Umweltschutz im Recht [1 ed.] 9783428463480, 9783428063482

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Umweltschutz im Recht [1 ed.]
 9783428463480, 9783428063482

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Umweltschutz im Recht

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Kloepfer, Trier

BandS

Umweltschutz im Recht herausgegeben von

Prof. Dr. Wemer Thieme im Auftrag des Collegiums Hamburger Professoren des Ölfentlichen Rechts

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Umweltschutz im Recht I hrsg. von Wemer Thieme im Auftr. d. Collegiums Hamburger Professoren d. Öffentlichen Rechts. Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zum Umweltrecht; Bd. 8) ISBN 3-428-06348-1 NE: Thieme, Wemer [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06348-1

Vorwort Die Mitglieder des Seminars für Öffentliches Recht und Staatslehre im Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Harnburg haben im Wintersemester 1986/87 in einer Ringvorlesung Rechtsfragen des Umweltschutzes behandelt. Die damals gehaltenen Vorträge werden in diesem Band abgedruckt. Die Themen sind so ausgewählt, daß sich ein breiter Überblick über die zentralen Fragen und eine Reihe von Sonderproblemen des Umweltschutzes ergibt. Ohne die Absicht damit zu verbinden, ein Kompendium des Umweltschutzrechts zu bieten, ist gleichwohl eine abgerundete Übersicht entstanden, die teils berichtend und informierend sein will, teils aber auch neue Denkanstöße zu geben beabsichtigt. Das Werk zeigt einerseits, daß unsere Rechtsordnung bereits heute ein weithin wirksames Instrumentarium des Umweltschutzrechts zur Verfügung hält, ruft andererseits aber mahnend auch ins Gedächtnis, daß das Recht nur dann seine Wirkung entfaltet, wenn die Politik von seinen Möglichkeiten Gebrauch macht. Hamburg, im April1987

Professor Dr. Werner Thieme Geschäftsführender Direktor des Seminars für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Harnburg

Inhalt Ulrich Karpen Zu einem Grundrecht auf Umweltschutz

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Peter Selmer Finanzierung des Umweltschutzes und Umweltschutz durch Finanzierung . . . 25 Jürgen Schwabe Ausgleich für Waldschäden

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Werner Thieme Umweltschutz und Wirtschaftsrecht Das Beispiel der Altölentsorgung

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Karl Albrecht Schachtschneider

Der Rechtsbegriff "Stand von Wissenschaft und Technik" im Atom- und Irnmissionsschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Carl-Eugen Eberle Umweltschutz durch Landesplanung ........ . .... . . . ... . ....... ... . .. 145 JörgLücke Das Umweltschutzrecht der DDR .... . .. . . . . . .. . . . .. .... . . . ..... . . ... 165 Gert Nicolaysen Umweltschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht . .............. . .... 197 Philip Kunig Grenzüberschreitender Umweltschutz - Der Einzelne im Schnittpunkt von Verwaltungsrecht, Staatsrecht und Völkerrecht ... . .... . . . . . . . . .. . . . . . . 213 Rainer Lagoni Umweltvölkerrecht. Anmerkungen zur Entwicklung eines Rechtsgebietes .. . 233

Autorenverzeichnis .. . . .. ....... . . .. .. . ......... . ..... .. .... . .. .. . .. . . 251

Zu einem Grundrecht auf Umweltschutz Von Ulrich Karpen Vorbemerkung

"Der Schutz der Umwelt ist nach der Sicherung des Friedens die wichtigste Aufgabe unserer Zeit". Mit diesem Satz beginnt der dritte Immissionsschutzbericht der Bundesregierung1 . Tschernobyl, Luftverschmutzung, Lärm, Waldsterben, betonierte Landschaft, verschmutzte Ozeane, die weltweite Ausbeutung der Ressourcen zeigen es deutlich: wir leben schon vom Kapital unserer Existenzgrundlagen und nicht mehr - wie bisher - von den Zinsen unserer ökologischen Kreisläufe. Es ist also unbestritten, daß wir unsere Umwelt pfleglich behandeln, schützen müssen. Bei der Kernenergie liegt es offen zutage, daß es letztlich um die Gewährleistung unserer existentiellen Sicherheit geht.- Unbestritten ist auch, daß dem Staat bei Verwirklichung des Umweltschutzes eine wesentliche- gewiß die wesentlichste - Aufgabe zukommt und ein Instrument zur Erfüllung dieser Aufgabe ist das Recht. Den Rechtsfragen des Umweltschutzes wollen wir uns in diesem Semester widmen. Dabei ist zunächst festzustellen, daß in den letzten 20 Jahren Beachtliches im und mit dem Recht geleistet worden ist, um die Umwelt besser zu schützen. Ich erinnere nur daran, daß Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und das Saarland Bestimmungen über den Umweltschutz in ihre Verfassung aufgenommen haben2 • 1974 ist das BundesimmisBTDrS 10/1345, S. 5. Nachweise bei Rauschning, Aufnahme einer Staatszielbestimmung über Umweltschutz in das Grundgesetz? DOV 1986, 489-496 (489 Fn. 2). Die Präambel der Harnburgischen Verfassung enthält nach Änderung vom 27. 6. 1986 die Formel: "Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates". Am ausführlichsten ist Art. 141 111 BayVerf.: "Der Genuß der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wildwachsender Waldfrüchte in ortsüblichem Umfang ist jedermann gestattet (seit dem 1. 7.1984: Dabei ist jedermann verpflichtet, mit Natur und Landschaft pfleglich umzugehen). Staat und Gemeinden sind berechtigt und verpflichtet, der Allgemeinheit die Zugänge zu Bergen, Seen, Flüssen und sonstigen landschaftlichen Schönheiten freizuhalten und allenfalls durch Einschränkungen des Eigentumsrechts freizumachen sowie Wanderwege und Erholungsparks anzulegen" . Dazu auch Hermann Soell, Umweltschutz, ein Grundrecht?, Natur und Recht, 1985, S. 205- 213; ferner Diemut Majer, Bürgerklage und Bürgerbeschwerde als Beispiel objektiver Rechtskontrolle im Umweltschutz- Ein Beitrag zur Beteiligung des Bürgers im Verwaltungsverfahren in: Zeitschrift für 1

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Ulrich Karpen

sionsgesetz erlassen worden3 • Die Verwaltung zeigt sich äußerst "pingelig" bei derErteilungvon Genehmigungen für emittierende Anlagen. Die Rechtsprechung hat die Garantenpflicht des Staates zum Schutze der Grundrechte herausgearbeitet, was - wie wir noch sehen werden - auch für die Umweltauswirkungen der Grundrechte gilt. Die Wissenschaft schließlich hat in großer systematischer Anstrengung die Konturen eines Umweltrechtes herausgearbeitet4. Umstritten ist hingegen noch, ob und wie die Staatsaufgabe Umweltschutz im Grundgesetz verankert werden soll. Soll ein ökologisches Grundrecht in die Verfassung aufgenommen werden, ein einklagbarer Individualanspruch gegen den Staat, daß er eine saubere Umwelt garantiere, wie die Bundesregierung der sozialliberalen Koalition im Umweltprogramm vom 14.10.19715 zu erwägen gab, und wie Sozialdemokraten6 , Liberale 7, und Grünes fordern? Oder soll es bei einer Absichtserklärung, einem programmatischen Bekenntnis zum Umweltschutz bleiben? Zu denken wäre auch an eine entsprechende Staatszielbestimmungs oder die Berücksichtigung des Umweltschutzes im konstituierenden Prinzip des Grundgesetzes im Art. 1. Das Thema meines Referates ist die Untersuchung der Möglichkeit und Wünschbarkeit eines Umweltgrundrechtes 10 . Da ich einen solchen Vorschlag- wie ich zeigen werde- vorsichtig bis kritisch gegenüberstehe, Ihnen aber nicht nur Steine, sondern auch etwas Brot geben möchte, werde ich Schweizerisches Recht, NF, Band 106 (1987), S. 293- 329; Dietrich Murswiek, Zur Bedeutung der grundrechtliehen Schutzpflichten für den Umweltschutz, Wirtschaft und Verwaltung, 1986, S. 179 - 204; Rainer Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR 112 (1987), S. 26- 53. 3 Dazu Jarass, Bundesimmissionsschutzgesetz, Kommentar, München 1983. 4 Michael Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechtes, Berlin 1978; Salzwedel I Preuske, Umweltschutzrecht und -verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Brüssel-Luxemburg 1983; Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, Berlin 1982; Breuer, Umweltschutzrecht in: von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl., 1985, S. 535 - 614. s BTDrS VI, 2710, S. 9. 6 Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristen, Nachweise bei SoelZ, (Fn. 2), S. 205. 7 "Freiburger Thesen der Liberalen", aktuell Nr. 1545, hrsg. von Karl Hermann Flachna, 1972, S. 109f. 8 BTDrS 10, 990 v. 2. 2.1984, S. 2: "Jeder hat das Recht auf eine gesunde Umwelt und den Erhalt seiner natürlichen Lebensgrundlagen" (Art. 2 III neu GG). 9 So die Vorschläge der Hessischen (BRDrS 247/84) und Schleswig-Holsteinischen (BRDrS 307/84) Landesregierung und der Vorschlag der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge Bonn, 1983, Rn. 130: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sie schützt und pflegt die Kultur und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen" (Art. 20 I neu). 10 Dazu Heinhard Steiger, verfassungsrechtliche Grundlagen, in Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechtes, S. 21- 63; Jörg Lücke, Das Grundrecht des einzelnen gegenüber dem Staat auf Umweltschutz, DÖV 1976, 289f.; Wolfgang Maus, Individualrecht oder Staatsziel (zum Grundrecht auf Umweltschutz), JA 1979, 287.

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abschließend ganz knapp auch zu den anderen verfassungsrechtlichen Anregungen Stellung nehmen und mit einer konkreten Empfehlung schließen. Ich werden Ihnen meine Überlegungen in neun Thesen vorlegen: - Die These 1 wird den Umweltschutz als Staatszweck in den Blick bringen; - die Thesen 2 und 3 sind verfassungsrechtlich orientiert: ich will darlegen, in welcher Form die bestehenden Grundrechte bereits umweltschützenden Charakter haben; die Thesen 4 und 5 bilden den verfassungspolitischen Teil: Ist im Lichte des verfassungsrechtlichen Befundes die Einfügung eines expliziten Grundrechtes auf Umweltschutz empfehlenswert? die Thesen 6 bis 8 zeigen Alternativen; die 9. These ist einer resurnierenden Schlußbemerkung gewidmet. I. Umweltschutz als Staatszweck, Staatszwecke und Grundrechte These 1: Umweltschutz ist eine Ausprägung des wichtigsten Staatszweckes,

Sicherheit zu gewährleisten, und Grundrechtsschutz bedeutet Sicherung des Bürgers.

Unser großer Hamburger Kollege Herbert Krüger11 hat entgegen allen Staatszwecklehren gezeigt, daß a priori keine Aufgabe, die dem Gemeinwohl dient, aus dem Kreis möglicher Staatsaufgaben ausgeschlossen werden kann. Der Staat wählt seine Aufgaben nach historischer und politischer Notwendigkeit aus, wobei er die Grundrechte zu beachten hat. Seine Legitimation, zur existentiellen Vorsorge Umweltschutzaufgaben zu übernehmen, ist also unbestreitbarl2. Umweltschutz ist letztlich eine Aufgabe der Gewährleistung von Sicherheit: Schutz gegen die Zerstörung der lebensnotwendigen Umwelt und Anspruch gegen den Staat auf Gewährleistung einer lebenswerten Umwelt. Unser Verfassungsstaat ist ein sozialer Rechtsstaat (Art. 20, 28 GG). Er hat gegenüber dem Bürger eine dreifache Schutzpflichtl 3 :

n Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 759ff. 12 Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1979), S. 167- 210; Fritz Ossenbühl, Umweltschutz und Gemeinwohl in der Rechtsordnung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1983, München 1983, S. 5- 23; Peter Marburger, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und öffentlichen Rechtes, Gutachten zum 56. Deutschen Juristentag, Berlin 1986, München 1986, S. 9. 13 Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983, S. 17ff.

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- als Staat hat er das Monopol legitimer Machtausübung. Er schützt den Frieden nach außen und innen. Nach innen schützt er den Bürger vor Angriffen anderer Bürger. Das ist die hobbesianische Idee der bürgergerichteten Sicherheit; - als Rechtsstaat garantiert er die Sicherheit des Bürgers gegen ein Übermaß staatlicher Eingriffe, Sicherheit vor staatlicher Willkür. Das ist die Lockesche liberale Freiheit, die Idee der staatsgerichteten Sicherheit; - letztlich trägt er als Sozialstaat Verantwortung für die soziale Sicherheit des einzelnen, Sicherheit vor Lebensrisiken (Krankheit, Arbeitslosigkeit etc.), existenzielle Sicherheit. Das ist die im 19. Jahrhundert zuerst von Robert von Mohl entwickelte Idee der sozialen Freiheit und der sozialen Sicherheit. Die Grundrechte sind wesentliche Wertaussagen des Grundgesetzes. Sie regeln das Verhältnis des einzelnen zum Staat. Folglich spiegeln sich die genannten Sicherheitsaspekte - bürgergerichtete, staatsgerichtete, soziale Sicherheit - im Verständnis der Grundrechte wider. Die geschichtliche Erfahrung des Übermächtigen- absolutistischen-, gar des totalitären Staates hat dazu geführt, daß die Staatsabwehrdoktrin dominiert: Die Grundrechte werden primär als Abwehrrechte gegen den Staat, als Grundrechte im status negativus libertatis, verstanden. Doch schon die Interpretation der Grundrechte als objektive Normen, als Wertentscheidungen der Verfassungsordnung, die in Rechtsprechung14 und Literaturls einhellig anerkannt ist und die sich besonders deutlich bei der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) zeigt, beweist, daß die abwehrrechtliche Sicht der Grundrechte nicht alles ist. Zu denken ist hier in erster Linie an die Schutzpflichtseite der Grundrechte. Die Grundrechte enthalten auch die Freiheitsdimension thematisch korrespondierender objektiver staatlicher Schutzverbürgungen. Das kommt in Art. 1 I 2 GG deutlich zum Ausdruck: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt," gilt aber natürlich auch für die anderen Freiheitsrechte16. Die Schutzpflicht beruht auf der Erkenntnis, daß grundrechtliche Schutzgüter nicht nur durch den Staat, sondern auch durch Dritte gefährdet werden können. Die Schutzpflichtseite, der status positivus liberatis, ist eine Art Kompensation für die fehlende unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Schließlich gibt es auch verfassungsrechtlich verankerte staatliche Leistungspflichten, soziale Grundrechte, Grundrechte des status positivus socialis; zwar nicht ein explizites "Recht auf Arbeit" oder "Recht auf Bildung", aber immerhin doch ein Grundrecht wie Art. 6 V GG: "Den uneheBVerfGE 7, 198 (205); 35, 79 (114); 35, 202 (225f.); 49, 89 (142). Böckenförde, NJW 1974, 1533; Ossenbühl, NJW 1976, 2106; Rupp, Die verfassungsrechtliche Seite des Umweltschutzes, JZ 1971, 401. 16 Isensee, (Fn. 13), S. 27. 14 15

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liehen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern." ß. Inwieweit enthält das Grundgesetz bereits ein "Grundrecht auf Umweltschutz"?

Bei der Würdigung des verfassungspolitischen Vorschlages, ein Umweltgrundrecht einzuführen, ist zunächst einmal zu prüfen, ob dafür überhaupt eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht. Zweifellos ist zunächst der einzelne im traditionellen staatsgerichteten status negativus libertatis geschütztl 7• Wirklich die menschliche Existenz bedrohende Umwelteinwirkungen des Staates, d. h. Eingriffe in ein wörtlich verstandenes "ökologisches Existenzminimum" können grundsätzlich durch Art. 2 II 1 GG (und Art. 1 GG) verhindert werden. Soweit der Staat Umweltgüter schädigt, die sich im Eigentum oder einem- vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus - eigentumsgleichen Recht eines Privaten befinden, wird Art. 14 GG Abhilfe bringen. Es ergibt sich weiterhin die Frage, ob nicht moderne Entwicklungen der Interpretation der klassischen Grundrechte, insbesondere der Rechtsgedanke der staatlichen Schutzpflicht, ein ausreichendes individualrechtliches Instrument zum Kampf gegen Umweltgefahren abgibt, ob nicht m. a. W. dem berechtigten Anliegen des Umweltschutzes- auch über den status negativus hinaus- durch die bestehenden Grundrechte entsprochen wird. These 2: Das Grundgesetz enthält ein "Grundrecht auf Sicherheit" (status positivus libertatis). Ein an den Staat adressiertes Recht auf Sicherheit findet sich schon in den Verfassungen des späten 18. Jahrhunderts. So heißt es etwa in der Verfassung von New Hampshire (1792): "Every member of the community has a right tobe protected by it, in the enjoyment of his life, liberty and property ... ".

und die französische Verfassung von 1793 schützt "L'egalite, la liberte, la surete, la propriete"

Anknüpfend auch an § 1 II 17 des Preußischen Allgemeinen Landrechtes von 1794: "Der Staat ist für die Sicherheit seiner Untertanen, in Ansehung ihrer Person, ihrer Ehre, ihrer Rechte und ihres Vermögens zu sorgen verpflichtet"

kann Sicherheit i. S. eines bürgergerichteten Schutzes der Grundrechte im Blick auf die weitere Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts geradezu 17

Michael Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, Berlin 1978, S. 27.

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als Selbstverständlichkeit des freiheitlichen Staates betrachtet werden, bis hin zu Art. 1 I 2 GG: Die Achtenspflicht wird ergänzt durch die Schutzpflicht. In der Nachkriegszeit trat der status negativus ganz in den Vordergrund. Maßnahmen zum positiven Schutz des Bürgers galt lange nicht als Thema der Verfassung, sondern als Sache des einfachen Gesetzes: des Polizei- und Ordnungsrechtes, des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, des Verfahrensrechtes. In dubio pro libertate war der Schlachtruf. Doch der verdrängte Sicherheitszweck brach mit gesteigerter Gewalt an die Oberfläche im Umweltschutz, vor allem in Sachen Kernenergie. Der Sicherheitszweck erhebt sich sogar zum absoluten Wert, der keine konkreten Werte neben sich duldet. Das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichtsls (1975) wirkte wie ein Paukenschlag. Sein wesentlicher Gedanke ist: das Grundrecht auf Leben, das schon dem Kind im Mutterleibe zukomme, enthalte auch die Pflicht des Staates, sich fördernd und schützend vor das Leben zu stellen, d. h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren, sogar vor Eingriffen der Mutter. Das Grundrecht auf Leben hat also zwei Funktionen: Abwehr des staatlichen Eingriffs, die den status negativus des Grundrechtsträgers ausmacht und die Inpflichtnahme des Staates, den Grundrechtsträger vor der privaten Gewalt zu schützen, also die Tötung des ungeborenen Kindes abzuwehren. Die zweite Funktion konstituiert einen status positivus des Grundrechtsträgers, freilich nur einen objektivrechtlichen Status, dem kein subjektives Recht korrespondiert. Das Bundesverfassungsgericht hat die grundrechtliche Schutzpflicht in mehreren Entscheidungen konkretisiert: etwa im Schleyer-Beschluß von 197719, in den Entscheidungen, die Kernkraftwerke Kalkar2o und MülheimKärlich21 betreffend (1978/79) sowie in der Fluglärmentscheidung von 198122. Hier heißt es etwa, zum grundrechtliehen Schutz der Gesundheit gehöre auch die Pflicht des Gesetzgebers, die grundheitsgefährdenden Auswirkungen des Fluglärms zu bekämpfen. Zusammengeiaßt kann man also sagen: das Grundgesetz enthält ein Grundrecht auf Sicherheit. Sicherheit und Freiheit sind zwei Seiten einer Medaille, verschiedene staatsrechtliche Aspekte derselben Sache: des Lebens, der Freiheit, der Person, des Eigentums wie der sonstigen privaten Rechtsgüter2a. Der Staat hat eine verfassungsrechtliche Garantenstellung, die ihn zum Einschreiten verpflichtet, um Grundrechte zu schützen24 . Dieses 1s E 39, 1 (36 - 51). 19 E 46, 160 (164). 2o E 49, 89 (140- 144). 21 E 53, 30 (57 - 61). 22 E 56, 54 (73 - 80). 23 Isensee, (Fn. 13), S . 32; Kloepfer, Grundrecht, S . 29. 24 Ossenbühl, (Fn. 12), S. 12.

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Grundrecht auf Sicherheit ist ausschließlich staatsgerichtet, hat also keine Drittwirkung, wenngleich man die These Bendas25 akzeptieren könnte, die staatliche Schutzpflicht zur Abwehr von Grundrechtsgefährdungen sei ein wesentlicher "Transmissionsriemen" für die Drittwirkung der Grundrechte. These 3: Konsequenzen und Schranken

Aus der grundrechtliehen Schutzpflicht ergeben sich zusammengefaßt folgende Konsequenzen und Schranken: 1. Die grundrechtliehen Schutzpflichten lassen sich nicht über einen juri-

stischen Leisten schlagen. Die Schutzbedürftigkeit setzt bei den Vitalgütern Leben und körperliche Unversehrtheit früher ein als bei den Sachgütern Eigentum und Besitz26.

2. Die grundrechtliehen Schutzpflichten zeitigen keine unmittelbaren Rechtswirkungen zugunsten oder zu Lasten des Bürgers. Sie bedürfen der Umsetzung durch das Gesetz, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil sie zu abstrakt und konkretisierungsbedürftig sind, und zweitens, weil der Staat zum Schutz des Opfers in Rechte des Störers eingreifen muß, also der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes eingreift. Im Rechtsdreieck Staat- Störer-Opfergibt es- wie im Baurecht- insoweit eine Leistungs- wie eine Eingriffsbeziehung.

3. Wie der Staat seine Schutzpflicht durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen durchsetzen will, ist häufig eine "sehr komplexe Frage" 27 , die von wirtschaftlichen, polizeilichen, haushaltsrechtlichen Gegebenheiten abhängt. Die Verfassung gibt dem Gesetzgeber auf, die geeigneten Mittel zu bestimmen: z. B. polizeiliche Maßnahmen zur Abwehr des Störers zu ergreifen, umweltschädliche Anlagen für genehmigungspflichtig zu erklären, präventive wie repressive Maßnahmen zu ergreifen, durch Eingriff oder Fürsorge zu reagieren usw. Die Verfassung beläßt dem Gesetzgeber m. a. W. Ermessen28, in politischer Verantwortung Vorkehrungen zur Wahrung der Rechtsgüter zu treffen, enthält aber zugleich eine Direktive für Ermessensausübung: Die Gesamtheit der Vorkehrungen muß geeignet sein, dem jeweiligen Rechtsgut tatsächlich Schutz zu gewähren. Die Gefahrenprognose ist in erster Linie Sache des Staates. 4. I.d.R. ist das Grundrecht auf Sicherheit, auch als Umweltgrundrecht, kein einklagbares Grundrecht, dennoch gewährt 'es auch verfassungs25 Ernst Benda, verfassungsrechtliche Aspekte des Umweltschutzes, in: Umweltund Planungsrecht, 2: Jg. 1982, S. 242, 243. 2s Das Bundesverfassungsgericht hat zwar noch nicht bestätigt, daß auch das Recht auf Eigentum Grundlage umweltschutzbezogener Pflichten sein kann, jedoch hat das Bundesverwaltungsgericht wiederholt in diesem Sinne entschieden: E 32, 173 (179); E 59, 253 (260f.). 27 Soell, (Fn. 2), S. 207. 2B Isensee, (Fn. 13), S. 39.

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unmittelbare Ansprüche. Das Bundesverfassungsgericht anerkennt, daß der gefährdete Grundrechtsträger in der Tat vom Gesetzgeber Maßnahmen zur Erfüllung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht verlangen kann29 . 5. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht gerade in den atomrechtlichen Entscheidungen30 verfahrensrechtliche Konsequenzen gezogen: eine intensivere Verfahrenskontrolle - im Genehmigungsverfahren, durch Beteiligung der Betroffenen - muß dann das ersetzen, was das materielle Recht an Grundrechtsgewähr nicht vollleisten kann. 6. Eine weitere wesentliche Schranke eines Umweltgrund- als Sicherheitsrechtes ist die folgende: die staatliche Schutzpflicht knüpft an individuelle Rechtsgüter an: Schutz des Lebens, der Gesundheit, des Eigentums individuell Betroffener. Oft -wie bei der Fernverschmutzung - scheidet die individuelle Zurechenbarkeit aus. Hier kann Umweltschutzpolitik nicht mehr Immissionspolitik, sondern muß vorrangig Emissionspolitik, Vorsorge sein31; an die Stelle der Reaktion tritt Umweltpflege32. ßl. Bedarf es eines über das Grundrecht auf UmweltSicherheit hinausgehenden Grundrechtes auf Umweltschutz?

Zieht man eine Zwischenbilanz, so ergibt sich folgendes: Umweltschutz wird auf einem wichtigen Sektor in der Tat über bestimmte Grundrechte schon vom geltenden Verfassungsrecht gefordert; Umweltschutz ist vom Staat als Aufgabe der Grundrechtsverwirklichung voranzubringen. Dieser Grundrechtsschutz betrifft aber Individualgüter. Sobald Umwelt unabhängig von der konkreten Gefährdung einzelner geschützt werden muß, versagt der Rückgriff auf die staatliche Schutzpflicht. Es besteht also eine Schutzlücke bei den überregionalen und globalen Wirkungen von Luftverunreinigungen, der atomaren Entsorgung, bei Automobilabgasen, beim Verkehrslärm, im Bereich der natürlichen Ressourcen hinsichtlich der Erhaltung der Artenvielfalt, des Bodenschutzes, des Landverbrauches etc. Für die Abwehr nicht gesundheits-oder eigentumsgefährdender Umwelteingriffe des Staates ist also die verfassungspolitische Forderung nach einem neuen Umweltgrundrecht durch das geltende Verfassungsrecht nicht abgedeckt. Darüber hinaus ergibt sich die noch aktuellere Frage, ob es ein soziales Grundrecht auf Umweltschutz geben sollte, das dem einzelnen gegen den Staat ein Leistungsrecht auf Umweltschutz oder doch ein Recht auf Teilhabe an Versorgungsmaßnahmen einräumt33. 29 30

31 32

E 56, 70 (Fluglärm); auch BVerfGE EuGRZ 1983, 572 (Luftverunreinigung). E 49, 89 (140, 144) (Kalkar) und E 53, 30 (57- 61) (Mülheim-Kärlich). Hartkopf-Bohne, Umweltpolitik, Bd. 1, Opladen 1983, S. 91. Ossenbühl, (Fn. 12), S. 9.

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Soweit es zunächst um die Erweiterung des status negativus libertatis und des status positivus libertatis um ein "Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in einer menschenwürdigen Umwelt" (Art. 2 II neu GG)34, so stünde einem möglichen Impulseffekt, einer Stärkung des allgemeinen Umweltbewußtseins, ein Vollzugsdefizit gegenüber. Es bliebe eine mögliche Klarstellungsfunktion, nur eine Wirkung als Abwägungs- und Auslegungshilfe35. Da außerdem im abwehrrechtlichen Teil ein Rechtszuwachs nur außerhalb des mittelbaren Gesundheits- und Eigentumsschutzes zu erwarten steht, und hier effizienzmindernd die Problematik der Abgrenzung von Betroffenheit und Eingriff :mwie die Schrankenfrage hinzukommen, wird der praktische Effekt eines Umweltgrundrechtes eher gering sein36. These 4: Ein rechtswirksames soziales Grundrecht auf Umweltschutz gibt es gegenwärtig nicht. Als Leistungsgrundrechte des status positivus socialis werden Grundrechte verstanden, die eine Leistung vom Staat verlangen, vor allem in Form einer faktischen oder r echtlichen Zuwendung. Soweit soziale Güter sich in staatlicher Verfügungsgewalt befinden, sind die erwähnten sozialen Grundrechte also partielle Leistungsrechte37. Die im Vordergrund auch unserer Verfassungsordnung stehenden liberalen Grundrechte sind vom aufstrebenden Bürgertum in Auseinandersetzung mit dem Absolutismus erkämpft worden. Der dritte Stand benötigte Freiheit von monarchischer Bevormundung und feudalistischen Schranken, um sich vor allem wirtschaftlich entfalten zu können. Die Idee der sozialen Grundrechte entstand im 19. Jahrhundert. Die französischen Frühsozialisten, vor allem Charles Fourier, forderten ein "droit au travail". Die Interessen des im Zuge der individuellen Revolution entstandenen vierten Standes- der Arbeiterklasse- waren mit Hilfe der klassischen Grundrechte nicht zu befriedigen. Bürgerliche Freiheit und Gleichheit bedeuteten den lohnahhängigen Arbeitern wenig, waren doch die sozialen Verhältnisse so beschaffen, daß die Arbeiter der wirtschaftlichen Übermacht der Unternehmer hilflos ausgeliefert waren. Auf den Abbau der rechtlichen sollte der Abbau der sozialen Ungleichheit folgen: das ist die Idee der sozialen Grundrechte3B. Man faßt die sozialen Grundrechte, die vor Kloepfer, Grundrecht, S . 30. So der Vorschlag des Arbeitskreises Umwelt vom 11.03.1974, abgedr. bei Heinhard Steiger, Mensch und Umwelt, 1975, S. 81ff. 35 Lücke verweist allerdings (DÖV 1976, 291) zu Recht auf die Unklarheit eines solchen Umweltgrundrechtes. 36 Kloepfer, Grundrecht, S. 35. 37 Ebd., S. 24. 38 Dazu Georg Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, Tübingen 1971, S. 4ff.; Thilo Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Böckenförde I Jekewitz I Ramm: Soziale Grundrechte, von der bürgerlichen zur sozialen 33

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allem in den sozialistischen Staaten verankert sind, vor allem in drei Gruppen zusammen: - Recht auf Arbeit, - Recht auf soziale Sicherheit, - Recht auf kulturelle Entfaltung. Das Recht auf Umweltschutz39 würde als neue Gruppe hinzutreten. Es gibt soziale Grundrechte in Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland; Art. 6 V GG wurde bereits erwähnt. Art. 86 der BBWVerf umfaßt nach der Änderung vom 10.02.1976 eine objektiv-rechtliche Absicherung des Umweltschutzes, aber kein soziales Umweltschutzgrundrecht40 , und auch Art. 141 III, BayVerf. läßt sich nicht als umfassendes Umweltgrundrecht deuten41 • I!ll übrigen hat Rauschning42 sorgfältig nachgewiesen, daß ein einklagbares Recht des einzelnen auf eine menschenwürdige Umwelt international nicht gewährleistet ist43. Die Bedeutung der internationalen Gewährleistung sozialer Grundrechte ist vielmehr moralisch-politischer, nicht rechtlicher Natur. Die international anerkannten "Grundrechte" sind ihres Anspruchscharakters entkleidet. Man ist versucht zu sagen, das sei die Geschäftsgrundlage ihrer Anerkennung. These 5: Es bestehen überwiegend verfassungspolitische Bedenken gegen die Einführung eines sozialen Umweltschutzgrundrechtes.

Es kann auch nicht empfohlen werden44, ein Umweltgrundrecht als soziales Grundrecht in das Grundgesetz aufzunehmen, und zwar hauptsächlich aus den folgenden Gründen: 1. Ein solches soziales Grundrecht wäre aus sich heraus unvollziehbar. Die

Direktiven zur Vollziehbarkeit bedürften erst noch der gesetzlichen Ausformung. Durch die Verbindlicherklärung eines unvollziehbaren Verfas-

Rechtsordnung, Heidelberg 1981, S. 17 - 34; Jörg Paul Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung, 2. Aufl., Basel1981; Theodor Tomandt, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht Tübingen 1967; Hans Jürgen Wipfelder, Die verfassungsrechtliche Kodifizierung sozialer Grundrechte, ZRP 1986, 140; Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, 1981. 39 Gefordert etwa von H. H. Rupp, im Spiegel, Nr. 20, 1971, S. 74. 40 Kloepfer, Grundrecht, S. 27. 41 a . A. Sening, BayVerwBl. 1976, S. 72ff. 42 VVDStRL 38, S . 172 f. 43 Weder durch die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" noch durch den "UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Rechte" noch durch die "Europäische Sozialcharta" des Europarates, noch durch die "Deklaration der Stockholmer Umweltkonferenz" von 1972 noch durch die Aktionsprogramme Straßburger Gipfelkonferenz der Staaten der Europäischen Gemeinschaft" (1972). Dazu auch ausführlich: Eberhard Klein, Recht auf Umweltschutz als völkerrechtliches Individualgrundrecht in: Jürgen Schwarze I Wolfgang Graf Vitzthum, Grundrechte im nationalen und internationalen Recht. Werner von Simson zum 75. Geburtstag, Baden-Baden 1983, s. 251 - 262. 44 Zusammenfassung der Argumente bei Rauschning (Fn. 12), S. 178, Fn. 31.

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sungssatzes würde erhebliche Rechtsunsicherheit entstehen, da es jedem Gericht und jeder Verwaltungsbehörde freistünde, den Umfang der grundrechtsmäßigen Leistung nach eigenen subjektiven Überlegungen zu bestimmen45. 2. Der Gesetzgeber muß in der Lage sein, Zielkonflikte zwischen Umweltschutz und wirtschaftlicher Entwicklung sowie technischem Fortschritt auf der anderen Seite zu lösen. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Luftverunreinigung und sicherer Energieversorgung, zwischen Naturund Lärmschutz und Straßen- und Autobahnbau, zwischen Naturschutz und Naturgenuß mit Betretungsrechten, das nicht durch ein soziales Umweltgrundrecht einseitig zugunsten des Umweltrechtes aufgelöst werden kann. Das Gemeinwohl besteht aus einer Abwägung von Teilwohlinteressen, die im Zuge einer Prioritätsentscheidung überprüft werden müssen46 • Letztlich ist die Erfüllung des ökologischen Verfassungsauftrages keine Frage der Grundrechtsgewähr, sondern eine solche des objektiven Verfassungsrechtes, insbesondere der legislativen Zuständigkeit. Nur die demokratisch gewählte Volksvertretung ist legitimiert zur Lösung von Zielkonflikten, die für die Gesellschaft so wesentlich sind und gleichzeitig so weit dem politischen Ermessen anheimgestellt werden müssen. 3. Ohne einen Gesetzesvorbehalt wäre die Lage insofern anders, als in Ermangelung einer gesetzgeberischen Konkretisierung des Grundrechtes die Exekutiveinfolge der unmittelbare~ Geltung des Verfassungssatzes verpflichtet wäre, den Inhalt des Grundrechtes selbst zu bestimmen. Die Verwaltung würde legislative Funktionen ausüben. 4. Wegen seiner Unbestimmtheit und Pauschalität ermangelt ein soziales Umweltgrundrecht auch der Justiziabilität. Jedermann könnte sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht wenden. Aber bei einem Feststellungsbegehren würde der Beschwerdeführer mit der gerichtlichen Feststellung, der Gesetzgeber habe durch Untätigkeit gegen die Verfassung verstoßen, wenig gewinnen. Bei einer Leistungsbeschwerde müßte das Verfas·sungsgericht an die Stelle des Gesetzgebers treten47 . 5. Zusammenfassend muß man feststellen, daß es sich bei sozialen Grund-

rechten, der Gewährleistung bestimmter staatlicher Aufgaben und Leistungen in Form individual-rechtlicher Verbürgungen um eine unüberwindbare Kluft zwischen Form und Inhalt handelt. Das Umweltschutzgrundrecht umschreibt im Kern eine ökologische Staatsaufgabe. Ein

Dazu Brunner (Fn. 38), S. 14. Soell (Fn. 2), S. 211. 47 Wie es etwa in der Numerus-dausus-Rechtsprechung des BVerfG (ab E 33, 303) tatsächlich der Fall ist. 4>

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soziales Umweltgrundrecht würde den grundsätzlichen Unterschied zu den Freiheitsrechten verwischen, die- wie Art. 1 III GG sagt- von Natur aus unmittelbar durchsetzbare Ansprüche sind. Die Aufnahme solcher ineffektiver Grundrechte, Programmsätze, Verheißungen widerspricht der verfassungspolitischen Generallinie und dem Stil des Grundgesetzes, das im Kern ein gerichtlich kontrollierbares Rechtsgesetz ist. Deshalb hat Hans Huber4 8 ein solches soziales Umwelt-Grundrecht ein "Quasi-Recht" genannt, ein Produkt unkritischer Konstrukteure, einen Pfropf-Bastard, verfassungsrechtlich nicht normierbar, und Ossenbühl49 spricht von "Verfassungslyrik". Deshalb hat sich auch der 56. Deutsche Juristentag 1986 in Berlin in der Umweltschutzrechtsabteilung gegen eine "Atomisierung dieses Rechtsgebietes durch eine unbegrenzte Stellung des einzelnen als eines Umweltanwaltes" gewandtso. In Wirklichkeit ist der Realitätsgehalt der sozialen Grundrechtsidee von dem Niveau der einfachen (Sozial-)Gesetzgebung und dem wirtschafts-und gesellschaftlichen Entwicklungsstand abhängig. Die juristische Lösung des Problems sozialer Rechte ist nicht in den Höhen des Verfassungsrechtes, sondern in den Niederungen der einfachen Gesetzgebung zu suchen51 •

IV. Alternativen These 6: Die Einfügung einer Absichtserklärung, eines Programmsatzes, eines Bekenntnisses zum Umweltschutz in die Verfassung ist überflüssig.

Vielfach ist vorgeschlagen worden, einen unverbindlichen politischen Programmsatz über den Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, eine Richtlinie für künftig zu gebende Gesetze, die der aktuellen Geltung und Anwendbarkeit entbehren52 , sei es, weil man ein solches Bekenntnis der Öffentlichkeit gegenüber schuldig zu sein glaubt, sei es, weil man das Umweltbewußtsein stärken will. Dieser Anregung gegenüber ist Skepsis angebracht. 1986 werden nicht mehr verbale Kraftakte verlangt, sondern Taten, praktische Phantasie und Durchsetzungsvermögen bei konkreten, genau dosierten und sich in ihrer Vielfalt ergänzenden Einzelmaßnahmen. Das 9ffentliche Umweltbewußtsein ist ohnehin einer etwaigen Verfassungsergänzung längst vorausgeeilt53. 48 Umwelt und Umweltschutz als Rechtsbegriffe, in: Festschrift für Klecatsky, 1. Teilband, Wien 1980, S. 353- 377 (368f.). 49 a. a. 0., S. 13. 50 FAZ v. 13.09.1986. 51 Brunner (Fn. 38), S. 36. 52 Zu dieser Definition Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Auflage, 1933, S . 514ff.

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These 7: Die Aufnahme einer Staatszielbestimmung "Umweltschutz" oder eines Gesetzgebungsauftrages in das Grundgesetz ist nicht zu empfehlen.

Die Kommission "Staatszielbestimmungen" sowie die Hessische und Schleswig-Holsteinische Landesregierung haben vorgeschlagen, eine Staatszielbestimmung "Umweltschutz" in das Grundgesetz aufzunehmen, etwa einen Art. 20 a GG: "Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates"54. Unter Staatszielbestimmungen versteht man Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung - wenngleich nicht individueller Einklagbarkeit -, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung sachlich umschriebener Ziele vorschreiben. Sie wenden sich primär an den Gesetzgeber, können aber auch Auslegungsrichtlinien für Exekutive und Rechtsprechung sein. Staatszielbestimmungen überlassen es der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, in welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt er die Staatsaufgabe erfüllt. Ein Gesetz, das eine Staatszielbestimmung mißachtet, ist verfassungswidrig. Ob es einer besonderen Staatszielbestimmung ."Umweltschutz" bedarf oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um ein Unterziel des sozialstaatliehen Staatszieles handelt, ist umstritten. Soell55 meint, das Sozialstaatsprinzip sei auch die allgemeine Legitimationsgrundlage für die staatliche Verantwortung auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Grundzweck des Sozialstaates sei die Existenzsicherung des Individuums. Beim Umweltschutz gehe es aber um die Daseinssorge im elementar biologischen Sinne der Vorsorge für Gesundheit und Leben dieser 1p1d der kommenden Generation, ferner um die Vorsorge für die materiell-ökonomischen Grundlagen der weiteren Entwicklung der Menschheit. Denn die Club of Rome-Studie "Grenzen des Wachstums" mache ja deutlich, daß der wirtschaftliche Spielraum des Menschen nicht nur durch wachsende Umweltschäden, sondern ebenso durch Raubbau an den vorhandenen Ressourcen zunehmend eingeengt werde. Andererseits wird eingewandt, der Vergleich des Umweltschutzes mit der Sozialstaatlichkeit ziehe nicht: hier handele es sich um die Sozialgebunden53 Hans H. Rupp, Ergänzung des Grundgesetzes um eine Vorschrift über den Umweltschutz? DVBL 1985, 990 - 992 (990). 54 BRDrS 307, 84 (SH); vgl. auch (He) BRDrS 247, 84; ferner Rupp (Fn. 53), S. 991 und Soell (Fn. 2), S. 211. Der Bundesrat hat am 10. Juli 1987 auf Grund des überarbeiteten Entwurfs von Schleswig-Holstein mit Mehrheit folgende Verfassungsänderungsinitiative beschlossen: Art. 20 a Grundgesetz, Absatz 1: · "Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates" . Absatz 2: "Bund und Länder regeln das Nähere in Gesetzen unter Abwägung mit anderen Rechtsgütern und Staatsaufgaben". Die Mehrheit, mit der der Bundesrat den Gesetzesvorschlag beschloß, reicht noch nicht aus, um in der abschließenden Beratung das Grundgesetz zu ändern. Vgl. dazu auch Otto Depenheuer, Politischer Wille und Verfassungsänderung, in: DVBl. 1987, S. 809- 814. 55 In: Wirtschaftsrecht, Heft 1/1973, S. 84.

