Umweltethik interdisziplinär: Redaktion: Demko, Daniela; Pfleiderer, Georg; Jung, Corinna; Elger, Bernice S. 9783161540295, 9783161536458

Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen aus einer Ringvorlesung im Frühjahrssemester 2013 an der Universität Basel hervor

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Umweltethik interdisziplinär: Redaktion: Demko, Daniela; Pfleiderer, Georg; Jung, Corinna; Elger, Bernice S.
 9783161540295, 9783161536458

Table of contents :
Cover
Inhalt
Vorwort
Bruno Baur: Wer trägt die Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität?
I. Biodiversität als Konzept
II. Artenvielfalt im Laufe der Erdgeschichte
III. Biodiversität ist bedroht
IV. Argumente für den Schutz der Biodiversität
V. Ethischer Wert der Biodiversität
Andreas Brenner: Das große Wesen achten. Ecocid-Act und Gaia-Theorie
1. Auf der Erde wandern
2. Das Ganze erkennen
3. Die Erde schützen; der Ecocide-Act
4. Weiter wandern
5. Leben wahrnehmen
Hartmut Leser: Herren und Meister der Natur und Umwelt: Maßlosigkeit oder Zukunftssicherung? – Dargestellt am Beispiel der sogenannten „Zwischenstadt“
1. Worum geht es?
2. Umwelt und Verantwortung und Geographie
3. Was ist Umwelt? Was ist Landschaft?
4. Agglomeration, Politik, Planung
5. Architektur, Städtebau und Stadtplanung – wer war’s?
6. Wandel in Zwischenstadt und Stadt: Wie weiter?
7. Noch einmal: Begriffe – Lösung des Problems?
8. Zusammenfassung
Georg Pfleiderer: Natur als „Schöpfung“? Zu Problematik und Produktivität theologischer Umweltethik
1. Christentum und Umwelt – neuere Diskurse zu einem als spannungsvoll empfundenen Verhältnis
2. Natur und Umwelt in der Bibel
3. Zur religiösen (Sub-)Kodierung umweltethischer Grundbegriffe
4. Natur als Schöpfung – Zum christlichen Konzept der Schöpfung als Heilsgeschichte
5. Folgerungen für die Umweltethik
5.1. Christlicher Physiozentrismus
5.2. Christlicher Bio- und Pathozentrismus
5.3. Christlicher Anthropozentrismus
6. Anhang: „Deus artifex“
Dietmar von der Pfordten: Naturschutz jenseits des Menschen
I. Normativer Individualismus
II. Die entscheidenden Eigenschaften der Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen)
III. Pluralismus des Bezugs der Wertungen und Verpflichtungen
IV. Notwendigkeit eines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzips
V. Das Abwägungsprinzip der relativen Individual- und Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange
VI. Welche Individuen sind ethisch zu berücksichtigen?
VII. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen?
VIII. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen?
IX. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen?
Silvia Tobias, Corinna Jung, Franz Conen, Christine Alewell: Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch: Ein richtiger Weg zur nachhaltigen Bodennutzung
1. Einleitung
2. Konzepte starker und schwacher Nachhaltigkeit
3. Konzeptionelle Fallbeispiele
4. Starke und schwache Nachhaltigkeit aus Sicht der Raumplanung
5. Starke und schwache Nachhaltigkeit aus Sicht des Bodenschutzes
6. Starke und schwache Nachhaltigkeit aus gesellschaftlicher Sicht
7. Fazit
Quellen
Markus Vogt: Ökologische Humanität. Elemente einer Grundlegung der Umweltethik
1. Zur Fragestellung
2. Humanökologie in der Epoche des Anthropozän: Wissenschaftstheoretische Annäherung
2.1 Entstehung der Humanökologie
2.2 Humanökologie als Schlüsseldisziplin in der erdgeschichtlichen Epoche des Anthropozän?
3. Die Entdeckung des Raumes als Grundlage einer humanökologischen Ethik
3.1 „Spatial turn“ in der christlichen Sozialethik
3.2 Die erhöhten Anforderungen an Raumaneignung im Zeitalter der Globalisierung
3.3 Transformationen der Raumbezüge als Thema humanökologischer Ethik
3.4 Humanökologie und kontextuelle Sozialethik
4. Von der Humanökologie zur „ökologischen Humanität“
4.1 Die ambivalente Rolle des Konzeptes „Humanökologie“ in der Katholischen Soziallehre
4.2 „Ökologische Humanität“: ein Brückenschlag zwischen Personalität und Nachhaltigkeit
5. Resümee: Konzeptionelle Konsequenzen für die Umweltethik
Carl Friedrich Gethmann: Naturveränderung und Natur-Heimatrecht. Normative Fragen der Strukturveränderung des ländlichen Raumes
1. Mensch und Natur
2. Grenzen des Abwägens
3. Die Vertrautheit mit der natürlichen Umgebung
Angelika Krebs: „Und was da war, es nahm uns an“. Landschaft, Stimmung und Heimat
I. Eine Landkarte der Naturethik
1. Der instrumentelle Wert der Natur
2. Der moralische Eigenwert der Natur
3. Der eudaimonistische Eigenwert der Natur
3.1. Schönheit
3.2. Identität
3.3. Heiligkeit
II. Schöne Landschaft
1. Der Begriff der Landschaft
1.1. Größere räumliche Einheit in der Natur
1.2. Größere naturräumliche Einheit in ästhetischer Betrachtung
1.3. Größere naturräumliche Einheit in autonomer ästhetischer Betrachtung
2. Der Begriff der Stimmung
2.1. Harmonie
2.2. Befindlichkeit
2.3. Atmosphäre
3. Wie kommt Stimmung in die Landschaft?
3.1. Kausales Modell
3.2. Assoziatives Modell
3.3. Animistisches Modell
3.4. Expressives Modell
4. Vier Modi der Landschaftserfahrung
4.1. Wahrnehmung
4.2. Empathie
4.3. Sympathie
4.4. Ansteckung
5. Die ästhetische Erfahrung schöner Landschaft als Heimat
5.1. Michael Donhausers „Gärten“
5.2. Immersion in der Landschaft
III. Ästhetische Erziehung
Literatur
Andreas Dietrich: Der Garten – heilig oder profan? Zur Kulturgeschichte eines exemplarischen Stücks Landschaft in umweltethischer Perspektive
1. Was ist Landschaft?
2. Zur Modellierung von Landschaftswahrnehmung in kulturhistorischer Perspektive
3. Der Garten als exemplarisches Stück Landschaft. Kultur- und religionsgeschichtliche Beobachtungen
3.1. Antike Gärten
3.2 Der Klostergarten
3.3 Vom Garten zur Landschaft
3.4 Zur Zukunft der Landschaft
Daniela Demko: „Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik
I. Der „Eigenwert der Natur“
1. Eigenwert – Begriff und Begriffsunklarheiten
2. Die Suche nach Bedeutungsaspekten des Eigenwertbegriffs
3. Erweiterungsstufen der Ethik mit Blick auf die Eigenwertträger: Die Moralgemeinschaften im Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Biozentrismus und Holismus
4. Die Begründung eines holistischen Eigenwertbegriffs und die Grundlinien seiner Begründungsstruktur
5. Zwischenergebnis zum „Eigenwert der Natur“
II. Die „Würde“ und ihr Bedeutungsverhältnis zum Eigenwertbegriff
1. Der Würdebegriff und sein Ein- und Ausgrenzungscharakter in der Ideengeschichte
a) Der Ein- und Ausgrenzungscharakter beim Menschenwürdebegriff
b) Der Ein- und Ausgrenzungscharakter beim Begriff der kreatürlichen Würde
2. Die Begründung eines biozentrischen Würdebegriffs
a) Der Würdebegriff im Spannungsverhältnis zwischen Anthropozentrismus ,Pathozentrismus, Biozentrismus und Holismus
b) Das „Lebendig-Sein“ in der Ideengeschichte der Philosophie sowie der Bio- und Umweltethik
III. Zusammenfassung und Ausblick auf zukünftige Forschungen
1. Der biozentrische Würdebegriff und die biozentrische Lebenswürde-Ethik
2. Die Ausformung eines umfassenden und aus mehreren Ebenen zusammengesetzten Schutzes
Autorenverzeichnis
Personenregister
Sachregister

Citation preview

I

Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth

8

II

III

Umweltethik interdisziplinär herausgegeben von

Daniela Demko, Bernice S. Elger, Corinna Jung und Georg Pfleiderer

Mohr Siebeck

IV

e-ISBN PDF 978-3-16-154029-5 I ISBN 978-3-16-153645-8 ISSN  2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi­ kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Minion gesetzt, von Laupp und Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren ge­bunden.

V

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  VII Bruno Baur Wer trägt die Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität? . . . . . . . . . .    1 Andreas Brenner Das große Wesen achten. Ecocid-Act und Gaia-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   13 Hartmut Leser Herren und Meister der Natur und Umwelt: Maßlosigkeit oder Zukunftssicherung? – Dargestellt am Beispiel der sogenannten „Zwischenstadt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   27 Georg Pfleiderer Natur als „Schöpfung“? Zu Problematik und Produktivität theologischer Umweltethik . . . . . . . . . . . .   55 Dietmar von der Pfordten Naturschutz jenseits des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   71 Silvia Tobias, Corinna Jung, Franz Conen, Christine Alewell Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch: Ein richtiger Weg zur nachhaltigen Bodennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   91 Markus Vogt Ökologische Humanität. Elemente einer Grundlegung der Umweltethik . . . .  107 Carl Friedrich Gethmann Naturveränderung und Natur-Heimatrecht. Normative Fragen der Strukturveränderung des ländlichen Raumes . . . . . . .  125 Angelika Krebs „Und was da war, es nahm uns an“. Landschaft, Stimmung und Heimat . . . .  137

VI

Inhalt

Andreas Dietrich Der Garten – heilig oder profan? Zur Kulturgeschichte eines exemplarischen Stücks Landschaft in umweltethischer Perspektive . . . . . . . . .  165 Daniela Demko „Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik . . . . . . . . . .  181 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  207 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  217

VII

Vorwort Im Frühjahrssemester 2013 wurde an der Universität Basel die Ringvorlesung „Verantwortung für die Umwelt aus interdisziplinär-ethischer Sicht“ veranstaltet. Dies gab Gelegenheit, die „Basler Ethik“ – nach einem gelungenen Pilotprojekt einer Ringvorlesung von 2009 zur „Ethik des gelebten Lebens“ – erneut sowohl den Fachleuten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen als auch einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Die Neuausrichtung und Verbreiterung des Basler Ethikangebots legte es auch nahe, wichtige Schnittstellen und Kooperationen mit auswärtigen Kolleginnen und Kollegen hervorzuheben. Getragen wurde auch diese neue Ringvorlesung von Ethikerinnen und Ethikern verschiedener Fakultäten der Basler Universität, insbesondere des Instituts für Bio- und Medizinethik (IBMB), das der Naturwissenschaftlichen und der Medizinischen Fakultät angegliedert ist, des Philosophischen Seminars in der Philosophisch-Historischen Fakultät, der Theologischen Fakultät und der Juristischen Fakultät. Diesen und weiteren Disziplinen gehörten auch die im Rahmen der neuerlichen Ringvorlesung Referierenden an. Alle Referierenden haben freundlicherweise ihre Beiträge für die Veröffentlichung bereitgestellt. Thematisch spannt sich der Bogen der hier veröffentlichten Vorträge aus der Ringvorlesung über die ganze Breite der modernen Umweltethik und erfasst sowohl neu zugespitzte und mit neuen Perspektiven versehene klassische Fragestellungen als auch gänzlich neue Perspektiven der Umweltethik. Wem gegenüber bestehen umweltethische Pflichten? Alle Individuen, meint Dietmar von der Pfordten, verdienen, ausgehend von einem normativen Individualismus, grundsätzlich ethische Berücksichtigung, sofern sie Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele entfalten. Eine solche Berücksichtigung ergebe sich nicht etwa daraus, dass sie empfindungs- oder bewusstseinsfähig seien – der Pathozentrismus ziehe den Kreis der moralisch zu Berücksichtigenden zu eng. Von der Pfordtens hierarchische biozentrische Position erfordert hierbei zudem eine Binnendifferenzierung und hierarchische Gliederung für den Konfliktfall. Noch weiter zieht Daniela Demko den Kreis der moralisch zu Berücksichtigenden und schlägt eine Differenzierung zwischen einem holistischen Eigenwertbegriff und einem biozentrischen Würdebegriff vor. In einer Unterscheidung zwischen Eigenwert und Würde geht sie hierbei zum einen in kritischer Rezeption der Wertphilosophie und unter Anknüpfung an den Wertsubjektivismus von einem von Menschen zugesprochenen und Menschen verpflichtenden Eigenwert aus, widmet sich zum anderen dem Ein- und Ausgrenzungscharakter des Würdebegriffs sowie

VIII

Vorwort

des Weiteren mit Blick auf den biozentrischen Würdebegriff den ideengeschicht­ lichen Entwicklungen des Lebensbegriffs. Angelika Krebs spricht sich im Prinzip für eine pathozentrische Sichtweise aus, nimmt aber den Ausgang vom Naturerleben des Menschen, für den es wichtig sei, die ganze Natur, die uns umgibt, in ihrer Fülle zu erleben. Sie stellt die Gegenüberstellung von instrumentellem Wert der Natur und Eigenwert der Natur in Frage, indem sie der Natur einen eudaimonistischen Wert zuerkennt. Natur sei wichtig für uns Menschen in ihrer Schönheit, ihrer Identitätsstiftung und ihrer Heiligkeit, wir können uns geborgen fühlen durch die ästhetischen Erfahrungen schöner Landschaften und können so Kunst und Landschaft besser verstehen. Als Strukturfragen des Mensch-Natur-Verhältnisses greift Carl Friedrich Gethmann die Fragen nach umweltethischen Pflichten auf. Man habe bisher überwiegend Verpflichtungen des Menschen gegenüber der Natur diskutiert – dem stellt er konkretere normative Fragen naturnaher Lebensformen (Landwirtschaft, Tierhaltung, Jagd) gegenüber und befasst sich insbesondere mit der Frage eines Anspruchs auf Vertrautheit des Menschen mit seinen gewohnten natürlichen Umgebungen. Was der Mensch als Natur betrachte, sei selbst ein Kulturphänomen, in welchem er sich zurechtfinden wolle. Die Geschwindigkeit der Veränderung in einem Stadtbild etwa sei deshalb auf ein für den Menschen angemessenes Mass zu begrenzen. Andreas Brenner empfiehlt, die Natur vom Ganzen (Holismus) her zu denken und ihre Elemente als Glieder eines Organismus und nicht als Teile im Sinn des Mechanismus zu begreifen. Für dieses Verständnis der Natur als (Super-)Organismus greift er das Gaia-Konzept von der Erde als einem nicht nur Leben beherbergenden, sondern seinerseits lebenden beseelten Wesen auf, indem er etwa auf Formen von Selbstregelung der Temperatur, von Metabolismus und Selbstheilung der Erde verweist. Aus einer solchen Natur geschöpfte physiologische Kraft sei Voraussetzung der moralischen Kraft des Menschen. Mit dem Spannungsverhältnis zwischen Humanität, verstanden als Freiheitsschutz und Armutsbekämpfung, und der Übernutzung natürlicher Ressourcen durch eine solche Humanität befasst sich Markus Vogt und fragt nach der Notwendigkeit eines neuen Begriffs von Humanität. Dazu gehöre die Frage nach einer gerechten räumlichen Teilhabe für alle, nach einer „Anthropologie des Wohnens“. In der Humanökologie sieht er den Ort für einen Brückenschlag zwischen Personalität und Nachhaltigkeit – zur Ökologie gehöre eben auch die innere Natur des Menschen und sein soziales Umfeld, der Mensch müsse gerade als relationales Wesen begriffen werden. Die Ambivalenz in der Geschichte des Christentums zwischen Naturerhaltung und Naturvernichtung thematisiert Georg Pfleiderer. Dabei wirbt er um Verständnis dafür, dass ein menschlicher Herrschaftsanspruch über die Natur aus der Kargheit der Versorgung und der Bedrohtheit des Menschen entstehen konnte, sieht aber andererseits auch die Gaia-Hypothese im religiösen Kontext und hält die Erfahrung der Lebenserhaltung durch Lebenszerstörung für einen wichtigen

Vorwort

IX

Grund eines evolutionären Entstehens von Religion im entsühnenden Opfer. Alle vier umweltethischen Typen – Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Biozentrismus und Physiozentrismus – würden sich aus der Sicht der christlichen Theologie als Aussagen von Teilwahrheiten (particula veri) darstellen. Der Garten als Element von Landschaft, vor allem mit dem Dualismus von heilig und profan, ist das Thema, das sich Andreas Dietrich setzt. Es geht ihm um die Kulturgeschichte der Landschaftswahrnehmung am Beispiel des Gartens an der Schnittfläche von Natur und Kultur, Urbanität und Ruralität sowie Sakralität und Profanität. Er sieht in der Gegenwart eine Verarmung der Landschaft auf Grund einer Intensivierung der Landwirtschaft und damit eine Profanisierung, die den „heiligen Garten“ zurück in die Städte bringt. Mit dem Verlust der vertrauten und schönen Landschaften gehe zugleich das Gefühl verloren, noch irgendwo zu Hause zu sein. Mit der Biodiversität befasst sich Bruno Baur und versteht darunter nicht nur genetische Vielfalt, sondern praktisch alle Formen der Lebensvielfalt, also etwa auch die Wechselbeziehungen zwischen den Arten. Zwar gebe es in den letzten dreieinhalb Milliarden Jahren eine ständige Zu- und Abnahme von Biodiversität, das Aussterben von Arten gehe aber derzeit mindestens tausendmal schneller vor sich als je zuvor. Gute Gründe, sich für Biodiversität einzusetzen, gebe es unter den Gesichtspunkten von Nahrung, Gesundheit und Ästhetik, aber auch wegen ökonomischer Werte wie funktionstüchtiger Wälder und schliesslich aus ethischen Gründen des intrinsischen Wertes von Arten. Ein Umweltproblem, mit dem sich Silvia Tobias, Corinna Jung, Franz Conen und Christine Alewell in ihrem Beitrag befassen, ist die ständig zunehmende Bodenversiegelung als die denkbar stärkste Bedrohung des Bodens. Die Autorinnen und Autoren suchen zu klären, ob man dieses Phänomen zunehmender Versiegelung durch Bodenentsiegelung an anderen Stellen kompensieren könnte. Im Einzelfall können sich dabei aber mit der Zwecksetzung der anschliessenden Verwendung erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Plädiert wird im Ergebnis für die Schaffung eines Wertesystems, das eine Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch mit einschliesst. Hartmut Leser macht in seinem Beitrag deutlich, dass zum ökologischen Problemraum auch der abiotische Komplex zähle. Zur Ökologie gehörten auch ein sozialer und ökonomischer Teil und Man-made-desasters wie etwa Chemie- oder Kernkraft-Unfälle. Häufig hätten wir den Eindruck, dass es für Umweltprobleme keine Verantwortlichen gebe, was er an der Entwicklung der zwischenstädtischen Agglomerationen exemplifiziert. Keiner hat diese „Zwischenstädte“ gewollt, niemand sie richtig geplant. Umweltdenken sollte aber gesellschaftliches Denken sein und verantwortliches Handeln setze Umweltdenken voraus. Alle Beiträge lassen erkennen, wie unser Verständnis davon, wer zu den „moral patients“ der Umweltdebatte gehört, immer wieder in Bewegung gerät und wie neue Fragestellungen die klassischen Fragen ergänzen und überlagern. Zwecksetzungen wie Naturerleben oder Vertrautheit mit der natürlichen oder kulturellen Umwelt

X

Vorwort

sperren sich einer klaren Einteilung in ein instrumentelles oder vom Eigenwert bestimmtes Umweltverständnis – hier lässt sich paradoxer Weise dem „Nutzen“ für den Menschen überhaupt erst über die Zurechnung eines Eigenwerts der Natur näher kommen. Denn eine Natur, die uns nur als instrumentalisiertes Objekt begegnen würde, liesse uns weder ihre Fülle spüren noch Vertrautheit mit Landschaften und Gegenden gewinnen. Auch die zunehmende Verschränkung von Biotischem und Nicht-Biotischem im Umweltbegriff, das Ineinandergreifen von Natürlichem und Artifiziellem, von Natur und Kultur, der Versuch, in der Kategorie des Raums und der gerechten Raum-Zuteilung allem und allen zu seinem und ihrem relativen moralischen Recht zu verhelfen, öffnet neue Sichtweisen. Theologie kann dann von der Natur als „Gottes Kultur“ sprechen und die Natur des Menschen soll in der Humanökologie geistes- und naturwissenschaftliche Komponenten verbinden. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber danken für die wertvolle und grosszügige Unterstützung der Ringvorlesung durch die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel (FAG) und für den Druckkostenbeitrag durch die Schweize­ rische Akademie der Naturwissenschaften (Scnat). Basel, im Januar 2016

Daniela Demko, Bernice Elger, Corinna Jung, Georg Pfleiderer

1

Wer trägt die Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität? Bruno Baur Biodiversität ist zunehmend zum Modewort geworden. Umwelt- und Naturschützerinnen weisen auf ihre Bedrohung hin, Politiker verwenden den Begriff, um ihr naturfreundliches Image aufzuwerten, und Marketingstrategen wenden ihn zur besseren Vermarktung von „naturnahen“ Produkten an. Was aber genau ist Biodiversität? Wem gehört sie und wer trägt die Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität? In diesem Beitrag wird das Konzept der Biodiversität vorgestellt und es wird gezeigt, warum Biodiversität bedroht ist. Verschiedene Ansätze zur Ermittlung des Wertes der Biodiversität werden diskutiert und es wird versucht, eine Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität zu geben.

