discours heraus: „Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage. Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen […].“ Rousseau: „Über den Ursprung“ (wie Anm. 51), S. 81. 54 Art. „Reitbahn“, in: GWH, Bd. 3, Sp. 1071. 55 Xenophons Buch über die Reitkunst (wie Anm. 42), S. 37–53. Einmal heißt es sogar: „Wir wollen aber auch nicht übergehen, wie der Reiter jeder dieser Bewegungen des Pferdes folgen müsse.“ Ebd., S. 49. 56 Ebd., S. 46. 57 Ebd., S. 46–47.

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Reitbahn, würde er doch dort einsehen müssen, dass er in der Reitausbildung selbst längst zum Dressurpferd geworden ist und der Naturzustand nicht nur für das Pferd, sondern auch für ihn verstellt ist. Weit davon entfernt, als unerzogene Kinder über Berg und Tal zu fliegen, müssen sich Pferd und Reiter in der Reitbahn beide einer Form von Führung im Sinne Foucaults unterwerfen: Der Ausdruck „Führung“ (conduite) vermag in seiner Mehrdeutigkeit das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu erfassen. „Führung“ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten.58

Mit dem Gegensatzpaar vom unerzogenen Kind der Natur auf der einen und der guten Führung in der Reitbahn auf der anderen Seite ist in der Fabel eine Lesart angelegt, nach der es im übertragenen Sinne um verschiedene Arten der Erziehung geht. Dressur- und Erziehungsdiskurs sind dabei eng ineinander verwoben, wobei metaphorische Übertragungen von einem Diskurs in den anderen vorgenommen werden, die bereits bei Xenophon oder Rousseau zu finden sind. So spricht Xenophon von der Erziehung des Fohlens, wobei er die Dressur des Pferdes als einen Lernvorgang beschreibt: „Wie man es aber mit einem Knaben macht, den man zur Erlernung einer Kunst weggiebt, so muss man auch bei einem Fohlen schriftlich bestimmen, was es lernen soll.“59 Rousseau hingegen bedient sich gleich zu Beginn seiner Abhandlung über die Erziehung einer Dressurmetapher, um die unnatürliche Weise der Erziehung zu charakterisieren, von der er sich mit seinem Programm absetzen möchte: „Alles dreht er [der Mensch] um, alles entstellt er. […] Man muß ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren […].“60 Wenn Kleist Erziehung und Dressur in seiner Fabel zusammenbringt, partizipiert er an einer chiastischen Kreuzung der Metaphorik der beiden Diskurse. Die gute Dressur bei Xenophon soll wie eine gute Erziehung sein. Die gute Erziehung bei Rousseau hingegen soll explizit keine Dressur sein. Gerade deshalb fordert Rousseau, dass das Verhältnis zwischen Zögling und Lehrer frei von Machtverhältnissen sei: „Es [das Kind] soll gar nicht wissen, was Gehorsam ist, wenn es etwas tut; oder was befehlen ist, wenn man etwas für ihn tut. Es muß seine Freiheit in seinen und euren Handlungen spüren.“61

58 Foucault: „Subjekt und Macht“ (wie Anm. 31), S. 256. 59 Xenophons Buch über die Reitkunst (wie Anm. 42), S. 13. 60 Rousseau: Emil (wie Anm. 4), S. 9. 61 Ebd., S. 63.

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So könnte man den gemeinsamen Flug von Pferd und Reiter in Kleists Fabel auch als Allegorie für das von Rousseau imaginierte Verhältnis zwischen Zögling und Lehrer lesen. Doch eine Schlussfolgerung, die man aus dieser Fabel ohne Moral ziehen müsste, wäre, dass es ein erzieherisches Verhältnis jenseits der Machtausübung nicht geben kann. Das Kind, das aus seiner eigenen Natur heraus den Absichten des Lehrers gemäß handelt, ohne sich in seiner Freiheit eingeschränkt zu fühlen, entspricht dem unerzogenen Pferd, dass sich leicht wie ein Vogel führen lassen soll. Insofern wäre es im übertragenen Sinne der Erzieher, der das Kind führen möchte und von diesem absoluten Gehorsam erwartet, die Ausübung von Macht allerdings hinter einer Fassade der Natürlichkeit versteckt.62 Die Reitbahn steht hingegen für den Ort, an dem die Ausübung von Macht im Erziehungsprozess offensichtlich werden würde. Hier wird die Freiheit des Zöglings eingeschränkt, er muss sich gut aufführen und der Führung durch den Erzieher unterwerfen. Legt die Fabel dabei in Abgrenzung von Rousseau nahe, dass Erziehung ein Vorgang der Dressur sei? Dass Kinder wie Hühnerhunde oder Dressurpferde abgerichtet werden? Abschließend sollen die beiden Fabeln zusammengelesen werden, um eine differenziertere Antwort auf diese Fragestellung zu erhalten.