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heit, die Sozialpflichtigkeit jeder Freiheitsausübung, dort- wie wichtig der Umweltschutz auch sein möge - schlicht um eine Staatsaufgabe unter vielen. Deshalb wird eine explizite Erwähnung des Umweltschutzes empfohlen56. Dieser Anregung sollte jedoch nicht gefolgt werden, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Alle Vorschläge ermangeln der erforderlichen Klarheit: erforderlich ist

nicht nur eine größere inhaltlich-sprachliche Präzision, was gemeint ist, sondern auch ein Hinweis, an wessen Adresse sich die Staatszielbestimmung als Auftrag und Verpflichtung richtet: an die Gesetzgebung, die Verwaltung, die Rechtsprechung.

2. Durch das Herausgreifen eines bestimmten Themas staatlicher Politik geriete das sonst so karge Grundgesetz in einen Umweltschutz-Drive, in dessen Sog leicht vergessen oder verdrängt würde, was der heutige Mensch der Zivilisation verdankt, daß seine Existenz nicht nur von "natürlichen Lebensgrundlagen" abhängt. Jede Verabsolutierung des Umweltschutzes5 7 müßte die Abwägung mit anderen Staatsaufgaben erschweren und liefe im Extremfall der Natur des Menschen zuwider. Um einer solchen Verabsolutierung vorzubeugen, könnte man- neben den schon bestehenden: Frieden, Wiedervereinigung, Europäische Integration, Sozialstaatlichkeit -noch andere Staatsziele erwähnen: Sicherheit und Rechtsvertrauen, Jugend, Arbeit, Gesundheit, Altersversorgung, Datenschutz etc. Die Gefahr der Überfrachtung58 des Grundgesetzes ist dann aber ganz offensichtlich. 3. Das Hauptargument gegen die Einführung einer Staatszielbestimmung in das Grundgesetz ist aber auch hier die Verlagerung der Entscheidungsgewalt auf die Judikative, vornehmlich das Bundesverfassungsgerichtss, das, von Unzufriedenen und der Opposition angerufen, sich vor die peinliche Aufgabe gestellt sähe, Gesetze bzw. ihr Unterlassen an einer Staatszielbestimmung der Verfassung zu messen, die Rechtsnormcharakter hat, andererseits aber so nichtssagend ist, daß ihr Deutungsspektrum fast unbeschränkt ist. Wenn dann die Gerichte mangels anderer Indikatoren ihre eigene Auffassung von Umweltschutz verordnen, sollte man sie nicht schelten: Sie sind dann häufig nur Prügelknaben für schlechte Gesetze und legislatorische Entscheidungsschwäche. 56 So von Bachmaier, Umweltschutz im Grundgesetz, in: Volker Hauff I Michael Müller (Hrsg.), Umweltpolitik am Scheideweg, München 1985, S. 87 - 93 (91); Hartkopf-Bohne (Fn. 31), S. 76; Pernthaler, Bemerkungen zum Recht auf Umweltschutz, in: Rack, Grundrechtsreform, Wien, Köln 1985, S. 205- 214 (207). 57 Rauschning, DÖV 1986, 494. 58 Kommission, S. 91. 59 Rauschning, DÖV 1986, 495.

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4. Eine Kosten-Nutzen-Analyse zeigt, daß dem Nutzen: Hinweisfunktion, Appellfunktion, evokatorisch-pädagogische Funktion, Disziplinierungsfunktion, Legitimationsfunktion für die Beschränkung von Freiheitsrechten - beträchtliche Kosten gegenüberstehen: ein Systembruch und die Weckung von Erwartungen, die nicht erfüllt werden könnenso. 5. Letztlich bietet eine Globalregelung der Umweltprobleme auf hohem Abstraktionsniveau dem Politiker kaum Entscheidungshilfen. Die eigentliche Aufgabe der Umweltpolitik besteht darin, konkrete Umweltgefahren rechtzeitig zu erkennen, Lösungsansätze, die auch ökonomisch tragbar sind, zu entwickeln, und dann auch strikt durchzusetzen5 1 . Statt nach Himmelszielen zu streben, müssen dicke (Umwelt-)Bretter beharrlich gebohrt werden. These 8: Denkbar erscheint eine Ergänzung von Art. 1 GG. Voraussetzungen einer empfehlenswerten verfassungsrechtlichen Lösung sind die folgenden: - eine Umweltschutznorm darf nicht als Anspruchsnorm ausgestaltet sein; - sie sollte rechtsverbindlich sein; - es sollte der Eindruck vermieden werden, als sei der Schutz der "natürlichen Lebensgrundlagen" das einzige, primäre oder auch nur vorrangige Staatsziel; - die Vorschrift sollte in der Verfassung kein Fremdkörper darstellen. Art. 1 GG ist Fundamentalnorm des Grundgesetzes. Sie erklärt die Würde des Menschen zum obersten Konstitutionsprinzip der Verfassung. Das Menschenbild des Grundgesetzes zeigt den Menschen nicht nur in sozialer, kultureller, zivilisatorischer Gemeinschaft mit anderen Menschen, sondern zugleich in Symbiose mit der belebten und unbelebten Welt, als deren Teil er sich zu empfinden wieder gelernt hat. Deshalb könnte der Umweltschutz, wie folgt, im Grundgesetz verankert werden: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen und die Grundlagen des menschlichen Lebens zu sichern und zu bewahren, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt"62.

Deswegen ablehnend Kloepfer, Grundrechte, S. 38. Pernthaler (Fn. 56), S. 213; Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltgutachten 1978, BTDrS 8/1938, Tz. 6; Werner Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, Mitbericht, VVDSTRL 38 (1979), S. 211-317. 62 So der Vorschlag von Rupp, DVBl. 1985, 992. In ähnlicher Richtung schon die Bundesregierung der sozialliberalen Koalition im Umweltprogramm vom 14.10. 1971, BTDrS VI 2710, S. 9; so auch Soell (Fn. 2), S. 212; ablehnend Rauschning (Fn. 12), S.181: Die Menschenwürde sei ein zu erhabener und abstrakter Wert, um in kleiner Münze eingesetzt zu werden. 60

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Schlußbemerkung These 9: Umweltschutz ist eher ein Detail- als ein Globalproblem.

Lassen Sie mich eine resümierende Schlußbemerkung in wenigen Stichworten zusammenfassen: 1. Die Arbeit am Umweltschutzdetail - auch am rechtlichen Detail - ist

jeder Globalregelung vorzuziehen. Man wird sehen, ob nicht beim ·Umweltschutz - wie bei der Planung Anfang der 70er Jahre .-, - die Umweltschutzpolitik an ihrem eigenen Globalanspruch erstickt und dem Kollaps zusteuerts3. Auch in der Politik gibt es Moden.

2. Vordringlich ist die Bewältigung konkreter Aufgaben: in der Lärmbekämpfung, der Luftreinhaltung, beim Schutz der biologischen Umwelt, beim Gewässerschutz, in der Abfallbeseitigung. 3. Es gibt eine verfassungsrechtliche Koordinationspflicht aller betroffenen Gebietskörperschaften auch im Umweltschutz, der grenzübergreifend sein muß64 •

4. Das "Recht auf Umweltschutz" ~st praktisch vor allem ein verfahrensrechtliches Problem: ohne geeignete verfahrensrechtliche Vorkehrungen bleiben alle materiellen Garantien wirkungslos oder gar bloße Täuschung des Staatsbürgers. Das betrifft die Parteistellung der Umweltgeschädigten, Partizipationsfragen u. ä. 5. Letztlich - und wie eigentlich bei den meisten politischen Fragen kommt es für die Akzeptanz eines verstärkten Umweltschutzes entscheidend auf den gesellschaftlichen Konsens an. Verfassungsbestimmungen haben demgegenüber nur eine marginale Bedeutung. Zu Recht trauen wir Juristen uns einiges zu. Aber wir sollten uns nicht zu viel zutrauen.

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Ossenbühl (Fn. 12), S . 10. Pernthaler (Fn. 56), S. 212.

Finanzierung des Umweltschutzes und Umweltschutz durch Finanzierung Von Peter Selmer I. Vorbemerkung Das außerfinanzrechtliche Regulierungsinstrumentarium (Überblick)

Die Ausgangssituation des Themas ist schnell beschrieben: Die lange Jahre weitgehend sorglose und häufig leichtfertige Inanspruchnahme von Umweltgütern- Luft, oberirdischen Gewässern, Boden und Grundwasser, Natur und Landschaft - hat uns zwischenzeitlich Schäden und damit Lasten größten Ausmaßes beschert. Das Umweltbundesamt bezifferte Anfang des Jahres 1986 allein die Kosten für die Untersuchung, Bewertung und Sanierung der 30 000 früheren Abfalldeponien und 5000 Industriestandorte in der Bundesrepublik mit West-Berlin auf ungefähr 17 Milliarden Mark - ausgehend davon, daß etwa zehn Prozent der Altdeponien und jeder zweite der ehemaligen Industriestandorte sanierungsbedürftig seienl. Andere Kostenvoranschläge mit abweichenden Bewertungen zum Gefahrenrisiko kommen auf einen Betrag von bis zu 50 Milliarden Mark2 , die sonstigen Umweltschäden wie insbesondere die sogenannten "neuartigen Waldschäden"3 nicht einmal gerechnet, nicht gerechnet ferner auch die finanziellen Aufwendungen, die zur Vermeidung künftiger Altlasten4 erforderlich sein werden. 1 Vgl. etwa die Angaben bei Dietrich, Die Sorglosigkeit der Industriegesellschaft kommt die nachindustrielle teuer zu stehen, FAZ v. 7.1.1986, S. 4; ferner in BTDrucks. 10/5529, S. 1; BT-Prot. 10/225, S. 17504 (B). 2 BT-Drucks. 10/5527, S. 1. 3 Vgl. dazu näher unten bei und in Fn. 14ff. 4 Zur Problematik der sog. Altlasten vgl., jew. m . weit. Nachw., Scheier, Abfallrechtliche, wasserrechtliche und ordnungsrechtliche Probleme der Sanierung von ,Altlasten', ZfW 1984, 333; Papier, Altlasten und polizeirechtliche Störerhaftung, 1985 (gekürzt in DVBL 1985, 873); ders., Die Verantwortlichkeit für Altlasten im öffentlichen Recht, NVwZ 1986, 256; Schink, Abfallrechtliche Probleme der Sanierung von Altlasten, DVBL 1985, 1149; ders., Wasserrechtliche Probleme der Sanierung von Altlasten, DVBL 1986, 161; Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, 1985; Herrmann, Tagungsbericht ,Erstes Trierer Kolloquium zum Umweltund Technikrecht: Altlasten und Umweltrecht', DVBl. 1986, 135; Knauber I Nacke, Altlasten und Umweltrecht (Tagungsbericht), NJW 1986, 1091; Striewe, Rechtsprobleme der Altlastenbeseitigung, ZfW 1986, 273; Breuer, ,Altlasten' als Bewährungsprobe der polizeilichen Gefahrenabwehr und des Umweltschutzes, JuS 1986, 359;

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Das zur Verfügung stehende Instrumentarium der Rechtsordnung erweist sich demgegenüber, läßt man einmal das Steuer- und sonstige Abgabenrecht vorerst aus dem Spiele, ersichtlich als unzureichend: Die durch§ 10 II des Abfallbeseitigungsgesetzes (künftig: Abfallgesetzes 5 ) 1972 eingeführte Möglichkeit, den Inhaber einer stillgelegten Abfallbeseitigungsanlage zur Sanierung des Geländes zu verpflichten, hat sich, soweit die Vorschrift anwendbar ists, bisher offenbar nicht als wirksamer Ansatz einer Altlastenbereinigung erwiesen7 • Entsprechendes gilt für die Regeln des allgemeinen Polizeiund Ordnungsrechts, soweit sie neben dem Abfallbeseitigungsrecht in Betracht kommen. Eine sicherheitsrechtliche Verantwortlichkeit früherer Deponiebetreiber wie auch eine solche von Betreibern früherer Industriestandorte scheitert möglicherweise bereits, was freilich noch der tieferen Klärung bedarf, an einer Legalisierungswirkung der vorhandenen öffentlich-rechtlichen (Anlagen- und/oder Betriebs-)Genehmigungen8 . Auf sie können sich gegebenenfalls auch die nichtbetreibenden Grundstückseigentümer (z. B. die Verpächter) berufen. Aber auch die Deponiebeschicker, die sogenannten Abfallerzeuger, werden schwerlich mit Erfolg heranzuziehen sein, sofern sie sich im Rahmen der- zumeist von der öffentlichen Hand formulierten- Alllieferungsbedingungen gehalten haben9 • Der Versuch der Freien- und Hansestadt Harnburg als ehemaliger Betreiberin der Deponie Georgswerder, einige wirtschaftsstarke Unternehmen unbeschadet durchgehend bedingungskonformer, noch dazu kostenpflichtiger Anlieferungen nachträglich als Verhaltensstörer zur Mitfinanzierung der Sanierung zu veranlassen, dürfte spätestens vor den Verwaltungsgerichten sein Ende finden. Die geltende polizeirechtliche Verhaltensverantwortlichkeit verträgt nun einmal keine - und schon gar keine verwaltungsmäßige und noch dazu rückwirkende - Ausweitung zu einer rein kausalorientierten "Abfallproduzentengefährdungshaftung"10. Das allgemeine Gerechtigkeitsgebot besagt Sander, Zur Altlasten-Sanierung, BauR 1986, 657; OVG Münster, NVwZ 1985, 355; VGH München, NVwZ 1986, 942 = DÖV 1986, 976 = DVBL 1986, 1283. Seither vgl. noch Diederichsen, BB 1986, 1723; Brandt I Lange, UPR 1987, 11; Lenz, BauR 1987, 391; Schink, BauR 1987, 397; Breuer, NVwZ 1987, 751. s Allg. zur Reform des Abfallrechts durch das Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen (Abfallgesetz) vom 27.8.1986 (BGBl. I, 1410, berichtigt BGBL I, 1501) vgl. Eckert, NVwZ 1986, 898. s Vgl. hierzu die Bemerkungen bei Herrmann, DVBl. 1986, 135 (136); Arndt, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. (1986), S. 728 m. Fn. 310; Schink, DVBL 1985, 1149 (1157). 7 Zur Auslegung des § 10 II AbfG vgl. aus der Judikatur VGH Kassel, ZfW 1986, 376. s Zur sog. Legalisierungswirkung behördlicher Genehmigungen, Erlaubnisse und anderer Gestattungsakte vgl. etwa Papier, NVwZ 1986, 256 (257); (bei) Herrmann, DVBL 1986, 135 (136); Schink, DVBl. 1986, 161 (166); Breuer, JuS 1986, 359 (362); Striewe, ZfW 1986, 273 (284); vgl. auch BVerwGE 55, 118 (120ff.). 9 Ebenso etwa Papier, NVwZ 1986, 256 (257ff. m. weit. Nachw.); Schink, DVBl. 1986, 161 (166f.); Arndt (Fn. 6), S. 729; a.A. Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S. 11 ff., 51ff.

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nichts anderes: Wer seinen Müll - zumal gegen Entgelt - einer von der öffentlichen Hand betriebenen Deponie anvertraut, darf damit rechnen, daß jener sachgerecht und gefahrenfrei gelagert wird. Störer aber ist er nicht; denn wie anders hätte er sich verhalten sollen? Wie das Polizei- und Ordnungsrecht mit seinen speziellen Heranziehungsvoraussetzungen, so enthält unsere Rechtsordnung auch ansonsten keine Haftungsinstrumente, die über mehr segmentale Bereiche hinaus einen großflächigen Schutz vor und Ausgleich von Umweltschäden bewirken könnten, von Beweisführungsproblemen ganz abgesehen. So regelt etwa die wasserhaushaltsrechtliche Gefährdungshaftung des§ 22 WHG für Schäden durch Veränderungen der Wasserbeschaffenheit zwei eng begrenzte Spezialfälle, deren besondere Voraussetzungen der BGH durchaus strikt interpretiertll. Entsprechendes gilt für die an die Verkehrssicherungspflicht im Rahmen der Verschuldeoshaftung des § 8231 BGB angeseilte Haftung der Abfallproduzenten, die zu überdehnen sich der BGH ebenfalls ausdrücklich geweigert hat1 2 • Auch andere Haftungsregelungen, wie der Ausgleichsanspruch des duldungspflichtigen Nachbarn nach§ 906 II S. 2 BGB oder der Schadensersatzanspruch duldungspflichtiger Dritter bei unanfechtbar genehmigten Anlagen nach § 14 S. 2 BimSchG, vermögen schwerlich umweltschutzrechtliche Breitenwirkung zu entfalteni3. Eine solche Breitenwirkung träte für einen gewichtigen Teilbereich allerdings zutage, sollte den anhaltenden Versuchen geschädigter Waldeigentümer letztlich Erfolg beschieden sein, auf der Grundlage vor allem der Amtshaftungsvorschriften (§ 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG) und des Art. 14 GG von der Bundesrepublik Schadensersatz bzw. Entschädigung wegen der sog. "neuartigen Waldschäden" zu erlangen14• Die Oberlandesgerichte Köln, München und Stuttgart 10 Einer solchen zuneigend aber Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S . 18f. 11 So wird insbesondere die Frage, ob ein lediglich mittelbares Hineingelangen von Abfallstoffen den Anforderungen des § 22 li WHG genügt, durchgehend verneint: Vgl. BGHZ 62, 351; BGH, NJW 1976, 46; BGHZ 76, 35 = NJW 1980, 943 = ZfW 1980, 356. 12 Vgl. BGH, NJW 1976, 46 = BB 1975, 1503 = JuS 1976, 188 Nr. 5; vgl. zu dieser Judikatur auch Eckert, Die Entwicklung des Abfallrechts, NVwZ 1985, 388 (395); Ekrütt, Verkehrssicherungspflicht bei der Abfallbeseitigung, NJW 1976, 885. 13 Dazu vgl. näher etwa Hager, Umweltschäden - ein Prüfstein für die Wandlungsund Leistungsfähigkeit des Deliktsrechts, NJW 1986, 1961 (1962); Medicus, Zivilrecht und Umweltschutz, JZ 1986, 778 (passim); vgl. auch den Bericht über Verlauf und Ergebnisse der umweltrechtlichen Verhandlungen des 56. DJT, NJW 1986, 3063 (3064f., 3070ff.). 14 Vgl. dazu aus dem Schrifttum Murswiek, Entschädigung für immissionsbedingte Waldschäden, NVwZ 1986, 611 ; Breuer, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des öffentlichen Rechts, DVBL 1986, 849 (853); Schröder, Waldschäden als Problem des internationalen und des europäischen Rechts, DVBL 1986, 1173; Herrmann, DVBl. 1986, 1261 (Tagungsbericht); zuletzt Schwabe, JZ 1987, 91; Langer, NVwZ 1987, 195; Murswiek, NVwZ 1987, 481; Boujong, UPR 1987, 81.

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haben freilich in den letzten Monaten entsprechende Klagen durchgehend als unbegründet abgewiesenls, vor allem mit der an die Judikatur des BVerfG16 angelehnten Begründung, die Bundesrepublik habe ihre Schutzpflichten zur Verhinderung von Luftverschmutzungen jedenfalls nicht "evident" verletzt. Es darf, wie hier nicht näher erläutert werden kann, angenommen werden, daß der jetzt zur Entscheidung aufgerufene BGH dem folgen wird. Scheitern dürfte schließlich auch der in der Zivilrechtslehre- insbesondere von Köndgen- gemachte Vorschlag, die interprivate Bewältigung des Umweltschutzes dadurch auszuweiten, daß "die Umwelt selbst oder besser: konkret benannte Umweltgüter" wie "saubere Luft, sauberes Wasser oder der Lärmschutz" zu "sonstigen Rechten" im Sinne des§ 823 I BGB erhoben werden 17. Denn das Unterfangen, die allgemein zugänglichen Umweltgüter als Gegenstand subjektiver Rechte zugunsten einzelner Personen zu privatisieren, wirft notwendig die Frage nach der gerechten Rationierung von Umweltgütern, genauer: nach den anzuwendenden Rationierungsmaßstäben auf. Diese in der Tat sich künftig unabweisbar stellende Grundsatzfrage zu beantworten, ist indes angesichts ihrer Bedeutung für die Grundrechtsentfaltung aller Bürger allein Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers: ihre Beantwortung darf schlechthin nicht der Zivilrechtsjudikatur zu § 823 I BGB überlassen werdenls. Abgesehen von dem damit wohl auch in Zukunft mehr punktuellen Charakter einer Selbstregulierung der Umweltbeziehungen durch Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche19 ist auf eine entscheidende Crux dieser Selbstregulierung hinzuweisen. Denn: Entfalten Schadensersatz- und Entschädigungsregelungen auch einen immerhin reflexartigen Schutz der Umwelt, weil sie das Umweltverhalten der potentiell Anspruchsbedrohten positiv zu steuern vermögen, so tragen sie doch zu dem Problem der Finanzierung des Umweltschutzes nichts Entscheidendes bei. Denn niemand ist nach geltendem Recht verpflichtet, die ihm aus einer Umweltschädigung zuwachsenden Ersatz- oder Entschädigungsleistungen, soweit nach der Eigenart der Konstellation denkbar, tatsächlich ganz oder teilweise für OLG Köln, NJW 1986, 589 m . Anm. v. HiJ~pel; OLG München, NVwZ 1986, 691 BayVBl. 1986, 633; OLG Stuttgart, Urt. v. 22.10.1986, FAZ v. 23.10.1986, S. 9. 16 BVerfG, NJW 1983, 2931 (2932); zust. Breuer, DVBl. 1986, 849 (853 m. weit. Nachw.). Zum Thema der Schutzpflichten vgl. seither noch Murswiek, WiVerw 1986, 179; Langer, NVwZ 1987,195. 17 Vgl. Köndgen, Überlegungen zur Fortbildung des Umwelthaftpflichtrechts, UPR 1983, 345 (349f.); ablehnend Medicus, JZ 1986, 778 (779f.); 56. DJT, NJW 1986, 3072 (C III 37). 18 So auch Medicus, JZ 1986, 778 (779 m. weit. Nachw.). 19 Zum haftpflichtversicherungsrechtlichen Aspekt des Themas vgl. etwa SchmidtSalzer, Umwelt-Altlasten und Haftpflichtversicherung. Oder: Das übersehene Risiko, BB 1986, 605; Sander, BauR 1986, 657 (661). 15

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Zwecke der Umweltrestitution, etwa die Reinigung seines Gewässers oder die Wiederaufforstung seines Waldes zu verwenden2o. Es ist gewiß eine interessante und, soweit ich sehe, bisher noch nicht untersuchte Frage, ob es zweckmäßig wäre und rechtlich von der Gemeinwohlverpflichtung des Bürgers getragen würde, eine solche umweltschutzorientierte Verwendung einschlägiger Ersatz- oder Entschädigungsleistungen gesetzlich festzuschreiben, wenn und soweit der angerichtete Schaden sich gerade auch als Umweltschaden darstellt. Ich selbst neige dazu, diese Frage zu bejahen, kann und will ihr aber im Zusammenhange meines in andere Richtung weisenden Themas nicht vertiefend nachgehen. ll. Die Bewältigung des Umweltschutzes als Problem des Finanzverfassungs- und Abgabenrechts Angesichts des skizzierten außerfinanzrechtlichen Befundes erscheint es nur natürlich, daß der Blick vieler sich immer nachhaltiger auf andere, insbesondere staatliche oder staatlich vermittelte Möglichkeiten der finanziellen Bewältigung des Umweltschutzes richtet21 . Im Ansatz maßgebend ist der Lastenverteilungsgrundsatz des Art. 104a I GG. Danach tragen der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Die Tragung der Kosten des Umweltschutzes ist auf dieser Grundlage gegenwärtig weitgehend eine Sache der Länder, sei es, daß sie nach Art. 83 GG Umweltschutzgesetze des Bundes als eigene Angelegenheit ausführen, sei es, daß die Aufgaben, wie vor allem auch die der Altlastensanierung, mangels spezieller Zuweisung nach Art. 30 GG in ihre Verantwortung fallen. Letzteres hat Bedeutung übrigens auch für die künftige Bereitstellung einer ausreichenden, d. h . vor allem gefahrenfreien Industriemüllentsorgung. Daß das Abfallgesetz die Entsorgung von sogenannten Sonderabfällen potentiell den Erzeugern überläßt (§ 3III, IV AbfG)2 2, enthebt die 2o Vgl. BGHZ 61, 58; 66, 241; 76, 221.

21 Vgl. dazu etwa Soell, Finanz- und steuerrechtliche Fragen des Umweltschutzes, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 1982, S. 635; Cansier, Steuer und Umwelt: Zur Effizienz von Emissionsabgaben, in: Staatsfinanzierung im Wandel, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, n .F . Bd. 134, 1983, S. 765 ; Hartje, Fonds für die Sanierung von Altmülldeponien?, Wirtschaftsdienst 1986, 98; v . Hippel, Reform des Ausgleichs von Umweltschäden?, ZRP 1986, 233; Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S. 102ff.; Barth, Weitere steuerliche Begünstigungen für Umweltschutzinvestitionen, auch im Bereich der Gewerbekapital- und Vermögensteuer?, DB 1986, 73; 56. DJT, NJW 1986, 3073 (E 59- 61). Vgl. ausführlich jüngst noch Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986; ferner F. Kirchhof, DVBL 1987, 554; Pietzcker, DVBL 1987, 774. Vgl. auch Fn. 32. 22 In Verbindung mit den entsprechenden landesrechtliehen Ausführungsbestimmungen: Vgl. z. B. in Harnburg § 2 HAAbfG und die hierauf gestützte VO über den Ausschluß von der staatlichen Abfallbeseitigung.

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Länder gegebenenfalls nicht ihrer staatlichen (Daseins-)Vorsorgeaufgabe, bei der Schaffung der notwendigen Einrichtungen zur Entsorgung des im Lande anfallenden Sondermülls- und zwar auch finanziell- mitzuwirken23. Sie dürfen sich daher nicht darauf beschränken, die Unternehmen auf ihre Entsorgungspflicht nach Maßgabe der Abfallgesetzgebung zu verweisen und sich im übrigen auf eine Rolle bei der Planfeststellung und Genehmigung zurückziehen. Dem Bunde seinerseits ist allerdings die Mitfinanzierung in den hier in Rede stehenden Bereichen finanzverfassungsrechtlich keineswegs durchgehend verwehrt. Unberührt bleiben naturgemäß schon die Möglichkeiten einer mittelbaren Mitfinanzierung durch den Bund über die Gewährung steuergesetzlicher Vergünstigungen. Von ihnen hat der Gesetzgeber Gebrauch gemacht insbesondere durch die Sonderabschreibungen für Umweltschutzinvestitionen gemäߧ 7 d EStG 1975 24, die nach Maßgabe des auf ihn entfallenden ESt-Aufkommens (Art. 106 III GG) zu Lasten des Bundes gehen. Aber auch ansonsten ist dieser, mag ihm dies nun lieb sein oder nicht, sehr wohl in der Lage, weitere Lasten im Bereich des Umweltschutzes auf sich zu nehmen. So eröffnet Art. 104a II GG ihm die Möglichkeit, im Rahmen seiner Gesetzgebungszuständigkeiten auf dem Gebiet des Umweltschutzes Geldleistungen an Private zu regeln und hierfür ganz oder teilweise auch die Finanzverantwortung zu übernehmen. Etwa mag in Erwägung zu ziehen sein, daß der Bundesgesetzgeber in das gemäß Art. 75 Nr. 3 GG erlassene Gesetz über Natur und Landschaftspflege Leistungsregelungen über Wiederaufforstungsbeihilfen mit einer entsprechenden Kostenübernahmeklausel einfügt, soweit der Rahmencharakter des Gesetzes dadurch nicht in Frage gestellt wird. Mit Recht hält der Bund selbst darüber hinaus auch eine Mitfinanzierung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" nach Art. 91 a GG i. V. mit dem entsprechenden Gemeinschaftsaufgabengesetz für zulässig und tunlich2 5 • Sie kommt auf diesen Grundlagen - mit einer hälftigen Ausgabenbeteiligung (Art. 91a IV GG)- zur Förderung der Sanierung kontaminierter Flächen (Altstandorte) in Betracht, soweit diese Flächen in den Fördergebieten der Gemeinschaftsaufgabe liegen und sie zur Wiedernutzbarmachung für gewerbliche Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Ungleich schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob die Finanzhilfekompetenz des Bundes nach Art. 104a IV GG eine verfassungsrechtliche 23 Unzutreffend insoweit die apodiktische Feststellung von Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S. 105, die Beseitigung von Industrieabfällen sei "keine Aufgabe staatlicher Daseinssorge". 24 Vgl. dazu für den vorliegenden Zusammenhang etwa Kloepfer, Umweltschutz durch Abgaben, DÖV 1975, 593 (595); Soell (Fn. 21), S. 650ff.; Barth, DB 1986, 73 (75). 25 Vgl. die entsprechende Äußerung des BM Dr. Wallmann vor dem Bundestag, BTProt. 10/225, S. 17503 (C).

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Finanzierungsbasis bietet26 . Dieser Bestimmung zufolge kann bekanntlich der Bund den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind. Bei der Umsetzung dieser Voraussetzungen ist vor allem im Auge zu behalten, daß Art. 104a IV GG kein Instrument einer legitimen Korrektur des vertikalen Finanzausgleichs ist27 . Es bedarf daher jeweils, will man nicht die Ordnungs- und Disziplinierungsfunktion2s der klaren Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern gemäß Art. 104a I GG unterlaufen, einer strikten Prüfung, ob es sich in concreto tatsächlich um förderungsfähige Investitionsbereiche, d. h. um solche mit einem spezifischen Bezug zur gesamtstaatlichen Konjunkturoder Strukturpolitik handelt. Die Altlastensanierung indiziert nach meiner Überzeugung als solche einen förderungsfähigen Investitionsbereich gemäß Art. 104a IV GG nicht29; sie ist als globale Sammelbezeichnung für einen Vorgang der umweltschutzrechtlichen Gefahrenabwehr insoweit ohne Aussagekraft. Aus diesem Grunde erscheint die kürzliche Feststellung des Bundesministers für Umwelt, im Rahmen der Städtebauförderung stünden als Finanzhilfen des Bundes ebenfalls "Mittel zur Altlastensanierung in Höhe von 2,3 Milliarden DM zur Verfügung"ao, abgesehen von ihrer zur Zeit fragwürdigen einfachgesetzlichen Absicherung schon finanzverfassungsrechtlich nicht unproblematisch. Auf einen originellen Versuch der Bundestagsfraktion DIE GRÜNEN, das gesamte Aufkommen einerneuen Steuer als Finanzhilfe des Bundes in den Dienst einer thematisch nahezu unbegrenzten Altlastensanierung zu stellen31 , werde ich noch zurückkommen. Mit der Nennung der Steuer sind wir indes beim Kernpunkt des Themas, spielt doch in der Diskussion der Bezüge von Umweltschutz und Finanzierung zumeist weniger das Problem eine Rolle, wie die Tragung der Lasten des Umweltschutzes auf Bund und Länder verteilt ist, als das weitere, woher der jeweilige Lastenträger sich die notwendigen Mittel beschafft. In der Tat ist der Einsatz des abgabenrechtlichen Instrumentariums in der letzten Zeit zunehmend in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses gerückt. Das hat gewiß einmal den Grund, daß es naturgemäß einfacher ist, neue Abgaben zu 26 Vgl. zur Auslegung des Art. 104a IV GG vor allem BVerfGE 39, 96 (107); 41, 291 (304); s. dazu auch Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 238 (243). 27 BVerfGE 39, 96 (108); Selmer, AöR 101 (1976), S. 238 (245f.). 28 Dazu Selmer, AöR 101 (1976), S. 238 (246). 29 A. A. die Fraktion DIE GRÜNEN in der Begründung des von ihr am 21.5.1986 vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zur Beseitigung von Altlasten (Altlastenfondsgesetz), BT-Drucks. 10/5529, S. 6f. 3o BT-Prot. 10/225, S. 17503 (C). 31 Vgl. den in Fn. 29 genannten Entwurf.

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erfinden als sich über die Verteilung der vorhandenen Mittel Gedanken zu machen, zumal dann, wennes-wie häufig- bei dem vorgeschlagenen Abgabenzugriff weder um einen Griff in die eigenen Taschen noch um einen in die Taschen derer geht, die dem politisch nahestehenden Wählervolk zuzurechnen sind. Hinzu kommt die weitere Einsicht, daß sich vermittels Abgabenerhebung nicht nur Mittel für die Finanzierung von Aufgaben des Umweltschutzes beschaffen lassen. Abgaben stellen vielmehr, wenn die Zahlungspflicht durch ein umwelttangierendes Verhalten ausgelöst wird, als solche auch ein potentiell wirksames Mittel des Umweltschutzes dar32 in der Weise, daß sich an die Normierung des Belastungstatbestandes die Hoffnung auf eine umweltschonende Vermeidung des Tatbestandes durch die Adressaten knüpft, während mit der Erhebung der Abgabe bei Verwirklichung des Tatbestandes die Erwartung verbunden wird, der Zahlungspflichtige werde jedenfalls in Zukunft nach Möglichkeit von der unerwünschten Inanspruchnahme des betreffenden Umweltgutes absehen. Insofern mag man in der Tat, womit der zweite Aspekt meines Themas angesprochen ist, von Umweltschutz durch Finanzierung sprechen. In der Gesetzgebungspraxis wie auch in der politischen Diskussion neuer Umweltabgaben sind freilich zumeist beide Aspekte - die Finanzierungsund die Interventionsambition- in einer häufig nicht einfach zu entwirrenden Gemengelage miteinander verbunden; nicht selten ist kaum zu ermitteln, ob die Initiatoren der jeweiligen Abgabe mehr die Einnahmeerzielung, mehr die Lenkung oder noch andere Zwecke als wesentliche Funktion der Abgabe in den Vordergrund gestellt sehen wollen bzw. wollten. Die Abwasserabgabe33, die das Einleiten von Abwässern nach Maßgabe ihres jeweiligen Schadstoffgehalts belastet und deren Aufkommen zweckgebunden für Maßnahmen zur Erhaltung oder Verbesserung der Gewässergüte verwendet wird, bildet von den bereits praktizierten Umweltabgaben ein besonders anschauliches Beispiel für die schwer zu gewichtende Funktionenvielfalt 32 Vgl. dazu näher Salzwedel, Studien zur Erhebung von Abwassergebühren, 1972; Bullinger, Rechtsfolgen des Verursacherprinzips beim Umweltschutz, in: Das Verursacherprinzip und seine Instrumente. Eine interdiszipl~äre Untersuchung, 1974, S. 15ff., 69ff. ; Kloepfer, Umweltschutz durch Abgaben, DOV 1975, 593; Eberlein, Die Ausgleichsabgabe, Diss. Mainz 1975, S. 135; Boehm, Verursacherprinzip und Abgaben, DÖV 1975, 597 ; Voigt, Umweltabgaben im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftslenkung und Kostenzurechnung, DVBL 1980, 985; Auer, Sonderabgaben , 1980, S. 126; Karte, Die Erhebung einer Abgabe auf die Luftverunreinigung durch Kraftfahrzeugabgase, Diss. Freiburg/Br. 1980, passim; Soell (Fn. 21), S . 638f. und passim; Consier (Fn. 21), S. 765f. und passim; Schröder, Lenkungsabgaben im Umweltschutzrecht am Beispiel der Abwasserabgabe, DÖV 1983, 667; Werner I Zacharias, Die Verfassungsmäßigkeit von Sonderabgaben als Finanzierungs-, Ausgleichs- und Lenkungsabgaben-dargestellt am Beispiel von Abgaben auf Einwegverpackungen, DB 1984, 1283; Breuer, Umweltschutzrecht, in: v.Münch (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 7. Aufl. (1985), S. 535 (573ff.). Vgl. auch Fn. 21. 33 Eingeführt durch das Abwasserabgabengesetz v. 13.9. 1976 (BGBL I, 2721, ber. 3007); s. auch Fn. 34.