I. Biodiversität als Konzept Biodiversität oder biologische Vielfalt bedeutet nicht nur die Vielfalt der Pflanzenund Tierarten. Zur Biodiversität gehören auch die genetische Vielfalt und die verschiedenen Lebensräume und Ökosysteme, die unterschiedlichen Lebensgemeinschaften von Arten und ihre Wechselbeziehungen untereinander, wie beispielsweise die Bestäubung der blühenden Pflanzen durch Bienen und andere Insekten.1 Die genetische Vielfalt bezeichnet die im Erbmaterial festgehaltenen Unterschiede zwischen Individuen, zwischen Gruppen von Individuen und zwischen Arten. Bekannte Beispiele für genetische Vielfalt sind die Augenfarbe der Menschen, die verschiedenen Apfelsorten, die auf dem Markt angeboten werden, oder die Rinderrassen. Die genetische Vielfalt erlaubt es den Arten, sich an Veränderungen der Umwelt anzupassen sowie Krankheiten und Schädlingen zu widerstehen. Wissenschaftlich kann Biodiversität also auf drei Organisationsebenen betrachtet werden: Auf der genetischen Ebene, auf der organismischen Ebene sowie auf der ökosystemaren Ebene. Somit ist Biodiversität als Objekt schwer erfassbar, da sie quasi alles umfasst, nicht nur die Arten, sondern auch die Vielfalt innerhalb der Arten. Vereinfacht gesagt beinhaltet Biodiversität alle Formen der Lebensvielfalt auf der Erde. 1 

Bruno Baur, Biodiversität, Bern 2010.

2

Bruno Baur

Der Begriff „Biodiversität“ entstand anfangs der 1980er-Jahre, als amerikanische Wissenschaftler auf den rapiden Artenschwund in tropischen Regenwäldern aufmerksam machten. Bald danach wurde auch eine erste Synthese über das weltweite Ausmass des Aussterbens von Arten und mögliche Konsequenzen in einem Buch mit dem Titel Biodiversity veröffentlicht.2 Der neu entstandene Begriff umschrieb die Lehre von der Erforschung biologischer Vielfalt und ihrer Bedrohung auf der Erde unter gleichzeitiger Berücksichtigung geeigneter Schutzmassnahmen. Diese ursprünglich relativ restriktive wissenschaftliche Bedeutung von Biodiversität wurde aber innerhalb kurzer Zeit erweitert. In dem an der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahre 1992 verabschiedeten Übereinkommen sollte mit Biodiversität ein zusätzliches Zielpublikum angesprochen werden, nämlich politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit.3 Biodiversität wurde so zu einem Konzept weiterentwickelt. In der Konvention werden drei Hauptziele festgehalten: der Schutz der biologischen Vielfalt, deren nachhaltige Nutzung und die gerechte Verteilung der sich aus der Nutzung ergebenden wirtschaftlichen Vorteile. Die Biodiversitäts-Konvention ist eng mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung verknüpft4, stellt aber eine ökonomische Argumentation in den Vordergrund, mit der Annahme, dass derartige Argumente überzeugender sind als rein ökologische oder ethische. Der ursprünglich wissenschaftliche Begriff hat schnell in verschiedenen Bereichen des Naturschutzes sowie in Gesetzen und Verordnungen einen konzeptionellen Platz gefunden. Biodiversität ist also weit mehr als ein neues Fachgebiet der Biologie. Biodiversität umfasst die ökonomische Nutzbarkeit der Natur, beinhaltet aber auch Aspekte der sozialen Gerechtigkeit sowie Schutzbestimmungen. Somit integriert Biodiversität auf faszinierende Weise Zahlen, ökologische Zusammenhänge, Wertungen und Forderungen. Mit einem einzigen Begriff wurde eine Verbindung zwischen der biologischen Vielfalt und ihrer Erforschung, Bedrohung, Erhaltung und Nutzung hergestellt.

II. Artenvielfalt im Laufe der Erdgeschichte Das Alter der Erde wird auf viereinhalb Milliarden Jahre geschätzt. Die frühesten Fossilien von lebenden Organismen – einfache Bakterien – stammen aus ca. dreieinhalb Milliarden Jahre altem Gestein. In den nächsten drei Milliarden Jahren entfaltete sich das Leben vorwiegend im Wasser. Die ersten Eukaryoten entstanden vermutlich vor zwei Milliarden Jahren. Aus Einzellern entwickelten sich Zell2 

Edward Osborne Wilson, Biodiversity, Washington D.C. 1988. www.cbd.int – Convention on Biological Diversity. Offizielle Website des internationalen Abkommens (eine Übersetzung der Konvention ins Deutsche ist als pdf-Dokument erhältlich über: www.admin.ch/ch/d/sr/i4/0.451.43.de.pdf). 4  Im Sinne der Brundtland-Kommission: Bericht „Our Common Future“ (1987), http://en. wikisource.org/wiki/Brundtland_Report. 3 

Wer trägt die Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität?

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kolonien und schliesslich mehrzellige Organismen. Die Landbesiedelung, d. h. die Anpassungen von aquatischen Lebewesen an eine terrestrische Lebensweise, fand wiederholt und unabhängig voneinander in verschiedenen Gruppen wie Einzellern, Pilzen, Pflanzen, Schnecken und Wirbeltieren statt.5 Bei der Betrachtung der Evolution verschiedener Organismengruppen muss auch berücksichtigt werden, dass die Landmasse (die späteren Kontinente) im Verlauf der Erdgeschichte sich in der Lage auf der Erdkugel, in der Grösse (durch Schwankungen im Meeresspiegel) sowie im Ausmass der Isolation einzelner Teile verändert hat. Fossilien belegen die Zu- und Abnahmen in der Diversität einzelner Gruppen. Neue Arten haben sich entwickelt, viele sind auch wieder ausgestorben. In Organismengruppen, über die aufgrund von Fossilfunden ausreichende Erkenntnisse vorliegen, ist die Artenzahl seit ihrem ersten Auftreten meistens angestiegen. Die heute lebenden Pflanzen- und Tierarten machen – je nach Schätzung – weniger als ein Prozent bis maximal vier Prozent der Arten aus, die jemals auf der Erde gelebt haben. Das Aussterben einer Art ist demnach ein fast ebenso häufiges Ereignis in der Erdgeschichte wie das Erscheinen einer neuen. Es gab aber auch Phasen der Abnahme der Diversität. Aufgrund der Fossilienfunde konnten in der Vergangenheit mindestens sechs Aussterbeereignisse, die sich innerhalb bestimmter Erdepochen auf relativ kurze Zeitabschnitte konzentrierten, dokumentiert werden. Ein solches Massenaussterben ereignete sich beispielsweise am Ende der Kreidezeit vor rund 65 Millionen Jahren, als die Dinosaurier verschwanden. Heute befinden wir uns mitten in einem weiteren Massenaussterben. Es wird geschätzt, dass im 21. Jahrhundert zwischen 10’000 und 25’000 Arten jährlich auf der Erde aussterben; dies entspricht ein bis drei Arten pro Stunde. Das Artensterben verläuft gegenwärtig mindestens tausend Mal schneller als jemals zuvor in der Erdgeschichte. Zudem wird im Unterschied zu den früheren Ereignissen das jetzige Massenaussterben durch eine einzelne Art verursacht, nämlich durch den Menschen.

III. Biodiversität ist bedroht Hauptursachen für das gegenwärtige Artensterben sind die Zerstörung und Veränderung von natürlichen Lebensräumen im Zusammenhang mit der steigenden Bevölkerungszahl und dem erhöhten Pro-Kopf-Verbrauch an natürlichen Ressourcen. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte nimmt der Einfluss des Menschen auf die Ökosysteme zu. Vor 2000 Jahren dürfte die weltweite Bevölkerung 200 bis 250 Millionen Menschen umfasst haben. Ab dem Jahre 1600 nahm die Weltbevölkerung – damals knapp 300 Millionen Menschen – stetig zu, erreichte 1859 eine Mil5  Colin

Little, The terrestrial invasion: an ecophysiological approach to the origins of land ­animals, Cambridge 1990.

4

Bruno Baur

liarde und 1939 zwei Milliarden und hat 2012 die Sieben-Milliarden-Grenze überschritten. Entsprechend der Zunahme der Bevölkerung wurde auch der Druck auf die natürlichen Ressourcen grösser, um die Grundbedürfnisse der Menschen wie Nahrung, Wasser und Wohnraum zu decken. Der globale Ressourcenverbrauch hat in den letzten Jahrzehnten aber noch stärker zugenommen als die Weltbevölkerung, weil die Ansprüche der einzelnen Menschen stiegen. Die Menschheit verbraucht zur Zeit mehr natürliche Ressourcen als die Erde regenerieren kann, was sich mit dem Ansatz des Ökologischen Fussabdruckes darstellen lässt.6 Pflanzen und Tiere sind von ihrem Lebensraum abhängig. Wenn dieser zerstört oder verändert wird, führt dies zu Verlusten an Arten. Die in den letzten Jahrzehnten weltweit gestiegene Mobilität und der globalisierte Handel führen immer häufiger zu einem gezielten Einführen oder zufälligen Einschleppen nicht-einheimischer Arten. Ein Teil dieser Neobioten – die so genannten invasiven Arten – kann sich an den neuen Standorten stark vermehren und ökonomische und ökologische Schäden verursachen.7 Wirtschaftliche Schäden können im Bereich der Land- oder Forstwirtschaft auftreten (etwa als Unkräuter, durch Pflanzenschädlinge, Pilze oder Krankheitserreger), sie können die Tierhaltung betreffen (z. B. Parasiten, Krankheiten), sie können die Infrastruktur beeinträchtigen (etwa durch Zerstörung von wassertechnischen Anlagen, z. B. Verstopfen von Leitungen und Kühlrohren) oder die menschliche Gesundheit beeinträchtigen. Invasive Arten beeinflussen die lokale Biodiversität mit Verdrängung von einheimischen Arten durch Konkurrenz oder Prädation bzw. durch die Übertragung von Krankheiten oder Parasiten. Auch die Hybridisierung invasiver mit verwandten einheimischen Arten, die dadurch ihre arteigene Identität verlieren, reduziert die einheimische Artenvielfalt. Invasive Arten können auch direkt oder indirekt auf den Zustand und die Funktion von Ökosystemen einwirken. Kurzfristig mögen Neobioten zwar die lokale Biodiversität erhöhen, da einige von ihnen aber bald invasiv werden und einheimische Arten verdrängen, dürfte die Artenvielfalt in der Regel abnehmen. Biologische Invasionen werden, nach der Veränderung und Zerstörung natür­ licher Lebensräume durch den Menschen, als zweitwichtigster Grund für die weltweite Gefährdung der Artenvielfalt betrachtet. Die Zahlen der Neobioten und invasiven Arten haben in den letzten Jahrzehnten in Europa stetig zugenommen. Es gibt keine Hinweise, dass dieser Trend sich in nächster Zeit ändern wird. In erdgeschichtlichen Zeiträumen veränderten sich die klimatischen Bedingungen wiederholt, was zu Veränderungen in den Ausbreitungsarealen der Arten oder zum Aussterben führte. Dies ist ein natürlicher Prozess. Als Beispiel kann auf die postglaziale Wiederbesiedlung eisfreier Gebiete nach dem Rückzug der Glet6 www.footprintnetwork.org/de – Global Footprint Network – Advancing the Science of ­Sustainability. Information über den ökologischen Fussabdruck. 7  Wolfgang Nentwig, Invasive Arten, Bern 2010.

Wer trägt die Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität?

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scher hingewiesen werden. Die früheren Temperaturveränderungen fanden aber oft über Zeiträume von 1000 und mehr Jahren statt. Im Gegensatz dazu verläuft die derzeitige globale Klimaerwärmung viel schneller. Weltweit haben die mensch­ lichen Treibhausgasemissionen im Zeitraum von 1970 bis 2004 um 70 % zugenommen, wobei sich die Zunahme in den letzten zehn Jahren beschleunigt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Grossteil der Erwärmung seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe und den menschlich verursachten Treibhausgasanstieg bedingt ist. Die mittleren globalen Temperaturen liegen heute bereits um etwa 0,8 °C höher als dies bei einer unveränderten Zusammensetzung der Atmosphäre der Fall wäre. Die zukünftige Klimaentwicklung ist abhängig vom Ausmass der weiteren Treibgasemissionen und damit von menschlichem Handeln und politischen Entscheidungen. Wenn sich das Klima in den nächsten 100 Jahren um drei Grad Celsius erwärmt (Mittelwert verschiedener Szenarien), werden sich die Vegetationszonen auf der Nordhalbkugel um rund 600 km nordwärts und um rund 600 m in die Höhe verschieben. Viele Arten werden die Wanderung nicht mitmachen können; sie sind einfach zu langsam. Die meisten Gehölze können sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 km in 100 Jahren ausbreiten, viele alpine Pflanzen um 50–100 Höhenmeter in 100 Jahren. Die globale Klimaerwärmung wird die regionale Biodiversität in kurzer Zeit verändern. Der Klimawandel verändert nicht nur die Verbreitung von Arten sondern auch die Entwicklungsgeschwindigkeit der Individuen, die aus diesem Grund jahreszeitlich früher erscheinen und zum Teil mehr Generationen pro Jahr bilden (z. B. Schmetterlinge). Viele Arten zeigen eine Tendenz zur Ausbreitung in höhere Lagen. Im Alpenraum wird der Lebensraum für Arten der nivalen Hochgebirgsstufe kleiner, während sich derjenige der aus dem Tiefland und unteren Höhenlagen eingewanderten Arten nach oben ausdehnt. Insgesamt wird mit zunehmenden Temperaturen die Anzahl neuer Arten in den Alpen zunehmen. Diese Arten dürften aber in ihrem Herkunftsgebiet meist noch häufig sein. In den Alpen und in anderen Gebirgen werden jedoch gefährdete Arten verloren gehen. Dies sind kälte­adaptierte Endemiten, die ihre ökologische Nische verlieren, oder konkurrenzschwache Arten, die von einwandernden Arten verdrängt werden. Diese Verluste – auch wenn sie vergleichsweise eher wenige Arten betreffen – sind qualitativ gravierender für die weltweite Biodiversität als die lokalen quantitativen Gewinne durch die zahlreichen Einwanderer.

IV. Argumente für den Schutz der Biodiversität Biodiversität leistet grosse Dienste. Ökosysteme können durch unterschiedliche funktionelle Eigenschaften charakterisiert werden. Wälder binden Kohlenstoff aus dem aufgenommenen Kohlendioxid (CO2) und geben Sauerstoff frei, verhindern

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Erosion und das Abgleiten von Schnee sowie das Herunterstürzen von Felsblöcken an Steilhängen, speichern Wasser, produzieren Beeren, Pilze, Bau- und Brennholz, und stellen einen Lebensraum für Pflanzen und Tiere und einen Erholungsraum für Menschen dar. Eine anthropozentrische Betrachtungsweise der Ökosysteme setzt ihre Nutzbarkeit ins Zentrum und zielt auf die „Dienstleistungen“ ab, die sie zum Gebrauch und Genuss durch den Menschen bereitstellen. Die Dienstleistungen und Produkte entstehen aus der normalen Funktion der Ökosysteme. Ohne die breite Palette an Ökosystem-Dienstleistungen ist menschliches Leben auf dem Planeten Erde nicht möglich. Zu den zentralen Ökosystemleistungen gehören die Produktion von Biomasse (Nahrungsmittel und Baurohstoffe), die Aufrechterhaltung von Nährstoffzyklen, die Regulation des Gas- und Wasserhaushaltes der Erde, die Steuerung des Klimas, die Versorgung mit Wasser, die Bodenbildung und Erosionskontrolle und die Bestäubung der Blütenpflanzen. Neben Nahrungsmitteln und Gewürzen bietet die Biodiversität (Pflanzen und Tiere) unzählige Stoffe für unterschiedliche Produkte an: Farbstoffe, Abwehrstoffe gegen Schädlinge, Komponenten von Kosmetika und Wirkstoffe in Medikamenten. Auch in durch den Menschen stark veränderten Ökosystemen leistet die Biodiversität unermessliche Dienste. In Grossstädten tragen Grünflächen und Bäume entlang von Strassen zur Luftreinigung, Lärmreduktion und Erholung der Menschen bei und sind deshalb für das Wohlergehen der Stadtbevölkerung von grosser Bedeutung. Direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen lassen sich nachweisen. So nimmt in New York der Anteil an Asthma erkrankten Kleinkindern mit zunehmender Anzahl Bäume in ihrem Wohnquartier ab.8 Gewisse Aspekte der biologischen Vielfalt werden von vielen Leuten als ästhetisch schön empfunden (z. B. Pflanzenvielfalt). Biodiversität ist somit auch wichtig für die Gesundheit und Erholung der Menschen. Die Eigenschaften eines Ökosystems werden weitgehend von der Summe der verschiedenen funktionellen Eigenschaften bestimmt, die in einer Lebensgemeinschaft vertreten sind. Zahlreiche Studien belegen, dass artenreiche Ökosysteme in der Regel funktionstüchtiger sind als artenarme Systeme. So schützen arten­ reiche Wälder besser vor Erosion, Steinschlag, Lawinen und Nährstoffverlusten als Baum-Monokulturen. Zudem sind artenreiche Wälder besser gegen Schädlingsbefall geschützt und resistenter gegen invasive Arten als artenarme Wälder. Nicht immer ist die eigentliche Funktion einer Art im Ökosystem ersichtlich. Einzelne Arten können für die Funktion eines Ökosystems redundant sein. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass sie überflüssig sind, denn im Sinne der Versicherungshypothese braucht es Redundanz in einem Ökosystem, um dessen funktionelle Integrität zu gewährleisten. 8  Gina Schellenbaum Lovasi u. a., „Children living in areas with more street trees have a­ lower prevalence of asthma“, Journal of Epidemiology and Community Health 62 (2008), 647–649.

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Ökonomischer Wert der Ökosystemleistungen. Ökosysteme erbringen für den Menschen relevante Leistungen, die anders nur schwer zu erbringen sind. Diese Leistungen werden von den konventionellen Wirtschaftssystemen ignoriert, obwohl die weltweite Bedrohung der Ökosysteme und ihre teilweise markante Schädigung weithin bekannt sind. Seit einigen Jahren gibt es aber Bestrebungen, den monetären Wert der verschiedenen Ökosystemleistungen zu erfassen. Die Zahlen sollen helfen, dass Biodiversitätsaspekte in politischen und wirtschaftlichen Entscheiden ein grösseres Gewicht erhalten. Der Wert von ökologischen Leistungen und Ressourcen kann so gegen die Gewinne aufgerechnet werden, die mit umweltzerstörenden Industrieprojekten und anderen menschlichen Aktivitäten erzielt werden. Aus wirtschaftlicher Sicht bestehen Ökosystemleistungen aus Gütern und Dienstleistungen. Für deren Werteinschätzung werden verschiedene Ansätze und Methoden verwendet. Bei Ökosystemleistungen werden häufig die normalen Kosten der technischen Ersatzmassnahmen festgelegt, die bei deren Ausfall eingesetzt werden müssten. Für einige Güter (Holz, Früchte, Fleisch) kann der marktüb­ liche Preis eingesetzt werden. Für Güter ohne eigentlichen Markt (saubere Luft, intakte Landschaft) müssen indirekte Methoden angewendet werden. Bei kulturellen Ökosystemleistungen (z. B. Wert eines Naturerlebnisses) ist eine Abschätzung des monetären Wertes schwieriger. Oft bezieht sich die ökonomische Bewertung auf den Mehrwert an Leistungen des Ökosystems im Zustand A im Vergleich zu Zustand B (z. B. Wiese mit 80 Pflanzenarten im Vergleich zur Wiese mit 20 Arten). In einer Pionierarbeit ermittelte eine Gruppe von Fachleuten einen Wert von 33 Billionen US-Dollar für die jährlichen Leistungen der globalen Biodiversität.9 Dieser als Minimalschätzung bezeichnete Wert ist unvorstellbar gross und entspricht fast dem doppelten jährlichen Bruttonationaleinkommen aller Staaten. Dies bedeutet, dass der Wert der weltweit produzierten Waren zusammen mit den Dienstleistungen aller Menschen in einem Jahr ungefähr halb so gross ist wie der Wert aller Ökosystem-Dienstleistungen im gleichen Zeitraum. Dieser Ansatz wurde in verschiedenen Modellen weiterentwickelt. Im Projekt „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (TEEB)10 wird Expertenwissen aus den Bereichen der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik aus allen Teilen der Erde zusammengeführt, um die wirtschaftlichen Folgen des Biodiversitätsverlustes abzuschätzen. TEEB ermittelt auch weltweite Schätzungen. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Menschheit bei einer anhaltenden Reduktion der biologischen Vielfalt Ökosystem-Dienstleistungen von sehr grossem Wert verlieren wird. Laut TEEB können Regierungen schon jetzt Schritte zur Einbeziehung der Öko­ systemleistungen in ihre volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unternehmen, um zu beurteilen, wie sie mit der Biodiversität umgehen.  9  Robert Costanza u. a., „The value of the world’s ecosystem services and natural capital“, Nature 387 (1997), 253–260. 10  www.teebweb.org – TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity), Informationen über das Projekt.