K RITIK : A UFKLÄRUNG

UND

P ÄDAGOGIK

In beiden Fabeln verabschiedet sich Kleist von einer eindeutig lesbaren Moral, die durch die Tiercharaktere – nach Dietmar Schmidt der „feste und faktische Untergrund der beispielhaften Poesie“63 im 18. Jahrhundert – gesichert würde. Die Fabeln werden vieldeutig und lassen sich auf verschiedenen Ebenen lesen. Die Tiere stehen dabei nicht nur im übertragenen Sinn für menschliche Eigenschaften, sondern, wird die Fabel wörtlich gelesen, auch für tierische Wesen, die die Diskurse der Dressur und der Erziehung gleichermaßen bevölkern und somit zu deren Relaisstelle werden. In den Fabeln kommen zwei paradigmatische Dressurtiere vor, der Hund und das Pferd, die im Erziehungskurs für Unselbstständigkeit und Fremdsteuerung stehen. In Über Pädagogik schreibt Kant:

62 Auch bei Rousseau wird die Machtausübung des Lehrers naturalisiert: „Setzt seinen [des Zöglings] unvernünftigen Wünschen nur natürliche Widerstände oder Strafen entgegen, die aus seinen Handlungen selbst hervorgehen, und deren es sich bei gleicher Tat erinnert.“ Ebd., S. 63. 63 Schmidt: Die Physiognomie der Tiere (wie Anm. 17), S. 189.

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Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen oder wirklich aufgeklärt werden. Man dressiert Hunde, Pferde, und man kann auch Menschen dressieren. […] Mit dem Dressieren aber ist es noch nicht ausgerichtet, sondern es kommt vorzüglich darauf an, daß Kinder d e n k e n lernen.64

Hund und Pferd dienen Kant in ihrer tierischen Bildhaftigkeit dazu, eine binäre Opposition von mechanischer Unterweisung und wirklicher Aufklärung zu etablieren. In Kleists Fabeln erscheinen diese beiden Tiere neben dem Vogel, der für jenes Moment der Freiheit einsteht, welches gerade in der Abwesenheit von Dressur bestehen soll. In der Fabel ohne Moral wird der freie Vogelflug jedoch als Fiktion verworfen. In Die Hunde und der Vogel schließlich bleibt der Vogel nicht nur für die Hunde ungreifbar, auch für die Leserschaft entzieht er sich, so wie sich die Moral der Fabel schlussendlich entzieht. Was sollen diese Fabeln somit lehren? Geht es im Sinne Kants darum, dass wir beim Lesen Denken lernen,65 anstatt mechanisch in einer Moral unterwiesen zu werden? In beiden Fabeln geht es schließlich nicht um das Finden einer universell gültigen Moral, die die Rezipierenden anschließend nur noch befolgen müssen, sondern um das Offenlegen von Dressur- und Führungspraktiken, die einer Erziehung zur Mündigkeit gerade entgegenzustehen scheinen. Dass Erziehung allerdings immer auch eine Sache der Führung ist, dass diese die Ausübung von Macht nicht ausschließt und dass diese Macht durch die mögliche Ausübung von Gewalt gesichert ist, das sind Einwände gegen das Rousseau’sche Ideal einer natürlichen Pädagogik, die sich aus Kleists impliziter Fabeltheorie ableiten lassen. Die Annahme, dass eine gewaltfreie Erziehung möglich sei, kommentieren Kleists Fabeln dadurch, dass sie den Erziehungsdiskurs mit dem Dressurdiskurs verschalten. Die „Schule des Hungers“, von der in Die Hunde und der Vogel die Rede ist, wurde oben als Verweis auf Dressurpraktiken ausgelegt. Abschließend kann man diese Lesart noch einmal umdrehen und fragen, was es mit den Konzepten der Pädagogik und der Erziehung macht, wenn das Hungern von Hunden als eine Schule bezeichnet wird, in der diese zu Schlauköpfen wurden.