Finanzierung des Umweltschutzes und Umweltschutz durch Finanzierung

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vieler dieser Abgaben34. Stellen die einen als prägend (auch) den Einnahmeerzielungszweck der Abwasserabgabe heraus, so betonen andere die finanzielle Abgeltung der - möglicherweise schädigenden - Gewässerinanspruchnahme als eine wesentliche Funktion; andere Stimmen wiederum halten eine interventionistische Zielsetzung der Abwasserabgabe für ihren maßgeblichen Erhebungszweck- sei es, daß sie diese Zielsetzung vorzüglich in einer umweltpolitischen Lenkung der Gewässernutzung wähnen, sei es, daß sie vor allem auf die wettbewerbspolitische Ambition abstellen, die Wettbewerbsvorteile der Gewässerverschmutzer abzubauen. Eine vergleichbare, wenn auch nicht immer gleichermaßen üppige Zweckvielfalt findet sich bei einer Fülle weiterer Umweltabgaben, die über die ferner bereits erhobenen Altölabgaben35 und Naturschutzausgleichsabgaben36 hinaus unter Bezeichnungen wie Altlastenfondsbeitrag, Chlorsteuer, Emissionsabgabe oder Emissionssteuer, Entgiftungsbeitrag, Sanierungsabgabe, Schadstoffabgabe, Schwefelabgabe, Sondermüllabgabe, Umweltpfennig oder Umweltsteuer, Verpackungsabgabe oder Verpackungssteuer, Verursachungsabgabe, Waldabgabe bzw. Waldpfennig, Wasserpfennig u.ä. in der Diskussion stehen oder doch standen37. 34 Vgl. zur Abwasserabgabe etwa Schemmel, Quasi-Steuern. Gegen den Wildwuchs steuerähnlicher Sonderabgaben, 1980, S. 98; Voigt, DVBl 1980, 985; Soell (Fn. 21), S. 647; Schmidt, Umweltabgaben als parafiskalische Sonderabgaben, der gemeindehaushalt 1983, 149 (151); Schröder, DÖV 1983, 667 ; Kloepfer, Zur aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Abwasserabgabenbescheide, JZ 1983, 742 ; P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Beurteilung der Abwasserabgabe des Bundes, 1983; Brandt, Rechtsnatur und verfassungsrechtliche Verankerung der Abwasserabgabe, UPR 1984, 10; Mies, Zur Frage der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bei Abwasserabgaben, KStZ 1984, 201; Henseler, Begriffsmerkmale und Legitimation von Sonderabgaben, 1984, S. 69ff. und passim; Breuer (Fn. 32), S. 576; aus der Judikatur vgl. VGH Kassel, NVwZ 1984, 45 = DÖV 1983, 1012 m . Anm. Bickel; OVG Münster, der gemeindehaushalt 1984, 15 = AgrarR 1984, 105; OVG Münster, ZKF 1984, 135 = AgrarR 1984, 171; VGH München, DÖV 1984, 595 = BayVBl. 1984, 279. Zur Frage der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bei Abwasserabgaben vgl. BTDrucks. 10/2144 mit Gesetz zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes v. 14.12.1984 (BGBl. I, 1515); zur Neufassung des Gesetzes s. BT-Drucks. 10/ 5533 (Entwurf) und BT-Drucks. 10/6656 (Beschlußempfehlung und Bericht des federführenden 21. Ausschusses); zur Verabschiedung der Novellierung durch den Bundestag vgl. FAZ v. 6.12. 1986, S. 4. Vgl. seither noch Meßerschmidt (Fn. 21), S. 185ff.; Henseler, NVwZ 1987, 551. 35 Bislang erhoben aufgrund des Altölgesetzes i. d.F. der Bekanntmachung v. 11.12.1979 (BGBl. I, 2113); vgl. zu ihnen Henseler, Sonderabgaben, S. 83f.; Breuer (Fn. 32), S. 576; mit der Reform des Abfallrechts durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Abfallbeseitigungsgesetzes (o. Fn. 5) ist die Regelung der Altölabgabe unter Aufhebung des Altölgesetzes in das AbfG überführt worden; s. Eckert, NVwZ 1986, 898 (900). 36 Erhobenaufgrund Landesrechts nach Maßgabe von§ 8 des Gesetzes über Naturschutz und Landschaftspflege v. 20. 12.1976 (BGBl. I, 3574), zuletzt geändert am 1. 6.1980 (BGBl. I, 649); vgl. zu ihnen Heiderich, Die Ausgleichsabgabe im System der Eingriffsregelung des Naturschutzgesetzes von Baden-Württemberg, NuR 1979, 19; Henseler1• Sonderabgaben, S. 65 ; Breuer (Fn. 32), S. 573 ; VGH Stuttgart, DVBl. 1984, 639 = DOV 1984, 770; BVerwG, NVwZ 1986, 832. 37 Vgl. dazu neben den in Fn. 32, 34, 35 und 36 genannten Autoren (m. weit. Nachw.) noch Brandt, Die Schwefeldioxydabgabe - ein neues Instrument zur

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Nun könnte die aktuelle oder auch potentielle Funktionenvielfalt vieler Umweltabgaben als nur finanz- und umweltpolitisch bedeutsam hier auf sich beruhen, schlügen sich nicht die häufig differierenden Auffassungen zur leitenden Erhebungsfunktion der jeweiligen Abgabe in Rechtsprechung und Schrifttum in einer entsprechend unterschiedlichen begrifflichen Charakterisierung der Abgabe nieder- ob zu Recht oder Unrecht, mag hier noch dahinstehen. So wird die Abwasserabgabe, an die als exemplarisch erneut angeknüpft werden soll, gelegentlich als Steuer eingeordnetJa, von anderen in einen gebührenrechtlichen Einzugsbereich gerückt39, von den sich zunehmend durchsetzenden meisten Stimmen schließlich als nichtsteuerliche Sonderabgabe qualifiziert40 . Dabei ist der argumentative Aufwand, der von den Autoren und Gerichten zur Absicherung der eigenen Überzeugung betrieben wird, beträchtlich. Er steht häufig in einem deutlichen, ja gelegentlich krassen Mißverhältnis zu der materiellrechtlichen Begründung der Abgabe. Mit den Literaturnachweisen zur Rechtsnatur der Abwasserabgabe etwa ließen sich mühelos mehrere Seiten eines Schrifttumsverzeichnisses füllen, von den einschlägigen Gerichtsentscheidungen abgesehen. Für andere Umweltabgaben steht Ähnliches zu erwarten. Ist dieser einem unvoreingenommenen Betrachter nur schwer zu verdeutlichende Aufwand, der ungleich gewichtigerer Probleme würdig zu sein scheint, tatsächlich gerechtfertigt? Im Ansatz, freilich nur insoweit, wird man diese Frage zu bejahen haben. Seinen Grund findet diese Einsicht in der verfassungsrechtlich vorgegebenen Notwendigkeit, die Steuern von den nichtsteuerliehen Abgaben zu unterscheiden. Nur die Steuer hat im Grundgesetz- in Art. 105ff. -eine ausdrückliche und spezielle Regelung erfahren4 I. Demgegenüber nimmt die Verfassung die nichtsteuerliehen Abgaben, weil für die finanzpolitische Machtverteilung zwischen Bund und Ländern im allgemeinen von geringerer Bedeutung42, explizit so gut wie nicht zur Kenntnis. Sie behandelt sie Bekämpfung der Luftverschmutzung, ZRP 1983, 115; M. Herzog, Verfassungsrechtliche Probleme des Entwurfes eines Schwefelabgabengesetzes, UPR 1983, 291; Osterloh I Brodersen, Eine neue Steuer auf Getränkeverpackungen, JuS 1986, 53. Zu aktuellen Gesetzgebungsvorhaben vgl. ferner unten bei und in Fn. 99. 38 Vgl. etwa Schemmel, Quasi-Steuern, S . 118; Voigt, DVBL 1980, 985 (987f.); Arndt (Fn. 6), S. 731. 39 Vgl. Salzwedel, Studien zur Erhebung von Abwassergebühren, S. 17f.; S. Ho·nert, Abwasserabgaben, Diss. Bonn 1974, S. 231f. 40 Vgl. Soell (Fn. 21), S. 649; Schmidt, der gemeindehaushalt 1983, 149 (151); Schröder, DÖV 1983, 667 (670); Kloepfer, JZ 1983, 742 (752); P. Kirchhof (Fn. 34), S. 47; Brandt, UPR 1984, 10 (12); Mies, KStZ 1984, 201 (203); Henseler, Sonderabgaben, S. 79; Breuer (Fn. 32), S. 576; aus der Judikatur vgl. die in Fn. 34 genannten Entscheidungen. 41 Zu den Art. 105ff. GG als speziellen und gegenüber den Art. 73ff. GG vorrangigen Kompetenzbestimmungen vgl. BVerfGE 3, 407 (435f.); 4, 7 (13); 7, 244 (251); 13, 181 (196f.); 14, 76 (99); 16, 147 (162), st. Rspr.; vgl. auch Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 86, 184.

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mehr am Rande nur als Zubehör der allgemeinen Sachzuständigkeiten nach Art. 73 ff. GG43 ; so ist die Regelung der Gebühr ein Annex der Gesetzgebungsbefugnis über die jeweilige Verwaltungsleistung, die mit der Gebühr abgegolten werden soll, der Sozialversicherungsbeitrag ist enthalten in der Gesetzgebungszuständigkeit über die "Sozialversicherung" (Art. 74 Nr. 12 GG). Entsprechendes gilt für die Ertragszuständigkeit: Während sie für die Steuern in Art. 106 GG eine besondere, weitgehend von der Gesetzgebungszuständigkeit gelöste Regelung gefunden hat, steht das Aufkommen der nichtsteuerliehen Abgaben ausnahmslos zur Disposition des Gemeinwesens, das sie im Rahmen ihrer Kompetenzen gemäß Art. 73ff. GG geregelt hat. Das Grundgesetz zieht also durchgehend eine strikte kompetenzrechtliche Trennungslinie zwischen den Steuern und den nichtsteuerliehen Abgaben44 • Sie zu beachten, ist- mit anderen Worten- eine verfassungskräftige Forderung. Nur so ist die bundesstaatliche Finanzverfassung der Art. 105ff. GG vor Störungen und Aushöhlung geschützt und auf diese Weise zugleich den Erfordernissen des Individualschutzes der Abgabepflichtigen Rechnung getragen. Das bedeutet auch für die Umweltabgaben vor allem, daß es für die verfassungsrechtliche Qualifikation einer solchen Abgabe nicht auf ihre Bezeichnung, sondern auf ihren materiellen Gehalt, d. h. ihre Regelungssubstanz ankommt45 . Dem einfachen Gesetzgeber muß es verwehrt sein, eine von ihm gestaltete Abgabe allein dadurch den besonderen verfassungsrechtlichen Gesetzgebungs- und Ertragszuweisungen für Steuern zu entziehen, daß er sie formal als "Beitrag", "Gebühr" oder sonstige außersteuerliche Abgabe ausgibt. Gefordert ist also ein klarer, mißbrauchsresistenter Steuerbegriff mit eindeutigen Abgrenzungskriterien gegenüber den nichtsteuerliehen Abgaben. Hier nun freilich beginnen erst die eigentlichen Probleme. Diese sind grundsätzlicher Natur; daß sie gegenwärtig gerade im Bereich der Umweltabgaben besonders fühlbar werden, beruht auf dem manchenorts hohen Beliebtheitsgrad dieser Abgaben. Diese Probleme werden einmal dadurch ausgelöst, daß Bund und Länder mit Hilfe ihrer Steuergesetzgebungszuständigkeiten nach Art. 105 GG auch sachorientierte Lenkungszielsetzungen46 und in diesem Zusammenhang auch solche umweltschutzrechtlicher Art verfolgen dürfen. Hinzu kommt, daß sie das Aufkommen ihnen nach Art. 106 GG 42 Vgl. lsensee, Nichtsteuerliche Abgaben - ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Staatsfinanzierung im Wandel (s. Fn. 21), S . 435ff. (437). 43 Vgl. BVerfGE 55, 274 (297); 57, 139 (166); 67, 256 (274). 44 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 184; Isensee (Fn. 42), S. 438; aus der Judikatur des BVerfG grdl. BVerfGE 7, 244 (251f.). 45 BVerfGE 7, 244 (252); 49, 343 (353); 55, 274 (304f.). 46 Vgl. BVerfGE 16, 147 (161f.); 19, 119 (125); 29, 327 (331); 30, 250 (264); 36, 66 (70f.); 38, 61 (79ff.); zuletzt BVerfGE 55, 274 (299); vgl. dazu näher Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. SOff., 101ff.; Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, S. 73ff. und passim.

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zufließender Steuern nicht nur den allgemeinen Haushaltsmitteln hinzufügen, sondern im Einzelfall auch einer Verwendung für bestimmte Zwecke, etwa die Finanzierung von Aufgaben des Umweltschutzes, vorbehalten können; auch die Zwecksteuer ist Steuer im Sinne der Finanzverfassung des Grundgesetzes47 • Wie aber soll auf dieser Grundlage die steuerliche Umweltabgabe von den Umweltabgaben zu unterscheiden sein, die Bund und Länder als Annex ihrer allgemeinen Sachzuständigkeiten nach Art. 73ff. GG, d. h. insbesondere im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung (Art. 74 Nr. 2 GG) und seiner Rahmengesetzgebungskompetenz für den Naturschutz, die Landschaftspflege sowie den Wasserhaushalt (Art. 75 Nm. 3 und 4 GG), regeln können?

ßl. Zur Abgrenzung der steuerlichen von den nichtsteuerliehen Umweltabgaben Festen Boden meint man zunächst unter die Füße zu bekommen, wendet man sich der klassischen Legaldefinition der Steuer zu, die das BVerfG mit Recht auch den Kompetenzvorschriften der Verfassung zugrunde legt4a. Sie lautet in ihrer klassischen, im wesentlichen in die Abgabenordnung von 1977 eingegangenen Fassung des§ 1 I der Reichsabgabenordnung von 1919: "Steuern sind einmalige oder laufende Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einkünften allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Zölle fallen darunter; nicht darunter fallen Gebühren für besondere Inanspruchnahme der Verwaltung und Beiträge (Vorzugslasten)". Klarheit schafft diese verfassungsinkorporierte Definition, indem sie dem begrifflichen Wesen der Steuer die Gegenleistungsfreiheit zurechnet, vorliegend allerdings nur für Gebühren und Beiträge auf dem Gebiete des Umweltschutzes- für die die erwähnten einschlägigen Sachzuständigkeiten (Art. 74 Nr. 24, 75 Nm. 3- 4 GG) zweifelsohne zur Verfügung stehen. Immerhin erlauben diese Zuständigkeiten grundsätzlich auch umweltlenkende Erhöhungen der Gegenleistungsabgaben - etwa solche mit einem gewissen verhaltenssteuernden Effekt. Weder die Gebühren noch die Beiträge sind als solche von vomherein lenkungsfeindlich49. So verlieren insbeBVerfGE 7, 244 (254); 49, 343 (353f.); 55, 274 (305, 310f.). BVerfGE 3, 407 (435); 4, 7 (13); 7, 244 (251); 8, 274 (317f.); 29, 402 (408f.); 36, 66 (70); 38, 61 (79f.); 42, 223 (228); 49, 343 (353); vgl. näher Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S . 74ff. 49 Vgl. insbes. BVerfGE 50, 217 (226f.); s. aus dem Schrifttum vor allem Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975, S. 65ff. m. w eit. Nachw. 47

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sondere die Gebühren ihren rechtlichen Charakter als Gebühren nicht, soweit und solange sie eine angemessene Gegenleistung für die erbrachte öffentliche Leistung darstellen5o. Gebührenbegrifflich und damit kompetenzrechtlich wird etwa nichts dagegen einzuwenden sein, wenn der (Bundes- bzw. Landes-)Gesetzgeber im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Regelung der Abfallbeseitigung einen beschränkten "Umweltzuschlag" auf die Gebühren für die aktuelle Industriemüllentsorgung zuläßt. Entschiedene Bedenken habe ich allerdings, die aktuelle Industriemüllentsorgung gebührenrechtlich mit einem Zuschlag zur Sanierung stillgelegter Sondermülldeponien der öffentlichen Hand zu verknüpfen. Nicht nur würde ein solcher Zuschlag auch diejenigen treffen, die an der Entstehung der Altlast objektiv ganz unbeteiligt waren. Der begrifflichen Ausgleichsfunktion der Gebühr ist es auch inadäquat, fehlende polizeirechtliche Verantwortlichkeiten auf seiten der Abfallerzeuger sozusagen gebührenrechtlich zu kompensieren. Die Tätigkeiten der öffentlichen Hand zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit, soweit sie nicht auf polizeipflichtige Störer zurückgreifen können, sind nicht gebührenfähig51. Auch ist daran zu erinnern, daß die öffentliche Hand ebenso wie andere Inhaber von Altdeponien diese nach Maßgabe des § 10 II AbfG auf ihre Kosten zu sanieren hat; sie darf sich dieser Pflicht nicht durch eine gebührenrechtliche Überwälzung im Rahmen ihrer aktuellen Entsorgungstätigkeit entledigen. Die Abgrenzung der Steuer von den Vorzugslasten bildet indes nicht den eigentlichen Kern der Problematik. Schwierigkeiten ergeben sich vielmehr vor allem aus der Einsicht, daß das BVerfG "in einer Reihe von Entscheidungen Geldleistungspflichten, die einem begrenzten Personenkreis im Hinblick auf vorgegebene besondere wirtschaftliche oder soziale Zusammenhänge gesetzlich auferlegt worden (waren), nicht als steuerliche Abgaben oder Vorzugslasten,~sondern als Sonderabgaben qualifiziert und als verfassungsrechtlich zulässig angesehen hat. Es hat verneint, daß es in diesen Fällen zur Auferlegung der Sonderabgaben einer ausdrücklichen verfassungsgesetzlichen ,Spezialermächtigung' bedürfte; es hat vielmehr die Kompetenz des Gesetzgebers zur Einführung außersteuerlicher Abgaben sowie die Regelung ihrer Verwendung aus den allgemeinen Sachzuständigkeiten nach Art. 73ff. GG" hergeleitet52. Indes: Ist damit auch die Nomenklatur der Abgabetypen durch die Inauguration von "Sonderabgaben" 53 um eine weitere Spezies bereichert wor5o

BVerfG, NJW 1984, 1871.

51 Vgl. auch Isensee (Fn. 42), S. 450.

52 So die Darlegung in BVerfGE 55, 274 (297) unter weiterem Hinweis auf BVerfGE 4, 7 (13); 8, 274 (317); 18, 315 (328f.); 29, 402 (409); 37, 1 (16f.); vgl. ferner BVerfGE 57, 139 (166ff.) ; 67, 256 (274ff.). 53 Zu ihnen vgl. aus dem Schrifttum (jeweils m. weit. Nachw.) Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 183ff.; ders., Die parafiskalischen Abgaben im

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den, so steht doch eine begrifflich unterscheidungskräftige Abgrenzung der "Sonderabgabe" von der Steuer und ihren tatbestandliehen Voraussetzungen bis heute aus. Der Zweite Senat des BVerfG hat es vielmehr schon in seiner Grundsatzentscheidung vom Dezember 1980- in merkwürdiger Verklammerung von Begriffs- und Zulässigkeitskriterien54 - unternommen, Strukturprinzipien der "zulässigen außersteuerlichen Sonderabgabe" zu entwickeln55 . Hat auch der Erste Senat des Gerichts diese Strukturprinzipien wenig später hinsichtlich eines Teilbereichs nichtsteuerlich ausgestalteter Abgaben für unanwendbar erklärtss, so blieb der Grundansatz doch unangetastet. Die letzte einschlägige Entscheidung des BVerfG, das Investitionshilfeabgabe-Urteil des Zweiten Senats vom November 198457 hat unter Aufnahme der Einschränkungen des Ersten Senats die gemeinsame Position noch einmal zusammenfassend umrissen: Danach ist innerhalb der Sonderabgaben - die nur allgemein als "Abgaben" bezeichnet werden, "die der Verwirklichung besonderer Sachaufgaben dienen"- die Gruppe der "Ausgleichs-Finanzierungsabgaben" mit einem" Finanzierungszweck-seies als Haupt- oder Nebenzweck-" zu unterscheiden von den "Ausgleichsabgaben eigener Art, die keinen Finanzierungszweck verfolgen"ss. AusgleichsFinanzierungsabgaben wie auch sonstige denkbare Sonderabgaben mit Finanzierungszweck werden vom Gericht als solche, d. h. als außersteuerliche Sonderabgaben, nur unter der Voraussetzung für zulässig gehalten, daß es sich bei den Pflichtigen um eine homogene Gruppe handelt, ferner eine spezifische Beziehung zwischen dem Kreis der Abgabepflichtigen und dem mit der Abgabeerhebung verfolgten Zweck besteht und schließlich das Abgabenaufkommen im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen, also "gruppennützig" verwendet wird59. Für die Ausgleichsabgaben eigener Art, Spannungsfeld von nationalem Recht und europäischen Gemeinschaftsrecht, DStZ/ A 1975, 396; ders., AöR 101 (1976), S. 238 (249); ders., Steuer und parafiskalische Sonderabgabe, GewArch. 1981, 41; Friauf, Zur Zulässigkeit von außersteuerlichen Sonderabgaben, in: Festschrift für W. Haubrichs, 1977, S. 103; ders., Zur Zulässigkeit von Sonderabgaben, JA 1981, 261; Richter, Zur Verfassungsmäßigkeit von Sonderabgaben 1977; Osterloh, Zur Zulässigkeit von Sonderabgaben, JuS 1982, 421; Henseler, Begriffsmerkmale und Legitimation von Sonderabgaben, 1984; Hofmann, Das Urteil des BVerfG zum InvHG - Sonderabgaben und Grundgesetz, DVBl. 1986, 537; Puwalla, Qualifikation von Abgaben, 1987, S. 37ff. 54 Vgl. krit. auch Osterloh, JuS 1982, 421 (422, 424f.); Kloepfer, JZ 1983, 742 (746); Henseler, Das Urteil zur Investitionshilfe in seiner Bedeutung für die Dogmatik des Abgabenrechts, NVwZ 1985, 398 (401); Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S. 107f. 55 BVerfGE 55, 274 (304ff. i. V. mit Leits. 1); 67, 256 (278). 56 BVerfGE 57, 139 (167). 57 BVerfGE 67, 256 (274); zu dieser Entscheidung vgl. Hofmann, DVBL 1986, 537; Stäbler, Finanzrechtliche Auswirkungen des Investitionshilfeabgaben-Urteils, BayVBl. 1985, 166; Brandt, Anmerkung zum Investitionshilfeabgabeurteil des BVerfG, UPR 1985, 51; Henseler, NVwZ 1985, 398; Maunz, Verfassungsrechtliche Folgerungen aus dem Investitionshilfeurteil, BayVBl. 1985, 161. 58 BVerfGE 67, 256 (277f.). 59 Vgl. BVerfGE 67, 256 (277 f.) i. V. mit BVerfGE 55, 274 (303 ff.).

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d. h. Sonderabgaben ohne Finanzierungszweck - etwa solche, die "eine auf Verhaltenslenkung gerichtete Antriebs- und Sanktionsfunktion" erfüllen-, sollen die dargelegten Maßstäbe allerdings "nicht uneingeschränkt gelten"; der Senat läßt ausdrücklich offen, "welche verfassungsrechtlichen Anforderungen an derartige Abgaben näherhin zu stellen wären" 60 . Es ist aber deutlich, daß das Gericht bei den letzteren Abgaben vor allem auf das Erfordernis einer gruppennützigen Verwendung des Abgabeaufkommens verzichten zu können glaubt61. Dieser Judikatur des BVerfG mag man attestieren, daß sie sich in verdienstvoller Weise bemüht hat, die Steuer als verfassungsrechtliche Normalität herauszuarbeiten, nichtsteuerliche Sonderabgaben dagegen in "enge kompetenzrechtliche Grenzen" 62 zu verweisen. Gleichwohl ist schwerlich zu übersehen, daß sie zu beträchtlichen Irritationen geführt, jedenfalls begrifflich mehr verwirrend als klärend und friedenstiftend gewirkt hat. Das beruht zum einen gewiß darauf, daß das BVerfG bedauerlicherweise Begriffs- und Zulässigkeitsmerkmale der Sonderabgabe nicht voneinander getrennt hat - mit der Folge, daß das begrifflich-kompetenzrechtliche Zuordnungsproblem als solches nach wie vor wesentlich ungelöst ist. Zu Schwierigkeiten hat vor allem aber der dogmatische Ansatz des Gerichts geführt, die Anforderungen an das Vorliegen einer zulässigen Sonderabgabe nach ihren Zwecken bzw. Funktionen, d. h. der Eigenart des mit ihrer Erhebung gedanklich verknüpften Erfolgs zu bestimmen. Es ist schon problematisch, ob es angängig ist, die Zwecke und Funktionen von Sonderabgaben in das Prokrustesbett nur weniger Typen zu pressen. So hat das BVerwG vor kurzem nicht zu Unrecht die Ausgleichsabgabe nach dem baden-württembergischen Naturschutzgesetz als "Sonderabgabe eigener Art" bezeichnet, die der Wiedergutmachung staatlich zugelassener Eingriffe in Natur und Landschaft diene und aus diesem Grunde weder eine Sonderabgabe mit Finanzierungszweck noch eine solche mit Lenkungs- und Antriebsfunktion im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG darstelle63. Schwerer wiegt noch, daß viele als außersteuerliche erlassene Abgaben mehrere Zwecke nebeneinander aufweisen, die auch unter Zuhilfenahme aller Materialien häufig kaum hinreichend zuverlässig zu gewichten sind. Das BVerfG64. dürfte, wenn ich recht sehe, ferner auch in der Annahme irren, es gäbe Antriebsund Lenkungsabgaben ohne jeden Finanzierungszweck. Eine außersteuerliche Abgabe mit Lenkungsfunktion, die zu einem (verwendungsfähigen und verwendungsbedürftigen) Aufkommen führt, hat vielmehr in der Regel -

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BVerfGE 67, 256 (277f.) i. V. mit BVerfGE 57, 139 (167). Vgl. BVerfGE 57, 139 (167, 169). BVerfGE 55, 274 (303). BVerwG, NVwZ 1986, 832. BVerfGE 67, 256 (277).

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wenn auch nur als Nebenzweck - zugleich Finanzierungsfunktion65 und unterliegt damit, geht man nach dem BVerfG66 , den von diesem insoweit formulierten strengen Zulässigkeitsanforderungen. Auf der Grundlage der Judikatur des BVerfG verwundert es nicht, daß die Darlegungen vieler einschlägiger Abhandlungen, Gerichtsentscheidungen, ferner auch der Begründung manchen Gesetzentwurfs, weitgehend wenig überzeugend wirken. Einerseits bemüht, den Anforderungen des BVerfG zu entsprechen, nicht selten andererseits aber auch bemüht, die Eigenschaft der außersteuerlich gestalteten Abgabe als einer zulässigen Sonderabgabe abzusichern, wird häufig beträchtlicher Aufwand betrieben. Das erzielte Aufkommen wird - wirklichkeitsfremd genug - gelegentlich als geradezu unerwünschte Beigabe der Aktion ausgewiesen, jede Finanzfunktion der Abgabe mit dieser Begründung schlicht geleugnet 67 , obschon der Gesetzgeber die Verwendung des Aufkommens ins einzelne gehend und mit besonderer Sorgfalt geregelt hatss. Läßt sich indes die Finanzierungsfunktion auch beim besten Willen nicht unter den Tisch kehren, bleibt immer noch die Möglichkeit, das Erfordernis der gruppennützigen Verwendung des Abgabeaufkommens im Sinne des angestrebten Ergebnisses abzumildern. Der VGH Stuttgart etwa hat es im Zusammenhang mit der naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe noch für ausreichend gehalten, daß das Aufkommen aus der Abgabe "zumindest mittelbar auch den Abgabepflichtigen als Teil der Allgemeinheit zugute" kommes9. Hier wie auch in anderen Fällen kann gewiß das schließliehe Ergebnis durchaus überzeugen. Hier wie andernorts erweckt aber auch die in Teilen verkrampfte Begründung am Maßstab der Postulate des BVerfG, die zu vertiefenden Überlegungen zur sachlichen Berechtigung der Abgabe nicht selten gar nicht mehr vordringt, Zweifel an der durchgängigen Richtigkeit des vom BVerfG präsentierten Ansatzes. In der Tat bekenne ich, daß ich den zweck-und funktionsorientierten Ansatz des Gerichts aus den bereits dargelegten Bedenken, aber auch deswegen für (insoweit) fragwürdig halte, weil die Abstellung auf Zwecke und Funktionen notwendig begrifflich 65 Vgl. so auch Stäbler, BayVBl. 1985, 165; Henseler, NVwZ 1985, 398 (401) ; Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S . 111 ; Hofmann, DVBL 1986, 537 (544). 66 BVerfGE 67, 256 (278). 67 So für die Abwasserabgabe etwa VGH Kassel, NVwZ 1984, 45 (46); Mies, KStZ 1984, 201 (203); Brandt, UPR 1984, 10 (11); S chröder, DÖV 1983, 667 (670); a.A. mit Recht etwa OVG Münster, ZKF 1984, 135 = AgrarR 1984, 171. Zu Unrecht jeden Finanzierungszweck der Ausgleichsabgabe nach dem Schwerbehindertengesetz in Abrede stellend BVerfGE 67,256 (277); vgl. demgegenübertreffend aber BVerfGE 57, 139 (168f.). 68 Vgl. hierzu etwa für die Abwasserabgabe § 13 AbwAG, für die Ausgleichsabgabe nach dem Schwerbehindertengesetz dessen §§ 8, 28 i. V. mit der Ausgleichsabgabenverordnung. 69 VGH Stuttgart, DVBL 1984, 639 (640).

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unergiebig ist. Sie ist von vornherein ungeeignet, Distanz zur Steuer zu schaffen, weil für diese der Finanzzweck zwar typisch, keineswegs aber begrifflich prägend ist - ist doch heute durchgehend anerkannt, daß auch mit der Steuer Lenkungszielsetzungen jeder Art verfolgt werden können, ohne daß die Abgabe ihren Charakter als Steuer verliert 70 . Ich möchte es deshalb vorziehen, an Stelle von Funktion und Zweck einer Abgabe ihren Erhebungsgrund, den man auch mit der Bezeichnung causa71 belegen mag, als Wesensmerkmal heranzuziehen. Denn hier vor allem ist bei näherer Betrachtung der Gesichtspunkt angelegt, der grundsätzliche Distanz zwischen Steuer und außersteuerlichen Zahlungspflichten zu schaffen in der Lage ist. Die Steuer wird geprägt durch eine genuine Schlichtheit der causa: Diese liegt allein in der Pflichtigkeit des dem Gemeinwesen zugehörigen Bürgers, nach Maßgabe der verfassungsmäßigen Ordnung auch ohne unmittelbar bedingende besondere Veranlassung zur Verwirklichung der öffentlichen Aufgaben beizutragen. Der nichtsteuerliehen Abgabe hingegen ist grundsätzlich eigentümlich ein hiervon sehr wohl zu unterscheidender - gleichsam reaktiver - spezifischer Verpflichtungsgrund als vom Gesetz vorausgesetzter belastungslegitimierender causa. Diese Differenzierung entspricht gewachsener, freilich heute nicht selten verschütteter Anschauung. In ihr spiegelt sich die seit jeher anerkannte "Losgelöstheit" der Steuer "von bedingenden Zusammenhängen"72, ihre (auch vom BVerfG73) sogenannte "Voraussetzungslosigkeit" 74 wider, die entgegen einer in den letzten Jahren eingefahrenen Meinung keineswegs nur Abstand zu den Gegenleistungsabgaben75, sondern auch zu anderen nichtsteuerliehen Abgaben schafft76. Sie droht ihre prägende Kraft allein dort zu verlieren, wo der Gesetzgeber eine Gruppe von Bürgern ohne unmittelbar bedingende Veranlassung zur isolierten Verwirklichung einer besonderen Sachaufgabe finanziell belastet, d. h. wie einen Steuerbürger - parafiskalisch - in Anspruch nimmt. Die darin an sich liegende Störung der in Art. 105ff. GG umfassend geregelten bundesstaatliehen Steuerverfassung bedarf der Neutralisierung. Eine solche ist (insoweit) in Übereinstimmung mit dem Vgl. die Nachweise oben in Fn. 46. Beide Begriffe verstanden weder im Sinne des Belastungsmotivs noch im Sinne des belastungsauslösenden gesetzlichen Tatbestands, sondern im Sinne des bei Würdigung des normativen Gesamtzusammenhangs zur Rechtfertigung der Belastung bestimmten Verpflichtungsgrundes. 72 0. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl. (1914), S. 330f., 3. Aufl. (1924), s. 315f. 73 Vgl. BVerfGE 55, 274 (298); 67, 256 (275). 74 Vgl. Fn. 72 sowie nachstehend Fn. 75 und 76. 75 So unmißverständlich aber z.B. BVerfGE 55, 274 (298); 67, 256 (275); Friauf, JA 1981, 261; Isensee (Fn. 42), S. 440; wohl auch Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975, S . 52f.; Henseler (Fn. 53), S. 58. 76 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S . 104, 112; Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, S. 64; Auer, Sonderabgaben, 1980, S . 34, 60. 70

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BVerfG77 dann anzuerkennen, wenn das Abgabeaufkommen im Interesse der Gruppe der Pflichtigen, also "gruppennützig" verwendet wird. Grundsätzlich nur das Vorliegen dieser (rigide zu handhabenden) Voraussetzung ist in der Lage, die im vorgenannten Sinne parafiskalische Sonderabgabe als solche aus dem steuerverfassungsrechtlichen Einzugsbereich herauszuhalten. Folgt man dem skizzierten Ansatz, den ich hier nur in den Grundzügen andeuten kann, so fallen im Bereich des Umweltschutzes nahezu alle nichtsteuerlich ausgestalteten Abgaben schon ihrer unmittelbaren Voraussetzungsgebundenheit wegen als reaktive Sonderabgaben aus dem Steuerbegriff und damit aus der Finanzverfassung der Art. 105ff. GG und ihren Verteilungsanordnungen heraus7 s. So kommt es, um an das bereits mehrfach gebrachte Beispiel der Abwasserabgabe anzuknüpfen, für die begriffliche Qualifikation dieser Abgabe als Sonderabgabe entgegen weithin vertretener Auffassung in keiner Weise darauf an, welche der ihr zugesprochenen Erhebungszwecke bzw. -funktionen im Vordergrund stehen. Denn die Abwasserabgabe wird erhoben wegen der staatlich zugelassenen bzw. geduldeten Inanspruchnahme der Umwelt durch die nunmehr gesetzlich Abgabepflichtigen. Entsprechendes läßt sich an der Ausgleichsabgabe nach Maßgabe des Bundesnaturschutzgesetzes exemplifizieren. Sie ist außersteuerliche Sonderabgabe nicht im Hinblick auf eine bestimmte ihr zugedachte Funktion - etwa Wiedergutmachungsfunktion -, sondern deshalb, weil sie erhoben wird als Reaktion auf die staatlich zugelassene Verursachung eines Umweltschadens. Ein weiteres Beispiel bildet der von der baden-württembergischen Landesregierung geplante und in den letzten Monaten heißumstrittene sogenannte "Wasserpfennig" 79. Er soll die bisher kostenlose EntVgl. insbes. BVerfGE 55, 274 (307). Die an die Erteilung der Gaststättenerlaubnis anknüpfende Schankerlaubnissteuer läßt sich gegen den obigen Ansatz nicht ins Feld führen; sie ist Steuer nur kraft Tradition und nicht kraft Qualität: vgl. treffend Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973, S. 283, 286; s. auch Richter, Zur Verfassungsmäßigkeit von Sonderabgaben, S. 39 Fn. 133. Gegen den obigen Ansatz spricht ferner auch nicht die Gewerbesteuer: Sie ist Steuer, weil der Gesichtspunkt der den Gemeinden durch das Gewerbe entstehenden Kosten nicht unmittelbarer Verpflichtungsgrund der Gewerbesteuer, sondern nur Belastungsmotiv ist (so offenbar auch Richter, a.a.O., S. 70). Entsprechendes traf- im Ergebnis in Übereinstimmung mit BVerfGE 49, 343 (352 ff.)- für die Wohnungsbaufolgekosten-Abgabe gern. § 9 SchlHKAG (erhoben bis 1979) zu: Sie war Steuer, aber weder (weil zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs für Schulen etc. bestimmt) parafiskalische Sonderabgabe noch reaktive Sonderabgabe (vgl. insoweit aber z.B. das Sondervotum des Verfassungsrichters Hirsch in BVerfGE 49, 343, 368; Richter, a. a. 0., S. 40, 70; Friauf, Kommunalabgaben zur Abwälzung von Folgekosten des Wohnungsbaus, DVBL 1978, 517, 520f.); daß der Gesetzgeberhier das Belastungsmotiv (Notwendigkeit einer Finanzierung der infolge von Baumaßnahmen erforderlich werdenden gemeindlichen Aufwendungen) explizit in das Gesetz (§ 9 I) aufgenommen hatte, machte das Motiv nicht auch zum unmittelbaren Verpflichtungsgrund der Abgabe. 79 Vgl. die Berichte in FAZ v. 16. 7.1986, S. 6; v. 21. 7. 1986, S. 1; v. 28. 8.1986, S. 9; v. 7.11.1986, S. 14. Vgl. seither noch FAZ v. 20.3.1987, S . 4; Pietzcker, DVBL 1987, 774. 77

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nahme von Grund- und Oberflächenwasser an eine nach Qualität des Wassers gestaffelte Abgabe binden, aus deren Aufkommen Landwirten eine Entschädigung für umweltschutzbedingte Nutzungs-, insbesondere Anbaubeschränkungen gewährt werden soll. Der intensive Meinungsstreit80 vor allem darüber, ob es sich bei dieser Abgabe um eine Steuer oder aber um eine (gelegentlich als gebührenähnlich ausgewiesene) Sonderabgabe handele, erledigt sich auch hier, folgt man dem genannten Ansatz: Der "Wasserpfennig" ist jedenfalls keine Steuer; denn er knüpft an die Entnahme von Wasser als bedingenden besonderen Verpflichtungsgrund an. Die Vorteile dieses Ansatzes liegen auf der Hand. Die Begriffs- und damit die Kompetenzfrage verliert naturgemäß zwar als solche keinewegs an Bedeutung; wohl aber rückt ihre Beantwortung jedenfalls für die reaktiven Sonderabgaben mehr an die Peripherie der Problematik. Das heißt: Die Aufmerksamkeit kann sich vorrangig auf die eigentliche Frage nach der materiellen Berechtigung der jeweiligen Geldleistungspflicht richten. Hierbei können gegebenenfalls die vom BVerfG herausgearbeiteten Kriterien, die sich bei Lichte besehen wesentlich als belastungslegitimierende Sachgerechtigkeitskriterien darstellen8 1, je nach Konstellation gute Dienste leisten, ohne doch zum schematischen (gleichwohl immer durchbrechungsgefährdeten) Prüfungsraster zu denaturieren. IV. Zur Legitimation von Umweltabgaben

Auf dieser Grundlage bleibt ein Blick zu werfen auf die vor dem Grundsatz der Lastengleichheit aller Bürger (Art. 3 I GG) gebotene Legitimation von Umweltabgaben. Voranzuschicken ist die Einsicht, daß der Staat zur Auferlegung von Umweltabgaben jedenfalls nicht verpflichtet ist. Weder ist er verfassungsrechtlich gehalten, die Mittel zur Finanzierung von Umweltaufgaben ad hoc durch besondere Abgaben zu gewinnen, noch ist ihm von Verfassungs wegen aufgegeben, sich zur Erreichung umweltpolitischer Ziele gerade des abgabenrechtlichen Steuerungsinstrumentariums zu bedienen. Es unterliegt grundsätzlich, i. e. außerhalb des Evidenz- und Willkürbereichs, der politischen Dezision des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, wie er das Ziel des Umweltschutzes in Einklang bringt mit anderen verfassungsmäßigen Gesellschaftszielen (etwa denen des angemessenen Wirtschaftswachstums oder der Arbeitsplatzsicherung) und auf welche Weise er gegebenenfalls dem Umweltschutz und seiner Finanzierung gerecht wird. Ein Zwang zur Erhebung von Abgaben mit umweltschutzpolitischer Finanzierungs- und/oder Interventionszielsetzung ergibt sich insbe80

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Vgl. FAZ v. 7. 11.1986, S. 14. Vgl. auch Osterloh, JuS 1982, 421 (424f.).

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sondere auch nicht aus dem sogenannten Verursacherprinzip82 , dieses verstanden hier im Sinne eines übergreifenden Zurechnungsgrundsatzes sowohl für die materielle Verantwortlichkeit wie für die Kostenbelastungsa. Deutliche Grenzen des Verursacherprinzips ergeben sich einmal aus den gewichtigen Beweisführungs-, Quantifizierungs- und Bewertungsschwierigkeiten bei der Aktualisierung dieses Prinzips. Vor allem aber ist das Verursacherprinzip so wenig wie der Umweltschutz als solcher ein a priori durchgehend absoluter Wert; es unterliegt damit dem gleichen Bedürfnis nach politischer Zielkonfliktlösung wie der letztere84 • Hierzu kommt schließlich, daß das Verursacherprinzip als Zurechnungsgrundsatz nicht selten wenig aussagekräftig ist- nämlich immer dann, wenn die Umweltbelastung auf eine Mehrzahl von Verursachem, z. B. Produzenten und Konsumenten, Gewerbebetriebe und private Haushalte, zurückzuführen ist85 ; hier bedarf es gleichermaßen einer auch politisch abwägenden Entscheidung der Frage, bei wem die Kostenbelastung bzw. der umweltinterventionistische Erhebungseffekt anzusetzen hat. Diese Überlegungen vorausgesetzt, bestehen freilich keine begründeten Zweifel daran, daß das Verursacherprinzip grundsätzlich eine brauchbare Orientierungsrichtlinie für den Gesetzgeber abgibt. Es verkörpert bei sachgerechter Umsetzung ein wichtiges Legitimationsprinzip im Bereich der Umweltabgaben und überlagert hier vor allem bei den Steuern nicht unerheblich das diese ansonsten beherrschende Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtpunkt der Steuergerechtigkeit (Art. 3 I GG) bestehen hiergegen nicht86 . Bei der Erschließung und Ausschöpfung von Steuerquellen hat der Gesetzgeber weitgehende Gestaltungsfreiheit. Dabei kann er sich wie von finanzpolitischen, volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen auch von umweltpolitischen Erwägungen leiten lassen87 • Als eine Grundmaxime sozialstaatlicher Abgabenbelastung tritt das Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeitaa allerdings nur- nach strenger Maßgabe der jeweiligen Anforderungen 82 Vgl. zum Verursacherprinzip, jeweils m. weit. Nachweisen, etwa Bullinger, Rechtsfragen des Verursacherprinzips beim Umweltschutz (Fn. 32), S. 15ff., 69ff.; Kloepfer, DÖV 1975, 593 (594); Boehm, DÖV 1975, 597; Breuer (Fn. 32), S. 545; Arndt (Fn. 6), S. 726. Vgl. auch Fn. 83. 83 Vgl. Soell (Fn. 21), S. 642f. 84 Vgl. auch Bullinger, Rechtsfragen des Verursacherprinzips beim Umweltschutz (Fn. 32), S. 15, 77ff.; Kloepfer, DÖV 1975, 593 (594). 85 Hierauf verweist mit Recht etwa auch Soell (Fn. 21), 643. 86 Vgl. so auch Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 358ff.; ders., AöR 101 (1976), S. 399 (446f.); Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 236ff., 254ff.; Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, S. 115. 87 Vgl. grundlegend BVerfGE 13, 181 (202f.); s. auch die weit. Nachw. bei Selmer, AöR 101 (1976), S. 399 (446); aus jüngerer Zeit vgl. etwa BVerfGE 49, 343 (360); 50, 57 (77). 88 Vgl. (für viele) etwa BVerfGE 47, 1 (29).