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Ökonomischer Wert von Arten. Der Nutzen von Kulturpflanzen und Haustieren ist unbestritten und über ihre vom Menschen nutzbaren Produkte direkt in Geld messbar. Ähnliches gilt für Bäume, die Bau- und Brennholz liefern, Arznei- und Faserpflanzen sowie für Fische und jagdbares Wild. Blütenbesucher sichern über die Bestäubung die Bildung von Samen oder Früchten. Ihr ökonomischer Wert ist daher mit der Produktion von beispielsweise Rapsöl oder Obst korreliert, was eine grobe Schätzung ihres monetären Wertes zulässt. Wildpflanzen und -tiere, welche Wirkstoffe für Medikamente enthalten, sind ebenfalls eine für Menschen wertvolle Ressource. Der Weltmarkt für Pharmazeutika, die von Pflanzen abstammen oder aus Pflanzen gewonnen werden, wird heute jährlich auf 200 Milliarden US-Dollar geschätzt. Cyclosporin A, ein Wirkstoff gegen die Abstossung körperfremder Gewebe, ermöglicht Organtransplantationen bei Menschen. Dieser Wirkstoff stammt aus zwei in norwegischen Böden gefundenen Schlauchpilzen (Tolypocladium inflatum und Cylindrocarpon lucidum). Zwei Medikamente (Neoral und Sandimmun) mit diesem Wirkstoff erzielten 2008 einen Jahresumsatz von 956 Millionen US-Dollar. In einer ähnlichen Grössenordnung liegt der Jahresumsatz von Medikamenten mit Wirkstoffen des Madagaskar-Immergrüns (Catharanthus roseus). Diese Pharmazeutika werden erfolgreich in der Krebstherapie eingesetzt. Von den fast 3000 Milliarden US-Dollar jährlich, die Costanza und Mitautoren9 als monetärer Wert von Arten und ihren Produkten weltweit schätzen, entfallen 1386 Milliarden auf den direkten Gegenwert der Nahrungsmittelproduktion, 721 Milliarden beziehen sich auf weitere Rohstoffproduktion, 417 Milliarden entsprechen dem Wert der biologischen Schädlingskontrolle und 117 Milliarden US-Dollar dem Wert der Bestäubung durch Blütenbesucher. Die in den Beispielen vorgestellten Arten haben einen direkten Wert als lebende Ressource. Viele andere Arten haben vermutlich ebenfalls einen (ökonomisch erfassbaren) Wert, der bisher aber noch nicht erkannt wurde. Das Potenzial einer Art, irgendwann in der Zukunft für die Menschen von Nutzen zu sein, wird als deren Optionswert bezeichnet. So dürften viele Pflanzen- und Tierarten noch unbekannte Substanzen enthalten, die als Wirkstoffe in neuen Medikamenten von grossem Nutzen sein könnten. Der Erhalt der genetischen Vielfalt von Nutzpflanzen sichert auch Optionen für die Züchtung von neuen Sorten in der Zukunft. Je grösser die Sortenvielfalt, desto besser lassen sich Nutzpflanzen züchterisch an die Klimaveränderung, neu auftauchende Pflanzenkrankheiten oder an sich ändernde Geschmacksrichtungen der Menschen anpassen. Im Gegensatz zum Wert von Naturgütern, die auf dem Markt gehandelt werden, lässt sich der indirekte ökonomische Wert von Biodiversität wie zum Beispiel die Schönheit eines Waldes oder der Wert eines Naturerlebnisses nicht so leicht ermitteln. Je nach Fragestellung müssen deshalb spezielle Methoden angewendet werden. Mit Hilfe der Reisekostenmethode kann der ökonomische Nutzen eines Erholungsgebietes oder eines Nationalparks geschätzt werden. So bringen Touristen,

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die den Müritz-Nationalpark in Mecklenburg-Vorpommern (Deutschland) besuchen, der regionalen Wirtschaft jährlich 5,6 Millionen Euro, was 261 Arbeitsplätzen entspricht.11 Die Werte der kulturellen Dienstleistungen des Nationalparks für die lokale Bevölkerung sowie diejenigen der bereitstellenden und regulierenden Dienstleistungen (z. B. Erosionsschutz, Wasser- und Luftreinigung) sind in diesem Betrag nicht enthalten. Grundsätzlich sind ökonomische Bewertungen von Ökosystemleistungen möglich, auch wenn sie nur Grössenordnungen und keine festen Preise ergeben. Allerdings sollte man auch die Grenzen der Monetarisierung sehen.

V. Ethischer Wert der Biodiversität Für die Bewahrung der biologischen Vielfalt sprechen nicht nur ihre Dienstleistungen und Produkte, sondern auch gewichtige ethische Argumente. Jede Art ist um ihretwillen wertvoll; sie besitzt einen Eigenwert, der nicht von menschlichen Bedürfnissen abhängt. Deshalb hat jede Art das Recht zu existieren. Dieses Argument wurzelt in den Wertsystemen der meisten Religionen, Philosophien und Kulturen. Es appelliert an die Achtung vor dem Leben, an die Wertschätzung der Natur als solcher und (in den Religionen) an die Vorstellung von göttlicher Schöpfung. Arten haben ein Existenzrecht, auch wenn ihnen das Bewusstsein fehlt oder sie kein Nervensystem besitzen, um die Umwelt wahrzunehmen. Der Mensch (Homo sapiens) ist nur eine von mehreren Millionen Arten, welche die Erde bewohnen. In der ca. 3,5 Milliarden Jahre langen Entwicklungsgeschichte des Lebens auf diesem Planeten stellt er zudem eine relativ junge Art dar. Aber keine Art hat jemals in der Erdgeschichte in so kurzer Zeit so dramatische Auswirkungen auf ihre Umwelt gehabt wie der Mensch. Eine zentrale Frage in der Debatte über den ethischen Wert der Biodiversität ist deshalb: „Welches Recht hat der Mensch, andere Arten auszurotten?“ Dazu möchte ich einige Gedankengänge vorstellen. Meine Aufzählung erhebt aber keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. In den vergangenen 100 Jahren wurden verschiedene Formen der Umweltethik vorgestellt und weiterentwickelt. Ich möchte hier aber nicht auf die verschiedenen Richtungen und Entwicklungen eingehen, sondern nur zwei zum Thema wichtige Punkte herausgreifen. Aldo Leopold, der bekannte Naturschutzpionier in den Vereinigten Staaten, begann die Natur als Gesamtheit anzusehen, bei der der Mensch Teil der ökologischen Gemeinschaft ist.12 In seiner Ethik gehört die Erhaltung der natürlichen 11  Hubert Job u. a., Ökonomische Effekte von Grossschutzgebieten, BfN-Skripten 135, Bundesamt für Naturschutz, Bonn 2005. 12  Aldo Leopold, A sand county almanac and sketches here and there, New York 1949.

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Ökosysteme und ökologischen Prozesse zu den wichtigsten Aufgaben der Landnutzung (evolutionär-ökologische Landnutzungs-Ethik oder evolutionary-ecological land ethic). In der Biozentrischen Ethik haben alle Organismen von den Bakterien über die Würmer bis zum Menschen den gleichen Eigenwert. Rolston stellte 1988 eine mildere Version der Biozentrischen Ethik vor.13 Diese spricht allen Organismen einen grundlegenden Eigenwert zu, hält aber durch Regeln fest, dass in speziellen Situationen fühlende Tiere eine höhere Priorität haben als nichtfühlende Organismen und Menschen eine noch höhere Priorität als fühlende Tiere. Analog dazu haben Ökosysteme eine höhere Priorität als Arten und Arten eine höhere Priorität als Individuen. Diese Prioritätsregeln erlauben beispielsweise, dass der Mensch zu seiner Ernährung Tiere und Pflanzen töten darf. So stellt sich auch die Frage nach dem Eigentümer der Biodiversität. Wie oben dargestellt, ist die lokal vorhandene Biodiversität, beispielsweise die in einem Gartenteich vorkommende Artenvielfalt, häufig das Ergebnis einer (langen) Entwicklung. Die Besiedlung des Gartenteichs hängt unter anderem von der in der Region vorhandenen Arten (species pool) ab. Bei vielen Arten ist der Austausch von Individuen mit Populationen in anderen Lebensräumen (Bächen, Tümpel, Seen, andere Gartenteiche) von grosser Bedeutung. Und gewisse Arten sind von Interaktionen mit anderen Arten abhängig, die gar nicht im betrachteten Gartenteich vorkommen (z. B. Käfer für die Bestäubung von Seerosen). Wenn diese Prozesse nicht funktionieren, wird der Gartenteich kaum besiedelt und die einmal dort vorkommenden Arten können längerfristig im Teich nicht überleben. Daraus wird leicht ersichtlich, dass der Eigentümer des Gartenteichs nicht automatisch Besitzer der Biodiversität des Teiches ist. Ähnliche Argumente können für andere, auch grössere Lebensräume vorgebracht werden. Werden sehr lange Zeiträume betrachtet, dann treffen diese Argumente sogar für grosse Gebiete wie einen Nationalpark zu. Wem gehört also die Biodiversität? Als mögliche Antwort kann die lokale Bevölkerung angegeben werden, hat sie doch über Jahrhunderte mehr oder weniger Sorge zu den Lebensräumen in ihrem Wohngebiet getragen. Durch nachhaltige Bewirtschaftung hat sie neue, wertvolle Lebensräume geschaffen (z. B. Magerrasen und -weiden), aber durch Übernutzung auch Lebensräume degradiert oder ganz zerstört. Auch die Biodiversitätskonvention (siehe Fussnote 3) hält als „Besitzer“ der Biodiversität jeweils die lokale Bevölkerung fest. Durch Übernutzung und Zerstörung der Lebensräume, durch das Einführen von nicht-einheimischen Arten, die invasiv werden können, nimmt die lokale Biodiversität aber überall ab. Wenn die Menschheit heute Ressourcen übernutzt und Arten ausrottet, werden zukünftige Generationen einen geringeren Lebensstandard und eine verminderte Lebensqualität haben. Um die menschlichen Lebens13 

Holmes Rolston III, Environmental ethics: duties to and values in the natural world, Phi­ ladelphia 1988.

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grundlagen zu sichern, ist es erforderlich die Biodiversität zu schützen und nachhaltig zu nutzen (basic-needs Argument). Der Mensch muss die Verantwortung für seine Handlungen übernehmen. In seinem Drang, Gewinne zu erzielen und seine unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen, ignoriert der Mensch oft die Auswirkungen seiner Handlungen auf die Umwelt und auf andere Arten. Durch bessere Planung und bescheidenere Bedürfnisse könnte ein beträchtlicher Teil des Ressourcenverbrauchs, der Verschmutzung und der Schäden an der Umwelt vermieden werden. Massnahmen zur Reduktion oder gar Vermeidung weiteren Aussterbens von Arten sind durchaus bekannt und werden auch regional und lokal in verschiedenen Projekten durch Gemeinden, den Staat und private Organisationen erfolgreich angewendet. Auf nationaler und internationaler Ebene sind der Schutz und die Förderung der Biodiversität aber weiterhin ungenügend, vor allem weil der politische Wille fehlt, die bestehenden gesetzlichen Grundlagen umzusetzen und die internationalen Abkommen einzuhalten und weil (kurzfristige) wirtschaftliche Interessen die grundlegende Idee einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Umwelt entgegenwirken. Umso mehr lastet die Verantwortung auf den Schultern jeder einzelnen Person.

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Das große Wesen achten Ecocid-Act und Gaia-Theorie

Andreas Brenner 1. Auf der Erde wandern Es sind Dichter, die immer schon einen besonders engen Bezug zur Erde haben: Von alters her, schon als Psalmen rezitierende und fortmurmelnde Pilger wanderten sie über die Weiten der Erde und näherten sich ihr mit immer weiter gebeugten Rücken immer mehr an. In der Neuzeit schließlich finden die dichtenden Wanderer die Erde nicht erst auf dem Umweg der Suche nach dem Göttlichen, sondern auf direktem Wege. Sie brechen ja gerade deshalb aus der warmen Stube auf, um die Natur zu suchen und den Ertrag ihrer Wanderschaft in verdichteter Form mit nach Hause zu bringen. Es sind Einblicke, die uns so geoffenbart werden und zugleich auch Aussichten auf eine Welt, die den meisten verborgen geblieben waren und die teilweise für immer verschwunden sind. Ein paar dieser Wanderer wollen wir im Folgenden auf ihrem Weg kurz begegnen. Da ist zum einen der englische Romantiker William Wordsworth (1770– 1850), der viel im englischen Westmorland unterwegs ist. Die Elemente, besonders Himmel und Erde, haben es ihm angetan. So beschreibt er Wind und Wolken, wie sie die Landschaft, die sich ihm auftut, gleichsam umhüllen. Diese Erlebnisse weiten Wordsworths Sinne: „Ich schaute – schaute – und hatt’ kaum bedacht, / welch einen Reichtum dieser Anblick mir gebracht“1. Und an anderer Stelle und in anderem Gedicht heißt es: Auf schaut er: das Gewölk / ist aufgerissen – ihm zu Häupten sieht er / den klaren Mond […] Der Wind ist in dem Baum, / doch sie sind still – schweigsam nur schießen sie dahin, / und unermesslich ferne – das Gewölbe rings / gehöhlt aus weißen Wolken, riesenhaften Wolken, / vertieft noch seine bodenlose Tiefe.2 1  William Wordsworth, I wandered lonely as a Cloud (1804), in: William Wordsworth. „I wandered lonely as a Cloud“. Balladen, Sonette, Versepen, übersetzt und hrsg. v. Wolfgang Schlüter, Straelen 2011 (= I wandered), 24 f.: „I gazed − and gazed − but little thought / What wealth the show to me had brought“. 2  William Wordsworth, A Night-Piece (1798), in: I wandered, 64 f.: „he looks up – the clouds are split / Asunder, − and above his head he sees / The clear Moon, and the glory of the heavens. […] the wind is in the tree, / But they are silent; − still they roll along, / Immeasurably distant; – and the vault, / Built round by those white clouds, enormous clouds, / Still deepens its un­ fathomable depth.“

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Anders als den meisten Naturwanderern erschließt sich Wordsworth die Welt, die sich ihm bei seinen Wanderungen durch die liebliche Moor- und Seenlandschaft auftut, gleichsam von oben: Wordsworth lässt sich von der atmosphärischen Dimension des nebelverhangenen, regennassen und sturmumtosten England umfangen und seinen Blick nicht einschränken, sondern im Gegenteil weiten. In dem er sich den Zumutungen des englischen Wetters aussetzt, erlebt der Wanderer sowohl die Welt um ihn herum, wie auch sich selbst. Und so ergeht es Wordsworth wie den meisten anderen Künstlern, die sich in die Natur begeben: Sie kehren verändert und verwandelt wieder nach Hause zurück. Die Erfahrung der Natur scheint sie trotz der Unterschiede ihrer Zugänge eines gelehrt zu haben: Dass alles mit allem zusammenhängt oder, wie es der Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) schreibt, „Natur hat weder Kern / Noch Schale, / alles ist sie mit einemmale.“3 Diese Ganzheitserkenntnis folgt aus einer Ganzheitserfahrung: Weil Menschen sich selbst als Ganzheiten erleben, die ihrerseits mit anderen Ganzheiten – anderen Menschen, Pflanzen, Tieren und Landschaften – in Verbindung stehen, wird ihr Sinn geweckt, die Ganzheit der Ganzheiten zu erkennen und sich die Vorstellung eines Holismus vor Augen zu führen. So wie Wordsworth den Mond als Kronzeugen einer Ganzheit mit Bewahrungsanspruch ausmacht, so hat auch Matthias Claudius (1740–1815) in seinem Abendlied den Mond verdichtet als Zeuge einer Ganzheit, die wir vielleicht nicht sehen, die aber, weil unbesehen, deshalb nicht unbegründet ist: „Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen, / Und ist doch rund und schön! / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost be­ lachen, / Weil unsre Augen sie nicht sehn.“4 Einem Wanderer unserer Tage stand die Ganzheit der Natur dramatisch vor Augen. Kurt Vonnegut (1922–2007) beschreibt in seinem Requiem zu Ehren der Erde diese als gütiges, zur Ironie neigendes Wesen. Der Erde letzte Worte sind erschütternd: „It is done. / People did not like it here.“ 5 Fast als Konsens der naturwandernden Dichter kann man die Vorsicht ausmachen, die es zum Schutz des Großen, das sie in ihrer Poetik beschreiben, zu wahren gilt. Wanderungen durch die Natur sind dabei ebenso Naturschulungen, wie auch, da der Mensch eben auch Natur ist, Selbstschulungen. Die Begegnung mit der Natur und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit ihr schulen die Wahrnehmung der Welt, wobei Weltwahrnehmung immer auch Selbstwahrnehmung ist. Die Wahrnehmungsschulung vermittelt dabei auch die Einsicht, dass die etablierte Trennung von Außen und Innen in einer Hinsicht an der Sache vorbeigeht: Die Bedeutung der Weltwahrnehmung für die Selbstwahrnehmung, welche 3  Johann Wolfgang von Goethe, Unwilliger Ausruf (1820), in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, München 1998, 34 f. 4  Matthias Claudius, Abendlied, in: Deutsche Naturlyrik: eine Auswahl, hrsg. v. Dietrich Bode, Stuttgart 2012, 36. 5  Kurt Vonnegut, A Man without a country, New York 2001, 137.

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von den Dichtern häufig beschrieben worden ist, zeigt sich zunächst aus der Ersten-Person-Perspektive, also jener, welche den Dichtern den verlässlichen Weltzugang ermöglicht. Die Wahrnehmung von Welt findet immer auch auf Basis von (leiblichem) Selbsterleben statt und Vergewisserung des eigenen Seins: Nur wer wahrnimmt, weiß, dass er ist. Die Wahrnehmung versichert also über beides, über die Welt außer mir, wie über die Welt, die ich bin. Das Wahrgenommene verweist also immer auch auf „das Mich der Wahrnehmung“.6 Ist das Wahrgenommene lebendig, so zeigen sich zwischen dem Menschen und dem von ihm Wahrgenommenen primäre Gemeinsamkeiten, die das sie Trennende bei weitem überwiegen. Die Selbstwahrnehmung, welche der Weltwahrnehmung vorangeht, setzt im Falle der Wahrnehmung von Lebendigem das Bewusstsein der eigenen Beseeltheit voraus: Nur wer sich nicht als belebtes Wesen erlebt, der wird daran zweifeln, dass die nichtmenschliche Natur lebt und wird, fast schon pathologisch zu nennende, Vorstellungen einer Automatenwelt anhängen. Wer Pflanze, Tier und Kosmos nur als Aggregat zu verstehen vermag, der setzt das Stemmeisen der Reduktion ja nicht erst dort an, sondern bereits bei sich selbst. Der Naturphilosoph Andreas Weber (*1967) geht sogar so weit, dass er jedes dividierende Reden, das von einer Innenwelt ausgehend, eine Außenwelt ausmacht, als verfehlt ablehnt: Die Welt der Lebewesen, die wir Natur nennen, ist eine einzige große Innenseite. Sie ist Seele, vor uns hingebreitet. Sie zeigt, indem sie die äußere Form und Weise des Lebens darstellt, wie Leben von der Innenseite ist.7

Von diesen poetologischen Betrachtungen aus ist es nicht weit zu normativen Einsichten. Dies macht deutlich, dass das Normative mit dem Gewahrwerden der in Rede stehenden Phänomene beginnt. Der Aphoristiker Stanisław Lec (1909–1966) beschreibt die ethische Bedeutung der Wahrnehmung wie folgt: „Ethisch können wir nur sein in Bezug auf das, was wir sehen, fühlen, lieben oder auf andere Weise wahrnehmen.“8 Die Grundlage der Ethik liegt indes tiefer, nämlich in der Konstitution des Selbst, das erst weltwahrnehmend sich in den Stand setzt, Rücksicht zu üben und dabei sich selbst als respektablen Berücksichtiger zu etablieren.