64 Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: Ders.: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 62005, S. 693–761, hier S. 707. 65 Lessing schreibt den Fabeln in der Schule einen heuristischen Nutzen zu. Deren Lektüre erziehe nach Lessing zu „Erfindern und selbstdenkenden Köpfen“, da „das Mittel, wodurch die Fabeln erfunden worden, gleich dasjenige ist, das allen Erfindern überhaupt das allergeläufigste sein muß.“ Lessing: „Fabel“ (wie Anm. 1), S. 416.

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Für Kant übt die Schule eine klar disziplinierende Funktion aus. Die wilden und freiheitsliebenden Zöglinge66 sollen „den Zwang der Gesetze fühlen“: So schickt man z.E. Kinder anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen still zu sitzen, und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht, in Zukunft, jeden ihrer Einfälle würklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen.67

Das stille Sitzen, das pünktliche Beobachten der Vorschriften und die Unterdrückung der eigenen Einfälle erinnern dabei an die Dressur der Hühnerhunde, deren Abrichtung zum stillen Sitzen im Feld und die Bändigung von deren Eigensinnigkeit. Insofern stellt der Mangel an Artigkeit, den die Tiere in Kleists Fabeln aufweisen, auch eine Volte gegen jenes disziplinierende Schulmodell dar.68 Dies korreliert mit der Unartigkeit der beiden Fabeln, die gerade durch das Fehlen einer eindeutigen Moral zu einem kritischen Reflexionsprozess anregen. Anders formuliert fordert gerade die Mehrdeutigkeit der Fabeln zu immer neuen Lektüren heraus, in denen diskursive Zusammenhänge zwischen Erziehung und Dressur aufscheinen, die so der Kritik preisgegeben werden. Erziehung und Dressur haben, so legen dies Kleists Fabeln nahe, mehr miteinander zu tun, als lediglich eine Handvoll metaphorische Übertragungen. Beide sind Teil eines Machtgefüges, in dem schließlich auch die Gattung der Fabel selbst zu verorten ist. Im Versuch, einen moralischen Satz zu vermitteln und so das moralische Handeln der Leserschaft zu lenken, partizipiert auch die Aufklärungsfabel z.B. bei Lessing an einer Machtausübung auf die Unmündigen. Damit ist jede Fabel, die es lediglich auf die Vermittlung einer eindeutigen Moral abgesehen hat, in die Ambivalenzen des aufklärerischen Erziehungsdiskurses verstrickt, die

66 Hier wendet sich Kant gegen Rousseau, indem er den „wilden Nationen“ jenen „edle[n] Hang zur Freiheit“ abspricht, ihnen aber „eine gewisse Rohigkeit“ zuschreibt, „indem das Tier hier gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich entwickelt hat.“ Wildheit ist somit für Kant etwas, das der Zögling ablegen soll. „Daher muß der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen.“ Kant: Über Pädagogik (wie Anm. 64), S. 698. Später fügt er hinzu: „Derjenige, der nicht kultiviert ist, ist roh, wer nicht diszipliniert ist, ist wild.“ Ebd., S. 700. 67 Ebd., S. 698. 68 Im Text Allerneuester Erziehungsplan stellt Kleist diesem Schulmodell „eine sogenannte Lasterschule“ entgegen, „eine gegensätzische Schule, eine Schule der Tugend durch Laster“. Heinrich von Kleist: „Allerneuester Erziehungsplan“, in: DKV III, S. 545–552, hier S. 550.