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des Umweltschutzes - zurück, ohne indes seinen Geltungsanspruch ansonsten einzubüßen. Das bedeutet vor allem, daß es ergänzend überall dort eingreift, wo die umweltpolitische Ambition der Belastung durch seine Berücksichtigung nicht nachhaltig in Frage gestellt wird. Dort, wo es nicht auch um erhebungsinterventionistische Zielsetzungen, sondern allein um die Beschaffung von Mitteln geht, kann (und muß) der Grundsatz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sogar volle Anwendung erfahren. So ließe sich etwa eine gemäß Art. 105 II i. V. mit Art. 106 I Nr. 5 GG erhobene "einmalige Vermögensabgabe" denken, mit deren Hilfe die allmählich in krisenhafte Dimensionen hineinwachsenden Umweltprobleme finanziell bewältigt werden sollens9, sofern nicht schon der Verursachergedanke einen praktisch umsetzbaren besonderen Belastungsansatz liefert. Soweit der Gesetzgeber Umweltabgaben nicht in Form von Steuern, sondern von (für bestimmte Aufgaben) zweckgebundenen Sonderabgaben gemäß Art. 74 Nr. 24, 75 Nrn. 3 und 4 GG erhebt, entfaltet der Verursachergedanke gruppenbildende Kraft90: Die Verursachung spezifischer Umweltbelastungen stellt eine in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebene Gemeinsamkeit dar, die ihre Urheber als "homogene Gruppe"9 1 hinreichend deutlich von der Allgemeinheit oder anderen Gruppen abgrenzt. Zugleich indiziert jener Gedanke auch die unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes ferner gebotene verantwortungsbegründende "Sachnähe"92 der Pflichtigen zur vom Gesetzgeber jeweils verfolgten Umweltaufgabe. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen und sachgerechter Entfaltung des Verursacherprinzips ist die Sonderabgabe grundsätzlich hinreichend verfassungsrechtlich legitimiert, sofern im übrigen der umweltpolitische Erhebungs- und der entsprechende Verwendungszweck als solche nicht zu beanstanden und die Forderungen des Übermaßverbotes gewahrt sind. Einer im Sinne der Judikatur des BVerfG "gruppennützigen"93 Verwendung des Abgabeaufkommens bedarf es bei den im vorgenannten Sinne reaktiven Sonderabgaben nicht - und zwar entgegen der Auffassung des BVerfG auch dort nicht, wo Finanzierungszwecke die Erhebung der Abgabe jedenfalls mitbestimmen. Der Verursachergedanke als tragender Erhebungsgrund verbürgt auch insoweit per se hinreichende Distanz zum verfassungsrechtlichen Regime der Steuer und genügende Legitimationskraft vor dem Grundsatz der Lastengerechtigkeit Nur dort also, wo es sich nicht um eine reaktive, sondern um eine aktive - parafiskalische- Sonderabgabe han89 Vgl. bereits die entsprechende Erwägung bei Selmer, SteuerinteiVentionismus und Verfassungsrecht, S. 332. 90 So auch Schröder, DÖV 1983, 667 (671) im Zusammenhang mit der Abwasserabgabe. 91 Vgl. BVerfGE 55, 274 (306). 92 Vgl. BVerfGE 55, 274 (306). 93 Vgl. BVerfGE 55, 274 (307).

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delt, die die Betroffenen wie Steuerbürger, d. h. aber ohne unmittelbar bedingende Veranlassung und insofern "voraussetzungslos" zur Verwirklichung bestimmter umweltpolitischer Vorhaben heranzieht94, ist die besondere Belastung mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz unbeschadet weiterer Sachgerechtigkeitsanforderungen nur dann vereinbar, wenn das Abgabeaufkommen gerade auch im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen, also "gruppennützig" verwendet wird; ansonsten kann hier die Belastung die verfassungsrechtlichen Sicherungen allenfalls als (Zweck-)Steuer passieren, sofern die regelnde Gebietskörperschaft zur Auferlegung einer solchen in concreto zuständig und den Anforderungen der Steuergerechtigkeit hinreichend Genüge getan ist. V. Schlußbemerkung. Aktuelle Vorhaben

Angesichts des besonderen Stellenwerts, der dem Verursachergrundsatz im Bereich des Umweltschutzes naturgemäß zukommt, wird sich auch künftig das Interesse vor allem auf die reaktiven Sonderabgaben richten, soweit nicht aus wirtschafts-und sozialpolitischen Gründen dem Rückgriff auf das allgemeine Finanzaufkommen und ansonsten einem administrativen Lenkungsinstrumentarium95 der Vorzug gegeben wird. Ad hocerhobene Steuern (beispielsweise spezielle Verbrauchsteuern) kommen vor allem dort in Betracht, wo der Gesetzgeber eine Überwälzung der Belastung auf den Endverbraucher für tunlieh oder doch hinnehmbar hält9s. Aktive- parafiskalische-Sonderabgaben schließlich bieten sich allenfalls dort an, wo es um die beschränkte Mitfinanzierung eines bestimmten umweltrechtlichen Vorhabens durch die von diesem Vorhaben unmittelbar Begünstigten, also eine Art gesetzlich erzwungene Selbsthilfeaktion97 geht. So mag man daran denken, die Eigentümer durch Umweltgefährdungen bedrohter Waldgrundstücke und Gewässer vorsichtig zur Mitbeteiligung an Sanierungsvorhaben eigenen Interesses heranzuziehen, sofern mit Hilfe des Verursachungsprinzips keine Remedur zu schaffen ist und sich die Belastung im Rahmen der Sozialgebundenheit des Eigentums hält. Während sich die Bundesregierung bislang entschieden dagegen ausgesprochen hat, über den Kreis der bisher schon erhobenen Umweltabgaben hinaus neue Abgaben dieser Art einzuführen9s, ist die derzeitige Opposition Vgl. oben bei und in Fn. 71ff. Vgl. dazu etwa Breuer (Fn. 32), S. 567ff. und passim; Arndt (Fn. 6), S . 710ff., jew. m . Nachw.; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 4. Aufl. (1986), S. 48ff. und passim. 96 Vgl. dazu Soell (Fn. 21), S. 644f. 97 Vgl. zu dieser Sicht einer parafiskalischen Sonderabgabe erstmals BVerfGE 18, 315 (328). 94 95

Finanzierung des Umweltschutzes und Umweltschutz durch Finanzierung

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-insbesondere die Fraktion DIE GRÜNEN- gleichermaßen entschieden für die Ausweitung des abgabenrechtlichen Steuerungsinstrumentariums eingetreten. Ein Blick auf die im Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe99 zeigt das folgende Bild: Sowohl bei der von den GRÜNEN am 18.12. 1985 vorgeschlagenen Schadstoffabgabe auf die Freisetzung bestimmter LuftschadstoffeiOD als auch bei der von ihnen am 21.5.1986 eingebrachten Sondermüllabgabe auf problematische Abfällelai handelt es sich nach der Idee ihrer Initiatoren um Sonderabgaben-erstere aufgrund Art. 74 Nr. 24 GG und zweckgebunden für die Förderung von Umwelttechnologien für Feuerungsanlagen und von Maßnahmen für eine umweltverträglichere und rationelle Nutzung insbesondere einheimischer Steinkohle, letztere ebenfalls aufgrund Art. 74 Nr. 24 GG und zweckgebunden für Maßnahmen der Altlastensanierung. Während indes gegen die erstere Abgabe, die sich als reaktive Sonderabgabe darstellt, verfassungsrechtliche Bedenken grundsätzlicher Art nicht bestehen, wäre die Sondermüllabgabe weder als reaktive noch als aktive - parafiskalische - Sonderabgabe verfassungsrechtlich zulässig. Als reaktiver Sonderabgabe stünde ihr die Einbeziehung auch solcher Sondermüllproduzenten entgegen, die als solche zur Zeit der Altlastenentstehung noch nicht existent waren, als aktiver- parafiskalischer- Sonderabgabe fehlte es ihr aus eben diesem Grunde an durchgängiger gleichheitskonformer Sachnähe der Abgabepflichtigen zum Abgabezweck, vor allem aber an der gruppennützigen Verwendung des erzielten Abgabeaufkommens. Entsprechend der Ambition ihrer Schöpfer in der Tat als Verbrauchsteuer gemäß Art. 105 II i. V. mit Art. 106 I Nr. 2 GG stellt sich die von den GRÜNEN am 21.5.1986 vorgeschlagene Chlorsteuer102 dar, deren Aufkommen nach dem zugleich vorgelegten Entwurf eines Altlastenfondsgesetzes1 oa einem Sondervermögen des Bundes ("Altlastenfonds") zugedacht ist; seine Mittel sollen gemäß Art. 104 a IV GG den Ländern als Finanzhilfen für Maßnahmen der Altlastensanierung zur Verfügung gestellt werden. Letzteres 98 Vgl. BT-Drucks. 10/2885, S. 2 (im Zusammenhang mit der angestrebten Verminderung des Abfallaufkommens aus Einwegverpackungen); nachdrücklich insbes. BM Dr. Wallmann, BT-Prot. 10/225, S . 17503. 99 Vgl. die folgenden Gesetzentwürfe der Fraktion DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes über die Erhebung einer Abgabe auf Schadstoffemissionen (Schadstoffabgabengesetz), BT-Drucks. 10/4586; Entwurf eines Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zur Beseitigung von Altlasten (Altlastenfondsgesetz), BT-Drucks. 10/5529; Entwurf eines Chlorsteuergesetzes, BT-Drucks. 10/ 5530; Entwurf eines Gesetzes über die Erhebung einer Sonderabgabe auf Sondermüll (Sondermüllabgabengesetz), BTDrucks. 10/5531; vgl. auch den von der SPD-Fraktion vorgelegten Beschlußentwurf eines Konzepts zur Sanierung von Altlasten, BT-Drucks. 10/5527. Zur parlamentarischen Behandlung der vorgenannten Entwürfe vgl. BT-Prot. 10/225, S. 17494f. 100 BT-Drucks. 10/4586, S. 2, 7f. 101 BT-Drucks. 10/5531, S. 25ff. 102 BT-Drucks. 10/5530, S. 3ff. 1o3 BT-Drucks. 10/5529, S. 5 ff.

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Peter Selmer

Vorhaben ist freilich mit Art. 104a IV GG nicht vereinbar. Nicht nur bildet die Altlastensanierung als solche keinen nach dieser Bestimmung förderungsfähigen Investitionsbereich - worauf bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen wurde 104 . Das gemäß Art. 104 a IV S. 2 GG zu erlassende Gesetz muß vor allem auch die Höhe der finanziellen Bundesbeteiligung bestimmenlos; die pauschale Zurverfügungstellung notwendig schwankender und unbestimmter künftiger Steueraufkommen ist verfassungsrechtlich unzulässig; sie widerspricht nicht nur der Wortfassung des Art. 104 a IV GG, sondern auch der Ratio dieser Bestimmung, die Einwirkungen des Bundes auf die Länder vermittels Finanzhilfen in klar umrissene Grenzen zu verweisen106. Ein dem vorstehenden ähnliches Konzept zur Sanierung von Altlasten hat ferner unter dem 21.5.1986 auch die Bundestagsfraktion der SPD vorgelegtlo7. Es sieht die Bildung eines Sondervermögens "Arbeit und Umwelt" vor, in dessen Rahmen ein- u . a. durch einen "Entgiftungsbeitrag" der Industrie gespeister- Fonds zur Altlastensanierung gebildet werden soll, der auf der Grundlage von Länderprogrammen zur Finanzierung entsprechender Maßnahmen bestimmt ist. Auch dieses Vorhaben dürfte in mehrfacher Hinsicht finanzverfassungsrechtliche und grundrechtliche Probleme aufwerfen, deren nähere Erörterung sich angesichts der bislang nur verschwommenen Konturen des Konzepts freilich vorliegend verbietet. Die in letzter Zeit aufgeworfene weitere Frage, ob für bestimmte Konstellationen- so für die nicht vom Verursachergedanken abgedeckten Bereiche der Altlastenbereinigung - an Stelle einer abgaberechtlichen eine kooperative Lösung im Verhältnis von Staat und Wirtschaft zulässig und vorzuziehen isvoa, kann hier nicht vertiefend behandelt werden. Angesichts der geltenden gesetzlichen Ausformung des öffentlich-rechtlichen Vertrages in §§ 54 ff. VwVfG ist eine solche Lösung109 gewiß nicht von vornherein auszuschließen . Allerdings lassen sich auf diesem Wege keine Ergebnisse erzielen, die dem abgabenrechtlichen Zugriff des Staates als solchem verschlossen wärenuo. So erscheint die von der öffentlichen Hand und Unternehmensverbänden gelegentlich ins Auge gefaßte Vereinbarung altl. Die Grundlage für das nukleare Umweltschutzrecht in der DDR bildet das Gesetz über die Anwendung der Atomenergie und den Schutz vor ihren Gefahren - Atomenergiegesetz - aus dem Jahre 1983216, das an die Stelle s. DDR-Handbuch (Fn. 106), S. 97 (Stichwort: Atomenergie). Vgl. DDR-Handbuch (Fn. 106), S. 97 (Stichwort: Atomenergie) und W. Stinglwagner (Fn. 205), Energiewirtschaft, S. 64. 2oa s. erneut W. Stinglwagner (Fn. 205), Energiewirtschaft, S. 239 und R . Ökten (Fn. 137), Bedeutung des Umweltschutzes, S. 62 sowie ferner DDR-Handbuch (Fn. 106), S. 97 (Stichwort: Atomenergie). 209 Vgl. nochmals W. Stinglwagner (Fn. 205), Energiewirtschaft, S. 69. 21o Über die Zuverlässigkeit von Kernkraftwerken, in: Kernenergie 2/1984, S. 71 (zitiert nach W. Gruhn, Reaktionen der DDR auf Tschernobyl, Deutschland Archiv 1986, S. 676, 678); vgl. ergänzend auch DDR-Handbuch (Fn. 106), S. 49 (Stichwort: Nuklearer Umweltschutz) unter Hinweis u. a. auf Ernst Adam, Professor an der Technischen Universität Dresden. 211 s. dazu R. Ökten (Fn. 137), Bedeutung des Umweltschutzes, S. 62 m.Nachw. in Fn. 161 und 162. 212 Vgl. W. Stinglwagner (Fn. 205), Energiewirtschaft, S. 63, 64f. und 239. 213 s. wiederum W. Stinglwagner (Fn. 205), Energiewirtschaft, S. 66. 214 Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR (Fn. 108), S. 155 (unter Nr. 26). 215 s. die Pressemitteilung der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke v. 14.1. 1987; vgl. auch den Energiebericht der Bundesregierung v. 26. 9.1986, BT-Drucks. 10/6073, s. 5. 216 v. 8.12.1983, GBL I S. 325. 206 207

Das Umweltschutzrecht der DDR

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des Atomenergiegesetzes von 1962217 trat. Entsprechend seinem Titel regelt das neue Atomenergiegesetz (AtomG) zwei Bereiche, die Anwendung der Atomenergie sowie den Schutz vor ihren Gefahren. Beide Gegenstände bilden- wie im Schrifttum gesagt wird- eine "untrennbare Einheit"218. Unter "Anwendung der Atomenergie" versteht das Gesetz "den Einsatz von Kernanlagen" (§ 1 Abs. 3 AtomG), nämlich insbesondere die Errichtung, den Betrieb und die Stillegung von Kernkraftwerken, Forschungsreaktoren und Anlagen zur zentralen Endlagerung radioaktiver Abfälle (s. § 1 Abs. 5 AtomG i. V. m. der Anlage). Ferner begreift es darunter u. a. den "Einsatz von Strahleneinrichtungen", z. B. Röntgeneinrichtungen, aber auch Einrichtungen der Nuklearmedizin und zur Lebensmittelbehandlung (vgl. § 1 Abs. 3 AtomG i. V.m. der Anlage) 21 9. "Die Anwendung der Atomenergie unterliegt der staatlichen Kontrolle durch Erlaubniserteilung und Überwachung." (§ 2 Abs. 5 AtomG). Für die Erlaubniserteilung ist das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz zuständig (§ 7 Abs. 1 AtomG220). Was Kernanlagen betrifft, so erfolgt die Erlaubnis durch Genehmigung der "einzelnen Etappen" des Einsatzes221. Die Genehmigung wiederum "wird auf der Grundlage von Zustimmungen zu einzelnen Stufen und Teilen der Vorbereitung und Durchführung von Vorhaben erteilt"222. Vorgesehen sind z.B. Zustimmungen zum Standort223, zur Errichtung224 und Inbetriebnahme einer Kernanlage225 sowie zum Dauerbetrieb für einzelne Ausbaustufen einer Kernanlage226 . Dieses Procedere ähnelt dem gestuften atomrechtlichen Genehmigungsverfahren in der Bundesrepublik, in dem Teilgenehmigungen erteilt werden können227. 217 v. 28. 3.1962 (GBl. I S. 47) mit Änderung durch Gesetz v. 23.1.1964 (GBL I S. 1) und Gesetz v. 1. 9.1966 (GBl. I S. 75). 21B So H. Arndt I G. Iffländer, Friedliche Anwendung der Atomenergie und der Schutz vor ihren Gefahren- Gebot der Zeit, Staat und Recht 1984, S. 362, 365. 219 s. ergänzend H. Arndt I G. Iffländer (Fn. 218), Anwendung der Atomenergie, Staat und Recht 1984, S. 362, 364.- Vgl. auch die mit§ 1 Abs. 3 AtomG übereinstimmende Definition in § 1 Abs. 4 der Verordnung über die Gewährleistung von Atomsicherheit und Strahlenschutz (Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO) v. 11.10. 1984, GBL I S. 341. 22o Vgl. auch§ 4 Abs. 1 der Atomsicherheits- und StrahlschutzVO (Fn. 219). 221 s. § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V.m . § 4 Abs. 2 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). 222 So§ 4 Abs. 4 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). 223 Vgl. § 2 Abs. 3 und§ 4 der Kemanlagen-Genehmigungsanordnung v. 21. 6. 1979, GBl. I S. 198. 224 s. § 2 Abs. 3 und § 5 der genannten Genehmigungsanordnung (Fn. 223). 225 Vgl. § 2 Abs. 3 und§ 6 der erwähnten Genehmigungsanordnung (Fn. 223). 226 s. § 2 Abs. 3 und § 7 der angeführten Genehmigungsanordnung (Fn. 223). 227 Vgl. § 18 der Atomrechtlichen Verfahrensverordnung (AtVfV) i.d.F. der Bekanntmachung v. 31.3.1982 (GBl. I S. 411) und§ 7 Abs. 4 Satz 3 des Atomgesetzes (AtG) i.d.F. v. 15. 7.1985 (BGBLI S.1565), geändert durch Gesetz v. 18.2.1986 (BGBL I S. 265). -Die gleichfalls vorgesehene Möglichkeit eines Vorbescheides (§ 19 AtVfV und § 7 a AtG) hat demgegenüber keine praktische Bedeutung gewonnen; s. A. Weber, Vorbescheid und Teilgenehmigung im Atomrecht, DÖV 1980, S. 397, 398

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Umweltschutz

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Die Erlaubnis zur Anwendung der Atomenergie setzt in der DDR voraus, daß den Anforderungen an den Schutz vor den Gefahren der Atomenergie genügt wird (vgl. näher§ 7 Abs. 2 AtomG). Damit ist der zweite Regelungsbereich des Atomenergiegesetzes angesprochen. Er erstreckt sich zum einen auf die Atomsicherheit, d. h. die nukleare Sicherheit und die Maßnahmen zur Verhinderung der mißbräuchlichen Anwendung der Atomenergie. Zum anderen umfaßt er den Strahlenschutz, d. h. u. a. Maßnahmen, die dem Schutz des Menschen und seiner Umwelt vor schädigenden Einwirkungen ionisierender Strahlung dienen22B. Durch diese beiden Elemente des Schutzes vor den Gefahren der Atomenergie sollen u. a. folgende Ziele erreicht werden: "- der Schutz des Lebens und der Gesundheit des Menschen und unter genetischen Aspekten auch der Folgegenerationen vor der schädigenden Einwirkung ionisierender Strahlung, - der Schutz der Umwelt vor radioaktiver Verunreinigung . .. , - der Schutz von Kernmaterial und Kernanlagen gegen kriminelle Angriffe und unbefugte Einwirkungen, - die Erfüllung des zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Internationalen Atomenergieorganisation abgeschlossenen Sicherheitskontrollabkommens durch Nachweis des Einsatzes von Kernmaterial für ausschließlich friedliche Zwecke. "229

Das Atomgesetz der Bundesrepublik230 dient im wesentlichen den gleichen Zwecken (vgl. § 1 AtG). Was zunächst die Atomsicherheit in der DDR angeht, so sind z.B. bei der Standortwahl für Kernanlagen "die Forderungen zum Schutz der Kernanlagen vor äußeren Einwirkungen ... zu erfüllen"231 und sind die Kernanlagen bei ihrer Herstellung und Errichtung "mit Sicherheitssystemen" auszurüsten232. Ferner sind Kernanlagen "vor unbefugten Einwirkungen und kriminellen Angriffen zu schützen"233. Was den Strahlenschutz betrifft, so ist er zum Schutz von Leben und Gesundheit des Menschen "so zu gestalten, daß nichtstochastische Strahlenschäden234 ausgeschlossen und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von und M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, Berlin (West) 1983, s. 395. 228 Im einzelnen ergibt sich das aus§ 1 Abs. 4 und Abs. 5 AtomG i. V.m . der Anlage (Nr. 9 - 12) sowie § 1 Abs. 5 und Abs. 6 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). 229 So§ 2 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). 230 Vgl. den Nachweis oben in Fn. 227. 23 1 § 21 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). Details enthält§ 45 der Durchführungsbestimmung v. 11.10.1984 (GBL I S. 348) zur genannten Verordnung. 232 § 22 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). 233 So§ 24 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219).

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stochastischen235 Strahlenschäden auf ein wissenschaftlich vertretbares und für die Gesellschaft annehmbares Maß begrenzt werden"236. "Bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung von Investitionen . . . zur Anwendung der Atomenergie sind von den Betrieben die erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung radioaktiver Abfälle ... zu berücksichtigen"237, damit "der Schutz des Lebens und der Gesundheit des Menschen sowie der Schutz der Umwelt jederzeit gewährleistet ist" (§ 2 Abs. 4 AtomG). Außerdem legt der Präsident des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz Grenzwerte für die individuelle Strahlenbelastung und zur Durchführung praktischer Strahlenschutzmaßnahmen fest, die nicht überschritten werden dürfen238 . Entspricht die Anwendung der Atomenergie diesen Erfordernissen der Atomsicherheit sowie des Strahlenschutzes und damit dem Schutz vor den Gefahren der Atomenergie, dann ist sie zu genehmigen. "In begründeten Fällen" können durch den Präsidenten des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz allerdings Ausnahmen von den Festlegungen gemacht werden239 , die die Kernanlagen-Genehmigungsanordnung z.B. für die Inbetriebnahme von Kernanlagen vorsieht24o. Diese Regelung aus dem Jahre 1979 ermöglicht also, ohne hierfür präzise Merkmale aufzustellen, unter Umständen weitreichende Dispense. Sie muß jedoch im Lichte des Atomenergiegesetzes von 1983 gesehen werden. Nach § 2 Abs. 3 dieses Gesetzes hat der "Schutz des Lebens und der Gesundheit des Menschen sowie der Schutz der Umwelt vor den Gefahren der Atomenergie ... Vorrang gegenüber volkswirtschaftlichen und anderen Vorteilen, die sich aus der Anwendung der Atomenergie ergeben". Dadurch erscheint sichergestellt, daß vor allem ökonomische Gesichtspunkte nicht für die Ausnahmeerteilung bestimmend sein dürfen. Die ausdrückliche Zurückstellung volkswirtschaftlicher Belange durch das Atomenergiegesetz macht noch etwas anderes deutlich; sie zeigt, daß es 234 Nichtstochastische Strahlenschäden sind "Schäden, deren Schweregrad mit der Strahlenbelastung zunimmt und die erst oberhalb bestimmter Werte der Strahlenbelastung klinisch nachweisbar werden"; so die Begriffsbestimmung in § 1 Abs. 6 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219) i. V.m. der Anlage (Nr. 23). 23 5 Stochastische Strahlenschäden sind "Schäden, für die die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens mit der Strahlenbelastung zunimmt und deren Schweregrad nicht dosisabhängig ist"; so die Definition in§ 1 Abs. 8 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219) i. V. m. der Anlage (Nr. 22). 236 § 9 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219). 23 7 Vgl. § 17 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219) und die Anordnung über die zentrale Erfassung und Endlagerung radioaktiver Abfälle v. 25. 2.1986 (GBl. I S. 182), hier § 2 Abs. 5. 238 s. § 11 der Atomsicherheits- und StrahlenschutzVO (Fn. 219) i. V.m . §§ 25- 28 der Durchführungsbestimmung (Fn. 231) zur vorstehenden Verordnung. 239 A. a. 0. (Fn. 223). 239 Vgl. § 10 der Kernanlagen-Genehmigungsanordnung (Fn. 223). 240 s. § 2 Abs. 3 und § 5 der Anordnung.

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sich bei diesem erklärten Vorrang des Umweltschutzes offenbar nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt. Andernfalls hätte es der ausdrücklichen Prioritätensetzung nicht bedurft. Im Ergebnis belegt § 2 Abs. 3 AtomG daher- wie schon in früheren Zusammenhängen sichtbar wurde- daß das Umweltrecht der DDR ansonsten geneigt ist, ökonomischen Interessen gegenüber ökologischen größeres Gewicht, wenn nicht gar den Vorzug einzuräumen241. Das macht jüngst auch das Gesetz über den Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1986 bis 1990242 deutlich. Es spricht wiederholt von "dynamischem Wirtschaftswachstum", "volkswirtschaftlichem Wachstum" oder ähnlichem243 und plant dementsprechend Maßnahmen des Umweltschutzes nur insoweit, als sie dieser ökonomischen Zielsetzung förderlich oder zumindest nicht hinderlich sind, was z.B. auf die propagierte "Gewinnung von Abprodukten als Sekundärrohstoffe" und den "sparsamen Einsatz von Energie und Wasser" zutrifft244.

IV. Zusammenfassung - Das Umweltschutzrecht der DDR ist vielgestaltig. Es hat sich in der Verfassung und in einigen Gesetzen niedergeschlagen, vor allem hat es aber in unzähligen Verordnungen, Durchführungsbestimmungen, Anordnungen und sonstigen Rechtsquellen konkrete Form angenommen. - Das Umweltschutzrecht der DDR ist umfassend. Die einschlägigen Materien, insbesondere der Naturschutz, die Abfallverwertung und -beseitigung, der Lärmschutz, die Reinhaltung der Luft und des Wassers sowie die Atomsicherheit und der Strahlenschutz sind detailliert geregelt. - Das Umweltschutzrecht der DDR ist bzw. war teilweise der Entwicklung in der Bundesrepublik voraus. Das gilt für das Abfallrecht hinsichtlich der Vermeidung und Verwertung von Abfällen, ferner für das Wasserrecht bezüglich der Schonung der Wasservorräte. - Das Umweltschutzrecht der DDR hinkt vielfach der Entwicklung in der Bundesrepublik hinterher. Das trifft insbesondere für die nur geringen Sanktionen zu, die das Recht der DDR bei Verstößen gegen das Umweltrecht vorsieht, des weiteren für die mannigfachen Ausnahmen, die es im Interesse der Volkswirtschaft zuläßt. 241 s. auch W. Gruhn, Umweltschutz als ökonomischer Faktor, in: Umweltprobleme und Umweltbewußtsein in der DDR, herausgegeben von der Redaktion des Deutschland Archiv, Köln 1985, S. 97, 112 und R. Raestrup I T. Weymar, "Schuld ist allein der Kapitalismus" , Deutschland Archiv 1982, S. 832, 839f. 242 V. 27.11.1986 (GBL I s. 449). 243 Vgl. a. a . 0. (Fn. 242), S. 449, 451 (unter II. 1. und 2.), 453 (unter 6.), 454 (unter III.), 455 (unter 111. 1. und 2.), 459 (unter 6.). 244 s. a . a. 0 . (Fn. 242), S. 460 (unter 8.), ferner S. 452 (unter 3.) und S. 455 (unter 1.).

Umweltschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht Von Gert Nicolaysen I. Einleitung

Meine Einleitung kommt in drei Schritten zu drei grundlegenden Feststellungen: 1. Umweltschutzrecht ist eine überregionale Angelegenheit, sie ist damit

eine europäische Sache und deswegen eine Aufgabe für die Europäischen Gemeinschaften.

2. Die Europäischen Verträge, insbesondere der EWG-Vertrag, sprechen

bisher mit keinem Wort von Umweltschutz 1 . Vor allem enthalten sie bisher keine ausdrücklich auf den Umweltschutz bezogenen Kompetenzen der Gemeinschaften. Die Tragweite dieser Feststellung ist groß, denn jeder Rechtsakt, den die Organe erlassen, bedarf einer Ermächtigung in den Verträgen. Es gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelzuständigkeiten (competences d'attribution), die Gemeinschaft besitzt keine Allzuständigkeit, sie ist kein Staat.

3. Die EWG hat seit 1970 im Umweltschutz ein nach Gegenständen und Intensität weitreichendes Regelwerk verbindlicher Rechtsätze geschaffen2. Sie hat in vier Aktionsprogrammen die Ziele und Grundsätze ihrer eigenen Umweltpolitik entwickelt3 und zu ihrer Durchführung weit über 100 Rechtsvorschriften, Verordnungen und Richtlinien erlassen. 1987 wird das Jahr des europäischen Umweltschutzes4. 1

Nur im

Euratom-V.~rtrag

gibt es Bestimmungen über Gesundheitsschutz

(Art. 30 - 38 EAGV) und Uberwachung der Sicherheit (Art. 77 - 85 EAGV). 2 L. Krämer, in: Groeben I Boeckh I Thiesing I Ehlermann, Komm. z. EWGV, 3. A.

1983, Umweltpolitik, Rdnr. lff.; Verzeichnisse der Rechtsakte s. in der Veröffentlichung der EG-Kommission "Zehn Jahre Umweltpolitik der Europäischen Gemeinschaften, März 1984 sowie des Umweltbundesamtes: "Rechtsakte und Vorschläge für Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiete des Umweltschutzes, Stand 15. 7.1985, bearb. von S. Lohse (Texte 22/85). 3 1. Programm von 1973, s. ABI. C 112 v. 20.12.1973 S. 1; 2. Programm 1977 (Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen zur Fortschreibung und Durchführung der Umweltpolitik und des Aktionsprogramms), s. ABL C 139 vom 13. 6.1977; 3. Programm von 1983, ABI. C 46 v. 17. 2. 1983; 4. Programm von der Kommission vorgelegt am 8.10.1986, KOM (86) 485 endg. 4 Das "Europäische Jahr des Umweltschutzes" beginnt am 21.3 . 1987, s. das 4. Aktionsprogramm (Fn. 3) Ziff. 8.2.

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Gert Nicolaysen ß. Grenzüberschreitender Umweltschutz

Diese drei Thesen bedürfen der Erläuterung. Am wenigsten die erste Feststellung von der Überregionalität des Umweltschutzes, die ohne weiteres aus der Überregionalität der Bedrohung und der Beschädigung folgt. Sie bedarf heute keines Beweises mehr, die Beispiele sind bekannt5 . Die Schlußfolgerung von diesem Ausgangspunkt zu den Europäischen Gemeinschaften ist nicht zwingend: Deren Grenzen sind nicht auch die Grenzen von Umweltschäden, schon Baselliegt außerhalb der Gemeinschaft. Wenn daher von "europäischer Sache" gesprochen wird, so ist dies zunächst im geografischen Sinne gemeint6 • Die Überlegung gelangt indes zur EWG, weil in ihr eine überregionale Organisation bereitsteht, die von ihrer Struktur her zur überregionalen Rechtsetzung in der Lage ist, aber letztlich faute de mieux und in vorläufiger Resignation vor der Aufgabe der Gründung einer gesamteuropäischen Organisation. Die Grenzüberschreitung der Schäden auch aus der überregionalen Sicht der Europäischen Gemeinschaft spiegelt sich darin, daß die Gemeinschaft vielen internationalen überregionalen Übereinkommen beigetreten ist7. Sie betreffen u. a. den Schutz des Rheins, des Mittelmeers und der Nordsee, die Meeresverschmutzung und die Erhaltung von Pflanzen und Tieren bis zur Antarktis; zu nennen ist aber auch das Übereinkommen von Genf (1979) zur Verhütung weiträumiger, grenzüberschreitender Luftverunreinigung in Europa8 . ßl. Das Schweigen der Verträge

Die zweite Feststellung galt den fehlenden Bestimmungen über Umweltkompetenzen der Gemeinschaft. Sie erklärt sich ohne weiteres aus der jeweiligen Zeit des Vertragsschlusses: Der EGKS-Vertrag datiert aus 1951, die Römischen Verträge wurden 1957 unterzeichnet. Der EWG-Vertrag insbesondere beschäftigt sich mit Wirtschaft, mit der Herstellung eines Gemeinsamen Marktes und mit einigen Gebieten, die damit zusammenhängen. Als dazugehörig oder damit zusammenhängend wurden z. B. die AgrarVgl. dazu auch in der Ringvorlesung die Referate von R. Lagoni und Ph. Kunig. In einer sicherlich zu hoffnungsvollen Parallele zur KSZE-Konferenz könnte man vom "Helsinki-Europa" sprechen; vgl. auch den Sammelband "Grenzüberschreitender Umweltschutz in Europa", hrsgg. v. der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Bd. 16), Heidelberg 1984. Im weiteren Rahmens. jetzt M. Kilian, Umweltschutz durch Internationale Organisationen, 1987. 7 s. die Liste im Anhang von Zehn Jahre Umweltpolitik der EG (Fn. 2), auch etwa das Übereinkommen über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Versehrnutzung der Nordsee durch Öl und andere Schadstoffe, Ratsbeschluß v. 28. 6.1984, ABI. L 188 V. 16. 7. 1984. s Vgl. zu diesem Abkommen Kunig und Lagoni, unten S . 213ff., S . 233ff. 5

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Umweltschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht

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märkte und die Verkehrspolitik betrachtet, auch die Sozialpolitik, aber eben nicht der Umweltschutz. Übrigens waren auch einige weitere Bereiche damals noch nicht im Blick, derer sich die Gemeinschaft später angenommen hat: Forschung und Technologie, Regionalpolitik, auch nicht eine eigene Energiepolitik oder der Verbraucherschutz. Wenn man vom heutigen "Stellenwert" des Umweltschutzes ausgeht, so wäre wohl denkbar, daß man speziell für seine Zwecke eine eigene Organisation gegründet hätte, eine "Umweltgemeinschaft", so wie damals eine "Wirtschaftsgemeinschaft". So wie damals und heute für die Wirtschaft, so gelten auch für den Umweltschutz gute Gründe dafür, Aufgaben und Befugnisse auf eine übernationale Organisation zu übertragen: Seine fundamentale Bedeutung für die menschliche Existenz so wie für die Wirtschaft und ebenso die Angewiesenheit auf den größeren Raum - so wie im Fall des Gemeinsamen Marktes- und die Notwendigkeit, die separaten und zersplitterten Kräfte einzelner Staaten zusammenzufassen. Damals aber, 1957, war dies alles noch nicht im Blick, trotzder Londoner Smog-Katastrophe 1953, und wir können uns nur fragen, für welche Gefahren in der Zukunft wir wiederum heute nicht hellsichtig sind.

IV. Das Regelwerk des gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutzes Zur dritten Feststellung wären hier die betreffenden Aktivitäten der Gemeinschaft zu schildern. Das gäbe allerdings Stoff für eine eigene Ringvorlesung, und die heutige Veranstaltung würde kaum ausreichen, die Überschriften der unzähligen Rechtsakte zu verlesen, die seit Anfang der siebziger Jahre von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erlassen worden sind. Die geregelten Materien betreffen Gewässer, Luft, chemische Erzeugnisse, Lärm, Abfälle, Lebensraum und natürliche Ressourcen, Pflanzen und Tiere, wesentliche Initiativen auch für die Organisation und Förderung der Forschung zum Umweltschutz 9 . Sehr aufschlußreich könnte es sein, die juristischen Elemente und Techniken zusammenzustellen, die der gemeinschaftsrechtliche Umweltschutz enthält und die von den Mitgliedstaaten in der Realisierung dieses Rechts eingeführt werden müssen. Schon ein erster Überblick ergibt einen umfassenden Katalog staatlicher Interventionen, vom strikten Verbot bis zur einfachen Beobachtung. Es finden sich Genehmigungspflichten und Untersagungen, Kennzeichnungspflichten, Regeln über Etikettierung, Kontrollen, Überwachungen, Sammlung und Meldung von Werten, Informationssysteme, einheitliche 9 s. die Nachweise in Fn. 2; s. fei'fiet etwa Nigel Haigh, EEC Environment Policy and Britain, London 1984.

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Meßverfahren, Qualitätsnormen, Höchstzahlen und Grenzwerte für Zusätze, für Einleitungen und Emissionen, für Schadstoffe in der Luft und im Wasser, Geräuschpegel z. B. für Preßlufthämmer und Rasenmäher, aber auch in positiver Weise Umweltbeihilfen, Einrichtung und Finanzierung von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen; sogar gemeinsame Übungen zur Bekämpfung von Waldbränden hat es gegebenlo. Femer ist eine ständige Anpassung nötig, sowohl an neue Erkenntnisse, wie auch an den Stand der Techniken zur Bekämpfung von Gefahren11 .. Es wäre sicherlich reizvoll und ergiebig, dieses breitgefächerte Instrumentarium zu sortieren, systematisieren und zu analysieren: Statt dessen sollen im folgenden einige konkrete Beispiele von Rechtsätzen sehr unterschiedlicher Inhalte geschildert werden, auch um die praktische Spannweite der Gemeinschaftsarbeit in diesem Sektor zu illustrieren. So existiert z. B. ein umfangreiches Regelwerk im Naturschutz (Tiere und Pflanzen), etwa eine Richtlinie über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten12, in der es verboten wird, die betreffenden Vögel zu töten, zu fangen oder zu stören, und im Anhang werden die geschützten Vögel aufgezählt, wie z. B. die Rohrdommel und der Singschwan, der Uhu, Rebhuhn und Fasan, Schnatterente, Waldschnepfe, Gelbschnabelsturmtaucher. Es gibt eine Verordnung über die Einfuhr von Walerzeugnissen (Genehmigungspflicht)13 und Durchführungsvorschriften dazu14. Die gewerbliche Einfuhr von Fellen bestimmter Jungrobben und von Waren daraus mußten die Mitgliedstaaten verbietenl5. Von ganz anderem Gewicht sind einige Richtlinien auf dem Gebiet der Chemikalien. So wurde nach der Seveso-Katastrophe eine Richtlinie erlassen über die Gefahren von Großunfällen16. Diese Richtlinie enthält allgemeine Normen über die Verantwortlichkeit der Industrie und der Mitglied1o Es handelt sich um die Aktion "Flora", s. die Mitteilung der Kommission an die Presse vom 8. 2.1985 (JP (85) 29). Zum Waldschutz s. aber jetzt auch die VO Nr. 3528/ 86 des Rates v. 17.11.1986 über den Schutz des Waldes in der Gemeinschaft gegen Luftverschmutzung und die VO Nr. 3529/86 des Rates v. 17.11.1986 über den Schutz des Waldes in der Gemeinschaft gegen Brände, beide ABl. L 326 v. 21.11.1986; dazu die Durchführungsbestimmungen in zwei VOen der Kommission v. 20.2.1987, ABL L 53 V . 21.2.1987. n Vgl. dazu- auch rechtsvergleichend- H.-W. Rengeling, Der Stand der Technik bei der Genehmigung umweltgefährdender Anlagen, 1985. - Fortschritte können daher zu ständigen Novellierungen des Umweltschutzrechts führen; das Ziel einer "Bekämpfung der Gesetzesflut" bleibt dabei zwar auf der Strecke, ist aber auch in seiner Relativität zu erkennen. · 12 Richtl. des Rates v. 2. 4. 1981, ABl. L 103 v. 25. 4. 1979. 13 VO des Rates v. 20.1.1981, ABl. L 39 v. 12. 2.1981. 14 VO der Kommission v. 22.1.1981, ABI. L 377 v. 31.12.1981. 15 Richtl. v. 23. 3. 1983, ABL L 91 v. 9. 4. 1983. 16 Richtlinie des Rates v. 24. 6. 1982 über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten, ABL L 230 v. 5. 8.1982.