2. Das Ganze erkennen Die Wanderungen über Stock und Stein oder das Leben in der wilden Natur schulen nicht nur unsere Sinne und stärken damit unsere ethische Wahrnehmungsfähigkeit, sie öffnen auch die Einsicht in das Netz des Lebens, welches eine intensive Verwobenheit von allem mit allem zum Ausdruck bringt. 6 

Lambert Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Berlin 2009. Andreas Weber, Minima Animalia. Ein Stundenbuch der Natur, Klein Jasedow 2012, 23. 8  Stanisław Jerzy Lec, Sämtliche unfrisierte Gedanken. Dazu Prosa und Gedichte, Zürich o.J., 176. 7 

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Für diesen Zusammenhang hat sich der Begriff des Holismus etabliert, der, einmal eingesehen, auch eine ethische Dimension hat. Der Begriff „Holismus“ geht auf den südafrikanischen Staatsmann und Biologen Jan Christiaan Smuts (1870–1950) zurück9 und wird von Adolf Meyer-Abich (1893–1971) systematisch ausgebaut.10 Als antimechanistische und antireduktionistische Position denkt der Holismus vom Ganzen und nicht von den Teilen her. Bereits das einzelne Lebendige erweist sich dabei als „Ganzes“. Smuts: Jeder Organismus, jede Pflanze, jedes Tier ist ein Ganzes, dem eine bestimmte innere Organisation, eine bestimmte Selbstausrichtung und ein eigener individueller spezifischer Charakter eigen ist. 11

Von dieser Feststellung ausgehend behauptet er nun, und erst damit kommt Smuts zum „Holismus“, dass die ganzheitliche Organisationsform auf allen Daseinsstufen zu erkennen sei und kommt zu folgender Definition: Ganzheit ist der am stärksten charakteristische Ausdruck des Wesens der Welt in ihrer zeitlichen Vorwärtsbewegung. Sie bezeichnet die Linie des Entwicklungsfortschritts.12

Adolf Meyer-Abich arbeitet die dieser Definition des Holismus zugrunde liegende Kritik am Mechanismus weiter aus: Ein ganzheitlicher Komplex aber ist niemals ein zusammengesetztes Ding und hat infolgedessen niemals Teile oder Elemente. Die untergeordneten „Momente“ […] heißen seine Glieder und Organe. Von diesen gilt ausnahmslos, dass sich ihre Eigenschaften als Glieder oder Organe nur aus dem jeweiligen Ganzen, dessen Glieder sie sind, ableiten lassen.13

Was hier über die Glieder eines Ganzen ausgesagt wird, hat umgekehrt Bedeutung für das Ganze. Wenn der Mechanismus im Unrecht ist, macht die Rede von Teilen keinen Sinn und das Ganze ist zugleich mehr als seine Glieder. Aus der Ganzheitsvorstellung folgert Meyer-Abich, dass die „Natur als Ganzes […] ein lebendiger Weltorganismus“ sei14, der, in Anlehnung an die Aristotelische Vorstellung als beseelt zu betrachten ist. Einmal eingetaucht in die Welt, zeigt sich diese also nicht nur als ausgesprochen komplex und in hohem Maße verwoben, sondern darüber hinaus als eine Einheit höherer Ebene, welche man als Superorganismus bezeichnen kann. Der Autor William Golding (1911–1993), der viel mit seinem Nachbarn James Lovelock (*1919) durch das englische Mittelland wanderte, fand für diesen Superorganismus den Begriff Gaia.15 Während Golding das Verdienst des Namensge 9 

Jan Christiaan Smuts, Die holistische Welt, Berlin 1938. Adolf Meyer-Abich, Biologie der Goethezeit, Stuttgart 1949, 282 ff. 11  Jan Christiaan Smuts, Die holistische Welt, Berlin 1938, 100. 12  Jan Christiaan Smuts, Die holistische Welt, Berlin 1938, 101. 13  Adolf Meyer-Abich, Krisenepochen und Wendepunkte des biologischen Denkens, Jena 1935, 31. 14  Adolf Meyer-Abich, Naturphilosophie auf neuen Wegen, Stuttgart 1948, 158. 15  James Lovelock, Gaia. The practical science of planetary medicine, London 1991, 24. 10 

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bers zukommt, ist es Lovelock, der die Vorstellung der Erde als eines Wesens ausarbeitet. Zunächst hat Lovelock die Gaia-Theorie als Erklärungs-Modell konzipiert, das er dem vorherrschenden Verständnis der Erde als toter Materie gegenüberstellt.16 In diese Position lassen sich dann naturwissenschaftliche Erkenntnisse integrieren und erklären, die zugleich den anfänglichen Modellcharakter aufheben und zu einer wissenschaftlich begründeten Gewissheit werden lassen. Dazu dient Lovelock die Selbstregulations-Fähigkeit der Erde, wie sie an Hand des Young-Sun-Paradox nachgewiesen werden konnte: So hat die zunehmende Energiezufuhr durch die Sonne erdgeschichtlich eben so wenig zu einer Überhitzung geführt wie die Zeiten der kühleren Sonne nicht zu einer Abkühlung der Erde geführt haben, statt dessen hat die Erde durch Selbstregulation ihre Eigen-Temperatur bewahrt. Neben der aktiv selbstregulatorischen entropischen Fähigkeit der Erde beschreibt Lovelock auch ihre Möglichkeit zum Metabolismus und zur Selbstheilung, allesamt also Kriterien, die allgemein für Lebewesen als charakteristisch angesehen werden.17 Deshalb auch kommt Lovelock zu der Ansicht, dass die Erde lebe. Die Selbstregulation betrachtet Lovelock mithin wörtlich als aktives Geschehen des sich selbst regulierenden Organismus’ und nicht etwa als Ergebnis einer Außensteuerung. Daher ist es für Lovelock naheliegend, dass wir uns die Erde „als größtes Lebewesen des Sonnensystems“ vorstellen.18 Wenn wir den Modellcharakter der Gaia-Theorie verlassen, erkennen wir nun, dass die Erde nicht nur der Idee nach, sondern auch in der Realität die Verkörperung eines Superorganismus darstellt. Diese Sichtweise folgt nach Lovelock sowohl aus der Logik, wie sie sich durch die Beschreibung des Systems Erde aufdrängt wie auch aus der Logik der Konsequenzen, welche die verweigerte Anerkennung des Status des Lebendigen für den Menschen hätte: Denn, so urteilt Lovelock, solange wir die Erde nicht als einen Planeten betrachten, der sich verhält, als wäre er lebendig […] wird es uns an der Bereitschaft mangeln, unsere Lebensweise zu ändern und anzuerkennen, dass wir die Erde zu unserem größten Gegner gemacht haben.19

Eine Generation nachdem Lovelock die Gaia-Theorie zum ersten Mal vorgestellt hat, ist wohl der an die griechische Göttin gemahnende Name, nicht aber die Theorie selbst noch wirklich kontrovers: So findet sich an Stelle des umstrittenen mythologischen Namens häufig die neutralere Bezeichnung „Earth System Science.“20 Im Unterschied zum Begriff Gaia entbehrt der Bezeichnung Erd-System-Wissen16 

James Lovelock, Gaia. The practical science of planetary medicine, London 1991, 11 f. James Lovelock, Gaia. The practical science of planetary medicine, London 1991, 30. 18  James Lovelock, Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt, Berlin 2007, 31. 19  James Lovelock, Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt, Berlin 2007, 32. 20  Unter diesem Titel steht beispielsweise auch die Deklaration von Amsterdam, die feststellt: „The Earth System behaves as a single, self-regulating system comprised of physical, chemical, biological and human components.“ Siehe die Seite des „International Geosphere-Biosphere Programme“, www.igbp.net; zum Begriff Earth Systems. Siehe auch Lynn Margulis, „Gaia by Any 17 

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schaft, die dem Gaia-Begriff eigene subjektäquivalente Bedeutung. Der offensichtliche Vorteil des Titels Erd-System-Wissenschaft liegt hingegen in dem Fokus, den er auf die systemische Untersuchung der Erde legt. Diesen Aspekt betont auch die Biologin Lynn Margulis (1938–2011), die zwar am Gaia-Begriff festhält, in ihrer Begründung aber erdwissenschaftlich argumentiert, wenn sie in den vielfachen Interdependenzen in der belebten Biomasse der Erde, welche sie als Biota bezeichnet, Metabolismus und Wachstum ausmacht.21 Margulis sieht hier auch eine neue Verbindung zwischen Geologie und Biologie. Diese Verbindung wird auch von Paul Lowman (1931–2011) stark gemacht, der auf die für die Erde existentielle Bedeutung des Wassers hinweist und die temperaturausgleichenden Effekte als Indiz liest, dass sich die Erde wie ein lebendiger Organismus verhalte.22 Aus erdsystemischer Sicht definiert Tyler Volk Gaia als ein System, das das Leben auf der gesamten Erdoberfläche, die Böden, die Ozeane und alles Oberflächenwasser wie auch die Atmosphäre integriert. Unter Gaia fasse ich des Weiteren die Wechselwirkung der geologisch alten Felsen mit der Chemie der Biosphäre. Erden, Luft, Wasser sind vereinigt durch einen Zyklus, der all das enthält, was Leben in der weltweiten Evolution ausmacht.23

Damit beweist die Erde das Vermögen zum Widerstand gegen den energetischen Zerfall in den Gleichgewichtszustand, wie er typisch für lebende Organismen ist. Erwin Schrödinger (1887–1961) hat dies in seiner Beantwortung der Frage, was Leben ist, zum Ausdruck gebracht: „Ein Organismus erscheint deswegen so rätselhaft, weil er sich dem raschen Verfall in einen unbewegten Gleichgewichtszustand entzieht.“24 Eben dieses Phänomen ist auch bei der Erde zu beobachten. Die Erde widersetzt sich im Zusammenspiel der Ökosysteme dem thermischen Gleichgewichtszustand und erhält gerade dadurch die Lebensfähigkeit auf Planeten, dass sich dieser selbst als lebendig erhält.25 Other Name“, in: Stephen Schneider (Hg.) et al., Scientists Debate Gaia. The next Century, Cambridge 2004, 7–12, 8. 21  Lynn Margulis, „Gaia by Any Other Name“, in: Stephen Schneider (Hg.) et al., Scientists Debate Gaia. The next Century, Cambridge 2004, 7–12, 8. Ausführlich und als Vorarbeit siehe dies., Symbiotic Planet, New York. 1998, Kap. 8. 22  Paul Lowman, Exploring Space, Exploring Earth: New Understanding of the Earth from Space Resarch, Cambridge 2002, 280. Zitiert bei Lynn Margulis, „Gaia by Any Other Name“, in: Stephen Schneider (Hg.) et al., Scientists Debate Gaia. The next Century, Cambridge 2004, 7–12, 10. 23  Tyler Volk, (2004): „Gaia is Life in a Wasteworld of By-Products“, in: Stephen Schneider (Hg.) et al, Scientists Debate Gaia. The next Century, Cambridge 2004, 27–36, 29. 24  Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Cambridge 1944, 124. Zu aktuellen Energiemessungen der Erde und ihres energetischen Gleichgewichtszustandes siehe David Withaker / Ryan Law, „Aspects of Sustainability in Ground Energy Systems“, in: Krishna Reddy / Milind V. Khire / Akram Ashawabkeh (Hgg.), Geosustain­ ability and Geohazard Mitigation, Reston 2008, 907–914, 907. 25  Eric D. Schneider, „Toward a Thermodynamics of Life“, in: Stephen Schneider (Hg.) et al, Scientists Debate Gaia. The next Century, Cambridge 2004, 45–56, 51 f.

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3. Die Erde schützen; der Ecocide-Act Wenn man die Lebendigkeit der Erde anerkennt und des Weiteren darin übereinstimmt, dass das, was lebt kraft seiner Lebendigkeit den Anspruch auf Leben für sich reklamieren kann, dann ist auch ihr Schutzanspruch anzuerkennen. Diese Position vertritt bekanntlich der Biozentrismus Albert Schweitzers (1875–1965). In seinem Satz „Ich bin Leben, inmitten von Leben, das leben will“26 beschreibt Schweitzer nicht nur die vis vitalis alles Lebendigen, sondern leitet daraus eine ­normative Kraft ab. Die lebendige Natur genießt demnach bereits aufgrund ihrer Lebendigkeit Schutz. Die lebendige Erde stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Ihr Schutz ist demnach um ihrer selbst willen und nicht erst aus Gründen menschlichen Eigeninteresses zu leisten. Alle anderen guten Gründe zum Schutz der Erde bleiben diesem ersten und grundlegenden nachgeordnet. So ermöglicht eine von anthropogenen Umwelteinflüssen unbeschädigte Erde selbstverständlich der Gegen- und Zukunftsgeneration von Mensch, Tier und Pflanze ein gutes Leben. Die Erde aus diesem Interesse heraus zu schützen, käme jedoch einem Missverständnis gleich, würde es doch die Erde verkürzen auf die Lebensvoraussetzung von anderem Leben. Die damit einhergehende Instrumentalisierung wäre letztlich auch für den Menschen gefährlich, würde er doch fortfahren, die Entfaltungsbedingungen der Erde einzuschränken und damit seine eigenen Lebensbedingungen in Frage stellen.27 Die Erhaltungsforderung der Erde erschöpft sich jedoch nicht in ihrer Basisfunktion für unser Leben, sondern ist auch grundlegend für unser Selbstverständnis: Eben weil wir die Erde in der Weise wie wir es tun, wahrnehmen können, erkennen wir zweierlei: das Eingebettetsein von allem in das Netz des Lebendigen und die normativen Ansprüche von Lebendigem. Diese zu achten, ergibt sich nicht erst aus funktionalen Notwendigkeiten, sondern aus der Einsicht in die Struktur des Lebens. Die vis vitalis reklamiert ein primäres Recht, das zwar nicht in jedem Falle zu achten ist, in jedem Falle aber nur unter Rückbezug auf gute Gründe miss J. Scott Turner kommt von seiner Untersuchung des kleinen Superorganismus Termitenhügel aus zur Beschreibung von Gaia: „An emergent homeosthasis for Gaia implies that the bio­sphere comprises a variety of such complementary and mutually coordinated extended organisms. The adaptive modification of the physical environment need not be something as tangible as a termite mound: it could include modifications of fluid density, wind speed, concentration of particular substances, oxidation sate and so forth.“ Ders., „Gaia, Extended Organisms and Emergent Homeostasis“, in: Stephen Schneider (Hg.) et al, Scientists Debate Gaia. The next Century, Cambridge 2004, 57–70, 68. Kritisch dazu unter anderem James W. Kirchner (ders., „The Gaia Hypothesis: Fact, Theory, and Wishful Thinking“, in: Climatic Change 52 (2002), 391–408), der glaubt, dass die von der Gaia-Theorie behaupteten Feedback-Wirkungen auf die Energiebilanz der Erde auch ohne die Annahme eines autonom agierenden sich selbstregulierenden Systems erklärbar seien. 26  Albert Schweitzer, Ehrfurcht vor dem Leben. Ausgewählte Werke 5, München 1966, 180. 27  Zur diesbezüglichen Kritik an der Inkonsistenz des Anthropozentrismus, siehe Robert Spaemann, „Technische Eingriffe in die Natur“, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, 180–206, 197.

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achtet werden darf. Für die nachhaltige Schädigung der Erde sind solche guten Gründe nicht denkbar, ihre nachhaltige Achtung und ihr Schutz daher eine ge­ botene Selbstverständlichkeit. In diesem Sinne kann auch der Vorstoß zur Implementierung des Ecocid-Acts verstanden werden: Unter Ecocide soll dabei die nachhaltige Zerstörung der Erde verstanden werden. Der Begriff des Ecocide, der 1973 von dem amerikanischen Botaniker und Bioethiker Arthur W. Galston (gest. 2008) angesichts der gigan­tischen Umweltzerstörungen durch den Vietnamkrieg geprägt wurde28, ist vor einiger Zeit durch die britische Journalistin Polly Higgins neu ins Bewusstsein gerufen worden.29 Mittlerweile wird die Forderung nach einer Ächtung des Ecocide von einer europäischen Bürgerinitiative getragen30 und der Ecocide als „fünftes Verbrechen gegen den Frieden“ begriffen. Demnach soll der Ecocide gleichrangig neben den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den Genozid, den Kriegsverbrechen und dem Verbrechen der Aggression gestellt werden. Diese im Rom-Statut31 bereits anerkannten Verbrechen gelten als Verbrechen gegen den Frieden. Die Anhänger der Ecocide-Idee denken bei dem neuen Gesetzesartikel, den sie in das internationale Recht implementieren wollen, an ganz konkrete Vergehen gegen die Erde, so an die Zerstörung des Regenwaldes oder die Vergiftung des Wassers und der Böden. Wenngleich eine Anerkennung des Ecocide auf internationaler Ebene bislang in weiter Ferne ist, so findet man dennoch bereits ähnliche Regelungen im nationalen Recht von etwa einem Dutzend Staaten. Es ist auffallend, dass mit Ausnahme von Vietnam ausschließlich Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion den Straftatbestand des Ecocide kennen.32 Alle diese Staaten verstehen dabei unter „Ecocide“ mehr oder weniger dasselbe, nämlich die „extensive Zerstörung von Flora und Fauna“, die „Kontaminierung der Böden und des Wassers“ oder die Verursachung von Umwelt-Katastrophen, wie es übereinstimmend in Georgien, der Ukraine und sogar dem bis heute diktatorisch regierten Weißrussland heißt. Dass ausgerechnet diese Staaten einen so weitreichenden Ansatz zum Schutz der Natur etabliert haben, Staaten also, die über eine schwach ausgebildete rechtsstaat28  Der legendäre schwedische Ministerpräsident Olof Palme bezeichnete 1972 den Vietnamkrieg als einen Ökozid, siehe Human Rights Consortium, School of Advanced Studies, University of London, The Ecocide Project, London 2012, 3 (http://eradicatingecocide.com/wp-content/ uploads/2012/06/Ecocide-is-the-missing-5th-Crime-Against-Peace.pdf, 12.05.2014). 29  Polly Higgins, Eradicating Ecocide, London 2010. Siehe www.sas.ac.uk/hrc/projects/eco cide-project. Siehe auch Human Rights Consortium, School of Advanced Studies, University of London, The Ecocide Project, London 2012. 30 www.oekozid.org/europaische-burgerinitiative (12.05.2014). 31  Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Art. 5. (www.un.org/depts/german/ internatrecht/roemstat1.html#T29; 12.05.2014). 32 https://revolucionalimentaria.wordpress.com/2014/05/02/ecocide-is-a-crime; Human Rights Consortium, School of Advanced Studies, University of London, The Ecocide Project, London 2012, 13. Hier auch der Verweis auf die Artikel der jeweiligen Strafgesetzbücher (12.05.2014).