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Kleist noch einmal extrapoliert und herausstellt. Auch Kant wusste um die Schwierigkeit des Unterfangens der Erziehung: Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch. Wenn man das aber reiflich überdenkt, so findet man dass dieses sehr schwer sei. Daher ist die Erziehung das größte Problem, und das schwerste was dem Menschen kann aufgegeben werden.69

Indem Kleists Fabeln die Problematisierung moralischer Erziehung auf die Spitze treiben, erweisen sie sich als Mittel der Kritik der Aufklärung. Im Sinne eines Musterstücks immanenter Kritik vollziehen sie diese gerade im Anschluss an die in der Aufklärung so populäre Gattung, unterziehen diese dabei jedoch einer grundlegenden Transformation. Diese Zwischenstellung macht schließlich die Modernität der beiden Fabeln aus,70 die sich als Unarten gerade dadurch auszeichnen, dass sie den Anspruch der Aufklärungsfabel radikal weiterdenken und diese so über deren Grenzen hinaustreiben.

69 Kant: Über Pädagogik (wie Anm. 64), S. 702. 70 So verweist Michael Moering in seiner Lektüre der Fabel ohne Moral auf Franz Kafka. Vgl. Moering: Witz und Ironie (wie Anm. 14), S. 157.

Autor*innen

Andrea Allerkamp ist Professorin für Westeuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Traumkritik, Kulturtheorie, Alterität, deutsch-französische Ideengeschichte, Geschichte und Kritik der Ästhetik sowie Kleist. Sie ist Mitherausgeberin des Kleist-Jahrbuchs (KJb) und gab zuletzt mit Pablo Valdivia Orozco den Band Paul Valéry. Für eine Epistemologie der Potentialität (Heidelberg 2017) heraus. Marcel Beyer ist Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer. Er studierte Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Als Autor wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kleist-Preis 2014 und dem Georg-Büchner-Preis 2016. Zuletzt veröffentlichte er den Essay-Band Das blindgeweinte Jahrhundert (Berlin 2017). Roland Borgards ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kulturund Literaturgeschichte der Tiere, der Autor Georg Büchner und die Epoche der Romantik. Rüdiger Campe ist Professor für Germanic Languages and Literatures und Comparative Literature an der Yale University. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissensgeschichte der Literatur, das barocke Theater, Rhetorik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Theorie des modernen Romans und der Prosa. Kürzlich hat er den Sammelband Bella Parrhesia. Begriff und Figur der freien Rede in der Frühen Neuzeit (Freiburg 2018) mitherausgegeben. Stefan Färber studierte Kulturwissenschaften (BA) an der Europa-Universität Viadrina und Philosophie (MA) an der Freien Universität Berlin. Er war Forschungsstudent am DFG-Graduiertenkolleg „Lebensformen + Lebenswissen“

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sowie Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina. László F. Földényi ist Essayist, Professor für Kunsttheorie an der Akademie für Film- und Schauspielkunst in Budapest und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seit 2014 als Beisitzer des Präsidiums. Seine Bücher sind vielfach übersetzt worden. Er hat die ungarische Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists herausgegeben. Dan Gorenstein studierte Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Potsdam. Er ist Stipendiat der Universität der Universität Potsdam und des Marbacher Literaturarchivs und arbeitet derzeit an einer Dissertation zu Ernst Jüngers Insektenbildern. Alexander Kling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Arbeitsgebiete liegen in den Bereichen Animal Studies, Literatur und Ökologie, Dinge und Komik. Johannes Lehmann ist Professor für neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und kulturwissenschaftliche Fragen zur Genealogie der Moderne: Theater, Anthropologie, Recht, Zorn, Rettung, Gegenwart. Er hat jüngst mit Stefan Geyer den Band Aktualität: zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert (Hannover 2018) herausgegeben. Werner Michler ist Universitätsprofessor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theorie und Geschichte der literarischen Gattungen, Literatur und Naturwissenschaft, österreichische Literatur, Geschichte und Theorie der literarischen Übersetzung sowie literarische Bildung. Er veröffentliche unter anderem: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750-1950 (Göttingen 2015). 2019 erscheint: Gattungstheorie (Berlin). Katrin Pahl ist Professorin für Deutsche Kultur- und Literaturwissenschaft und Kodirektorin des Programms für Frauen-, Geschlechter-, und Sexualitätsstudien an der Johns Hopkins University in Baltimore. Sie lehrt und forscht zu den Themenbereichen Emotionalität, Geselligkeit, Gewalt, Geschlecht und Sexualität,