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staatenhinsichtlich der Verhütung von Großunfällen und die Begrenzung ihrer Folgen. Außerdem wird darin die Information der betroffenen Bevölkerung bei einem größeren Unfall gefordert, sowohl innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats, als auch über die einzelstaatlichen Grenzen hinweg, sofern grenzüberschreitende Auswirkungen zu erwarten sind. Ferner veranstaltet die Kommission Sitzungen von Sachverständigen und der einzelstaatlichen Behörden, auf denen praktische Informationen ausgetauscht und Fragen der Durchführung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten erörtert werden sollen. Schließlich hat die Kommission dem Rat und deni Europäischen Parlament im Jahre 1987 einen Bericht über die Anwendung der Richtlinie vorzulegen, damit Fortschritte geprüft und die Sicherheitsmaßnahmen auf den neuesten Stand gebracht werden können. Nach dem Sandoz-Unfall im November 1986 hieß es, daß nach den Maßstäben dieser Richtlinie ein solcher· Unfall hätte vermieden werden könnenl7. Auch hat die Schweiz in Aussicht gestellt, ihr eigenes Recht zukünftig an der Seveso-Richtlinie zu orientieren18 . Ein weiteres Regelwerk befaßt sich mit der Umweltverträglichkeit von Auto-Abgasen, so etwa die umstrittene Richtlinie zur Allgleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Bleigehalt von Benzin vom 20.3.198519. Danach müssen die Mitgliedstaaten einerseits die Versorgung mit bleifreiem Benzin bis 1. Okt. 1989 sicherstellen, andererseits dürfen sie aber die Vermarktung von Benzin mit zulässigem Bleigehalt nicht verhindernl9a. Eine Richtlinie über einheitliche Abgaswerte wird bisher noch von Dänemark verhindert, dem die vorgeschlagenen Werte nicht streng genug sind20 . V. Umweltschutz und Gemein.samer Markt- das Kompetenzproblem Zur dritten Feststellung mit ihrem Hinweis auf das umfangreiche Regelwerk der Gemeinschaft bedarf es einer Auflösung des Widerspruchs zwischen der Existenz eines gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutzrechts einerseits und dem zuvor festgestellten Fehlen umweltschutzrechtlicher Kompetenznormen des EWG-Vertrags. Dieses Kompetenzproblem hat die VWD Europa Nr. 220 v. 17. 11.1986. VWD Europa Nr. 219 v. 14.11.1986, vgl. auch Nr. 226 v. 26.11.1986. 19 ABL L 96 v. 3. 4.1985, S. 25. 19a Eine Änderungsrichtlinie des Rates vom 21.7.1987 hat nunmehr auf Wunsch der Bundesrepublik die Möglichkeit geschaffen, verbleites Einfachbenzin unter bestimmten Voraussetzungen zu verbieten, ABl. L 225 v. 13. 8.1987, S . 33. 20 Vgl. zu diesem Komplex eingehend G. Corcelle, L'introduction de la .,voiture propre" -en Europe: suite et fin? Rev. d . Marche Commun 1986, S. 125; s. auch E. Steindorff, Umweltschutz in Gemeinschaftshand?RIW 1985, S. 767. 17 18

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Wissenschaft ausgiebig beschäftigt2 1 • Durch die Einheitliche Europäische Akte22 , die am 1. 7.1987 in Kraft getreten ist23, wird es indessen gelöst oder auf eine neue Grundlage gestellt: Die neu in,den EWG-Vertrag eingefügten Artikel 130r- 130t betreffen den neuen Titel "Umwelt", und in Art. 130s Abs. 1 wird dem Rat die Befugnis verliehen, auf Vorschlag der Kommission sowie nach Anhörung des Parlaments einstimmig Beschlüsse über das Tätigwerden der Gemeinschaft im Umweltschutz zu fassen24. Trotzdem ist auch heute nicht ohne Interesse, wie die Kompetenzfrage bisher gelöst wurde; diese Lösungen ermöglichen Schlüsse auf den Bezug zwischen den wirtschaftlichen und sonstigen Zielen des EWG-Vertrags zum Umweltschutz und auf den Standort und die Tragweite des Umweltschutzes in der Europäischen Gemeinschaft. Im wesentlichen gab es zwei Linien zur Begründung der Umweltschutzkompetenz. Zum ersten wurde sie abgeleitet aus der wirtschaftlichen Relevanz von Rechtsvorschriften über den Umweltschutz. Unterschiede in diesen Vorschriften können sich auf den Wettbewerb und den freien Warenverkehr auswirken, und unter diesen Voraussetzungen ermächtigt der Vertrag die Gemeinschaft zur Angleichung des Rechts (Art. 100 EWGV) 25 . Beispiele dafür bieten zunächst die zahlreichen Richtlinien der Gemeinschaft, die belastende Vorschriften für Unternehmen betreffen; so z. B. eine 21 In der Bundesrepublik hat der Bundesrat hartnäckig die Kompetenz der Gemeinschaft zu einer umfassenden Umweltschutzpolitik bestritten, vgl. schon die Stellungnahme vom 22. 2.1973, B-Rat, Drucks. 120173, vgl. K. v. Moltke, Environment and Resources Policy, the Federal Republic and the European Community, in WesternEuropein Transition, West Germany's Role in the EC, Nomos 1986, S. 61, 75. Zur Rechtsfrage s. z. B. Touscoz, L'action des Communautes Europeennes en matiere d'environnement, Rev. trim. dr. eur. 1973, 29; Vygen, Ergänzung des EWG-Vertrags im Hinblick auf eine europäische Umweltpolitik, ZRP 1974, 58; Grabitz I Sasse, Umweltkompetenz der Europäischen Gemeinschaften, 1977; Behrens, Rechtsgrundlagen der Umweltpolitik der Europäischen Gemeinschaften, Beiträge zur Umweltgestaltung Heft A 55, 1976; Christel Offermann-Clas, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften im Umweltschutz, Zeitschr. f. Umweltpolitik 1983, 47; Zweifel an der Kompetenz der Gemeinschaft noch neuerdings bei L. Gündling, Völkerrechtliche und europarech~liche Aspekte der Luftreinhaltung, UPR 1985, 403, auch mit Bedenken gegen eine Uberschreitung der Grenzen der Gemeinschaft als einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft und schnell widerlegbaren Zweifeln an einer Ergänzung der Kompetenzen (409); kritisch auch M. Kloepfer, Europäischer Umweltschutz ohne Kompetenz? UPR 1986, 321. 22 Vertrag über die Einheitliche Europäische Akte VQm 17. 2. und 28. 2.1986, veröffentlicht in Beilage 2/86 zum EG-Bulletin oder in El.iR 1986, 175. 23 Der vorgesehene Termin am 1.1.1987 wurde durch ein Gerichtsverfahren in Irland hinausgezögert, das die Ratifikation dieses Landes blockierte. 24 s. dazu H.-J. Glaesner, Die Einheitliche Europäische Akte, EuR 1986, 119 und P . Pescatore, Die "Einheitliche Europäische Akte" - Eine ernste Gefahr für den Gemeinsamen Markt, ebenda $ . 153; E. Grabitz und C.-D. Ehlermann, Integration 1986, s. 95 u. 101. 25 Diese Rechtsgrundlage ist auch von der in Fn. 21 zitierten Kritik an einer weiten Handhabung der Gemeinschaftskompetenz nicht bestritten worden.

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Richtlinie über die Versehrnutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft26 , die Höchstwerte festlegt; oder die Richtlinie über Abfälle aus der Titandioxid-Produktion27 ebenso wie die Richtlinie über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe28 . In allen diesen Fällen führt die Rechtsangleichung zur Allgleichung der Bedingungen für die produzierenden und verarbeitenden Unternehmen in den Mitgliedstaaten und damit zur Allgleichung ihrer Ausgangslage im Wettbewerb. Solche Aspekte gelten auch für die umfangreiche Rechtsetzung der Gemeinschaft über die Beschränkung von Emissionen zur Reinhaltung der Luft (Großfeuerungsanlagen usw.) 29 . Der freie Warenverkehr ist betroffen, wenn in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Vorschriften über die technische Ausrüstung bestimmter Produkte im Hinblick auf die Umwelt bestehen; zu denken ist etwa an die Abgasvorschriften von Kraftfahrzeugenao oder an die Begrenzung von Geräuschemissionen bei technischen Geräten31 . Hier könnten Mitgliedstaaten die Einfuhr solcher Produkte verbieten, die ihren inländischen Bestimmungen nicht entsprechen, und zwar evtl. auch unter Berufung auf die Schutzklausel des Art. 36 EWGV3 2. -In Fällen dieser Art sind es also die wirtschaftsrechtlichen Zielsetzungen und Kompetenzen des Vertrags, die eine Rechtsetzung, insbesondere zur Rechtsangleichung, mit umweltschützenden Inhalten ermöglicht haben. In anderen Fällen fehlen diese direkten ökonomischen Bezüge und Zusammenhänge, z. B. läßt sich das Ziel der Erhaltung wildlebender Vogelarten33 nicht mit der Allgleichung von Wettbewerbsbedingungen und nicht mit dem Ziel des freien Warenverkehrs rec~tfertigen. Die Gemeinschaft ist daher auf eine subsidiäre Rechtsetzungszuständigkeit ausgewichen, die Richtl. v. 4. 5.1976, ABI. L 129 v. 18. 5. 1976. Richtl. v. 20. 2. 1978, ABI. L 54 v. 25. 2.1978. 28 Richtl. v. 17.12.1979, ABI. L 20 v. 26.1.1980. 29 s. dazu besonders Christel Offermann-Clas, Das Luftreinhalterecht der Europäischen Gemeinschaften- Fortschritte seit dem Jahre 1983, NJW 1986, 1388. 30 s. dazu die Nachweise in Fn. 19 und 20. 31 s. das Verzeichnis im Anhang des Berichts der Kommission "Zehn Jahre Umweltpolitik" (Fn. 2), S. 41; dort sind Richtlinien über die Geräuschpegel von Kraftfahrzeugen, Krafträdern, landwirtschaftlichen Zugmaschinen, Baustellenmaschinen und Luftfahrzeugen sowie zahlreiche Vorschläge zu Richtlinien verzeichnet; s. jetzt die Richtlinie v. 1.12. 1986 über die Geräuschemissionen von Haushaltsgeräten, ABI. L 344 v. 6.12.1986, S. 24. 32 Art. 36 EWGV enthält Ausnahmen vom freien Warenverkehr u. a. aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen. Nach einer Allgleichung der mitgliedstaatliehen Schutzvorschriften auf den betreffenden Gebieten können Behinderungen des Warenverkehrs mit diesen Gründen naturgemäß nicht mehr gerechtfertigt werden. 33 Richtl. v. 2. 4.1981, ABI. L 103 v. 25.4. 1979. 2s 21

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Art. 235 EWGV ihr zur Verfügung stellt, Wenn ihre Ziele anders nicht zu erreichen sind34. Es kam also darauf an, die Erhaltung der natürlichen Umwelt als ein Ziel der Gemeinschaft zu definieren. Dazu bedurfte es extensiver Interpretation der Präambel und des Art. 2 EWGV; in der Präambel ist "die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen" der Völker als "wesentliches Ziel" genannt. Dazu gehörte zwar nicht 1957, wohl aber gehört heute dazu auch die ökologische Perspektive; in Art. 2 wird die beschleunigte Hebung der Lebenshaltung als Ziel verkündet. Es gibt im Vertrag auch weitere Ansätze für umweltschutzrechtliche Aktivitäten. Bekanntlich ist die agrarpolitische Ermächtigung der Gemeinschaft von großer Bedeutung und praktisch unbegrenzt3s. Sie schließt also auch die Regelung ökologischer Aspekte der Landwirtschaft ein, die zunehmend in den Vordergrund treten, wie z. B. die Begriffe Bodenschutz und Agrarchemie zeigen. Ein anderes Beispiel bieten die Maßnahmen der Gemeinschaft nach Tschemobyl zur Aussetzung der Einfuhren36 und zur Regelung der Einfuhrbedingungen37. Wenn dabei die Einfuhr bestimmter Produkte (von Fleisch, Milch, Obst und Gemüse bis hin zu Froschschenkeln) aus bestimmten Gründen zunächst verboten wurde und sodann bestimmte Becquerel-Werte festgelegt wurden, so beruhte das auf der agrarpolitischen und der außenhandelspolitischen Kompetenz der Gemeinschaft38 . In der Praxis überschneiden sich die verschiedenen Begründungen für die Zuständigkeit oftmals; schließlich sind sie wohl fast zu einer neuen, einheitlichen und nur noch wenig bezweifelten Gemeinschaftskompetenz zusammengeschmolzen39. Dieser Vorgang einer stetigen Ausweitung der Rechtsetzung der Gemeinschaft bis zur schließliehen ausdrücklichen Anerkennung 34

ling.

Zu Art. 235 EWGV s. die neuesten Monographien von M. Dauses und U. Ever-

s. Art. 43 Abs. 2 UA 3. VO Nr. 1388/86 des Rates v. 12.5.1986 über die Aussetzung der Einfuhren bestimmter Agrarerzeugnisse mit Ursprung in bestimmten Drittländern, ABI. L 127 v. 13. 5.1986. 37 VO Nr. 1707/86 des Rates über die Einfuhrbedingungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl, ABI. L 146 v. 31. 5.1986, S. 88; Durchführungsbestimmungen der Kommission in der VO Nr. 1762/86 v. 5. 6. 1986, ABI. L 152 v. 6. 6. 1986, S. 41. 38 s. dazu Grunwald, Tschernobyl und das Gemeinschaftsrecht, EuR 1986, 315, 325f., der im übrigen zu Recht die Kompetenz aus dem Euratom-Vertrag betont; s. ferner den Bericht der Kommission an den Rat und das Parlament: ,.Der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl und seine Folgen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, KOM (86) 607 v. 7.11.1986. 39 Dies auch gegen die oben in Fn. 21 zitierten Zweifel an der Gemeinschaftskompetenz. Gerade die Handhabung des Umweltschutzes in der Gemeinschaft zeigt, daß die Kompetenz im Gemeinschaftsrecht keine starre und unveränderliche Kategorie ist, sondern zuweilen auch dynamischen Einwirkungen der Politik ausgesetzt sein kann. Das zeigt z. B. auch die Entwicklung des Art. 235 EWGV. 35

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und Fixierung ihrer Zuständigkeit im positiven Recht der Einheitlichen Akte bestätigt übrigens die alte Theorie der funktionalen Integration, diese Strategie des schrittweisen und sich von einzelnen Funktionen her im "spillover-Effekt" und dynamisch ausweitenden Integrationsprozesses4o. VI. Der Umweltschutz in der Einheitlichen Europäischen Akte Nach diesem Rückblick auf die Entwicklung erscheint die Einheitliche Europäische Akte auch in ihrer Regelung der Umweltkompetenz eher als Abschluß und Bestätigung lange vorgezeichneter Linien, also kein großer Sprung nach vorn, aber für die Rechtsanwendung nicht ohne Bedeutung: Der Umweltschutz emanzipiert sich aus seiner nur dienenden Funktion zum eigenen Ziel und Inhalt des Vertrags, im gleichen Rang wie die ökonomische Zielsetzung des Gemeinsamen Marktes und nicht mehr abhängig von ihr, ferner auch nicht mehr bedürftig der prekären Anknüpfung an die Formeln der Präambel41. Im übrigen muß im einzelnen untersucht werden, ob der neue UmweltTitel des Vertrags (Art. 130r- 130t) nicht durch Einschränkungen auf der anderen Seite wieder nimmt, was er auf der einen Seite durch erhöhte Rechtssicherheit gewährt zu haben scheint. Folgende Inhalte geben zu solchen Bedenken Anlaß: Eine Art Subsidiarität der Gemeinschaftskompetenz: die Gemeinschaft soll nur insoweit tätig werden, wie die Ziele des Umweltschutzes auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 130 r Abs. 4).- Diese Subsidiarität könnte indes ähnlich einschränkend gehandhabt werden wie die konkurrierende Zuständigkeit im GG42. Die Mitgliedstaaten haben sich die Kompetenz zum Abschluß internationaler Abkommen vorbehalten (Art. 130r Abs. 5 Unterabsatz 2). Allerdings wird in der Schlußakte zum Vertrag über die Einheitliche Akte eine Erklärung zu Art. 130r abgegeben, nach der dieser Vorbehalt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nämlich die Grundsätze aus dem AETRUrteil über die auswärtigen Zuständigkeiten der Gemeinschaft, nicht berührt43 . Dieser Widerspruch bedarf der Auflösung. 40 Vgl. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 54/7ff.; zur Entwicklung neuer Politiken im allgemeinen s. H.-J. Glaesner, Die Einführung neuer Politiken in der Europäischen Gemeinschaft, in: Gesetzgebung in der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg. J. Schwarze) 1985, S. 31, zur Umweltpolitik s. dort S . 45ff. 41 Zum Umweltschutzrecht in der Einheitlichen Akte s. H.-J. Glaesner, EuR 1986 (Fn. 24), 140ff. 42 Auch H.-J. Glaesner (Fn. 24), S. 140, sieht hier wohl keine wesentliche Einschränkung gegenüber der bisherigen Praxis.

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- Die Mitgliedstaaten können ferner auch "verstärkte Schutzmaßnahmen" beibehalten oder ergreifen (Art. 130t). Das ist eine Konzession, die im Sinne einer Maximierung des Umweltschutzes sicher positiv zu bewerten ist, die indessen diesem Ziel die Einheitlichkeit der Regelungen in der Gemeinschaft opfert. Zwar ist richtig, daß schon bisher in vielen Rechtsakten ein Vorbehalt zugunsten eines stärkeren Schutzes in einzelnen Mitgliedstaaten enthalten war, aber die neue Vertragsregelung hätte besser das Ziel des einheitlichen Schutzes auf hohem Niveau stützen sollen. An anderer Stelle der Einheitlichen Akte findet sich denn auch der Satz, daß die Kommission bei ihren Vorschlägen zu Rechtsangleichung in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und Umweltschutz sowie Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau auszugehen hat (Art. 100a Abs. 3). - Ferner wird in der Schlußerklärung der Mitgliedstaaten ein allgemeiner Vorbehalt zugunsten der Energieversorgung gemacht: Es wird festgestellt, "daß die Tätigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Umweltschutzes sich nicht störend auf die einzelstaatliche Politik der Nutzung der Energieressourcen auswirken darf" (Erklärung zu Art. 130r Abs. 1 dritter Gedankenstrich). In dieser Erklärung sind zwei Prioritäten gesetzt: Energiepolitik vor Umweltschutz und Einzelstaatlichkeit vor Gemeinsamkeit. Beides schließt indessen Bemühungen um einen verstärkten gemeinschaftsrechtlichen Schutz auch bei der Energieerzeugung durch konventionelle und Kernkraftwerke nicht aus, aber die Ausgangsposition für solche Bemühungen hat sich doch wohl verschlechtert44. Der Klärung bedürftig ist schließlich die Abgrenzung der Kompetenz des Rates nach Art. 130s im Tätigkeitsbereich "Umwelt" gegenüber seiner gegenständlich weitergreifenden Zuständigkeit zur Rechtsangleichung: Dort führt die Einheitliche Akte mit dem neuen Art. 100a (abweichend von dem bisher allein maßgeblichen Art. 100 EWGV) das "Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament" ein, bei dem das Parlament eine gegenüber der bisherigen Anhörung verstärkte Möglichkeit des Einflusses erhält45 , überdies können die Maßnahmen auf dem Gebiet der Rechtsangleichung nach Art. 100a nunmehr mit qualifizierter Mehrheit des Rates wirksam werden, während Art. 130 a es für den Umweltschutz beim Erfordernis der Einstimmigkeit beläßt. Da Art. 100 a Abs. 3 indes für die Vorschläge zur Rechtsangleichung ausdrücklich auch den 43 s. das Urteil v. 31. 3.1971, Slg. 1971, 263, m. Anm. Sasse in EuR 1971, 208; zur auswärtigen Gewalt der Gemeinschaften s. im übrigen Nicolaysen, Europäisches Gemeinschaftsrecht 1979, S. 48ff. 44 Für das Gebiet der Kernenergie ist hier auf die speziellen Bestimmungen des Euratomvertrags hinzuweisen, die z. T. weitgehende Sicherheitsbestimmungen ent~alten, s. z. B. das Kapitel III über den Gesundheitsschutz (Art. 30- 44) und Kap. VII Uberwachung der Sicherheit (Art. 77 - 85). 45 s. dazu die neue Fassung des Art. 149 Abs. 2 sowie H.-J. Glaesner (Fn. 24), S. 147ff.; P. Pescatore (Fn. 24), S . 166; Ehlermann, Integration (Fn. 24), S . 101ff.

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Bereich des Umweltschutzes nennt (im Hinblick auf die Forderung nach einem "hohen Schutzniveau", siehe oben), kann die Umweltpolitik sich des erleichterten und parlamentsfreundlichen Verfahrens des Art. lOOa jedenfalls immer dann bedienen, wenn Rechtsangleichung zur Schaffung oder zum Funktionieren des Binnenmarktes im Spiel ist. Das macht allerdings die Notwendigkeit grundsätzlich einstimmiger Abstimmung sowie die Beschränkung des Parlaments auf Anhörung in Art. 130 s bei Maßnahmen im Umweltschutz ohne Rechtsangleichung schwer verständlich. Die Bilanz der Neuregelung des Umweltschutzes in der Einheitlichen Akte ist somit zwiespältig. Den Vorteilen einer ausdrücklichen, selbständigen und unabhängigen Fixierung umweltpolitischer Ziele und Kompetenzen stehen Einschränkungen, Vorbehalte und Ausnahmen gegenüber; mögen sie auch teilweise einer bisherigen Gemeinschaftspraxis entsprechen, so bedeutet doch ihre Festschreibung einen Rückschritt.- Die Unklarheiten und Widersprüche im Text des neuen Umwelt-Titels zeigen ihn als Ergebnis politisch-diplomatischer Verhandlungen und Kompromisse46 ; insofern unterscheidet er sich nicht von den übrigen Teilen der Einheitlichen Akte47 • Ebenso wie sie zeichnen auch die neuen Bestimmungen zum Umweltschutz sich durch ein beträchtliches Maß von "Offenheit" aus: Sie können als Grundlage für ein umfassendes, intensives und effektives Umweltschutzrecht der Gemeinschaft dienen, sie geben indessen auch Raum für allerlei Verzögerungen und Blockaden. Die imponierenden Erfolge der Gemeinschaftspolitik im Umweltrecht schon ohne ausdrückliche Vertragsregelung wecken Hoffnungen auf Kontinuität und Dynamik. Alle an der Willensbildung beteiligten Instanzen sollten die Dringlichkeit des Themas verstanden haben, notfalls auch mit Nachhilfe des Gerichtshofs. Vß. Umweltpolitik

Im Gemeinschaftsrecht ebenso wie im innerstaatlichen Recht läßt die Rechtsordnung den rechtsetzenden Organen beträchtliche Spielräume für die Gestaltung der Umweltpolitik. Der neue Art. lOOr enthält dazu eine Reihe programmatischer Aussagen, in denen Ziele und Bedingungen genannt werden, deren justiziabler Gehalt indes gering ist. Diese Bestimmungen sowie auch die oben schon genannten Vorbehalte, Einschränkungen und Reserven zeigen wie eine Momentaufnahme die gegenwärtige Situation: Den zur Zeit erreichbaren Konsens der Mitgliedstaaten, ihre Bereitschaft ebenso wie ihre Widerstände. Das bedeutet keine endgültige Fixierung; die 46 Vgl. etwa den Hinweis H.-J. Glaesners (Fn. 24), S. 141 auf die Problematik der internationalen Abkommen und den Widerspruch zum AETR-Urteil des Gerichtshofs. 47 s. die umfassende Kritik von P. Pescatore (Fn. 24).

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Erfahrung lehrt, daß die Entwicklungen in der Gemeinschaft flexibel sind, sie können plötzlichen Blockaden ausgesetzt sein, sie können aber auch große Dynamik entfalten. Der Ausgangspunkt für den Entwurf einer aktiven Umweltpolitik ist allerdings in der Zwölfergemeinschaft angesichts weiterhin erforderlicher Einstimmigkeit48 ungleich schwieriger als in einem leidlich homogenen Staat wie etwa der Bundesrepublik. Nicht nur ist die Sensibilität für den Schutz der Umwelt und für ihre unterschiedlichen Gefährdungen in den Mitgliedstaaten sehr verschieden ausgeprägt, auch die Bereitschaft, Opfer zu bringen, ist keinesfalls überall gleich. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, die zum Teil weit in die Tiefen der nationalen Mentalität hineinleuchten. So wird in anderen Mitgliedstaaten ein irrationales Verhältnis der Deutschen zu ihrem Wald, zum "Deutschen Wald"- und darüber gibt es Liedgut genug - registriert; umgekehrt haben wir die Unbekümmertheit gegenüber radioaktiver Strahlung in Frankreich vermerkt: Im Mai 1986 wurden in Kehl noch die Becquerel gezählt, in Straßburg nicht mehr4 9. Aber selbst innerhalb der Bundesrepublik wurden die Grenzwerte in den Bundesländem verschieden angesetzt. - So hat auch die sozialistische Fraktion im Europäischen Parlament sich nicht über eine Entschließung über den Ausstieg aus der Kemenergie einigen können, weil die französischen Abgeordneten nicht zustimmen wolltenso. -Anders verlaufen die Grenzen bei der Diskussion über das Tempolimit. Neuerlichen Vorstellungen der Kommission über einheitliche Regelungen ist vom Bundesverkehrsminister sofort widersprochen worden51 • Dieses sind nur einige spektakuläre Beispiele für Divergenzen. In der Gemeinschaft ist es vor allem die Aufgabe der Kommission, sie so weit wie möglich abzubauen oder zu überbrücken. Es will nicht einleuchten, daß die Belastbarkeit des Menschen und der Natur von Landesgrenzen abhängt. Bei aller Fehlsamkeit der Wissenschaften erscheinen rationale Lösungen viel häufiger möglich, als sie bisher erreicht werden konnten. Auf der anderen s. dazu oben Kap. VI a. E. So erklärt sich auch die Vorbehaltsklausel zugunsten der Energieerzeugung; zu den Waldschäden s. M. Schröder, Waldschäden als Problem des internationalen und des europäischen Rechts, DVBl. 1986, 1173. 50 s. bei F.-W. Dörge, Didaktische Aspekte von Ökonomie und Ökologie in europäischer Dimension, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51- 52/86, S. 27, 32. 51 s. VWD Europa v. 12.12.1986 und v. 15.12.1986; FAZ 16.12.1986, S. 13; dies geschah übrigens mit dem sachfremden, aber sonst berechtigten Hinweis auf die Autobahngebühren. In der Bundesrepublik gilt also weiterhin der absonderliche und deplacierte Slogan: "Freie Fahrt für freie Bürger", und damit wäre die Bundesrepublik wohl das letzte freie Land dieser Erde; s. dazu auch H. v. Moltke (Fn. 21), S. 73 : "A political holy cow"; s. ferner allgemein zum Problem den Bericht Visser für den Verkehrsausschuß des Europäischen Parlaments, PE DOK A 2 - 115/86 v. 6.10.1986 und jetzt die Mitteilung der Kommission an den Rat vom 9.1.1987, KOM (86) 735 endg. 48 49

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Seite sollten natürliche Unterschiede in der Geographie, im Klima oder der Soziologie respektiert werden können. Aber es besteht auch die Gefahr, daß sie als Vorwände für protektionistische Zwecke mißbraucht werdens2. Behinderungen und Verzerrungen durch unterschiedliche mitgliedstaatliehe Regelungen sind durch Allgleichung zu beseitigen. Eine eigene Umweltschutzpolitik der Gemeinschaft kann sich indes nicht im Kompromiß erschöpfen, die Essenz einer solchen Politik kann nicht das arithmetische Mittel aus dem nationalen Schutzniveau sein, vielmehr muß die Gemeinschaft versuchen, ein eigenes Konzept zu entwickeln, das an den ökologischen Notwendigkeiten sowie den ökonomischen und technischen Möglichkeiten orientiert wird53. Ausdruck solcher Bestrebungen sind die Aktionsprogramme der Gemeinschaft für den Umweltschutz54, die jeweils auch generelle Aussagen über die Ausrichtung der Gemeinschaftspolitik enthalten. Danach ist ein wesentliches Prinzip der Gemeinschafts-Umweltpolitik die Vorbeugung: Umweltprobleme sollen nicht ex post bekämpft werden, sondern es sind Vorkehrungen zu treffen, sie zu verhindern. So formuliert jetzt auch Art. 130r Abs. 2 nach der Einheitlichen Akte den Grundsatz, "Umweltbeeinträchtigungen vorzubeugen und sie nach Möglichkeit an ihrem Ursprung zu bekämpfen". Ein wichtiges Ergebnis dieser Bemühungen ist die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung55 • Nach ihr müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, daß bestimmte, im einzelnen aufgezählte Projekte vor der Erteilung der Genehmigung nach umfassenden Verfahrensregelungen mit vielfältigen Informationspflichten, Anhörungen und Konsultationen auf ihre Umweltverträglichkeit geprüft werdenss. Die Umsetzung der Richtlinie wird in der Bundesrepublik (und wahrscheinlich nicht weniger in den anderen Mitgliedstaaten) weitreichende Änderungen im Verfahrensrecht zur Folge haben57 • In diesem Zusammenhang ist bemerZur Position der Bundesrepublik s. etwa K. v. Moltke (Fn. 21). Entsprechende Faktoren einer Abwägung nennt jetzt ausdrücklich Art. 130r Abs. 3 in der Formulierung der Einheitlichen Akte. Eine eingehende, auch rechtsvergleichende und europarechtliche Untersuchung zum Rechtsproblem der technischen Möglichkeiten bietet H.-W. Rengeling (Fn. 11). 54 s. oben Fn. 3. 55 Richtlinie des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten v. 27.6.1985 ABI. L 175 v. 5. 7.1985, S. 40. 56 Vgl. jetzt die eingehende Darstellung und Erörterung bei J. Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Ein Beitrag zur Strukturierung der Diskussion. Zugleich eine Erläuterung der EG-Richtlinie, 1986; s. auch schon ders., Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), DVBL 1985, 813, beides mit zahlreichen Nachweisungen, u. a. A. Bleckmann, Die Umweltverträglichkeitsprüfung von Großvorhaben im Europäischen Gemeinschaftsrecht, WiVerw. 1985/2, 86; Th. Bunge, Die Umweltverträglichkeitsprüfung im Verwaltungsverfahren. Zur Umsetzung der Richtlinie der EG vom 27.6. 1985 in der Bundesrepublik Deutschland, 1986. 57 Speziell zum Verfahrensrecht s. G. Ress (Hrsg.), Grenzüberschreitende Verfahrensbeteiligung im Umweltrecht der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaf52

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kenswert, daß der Versuch eines deutschen Gesetzes über Umweltverträglichkeitsprüfung in den 70er Jahren gescheitert istss. Das wirft ein Schlaglicht auf Standort und Struktur gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung, gerade auch im Verhältnis zu den nationalen Legislativen: Innerstaatliche Widerstände können "supranational" umgangen werden (wobei auch der Weg der Richtlinie äußerst mühsam war), aber mit der Gefahr des Demokratieverlusts, zumal die Richtlinie den mitgliedstaatliehen Gesetzgebern wenig Spielraum läßt. Eine weitere, wohl eher neue Erkenntnis gemeinschaftsrechtlicher Umweltpolitik ist die Notwendigkeit einer übergreifenden Perspektive, wie sie nach der Einheitlichen Akte auch in Art. 130r Abs. 2 S. 2 zum Ausdruck kommt: "Die Erfordernisse des Umweltschutzes sind Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft" 59 . Die Erweiterung der Wirtschaftsgemeinschaft um das Konzept einer "Umweltgemeinschaft" reflektiert also auch auf den Bestand bereits existenter wirtschaftsrechtlicher Kompetenzen: Sie alle- man denke nur an die Agrarpolitik, die Verkehrspolitik oder an die Maßstäbe der Subventionskontrolle- müssen unter umweltpolitischem Vorzeichen ausgeübt werden. Hier wird die Bedeutung des Umweltschutzes als Gemeinschaftsziel deutlich, und der Vergleich mit der Forderung nach einer Verankerung des Umweltschutzes als Staatszielbestimmung im Grundgesetz liegt naheso. Ihren besonderen Akzent erhält diese Erkenntnis des unauflöslichen Zusammenhangs und der Einbindung aller Politiken in den Umweltschutz durch die Schlußfolgerung des Europäischen Rates vom März 1985, daß die Umweltschutzpolitik zu besserem Wirtschaftswachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen kann 61 • Umweltschutz wird also nicht mehr als eine kostenträchtige Last, sondern als konjunkturpolitischer Faktor verstanden. Vlß. Die Befolgung des Gemeinschaftsrechts

Das Umweltschutzrecht der Gemeinschaft darf nicht schöner Buchstabe bleiben. Hier bestehen große Probleme, aber wohl weniger vordergründig, als allgemein vermutet. ten, 1985, mit rechtsvergleichenden Beiträgen zum Recht der Mitgliedstaaten; s. auch

Bunge (Fn. 56).

58 Vgl. eingehend Cupei (Fn. 56); weitere Beispiele für die Taktik, innenpolitische Widerstände mit Hilfe der Rechtsetzung der Gemeinschaft zu vermeiden, s. bei K. v . Moltke (Fn. 21), S . 58, dort bes. auch zur föderalen Problematik in der Bundesrepublik. 59 s. dazu Ziff. 1.3 des 4. Aktionsprogramms für den Umweltschutz. 60 s. dazu im Rahmen der Ringvorlesung das Referat von Karpen. 61 Vgl. Bull. EG 3/1985, S. 12, s . auch das 4. Aktionsprogramm Ziff. 1.6.

Umweltschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht

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Das bevorzugte Instrument für die Verwirklichung des Umweltschutzes in der Gemeinschaft ist die Richtlinie62. Entgegen ihrem Namen enthält sie durchweg scharf umrissene und stringente, unausweichliche Pflichten. Diese treffen allerdings die Mitgliedstaaten als Adressaten der Richtlinien: Sie müssen deren Inhalte in nationales Recht umsetzen, besonders die Parlamente. Das entstehende Umweltschutzrecht, das auf die relevanten Sachverhalte angewendet wird, ist also innerstaatliches Recht, nicht Gemeinschaftsrecht. In anderen Fällen erläßt die Gemeinschaft Verordnungen; sie sind unmittelbar innerstaatlich anwendbar, bedürfen also keiner Umsetzung63 .

Aus der Zweistufigkeit der Richtlinie folgt die zweifache Möglichkeit ihrer Verletzung: Sie kann mißachtet werden durch die mitgliedstaatliehen Organe, die sie umsetzen müssen, z. B. die Parlamente. Solche augenfälligen Verstöße werden regelmäßig von der Kommission vermerkt und im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169f. EWGV vor dem Gerichtshof verfolgt. Die Verurteilung durch den Gerichtshof wird von den Mitgliedstaaten in der Regel respektiert. Beispiel für umweltschutzrechtliche Vertragsverletzungsverfahren bieten die beiden Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 18. 3.1980, mit denen Italien wegen unterlassener Umsetzung der Richtlinien über Detergentien64 und über den Schwefelhöchstgehalt flüssiger Brennstoffess verurteilt wurdess. Ein solches Verfahren (das in der Gemeinschaft alltäglich ist) steht möglicherweise auch der Bundesrepublik ins Haus, weil das im November 1986 verabschiedete Bundesnaturschutzgesetz mit verschiedenen Ausnahmen die einschlägigen Richtlinien der Gemeinschaft nicht beachtet67. Sehr viel schwieriger, aber nicht minder folgenschwer sind allerdings Verletzungen des national umgesetzten Umweltschutzrechts der Gemeinschaft durch unzulängliche Anwendung seitens nationaler Exekutiven. Eine schlampige Administration kann so das beste Regelwerk ineffektiv und die umfassenden Bemühungen der Gemeinschaft zunichte machen. In diesem Zusammenhang verdient der Vorschlag größte Beachtung, eine gemeinschaftseigene Überwachung der einheitlichen Anwendung des europäischen Umweltschutzrechts herbeizuführen. Danach würden Umweltinspektoren

Vgl. die Definition in Art. 189 Abs. 3 EWGV. s. Art. 189 Abs. 2 EWGV. 64 Richtl. 73/ 404 v. 22.11.1973, ABI. L 347, S. 51. 65 Richtl. 75/ 716 v. 24.11.1975, ABI. L 307, S. 22. 66 Slg. 1980, 1099 und 1115. 67 VWD Europa v. 24.11.1986, S. 3; s. die Diskussion im Bundesrat in "Das Parlament" vom 13. 12.1986. 62

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der Gemeinschaft bestellt werden, die in Zusammenarbeit mit nationalen Behörden geeignete Kontrollen durchführen6a. IX. Schluß

Diese Vorlesung hat nur einige Schwerpunkte des gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutzes und seiner Problematik schildern können, für die ein allgemeines Interesse zu vermuten ist. Dies sollte indes genügen, um einen ersten Eindruck von der Breite und der Intensität des hier entstandenen und weiter entstehenden Gemeinschaftsrechts zu vermitteln69. Daß es inhaltlich nicht immer allen inzwischen erkannten Notwendigkeiten genügt, daß es auch auf wichtigen Gebieten noch Lücken aufweist und daß schließlich seine Durchsetzung in den Mitgliedstaaten unter Reibungsverlusten leidet, kann angesichts der immensen Schwierigkeiten einer supranationalen Realisierung nicht verwundern.

sa s. im 4. Aktionsprogramm Ziff. 2.2.7.

69 Wenigstens in einer Fußnote ist in diesem Zusammenhang auf die bescheidene personelle Ausstattung der Kommission im Ressort Umweltschutz (Generaldirektion XI "Umwelt, Verbraucherschutz und nukleare Sicherheit") hinzuweisen, die alle Vorwürfe gegen eine angeblich überbordende Brüsseler Bürokratie Lügen straft.

Grenzüberschreitender Umweltschutz Der Einzelne im Schnittpunkt von Verwaltungsrecht, Staatsrecht und Völkerrecht Von Philip Kunig Grenzüberschreitende, also mindestens eine Staatsgrenze überschreitende Umweltbeeinträchtigungen können zu Wasser, zu Lande, in der Luft, auch unterirdisch (Grundwasserverunreinigungen) erfolgen. Sie können physikalisch bestimmbar und physisch erfahrbar sein oder auch sogenannte ideelle Immissionen darstellen, wie ein besonders häßlicher Kühlturm, der die touristisch attraktive Aussicht auf ein grenznahes Erholungsgebiet verschandelt. Sie können von einem Staatsgebiet direkt auf ein anderes Staatsgebiet einwirken - man denke an giftige Schwaden, die aus einer grenznahen Öldestillieranlage stammen und über die Grenze ziehen1 . Sie können den Weg über ein fremdes Staatsgebiet nehmen und dort mit Verunreinigungen aus anderen Quellen kumulieren. Weil heute·bereits die Hälfte der Schadstoffe, die sich in der Atmosphäre über der Bundesrepublik Deutschland befinden, aus anderen Staaten stammen, mag man die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik als "Grenzbevölkerung" bezeichnen: Wegen der wachsenden räumlichen Einwirkungsmöglichkeiten ist die Vorstellung von Grenznähe nicht mehr notwendigerweise beschränkt auf Grenzbewohner im eigentlichen, engen Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs. Nicht immer gehen Umweltbeeinträchtigungen von Staatsgebiet aus, sondern auch von staatsfreien Räumen, wie der täglich im Norden Helgolands in die Hohe See verbrachte chemische Müll, der infolge der Strömungsstruktur nationale Küstengewässer erreichen oder gar über das Medium verseuchter und erkrankter Fische auf innerstaatlichem Gebiet Schäden verursachen kann2. Das Jahr 1986 hat die Öffentlichkeit in besonderem Maße für grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen sensibilisiert, für die einzelne Stichworte stehen: "Sandoz" 3 bzw. "Schweizerhalle", "Abfalldeponie I Vgl. zu einem derartigen Fall L. Wildhaber, Die Öldestillieranlage Sennwald und das Recht der grenzüberschreitenden Luftverschmutzung, Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht 31 (1975), S. 97 ff. 2 Zu den diesbezüglichen Rechtsfragen Ph. Kunig, Zur Rechtsstellung Dritter bei erlaubter Abfallbeseitigung auf Roher See, JZ 1981, S. 295ff. 3 Vgl. dazu die Erklärung der Bundesregierung in deren Bulletin Nr. 139, S. 1161 f. vom 14.11.1986.