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liche Tradition verfügen, versetzt der hehren Ecocide-Idee auf der einen Seite einen Dämpfer. Auf der anderen Seite könnte man diesen Vorstoß mit der Lebenswirklichkeit, wie sie sich den Bürgern dieser Staaten darstellt, erklären: Die Verheerungen der sozialistischen Ära erstreckt sich ja nicht alleine auf die soziale Umwelt, welche durch gegenseitiges Misstrauen zersetzt worden ist, sondern auch auf die naturale Umwelt. Die weiträumige Zerstörung der Natur durch den bedenkenlosen Ausstoß von Schadstoffen, durch fahrlässig verursachte Großunfälle oder durch kriegerischen oder testmässigen Einsatz stark invasiver Waffen hat grosse Teile der im Vergleich zu Westeuropa lange Zeit viel ursprünglicheren Natur Eurasiens stark in Mitleidenschaft gezogen oder schlicht unzugänglich gemacht. Und da zeigt sich auch bereits ein Grund für den Ecocide-Paragraphen: Wer sich des Ecocides schuldig macht, wird in Georgien deshalb mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft, weil er seinen Mitmenschen einen eindeutigen und eindeutig schweren Schaden zufügt. Der Schaden ähnelt dabei demjenigen, der unter dem Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bereits bekannt ist: So wird unter diesem Straftatbestand unter anderem auch die Vertreibung genannt. Vertreibung ist gleichbedeutend mit der Beraubung von Heimat. Übertragen auf die Debatte um den Ecocide könnte das bedeuten, dass mit dem neuen Rechtstitel solche Schädigungen des Menschen, wie sie der Verlust an Heimat oder die Gefährdung seiner Gesundheit darstellen, geahndet werden sollen. Dieses Verständnis liegt auch den Initianten der Ecocide-Initiative zu Grunde. Und damit wird bereits die Berechtigung dieses Anliegens offensichtlich. Zugleich könnte man darin aber auch den Grund sehen, auf die Ecocide-Initiative zu verzichten, denn der Gegenstand des Ecocide-Paragraphen ist, so ließe sich argumentieren, bereits durch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgedeckt. Und so trifft es ja zu, dass die von einem Ecocide verursachten Schäden auch bislang bereits als solche in Recht und Ethik anerkannt sind: Die Beraubung von Gesundheit und Heimat kann denn auch ohne einen neuen Rechtsbegriff in seiner Verwerflichkeit gefasst werden, nämlich als Schädigung von Menschen, wobei es im Falle ökologischer Katastrophen um die Schädigung einer sehr großen Zahl von Menschen geht. In diesem Sinne wäre der Vorstoß zum Ecocide-Act weitgehend verzichtbar, würde er doch nicht mehr leisten als bereits existierende Rechte im Rahmen eines Verbots von Verbrechen gegen den Frieden. Der Sinn des Ecocide-Acts reicht indes tiefer: Es geht gerade nicht alleine um die für den Menschen nachteiligen Effekte dieser Friedensverletzung, sondern um die Erde als solcher. In diesem Sinne ist ja auch das Genozid-Verbot nicht etwa durch das Mordverbot hinfällig: Stellt der Mord eines Menschen eine verwerfliche Missachtung seines Lebensrechtes dar, so potenziert der Genozid diesen Greuel nicht alleine wegen der großen Zahl der Opfer, sondern auch weil mit ihr die hehre Idee der Menschheit insgesamt missachtet wird und dies nicht erst im Faktum des Mordes, sondern bereits durch die Zerstörung der kulturellen Identität eines Volkes. Raphael Lemkin (1900–1959), der die Begründung des Genozid-Verbotes für

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die Vereinten Nationen entwarf, verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff des „Vandalismus“. Es ist dieser Vandalismus, der nach Lemkins Ansicht ebenso unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit angreift wie der Mord.33 Kultureller Vandalismus kann dabei als eine schleichende Tötung verstanden werden, greift er doch an die „Seele“ einer Gemeinschaft, wie Lemkin sich ausdrückt. Überträgt man die hier reklamierte Vorstellung der Seele auf den ökologischen Kontext, dann wird deutlich, dass die bisherigen Überlegungen zum Ecocide auf halbem Wege stehen geblieben sind und erst aufgehen, wenn sie auf die Gaia-­ Theorie ausgeweitet werden. Unabhängig also von der existentialen Bedeutung, welche die Erde für das Überleben der Menschheit hat, ist diese zu schützen. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Verständnis der Erde als eines Wesens. Ein biozentrisches Verständnis eines Wesens anerkennt dessen eigenes Recht, das nicht etwa erst instrumentell aus dem Wert für andere sich ableiten lässt. Auf der politischen Agenda hat diese Vorstellung in der von Bolivien initiierten „Allgemeinen Erklärung der Rechte der Mutter Erde“ ihren Ausdruck gefunden. Dort heisst es: „1. Die Mutter Erde ist ein lebendes Wesen. 2. Die Mutter Erde ist eine einzigartige, einheitliche, selbstregulierende Einheit von miteinander verbundenen Wesen, die alle Lebewesen erhält und in ihrem Leben ermöglicht. 3. Jedes Lebewesen ist durch seine Beziehung zur Mutter Erde, deren integraler Teil es ist, bestimmt.“34 Der Primat des Ganzen, dessen Teil jedes Glied ist, das selbst am Ganzen mitwirkt und durch dieses bewirkt ist, lässt sich zwar ignorieren; jedoch nur um den Preis der Selbstvernichtung und tendenziell der Zerstörung von Allem.

4. Weiter wandern Aufmerksamen Beobachtern, wie den eingangs zu Wort gekommenen Dichtern ist dieser Zusammenhang gewahr geworden: Alles hängt mit allem zusammen und das Ganze der Natur ist eine Wesenheit aus eigenem Recht. Wanderer sind auch Mahner, denn sie sehen auch das, was man nicht mehr sehen kann. So sah Ludwig Klages (1872–1956) auf seinen Wanderungen durch Schweizer Wälder all die Tiere und Pflanzen, die man in Europa mittlerweile nicht mehr sehen konnte und sprach entsprechend von einem „Vernichtungskrieg“ gegen die Natur.35 Was Klages dramatisch vermisste, fanden ein Menschenleben früher die amerikanischen Naturalisten Ralph Waldo Emerson (1803–1882) und Henry David Thoreau (1817–1862) in 33  Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation – Analysis of Govern­ ment – Proposals for Redress, Washington DC 1944, 91. Zitiert bei Human Rights Consortium, School of Advanced Studies, University of London, The Ecocide Project, London 2012, 7. 34  In: Polly Higgins, Eradicating Ecocide, London 2010, 156. 35  Ludwig Klages, Mensch und Erde. Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1973, 3.

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den Wäldern Massachusetts’ noch vor. Emerson erkennt hier „Wesenheiten, die der Mensch nicht verändert hat“36 und die zu verändern ihm nicht zusteht. Das Wesen der Natur soll aber auch deshalb unangetastet bleiben, weil die große Natur die kleine Natur des Menschen umfasst und ihr Lebenselixier ist: „In den Wäldern wirft der Mensch seine Jahre von sich wie eine Schlange ihre Haut.“37 Die physiologische Kraft, welche der Mensch aus der Natur schöpft, wird zur Voraussetzung seiner moralischen Kraft, kehren wir doch, wie Emerson überzeugt ist, in den „Wäldern […] zur Vernunft und zum Glauben zurück“ und finden letztlich zur Harmonie und auch zum Selbstvertrauen.38 Zugleich erkennt Emerson in der Natur eine pädagogische und eine quasi moralische Dimension: Denn die Naturbetrachtung offenbart die große Verwandtschaft aller Kreatur und zeigt, dass „ihre Gleichheit größer ist als ihre Verschiedenheit.“39 Emerson verweigert sich damit einer Hierarchisierung der Natur: Weil die Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen, ist es unangemessen, eines dem anderen als vorrangig anzusehen. Für eine Wertung, die etwa ein höheres Lebensrecht des einen gegenüber dem anderen zum Inhalt hätte, gibt es auf der Ebene der einzelnen Naturphänomene keine Berechtigung. So wie für die einzelnen Naturphänomene, so gilt für die Natur insgesamt, dass sie zu wahren ist. Denn die „Einheit der Natur (ist) Einheit in der Vielfalt.“40 Henry David Thoreau begibt sich wie in einer Verpuppung in die Natur. Am Ufer des Walden Pond lebt der später berühmte Autor mehr als zwei Jahre lang in selbstgewählter Waldeinsamkeit. Das Leben in der Natur lehrt Thoreau, den Sinn, auf den es im Leben ankommt und die Einsicht, dass der materielle Überfluss nur eine Ablenkung vom Wesentlichen ist. Allzu leicht verleiht der Konsum zu Eitelkeit, sodass man sich im wahrsten Sinne in seinem Besitz verliert.41 Daher fordert Thoreau seine Leser auf, die Kosten der materiellen Dinge, mit denen sie sich umgeben, zu bedenken. Von der Naturperspektive aus betrachtet, wird einem deutlich, dass die Kosten eines materiellen Gutes dem Leben entsprechen, welches in dasselbe eingegangen ist. Thoreau schärft mithin den Blick für die wahren Kosten, die nicht etwa pekuniärer, sondern im wörtlichen Sinne materieller Art sind: Die Güter, die wir industriell herstellen und konsumieren, sind verwandelte und verbrauchte Natur, sie „kosten daher das an Leben, das in sie eingegangen ist.“42 Jenseits des naturalen Ungleichgewichts produziert die materielle Wohlfahrt auch soziale Ungleichheit, denn „der Luxus der einen wird durch die Armut der anderen ausgeglichen.“43 Materielle Güterproduktion und materieller Wohlstand sind für 36 

Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Stuttgart 1982, 1836, 86. Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Stuttgart 1982, 1836, 88. 38  Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Stuttgart 1982, 1836, 89. 39  Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Stuttgart 1982, 1836, 116. 40  Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Stuttgart 1982, 1836, 115. 41  Henry David Thoreau, Walden, New York 1986, 67. 42  Henry David Thoreau, Walden, New York 1986, 73. 43  Henry David Thoreau, Walden, New York 1986, 77. 37 

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Thoreau also keine Win-Win-Situation: Einer zahlt immer und die Verluste werden lediglich weiter verschoben. Liest man heute Thoreaus Kritik am Konsumgebaren seiner amerikanischen Zeitgenossen, kommt es einem beinahe vor als läse man einen Bericht zu den Ursachen der US-amerikanischen Immobilienkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Welchen Sinn macht es eigentlich, fragt Thoreau, dass man sich immer mehr leistet, das man nicht bezahlen kann? Denn schliesslich landet man, kurz bevor man stirbt, bei „leeren Gästezimmern für leere Gäste“.44 Sein Leben in der Natur hat Thoreaus Wahrnehmung geschärft, vom schönen Schein einer falschen Wirklichkeit lässt er sich nicht mehr täuschen: „Wenn ich betrachte, wie unsere Häuser gebaut und bezahlt sind, oder vielmehr nicht bezahlt sind, dann wundere ich mich,“ schreibt Thoreau, „dass der Boden unter den ­Füssen des Besuchers, der all die Herrlichkeit bewundert, nicht nachgibt, so dass er in den Keller stürzt, wo er dann auf dem einzig wahren Grund und Boden landen ­w ürde.“45 Der Reichtum, dessen sich die konsumorientierten Gesellschaften rühmen, ist also faul und marode und der vorübergehende Wohlstand ist bezahlt mit dem Kappen unserer Verbindung zur Natur. Die rasante Mehrung ökonomischen Wohlstands hat die Menschen ihrer Verbindung mit der Natur entledigt und das bis in unsere Zeit nahezu grenzenlose Wachstum des Konsums löscht die letzten Spuren unserer ursprünglichen Naturverbundenheit. Nur die materielle Bescheidung, die die beiden amerikanischen Transzendentalisten Emerson und Thoreau empfehlen, hilft, die Natur zu bewahren und zugleich eine Selbstgenügsamkeit zu erlangen. Ein Großteil der Ignoranz gegenüber der Natur ist demnach schlicht der mangelnden Wahrnehmung derselben geschuldet. Die beste Schule der Wahrnehmung ist aber die Auseinandersetzung mit den Objekten der Wahrnehmung: Nur in der Natur und nicht in der Theorie, lernt man die Natur wahrzunehmen; nur das Leben in der Natur schult den Sinn für die Natur, nur, was wahrgenommen wird, kann auch wertgeschätzt werden.

5. Leben wahrnehmen Die Erde und mit ihr die um ihre Heimat gebrachten Menschen scheinen aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Wehrt sich erstere mit einer dramatischen Zunahme von Naturkatastrophen, die fast im Halbjahresrhythmus von der neuesten Jahrhundertflut, Jahrhundertdürre oder sonstig einmalig gigantischen Verwüstung reden lässt, so flieht der Mensch massenweise in immer entlegenere Weltre44  45 

Henry David Thoreau, Walden, New York 1986, 78. Henry David Thoreau, Walden, New York 1986, 80.

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gionen, die damit ihre Entlegenheit ebenso einbüßen wie auch ihren Reiz: Ob Tauchen im Blautopf, Bergsteigen am Mount Everest oder Motorschlittenrennen in der Arktis: Immer sind schon Menschen in großer Zahl da, die auch die Natureinsamkeit suchen und statt dessen den großen Rummelplatz finden. Von hieraus sehen die meisten nur noch die Möglichkeit zum Rückzug in die virtuelle Existenz und damit dem Aufgeben der Verbindung zur mit anderem Leben geteilten Welt. Wenn eine solche Lebensweise als einsam erscheint, dann wohl auch, weil die Allmachtsvorstellung, die Erde, dieses große Wesen, entweder beherrschen oder aber auf sie verzichten zu können, nicht aufgeht. Ohne die Erde werden Menschen nicht sein, in der Missachtung der Erde hören sie bereits auf zu sein.

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Herren und Meister der Natur und Umwelt: Maßlosigkeit oder Zukunftssicherung? Dargestellt am Beispiel der sogenannten „Zwischenstadt“

Hartmut Leser „Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind.“1 Max Frisch „Bewegtheit ohne Bezugspunkt wird […] zu einem Verlieren im Chaos. Und Bezugspunkte fehlen uns überall. Und weil sie fehlen, wird der Mensch heimatlos, entfremdet. Die Welt wird ihm abstrakt, zu abstrakt.“2 Hans Boesch

1. Worum geht es? Sind beide Eingangszitate Gegensätze oder Komplementaritäten? Dazu nachstehende Gedanken: Der Techniker sieht das, was ist. Seine Sichtweise kann eingeengt sein auf jene Sachverhalte, die in seinem fachlichen Blickfeld liegen. Gleichwohl fragt man sich, ob damit das ganze Sein der Dinge erfasst ist, etwa jene Dinge, die dem Menschen Bezugspunkte liefern – sei es für die räumliche, sei es für die psychische Orientierung. Die während der letzten drei, vier Jahrzehnte laufenden Diskussionen über Umwelt, Natur, Raum, Landschaft usw. belegen nicht nur Meinungsvielfalt, sondern auch ganz verschiedene Sichtweisen, die sich jeweils auf Ausbildung/Bildung, Mentalität, wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen gründen. Die gelegentlich geäußerte Erwartung, beispielsweise über Natur oder Landschaft zu einem einheitlichen Begriffsverständnis zu gelangen, geht fehl, weil sich diese Gegenstände nicht in Maß und Zahl fassen lassen. Auch dies ist eine Erwartung – nicht nur des Technikers, sondern auch des Politikers, der Ent1  Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht, in: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main 1976, 5–203. 2  Hans Boesch / Elsbeth Pulver (Hgg.), Die sinnliche Stadt. Essays zur modernen Urbanistik, Zürich 2001, 131.

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scheidungen zu fällen hat und sich gern an sogenannten objektiven Sachverhalten orientieren möchte. Man möchte die Umweltprobleme meistern, müsste jedoch ehrlicherweise zugeben, dass das angesichts der Komplexitäten der Struktur und Funktion unserer Lebensumwelt nicht möglich ist – oder allenfalls mit Abstrichen. Der politische Entscheidungsträger sieht dann aber seine Herrschaft eingeschränkt. Abgesehen vom Politiker nimmt auch der sogenannte einfache Bürger den realen Landschaftskomplex als einen Lebensraum mit diversen ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Problemen wahr. Im Gegensatz zu manch einem Politiker sieht er die Probleme als real an, vor allem weil er sie physisch und psychisch spürt. Manche dieser „Probleme“ erlebt er auch als Gefahr oder als Katastrophe. Darauf basiert der Begriff ökologischer Problemraum3. Betrachtet man den Lebensraum aus der Sicht des erwähnten Technikers, kann er real als ökologischer Problemraum eingeschätzt und durch messbare Fakten wie Stadtklima, Bodenerosion, Gewässerverschmutzung, Pendlerverkehr, Kriminalstatistik, Frequenzen von Bahnen usw. nachgewiesen werden. Darüber hinaus gibt es jedoch auch noch etwas zu spüren, was nur zum Teil mit Maß und Zahl erfassbar ist. Die Fülle der Technik und Infrastrukturen im Lebensraum, soziale Entfremdung durch fehlende Nachbarschaftlichkeit, lange Arbeitswege, hohe Ausländeranteile, überbevölkerte Stadtquartiere usw. werden vom Menschen als belastend oder gar als bedrohlich wahrgenommen, manchmal auch als Chaos4. Diese Vorstellung von „Druck“, „Enge“ oder gar von „Bedrohung“, also von einem schwer zu definierenden und individuell sehr verschiedenen psychosozialen Konstrukt, repräsentiert die nicht-technische bzw. nicht-naturwissenschaftliche Seite des ökologischen Problemraums. So gesehen ist dieser Aspekt des ökologischen Problemraums, wenn man ihn räumlich verortet, eine „psychosoziale Landkarte“ – quasi eine mental map der Empfindungen, Sorgen und Nöte des Menschen, der in diesem Raum lebt. Zu beachten ist, dass zum Hintergrund dieses Konstrukts – mehr oder weniger bewusst – in jedem Fall auch die technischen und die naturwissenschaftlichen Komponenten des Lebensraumes gehören. Der Begriff ökologischer Problemraum umfasst demnach sowohl den natürlichen Teil des biotischen und abiotischen Systemkomplexes einer Landschaft, also eines Lebensraumes, als auch den sozialen und ökonomischen Teil, einschließlich der Man-made disasters, wie Chemieunfälle oder Kernkraftwerkskatastro3  Edith Beising, „Ökologische Problemzonen: Wahrnehmung und Darstellung der Sensitivität der Landschaft und ihres Risikopotentials. Erarbeitung von Grundlagen am Beispiel des Hochrheintals zwischen Grenzach und Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 45 (2013), 1–272; Hartmut Leser, „Ökologische Problemzonen und nachhaltige Landschaftsnutzung“, in: Rita Colantonio Venturelli / Kai Tobias (Hgg.), La cultura del paesaggio. Le sue origini, la situazione attuale e le prospettive future, Firenze 2005, 213–228. 4  Zum „Chaos“ siehe die Beiträge in Piero Onori (Hg.), Chaos in der Wissenschaft. Nicht­ lineare Dynamik im interdisziplinären Gespräch, Liestal 1997, 1–268. Darin auch Hartmut Leser und Christa Kempel-Eggenberger, „Landschaftsökologie und Chaosforschung“, 184–210.

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phen. Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass der Begriff „ökologischer Problemraum“ auf einer ganzheitlichen Betrachtung (H. Leser4) beruht. Fachwissenschaften wie Geographie, Landschaftsökologie, Landschaftspflege oder Biologische Ökologie verlangen für die Betrachtung komplexer Räume und Raumfunktionen einen holistischen Ansatz. Das würde an sich auch für die raumbezogenen Planungen aller Art gelten, sei es als Orts- oder Stadtplanung, sei es als größerräumige Regionalplanung. Die Wahrnehmung der Umwelt als Problemraum, als „Chaos“ mit „Druck“ bzw. „Bedrohung“, wird mit „Fehlplanung“ oder politischen Unentschiedenheiten erklärt. Zu Recht setzt der Bewohner eines Lebensraumes seine Problemwahrnehmung dort in Beziehung zur Politik, Planung und Raumordnung, denn in jenen Bereichen wird entschieden, geplant und gehandelt. Bei der Frage nach Ursachen und Verursachern im weitesten Sinne entsteht der Eindruck, dass es für Umweltprobleme und für Fehlplanungen anscheinend keine konkreten Verantwortlichen mehr gibt – es fehlt quasi der Adressat. Das haben überregional bekannte Beispiele bewiesen wie der Flughafen Berlin Brandenburg, die in Basel konzipierte Hamburger Elbphilharmonie, der Tiefbahnhof Stuttgart 21 oder die Atomkatastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011). In genau diesen Zusammenhang passt auch die große Nüchternheit des Max Frisch-Zitats: „Man“ ist zwar beteiligt, sozusagen am Technischen, aber nicht verantwortlich für die Technikfolgen. Es gibt zwar eine deklamatorische Verantwortung, die in praxi jedoch nicht eingelöst wird – auch auf Grund der zahlreichen Beteiligten. Und: Die Ausweitung der Handlungsfähigkeit schiebt die Grenzen der Verantwortung ins Undefinierbare, denn an sich ist Verantwortung nicht an ein System delegierbar, sondern die Haltung eines Einzelnen.5 Dieser muss die Frage nach den Gründen und Folgen seines Handelns in der Wirklichkeit stellen.6 Gleichwohl lassen sich bei den vermeintlich oder tatsächlich Verantwortlichen, jedenfalls bei den Entscheidern, Machtanspruch und Einfordern von Deutungshoheit erkennen. Doch die Realität zeigt: Politiker verweisen auf die Fachleute, die Fachleute auf die Politiker, ohne dass man sich fragt, – ob die Projekte einfach zu groß bzw. zu komplex sind, um planerisch und technisch korrekt bewältigt werden zu können? Oder – von welchem Funktions- und damit Umweltverständnis ist man eigentlich bei diesen Projekten ausgegangen? (Max Frisch hätte das gefragt!) Oder – hat man seitens Bauherrschaft, Planung und Politik (bei Großprojekten meist ein undefinierbares Konglomerat) auch an den Menschen, den Nutzer bzw. den Betroffenen gedacht? 5  Markus Vogt, Die Freiheit der Verantwortung, 50. Aeneas-Silvius-Vorlesung am 05.11.2013, Universität Basel. 6  Konrad Paul Liessmann, Rede und Antwort. Über Macht, Moral und das Prinzip Verantwortung, Keynote-Vortrag 58. Deutschen Geographentag 2013 in Passau am 04.10.2013, Universität Passau.