A UTOR * INNEN

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Literatur und Philosophie. Monografien: Sex Changes with Kleist (2019) und Tropes of Transport: Hegel and Emotion (2012). Matthias Preuss studierte Kultur- und Literaturwissenschaften an der EuropaUniversität Viadrina. Er promoviert im Rahmen des DFG-Graduiertenkolleg “Das Dokumentarische. Exzess und Entzug” an der Ruhr-Universität Bochum zur Darstellung ökologischen Wissens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dietmar Schmidt ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen (München 2011) und, gemeinsam mit H. Lutz und N. Plath, Satzzeichen. Szenen der Schrift (Berlin 2017). Sebastian Schönbeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen der Europa-Universität Viadrina. Er promovierte zum Thema „Die Fabeltiere der Aufklärung. Naturgeschichte und Poetik von Gottsched bis Lessing“. Kürzlich erschienen: Texts, Animals, Environments: Zoopoetics and Ecopoetics (Freiburg 2019), hg. mit Roland Borgards, Catrin Gersdorf und Frederike Middelhoff. Jonas Teupert studierte Germanistik und Anglistik an der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2016 arbeitet er im Rahmen des PhD-Programms an der University of California, Berkeley mit einem Schwerpunkt in Kritischer Theorie. Er promoviert zu flüchtigen Formen in der deutschen Philosophie und Literatur von Kant bis Heine sowie in der Gegenwartsliteratur. Pablo Valdivia Orozco ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen der Europa-Universität Viadrina. Er finalisiert derzeit Zeit seine Habilitation zu Petrarcas „Secretum“. Seine Forschung konzentriert sich auf die romanischen Literaturen der Frühen Neuzeit und auf die lateinamerikanischen und französischsprachigen Literaturen des 20. Jahrhunderts. Von ihm erschien: Weltenvielfalt. Eine romantheoretische Studie im Ausgang von García Márquez, Cisneros und Bolaño (Berlin/New York 2013). Sophie Witt ist Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und Redaktionsmitglied der Zeitschrift figurationen. Mit einem PRIMA-Grant des Schweizerischen Nationalfonds arbeitet sie derzeit an einem Habilitationsprojekt zu Theatralität und Psychosomatik. Zu ihren Buchpublikationen zählt: Henry James’ andere Szene. Zum Dramatismus des modernen Romans (Bielefeld 2015).

Siglen

BA

Berliner Abendblätter, hg. v. Heinrich von Kleist, Berlin 1810–1811. Verschiedene Reprint-Ausgaben, u. a. Darmstadt 1959.

BKA Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, historisch-kritische Ausgabe (Berliner Ausgabe, ab 1992 Brandenburger Ausgabe), Basel, Frankfurt a. M. 1988–2010. DKV Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1987–1997. DWB Deutsches Wörterbuch, hg. v. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bde., Leipzig 1854–1961. GWH Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, hg. v. Johann Christoph Adelung, zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, 4 Bde., Leipzig 1793–1801. KJb

Kleist-Jahrbuch, hg. im Auftrag des Vorstands der Heinrich-von-KleistGesellschaft, wechselnde Herausgeber*innen, aktuell hg. v. Andrea Allerkamp, Günter Blamberger, Anne Fleig, Barbara Gribnitz, Hannah Lotte Lund und Martin Roussel, Stuttgart (vor 1990: Berlin) 1980ff.

KHb Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Ingo Breuer, Stuttgart 2009.

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LS

Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hg. v. Helmut Sembdner, Bremen 1957.

MA

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Münchner Ausgabe, auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe (BKA), 3 Bde., München 2010.

NR

Heinrich von Kleists Nachruhm, hg. v. Helmut Sembdner, Bremen 1967.

SW

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., hg. v. Helmut Sembdner, München: Hanser 91993 (= München: dtv 92001; die aktuelle Taschenbuchausgabe ist mittlerweile die dritte von 2013).

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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