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Schönberg"4, Nordsees und Ostsee6 als angeblich "Tote Meere", "Tschernobyl"? natürlich- das dortige Unglück hat nicht nur der Präsident der Universität Harnburg als "das herausragendste und langfristig bedeutsamste Ereignis des Jahres 1986" bezeichnet8 • Das Saarland, Trier und der Kreis Saarburg haben in Straßburg geklagt gegen den Betrieb eines französischen Kernkraftwerks9, Österreicher in Wackersdorf demonstriert, die dänische Regierung hat von der schwedischen die Stillegung eines Reaktors gefordertlo. Tatsächliche Konsequenzen für einzelne Menschen jeweils jenseits einer Staatsgrenze haben alle diese Vorgänge in unterschiedlichem Ausmaß: bei "Tschernobyl" vielleicht für alle Menschen in Europa, bei der Deponie Schönberg für die Lübecker, mittelbar für die Müllproduzenten in Harnburg, für die Hamburger Bürger, wenn hier nicht mehr sollte entsorgt werden können, politisch für den Hamburger Senat. Das Thema "Grenzüberschreitender Umweltschutz und seine Konsequenzen für die Rechtsstellung des einzelnen" kann in dem hier gegebenen Rahmen nur behandelt werden, weil dabei auf die schon in vorangegangenen Beiträgen gelegten Fundamente aufgebaut werden kann. Es geht bei dem Thema um völkerrechtliche, staatsrechtliche und verwaltungsrechtliche Fragen. Es geht um Individualrechtsschutz gegen Umweltbeeinträchtigungen, also auch um Grundrechtsfragen11 . Es könnte gehen um innerstaatliches Entschädigungsrecht, um wirtschaftsrechtliche Aspekte, um den international so unterschiedlichen "Stand der Technik" 12 . In allen diesen Bereichen soll nichts wiederholt werden; auch das EG-Rechtl3 und das Dazu sogleich im Text. Zu Rechtslage und Umweltbelastung Ph. Kunig, Nordsee, in: H. von Lersner I 0. Kimminich I P. Chr. Stonn, Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, 1987. s Zu Rechtslage und Umweltbelastung, Ph. Kunig, Ostsee, ebenda. 7 Aus der bereits reichhaltigen juristischen Literatur zu dem Ereignis s. - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - N. Pelzer, Grenzüberschreitende Haftung für nukleare Ereignisse, DVBl. 1986, S. 875ff.; R. Harndt, Völkerrechtliche Aspekte des Reaktorunglücks in Tschernobyl, Berl. Anwaltsbl. 1986, S. 151ff.; A. Rest, Tschernobyl und die internationale Haftung, VersR 1986 S. 609ff., 933 ff.; F. Reichert-Facilides, Versicherungsrechtliche Überlegungen nach dem Tschernobyl-Unfall, VersPr. 1986, S. 159ff.; H.-J. Schneider I J. Stall, Ersatz von Vermögensschäden in der Bundesrepublik Deutschlandaufgrund des Unfalls in Tschernobyl, BB 1986, S . 1233ff.; G. Brunner I C. Schmidt, Tschernobyl und die internationale Haftung, VersR 1986, S. 833ff.; A. Uschakow, Tschernobyl und das sowjetische Recht, VersR 1986, S . 721ff. ; G. Gornig, Schadensersatz bei grenzüberschreitenden Reaktorunfällen, JZ 1986, S. 979ff.; F. Zehetner, Tschernobyl, UPR 1986, S. 326ff.; K. Hailbronner, Tschernobyl und Völkerrecht, NZZ v. 29./30. 6.1986. - s. ferner die instruktiven Tagungsberichte von K. Willmer, NJW 1986, S. 2626, und H.-P. Mansel, IPRAX 1986, S.392ff. s Jahresbericht 1986 des Universitätspräsidenten P. Fischer-Appelt, in: Mitteilungen der Universität Harnburg Nr. 31, 1987, S . I. 9 Vgl. den Bericht in NZZ v. 11. 9.1986. 1o Vgl. den Bericht in FAZ v. 9. 5.1986. 11 Vgl. den Beitrag von U. Karpen, oben S. 9ff. 12 Vgl. J. Schwabe, W. Thieme, K. A. Schachtschneider, S. 51ff., 67ff., 81ff. 4

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Völkerrecht der Meeresverschmutzung14 werden fortgelassen, ebenso die Rechtsfragen der Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen15 , die auch international erst gelöst werden müßten, ehe das Recht des grenzüberschreitenden Umweltschutzes wirklich greifen kann: Wie etwa soll sonst die umweltrechtliche Disziplinierung der auf Kohleverbrennung basierenden osteuropäischen Industrien gelingen, deren Emissionen auch in unserer Atmosphäre spürbar sind oder der Gewässerverunreinigung in Polen, wo etwa 80% der Abwässer ungeklärt in die Gewässer (und zum Teil in die Ostsee)16 gelangen. Im folgenden soll der öffentlich-rechtliche Rahmen gezeigt werden, der maßgebend fur den Rechtsstatus des einzelnen angesichts grenzüberschreitender, also Staatsgrenzen überschreitender Umweltbeeinträchtigungen ist. Solche Umweltbeeinträchtigungen betreffen nicht nur die zwei oder mehr an ihnen beteiligten Staaten, sondern- man möchte sagen: in erster LinieEinzelpersonen, sei es als Verursacher oder als Leidtragende von Umweltschäden. Der Bürger oder auch eine Gebietskörperschaft kommen häufig auf die Idee, sowohl den fremden Staat wie auch die eigene Regierung zum Adressaten rechtlicher Forderungen zu machen: Harnburg erwägt ein Vorgehen gegenüber der DDR wegen der Elbverschmutzung, aber auch eine Klage gegen den Bund, mit der dieser verpflichtet werden soll, den giftigen Elbschlick bereits vor dem Stauwerk Geesthacht auszubaggern17 . Nur Einzelmenschen und nur solche, die Leidtragende von Umweltschäden sind, werden hier behandelt. Damit führt das Thema an einen Schnittpunkt zwischen Völkerrecht (weil mehr als ein Staat betroffen ist), Verwaltungsrecht (weil Umweltschutzrecht innerstaatlich im wesentlichen durch Verwaltungsrecht geregelt ist), Staatsrecht (weil die einfach-gesetzlichen Regelungen des Verwaltungsrechts jedenfalls in der Bundesrepublik vielfältig angereichert sind durch verfassungsrechtliche Vorgaben und weil das Verfassungsrecht die Weichen stellt für die Bedeutung von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum), schließlich sogenanntem internationalen Verwaltungsrechtl 8 als dem Recht, das bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Auskunft über das jeweils anwendbare nationale Recht gibt. s. oben G. Nicolaysen, S. 197ff. s. -nicht nur für den Bereich Antarktis- R. Lagoni, oben S. 233 ff.; ferner unten die Nachw. in Fn. 26. 15 s. oben P. Selmer, S. 25 ff. 16 Vgl. näher H. Bischof, Umweltschutzprobleme in Osteuropa, 1986 (eine in der Abteilung Außenpolitik und DDR-Forschung des Forschungsinstituts der FriedrichEbert-Stiftung erarbeitete Studie); zum Waldsterben im Erzgebirge, das Gegenstand umweltpolitischer Zusammenarbeit der DDR und der Tschechoslowakei ist, vgl. die Berichte in NZZ vom 29./30.12.1985 und FAZ v. 19.12.1986. 17 Vgl. Hamburger Abendblatt v. 2.1.1987. 18 Zu Begriff und Grundlagen G. Hoffmann, Internationales Verwaltungsrecht, in: I. von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Auflage, 1985, S. 851ff. 13

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An diesen Schnittpunkten sind drei Probleme angesiedelt, die hier im Mittelpunkt stehen sollen: Es sind dies der zwischenstaatliche Umweltschutz (I.), die "zurückwirkende Umweltbeeinträchtigung" an der Staatsgrenze (der Begriff wird zu erläutern sein; II.), schließlich der Verwaltungsrechtsschutz nach fremdem Recht, also jenseits der Grenze (III.). Ein Fall, der Anschauungswert besitzt für nahezu alle typischerweise mit der rechtlichen Beurteilung grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigung verbundenen Fragen ist der Fall der Haldendeponie Schönberg im Bezirk Rostock. Der Sachverhalt: Seit 1980 wird die Deponie von der Bundesrepublik aus beliefert (ca. 160 LKW-Transporte pro Tag). Die Hälfte des Abfalls stammt aus Hamburg; dazu gehören Klärschlämme, verunreinigte Böden, Rückstände der Stadtentwässerung, Aschen und Stäube aus der Elektrizitätsgewinnung. Die Deponie liegt 6 kni von der innerdeutschen Grenze entfernt, 4 kni von der Trave. Man streitet, ob eine Gefährdung durch Sickerwasser eintreten kann (die Deponie liegt auf 160m starkem Geschiebemergel, dessen Eigenschaften umstritten sind) oder künftig auch durch Gasentwicklung. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuß des Schleswig-Holsteinischen Landtages hat diese Frage im November 1986 vemeint1 9 , ohne dafür allgemeinen Konsens zu finden. Der "Fall Schönberg", bereits und wohl auch künftig Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen, soll nur als Beispiel für die rechtliche Behandlung der drei genannten Aspekte dienen, ohne daß ich mich auf ihn beschränke. I. Auszugehen ist von der zwischenstaatlichen Ebene20 • Dabei soll ein Wort genügen zur Anwendbarkeit von Völkerrecht auf die Rechtsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Beide Staaten sind zwar für einander kein Ausland, dennoch aber unzweifelhaft Staaten, damit Subjekte des Völkerrechts. Bereits das reicht aus, um auf ihre Beziehungen (auch) Völkerrecht anwenden zu können, ohne daß diese Frage von den Rechtsnachfolgeproblemen in bezug auf das Deutsche Reich oder gar vom Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation berührt würde. Es ist deshalb keine Anerkennung der DDR als Ausland impliziert, wohl aber als Staat. 19 Der Bericht datiert vom 25. 11.1986; er ist veröffentlicht als Drucksache 10/ 1783 des Schleswig-Holsteinischen Landtages; zur Einschätzung der ·Bundesregierung s. die Erklärung des Parlamentarischen Staatssekretärs D. Spranger, v. 19. 2.1986, in: Umwelt (hrsg. vom Bundesminister des Innern), Nr. 2/1986, S. 13. 2o Aus der reichhaltigen Literatur s. insbes. Eb. Klein, Umweltschutz im völkerrechtlichen Nachbarrecht, 1976; D. Rauschning, Allgemeine Völkerrechtsregeln zum Schutze gegen grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, in: Festschrift für H .-J. Schlochauer, 1981, S. 557ff.; L . Gündling, Verantwortlichkeit der Staaten für grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, in: ZaöRV 45 (1985), S. 265ff.

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Der "Fall Schönberg" gehört zum Typus der Fallgruppe Schaffung eines Gefahrenpotentials in unmittelbarer Nähe einer Staatsgrenze21. Die Schaffung eines solchen Potentials könnte ein sogenanntes völkerrechtliches Delikt darstellen. Ein völkerrechtliches Delikt ist gegeben, wenn ein Völkerrechtssubjekt einem anderen Völkerrechtssubjekt durch Handeln oder Unterlassen seiner Organe oder durch den Organen zurechenbares Handeln von Privatpersonen unter Verstoß gegen eine Rechtsnorm einen Schaden zufügt. Der Normverstoß darf dabei nicht von einem Rechtfertigungsgrund gedeckt sein22. Wenn von der Deponie Gefahren ausgehen sollten, so beruht das entscheidend auf dem Handeln oder dem Unterlassen des VEB "Deponie Schönberg". Wie immer dieser "Volkseigene Betrieb" zu qualifizieren sein mag, ob als Privatperson oder als Staatsorgan i. S. der völkerrechtlichen Zurechnungslehre: Jedenfalls ist er mit Genehmigung und unter ständiger Überwachung der zuständigen Behörden tätig, so daß die Anforderungen an die Zurechenbarkeit erfüllt sind. Entscheidend ist damit, ob der Betrieb einer gefährlichen Anlage an der Staatsgrenze gegen eine Verbotsnorm des Völkerrechts verstoßen kann. Solche Verbotsnormen können sich ergeben aus Vertragsrecht, aus Gewohnheitsrecht oder aus sog. allgemeinen Rechtsgrundsätzen, den Quellen des Völkerrechts nach Art. 38 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes23. Einschlägiges Vertragsrecht existiert zwischen der Bundesrepublik und der DDR weder bilateral noch multilateral. Die zwischen den beiden Staaten bestehende "Vereinbarung vom 20. September 1973 über Grundsätze zur Schadensbekämpfung an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR "24 ist insoweit unergiebig, enthält nur gegenseitige Informationspflichten, die den alsbaldigen Schutz der Bevölkerung im Schadensfalle ermöglichen sollen, begründet aber keine Schadensersatzpflichten. Auch aus dem "Grundlagenvertrag"25, der die Grundlagen eines Nachbarschaftsverhältnisses regelt, läßt sich insoweit wenig herleiten. Multilaterale Übereinkommen zur grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung bestehen zwar relativ flächendeckend im internationalen Seerecht (Stichworte: Ölverschmutzung, nuklearbetriebene Schiffe26 ), betreffen auch 21 Bisher vor allem diskutiert bezüglich von Kernkraftwerken, s. A. Randelzhofer I B . Simma, Das Kernkraftwerk an der Grenze, in: Festschrift für F. Berber, 1973, S. 389ff.; M. Kloepfer I Chr. Kohler, Kernkraftwerk und Staatsgrenze, 1981. 22 Vgl. Ph. Kunig, Das völkerrechtliche Delikt, Jura 1986, S. 344ff. 23 BGBl. 1973 II 505. 24 BGBl. 197411 1237. 25 BGBl. 1973 II 421. 26 Vgl. dazu A. Verdross I B . Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Auflage, 1984, S . 731ff., m. w . Nachw.; speziell zur Ölverschmutzung Ph. Kunig, Ölverschmutzung durch Schiffe, NuR 1986, S. 265ff.

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Binnengewässer (wie das von den Rhein-Anrainern geschlossene Chloridabkommen)27, oder- wie die Genfer Luftreinhaltekonvention von 197928- die Luftverschmutzung, erfassen aber nicht die grenzüberschreitende Grundwasserverseuchung. Mit Vertragsrecht ist also nicht weiterzukommen. Ein derartiger Befund ist keineswegs typisch für das deutsch-deutsche Verhältnis, sondern dürfte sich bei Prüfung von Grenznachbarverhältnissen regelmäßig ergeben- in Ost und West gleichermaßen. Vertragsrecht im völkerrechtlichen Umweltschutz ist gegenständlich lückenhaft und regelt überdies selten die Schadenshaftung. Hier bietet ein neues Beispiel das am 27. Oktober 1986 in Kraft getretene Abkommen über "Frühwarnung bei Nuklearunfällen" - eine "Tschernobyl-Spätfolge" 29 , die angesichts sonst üblicher "Vorlaufzeiten" beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge beachtlich schnell eintrat und bezeichnenderweise wiederum die Haftungsfrage völlig ausklammert. Schadenshaftung infolge unzureichender Information (die Sowjetunion hat über "Tschernobyl" grob zögerlichao, die Schweiz über "Sandoz" allerdings auch nicht sonderlich zügig informiert3 1) wird nur greifen, wenn ein Schaden nachweisbar gerade auf der Verzögerung beruht. Fälle, in denen der Schädiger dies eingeräumt hätte, sind nicht bekannt. Neben den gegenseitigen Informationsverpflichtungen findet man häufig noch den Vertragstypus des "Reduzierungsvertrages", der die Reduzierung des Schadstoffausstoßes für bestimmte Bereiche und bis zu einem fixierten Datum vorsieht. Neuestes Beispiel ist hier das Gesetz vom 19. 12. 1986 zu einem Protokoll von 1985, das grenzüberschreitende Schwefelemissionen um 40% bis 1993 vermindern soll32. An Haftung wäre bei solchen Verträgen erst zu denken, wenn nach dem in derartigen Fixgeschäften vereinbarten Datum weiterhin erheblich emittiert wird. Eine einschlägige Verbotsnorm wird sich also regelmäßig nur aus ungeschriebenem Recht ergeben, also vor allem aus Völkergewohnheitsrecht. Dafür kommt es an auf die von den Staaten geäußerten Rechtsüberzeugungen und die Analyse ihres rechtserheblichen Verhaltens, also die sogenannBGBl. 1978 II 1053, 1065. BGBl. 1982 II 373.- Vgl. in diesem Zusammenhang R. Wolfrum, Die grenzüberschreitende Luftverschmutzung im Schnittpunkt von nationalem Recht und Völkerrecht, DVBl. 1984, S. 493ff.; A. Tollan, The Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution, in: Journal of World Trade Law 19 (1985), S. 615ff.; L. Gündling, Völkerrechtliche und europarechtliche Aspekte der Luftreinhaltung, UPR 1985, . S. 403ff. 29 Es verpflichtet allerdings zunächst nur Dänemark, Norwegen und die Tschechoslowakei; zahlreiche weitere Staaten bereiten die Ratifikation vor. Text: Environmental Law and Policy 16/5 (1986), S. 162ff. 30 Vgl. z. B. NZZ v. 4./5. 5.1986 ("Moskaus Informationsgeiz um Tschernobyl"); von den sowjetischen Behörden wurden Informationsdefizite später eingeräumt, vgl. FAZ V. 22. 1.1987. 31 Vgl. Die Weltwoche v. 13.11.1986 ("peinliches Informationsgebaren"). 32 BGBl. II 1116. 27

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ten Staatenpraxis, die für die Gewohnheitsrechtsbildung maßgeblich istaa. Die Analyse dessen ist von zahlreichen Autoren geleistet worden. Das Ergebnis dürfte sein,- immer noch im Anschluß an den berühmten "TrailSmelter-Fall" aus dem Jahre 194134 - daß heute eine Einstandspflicht besteht für die Folgen dem Staat zurechenbaren gefährlichen Tuns, das auf fremdem Staatsgebiet zu Schäden führt- aber nur, wenn die Schäden "einiges Gewicht" haben, "ernsthaft", "nicht unerheblich", "unzumutbar" oder "unüblich" sind, so die Formeln des Schrifttumsas. Derartige Rechtsbehauptungen sind nicht nur von geschädigten Staaten erhoben worden. Ihnen ist - was bedeutsamer ist - auch von Schädigerstaaten entsprochen worden, sprich: Diese haben Entschädigungsleistungen erbracht, damit die Geltung eines entsprechenden Rechtssatzes eingeräumt. Der genannte Rechtsgrundsatz wirft Probleme auf bezüglich der Kausalität im Einzelfall, sowohl auf der haftungsbegründenden wie auf der haftungsausfüllenden Seite, etwa wenn eine Giftgaswolke aus dem Ruhrgebiet in Spanien zu Schädigungen führt - ein ähnliches Problem wie innerstaatlich bei den Waldschäden 36 . Sie kann Probleme auch auf der Tatbestandsseite aufwerfen, etwa wenn man fragt, ob eine Flußableitung in Sibirien, die Klimaveränderungen in Mitteleuropa verursacht, tatsächlich eine umweltgefährdende Handlung darstellt. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Verschuldensmaßstab (vor allem: den konkreten Anforderungen an den Nachweis der Fahrlässigkeit), denn eine allgemeine, von Spezialregelungen unabhängige Gefährdungshaftung kennt das Völkerrecht nicht37. Nur für unmittelbar an einer Staatsgrenze liegende, typischerweise ein Gefahrenpotential begründende Anlagen wird also regelmäßig die völkerrechtliche Verantwortlichkeit auch zu Rechtsfolgen führen. Die Deponie in Schönberg ist davon prinzipiell erfaßt, ebenso wie - um im deutsch-deutschen Verhältnis zu bleiben - die Endlagerungsstätte Gorleben oder die Atom-Kraftwerke in Stendal und Greifswald, über die man hierzulande weniger hört. Alles bisher Gesagte ist von Interesse allerdings nur für den Fall, daß ein Schaden tatsächlich eingetreten ist. Es fragt sich, ob die insoweit eindeutige Vgl. dazu Verdross I Simma (Fn. 26), S. 345ff. Dazu P. Schneider, Trail-Smelter-Fall, in: K. Strupp I H .-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. III, 1962, S. 447. 35 s. Verdross I Simma (Fn. 26), S. 643ff. mit zahlr. Nachw.; vgl. auch die Regeln, die im Rahmen der International Law Association 1982 erarbeitet wurden, abgedruckt in UPR 1983, S. 21f. 36 s. etwa OLG München JZ 1987, S. 88ff., mit Anmerkung von J. Schwabe, S. 91f. 37 Vgl.- zugleich zum Streitstand- A. Randelzhofer, Probleme der völkerrechtlichen Gefährdungshaftung, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 24 (1984), s. 35 ff. 33 34

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Rechtslage auch Konsequenzen hat für die bloße Errichtung einer solchen Anlage oder die Fortsetzung ihres Betriebes. Völkerrechtlich steht insofern außer Zweifel, daß- wie im Schadensfall- Informationsverpflichtungen des Betreibers gegenüber dem Anrainerstaat entstehen. Schon zweifelhaft ist, ob es auch eine allgemeine Konsultationsverpflichtung gibt, sicher ist, daß der Betreiberstaat nicht verpflichtet ist, die Zustimmung zur Anlagenerrichtung einzuholenas. Darüber hinaus könnte von vornherein eine Verpflichtung zur Unterlassung gefährlicher grenznaher Aktivitäten anzunehmen sein bzw. -wenn sich die Gefahr erst im Laufe des Betriebes einer Anlage ergibt - eine Rechtspflicht, den Betrieb einzustellen. Eine rechtliche Verpflichtung, entstandene Schäden aus gefährlichem Tun zu ersetzen, impliziert aber noch nicht die Verpflichtung, ein solches Tun von vornherein zu unterlassen bzw. einzustellen. Ein Unterlassungsanspruch wird nur dann automatisch entstehen können, wenn die Verursachung von Schäden durch die Fortsetzung des gefährlichen Tuns feststeht. Dafür muß aber der Schadenseintritt einen derartigen Grad an Wahrscheinlichkeit erreicht haben, daß dies einer "Gewißheit" mindestens nahekommt. Das Völkerrecht ist insoweit noch unergiebig zu den Kriterien, nach denen eine "Gefahr" oder eine "Besorgnis" - um Begriffe des innerstaatlichen Ordnungsrechts zu verwenden- zu bemessen ist. Völkerrechtliches Zwischenergebnis also: Nur ausnahmsweise werden sich Unterlassungsansprüche ergeben können, allenfalls Haftungsansprüche; diese sind abhängig von der Schwierigkeit, Kausalverläufe und Verschulden nachzuweisen, wobei für die Beurteilung des Verschuldens keine klaren Maßstäbe vorliegen. Eine umfassende Haftungsnorm kennt nur das ungeschriebene Gewohnheitsrecht; vertragliche Verpflichtungen auf Reduzierung von Umweltbeeinträchtigungen und auf Information bestehen, aber ihre Nichteinhaltung kann nur ausnahmsweise zur Haftung führen. Von den Schwierigkeiten der Rechtsdurchsetzung angesichts einer schwach ausgebildeten internationalen Gerichtsbarkeit ist dabei gar nicht die Rede gewesen. Es stellt sich die weitere Frage, ob ein einzelner Bürger von einem anderen Staat die Einstellung völkerrechtswidriger Umweltbeeinträchtigungen verlangen kann39 • Soweit ein solcher Anspruch unmittelbar auf Völkerrecht beruhen soll, wird er voraussetzen, daß ein einzelner als Völkerrechtssubjekt qualifiziert werden kann, d. h. genauer: daß er jedenfalls über die Eigenschaft der passiven Deliktsfähigkeit verfügt. Ihm müßte darüber hinV:gl. Verdross I Simma (Fn. 26), S . 646. Dazu umfassend J. Schwarze, Rechtsschutz Privater bei völkerrechtswidrigem Handeln fremder Staaten unter besonderer Berücksichtigung des internationalen Umweltrechts, in: ArchVR 24 (1986), S. 408ff. 38 39

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aus auch die sogenannte völkerrechtliche Handlungsfähigkeit zukommen, d. h. die Eigenschaft, selbst eine völkerrechtliche Rechtsposition geltend machen zu können. Individuen sind nach traditionellem Völkerrecht dessen Objekte, nicht seine Subjekte, d. h. ihre Interessen und Rechte sind zwar Gegenstand völkerrechtlicher Regelungen, sie sind dem Individuum aber nicht im Sinne eines subjektiven Rechts zugeschrieben40 . Gern wird deshalb gesagt, daß Individuen nur Destinatäre völkerrechtlicher Normen sein können. Ausnahmen, die vor allem das Kriegsrecht betreffen (Völkerrechtssubjektivität von Kriegsverbrechern) sowie einige historische Kuriosa (Piraten, Falschmünzer, Mädchenhändler) können hier beiseite bleiben. Der geschilderte strukturelle Ausgangspunkt des Völkerrechts hat eine grundlegende Veränderung nur im Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes erfahren: Inhaber von Menschenrechten sind in Einzelbereichen sogenannte partielle, im Rahmen der prozeduralen Möglichkeiten des Völkerrechts selbständig agierende Völkerrechtssubjekte41 . Es fragt sich also, ob ein Menschenrecht auf einen bestimmten Zustand der Umwelt völkerrechtlich anerkannt ist42. Es fehlt hierfür an einschlägigen Verträgen und an Staatenpraxis. Es spricht auch nichts dafür, daß die Staaten sich auf absehbare Zeit auf ein derartig diffuses Prinzip als Rechtsnorm einlassen würden. Über die etwaige programmatische Kraft eines solchen Prinzips ist damit nichts ausgesagt. Wenn der einzelne Betroffene sich mit völkerrechtlichen Mitteln also nicht direkt gegenüber einem für Umweltbeeinträchtigungen verantwortlichen fremden Staat zur Wehr setzen kann, so stellt sich die Frage, ob er dies aufgrundvon innerstaatlichem Recht erreichen kann. Nach dem Grundsatz, daß hoheitliches Handeln eines fremden Staates vor einheimischen Gerichten nicht angegriffen werden kann43 , bleibt nur die Möglichkeit, daß der betroffene Grenzbewohner sich auf die Rechtsordnung des für die Immissionen verantwortlichen Staates beruft, also etwa der Einwohner Lübecks auf das Verwaltungsrecht der DDR, der deutsche Bauer auf die in der Sowjetunion öffentlich-rechtlich geregelte GefährdUngshaftung vor dem Volksgericht in Tschernobyl. Zu beiden Anforderungen Kunig (Fn. 22), S. 346 ff. Vgl. zum Meinungsstand 0. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 3. Auflage, 1983, S. 215ff. 42 Vgl. dazu D. Rauschning, Ein internationales Menschenrecht auf Schutz der Umwelt, in: Festschrift für W. Weber, 1974, S. 719ff. ; J. Lücke, Das Recht des einzelnen auf Umweltschutz als ein internationales Menschenrecht, in: ArchVR 16 (1974/ 75), S: 387 ff. 43 s. zuletzt etwa H. Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, 1985, insbes. S. 10ff. 40

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Naturgemäß ist eine derartige Rechtsverfolgung im Ausland mit großen, nicht zuletzt schon Informationsschwierigkeiten verbunden. Die Praxis des Verwaltungsrechtsschutzes hinkt insoweit weit nach hinter dem internationalen Zivilrechtsschutz. Um bei dem Beispiel DDR zu bleiben: Es macht schon Schwierigkeiten, die verwaltungsrechtlich-subjektive Handlungsfähigkeitdes Bürgers der DDR zu bestimmen44 • Der Weg über das fremde Recht führt also im Fall Schönberg gewiß nicht zu praktisch greifbaren Ergebnissen; er hängt generell davon ab, wie die jeweilige fremde Rechtsordnung ausgestaltet ist (allgemeine völkerrechtliche Vorgaben dafür gibt es erst wenige). Hierauf wird zurückzukommen sein (unten III).

ß. Bisher ist das Phänomen grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigung hier verstanden worden als eine Konstellation, in der vom Staat A eine Gefährdung ausgeht, die den einzelnen im Staat B betrifft. Einen Sonderfall bildet die Konstellation, in der das Gefahrenpotential, das von A ausgeht, zuvor von B nach A gelangt ist und von dort aus den einzelnen betrifft. Ich möchte dies die "zurückwirkende Umweltbeeinträchtigung" nennen. Derartiges ist häufiger als man meinen sollte, wird durch wirtschaftliche Verflechtung noch häufiger vorkommen: Zu denken ist etwa an den Transport gefährlicher Stoffe in fremdes Staatsgebiet, wie sie das Abfallentsorgungsund das Chemikalienrecht erfassen. Man mag auch an das Wasserrecht denken, etwa in dem Fall, daß Einleitungen in den Oberlauf eines Flusses vorgenommen werden, dessen Mittellauf durch fremdes Staatsgebiet führt oder aber, daß Zuflüsse aus einem Fluß, der in fremdem Staatsgebiet endet, wieder die Küsten des Staatsgebiets erreichen (was hinsichtlich des Schadstoffeintrags aus dem Rhein der Fall sein kann). Die Situation der zurückwirkenden Umweltbeeinträchtigung prägt auch den "Schönberg-Fall". Innerstaatlich gesehen gelangen wir hier zu der Konstellation des sog. Drittschutzes, weil auch der Staat von dem das Gefährdungspotential ursprünglich ausgeht, diesbezügliche verwaltungsrechtliche Entscheidungen trifft. Ein Kläger im Inland kann insoweit rechtlich geschützter Dritter sein, "Erster" und "Zweiter" sind die genehmigungserteilende Behörde und der Adressat der Genehmigung, also der Genehmigungsinhaber. Ein Dritter kann die Aufhebung der Genehmigung nur erreichen, wenn er durch ihre Einteilung oder ihren Fortbestand in einem Recht verletzt ist45 • Seine Klage ist zulässig, wenn er eine solche Rechtsverletzung "geltend machen" kann, d. h . wenn es Vgl. dazu oben J. Lücke, S. 165ff. Vgl. allgemein z.B. R. Breuer, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des öffentlichen Rechts, DVBl. 1986, S. 849ff. 44 45

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- um die Worte des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung von § 42 Abs. 2 VwGO zu verwenden- "nach keiner Betrachtungsweise ausgeschlossen ist", daß ihm insoweit ein eigenes Recht zusteht und dieses auch verletzt ist46 . Ein subjektives Recht in dem vorbezeichneten Sinne kann sich theoretisch ergeben aus jeder Rechtsnorm, mag sie dem geschriebenen oder ungeschriebenen, dem einfachen Gesetzesrecht oder dem Verfassungsrecht angehören47. Die entscheidende Frage ist jeweils, ob die Norm, die der klagende Dritte ins Feld führt, gerade seinen Schutz ins Auge faßt oder ob sie die Behörde nur zur Berücksichtigung seiner Rechte und Interessen veranlaßteine Unterscheidung, die in dieser Formulierung noch nicht ohne weiteres einleuchtet, aber bei der Beurteilung von Rechtsfragen in allen Drittkonstellationen, sei es im Baunachbarrecht, im Recht des Immissionsschutzes, im Gewässerschutz seit Jahren eine tragende Rolle spielt. Im Grunde stehen wir hier vor einem ganz ähnlichen Problem, wie es uns bei der Beschreibung der Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht begegnet ist, dem Problem nämlich, ob das Individuum- in der geschilderten verwaltungsrechtlichen Konstellation: der Dritte- Objekt oder Subjekt der Rechtsordnung ist. Ist es Objekt, so ist seine Rechtsstellung bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Ist es Subjekt, so bedeutet das, daß ihm die Rechtsmacht zugeschrieben ist, selbst seine Rechtsverfolgung in die Hand zu nehmen. Jede Art Rechtsnorm kommt in Betracht- es stellt sich deshalb die Frage nach der Reihenfolge der Betrachtung der einzelnen Rechtsquellen. In diesem Punkt geht die Praxis häufig recht undogmatisch vor (was an sich noch nicht zu rügen ist), oft aber auch unlogisch: Mit ungeschriebenem Recht, dem sogenannten Gebot der Rücksichtnahme etwa, das vom Baurecht her seinen Eingang in das gesamte Umweltverwaltungsrecht zu finden scheint, wird gelegentlich das geschriebene Recht konterkariert48 • Mit verfassungsrechtlicher, meist grundrechtlicher Argumentation werden die Differenzierungen des einfachen Gesetzesrechts beiseite geschoben. Deutlich ist jedenfalls, daß die Prüfung von geschriebenem Recht auszugehen hat (wenn es lückenlos ist, versperrt es zugleich den Rückgriff auf ungeschriebenes Recht), ferner, daß einfaches Gesetzesrecht zu prüfen ist, ehe auf Grundrechte zurückgegriffen werden kann-trotzdes aus der Normenhierarchie sich ergebenden Nachranges von Gesetzesrecht gegenüber Verfassungsrecht. Grund dafür ist, daß Gesetzesrecht im Umweltverwaltungsrecht die grundrechtlich vorgezeichneten Spielräume häufig erst verbindlich konkre46 Vgl. die Nachweise bei F . 0. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Auflage, 1986, Rn. 39 zu§ 40. 47 Ebenda, Rn. 43 zu § 40. 48 Vgl.- statt vieler- K. Redeker, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme, DVBL 1984, S . 870ff.

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tisiert und daß es jedenfalls ungleich differenziertere Aussagen enthält als die Grundrechte. Die in diesem Sinne konkreteste Norm im Zusammenhang einer aus Schönberg "zurückwirkenden Umweltbeeinträchtigung" ist § 13 Abs. 1 Satz 2 des Abfallgesetzes, der seit dem 1. Juni 1985 die Genehmigungserteilung für grenzüberschreitende Abfalltransporte regelt (sog. SevesoNovelle)49. Diese Vorschrift bindet die Genehmigungserteilung für denjenigen, der Abfälle "in den, aus dem oder durch den Geltungsbereich dieses Gesetzes" (also des Abfallgesetzes) verbringen will, an eine Reihe von Voraussetzungen. Im einzelnen bestehen folgende Genehmigungsvoraussetzungen: keine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit durch den Umgang des Transporteurs mit den Abfällen; dessen Zuverlässigkeit (im Sinne des traditionellen gewerberechtlichen Inhalts dieser Anforderungen); Vereinbarkeit mit etwaigen Abfallbeseitigungsplänen; Beachtung des Vorranges der Entsorgung im Herkunftsstaat der Abfälle; diese Anforderungen gelten für Ein-, Durch- und Ausfuhr gleichermaßen. Für die Ausfuhr der Abfälle ist weiterhin zu beachten der Vorrang der Entsorgung im jeweiligen Bundesland oder in anderen Bundesländern; die Sicherstellung ordnungsgemäßer Entsorgung im Empfängerstaat; schließlich die Voraussetzung, daß bei Entsorgung im Empfängerstaat keine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit im Bundesgebiet zu besorgen ist. Die letztgenannte Anforderung ("Wohl der Allgemeinheit" in der Bundesrepublik) ist die einzige, bei deren Nichtbeachtung durch die Genehmigungsbehörde in Betracht kommt, daß ein einzelner Bewohner des Bundesgebietes wegen Umständen, die außerhalb des Bundesgebietes ihre Ursache haben, in eigenen Rechten verletzt ist. Nur hier- es ist dies § 13 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 c AbfG- können also Drittrechte entstehen. Gibt die Bezugnahme auf das Wohl der Allgemeinheit Einzelpersonen, deren Addition ja die Allgemeinheit konstituiert, das Recht für die Einzelpersonen, die Genehmigungserteilung verwaltungsgerichtlich zu überprüfen bzw.- bei Verletzung des Rechts- die Genehmigung durch ein Verwaltungsgericht aufheben zu lassen? So jung§ 13 AbfG n .F. ist, so ist doch bereits ein heftiger Meinungsstreit um diese Frage entbrannt: Judikatur und Literatur sind uneinig in Ergebnis und Begründungenso. Der Streit ist von erheblicher praktischer und abfall• 9 Vgl. dazu allgemein M. Schneider, Zum Transport gefährlicher Abfälle, UPR 1983, S. 253ff. ; B.-A. Szelinski, Nationale, internationale und EG-rechtliche Regelungen der "grenzüberschreitenden Abfallbeseitigung" , UPR 1984, S. 364ff. 5 Für Drittschutz (eines grenzbenachbarten Grundstückseigentümers) OVG Lüneburg DVBl. 1986, 418 mit zustimmender Anm. Becker, S. 421ff. =NuR 1986, 209ff. mit ablehnender Anm. Ph. Kunig, S. 112ff.; zum Streitstand L. A. Versteyl, Abfallex-

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wirtschaftlicher Bedeutung. Ein Stopp der Nutzbarkeit Schönbergs aus dem Bundesgebiet würde andere, bisher als zu teuer angesehene Deponien ins Spiel bringen, entscheidet damit mittelbar über das Wohl und Wehe eines ganzen Wirtschaftszweiges. Die "Allgemeinheit" ist im Umweltschutzrecht bisher durchweg als ein Gegenbegriff zur Nachbarschaft oder zu Dritten verstanden worden, wie vor allem das Immissionsschutzrecht und das Wasserhaushaltsrecht zeigen. Dies macht die Absicht jedenfalls des Gesetzgebers deutlich, gerade keine subjektiven Rechte von Dritten entstehen zu lassen. Daran ändert es auch nichts, wenn die einleitende Zielbestimmung des Abfallgesetzes, sein § 2 Abs. 1 Nr. 1, das abfallrechtliche Wohl der Allgemeinheit ausdrücklich definiert als ein Schutzgut, für das unter anderem Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen (daneben auch von Nutztieren, Wild, Pflanzen, Boden) bedeutsam sei. Denn eine derartige Zielbestimmung, kann nicht alle nachfolgenden Differenzierungen einfach überspielen - was im Immissionsschutzrecht anerkannt ist51. Es wäre nicht verständlich, wenn es keinen Unterschied machen sollte; ob der Gesetzgeber in einem bestimmten Zusammenhang die Rechte von einzelnen ausdrücklich anspricht (so bei abfallrechtlichen Planfeststellungsbeschlüssen) oder ob er dies- wie bei der Ausfuhrgenehmigung- gerade unterläßt und das Wohl der Allgemeinheit in den Mittelpunkt stellt. Wenn sich das OVG Lüneburg auf die Notwendigkeit beruft, die Norm "verfassungskonform", und zwar im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG auszulegen52 , so überzeugt dies nicht. Art. 19 Abs. 4 GG setzt das Bestehen von Individualrechten voraus - und versieht diese mit einer Rechtsschutzgarantie. Er schafft nicht davon unabhängige Rechte53 • Als betroffene Grundrechte kommen auch Art. 14 GG und Art. 2 Abs. 2 GG in Betracht. Der Rückgriff auf sie wäre zwar ausgeschlossen, wenn man der Auffassung folgte, daß beide Grundrechte der gesetzgeberischen Konkretisierung bedürfen, um in umweltverwaltungsrechtlichen Streitigkeiten Dritten überhaupt subjektive Rechte verleihen zu können54 . Selbst wenn man aber den Grundrechten die portund Drittschutzwirkung nach§ 13 AbfG, NVwZ 1987, S. 296ff.; dem OVG Lüneburg folgt das VG Darmstadt NVwZ 1987, 350ff.; ablehnend VG Schleswig, NVwZ 1987, 352ff. und VG Harnburg NVwZ 1987, 354ff. In einerweiteren Entscheidung hat das OVG Lüneburg die Frage ausdrücklich offen gelassen: Beschluß v. 12.6. 1987, Az. 7 OVG B 40/87. 51 Vgl. Ph. Kunig, "Dritte" und Nachbarn im Immissionsschutzrecht, in: Gedächtnisschrift für W. Martens, 1987. 52 s. den Nachweis in Fn. 50. 53 Kunig (Fn. 50), S. 213; dem folgend VG Harnburg NVwZ 1987, 354f.; VG Bremen, Beschluß vom 9. 6. 1987, Az. 2 V 105/87; VG Arnsberg, Beschluß v. 26. 6. 1987, Az. L 82/87. 54 Vgl. dazu G. Schwerdtfeger, Grundrechtlicher Drittschutz im Baurecht, NVwZ 1982, 5ff.; U. G. Berger, Grundfragen umweltrechtlicherNachbarklagen, 1982, S . 160 und öfter.