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Hinzu kommt der Mangel an Grundlagenwissen. Dass es für planerische und politische Entscheidungen eines Minimumwissens in Sachen ökologischer Prozesse und Raumverständnisses bedarf, wird inzwischen noch nicht einmal als Frage gestellt. Wenn Fachabteilungen in Planungs- und Umweltämtern nur noch mit Juristen besetzt sind, anstatt mit Fachpersonen, dann stimmt etwas nicht am politischen und gesellschaftlichen Denken. Dazu verfolgt dieser Beitrag zwei Hypothesen: – Umweltdenken ist gesellschaftliches Denken. – Verantwortliches Handeln setzt Umweltdenken voraus. Beispiele aus zwei Sachgebieten sollen dies verdeutlichen: Einmal das Feld der Umweltdefinition und des Umwelthandelns – ein eher begrifflich-theoretischer Bereich. Dann das Feld der Umweltplanung, hier der Regionalplanung, mit Bezug auf die Agglomerationen und die Zersiedelung, wofür die Regio Basiliensis den gedanklichen Hintergrund bildet.7 Dass all dies mit dem im Raum, also in Stadt und Landschaft lebenden Menschen, dem Individuum zu tun hat, dürfte jedem bewusst sein. Das hat demzufolge auch mit Gefühl, Geborgenheit, auch mit „Heimat“, zu tun – also Aspekten, die man im aktuellen politischen und planerischen Handeln vermisst oder die lediglich als Schlagwörter verwendet werden.

2. Umwelt und Verantwortung und Geographie Wir leben in einer Welt des Gigantismus – verbal (Werbung!), ökonomisch (Fusio­ nen!), politisch (Bündnisse!). Alles ist groß und komplex und damit zugleich unüberschaubar und nicht mehr beherrschbar. Wirtschaftsführer oder Politiker fordern globales Denken und Handeln. Doch es werden weder die Handlungen definiert noch dafür real existierende Verantwortliche benannt. Auch werden keine 7  Als Regionalliteraturauswahl siehe Edith Beising, „Ökologische Problemzonen: Wahrnehmung und Darstellung der Sensitivität der Landschaft und ihres Risikopotentials. Erarbeitung von Grundlagen am Beispiel des Hochrheintals zwischen Grenzach und Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 45 (2013), 1–272; Matthias Bleile, „Entwicklung der Landschaftszerschneidung im Hochrheintal. Darstellung und Auswertung für die Jahre 1930, 1955, 1980 und 2005“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 51/2 (2010), 73–81; Hartmut Leser / Rita Schneider-Sliwa, „Die ‚Spinne‘ und der Ring – Masterplanung für die Region“, in: Uni Nova, Wissenschaftsmagazin der Universität Basel 84 (1999), 26–29; Patrick Leypoldt / Jessica Fässler, Strategie 2030. Trinationale Agglomeration Basel. Agglomerationsprogramm Basel. 2. Generation, Liestal 2012. Dazu vier ausführliche Berichte unter www.agglo basel.org; Angelika Neudecker, „Kulturlandschaftswandel seit 1900: Ausmass, Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und ethische Dimension. Beispiel: Verwaltungsgemeinschaft Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 44 (2012), 1–193; Nicole Wehrli Sarmiento, „Siedlungswachstum im schweizerischen Leimental und die Rolle der Raumplanung“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 51/1 (2010), 11–16; Dieter Wronsky, „Die Dreiländer-Agglomeration Basel – mehr als die Summe ihrer Teile? Ansätze zu Perspektiven von Siedlung und Verkehr“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 35/1 (1994), 43–52.

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Lösungswege vorgeschlagen, wie all das zu realisieren wäre, und zwar Realisieren in einer Art und Weise, die an der Basis – beim Individuum im konkreten Lebensraum – als noch würdig, verträglich, wirtlich empfunden wird. Schon vor Jahrzehnten wies die Streitschrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“8 auf diese Problematik hin – offenbar von den sogenannten „Verantwortlichen“ nicht wahrgenommen. Zwischen globaler Politik und Wirtschaft einerseits und der Erfahrungs- und Erlebnisebene der Individuen andererseits klaffen tiefe Gräben. Mit „Individuum“ sind nicht nur Mitteleuropäer gemeint, sondern auch die Schaf- und Ziegenhalter im Sahel, die Kaffeeanbauer im Hochland Äthiopiens, die Kinderarbeiter der Ziegeleien Asiens, die Hartz IV-Empfänger in Deutschland oder die namenlosen Arbeitslosen, wie sie in aller Welt vorkommen. Alle haben eine Umwelt, alle leben in dieser. Und bei allen verändern sich Um- und Mitwelt ständig. Bei Fragen nach der Umwelt stellt sich auch die Frage nach („der“? bzw. „einer“?) Verantwortung .9 Zwar ist in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und natürlich auch in den Wissenschaften viel die Rede von „Verantwortung für die Umwelt“. Doch wird nicht hinterfragt, was sich alles hinter dem Begriff „Umwelt“ verbirgt bzw. auf welche der vielen Umwelt-Definitionen sich die vermeintlich oder tatsächlich übernommene Verantwortung bezieht. Noch nie ist so viel von Verantwortung geredet worden wie seit den Energiekrisen und den Umwelt- und Bevölkerungskatastrophen des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Um es kurz zu machen: Egal ob Entscheidungen über Raumplanung, Landschaftsverbrauch, Luftreinhaltung, Energiesparen oder über Minderung des privaten Autoverkehrs oder des Fleischkonsums anstanden – es gab immer die Ausrede, es sei politisch oder wirtschaftlich nicht opportun, dies oder jenes zu beschränken oder zu fördern. Gefragt wurde auch nicht, was diese oder jene Maßnahme für Mensch, Umwelt, Natur und deren Wahrnehmung oder Erleben bedeutet. Ein Sprung zum Fach Geographie und der Landschaftsökologie. In beiden Fachbereichen geht es um die Welt in der wir leben, die als „Geographische Realität“10 definiert wird (Abb. 1). Der Begriff drückt das Wirkungsgefüge Natur, Gesellschaft, Technik aus, das nur in einer holistischen Betrachtung realitätsnah wahrgenommen werden kann. Damit steht der Fachbereich Geographie zwischen historischen und naturwissenschaftlichen sowie den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen  8  Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main, 27. Aufl. 2013.  9  Anja Leser / Daniel Burkhard, „Wirtschaftsethik“, in: Philosophisches Themendossier 4 (2012), 1–24; Markus Vogt, Die Freiheit der Verantwortung, 50. Aeneas-Silvius-Vorlesung am 05.11.2013, Universität Basel; Konrad Paul Liessmann, Rede und Antwort. Über Macht, Moral und das Prinzip Verantwortung, Keynote-Vortrag 58. Deutschen Geographentag 2013 in Passau am 04.10.2013, Universität Passau. 10  Ernst Neef, Die theoretischen Grundlagen der Landschaftslehre, Gotha 1967.

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Fächern als umweltbezogene Geo- und Raumwissenschaft. Es wäre ein Irrtum zu glauben, es ginge bei den Begriffen „Geographische Realität“ und „Wirkungsgefüge“ um fachlich Spezielles. Vielmehr geht es um Ansätze, die in enger Beziehung zu unser aller Leben, Wirtschaften und Handeln stehen. Es geht um Raumwissenschaft, also um jenen Raum, den der Mensch nutzt und bewirtschaftet, aber den er auch schont und schützt. Der wissenschaftliche und praktische Umgang mit der Geographischen Realität bedeutet nicht einfach nur „Arbeiten im Raum“, z. B. an einem Standort oder an einem Fundort, sondern Arbeiten in einem die Gesamtlandschaft erfassenden drei- bzw. vierdimensionalen Wirkungsgefüge (Abb. 1).

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Abb. 1:  Schema der „Aspekte geographischen Denkens und Arbeitens“ (aus: H. Leser & R. Schneider-Sliwa 1999; Original: H. Leser 1998). Die „Geographische Realität“, manifestiert in der „Landschaft“ und für Forschung und ­Praxis modelliert in diversen Landschaftsökosystemmodellen, erweist sich als komplexes Beziehungs- und Wirkungsgefüge zwischen Mensch und Umwelt. Das drückt sich sichtbar im Raummuster der Landschaft, aber auch im ökologischen und ökonomischen Prozessgeschehen aus. Obwohl Letzteres meist unsichtbar ist, gehen auch davon direkte und indirekte Raumwirkungen aus. Geographie beschäftigt sich demnach nicht nur mit dem Sichtbaren der Landschaft, sondern auch mit den weniger sichtbaren oder unsichtbaren wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ethnischen „Kräften“, die integraler Bestandteil des Mensch-Umwelt-Systems sind. Bei der Betrachtung der Geographischen Realität spielen zudem Vergangenheit und Zukunft eine Rolle: Landschaften werden auf der Zeitachse betrachtet.

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Noch eine Begriffspräzisierung: Gegenstände des Faches „Landschaftsökologie“ sind nicht nur Feld, Wald und Wiese, sondern auch die Stadt und die Agglomeration. Das heißt: Der Zusammenhang Mensch-Umwelt steht im Mittelpunkt, der – wie gesagt – als Geographische Realität erlebt, also gesehen, gerochen und gehört (und vielleicht auch erlitten) werden kann. Durch diesen Lebensraum-Mensch-Gesellschafts-Bezug stehen die Fachbereiche Geographie und Landschaftsökologie als Fachwissenschaften auch in einer sozialen Verantwortung.

3. Was ist Umwelt? Was ist Landschaft? Das Thema der Ringvorlesung, zu dem dieser Beitrag entstand, lautete: „Verantwortung für die Umwelt aus interdisziplinär-ethischer Sicht“. Das hat aus geographischer Fachsicht z. B. etwas mit der Landschaftsforschung Alexander von Humboldts zu tun, aber auch mit den sogenannten modernen Umweltwissenschaften. Natürlich weiß man ungefähr, was „Umwelt“ bedeutet. Bekanntlich füllt jeder Mensch den Begriff für sich – eben „ungefähr“. Für die Fülle der allgemeinen und speziellen Umweltbegriffe sei auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen, wo sich nachstehende Definitionen finden: Umwelt (Milieu) environment, milieu: 1. Allgemein: die Lebensumwelt von Organismen, d. h. der Bereich, in dem sich Leben (Tier, Pflanze, Mensch) abspielt. – 2. Biozentrische Definition: die U. ist die gesamte Umgebung eines Organismus oder einer Organismengruppe, die von einem  Wirkungsgefüge11  abiotischer,  biotischer und  anthropogener Faktoren ausgemacht wird, zu denen der Organismus (die Organismen) in direkten und indirekten Wechselbeziehungen steht (stehen), deren Qualität für die Existenz und das Wohlbefinden des/der Lebewesen(s) entscheidend ist. – 3. Umweltzentrische Definition: die U. ist das Milieu, in dem sich Lebewesen aufhalten und zu dem sie in vielfältigen Wechselwirkungen stehen oder auf das sie einseitig intensiv einwirken können, so dass es zu unerwarteten Reaktionen der U. kommt. Das  Wirkungsgefüge der U. wird als  System definiert, d. h. als  Umweltsystem. – 4. Der Begriff U. wird in Wissenschaft und Praxis sehr unterschiedlich interpretiert: (i): in  Biologie und  Bioökologie wird U. oft auf eine  Minimalumwelt reduziert, welche nur den Komplex der unbedingt lebensnotwendigen  Ökofaktoren in der Umgebung eines Organismus umfasst, so dass er überleben und sich vermehren kann. – (ii): in  Anthropologie und Psychologie wird U. auf psychisch relevante U.-Beziehungen eines Organismus reduziert, wobei diese U. als „Eigenwelt“ der des Organismus gegenüber gestellt wird. – (iii): die Biologie versteht darunter auch die Gesamtheit aller äußeren und inneren Faktoren und Bedingungen, welche die genetischen Informationen beeinflussen und somit die Merkmalsausprägung eines Organismus im Sinne des  Phänotyps bewirken, der demzufolge aus dem  Genotyp und den U.-Bedingungen resultiert. – (iv): in verschiedenen Geo- und Biowissenschaften, die mit Raumbezug arbeiten und dem Ansatz der  Landschaftsökologie folgen, wird unter U. das  Bioöko­system, 11  Die Verweispfeile beziehen sich auf Begriffe in Hartmut Leser (Hg.), Diercke Wörterbuch Geographie – Raum – Wirtschaft und Gesellschaft – Umwelt, Braunschweig, 15., völlig überarbeitete Auflage 2011 (= Wörterbuch Geographie).

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das  Geoökosystem, das  Ökosystem bzw. das  Landschaftsökosystem verstanden. Die begrifflichen Unterschiede beruhen auf dem jeweiligen Betrachtungsmodell, das man fachwissenschaftlich verfolgt. – (v): in  Geographie,  Angewandter Geographie,  Angewandter Ökologie oder  Angewandter Landschaftsökologie wird U. komplex, aber unter verschiedenen Schwerpunkten betrachtet. Man unterscheidet z. B. natürliche bzw. physische U., soziale U., kulturelle U., technische U. Dabei repräsentiert die natürliche U. die Gesamtheit der  abiotischen und  biotischen Ökofaktoren bzw.  Landschaftshaushaltsfaktoren im Sinne des  Ökosystems bzw.  Landschaftsökosystems. Die soziale U. umfasst die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens, wobei die natürlichen (bzw.  naturbürtigen) Grundlagen des Lebens aus der Betrachtung oft ausgeschlossen bleiben. Die technische U. repräsentiert die  technogenen und technisch-infrastrukturellen Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens, die sich direkt oder indirekt auf die U. bzw. die  Umweltqualität auswirken.12

Die Begriffsfülle belegt zunächst einmal eine sachlich erforderliche inhaltliche Vielfalt der Definition des Begriffes „Umwelt“. Sie verdeutlicht jedoch auch, dass der Begriff nicht beliebig eingesetzt werden kann. Wird also in Politik, Wirtschaft, Planung und Raumordnung (aber auch in verschiedenen Geistes- und Naturwissenschaften!) mit dem Begriff gearbeitet, muss die jeweils eingesetzte Umweltdefinition benannt werden. Dies hat nicht nur in den Anwenderbereichen der Praxis (Politik, Wirtschaft etc.), sondern auch in den Wissenschaften selbst zu erfolgen, wenn man von „Verantwortung für die Umwelt“ reden und diese auch wahrnehmen möchte. Ansonsten wäre der nicht exakt bezeichnete Umweltbegriff eine bequeme „verbale Mogelpackung“. Dass dem jedoch in Tat und Wahrheit so ist, belegt die letztlich politisch veranlasste und real existierende Raumrealität, an der sich der Durchschnittsbürger oft stößt. Nimmt man z. B. aus den Definitionen einige Schlagwörter heraus, geht es im einfachsten Fall um Bios und Geos, also um biotische und abiotische Faktoren, die zusammen als sogenannte „Natur“ ein Wirkungsgefüge bilden, das vom Menschen genutzt und verändert wird. Und „Mensch“ wiederum bedeutet, dass sozial, ökonomisch, technisch und kulturell in der Umwelt agiert wird. Das kann Planung, das kann aber auch schonende Nutzung oder gar Raubbau bedeuten. Was diesem Planer, Nutzer oder Räuber nicht immer klar ist: Eingegriffen wird in ein „Wirkungsgefüge“, also in einen Gesamtzusammenhang, in eine „Totalität“ (wie es Alexander von Humboldt nannte) (Abb. 2). Wird an oder in diesem von Natur aus labilen komplexen Wirkungsgefüge durch Naturprozesse selbst oder durch anthropogene Eingriffe etwas verändert, entstehen Ungleichgewichte. Übrigens wurde das Wirkungsgefüge Umwelt vom Geographietheoretiker Ernst Neef (1967) als Funktionszusammenhang von Natur, Gesellschaft und Technik definiert.

12  Hartmut

Verfasser.

Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie, 1001. Zusätzliche Auszeichnungen vom

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Abb. 2:  Das Wirkungsgefüge der Faktoren des Stadtsystems (aus: H. Leser 2008; Original: H. Leser 2007). Einfache Übersicht über die am Stadtsystem beteiligten „Faktoren“, die in der Realität selber komplex sind und daher Subsysteme des übergeordneten (Gesamt-)Stadtsystems darstellen. Alle unterliegen – in eigenständigen Fachgebieten – einer fast immer nur spezialisierten Betrachtung (z. B. Stadtklima durch die Stadtklimatologie, Stadtfauna durch die Biogeographie bzw. die biologische Stadtökologie, städtische Gesellschaft u. a. durch Sozialund Wirtschaftsgeographie, Verkehrssystem durch Verkehrstechnik, Stadtplanung und Verkehrsgeographie etc.). Das methodische Problem für Wissenschaft und Praxis besteht in der Zusammenschau der Faktoren und der von ihnen bewirkten Prozesse im holistisch darzustellenden Gesamtwirkungsgefüge „Stadt“.

Um dies an sich notwendige Theoretisieren bezogen auf das Thema abzuschließen, noch die Definition des Fachkomplexes Umweltwissenschaften, die das Gesagte zusammenfasst und für politisches Handeln und Denken orientierend bzw. leitend sein könnte: Umweltwissenschaften: Sammelbezeichnung für all jene Fachbereiche, die sich aus der Sicht der  Umweltforschung 13 und des  Umweltschutzes sowie der  Umweltpolitik und der  Umweltplanung mit den Zusammenhängen der Umwelt aus disziplinärer Sicht separativ oder integrativ beschäftigen. Es wird unterstellt, dass Fachgebiete, welche sich als den 13 

Die Verweispfeile beziehen sich auf Begriffe in Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geo­ graphie.

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Umweltwissenschaften zugehörig bezeichnen, von einem  holistischen  ökologischen Ansatz ausgehen, der sowohl den Grundsätzen der  Landschaftsökologie, der  Umweltethik und der  Ökologischen Planung als auch denen der  Ökologischen Politik Rechnung trägt.14

Kurzum: Man geht in Wissenschaft und Praxis mit den Begriffen „Umwelt“ und „Landschaft“ vielfältig, aber oft auch unbedarft um. Mit anderen Worten: Man weiß „es“ (d. h. sollte „es“ wissen…), aber Politik, Planung, Raumordnung setzen sich damit nicht bewusst auseinander – jedenfalls nicht so, dass dies spürbar in verantwortlichem Handeln mündet, denn das „Produkt“, die real zu erlebende Landschaft, spricht dagegen.