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Fähigkeit zubilligt, auch ohne eine derartige Konkretisierung selbst als "Schutznorm" zu fungieren, ist zu beachten, daß der Gesetzgeber selbst die grundrechtliehen Wertentscheidungen durch das Abfallgesetz schon konkretisiert hat. Da dies in eindeutiger Weise geschehen ist, nämlich durch die Verwendung des objektiven Begriffs Wohl der Allgemeinheit, ist für verfassungskonforme Auslegung von vomherein wenig Raum - diese würde eine Mehrdeutigkeit des Gesetzes voraussetzen. Der Weg zu den Grundrechten wäre also nur dann frei, wenn man es für verfassungswidrig hielte, daß der Gesetzgeber keine Rechte für Dritte zur Überprüfung der in Rede stehenden Genehmigung geschaffen hat. Wir sind damit an einen Punkt gelangt, zu dem letztlich fast alle Rechtsprobleme, die die Bemessung von Rechtsverfolgungschancen im Umweltverwaltungsrecht zum Gegenstand haben, hinführen, der Frage nämlich, welcher Respekt Entscheidungen des Gesetzgebers zu zollen ist, oder anders gewendet, ob und wann solche Kläger, denen das einfache Recht die subjektive Rechtsverfolgung versagt, sich der Grundrechte bedienen können, um dieses Defizit auszugleichen. Die Debatte hierüber gehört in einen Zusammenhang, der hier schon behandelt worden ist55 . Wenn Gesetzgebung im wesentlichen Konkretisierung von Grundrechten darstellt, auch: Verteilung von grundrechtlich verbürgten Entfaltungschancen (die etwa im Konflikt von ökonomischen und ökologischen Interessen zunächst unverbunden nebeneinander stehen), so ist es zwingend, den aus Gründen der Gewaltenteilung, der demokratischen Struktur und der in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegten Gesetzesbindung sich ergebenden Vorrang gesetzgeberischer Entscheidung zu akzeptieren. Damit sollen nicht bestehende Defizite auch im internationalen Abfallrecht geleugnet werden, wohl aber soll betont werden, daß der Gesetzgeber, nicht die Gerichte, in erster Linie dazu aufgerufen ist, solche Defizite zu beseitigen. Zugleich ist damit eine Grenze gegeben für den Versuch, aus Art. 28 II GG weitergehende Rechte für Gemeinden herzuleiten56. Der Schutz der gemeindlichen Selbstverwaltung kann regelmäßig nur Anlaß für Klage befugnisse im Bereich der Planung sein, geht jedenfalls nicht weiter als der allgemeine Drittschutz des Bürgers57 • Es ist dies insgesamt eine Rechtslage, die wenig befriedigen kann. Die Defizite dieser Rechtslage sind auch auf internationaler Ebene zu suchen s. oben U. Karpen, S. 9 ff. So aber VG Schleswig, Beschluß v. 21.11.1986, Az. 12 D 33/86; vgl. auch VGH München DÖV 1986, S. 208; OVG Koblenz UPR 1986, S. 396. 57 Vgl. R. Steinberg, Verwaltungsgerichtlicher Schutz der kommunalen Planungshoheit gegenüber höherstufigen Planungsentscheidungen, DVBl. 1982, S. 13ff.; M. Kloepfer, Rechtsschutz im Umweltschutz, in: VerwArch 76 (1985), S. 371 (385f.). 55

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und abzubauen, unbeschadet der Möglichkeiten des innerstaatlichen Gesetzgebers. Auf internationalen Ursachen beruhende Probleme sollten einer internationalen Lösung zugeführt werden; alles andere führt zu internationaler Disharmonie, Ungleichheit und Rechtsunsicherheit, außerdem zu der ständigen Gefahr völkerrechtlich unerwünschten Hineinregierens in fremde Hoheitsbereiche. Wir sahen- um das erneut zu resümieren -, daß das einschlägige Völkervertragsrecht zur internationalen Umweltbeeinträchtigung bisher kaum haftungsbegründende Tatbestände, sondern rechtspolitische Postulate, Programmnormen also, ferner Informations- und Konsultationsverpflichtungen enthält; daß im Gewohnheitsrecht zwar ein haftungsbegründender Tatbestand anerkannt ist, dessen Bedeutung aber begrenzt ist wegen der nur selten gegebenen Möglichkeit, Kausalverläufe zu beweisen, außerdem belastet durch hohe Anforderungen an dem präventiven Unterlassungstatbestand und durch weithin fehlende Gefährdungshaftung. Sicher ist ferner, daß der einzelne nach Völkerrecht in keinem Zusammenhang über umweltrechtliche Individualrechte verfügt, und daß er seinen Heimatstaat nach nationalem Recht nur unter engsten Voraussetzungen zur Geltendmachung etwaiger völkerrechtlicher Ansprüche veranlassen kann - selbst nach dem grundrechtsangereicherten Recht der Bundesrepublik bleibt dafür nach allen Meinungen ein beträchtlicher Spielraum der Exekutivess. Dieser Befund legt es nahe, an zwei Stellen anzusetzen. Zum einen sollte versucht werden, weiterhin eine weitere Kodifizierung völkerrrechtlicher Gefährdungshaftungstatbestände zu erreichen59 • Eine solche Gefährdungshaftung kann allerdings nicht durch das Schrifttum "herbeigeredet" werden. Man fühlt sich hier manchmal erinnert- bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber Parallelen zur Entwicklung im innerstaatlichen Rechtan die Versuche Ernst Forsthoffs, aus dem Wandel der Staatsfunktionen und den gesteigerten Aktivitäten des Leistungsstaates die Existenz einer allgemeinen öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung de lege lata herzuleiten50, ein rechtspolitisch seinerzeit überzeugendes Anliegen, dem Judikatur und Literatur dennoch fast geschlossen die Gefolgschaft versagt haben, dem die Judikatur überdies - und hier endet die Parallele - durch die Aufgabe des ursprünglichen Eingriffsbegriffs teilweise den Boden entzogen hat; solche Möglichkeiten bietet das Völkerrecht nicht. Deshalb bleibt nur der Weg über Vertragsabschlüsse; sogenanntes Soft Law, "Empfehlungen" internationaler Gremien also reichen nicht aus 61 ; und der Weg zum Vertrag Vgl. Schwarze (Fn. 39), S . 426ff. So auch Gündling (Fn. 20), S . 284ff. so Vgl. E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, 10. Auflage 1973, s. 359ff. 61 Grundsätzlich positiv dazu etwa W. Lang, Die Verrechtlichung des internationalen Umweltschutzes: Vom "soft law" zum "hard law", in: ArchVR 22 (1984), S. 283 ff. 58

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dürfte wohl nur erfolgversprechend sein, wenn nicht länger versucht wird, eine allgemeine, auf alle Arten der grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigung bezogene Gefährdungshaftung einzuführen, wie es ständig fruchtlos gefordert worden ist- wir sahen schon eingangs die breite Palette der so unterschiedlichen Gefährdungstatbestände. Es ist deshalb unumgänglich, differenzierte vertragliche Regelung für Einzelbereiche anzustreben. Bei Kernkraftwerken oder bei der Flußverschmutzung dürfte dies beispielsweise leichter erreichbar sein als bei den rechtlich wohl gar nicht griffig lösbaren Problemen weiträumiger kumulativer Luftverschmutzung. ßl.

Noch wichtiger und ertragreicher als der Weg über die völkerrechtliche Gefährdungshaftung, von unmittelbarer Bedeutung auch für den betroffenen einzelnen, scheint es mir aber zu sein, eine Stärkung der Möglichkeiten des Ausländers anzustreben, an der Verschmutzungsquelle selbst sein Recht zu suchen. Unabhängig vom "Fall Schönberg", der die Frage nach dem Verwaltungsrechtsschutz des Fremden in der DDR aufwirft, sei nun - in gleichsam umgedrehter Perspektive- gefragt, welche Möglichkeiten das Verwaltungsrecht der Bundesrepublik insoweit bietet: Öffnet sich dieses Verwaltungsrecht nicht-gebietsansässigen fremden Staatsangehörigen, also solchen "jenseits der Grenze"62? Zu unterscheiden ist hierbei die Verfahrensbeteiligung von der prozessualen Seite. Für beides gelten freilich ähnliche Kriterien, beides könnte einander auch bedingen, dennoch tut sich die Rechtspraxis leichter mit der Verfahrensbeteiligung, insbes. der Befugnis zu Einwendungen bei Großprojekten, als mit der Ausdehnung von Klagebefugnissen über die Grenzen hinaus. Auszugehen ist in beiden Fällen wieder von der Regelungsintention der im Einzelfall einschlägigen Norm63. Will sie die Einbeziehung des NichtGebietsansässigen? Die Wortlaute, die von Dritten, Nachbarn und "anderen" sprechen, geben keinen Aufschluß. Die gesetzliche Nicht-Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Nachbarn erweist auch nicht, daß "alle", auch ausländische Nachbarn, einzubeziehen seien. Es wäre dies ein gekünsteltes Argument, denn der Gesetzgeber sah keinen Anlaß, ausländische Nachbarn oder Dritte auszuklammern. 62 Hierzu umfassend Th. Oppermann I M. Kilian, Gleichstellung ausländischer Grenznachbarn im deutschen Umweltverfahren, 1981. Zusammenfassend etwa F.C. Bruns, Zum Verhältnis von Staat und Bürger im grenzüberschreitenden Umweltschutz- gegenwärtiger Stand und Entwicklungsmöglichkeiten, Zeitschr. f . Umweltrecht 1983, S. 65ff. 63 Vgl. Kopp (Fn. 46), Rn. 52 zu§ 42.

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Zur Verfahrensbeteiligung sei hier nur darauf verwiesen, daß in Grenzbeziehungen zwischen westeuropäischen Staaten die wechselseitige Verfahrensbeteiligung von Einzelpersonen in den letzten Jahren durchaus üblich geworden ist 64 : Für die Bundesrepublik gilt das im Verhältnis zu Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Dänemark (gegen die Vordeichung bei Sylt gab es 2500 Einwendungen aus Dänemark). Völkerrechtliche Bedenken gibt es dagegen kaum; die Staaten pflegen es nicht zu rügen, wenn ihren Staatsangehörigen in einem anderen Staat ermöglicht wird, an einem Verwaltungsverfahren mitzuwirken. Was die prozessuale Seite anlangt, so ist zunächst nach etwaigen rechtlichen Hindernissen der Ausdehnung zu fragen. Zahlreiche Autoren verweisen insoweit auf den traditionellen Satz des deutschen internationalen Verwaltungsrechts, wonach öffentliches Recht (anders als Zivilrecht, aber auch Strafrecht) in seinem Geltungsanspruch an der Staatsgrenze enden müsse, also unabhängig davon, ob es dort auch enden will (Territorialitätsgrundsatz)65. Manche meinen darüber hinaus, daß es gegen den Souveränitätsgrundsatz und das Nichteinmischungsprinzip verstoße, wenn eine innerstaatliche Rechtsordnung einigen ihrer Normen Relevanz für die Rechtsstellung von auf fremdem Staatsgebiet ansässigen Personen, jedenfalls solchen mit auch fremder Staatsangehörigkeit beimißt. Das Nichteinmischungsprinzip verbietet aber kategorisch nur die Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem Staatsgebiet (etwa: durch Beweisaufnahme ohne Zustimmung66 ), nicht notwendig schon die Hineinwirkung durch dem Schutz ausländischer Grenznachbarn dienende Rechtsnormen, so daß es einer völkerrechtlichen "Ermächtigungsgrundlage" nicht bedarf67. Auch das Bundessozialgericht hat keine Bedenken gehabt, im Ausland befindlichen fremden Staatsangehörigen subjektive Rechte zuzuerkennenss. Wenn also zweifelhaft ist, ob der Einräumung von Klagebefugnissen an den jenseits der Grenze befindlichen Dritten unübersteigbare Hindernisse entgegenstehen, so wäre es andererseits nicht richtig, aus Art. 1 Abs. 3 GG, der die deutsche Staatsgewalt an die Grundrechte bindet, also auch an Aus64 Vgl. dazu G. Ress (Hrsg.), Grenzüberschreitende Verfahrensbeteiligung im Umweltrecht der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften, 1985; U. Beyerlin, Die Beteiligung ausländischer Grenznachbarn an umweltrechtlichen Verwaltungsverfahren und die Möglichkeit zu ihrer vertraglichen Regelung auf "Euregionaler " Ebene, NuR 1985, S. 173ff. 65 Vgl. Oppermann I Kilian (Fn. 62), S. 89ff. 66 Vgl. dazu E. Nordmann, Die Beschaffung von Beweismitteln aus dem Ausland durch staatliche Stellen, 1979. 67 Zu deren Notwendigkeit, wenn das Nichteinmischungsprinzip tatbestandlieh verwirklicht ist, Ph. Kunig, Völkerrecht und Fusionskontrolle, WuW 1984, S . 700ff.Für das im Text behandelte Problem wie hier: M . Bot he, Grenzüberschreitender Verwaltungsrechtsschutzgegen umweltbelastende Anlagen, UPR 1983, S . 1 (2). ss Vgl. BSGE 33, 284ff.

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ländern zustehende Grundrechte, schließen zu wollen, daß jede inländisch drittschützende Norm auch ausländische Dritte meint69. Zwar gibt es eine grenzüberschreitende Wirkung der Grundrechte in dem Sinne, daß die Grundrechtsbindung unabhängig von dem Umstand bestehen kann, ob das grundrechtlich mißbilligte Verhalten sich auf fremdem Territorium realisiert70. Damit steht aber noch nicht fest, daß jeder ausländische Grenznachbar in die volle Rechtsstellung des inländischen Grundrechtsinhabers einrückt. Die Frage der Klagebefugnis ist nicht in erster Linie eine Grundrechtsfrage. Damit zeigt sich, daß die Frage des grenzüberschreitenden Verwaltungsrechtsschutzes mit Patentformeln (manche Autoren beziehen sich hier noch auf die "Völkerrechtsfreundlichkeit" des Grundgesetzes, auf den Grundsatz der guten Nachbarschaft, wie er in der Präambel der UNO-Satzung auftaucht) nicht überzeugend gelöst werden kann. Die Lösung ist vielmehr davon abhängig, daß zunächst einmal im inländischen Bereich subjektive Rechte aufgefunden werden, denen dann möglicherweise eine noch zusätzliche, Grenznachbarn einbeziehende Dimension zugeschrieben werden kann. Die Kriterien dafür sind freilich noch unklar. Sie sollten völkerrrechtlich vereinheitlicht werden, um eine Harmonisierung und Angleichung der Maßstäbe herbeizuführen. Die Schwierigkeiten auf dem Weg dahin sind geringer im Verhältnis zwischen Staaten, die vergleichbare Verwaltungsrechtssysteme und vor allem: Rechtsschutzsysteme aufweisen, als zwischen insoweit heterogenen Staaten. Dies zeigt deutlich das Beispiel regionaler Integration in der skandinavischen Welt (Nordische Umweltkonvention von 1974 71 ): Sie sieht partiell den Grundsatz der Gleichbehandlung von nicht gebietsansässigen Ausländern mit Inländern für den Zugang zu Gerichtsverfahren vor. Auch die OECD hat einschlägige Empfehlungen erlassen72 • Der schon erwähnte Grundsatz der Territorialität des Verwaltungsrechts ist insofern tendenziell bereits in Auflösung begriffen, aber- und dies ist wichtig- nur weil und insoweit konkrete zwischenstaatliche Vereinbarungen vorliegen, die die Beteiligung und die Rechtsstellung des Grenzbürgers regeln. Wo es an derartigen Regelungen fehlt, dauern die Zweifelsfragen und die Rechtsunsicherheit fort, wie 69 So auch M. Kloepfer, Grenzüberschreitende Umweltbelastungen als Rechtsproblem, DVBl. 1984, S. 245 (249). 70 Vgl. etwa OVG Harnburg NVwZ 1986, S. 781; a .A. OVG Lüneburg, lnfAuslR 1985, S. 199, mit ablehnender Anmerkung Ph. Kunig, S . 200ff. Vgl. auch K. Hailbronner, Neuere Rechtsprechung zu aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen gegenüber Ausländern, JZ 1987, 73ff. s. ferner grundsätzlich Th. Oppermann, Transnationale Ausstrahlungen deutscher Grundrechte?, in: Festschrift für W. G. Grewe, 1981, S. 521ff. und M . Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: Festschrift für H.-J. Schlochauer, 1981, S. 1:n ff. 71 International Legal Materials 13 (1974), S. 59lff. 72 s. OECD and the Environment, 1986, S. 142ff.

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das Beispiel der Diskussion um die Frage der "internationalen Drittrichtung" einzelner Normen des deutschen Verwaltungsrechts zeigt; die Auslegung, der es ja auf die Intention des Gesetzgebers ankommt und ankommen muß, ist hier überfordert, denn eine entsprechende Intention des Gesetzgebers müßte fingiert werden, insbesondere bei älteren Gesetzen. Ein Vorteil von Regelungen, die wechselseitig den Grenzbürgern Rechtsschutzmöglichkeiten einräumen, ist auch, daß das Argument der Reziprozität entfällt, mit dem heute gelegentlich die Klagebefugnis des Ausländers verneint wird, der aus einem Staate stammt, welcher selbst entsprechende Befugnisse nicht einräumt73 • Schließlich entfällt auch die Frage nach der eventuell erforderlichen Zustimmung des Territorialstaates bezüglich des Hinüberwirkens von Normen- diese Zustimmung ergäbe sich ein für allemal aus dem Vertragsverhältnis. Natürlich sind die Erfolgsaussichten einer bilateralen oder multilateralen Vereinbarung stärkeren grenzüberschreitenden Individualrechtsschutzes nicht nur abhängig von einer gewissen Homogenität der jeweils betroffenen nationalen Rechtssysteme, sondern auch der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die bisher mit der Verwaltungsrechtsvereinheitlichung im EG-Bereich gemachten Erfahrungen74 stimmen aber insofern in Grenzen optimistisch. So kann der einzig angemessene Weg nur die zwischen souveränen Staaten getroffene Vereinbarung sein, den Individualrechtsschutz von den Fesseln eben der Souveränität teilweise zu befreien. Damit bleibt die Struktur des Völkerrechts gewahrt, ja sie wird geradezu genutzt, um die Stellung des einzelnen, der in dieser Struktur bisher kaum eine Berücksichtigung findet, mittelbar zu stärken. Und aus längerfristiger Perspektive erscheint es nur folgerichtig, auch den Bürger und sein Recht die Grenzen überschreiten zu lassen, wenn anders der Auswurf der Industriegesellschaft an solcher Grenzüberschreitung nicht zu hindern ist. Am 17. Dezember 1986 hat das Bundesverwaltungsgericht eine Entscheidung aufgehoben75, die das Verwaltungsgericht Oldenburg getroffen hatte76 und die bisher als "herrschende Meinung" apostrophiert worden war77 : Einem Niederländer wurde die Klagebefugnis eingeräumt gegenüber einer atomrechtlichen Genehmigung betreffend ein Kernkraftwerk im Emsland. 73

Vgl. Oppermann I Kilian (Fn. 62), S. 74.

74 Vgl. dazu etwa J. Schwarze (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden,

1982, sowie U. Everling, Auf dem Wege zu einem europäischen Verwaltungsrecht, NVwZ 1987, lff. 75 BVerwG DVBl. 1987, 375ff. m.Anm. A. Weber= JZ 1987, 351ff. m.Anm. P. Preu; s. auch M. Bothe, Klagebefugnis eines Ausländers im Atomrecht, UPR 1987, S. 170f. 76 DVBl. 1985, 802ff. 77 Vgl. Kopp (Fn. 46), Rn 52 zu § 42 (der selbst anderer Ansicht ist), und die Anmerkung von M. Kilian a.a.O. (Fn. 76), m. w. Nachw.

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Die These, deutsches Verwaltungsrecht könne Rechtswirkungen nur im Geltungsbereich des GG entfalten, wurde zurückgewiesen. Völkerrecht stehe nicht entgegen, auch für ausländische Rechtsgüter Vorsorge zu treffen. Allerdings deutete das Gericht Einschränkungen an: Es betonte das "besondere" Gefährdungspotential der Atomenergiegewinnung; es billigte die Klagebefugnis "jedenfalls" Bürgern aus Mitgliedstaaten der Europäischen Atom-Gemeinschaft zu, weil nur innerhalb dieser Gemeinschaft die Bundesrepublik zur Nutzung von Kernenergie befugt sei. Möglicherweise also wiederum eine "Tschernobyl"-Spätfolge-Entscheidung, vielleicht aber auch der Beginn einer Neuorientierung. Man wird der künftigen Entwicklung hier mit Spannung entgegensehen können. Fazit also: Die Zukunft rechtlicher Bewältigung grenzüberschreitenden Umweltschutzes hängt, was die Rechtsstellung des einzelnen anlangt, primär ab von der Entwicklung der innerstaatlichen Verwaltungsrechte und Verwaltungsprozeßrechte bzw. deren einheitlicher Regelung durch Völkerrecht, nicht aber vom Völkerrecht selbst. Damit ergibt sich zugleich, daß es Lösungen vor allem bilateral, allenfalls regional, also an Grenzen im alten Sinne geben kann. Großräumige Umweltverschmutzung, etwa der Atmosphäre, die die Bevölkerung ganzer Staaten und Kontinente zur "Grenzbevölkerung'' macht, ist vorerst vom Individualrechtsschutz nicht zu erfassen. Das Recht kann nicht alles auffangen, was die Politik versäumt.

Umweltvölkerrecht Anmerkungen zur Entwicklung eines Rechtsgebietes

Von Rainer Lagoni Einleitung

Umweltprobleme sind oft internationale Probleme. Winde wehen, Flüsse fließen über Grenzen hinweg, Strömungen breiten lokale Verschmutzungen im Meer aus. Die Beeinträchtigung der Meeresumwelt, der antarktischen Umwelt oder des Weltraums geht alle Staaten an. Aber nicht nur grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen oder die Versehrnutzung staatsfreier Räume zwingen die Staaten, untereinander oder mit Hilfe internationaler Organisationen völkerrechtliche Regelungen für die anstehenden Umweltprobleme zu suchen. Unterschiedliche nationale Umweltschutzbestimmungen können beispielsweise zu internationalen Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen führen und demnach auch internationale Probleme aufwerfen. Als einführender Überblick über das junge Rechtsgebiet des völkerrechtlichen Umweltschutzes gehen die folgenden Ausführungen zwar von einem prinzipiellen Zusammenhang zwischen Umwelt und Wirtschaft aus, müssen sich aber auf eine Darstellung einiger seiner Grundzüge beschränken. Zu diesem Zweck wird im folgenden ein Überblick über den Entwicklungsstand des völkerrechtlichen Umweltschutzes gegeben, dem einige Ausführungen zum Begriff, zur Funktion, zur Systematik und zu einigen allgemeinen Grundsätzen dieses Rechtsgebietes folgen. Dabei soll in diesem Zusammenhang von völkerrechtlichem Umweltschutz oder Umweltvölkerrecht gesprochen werden, um anzudeuten, daß die ebenfalls zum internationalen Umweltschutz zählenden Umweltschutzbestimmungen des Europarechts, die in dieser Ringvorlesung von G. Nicolaysim behandelt worden sind, unberücksichtigt bleiben. Ebenfalls ausgeklammert bleiben die im internationalen Umweltschutz wichtigen Fragen des Rechtsschutzes Privater1 - auf einzelne Aspekte ist im Rahmen dieser Veranstaltung 1 Vgl. hierzu auch A. Rest, Völkerrechtlicher und zivilrechtlicher Schadensersatz im internationalen Umweltrecht, Umwelt- und Planungsrecht 1982, S . 358, 362ff.; ders., Schadensersatzansprüche des einzelnen nach Zivil- und Völkerrecht, Umweltund Planungsrecht 1984, S. 148; 0. Kimminich, Völkerrechtliche Haftung für das Handeln Privater im Bereich des internationalen Umweltschutzes, Archiv des Völkerrechts, Bd. 2 (1984), S. 241; J. Schwarze, Rechtsschutz Privater bei völkerrechtswidrigem Handeln fremder Staaten, Archiv des Völkerrechts, Bd. 24 (1986), S. 408.

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P. Kunig eingegangen -, bei welchen völkerrechtliche und innerstaatliche Fragen zusammentreffen. I. Zur Entwicklung des völkerrechtlichen Umweltschutzes "In der Geschichte ist ein Punkt erreicht, wo wir überall in der Welt mit größerer Umsicht und Sorgfalt auf die Folgen unseres Handeins für die Umwelt achten müssen". Diese Feststellung findet sich in der 1972 auf der Stockholmer Umweltkonferenz angenommenen Erklärung der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen2• Mit den 7 Punkten ihrer Einleitung und ihren 26 Grundsätzen bildete die rechtlich allerdings unverbindliche Stockholmer Umwelterklärung die erste umfassende internationale Erklärung zum Umweltschutz und gab den Anstoß zur Entwicklung des völkerrechtlichen Umweltrechts. In ihr äußert sich eine bis dahin unbekannte Sorge der Staaten um die natürlichen Grundlagen des Lebens auf der Erde.

Freilich gibt es auch eine ältere Staatenpraxis und völkerrechtliche Verträge aus der Vorkriegszeit, die im nachhinein dem Umweltrecht zugerechnet werden. So schufen beispielsweise die Vereinigten Staaten schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Vorschriften zum Schutz der arktischen Robben vor Alaska. Im Beringsee-Robbenstreit von 1893 entschied ein internationales Schiedsgericht, daß sie diese Vorschriften nicht auf Robbenjäger unter britischer Flagge auf der Hohen See anwenden durften3. Im Jahre 1902 wurde eine noch heute in 16 europäischen Staaten geltende Übereinkunft zum Schutz der für die Landwirtschaft nützlichen Vögel geschlossen4 • Das bis in die Gegenwart ungelöste Problem der Versalzung der Werra durch den Thüringer Kalibergbau führte in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts zu einem Zwischenländerstreit zwischen Bremen und Preußen vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, für dessen Lösung der Staatsgerichtshof im Wege der Analogie auf das Völkerrecht zurückgriff5. Einen echten Völkerrechtsstreit bildete der 1941 von einem amerikanisch-kanadischen Schiedsgericht entschiedene Trail-Smelter-Fall, in dem es um Schäden ging, die eine an der Grenze gelegene kanadische Zinkschmelze durch metallhaltige Abgase auf amerikanischem 2 Erklärung der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen vom 16. Juni 1972, deutsche Übersetzung in Vereinte Nationen 1972, S . 109. Die englische Fassung (UN Doc. A/CONF. 48/14) findet sich auch in International Legal Materials Vol. 11 (1972), 1416; vgl. dazu J. B. Sohn, Stockholm declaration on the human environment, Harvard International Law Journal14 (1973), 423. 3 Behring Sea Fur Seals Arbitration (GB v. USA), 1893, Martens, Nouveau Recueil general, 2. serie, Bd. 21 (1897), 439. Ähnliche Streitfälle zwischen Rußland und den USA um russische Robbenschutzbestimmungen wurden 1901 und 1902 entschieden, vgl. H. N . Götz, Robbenfang-Streite, in: K. Strupp I H.-J. Schlocher, (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., Berlin 1962, S. 132. 4 RGBl. 1906, S. 89. 5 Entscheidung vom 29. 6. 1925, RGZ 112, AnhangS. 21.

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Gebiet verursacht hatte6 • Diese wegweisende Entscheidung wird bis heute als Ausgangspunkt einer gewohnheitsrechtliehen Entwicklung gewisser Grundprinzipien des grenzüberschreitenden Umweltschutzes herangezogen. Die Reihe der Beispiele ließe sich leicht vermehren7 . Die Völkerrechtslehre faßt diese unterschiedlichen Fälle der Staatenpraxis erst seit der Entwicklung eines Umweltbewußtseins unter der Überschrift des völkerrechtlichen Umweltschutzes zusammen8 • Dieses von den Industriestaaten ausgehende Umweltbewußtsein führte seit Beginn der United Nations Reports of International Arbitral Awards, Vol. 3, 1905. Ein mythologisches Beispiel der Flußverschmutzung bietet die fünfte Arbeit des Herakles, in welcher er die Flüsse Alpheus und Menios durch die verschmutzten Ställe des Augias, König von Elis, leitete, vgl. Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Reinbek 1968, Bd. 2, S. 111. a I. v . Münch, Umweltschutz im Völkerrecht, Archiv des Völkerrechts, Bd. 15 (197111972), S. 385; D. Rauschning, Umweltschutz als Problem des Völkerrechts, EUROPA-ARCHIV Bd. 27 (1972), S. 567; M . Bothe, Umweltschutz als Aufgabe der Rechtswissenschaft, Völkerrecht und Rechtsvergleichung, Bd. 32 (1972), S. 483; L. A. Teelaff I A. E. Utton (Eds.), International Environmental Law, New York, Washington, London 1974; A. C. Kiss, (Ed.), The Protection of the Environment and International Law, Colloquium 1973, Leyden 1975; E. Klein, Umweltschutz im völkerrechtlichen Nachbarrecht, Berlin 1976; M. Bothe, Transfrontier Environmental Management, in: M. Bothe (Hrsg.), Trends in Environmental Policy and Law, Gland 1980, S. 391; P. M. Dupuy, International Liability for Transfrontier Pollution, in: M. Bothe (Hrsg.), Trends in Environmental Policy and Law, S. 363; W. Lang, Haftung und Verantwortlichkeit im internationalen Umweltschutz, in: Festschrift A. Verdross, Berlin 1980, S. 517; W. Riphagen, The International Concern for the Environment as Expressed in the Concepts of the "Common Heritage of Mankind" and of "Shared Natural Resources", in: M. Bothe, (Hrsg.), Trends in Environmental Policy and Law, S. 343; T. Oppermann, "Gute Nachbarschaft" im internationalen und europäischen Umweltschutzrecht, in: Festschrift H. Kutscher, Baden-Baden 1981, S. 301; D. Rauschning, Allgemeine Völkerrechtsregeln zum Schutz gegen grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, in: Festschrift H.-J. Schlochauer, Berlin, New York 1981, S. 557; K. Siehr, Grenzüberschreitender Umweltschutz, Europäische Erfahrungen mit einem weltweiten Problem, Rabels Zeitschrift 1981, S. 377; W. E. Burhenne, Internationales Umweltrecht, in: J . Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, Berlin 1982, S. 659; M. Bothe IM. Prieur I G. Ress (Hrsg.), Rechtsfragen grenzüberschreitender Umweltbelastungen, Fachtagung, Saarbrücken, 13. - 15. 5. 82, Berlin 1984; M. Kloepfer, Grenzüberschreitende Umweltbelastung als Rechtsproblem, Deutsches Verwaltungsblatt 1984, S. 245; v. Moltke I Schmölling I Kloepfer I Kohler, Grenzüberschreitender Umweltschutz in Europa, Heidelberg 1984; V. Prittwitz, Umweltaußenpolitik, Grenzüberschreitende Luftverschmutzung in Europa, Frankfurt, New York 1984; R. Wolfrum, Die grenzüberschreitende Luftverschmutzung im Schnittpunkt von nationalem Recht und Völkerrecht, Deutsches Verwaltungsblatt 1984, S. 493; K. Dicke, Multilateraler Umweltschutz: Übersicht über die wichtigsten Vertragswerke-Weltweiter Umweltschutz als politisches Problem, Vereinte Nationen 1984, S. 100; L. Gündling, Verantwortlichkeit der Staaten für grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 45 (1985), S. 265; A. Rest, Umweltschutz, internationaler, in: J. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Lexikon des Rechts, Völkerrecht, Neuwied, Darmstadt 1985, S. 277; T. Oppermann IM. Kilian, Grenzüberschreitende Umweltbelastung, in: 0 . Kimminich I H . Freiherr v. Lersner I P .-Ch. Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, Berlin 1986, Sp. 683; L. Gündling, Environment, International Protection, in: R. Bernhardt (Ed.), Encyclopedia of Public International Law, 9 (1986), 119; M. Kilian, Umweltschutz durch Internationale Organisationen, Berlin, München 1987. 6

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siebziger Jahre zu einer schnellen Entwicklung des Umweltvölkerrechts in Form zahlreicher Umweltschutzübereinkommen. Eine vor einigen Jahren veröffentlichte Vertragssammlung enthält aus dem Zeitraum von 1754 bis 1945 190 Übereinkommen und aus der Nachkriegszeit bis 1981 sogar mehr als 900 Übereinkommen, deren Mehrzahl aus den sechziger und siebziger Jahren stammt9 . Neben einigen für den Umweltschutz ganz zentralen Gegenständen, wie beispielsweise dem Schutz von Fauna und Flora auf dem Lan?e, der Erhaltung der lebenden Reichtümer des Meeres oder der Luftund Wasserverschmutzung, sind auch Randbereiche wie etwa die Lärmbelästigung, der Schutz des Kulturerbes und das Verbot bestimmter Waffen geregelt. Die einzelnen Übereinkommen behandeln normalerweise nur Einzelaspekte der Umwelt und überschneiden sich gelegentlich. Eine Ausnahme bildet das vom Nordischen Rat geschaffene Umweltschutzübereinkommen vom 19.2.1974 der skandinavischen Staaten, das durch eine Harmonisierung der nationalen Umweltschutzvorschriften die gesamte Umwelt schützen solllO. Besonders eindrucksvoll ist beispielsweise die Entwicklung des marinen Umweltrechts11 . Bis 1969 existierte neben zwei unbedeutenden Bestimmungen des Genfer Übereinkommens über die Hohe See von 1958 12 lediglich 9 Vgl. B. Rüster I B. Simma IM. Bock, International Protection of the Environment, Treaties and Related Documents, Vol. I- XXX, Dobbs Ferry, New York, 19751983. 1o Convention on the Protection of the Environment, 19 February 1974, International Legal Materials Vol. 13 (1974), 591. Generell dazu vgl. M. Kloepfer, Aspekte der internationalen Harmonisierung des Umweltrechts, Umwelt- und Planungsrecht 1984, S. 281. u Vgl. H. Hecker, Verhütung der Ölverschmutzung des Meeres durch internationale Regelungen, Monatsschrift für Deutsches Recht 1961, S. 986; E. du Pontavice, La pollutiondes mers par les hydrocarbures, Paris 1968; E. Böhme, Tankerunfälle auf dem Hohen Meer, Frankfurt, Berlin 1970; W. Ross, Oil Pollution as an International Problem, Seattle 1973; J. Ehmer, Der Grundsatz der Freiheit der Meere und das Verbot der Meeresverschmutzung, Berlin 1974; J. Y. Marin, La pollution des mers au regard du droit international, in: Kiss (Hrsg.) (Anm. 8), 239; U. Klumb, Rechtliche Probleme der Ölverschmutzung auf See, Frankfurt a .M. 1974; L. Gündling, Ölunfälle bei der Ausbeutung des Festlandsockels, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 37 (1977), S. 530; P. Ehlers I P. Kunig, Abfallbeseitigung auf Hoher See, Harnburg 1978; H. Steiger I B. Dehmel, Schutz der Küsten vor Verschmutzung vom Meer aus, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 205; G. J. ,Timagenis, International Control of Marine Pollution, Vol. I, II, Dobbs Ferry, New York 1980; D. M. Johnston (Ed.), The Environmental Law of the Sea, Berlin 1981; T. L. McDorman IN. G. Letalik I H. Mills I D. M. Johnston I E. Gold, The Marine Environment and the Caracas Convention of the Law of the Sea, Halifax 1981; K. Hakapää, Marine Pollution in International Law, Helsinki 1981; J. A. de Ytturiaga, Disposal of Nuclear Waste into the Sea, in: Dupuy (Fn. 8), 371ff.; D. W. Abecassis, Oil Pollution from Ships, 2nd ed., London 1985; E. Gold, Handbook on. Marine Pollution, Arendal1985. 12 Übereinkommen vom 29. 4. 1958 über die Hohe See (BGBL 1972 II 1089). Die Bestimmungen verpfltchten die Vertragsstaaten, Vorschriften gegen die Versehrnutzung der See durch 01 (Art. 24) und die Versenkung radioaktiver Abfälle (Art. 25 Abs. 1) zu schaffen und enthalten eine generelle Verpflichtung, zur Vermeidung der Luftverschmutzung über der See zusammenzuarbeiten (Art. 25 Abs. 2).

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das Internationale Übereinkommen von 1954 zur Verhütung der Versehrnutzung der See durch Öl13 . Andere Verschmutzungsquellen blieben ungeregelt und auf der Hohen See bestanden keine umweltrechtlichen Befugnisse der Staaten gegenüber Schiffen fremder Flagge. Nach dem Schiffbruch des liberianischen Tankers "Torrey Canyon" vor der britischen Küste 14 wurde 1969 das Internationale Übereinkommen über Maßnahmen auf Roher See bei Ölverschmutzungs-Unfällen1s geschaffen und in einem weiteren Vertrag auch die zivilrechtliche Haftung für Ölverschmutzungsschäden16 geregelt. Die Meeresverschmutzung durch Abfälle und andere Stoffe behandelt ein Übereinkommen von 1972 17. Das sog. MARPOL-Übereinkommen von 1973 mit seinem Protokoll von 1978 18 ersetzte das veraltete OlLPOL-Übereinkommen von 1954. Ergänzt wurden diese weltweiten Verträge durch regionale Übereinkommen zum Schutz der Ostsee, der Nordsee, des Mittelmeeres, der Karibik und des Persischen Golfs 19 , aber auch durch eine europä13 BGBl. 1956 II 379. Das sog. OlLPOL-Übereinkommen findet nach dem Inkrafttreten des MARPOL-Übereinkommens (s. u. Fn. 17) nur noch gegenüber den Staaten Anwendung, in welchen das letztere nicht gilt. 14 Vgl. dazu Cabinet Office, The Torrey Canyon, London 1967; C. Gill I F. Booker I T. Soper, The Wreck of the Torrey Canyon, Newton Abbot, New York 1967. 15 BGBl. 1975 II 137; 49 Vertragsstaaten (1986). Mit Protokoll von 1973, BGBL 1985 II 593. Das sog. Interventionsübereinkommen ist ein frühes Beispiel für die im Umweltrecht nicht seltene Rechtsentwicklung nach einem Unglück. 16 Internationales Übereinkommen vom 29.11.1969 über die zivilrechtliche Haftung für Ölverschmutzungsschäden (BGBL 1975 li 301, 305) mit Protokoll vom 19.11.1976 (BGBL 1980 II 721, 724). 57 Vertragsstaaten (1986). Das Haftungsübereinkommen wird durch das Internationale Übereinkommen vom 18.12. 1971 über die Errichtung eines Internationalen Fonds zur Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden (BGBl. 1975 II 301, 320) ergänzt. Das Ölfonds-Abkommen hat 34 Vertragsstaaten (1986). Zu erwähnen ist hier auch das in 11 Staaten geltende Übereinkommen vom 17.12.1971 über die zivilrechtliche Haftung bei der Beförderung von Kernmaterial auf See (BGBL 1975 II 957, 1026). 17 Übereinkommen vom 29. 12. 1972 über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen (BGBL 1977 II 180). Das Dumping-Übereinkommen hat 59 Vertragsstaaten (1986). 18 Internationales Übereinkommen von 1973 vom 2. 11.1973 zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe und Protokoll von 19 78 vom 17. 2. 1978 zu diesem Übereinkommen (BGBL 1982 II 2). Das MARPOL-Übereinkommen ist seit 1983 in 39 Staaten in Kraft. 19 Übereinkommen vom 15.2.1972 zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen durch Schiffe und Luftfahrzeuge (BGBL 1977 II 165). Das Oslo-Übereinkommen gilt für den Nordostatlantik und ist in 13 westeuropäischen Staaten in Kraft (1986). Übereinkommen vom 4. 6.1974 zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus (BGBL 1981 II 870). Das Paris-Abkommen gilt ebenfalls für den Nordostatlantik und ist in 12 westeuropäischen Staaten und der EG in Kraft (1986). Übereinkommen vom 22.3. 197 4 über den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets (BGBL 1979 II 1229). Das Helsinki-Übereinkommen ist in den 7 Anliegerstaaten der Ostsee in Kraft. Es diente als Vorbild für die späteren Übereinkommen zum Schutz der besonders gefährdeten Randmeere. Speziell für die Nordsee gibt es bisher allerdings nur das von den 8 Nordseeanliegern ratifizierte Übereinkommen vom 9. 6. 1969 zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Ölverschmutzungen der Nordsee (Bann-Übereinkommen, BGBL 1969 II 2066, 1971 II 970), denn die erste NordseeSchutzkonferenz von 1984 konnte sich nur auf eine unverbindliche Deklaration einigen (Archiv der Gegenwart 1984, 28195). Internationales Übereinkommen vom

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ische Vereinbarung über verbesserte Kontrollen2o. Wegen der räumlich begrenzten Natur vieler Umweltprobleme haben die regionalen Umweltschutzübereinkommen in der Praxis eine besondere Bedeutung. Einen Schritt über diese einzelne Verschmutzungsarten regelnden Umweltschutzübereinkommen hinaus in Richtung auf ein umfassendes sektorales Recht des marinen Umweltschutzes unternimmt das noch nicht in Kraft getretene Seerechtsübereinkommen von 198221 . Die 46 Artikel des Teils XII dieses Übereinkommens spannen ein gemeinsames rechtliches Dach über die vorhandenen Verträge und zeigen Ansätze zu einem "allgemeinen Teil" des jungen Rechtsgebiets des marinen Umweltrechts22. Neben den materiellrechtlichen sind auch institutionelle Entwicklungen zu verzeichnen23 . Mehrere Sonderorganisationen der Vereinten Nationen beteiligten sich seit Beginn der siebziger Jahre im Rahmen ihres Mandates an der Entwicklung des Umweltrechts. Zu erwähnen sind beispielsweise die Internationale Seeschiffahrts-Organisation (IMO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), die UNESCO, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) und die Internationale AtomenergieOrganisation (IAEO). Als Unterorgane der Vereinten Nationen haben der 16.2. 1976 zum Schutz des Mittelmeeres vor Verschmutzungen, mit Protokollen; deutscher Text in: Edom I Rapsch I Veh (Hrsg.), Reinhaltung des Meeres, 1986, S. 373. Kuwait Regional Convention for Cooperation on the Protection of the Marine Environment from Pollution, 24 April1978, International Legal Materials Vol. 17 (1978), 511; Convention for the Protection and Development of the Marine Environment of the Wider Carribean Region (Cartagena Convention), 24 March 1983, International Legal Materials Vol. 22 (1983), 227; South Pacific Regional Environmental Protection Convention and Protocols, Noumea 25 November 1986, International Legal Materials Vol. 26 (1987), 38. 2o Vereinbarung vom 26. 1.1982 über die Hafenstaatskontrolle (BGBL 1982 II 585), in 14 westeuropäischen Staaten·in Kraft. 21 United Nations Convention on the Law of the Sea signed at Montego Bay, Jamaica, on 10 December 1982. Englischer Text in: The Law of the Sea, United Nations, New York 1983; International Legal Materials Vol. 21 (1982), 1261; R. Platzöder I W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Seerecht - Law of the Sea, Textausgabe 1984, S. 69ff.; Das Übereinkommen ist bis September 1986 von 31 Staaten ratifiziert worden. Es tritt 12 Monate nach der Hinterlegung der 60. Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft (Art. 308). 22 Art. 192- 237 Seerechtsübereinkommen 1982. Teil XII enthält u . a. Vorschriften über das Verbot der Verlagerung von Schäden oder Gefahren und der Umwandlung einer Verschmutzungsart in eine andere (Art. 195), Informationspflichten (Art. 198), die ständige Überwachung und ökologische Beurteilung (Abschnitt 4), das Verhältnis zu innerstaatlichen Regeln (Abschnitt 5) und zu anderen Übereinkommen (Art. 237), die Durchsetzung von Umweltschutzbestimmungen (Abschnitt 6); ferner Bestimmungen zum Schutz der Schiffe (Abschnitt 7) und einen Vorbehalt für eisbedeckte Gebiete (Art. 234). Die überkommenen Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit (Art. 235) und der Staatenimmunität (Art. 236) werden bestätigt. Zusätzlich enthält das Übereinkommen in anderen Teilen noch besondere Vorschriften zum Umweltschutz: Wirtschaftszone (Art. 56, 60); Hohe See (Art. 94); Tiefseeboden (Art. 145, 147, 155, 162, 165; Anhang 3, Art. 2, 13, 14, 17); Streitschlichtung (Art. 290, 297 ; Anhang 8, Art. 5). 23 Dazu neuestens M . Kilian, Umweltschutz (Fn. 8), passim.