4. Agglomeration, Politik, Planung Was kann man aus dem dargestellten Theorie- und Begriffsapparat ableiten? Angesichts der Komplexität der Umwelt – „Alles hängt mit Allem zusammen“ – egal ob auf lokaler, regionaler, zonaler oder globaler Ebene – „wirft ‚der Mensch‘ sozusagen geistig das Handtuch“ und wirkt ausschließlich in seinem engsten Interessens- und Tätigkeitsbereich. Die Raumplanung macht das deutlich: Es gibt Raumplanungsgesetze, es gibt (in der Schweiz) kantonale Planungen und (in Deutschland) die Regionalplanung. Und es gibt – überall – die Ortsplanung der Gemeinden. Daher könnte man vermuten, die Umwelt und der Lebensraum, z. B. der Schweiz oder Deutschlands, seien in Ordnung. Die aktuelle Diskussion – z. B. um das neue schweizerische Raumplanungsgesetz – zeigte, dass es an einem breit angelegten Willen fehlt, wirksame und verantwortliche Raumordnungspolitik zu betreiben. Die kantonalen Richtpläne greifen nicht bis auf die Ebene der Gemeinden durch und die Gemeinden unterlaufen Richtpläne und damit das nationale Raumordnungsgesetz. Wäre es nicht so, hätte man keine wachsenden Zwischenstädte, keine „Grossagglomeration Schweiz“. Von verantwortlicher Zukunftssicherung des Lebens- und Wirtschaftsraumes kann also keine Rede sein! Nachstehendes Zitat diene als Ausgangspunkt der Betrachtung von Landschaft, Stadt, Zwischenstadt und Agglomeration: „Die ‚Agglo‘ ist unsere Zukunft. Leider sieht es ganz danach aus, als ob niemand sie aktiv gestalten würde.“15

Bleiben wir beim wahrnehmbaren, also sichtbaren und fühlbaren Landschaftsbild: Vor Jahren fragte jemand in einer Tageszeitung: „Verkommt die Schweiz zur Grossagglomeration?“ Nimmt man als Beispiel die Achse Basel-Rheinfelden16 oder 14 

Nach Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie, 1007. Daniel Binswanger, „Die ‚Agglo‘ ist unsere Zukunft“, in: Das Magazin 50/51, Zürich 2010, 4. 16  Hartmut Leser, „Ökologische Problemzonen und nachhaltige Landschaftsnutzung“, in: Rita Colantonio Venturelli / Kai Tobias (Hgg.), La cultura del paesaggio. Le sue origini, la situa­ 15 

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jene des Birstales (Basel-Aesch) oder die des Birsigtales17, prägt dort eine mehr oder weniger geschlossene Überbauung – im Sinne der Zwischenstadt – das Landschaftsbild. Hauptmerkmale sind: Heterogenität und Belastungen durch reguläre Nutzungen, mit durchaus auch tiefergreifenden, nicht nachhaltigen Nutzungsfolgen. Wohnsiedlungen, alte Ortskerne, Großmärkte, Industrie-, Gewerbe- und Erholungsgebiete erscheinen als wilde Mischung von Gebieten unterschiedlicher Belastungen. Ein Planer nannte dieses Phänomen einmal „Zufallslandschaft“. Heute wird bei diesem Nutzungskonglomerat, diesem „periurbanen Raum“18, das weder Stadt noch Land ist, von „Zwischenstadt“ gesprochen.19 Sie prägt die Agglomeration und an ihr muss man die Problematik der Umwelt- und Raumverantwortung messen. Letztlich ist das „reale Phänomen Zwischenstadt“ Ausdruck des Versagens von Planung i.w.S. und somit von nicht wahrgenommener Verantwortung. Zwischenstadt […]: Begriff für den  suburbanen Raum20. Er weist aus architektur- und stadtplanungskritischer Sicht in bewusst überspitzter Weise darauf hin, dass zwischen Stadt und Land unter ästhetischen und soziologischen Aspekten eine ungeplante, ungeordnete und diffuse Siedlungsstruktur besteht[, die zahlreiche funktionelle Schwächen aufweist, z. B. Verkehrsanbindung und Versorgung im weitesten Sinne (Einkauf, Gesundheit, Kultur)].21

Vorweg: Keiner hat die Zwischenstadt gewollt und niemand gestaltet sie aktiv22 – sie ist da und sie wächst einfach weiter. Sie erscheint ungeplant, eben als Zufallslandschaft – und (dies vor allem!) keiner scheint dafür verantwortlich zu sein. – Wie sieht das Wachstum der Zwischenstadt real aus? Die Abbildungen 3.1.1 und 3.1.2 und 3.2.1 und 3.2.2 zeigen zwei mögliche Modellfälle.

zione attuale e le prospettive future, Firenze 2005, 213–228; Hartmut Leser / Edith Beising / Heike Freiberger, „Das deutsch-schweizerische Hochrheingebiet zwischen Basel und Bad Säckingen – ein verdeckter ökologischer Problemraum“, in: Harald Zepp (Hg.), Ökologische Problemräume Deutschlands, Darmstadt 2007, 227–250; Matthias Bleile, „Entwicklung der Landschaftszerschneidung im Hochrheintal. Darstellung und Auswertung für die Jahre 1930, 1955, 1980 und 2005“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 51/2 (2010), 73–81. 17  Nicole Wehrli Sarmiento, „Siedlungswachstum im schweizerischen Leimental und die Rolle der Raumplanung“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 51/1 (2010), 11–16 18  Bernd Schubert, „Landschaftsplanung im ‚Periurbanen Raum‘“, in: Forum für Wissen 1 (1999), 41–46. 19  Thomas Sieverts, „Zwischenstadt“, in: Bauwelt Fundamente 118 (1997), 1–182; ders., Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Berlin, 3., verb. Aufl. 1999; 1–191; ders., „Sieben einfache Zugänge zum Begreifen und zum Umgang mit der Zwischenstadt“, in: Franz Oswald / Nicola Schüller (Hgg.), Neue Urbanität – das Verschmelzen von Stadt und Landschaft, Zürich, 2. Aufl. 2003, 79–101. 20  Die Verweispfeile beziehen sich auf Begriffe in Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie. 21  Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geografie, 1109. 22  Daniel Binswanger, „Die ‚Agglo‘ ist unsere Zukunft“, in: Das Magazin 50/51, Zürich 2010, 4.

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3.1:  Typ Stadtrand. 3.1.1: Ursprüngliche Situation (1 = Altstadt; 2 = Ortsentwicklung vor ca. 1950).

3.1.2:  Situation „heute“ (1 = Altstadt; 2 = Ortsentwicklung vor ca. 1950; 3 = Orts­entwicklung ab ca. 1950; 4 = Superkomplexe ab ca. 1970; 5 = Zerhäuselung ab ca. 1960/1970).

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3.2:  Typ Dorfrand. 3.2.1: Ursprüngliche Situation (1 = Historischer Dorfkern; 2 = Ortsentwicklung ab ca. 1950).

3.2.2:  Situation „heute“ (1 = Historischer Dorfkern; 2 = Ortsentwicklung ab ca. 1950; 3 = Neuere Gewerbestandorte [„Kleine Superkomplexe“] ab ca. 1970/1980; 4 = Zerhäuselung ab ca. 1960/1970). Abb. 3:  Modelle der Zwischenstadtentwicklung durch Gebietsentwicklung und Zersiedlung (aus: H. Leser 2014; Original H. Leser 2013). Es werden zwei mögliche Typen dargestellt: 3.1 = Stadtrandentwicklung und 3.2 = Dorf­randentwicklung. Gegenübergestellt werden die ursprüngliche Situation (mehr oder weniger bis um 1950) und die heutige Situation (Entwicklung ab ca. 1950 bis zur Gegenwart). Beide Beispiele dokumentieren das massive flächenhafte Siedlungswachstum.

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1. Zwischen den Städten (im Sinne der „Kernstädte“) und den Dörfern breiten sich schier unübersehbare mischgenutzte Räume aus. Verloren gingen in erster Linie landwirtschaftliche Nutzflächen, also sog. „Freiflächen“. 2. Diese mischgenutzten Räume gliedern sich in Wohnsiedlungs-, Verkehrs-, Industrie- und Gewerbe- und Rest-Freiflächen, deren vermeintlich oder tatsächlich übergeordnetes Muster (also die „Struktur“ des Raumes, der Landschaft) allenfalls im Luftbild wahrnehmbar ist. 3. Auf der Erlebnisebene des Menschen, sozusagen auf dem Boden, ist diese Ordnung nicht erkennbar, ja kaum zu erahnen. Orientierung z. B. an Einzelbauwerken und Straßen ist gerade noch möglich, doch deren Funktionsordnung (falls es diese gibt) muss man erraten. 4. Der Mensch erlebt dieses wüste Konglomerat von technischen Infrastrukturen und sonstigen Nutzflächen als „verstädterte Landschaft“ bzw. „verlandschaftete Stadt“. Diese Siedlungsstruktur entstand aus dem Bedürfnis heraus, die (Kern-)Stadt zu verlassen und „im Grünen“ zu wohnen. Die Zwischenstadt ist vor allem (aber nicht nur) durch Einfamilienhaussiedlungen geprägt. Ursache der nach 1950 einsetzenden „Zerhäuselung“23 war nicht nur – der rapide anwachsende motorisierte Individualverkehr, sondern auch – der wachsende Wohlstand, – das zunehmende Gefühl „draußen“ („im Grünen“) wohnen zu müssen, – die geringere Bindung an den Heimatort durch Berufsstandorte bzw. Arbeits­ tätigkeit, – die Auflösung traditioneller, auf gegenseitiger Hilfe und auf räumlicher Nähe basierender Großfamilienstrukturen etc. Es geht also beim Lebensraum Agglomeration bzw. Zwischenstadt nicht nur um flächenmäßiges Stadt- und Siedlungswachstum, sondern auch um sozialen Zusammenhalt, um Gefühl und um Empfindung – schwer zu fassende, jedoch die Siedlungsentwicklung und das Siedlungserleben mitbestimmende Elemente. Ein Titel mag als Hinweis darauf ausreichen: „Heimat vor den Toren der Großstadt“24. Die dort dargelegten soziologischen und ethischen Probleme zu betrachten, muss an dieser Stelle ausgeschlossen bleiben. Auf sie bezieht sich auch der Verkehrsplaner, ETH-Dozent für Raumordnung und Schriftsteller, der Schweizer Hans Boesch (1926–2003). Er schrieb in seiner Essaysammlung „Die sinnliche Stadt“25 (2001, 23  Vittorio Magnano Lampugnani et al., Handbuch zum Stadtrand. Gestaltungsstrategien für den suburbanen Raum, Basel/Boston/Berlin 2007, 1–319, 82. 24  Günther Weiss, „Heimat vor den Toren der Grossstadt. Eine sozialgeographische Studie zur raumbezogenen Bindung und Bewertung in Randgebieten des Verdichtungsraumes am Beispiel des Umlandes von Köln“, in: Kölner Geographische Arbeiten 59, Köln 1993, 1–176. 25  Hans Boesch / Elsbeth Pulver (Hgg.), Die sinnliche Stadt. Essays zur modernen Urbanistik, Zürich 2001.

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131) unter der Kapitelüberschrift „Mobilität heißt Entfremdung“: „Bewegtheit ohne Bezugspunkt wird … zu einem Verlieren im Chaos. Und Bezugspunkte fehlen uns überall. Und weil sie fehlen, wird der Mensch heimatlos, entfremdet. Die Welt wird ihm abstrakt, zu abstrakt.“ Dass dafür die Zwischenstadt keine Lösung darstellen kann, ist inzwischen offenkundig – auch wenn man die Zwischenstadt scheinbar oder tatsächlich als lebenswerten Raum annimmt, wie Matthias Daum und Paul Schneeberger meinen feststellen zu müssen.26 Planung und Raumordnung, aber auch die Bewohner, haben jedoch erkannt, dass die Zwischenstadt überwiegend ein Problemraum im Sinne von Harald Zepp ist: Seit rund einem Vierteljahrhundert wird die Zwischenstadt fachwissenschaftlich thematisiert, doch bei den politischen Entscheidungsträgern, welcher Parteizugehörigkeit auch immer, kam diese Erkenntnis offensichtlich (noch) nicht an.27 Kein Wunder also, dass schon im Jahre 2000 „die Zwischenstadt als Gestaltungs- und Managementaufgabe“28 erkannt wurde. Bis heute hat sich daran nichts geändert, weil die politisch Verantwortlichen diese Art von Raumentwicklung sehenden Auges zugelassen haben und immer noch zulassen. Zwar werden ständig Zukunftsvisionen beschworen, auch wird von Planung geredet und es wurden und werden Leitbilder aufgestellt, doch war und ist davon im Raum kaum etwas sichtbar und damit nicht erlebbar. Hinzu kommen all jene, oft neuere und noch anhaltende Entwicklungen, die mit dem Faktor Zeit zusammenhängen: Durch die Überalterung der Bevölkerung, der in den 1970er/1980er Jahren suburbanisierten Gebiete mit infrastruktureller Unterversorgung, stellen sich dort für die Individuen neue soziale und somit neue ökonomische Probleme. Auch diesen stehen die Akteure in der Politik hilflos gegenüber. Die Lösung läge in bewusst gestaltender, also verantwortlich gewollter Stadt- und Landschaftsplanung. Dazu seien folgende Hypothesen aufgestellt29: – Bevölkerung, Planer und Politiker nehmen die Lebensraumwirklichkeit völlig verschieden wahr. – Der Lebensraum muss so wahrnehmbar und gestaltet sein, dass sich der Mensch darin orientieren und wohlfühlen, sich damit also identifizieren kann: Raum bzw. Landschaft muss individuell spürbar sein. – Kulturlandschaft ist letztlich alles – auch die Agglomeration. Wie erscheint dem Bürger der Planer und welche Position nimmt der Planer eigentlich in diesem Funktionskonglomerat ein? Dazu nachstehende Thesen: 26  Matthias Daum / Paul Schneeberger, Daheim. Eine Reise durch die Agglomeration, Zürich 2013. 27  Harald Zepp (Hg.), Ökologische Problemräume Deutschlands, Darmstadt 2007. 28  Axel Priebs, „Stadt – Stadtregion – Städtenetze“, in: Geographische Rundschau 52, 7–8 (2000), 51–53, 51. 29  Hartmut Leser, Zwischenstadt: Alles oder nichts. Hat die Raumplanung versagt? Unveröffentlichter Vortrag Colloquium Geographisches Institut Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Universität Bonn am 11.05.2011.

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– Planer und Planungsbehörden werden als allmächtig und undurchschaubar wahrgenommen. Weil Planung auf verschiedenen Verwaltungsebenen installiert ist, fehlt dem Normalbürger der konkrete Adressat für ein Anliegen. – Den Planer gibt es nicht, aber es gibt viele Planungsrichtungen („Fachplanungen“), die auf verschiedenen Ebenen agieren (Land/Staat, Bundesland/Kanton, ggf. Region, Gemeinde). Die Koordination der Fachplanungen untereinander ist oft schwierig, z. B. durch die Behördenhierarchie und deren funktionale Verselbstständigung. Ihre Beziehungen zur politischen Entscheidungsebene sind nicht immer durchschaubar. – Die Wahrnehmung des Bürgers ist, dass die verschiedenen Planungsarten und -ebenen in der Regel zusammen nicht funktionieren. – Planer/Planungsbehörden sind direkt oder indirekt von den politisch Handelnden – also den eigentlichen Entscheidern – abhängig, die jedoch zu wenig von der Sache, also vom Raum, der Umwelt und auch der Planung verstehen. – Seit einigen Jahrzehnten kursierende Schlagwörter wie „Integrative Planung“ oder „Ökologische Planung“ oder gar „Ökologische Politik“ harren noch immer der Füllung, obwohl es für die beiden letztgenannten Definitionen30 gibt oder gar Handbücher31. Damit stellt sich in Bezug auf das Wuchern der Agglomeration und die Entwicklung der Zwischenstadt die Frage: Wer war, wer ist denn nun der Verursacher? Dabei sei sich auf die Nennung einer Auswahl von „Produzenten der Zwischenstadt“ beschränkt, unter Ausschluss höherrangiger Entscheidungsebenen in der Politik. Wie bereits festgestellt: Zwischenstadt scheint ja einfach zu passieren – sie „kommt“, sie entwickelt sich und dann ist sie „da“, aber wodurch ausgelöst und wer sind die Akteure? Als Zwischenstadtverursacher sind in Auswahl und in alphabetischer Reihenfolge zu nennen: – Architekten – Bauwillige – Kommunalpolitiker – Landeigentümer – Regionalplaner – Spekulanten – Städtebauer – Stadtplaner Alle handeln nach dem speziell für sie selbst politisch und wirtschaftlich Möglichen. Dies ordnet sich an – sehr vereinfacht gesagt – zwischen Steuergeschenken (Kilometerpauschale, Bausparen, Abschreibungsmöglichkeiten etc.) und den 30 

Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie. Beate Jessel / Kai Tobias, Ökologisch orientierte Planung. Eine Einführung in Theorien, ­ aten und Methoden, Stuttgart 2002. D 31 

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damit verbundenen politischen Zielen (Förderung von „Passivräumen“, Raumerschließung, gut zugängliche Autobahnen, Wirtschaftswachstum etc.). Die knappe Aufzählung belegt einen kaum auflösbaren Sach- und Funktionsfilz, der den Nährboden für den Interessenfilz der Akteure bildet. Man weiß: Wenn sich Filz bildet, gibt es keine Verantwortlichen. Das ist z. B. auch in der Schweiz der Fall, und zwar durch das Unterlaufen der kantonalen Richtpläne (d. h. Bauleitpläne) in den planerisch schier allmächtigen Gemeinden, in denen Verflechtungen durch lokale Wirtschafts- und Individualinteressen, politische Stimmungsmache, auch der sogenannte „Volkswille“ (oft politisch aufgeladen) und Profilierungssüchte von Lokalgrößen bestimmend sind.

5. Architektur, Städtebau und Stadtplanung – wer war’s? Seit den Zeiten des Charles-Édouard Jeanneret (1887–1965), der sich ab 1928 zunächst nur in seinem malerischen Werk Le Corbusier nannte, hat die Architektengemeinde das Gefühl, jeder Architekt müsse auch Stadt bauen und damit planen (können). Der unsägliche Satz (nicht von Le Corbusier!) „Wer ein Haus bauen kann, kann auch eine Stadt bauen“ bringt den Sachverhalt auf einen zweifelhaften Punkt. An dieser Stelle kann die in der Kapitelüberschrift angedeutete komplexe Situation allenfalls durch einen fachgewichteten Exkurs illustriert werden. Dieter Frick, bis 1998 Professor für Städtebau und Siedlungswesen am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TUB, machte sich 2009 unter dem Titel „Städtebau zwischen Architektur und Stadtplanung“ Gedanken „zum Verhältnis von Städtebau-, Architektur- und Planungstheorie“.32 Seine Aussagen passen nahtlos zur Verursacherproblematik der Zwischenstadt. Frick erkennt eine klare Aufgaben- und Funktionstrennung33: – Der Architekt baut und gestaltet Gebäude im Lebensraum Stadt und Land. – Städtebau ist das Bauen von Stadt – nicht im Sinne des Errichtens von Gebäuden, sondern er bestimmt deren Anordnung, ihre Beziehungen zueinander und ihre Verbindungen miteinander. Städtebau ist also die Koordination und Steuerung der Bautätigkeit in der Stadt und somit Stadtentwicklung. Ziel ist ein vielseitig nutzbares, visuell und körperlich wahrnehmbares Bebauungs-, Erschließungs- und Außenraumsystem. – Dieser Städtebau ist Teil der Stadtplanung, welche die öffentlichen Interessen der Stadt wahrnimmt. Sie plant den gesamten öffentlichen Raum. Die Stadtplanung steht mit der für die Stadtentwicklung letztlich verantwortlichen Politik in Wechselwirkung. 32  Dieter Frick, „Städtebau zwischen Architektur und Stadtplanung. Zum Verhältnis von Städtebau-, Architektur- und Planungstheorie“, in: disP 179, 4 (2009), 28–36, 28 ff. 33  Ebd., leicht verändert, 29 f.

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Vereinfacht heißt das: – Der Stadtplaner plant die funktionalen Grundzüge der Stadt, die politisch definiert sein müssen; – der Städtebauer plant das darin spielende städtische Funktionssystem der Quartiers- und Infrastrukturanordnung und – der Architekt baut in diesem System die (einzelnen) Häuser – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Funktionstrennungen bedeuten an sich eindeutig zuweisbare Verantwortlichkeiten. Daher die Frage: Sind diese drei Gruppen von Akteuren nun Teil der Lösung oder Teil des Problems? Hier gilt: Sie sind beides – aber ebenso die von Zukunftsvisionen benebelten Politiker, denen der fachliche Sachverstand für Bauen, Umwelt, Infrastruktur und Ökologie fehlt. Sie umgeben sich immer weniger mit Fachleuten denn mit Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern, um in den Projekten rechtliche und ökonomische Fallgruben aufzuspüren. Die Sache –  also die funktionierende Stadt, die zu schonende Umwelt – bleibt auf der Strecke und wird ökonomischen und rechtlichen Anforderungen untergeordnet. Selbst zwischen Planung, Städtebau und Architektur wird die Verantwortung herumgeschoben, vor allem, wenn Architekten sich als Städtebauer darstellen – losgelöst von den physischen, ökologischen und historischen Grundlagen der Stadt. Kritisches dazu findet man bei Carl Fingerhuth.34 Auch Fragen der Ethik, die in der Philosophie zum Tagesgeschäft gehören, werden vom Ökonomen und vom Umweltpraktiker kaum beachtet, obwohl ein enger Gesellschafts- und Umweltbezug besteht.35 Ohne auf den Leitbild-Begriff und seine Möglichkeiten und Grenzen einzugehen, sei die Frage gestellt: Wo sind sie eigentlich, die Leitbilder, von denen in Stadtund Raumplanung seit Jahrzehnten so viel die Rede ist? Schon 2001 (!) bemerkte Dankwart Guratzsch: Seit mindestens fünf Jahren hat die Baupolitik dem Planungsansatz des ‚aufgelockerten Städtebaus‘ offiziell abgeschworen. Die Einsicht hat sich durchgesetzt, dass sich die Ha­bitatForderung nach einer ‚nachhaltigen Siedlungsentwicklung‘ nicht auf Entwicklungsländer beschränken lässt. In der politischen Praxis jedoch ist diese Erkenntnis bis heute nicht angekommen.36

Das gilt immer noch und auch für 2015 oder 2016. 34  Carl Fingerhuth, „Bedürfnisse, Werte und Träume. Aufruf zu einem öffentlichen Diskurs über die Gestalt der Stadt – Die Transformation der Stadt jenseits der Moderne“, in: Neue Zürcher Zeitung 3, 05.01.2013, 56. 35  Knappe Übersichten dazu bei Anja Leser, „Umweltprobleme und Philosophie?“, in: Philosophisches Themendossier 2 (2012), 1–20; Anja Leser / Daniel Burkhard, „Wirtschaftsethik“, in: Philosophisches Themendossier 4 (2012), 1–24. 36  Dankwart Guratzsch, „Die Wiederentdeckung der Mitte“, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 75, 2–3 (2001), 197–204, 201.