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Abrüstungsausschuß das Übereinkommen von 1976 über das Verbot des Umweltkrieges24 und die Wirtschaftskommission für Europa (ECE) das Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung2s vorbereitet. Außerhalb der Vereinten Nationen sind insbesondere die OECD mit eigenen Prinzipien für den grenzüberschreitenden Umweltschutz26 und die Europäischen Gemeinschaften2 7 im Bereich des Umweltschutzes empfehlend und regelnd tätig geworden. Das nach der Stockholmer Umweltkonferenz im Frühjahr 1973 in Nairobi errichtete Umweltprogramm (UNEP) der Vereinten Nationen soll die Umweltaktivitäten der internationalen Organisationen koordinieren und die Zusammenarbeit und Information der Staaten in Umweltfragen fördern. Es hat zu diesem Zweck ebenfalls Umweltprinzipien angenommen2s. II. Begriff Angesichts der vielen, in ihrem Regelungsgegenstand sehr unterschiedlichen Umweltschutzübereinkommen stellt sich die Frage, was der Ausdruck "völkerrechtlicher Umweltschutz" bedeutet. Im Sinne eines Rechtsgebietes könnte man ihn als Inbegriff aller Völkerrechtsnormen definieren, die den Umweltschutz zum Gegenstand haben. In eine solche Definition wird man neben den vertraglichen und gewohnheitsrechtliehen auch rechtlich unverbindliche Instrumente, wie beispielsweise die Stockholmer Umwelterklärung von 1972 oder die Empfehlungen der OECD oder des UNEP einbeziehen, da sie für das Umweltrecht eine konsensbildende Bedeutung haben. Dennoch würde man auf diesem Wege nur eine wenig randscharfe Sammelbezeichnung für Normen und Prinzipien aus verschiedenen Teilgebieten des Völkerrechts, aber keinen Begriff des völkerrechtlichen Umweltschutzes 24 Es wurde als Resolution der Generalversammlung mit 96 gegen 8 Stimmen bei 30 Enthaltungen angenommen, UN-Doc. GA Res. 31/72 of 22 December 1976, Annex: Convention on the Prohibition of Military and Other Hostile Use of Environmental Modification Techniques. 25 BGBl. 1982 II 373. In Kraft für 28 europäische Staaten und die EG. 26 OECD, Environment Policies for the 1980s, Paris 1980; OECD, The State of the Environment 1985, Paris 1985; OECD, Empfehlungen zum grenzüberschreitenden Umweltschutz: OECD Documents C (74) 224, International Legal Materials Vol. 14 (1975), 242; C (76) 55 (Final), International Legal Materials Vol. 15 (1976), 1218; C (77) 28 (Final), International Legal Materials Vol. 16 (1977), 977; C (78) 77 (Final), International Legal Materials Vol. 17 (1978), 1530. 27 Näheres dazu bei G. Nicolaysen, s.o. S. 197ff. 2a UNEP wurde aufgrund des Aktionsplans der Stockholmer Umweltkonferenz durch die Generalversammlung errichtet (GA Res. 2997 (XXVII) of 15 December 1972). Es besteht aus einem Verwaltungsrat (58 Mitglieder, einem Umweltsekretariat unter der Leitung eines Exekutivdirektors, der auch den Umweltfonds verwaltet und von einem Koordinationsrat unterstützt wird, vgl. P. M. Dupuy, United Nations Environment Programme, in: R. Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, 5 (1983), 319; Kilian (Fn. 8), S. 234ff.

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gewinnen, denn über die ihnen gemeinsamen Regelungsgegenstände und Funktionen kann eine derartige positivistische Definition nichts aussagen. Ein wesentlicher Grund für das Fehlen eines Begriffs des völkerrechtlichen Umweltschutzes liegt darin, daß der Ausdruck "Umwelt" weder ein Rechtsbegriff noch ein rechtswissenschaftlich definierter Begriff ist. Internationale Umweltschutzübereinkommen definieren regelmäßig nur ihr geographisches Anwendungsgebiet und die Maßnahmen, beispielsweise die Verschmutzung29 , welche sie verbieten. Umwelt im Sinne eines solchen Übereinkommens ist also jeweils das, was das Übereinkommen schützt. Dabei umfaßt der Schutz selbstverständlich auch die Erhaltung und Wiederherstellung der Umwelt. Auch die Stockholmer Umwelterklärung definiert die Umwelt nicht. Immerhin stellt sie aber klar, daß die Umwelt des Menschen aus der natürlichen und der von ihm geschaffenen Umwelt bestehtao. Die natürliche Umwelt des Menschen besteht nach allgemeiner Anschauung aus folgenden Umweltmedien bzw. Räumen: - Dem Boden und den Gew.ässern (Binnengewässer und Meere) einschließlich des Grundwassers und der eisbedeckten Gebiete, aber auch der Landschaft insgesamt; - der Luft mit der gesamten Atmosphäre einschließlich des Klimas; - dem Weltraum und den Himmelskörpern; - der Fauna und Flora. Zu der vom Menschen geschaffenen Umwelt gehören zum Beispiel künstlich angelegte Wälder, Seen und Landschaften, Verkehrsanlagen, Städte und Ortschaften, aber auch historische Stätten. Zur völkerrechtlichen Definition der vom Menschen geschaffenen Umwelt eignet sich allerdings nicht der weite sozialwissenschaftliche Umweltbegriff, der auch die psychische und soziale Umwelt des Menschen einschließt. Legt man diesen Begriff zugrunde, gehören beispielsweise auch die internationale Medienordnung oder das internationale Arbeitsrecht dem völkerrechtlichen Umweltschutz an, so daß die diesem Recht zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten vollends aufgegeben und die Sammelbezeichnung sich zum konturenlosen Allerweltsausdruck auflösen würde. Die Aufzählung dessen, was man üblicherweise unter Umwelt versteht, verdeutlicht, daß die Umwelt aus lebenden und nichtlebenden, natürlichen und vom Menschen geschaffenen Gütern oder Ressourcen besteht. Nicht nur die Bodenschätze, sondern die Umweltmedien Luft, Wasser und Erde insgesamt sind umweltvölkerrechtlich geschützte Ressourcen. Das gleiche gilt für die lebenden, also die sich reproduzierenden Ressourcen der Fauna und 29

Vgl. die Definition des Seerechtsübereinkommens von 1982, Art. 1 Abs. 1 Nr. 4. o. Fn. 2, Punkt 1.

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Flora. Dabei schützt das Völkerrecht bei diesen bisher zwar vor allem einzelne Umweltgüter, wie z.B. besonders gefährdete Tier- oder Pflanzenarten31. Aber ausnahmsweise werden in einzelnen Übereinkommen auch schon ganze ökologische Systeme im Sinne des naturwissenschaftlichen Umweltbegriffs geschützt, wie sich am Beispiel des Übereinkommens von 1980 zum Schutz der lebenden Reichtümer der Antarktis32 zeigen läßt. Jedoch schützt das Völkerrecht auch dort, wo es etwa den biologischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gliedern einer Nahrungskette berücksichtigt, jeweils konkrete Umweltgüter und nicht etwa ein abstraktes, vorrechtliches Konzept der Umwelt. In diesem Sinne läßt sich von einem ressourcenorientierten Umweltrecht sprechen. ßl. Funktion

Da der Mensch "sowohl Geschöpf als auch Gestalter seiner Umwelt ist", wie die Stockholmer Umwelterklärung in ihrem Einleitungssatz zutreffend feststellt, dienen die vertraglichen und gewohnheitsrechtliehen Normen und Prinzipien des Umweltvölkerrechts sowohl dem Schutz der einzelnen Umweltgüter vor Maßnahnien des Menschen als auch ihrer Nutzung durch den Menschen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse am Schutz bzw. an der Erhaltung oder Wiederherstellung eines Umweltgutes und an seiner Nutzung kann unterschiedlich gelöst werden, je nachdem, ob man dem Schutzinteresse oder dem Nutzungsinteresse im jeweiligen Einzelfall ein größeres Gewicht beimessen will. Die Abwägung kann aber nicht dadurch erfolgen, daß man einen anthropozentrischen Ansatz gegen einen ökozentrischen ins Feld führt und den Menschen der Umwelt gegenüberstellt. Ein Beispiel aus der Frühzeit des völkerrechtlichen Umweltschutzes soll die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes verdeutlichen: Das bereits erwähnte Vogelschutzübereinkommen von 1902 33 schützte nur die der Landwirtschaft nützlichen Vögel und ist daher als anthropozentrisch anzusehen. Das Internationale Übereinkommen von 1950 zum Schutz der Vögel34, welches alle Vögel während der Nistzeit und die Zugvögel auf dem Vogelzug schützt, kann hingegen als ökozentrisch gelten. Indem also beide 31 Vgl. z. B. das Washingtoner Artenschutzübereinkommen vom 3. 3. 1973 (BGBl. 1975 II 773), welches in den 91 Vertragssstaaten (1986) den Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen schützt. 32 Übereinkommen vom 20.5.1980 über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (BGBl. 1982 II 420), Art. II Abs. 3; 20 Vertragsstaaten plus EG (1986). Vgl. dazu R. Lagoni, Convention on the Conservation of Antarctic Marine Living Resources: A Model for the Use of a Common Good? in: R. Wolfrum (Ed.), Antarctic Challenge, Berlin 1984, 93, 97f. 33 s. o. Fn. 4. 34 Internationale Übereinkunft zum Schutz der Vögel, Paris 18.10.1950, Art. 2; vgl. W. E. Burhenne (Hrsg.), Internationales Umweltrecht, Multilaterale Verträge, Bd. I, Berlin 1974,950:77.

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Übereinkommen die Vögel schützen, nützen 1lie immer zugleich auch der Landwirtschaft. Sie sind also öko- und anthljopozentrisch, wenn auch die Gewichte der Nutzungs- und Schutzinteressen in ihnen unterschiedlich verteilt sind. Selbst die zahlreichen Fischereiübereinkommen, die man wegen des eindeutig vorrangigen Nutzungsinteresses gewöhnlich nicht dem Umweltrecht zurechnet, schützen immer auch den Fisch als Umweltgut. Der künstliche Gegensatz zwischen ökozentrischem und anthropozentrischem Ansatz verdunkelt die Verhältnisse im Umweltrecht mehr, als er sie aufklärt. Um also das Spannungsverhältnis zwischen Nutzungs- und Schutzinteresse im Einzelfall sachgemäß und gerecht lösen zu können, muß es in einen größeren rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang gestellt werden. Einen wichtigen Aspekt dieses Zusammenhangs bilden die Menschenrechte. Denn einerseits ist ein Genuß der Menschenrechte ohne eine Nutzung der natürlichen Ressourcen der Erde nicht denkbar, andererseits begrenzen insbesondere Gesundheit und Leben anderer eine umweltzerstörende Ressourcennutzung. Ohne daß im Völkerrecht ein Menschenrecht auf Umweltschutz anerkannt wäre, fordern die Menschenrechte also die Nutzung der Umweltgüter35, aber sie bilden zugleich auch Rechtsschranken gegen eine Art und Weise ihrer Nutzung, die Dritte schädigen würde. Ein weiterer, besonders wichtiger Aspekt dieses Zusammenhanges ist das wirtschaftliche Umfeld, in dem sich das Umweltproblem stellt. Mit der Stockholmer Umwelterklärung kann man zugegebenermaßen vereinfachend annehmen, daß die Umweltprobleme in den Industrieländern Folgen der Industrialisierung und technischen Entwicklung, in den Entwicklungsländern hingegen der Unterentwicklung sind36 . Der Zusammenhang zwischen Umweltschutz einerseits und Wohlergehen sowie Wirtschaftsentwicklung andererseits stellt sich in den Industrieländern und den Entwicklungsländern in der Tat unterschiedlich dar. Ohne damit zugleich ein Recht auf Entwicklung37 anzuerkennen, wird man die Entwicklungsländer nicht lediglich auf ihre Freiheit zur Nutzung ihrer natürlichen Ressourcen und den für alle Staaten gleichen Zugang zu den natürlichen Ressourcen der staatsfreien Räume verweisen können. Dementsprechend betont die Stockholmer Umwelterklärung mehrfach, daß wirtschaftliche Faktoren eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung der Umwelt sein können3s, 35 Vgl. Grundsatz 1 der Stockholmer Umwelterklärung (Fn. 2): "Der Mensch hat ein Grundrecht auf Freiheit, Gleichheit und angemessene Lebensbedingungen in einer Umwelt, die so beschaffen ist, daß sie ein Leben in Würde und Wohlergehen ermöglicht, ... ". 36 s. o. Fn. 2, Grundsatz 4. 37 Dazu kürzlich P. Ku.!!ig, Die "innere Dimension" des Rechts auf Entwicklung, Verfassung und Recht in Ubersee, Bd. 19 (1986), S. 383ff. 3B s. o. Fn. 2, Grundsätze 8- 11.

Umweltvölkerrecht

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und in einzelnen Umweltschutzübereinkommen sowie im Seerechtsübereinkommen von 1982 werden diesen Ländern im Umweltbereich aufgrund ihrer Unterentwicklung gewisse Sonderrechte eingeräumt39, Um gewissermaßen eine bildliehe Vorstellung davon zu erhalten, wie im Umweltvölkerrecht das Nutzungsinteresse der Staaten an einem Umweltgut einerseits mit dem Erhaltungs- bzw. Schutzinteresse andererseits und den durch die Menschenrechte geschützten Interessen sowie dem Interesse an wirtschaftlichem Wohlergehen bzw. an wirtschaftlicher Entwicklung zusammenhängen, sei an ein sogenanntes magisches Viereck erinnert. Menschenrechte (Gesundheit, Leben)

Nutzungsinteresse

Schutzinteresse

Wirtschaft!. Wohlergehen bzw. Entwicklung

Es zeigt, daß die Maximierung des einen Interesses zu Lasten der anderen geht. Der Interessenkonflikt muß im Einzelfall durch eine wertende Abwägung gelöst werden, bei welcher außer den genannten Interessen auch alle sonstigen rechtlichen und tatsächlichen Umstände in Betracht zu ziehen sind. Dabei ist insbesondere auch das Interesse künftiger Generationen an der Umwelt und ihren Ressourcen zu berücksichtigen4 o. Diese zeitliche Komponente hat im Umweltvölkerrecht insofern eine zusätzliche Bedeutung, als sie die internationale Staatengemeinschaft vor die Aufgabe stellt, im Bereich der Umweltplanung zusammenzuarbeiten. IV. Systematik

Die vorhandenen Umweltschutzübereinkommen bilden kein systematisches Regelwerk des völkerrechtlichen Umweltschutzes. Es handelt sich um bilaterale, regionale oder globale Verträge im Bereich des internationalen Flußrechts, Seerechts, Atomrechts, Artenschutzrechts oder anderer Gebiete des Völkerrechts41. In der Mehrzahl zur Lösung konkreter Umweltprobleme Vgl. Art. 202, 203 Seerechtsübereinkommen 1982. Vgl. Stockholmer Umwelterklärung (Fn. 2), Grundsatz 2. 41 Vgl. den Überblick bei W. E. Burhenne, Internationales Umweltrecht, in: J . Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, Berlin 1982, S. 659ff. 39

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geschaffen, sind sie gewöhnlich den Begriffen und Prinzipien des Sachgebietes verhaftet, in welchem das regelungsbedürftige Problem aufgetreten ist. Dementsprechend finden sich Ansätze zu einer vertraglichen Kodifikation des Umweltvölkerrechts vorerst nur vereinzelt, insbesondere im bereits erwähnten Teil XII des Seerechtsübereinkommens von 1982 und in dem besonderen System des antarktischen Umweltschutzrechts42. Angesichts des konturenlosen Umweltbegriffs, der Unterschiedlichkeit vieler Umweltprobleme und ihrer Verwurzelung in den einzelnen Sachgebieten des Völkerrechts bestehen Zweifel, ob es überhaupt jemals eine umfassende Kodifikation des Umweltvölkerrechts geben wird, obwohl in bezug auf verschiedene Umweltmedien, wie zum Beispiel die Binnengewässer, die Luft oder die Bodenschätze auch ähnliche Regelungsprobleme auftreten können, für die sich einheitliche Lösungen anbieten43. Allerdings unterscheiden sich Umweltprobleme der staatsfreien Räume (Hohe See, Antarktis, Weltraum) in rechtlicher Hinsicht wesentlich von jenen der Territorien, da in den staatsfreien Räumen kein Staat als unmittelbar Geschädigter auftreten kann44, sodaß man das Recht des Umweltschutzes der staatsfreien Räume schon vom Ansatz her vom Recht des grenzüberschreitenden Umweltschutzes unterscheiden muß. V. Prinzipien und rechtliche Grundsätze Wie in jedem sich entwickelnden Recht wird die Entwicklung der Normen auch im Umweltvölkerrecht durch verschiedene Leitprinzipien bestimmt, die in Form von Doktrinen, Empfehlungen oder anderen unverbindlichen Instrumenten auftreten und den Anspruch erheben, sachgemäße und gerechte Lösungen anzubieten. Von diesen unverbindlichen Prinzipien unterscheiden sich die rechtsverbindlichen Grundsätze des Umweltvölkerrechts. Sie haben sich völkergewohnheitsrechtlich herausgebildet und finden sich außerdem auch in einzelnen Umweltschutzübereinkommen. Wegen des bereits erwähnten Strukturunterschiedes zwischen den rechtlichen Umweltproblemen im staatsfreien Raum und in den Territorien ist auch hinsichtlich der Leitprinzipien und Rechtsgrundsätzen zwischen dem grenzüberschreitenden Umweltrecht und dem Umweltrecht der staatsfreien Räume zu unterscheiden. 42 Vgl. R. Lagoni, Antarktis, in: Kimminich I von Lersner I Stonn, HdUR (Fn. 8}, Sp. 102. 43 Dementsprechend lehnt Rest, Umweltschutz, internationaler (Fn. 8}, S . 278f., eine Systematisietung nach den Umweltmedien ab und plädiert für eine funktionale Systematisierung. 44 So auch D. Rauschning, Gemeinsames Erbe der Menschheit, in: Kimminich I von Lersner I Storm, HdUR (Fn. 8), Sp. 662.

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a) Nach verbreiteter Auffassung hat sich das Recht des grenzüberschreitenden Umweltschutzes an den Problemen der internationalen Flüsse aus dem völkerrechtlichen Nachbarrecht entwickelt45. Schon seit dem Ende der zwanziger Jahre wird das internationale Flußrecht jedenfalls nicht mehr von der Theorie der absoluten Souveränität der Flußanliegerstaaten über den in ihrem Territorium befindlichen Teil des Flusses beherrscht, wie sie der Rarmon-Doktrin zugrunde lag46, sondern vom Gedanken der beschränkten Souveränität und beschränkten territorialen Integrität der Flußanliegerstaaten. Neben den besonderen Rechtsbeziehungen zwischen benachbarten Staaten fand der grenzüberschreitende Umweltschutz eine zweite Wurzel im Prinzip der Haftung der Staaten für die von ihrem Territorium ausgehenden Schäden. Hier, im Bereich der Staatenverantwortlichkeit, sind die gewohnheitsrechtliehen Grundsätze des grenzüberschreitenden Umweltrechts am weitesten entwickelt, so daß die International Law Association in diesem engen Bereich einen Kodifikationsentwurf für die gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsätze erarbeiten konnte47. Ausgehend von dem Grundsatz, daß auch im Völkerrecht für die im Zusammenhang mit Rechtsverletzungen eingetretenen Schäden gehaftet wird, wurde zuerst im Trail-Smelter-Fall von1941 48 und später in dem vom Internationalen Gerichtshof 1949 entschiedenen Korfu Kanal-Fall49 sowie in der Lac Lanoux-Entscheidung von 1957so der Grundsatz bestätigt, daß kein Staat sein Territorium in einer Weise nutzen darf, durch welche in einem anderen Staat ein erheblicher 45 Vgl. etwa Oppermann I Kilian (Fn. 8), Sp. 687; so schon H. Thalmann, Nachbarrecht, zwischenstaatliches, in: K. Strupp I H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Bd., Berlin 1961, S. 558ff. 46 Zur Doktrin des amerikanischen Attorney General Harrnon in dem Streit um den Rio Grande 1895 vgl. J. Lipper, in: A. H. Garretson IR. Y. Hayton I C. J. Olmstead (Eds.), The Law of International Drainage Basins, Dobbs Ferry, New York 1967, 20ff., der zu dem Ergebnis kommt, "the Harrnon Doctrine was not an expression of international river law" (22) und darauf hinweist, daß dies auch die Auffassung des State Department war (26). 47 Vgl. insbesondere den Bericht der International Law Association von Montreal 1982, Legal Aspects of the Conservation of the Environment und die Feststellung des Rapporteurs D . Rauschning, es handle sich dabei um "a restaterneut of existing general or customary international law in [a] limited field, transfrontier pollution", in: ILA Report of the Sixtieth Conference held at Montreal, 1983, 157, 178. 48 s. o. Fn. 6, dazu K. J. Madders, Trail Smelter Arbitration, in: R. Bernhardt (Ed.), Encyclopedia of Public International Law, 2 (1981), 276. 49 Corfu Channel case, I. C. J. Reports 1949, p. 4, 22: "and every State's obligation not to allow knowingly its territory tobe used for acts contrary to the rights of other States". Im Korfu Kanal-Fall hatte Albanien allerdings keine territorialen oder Umweltrechte, sondern Rechte Großbritanniens an britischen Kriegsschiffen und Durchfahrtsrechte verletzt. so United Nation Reports of International Arbitral Awards, Vol. 12, 281. In dem französisch-spanischen Schiedsgerichtsfall ging es um die grenzüberschreitende Wassernutzung am Lac Lanoux, vgl. dazu D . Rauschning, Lac Lanoux Arbitration, in: R. Bernhardt (Ed.), Encyclopedia of Public International Law, 2 (1981), 166.

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Schaden entsteht. Dieser Grundsatz fand auch Eingang in andere Entscheidungen51 und ist als Grundsatz 21 in der Stockholmer Umwelterklärung enthalten52. Außerdem hat der Internationale Gerichtshof im Korfu KanalFall und im zweiten Nicaragua-Urteil von 198653 bei drohenden Gefahren eine gewohnheitsrechtliche Informationspflicht des Staates, von dem die Gefahr ausgeht, gegenüber den potentiell Gefährdeten bzw. der Allgemeinheit angenommen, die jedenfalls dann im gesamten Umweltvölkerrecht entsprechend gelten dürfte, wenn menschenrechtlich geschützte Güter bedroht sind. Diese für die weiträumige Luftverschmutzung auch vertraglich geregelte Pflicht54 hat sich allerdings im Tschernobyl-Unglück55 und bei den Baseler Chemieunfällen56 als konkretisierungsbedürftig erwiesen. Auf die schwierigen bei der Anwendung dieser Grundsätze auftretenden Rechtsprobleme kann hier nicht näher eingegangen werden. Erinnert sei nur an die beim Zusammenwirken mehrerer Ursachen auftretenden Kausalitäts- und Beweisprobleme, wie sie für den sog. sauren Regen typisch sind. Ferner an das Fehlen anerkannter Verschmutzungsstandards und damit eindeutiger Verbotsnormen in vielen Umweltgebieten sowie an die damit zusammenhängende Frage, was ein ökologischer Schaden ist. Stattdessen sei auf die sachliche Begrenztheit eines grenzüberschreitenden Umweltrechts hingewiesen, das ausschließlich auf die Prinzipien der guten Nachbarschaft und der Staatenverantwortlichkeit gegründet ist. Da das Völkerrecht nicht definiert, was ein Nachbarstaat ist, wird man, unabhängig von der geographischen Lage, jeden Staat als einem schadensverursachenden 51 Vgl. die amerikanisch-kanadischen Schiedsgerichtsentscheidungen von 1968 im Gut Dam-Fall, International Legal Materials Vol. 8 (1969), 118ff.; dazu G. Handl, Gut Dam Claims, in: R. Bernhardt (Ed.), Encyclopedia of Public International Law, 2 (1981), 126. Ferner das Urteil des Tribunal Administratif de Strasbourg vom 27.7.1983, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 44 (1984), S. 342 mit Anmerkung U. Beyerlin, S. 336 sowie ebenfalls im Rheinversalzungsstreit die Urteile des Arrondissementsbank Rotterdam vom 8.1.1979 und vom 16. 12.1983, Rabels Zeitschrift Bd. 49 (1985), S. 741 mit Anmerkung S. Nassr-Esfahani und M. Wenckstern, S. 763. Weitere Fälle erwähnt Rest (Fn. 1), Umwelt- und Planungsrecht 1982, S. 363. 52 s. o. Fn. 2; ähnlich Principle 12 der UNEP-Principles, vgl. United Nations Environment Programme, Co-operation in the Field of the Environment Concerning Natural Resources Shared by two or more States, 19 May 1978, International Legal Materials Vol. 17 (1978), 1091, 1099. 53 s. o. (Fn. 49), 22; ebenso Military and Paramilitary Activities in and agairrst Nicaragua, I. C. J . Reports 1986, p. 14, 112. Die Informationspflicht über drohende Minengefahren beruht auch in Friedenszeiten auf Gesichtspunkten des humanitären Rechts. Vgl. auch Art. 7, 9 der Montreal Rules der ILA (Fn. 47); Principle 6 der UNEP-Principles (Fn. 52). 54 Vgl. das Übereinkommen vom 13.11. 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung (BGBL 1982 II 373), Art. 5. 55 Vgl. dazu A. Rest, Tschernobyl und die internationale Haftung, Versicherungsrecht 1986, S . 609, 613f. 56 Vgl. A. Rest, Die Chemie-Unfälle und die Rheinverseuchung, Versicherungsrecht 1987, s. 6, 9.

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Staat benachbart ansehen müssen, auf dessen Territorium ein Schaden eingetreten ist. Der nach dem Reaktorbrand von Tschernobyl in England niedergegangene Regen macht also die Sowjetunion und Großbritannien in diesem Sinne zu Nachbarn. Von besonderer Bedeutung für den grenzüberschreitenden Umweltschutz sind zudem die Schranken des Prinzips der Staatenverantwortlichkeit. Gehaftet wird grundsätzlich nur für eine völkerrechtswidrige Rechtsgutverletzung, so daß Maßnahmen für die Erhaltung oder Verbesserung der Umwelt nicht auf dieses Prinzip gestützt werden können. Und ob sich aus dem Prinzip der guten Nachbarschaft zusammen mit der Staatenverantwortlichkeit konkrete Pflichten zur Vermeidung potentieller Gefahren herleiten lassen- etwa im Sinne eines Verbotes, in der Nähe der Grenze ein Kernkraftwerk zu errichten57-kann zweifelhaft sein. Demgegenüber ist ein ressourcenorientierter Ansatz im Umweltvölkerrecht, der von dem Zusammenhang zwischen der Nutzung und dem Schutz einer Ressource ausgehend Rechte und Pflichten der beteiligten Staaten entwickelt, konzeptionell umfassender. Ein frühes Beispiel bieten die sog. Helsinki-Regeln der International Law Association von 196658 für das internationale Flußrecht. Dort wird der Fluß zum Zuflußgebiet (drainage basin) erweitert und den Staaten im Zuflußgebiet (basin States) ein Recht auf gerechte Nutzung (equitable utilization) der Ressource eingeräumt, das mit bestimmten Pflichten zur Vermeidung und Bekämpfung der Wasserverschmutzung im Zuflußgebiet verbunden ist. Einseitige Informationspflichten werden bei einem solchen "shared resources"-Ansatz zu gegenseitigen Konsultationspflichten59 , die im Einzelfall allerdings auch nur die Pflicht der Betroffenen beinhalten, nach Treu und Glauben miteinander über eine Problemlösung zu verhandeln. Ein Prinzip der internationalen Solidarität, wiees-gelegentlich sogar als Analogie zum Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verstanden- vereinzelt als Leitprinzip für eine Entwicklung des grenzüberschreitenden Umweltschutzes postuliert wird60 , hat in der Realität der internationalen Staatenwelt jedenfalls im Umweltschutz bisher keinen Platz. Da ihm im Umweltvölkerrecht außerdem ein bestimmter oder bestimmbarer Inhalt 57 Vgl. A. Randelzhofer I B. Simma, Das Kernkraftwerk an der Grenze, Festschrift Berber, 1973, S. 389ff.; M. Kloepfer I C. Kahler, Kernkraftwerke und Staatsgrenze, Berlin, München 1981; B. Simma I G. Hand!, Der österreichisch-tschechoslowakische Vertrag über grenznahe Kernkraftanlagen im Lichte des völkerrechtlichen Nachbarrechts, Österreichische Juristen-Zeitung 1985, S. 174. 58 The International Law Association, Report of the Fifty-Second Conference held at Helsinki, 1966, 477ff.; vgl. zum Konzept der equitable utilization Lipper (Fn. 46), 41ff. ; Riphagen (Fn. 8), 343; T. Bunge, Gemeinsame Naturgüter mehrerer Staaten, in: Kimminich I von Lersner I Storm, HdUR (Fn. 8), Sp. 656. 59 Vgl. UNEP-Principles 6, 7 (Fn. 52); OECD-Principles, Title E (Fn. 26). so So z. B. die Überschrift zu Title B der OECD-Principles von 1974, OECD Document C (74), 224 (s. o. Fn. 26).

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fehlt, dürfte es sich für die Zwecke der Rechtsentwicklung auch kaum eignen. b) Der Umweltschutz der staatsfreien Räume folgte aufgrundder anderen rechtlichen Ausgangslage dieser Räume von Anfang an anderen Prinzipien und warf andere Probleme auf als der grenzüberschreitende Umweltschutz. Da hier regelmäßig kein unmittelbar geschädigter Staat vorhanden ist, sieht man einmal von den Sonderfällen der Versehrnutzung eines Küstenmeeres von der Hohen See aus und der Versehrnutzung eines Küstenmeeres über den Umweg über die Hohe See durch ein anderes Küstenmeer ab 61 -, geht es hier um den Schutz der Umwelt im Interesse aller Staaten vor Verschmutzungen, die im Zusammenhang mit der Nutzung des jeweiligen Raumes auftreten. Der Umweltschutz der hoheitsfreien Räume ist untrennbar mit der Ressourcennutzung verbunden. Im Seerecht wurde er dementsprechend schon immer als rechtliche Schranke der Meeresfreiheit verstanden. Umweltschutzübereinkommen für die Hohe See sind in diesem Sinne vertragliche Konkretisierungen der sog. Gemeinwohlklausel der Meeresfreiheit, nach welcher die anerkannten Meeresfreiheiten "von jedem Staat unter angemessener Berücksichtigung des Interesses ausgeübt [werden], das die anderen Staaten an der Freiheit der Hohen See haben"62. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Nutzung einer Ressource und ihrem Schutz liegt bei Übereinkommen zur Nutzung und Erhaltung der lebenden Reichtümer des Meeres (Fische, Schalentiere, Meeressäuger) auf der Hand. Aber auch in Übereinkommen, die das Meer in seinem physikalischen und biologischen Zustand schützen sollen, sind Nutzung und Schutz miteinander verbunden. Zum einen dient der Schutz des Meeres dem Zweck, "abträgliche Wirkungen wie eine Schädigung der lebenden Naturschätze sowie der Tier- und Pflanzenwelt des Meeres, eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit, eine Behinderung der Tätigkeiten auf See einschließlich der Fischerei und der sonstigen rechtmäßigen Nutzung des Meeres, eine Beeinträchtigung des Gebrauchswertes des Meerwassers und eine Verringerung der Annehmlichkeiten der Umwelt" 63 zu vermeiden. Zum anderen treten die einzelnen Verschmutzungsformen64 gewöhnlich in Verbindung mit überkommenen Formen der Meeresnutzung (Schiffahrt, Meeresbergbau) auf oder bilden selbst eine Form der Meeresnutzung (Einbringung oder Einleitung von Stoffen oder Energie in das Meer). Ausnahmsweise fehlt allerdings dieser zweite Zusammenhang, wenn die Meeresverschmutzung durch die Dies ist ein Sonderfall der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung. Genfer Übereinkommen über die Hohe See (Fn. 12), Art. 2. 63 So lautet eine verbreitete Definition der Meeresverschmutzung, hier in deutscher Übersetzung des Art. 1 Abs. 1 Ziff. 4 Seerechtsübereinkommen 1982. 64 Vgl. dazu die Pflichten der Staaten im Zusammenhang mit der Versehrnutzung vom Land aus, durch den Meeresbergbau, durch Einbringen, Schiffe und aus der Luft bzw. durch die Luft, Art. 207- 212 Seerechtsübereinkommen 1982. 61

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Luft oder über Flüsse als unbeabsichtigte Folge der Umweltverschmutzung auf dem Lande entsteht. Angesichts dieses Zusammenhanges zwischen der Meeresfreiheit und dem Umweltschutz kann es nicht überraschen, daß es im Völkerrecht nur geringe Ansätze zu einer Institutionalisierung des Umweltschutzes der Hohen See gibt65 . Die Staaten wollen sich die ihre Nutzungsinteressen berührende Normsetzung im Umweltbereich nicht durch internationale Organisationen aus der Hand nehmen lassen. Die wichtige diplomatische Rolle, welche die IMO mit ihrem Sachverstand bei der Entwicklung globaler mariner Umweltschutzübereinkommen spielt, ändert grundsätzlich nichts daran. Es entspricht dieser Interessenlage, daß die im marinen Umweltschutz so wichtige Frage der Durchsetzung der völkerrechtlichen Regeln auf der Hohen See dem Flaggenstaat und in den Zonen küstenstaatlicher Hoheitsgewalt dem Küstenstaat vorbehalten bleibtss. Etwas anders stellt sich die Lage unter dem Seerechtsübereinkommen von 1982 aber für den Meeresgrund und Meeresuntergrundjenseits der Grenzen küstenstaatlicher Hoheitsbereiche dar. Indem es den Tiefseeboden zum gemeinsamen Erbe der Menschheit (common heritage of mankind) 67 erklärt, ersetzt das Übereinkommen die überkommene Meeresfreiheit in diesem Gebiet durch ein vertragliches Nutzungsregime68 . Als Konkretisierung des Common heritage-Prinzips sieht es zwar keine neuen umweltrechtlichen Prinzipien und Grundsätze vor, räumt der zu errichtenden Tiefseebodenbehörde aber eine Kompetenz zur Verabschiedung geeigneter Vorschriften zur Vermeidung der beim Tiefseebergbau auftretenden Meeresverschmutzung ein69. Auch bei dieser institutionellen Lösung bleibt der sachliche und rechtliche Zusammenhang zwischen der Tiefseebodennutzung und dem Umweltschutz gewahrt. Im übrigen gelten die bestehenden marinen Umweltschutzübereinkommen weiterhin auch im Bereich des Tiefseebodens, soweit sie dort überhaupt Anwendling finden7o.

6 5 Vgl. R. Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1984, S. 158, 260. 66 Vgl. Art. 213-222 Seerechtsübereinkommen. 67 Zu diesem Prinzip vgl. W. A. Kewenig, Common heritage of mankind - politischer Slogan oder völkerrechtlicher Schlüsselbegriff, in: Festschrift Schlochauer, 1981, S. 385; R. Wolfrum, The Principle of the Common Heritage of Mankind, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 43 (1983), S. 3; D. Rauschning, Gemeinsames Erbe der Menschheit, in: Kimminich I von Lersner I Storm, HdUR (Fn. 8), Sp. 659. 66 Art. 136ff. Seerechtsübereinkommen. 69 Art. 145; Art. 162 Abs. 2 (w) (x); Art. 209; Anhang III Art. 2 Abs. 1 (b), Art. 13 Abs. 6 (k), Art. 17 Abs. 1 (b) (XII), Abs. 2 (f) Seerechtsübereinkommen. 70 Art. 237 Seerechtsübereinkommen.

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Zusammenfassung

Seit der Entstehung und internationalen Verbreitung eines Umweltbewußtseins in den späten sechziger Jahren spricht man vom völkerrechtlichen Umweltschutz oder Umweltvölkerrecht. Zu diesem sich rasch entwikkelnden Rechtsgebiet gehören eine große Anzahl in ihrem Regelungsgegenstand teilweise recht unterschiedliche Völkerrechtsübereinkommen aus verschiedenen Teilgebieten des Völkerrechts sowie einige Gewohnheitsrechtssätze. Die allgemeine Funktion des Umweltvölkerrechts besteht nicht darin, die rechtlich nicht definierte Umwelt als solche zu schützen, sondern den Konflikt zwischen gegensätzlichen Interessen am Schutz und an der Nutzung bestimmter Umweltgüter (Ressourcen) zu regeln. Neben den natürlichen Umweltmedien (Luft, Boden, Wasser, etc.) können auch vom Menschen geschaffene Anlagen schützenswerte Umweltgüter sein. Der Schutz der Ressourcen schließt auch ihre Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung ein. Bei der Abwägung der Nutzungs- und Schutzinteressen können neben den Besonderheiten des Einzelfalles insbesondere auch die Menschenrechte, die Entwicklungsinteressen und die Interessen zukünftiger Generationen ins Gewicht fallen. Ungeachtet dieser den meisten Regeln des Umweltvölkerrechts zugrundeliegenden allgemeinen Funktion muß man aber wegen der unterschiedlichen rechtlichen Au~gangslage das Recht des grenzüberschreitenden Umweltschutzes systemati~ch vom Umweltrecht der staatsfreien Räume (Hohe See, Antarktis, Weltraum) unterscheiden. Ansätze zu einer systematischen Kodifikation des Umweltvölkerrechts bilden die Ausnahme. Für bestimmte gewohnheitsrechtliche Grundsätze des grenzüberschreitenden Umweltrechts liegt ein Kodifikationsentwurf der ILA vor, vertragliche Ansätze finden sich insbesondere im Seerechtsübereinkommen von 1982 für das marine Umweltrecht und ferner im Recht des antarktischen Umweltschutzes.

Autorenverzeichnis Eberle, Carl-Eugen, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Verwaltungslehre der Universität Hamburg, Johnsallee 68, 2000 Harnburg 13. Karpen, Ulrich, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg, Schlüterstr. 28, 2000 Harnburg 13. Kunig, Philip, Universitäts-Professor, Dr. iur., Juristisches Seminar der Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6- 10, 6900 Heidelberg 1. Lagoni, Rainer, Universitäts-Professor, Dr. iur., LL.M., Institut für Seerecht und Seehandelsrecht der Universität Hamburg, Heimhuder Str. 71, 2000 Harnburg 13. Lücke, Jörg, Universitäts-Professor, Dr. iur., LL.M., Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg, Schlüterstr. 28, 2000 Harnburg 13. Nicolaysen, Gert, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg, Abt. Europäisches Gemeinschaftsrecht, Schlüterstr. 28, 2000 Harnburg 13. Schachtschneider, Karl Albrecht, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre- Recht der Wirtschaft-, Von-Meile-Park 5, 2000 Harnburg 13. Schwabe, Jürgen, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg, Schlüterstr. 28, 2000 Harnburg 13. Selmer, Peter, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Finanz- und Steuerrecht der Universität Hamburg, Schlüterstr. 28, 2000 Harnburg 13. Thieme, Werner, Universitäts-Professor, Dr. iur., Seminar für Verwaltungslehre der Universität Hamburg, Johnsallee 68, 2000 Harnburg 13.