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Guratzsch nannte es eine „paradoxe Tatsache, dass neue Leitbilder aufgestellt, aber von der Planung nicht umgesetzt werden“. Als Ursachen erkannte er (hier leicht verändert): – Der Planer ist für Leitbild-Umsteuerungen nicht ausgebildet, sondern hängt immer noch an Planungsmeinungen aus der Frühzeit der Moderne, z. B. der 1933 von Le Corbusier wesentlich mitbestimmten „Charta von Athen“ mit den Nutzungs- und Funktionstrennungen in den Städten37 – Politiker, Wohnungsbaugesellschaften und Bauindustrie, aber auch Architekten und Städteplaner, sehen im Abweichen vom angeblich zukunftsweisenden Wachstumskonzept (das sich real als Suburbanisierung auswirkt!) ein „gesellschaftliches und wirtschaftliches Krisensyndrom“. Sie ignorieren den schon seit Ende der 1990er Jahre sukzessive einsetzenden Rückzug der Bevölkerung in die Innenbereiche der Kernstädte. Das sog. „Wachstum“ ist Ausdruck der Maßlosigkeit, aber sicherlich keine Zukunftssicherung! Zurück zur Zwischenstadt: Politisch nimmt man sie wahr, so wie auch der Mensch sie im Lebensraum wahrnimmt, aber man will sie eigentlich nicht. Doch die Zwischenstadt wächst und mit ihr wachsen die Mobilität und zugleich die Verkehrs­ infrastrukturen. Die Folge sind massive Landschaftszerschneidungen38 und allgemeines Siedlungswachstum39 bzw. ausgedehnte Zersiedlungen, wie eine Bestandsaufnahme und Langzeitprognose für die Schweiz zeigt40. Der Regional- und Stadtplaner beruft sich zu Recht auf die aus seiner Sicht unzuverlässige Politik, die unbequemen Entscheidungen ausweicht, weil die Agglomeration sich zunehmend als ein politisch und planerisch kaum noch zu bewältigender Komplex erweist. Daraus wiederum resultieren sich permanent umwälzende Rahmenbedingungen der Politik, die keine verlässliche Basis für eine an sich auf Jahrzehnte ausgerichtete Stadt- bzw. Regionalplanungsarbeit darstellen. 37  Le Corbusier, „An die Studenten – Die ‚Le Charte d’Athènes‘“, in: rowohlts deutsche enzyklopädie 141 (1962), 1–150. 38  Allgemein: Jochen Jaeger, Landschaftszerschneidung. Eine transdisziplinäre Studie gemäss Konzept der Umweltgefährdung, Stuttgart 2002; Regionalsbeispiel: Matthias Bleile, „Entwicklung der Landschaftszerschneidung im Hochrheintal. Darstellung und Auswertung für die Jahre 1930, 1955, 1980 und 2005“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 51/2 (2010), 73–81. 39 Regionalbeispiele: Edith Beising, „Ökologische Problemzonen: Wahrnehmung und Darstellung der Sensitivität der Landschaft und ihres Risikopotentials. Erarbeitung von Grundlagen am Beispiel des Hochrheintals zwischen Grenzach und Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 45 (2013), 1–272; Angelika Neudecker, „Kulturlandschaftswandel seit 1900: Ausmass, Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und ethische Dimension. Beispiel: Verwaltungsgemeinschaft Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 44 (2012), 1–193; Nicole Wehrli Sarmiento, „Siedlungswachstum im schweizerischen Leimental und die Rolle der Raumplanung“, in: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 51/1 (2010), 11–16. 40  Christian Schwick et al., „Zersiedelung der Schweiz – unaufhaltsam? Quantitative Analyse 1935 bis 2002 und Folgerungen für die Raumplanung“, in: Bristol-Schriftenreihe 26 (2010), 1–114.

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Die Ursachen für das Wirkungsgefüge Agglomeration-Zersiedlung-Landschaftszerschneidung-unwirtlicher Lebensraum allein in der Politik suchen zu wollen, greift allerdings zu kurz. Man muss auch fragen, ob der Planer nun Teil der Lösung oder Teil des Problems ist. Doch wie beim Politiker gilt auch hier: Er ist beides! Fragen wir nun nach den Menschen in der Zwischenstadt. Sie benötigen Ortsbindung und lokale Identitäten. Diese müssen entstehen können und man muss sie kultivieren. Das ist einerseits durch soziale Nachbarschafts-, Familien- und Berufsnetzwerke möglich, andererseits aber auch über das „Bild“ des Ortes, also durch das Erscheinungsbild der Bauwerke bzw. der Gebäudeaggregationen – all dies, was man als „Ortsbild“ bzw. „Stadtbild“ visuell, aber auch emotional wahrnimmt. Es geht dabei auch um einen Wiedererkennungseffekt, der nachhaltig sein muss. Auch wenn sich der Mensch als Agglo-Bewohner versteht und Daum und Schneeberger das Leben und Sein in der Agglomeration preisen, heißt das noch nicht, dass all die oben genannten Unzulänglichkeiten begeistert akzeptiert werden. Die Regionalstudie41 von Angelika Neudecker belegt, dass selbst Menschen am Rande der Agglomeration Basel-Bad Säckingen (Hochrheintal) sich des Kulturlandschaftswandels und seiner Tücken als Lebensraum bewusst sind.42 Erstaunlicherweise reden Stararchitekten – die sich oft zugleich als große Stadtplaner empfinden – bereits beim Errichten ihrer Bauwerke vom künftigen Abbruch. Zu solchen Maßlosigkeiten gibt es kritische Stimmen, z. B. die des Stadtplaners Carl Fingerhuth. Bedenkenswertes dazu formulierte auch der Historiker, Politologe und Soziologe Rolf P. Sieferle43 – zehn Jahre zuvor: Wenn im Strudel der Transformation dennoch stabilere Werke entstehen, wenn diese gar landschaftsprägend zu Stahl, Glas und Beton gerinnen, so wächst ihnen eine Dauerhaftigkeit zu, auf die sie prinzipiell nicht angelegt sein können. Sie geraten in eine zeitliche Dimension, der ihr Konstruktionsprinzip nicht gewachsen ist. Daher setzen sie keine Patina an, sondern werden nur schäbig und verlangen selbst ihre Beseitigung. Den einzigen Trost, 41  Angelika Neudecker, „Kulturlandschaftswandel seit 1900: Ausmass, Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und ethische Dimension. Beispiel: Verwaltungsgemeinschaft Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 44 (2012), 1–193. 42  Siehe die Regionalbetrachtungen von Edith Beising, „Ökologische Problemzonen: Wahrnehmung und Darstellung der Sensitivität der Landschaft und ihres Risikopotentials. Erarbeitung von Grundlagen am Beispiel des Hochrheintals zwischen Grenzach und Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 45 (2013), 1–272; Hartmut Leser, „Ökologische Problemzonen und nachhaltige Landschaftsnutzung“, in: Rita Colantonio Venturelli / Kai Tobias (Hgg.), La cultura del paesaggio. Le sue origini, la situazione attuale e le prospettive future, Firenze 2005, 213–228; Hartmut Leser / Edith Beising / Heike Freiberger, „Das deutsch-schweizerische Hochrheingebiet zwischen Basel und Bad Säckingen – ein verdeckter ökologischer Problemraum“, in: Harald Zepp (Hg.), Ökologische Problemräume Deutschlands, Darmstadt 2007, 227–250. Sie beziehen sich auf den Wachstumsraum Hochrheintal östlich von Basel, der inzwischen nahtlos mit dem Agglomerationskern Basel (samt seiner Kernstadt) zusammen gewachsen ist und der als ökologischer Problemraum (im Sinne der Beiträge in: Harald Zepp (Hg.), Ökologische Problemräume Deutschlands, Darmstadt 2007) gilt. 43  Rolf Peter Sieferle, „Die totale Landschaft“, in: Franz Oswald / Nicola Schüller (Hgg.), Neue Urbanität – das Verschmelzen von Stadt und Landschaft, Zürich, 2. Aufl. 2003, 59–76.

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den die Erzeugnisse der Architektur spenden, ist die Aussicht auf ihren baldigen Abriss. … Wer kann sich zutrauen, eine neue materielle Wirklichkeit zu erzeugen, die über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg das Bild der Landschaft prägen wird.

Dazu zwei Aussagen: – Einmal wird kritisch argumentiert, dass die Zwischenstadtentwicklung regulärer Kulturlandschaftswandel sei, mit dem man zu leben habe und der übrigens Gegenstand der Wissenschaft sei44: Er spielt aber nicht nur in der Geographie eine Rolle, sondern auch in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Es stimmt: Zwischenstadtentwicklung ist Kulturlandschaftswandel, doch muss man nach der Art des Wandels und seinen sozialen, ökonomischen und infrastrukturellen Folgen fragen – Folgen, die dem Agglo-Bewohner oft nur unbewusst präsent sind, obwohl er sich tagtäglich mit ihnen auseinandersetzt. – Andererseits hieß es oben: „Der Stadtplaner plant die funktionalen Grundzüge der Stadt, die politisch definiert sind“. Das bedeutet: Der Haupttäter ist der Politiker. Er wäre eigentlich der Entscheider – wenn er entscheidet und wenn er sich nicht um saubere ökologische und humane Lösungen herummogelt. Ob man es wahrhaben möchte oder nicht: Zwischenstadt und Agglomeration sind Ausdruck politischer Nicht-Entscheidungen. Doch allein schon wegen des anhaltenden Wachstums der Agglomerationen muss politisch entschieden werden. Das bedeutet: Es muss sich an den politischen und ökonomischen Randbedingungen der Siedlungsentwicklung und damit in der Raumplanung etwas ändern.

6. Wandel in Zwischenstadt und Stadt: Wie weiter? Nicht erst seit den politischen Wenden und den damit verbundenen gesellschaftlich-ökonomischen Umwälzungen um 1988/1990 sind markante Veränderungen sozusagen in „Stadt und Land“ zu verzeichnen. In Auswahl seien angeführt: – Demographischer Wandel: Die Zwischenstadtbewohner, die um 1960/1970 ins Grüne zogen, sind inzwischen 60+ bis 80+ Jahre alt. Für sie ist im suburbanen Raum altersgerechtes Wohnen nur noch unter Schwierigkeiten möglich (Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, Arztbesuche, kulturelle Angebote der Kernstadt etc.). – Jüngere Familien im Grünen werden durch die immer breiter gefächerten Interessenansprüche der Kinder (Sport, Unterhaltung, Gesellschaft von Altersgenossen) quasi zu Taxiunternehmen. 44  Angelika Neudecker, „Kulturlandschaftswandel seit 1900: Ausmass, Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und ethische Dimension. Beispiel: Verwaltungsgemeinschaft Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 44 (2012), 1–193; Hartmut Leser, „Ökologische Problemräume und geographische Landesforschung: Nutzungsraum Hochrheintal als methodisches Problem“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 45 (2012), 1–12.

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– Durch gestiegene und weiterhin steigende Fahrtkosten mit dem Auto und mit dem öffentlichen Nahverkehr und zunehmend engeren Zeitbudgets rechnet sich das Wohnen im Grünen nicht mehr – weder für Alte noch für Junge. – Städtische Wohnraumangebote nehmen zu – kaum jedoch im Mittel- und Tiefpreissektor. Man weiß: In der Schweiz kokettieren die Gemeinden unverhohlen mit den „guten Steuerzahlern“. Mietpreise in Zürich für 3–4-Zimmerwohnungen von CHF 10’000 bis 15’000 im Monat sind keine Seltenheit. – Durch neue Attraktivitätssteigerung als Wohn-, Kultur- und Gewerbestandort versuchen die Städte sich aufzuwerten. Das ist schwierig angesichts der inzwischen „wohnbevölkerungsverwaisten“ Innenstädte und des Platzmangels für Gewerbestandorte oder Wohnungsneubauten. – Umnutzungen und Innenverdichtungen im städtischen Raum sind nur schwer zu realisieren, weil Eigentumsrechte respektiert werden müssen, so dass auch gute planerische Ideen nicht umgesetzt werden können. – Bei solchen „neueren“ Stadtentwicklungen sollte – vor allem aus ökologischen Gründen – das Wohnen zentrales Anliegen sein, dem allerdings die Boden- und damit Mietpreise entgegenstehen. – Immerhin: Die Identität der Städte wird wiederentdeckt – durch die (noch verbliebenen) Kernstadtbewohner, aber auch durch die Stadtpolitik selbst. Damit kann die Entfremdung zwischen Stadt, Politik und Gesellschaft gemildert und die Stadt als Lebensraum wieder attraktiv werden. Dies umzusetzen, bedarf es allerdings mehrerer Jahrzehnte. All das (durchaus unvollständig) Aufgezählte spricht für den „Abbau“ – also das Begrenzen – der (bestehenden) Zwischenstadt. „Abbau“ bedeutet in diesem Zusammenhang: – Die Suburbanisierung ist einzudämmen, indem man den Rand, die Ränder planerisch und damit politisch festschreibt und keinen weiteren „Verbrauch“ von Freiflächen (das sind vor allem Landwirtschaftsflächen) zulässt. – Innerhalb der suburbanisierten Gebiete eine gezielte Raumentwicklung initiieren, d. h. – Verdichtung der Zerhäuselungsareale durch weitere Wohnbauten und/oder kleine stille und nicht schmutzende Gewerbebetriebe. – Gezieltes, d. h. punktuelles und damit konzentriertes Installieren zentraler Einrichtungen (kleine Geschäfte für den täglichen Bedarf; kleine Dienstleitungsunternehmen; Begegnungsstätten [z. B. Gaststätte mit Gemeindesaal]; kleine Freizeiteinrichtungen für Alte und Junge) an strategisch, d. h. verkehrsmäßig günstig gelegenen Knotenpunkten (z. B. Wegkreuzungen oder -gabelungen) der Zerhäuselungsareale. Leitende Gedanken sind dabei nicht nur, Wegzeiten zu minimieren bzw. abzubauen oder eine Grundversorgung vor Ort anzubieten, die den Weg in das nächste Zentrum überflüssig macht. Vielmehr lassen bescheidene bauliche Verdichtungen mit

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den genannten Infrastrukturen eine Art „Dorfbild“ entstehen, das Identitätsgefühle mit dem Ort aufkommen lässt und die Wohnanbindung aufwertet. Damit ist für viele Bewohner der Zerhäuslungsgebiete funktional und emotional eine gewisse Alternative zum nächsten alten Ortskern bzw. zur Kernstadt gegeben, auch wenn weder deren Ortsbild noch deren Angebot an zentralen Diensten ersetzbar sind. Die skizzierte Aufwertung der suburbanisierten Gebiete setzt voraus: Investitions- und Bauwillige, Offenheit der Bewohner und der Gemeinden für eine aufwertende Umgestaltung der Zerhäuselungsgebiete, kreative Siedlungsplaner und einfallsreiche Architekten. Wie schon gesagt, setzt all dies ein Umdenken bei Planern und Politikern voraus, vor allem aber bei den Eigentümern von gewerblichen und landwirtschaftlichen Nutzflächen, die auf weitere Überbauungen hoffen, um Gewinne aus dem Verkauf von Boden zu erzielen – ein nicht unwesentlicher Motor der Zwischenstadtentwicklung. Mit anderen Worten: Es muss für die Komponentenentwicklung der Zwischenstadt Verantwortliche geben, also Leute, die bereit sind, im Sinne des Gemeinwohls und der Erhaltung von Natur und Umwelt zu wirken. Kurzum: Der bestehende sichtbare und auch der künftige, durch Planung und politische Entscheidungen noch zu bewirkende Landschaftswandel, setzt einen fundamentalen Wandel im Kopf vor allem der Politiker, aber auch der Raum-, Stadt- und Landschaftsplaner voraus. Doch darf damit gerechnet werden?

7. Noch einmal: Begriffe – Lösung des Problems? Verbale Bekundungen einerseits und politische Haltung bzw. daraus resultierendes politisches Handeln sind eine Sache, eine andere ist deren Umsetzung in die raumwirksame Planungspraxis. Während man in der Politik mit dem in Kultur und Wissenschaft verankerten Landschaftsbegriff normalerweise wenig bis nichts zu tun haben möchte, werden Begriffe wie Heimat, Landschaft, Kulturlandschaft und auch Kulturlandschaftswandel gelegentlich wieder „entdeckt“ und ziemlich unbefangen verwendet.45 Daher ist es nicht erstaunlich, dass man bei nicht steuerbaren Entwicklungen der Zwischenstadt und der Agglomeration sich hinter dem Begriff Kulturlandschaftswandel verschanzt. Warum? Er scheint auf ideale Weise abzudecken, dass mit Zwischenstadt- und Agglomerationsentwicklung etwas ganz Normales, quasi Naturgesetzliches, geschieht, wenn dörfliche Siedlungen und Kleinstädte in den Sog der Kernstadtentwicklung geraten und zu Agglomerationen wuchern. Das zeigten nicht nur die 2010/2012 geführten Diskussionen um das neue schweizerische Raumplanungsgesetz, sondern 45  Hansjörg Küster, „Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft“, in: Beck’sche Reihe 6061 (2012), 1–361. Er glaubt mit „Die Entdeckung der Landschaft“ eine „Einführung in eine neue Wissenschaft“ zu bieten, blendet erstaunlicherweise die Landschaftsforschung anderer Disziplinen weitestgehend aus.

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auch jene, wo es um die Durchsetzung lokaler oder regionaler Interessen geht – wo auch immer. Es muss die Frage gestellt werden: Ist der Begriff überhaupt adäquat? Daher sei nach der Definition von Kulturlandschaftswandel gefragt. Kulturlandschaftswandel (cultural landscape change): Er drückt ein regional differenziertes komplexes und zugleich dynamisches Prozessgefüge von Veränderungen der Kulturlandschaft aus, die langsamer oder rascher verlaufen können. Das zu betrachtende Prozessgefüge wird  anthropozentrisch46 modelliert, weil die Kulturlandschaft eines Raumes vom Menschen – also seinem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem – abhängt. Dadurch entwickelt sich ein funktional und physiognomisch eigenartiger Kulturlandschaftstyp, der sich letztlich auf physische (biotische und abiotische) Landschaftselemente gründet.47

Unter Bezug auf Suburbanisierung und Zwischenstadt lassen sich daraus folgende Setzungen ableiten: (1) Ohne wie auch immer besetzte Bewertungen und Gewichtungen sind Zwischenstadtentwicklung und Suburbanisierung per definitionem Kulturlandschaftswandel. (2) In der Politik (und z. T. auch Planung) wird der Begriff benutzt, um Fehlentwicklungen zu kaschieren oder um bei der Bevölkerung unliebsame Maßnahmen zu begründen, wie z. B. die Umsiedlungsaktionen von Dörfern in den deutschen Braunkohlenrevieren. (3) Demgegenüber wird vom Kulturlandschaftswandel betroffene Landschaft aus Sicht der Bewohner und Nutzer des Raumes ganz unterschiedlich empfunden – im Extremfall als sogenannter „ökologischer Problemraum“48. (4) Die Wertigkeit des Begriffes hängt also vom Kontext ab, in welchen er gestellt wird: a. Möchte der Politiker die Suburbanisierung fördern, also weiteren Landverbrauch und weitere Zersiedlung bewirken, gilt der Begriff ebenso wie

46  Der Verweispfeil bezieht sich auf Begriffe in Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie. 47  Stark verändert nach Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie, 477. 48  Hartmut Leser, „Ökologische Problemzonen und nachhaltige Landschaftsnutzung“, in: Rita Colantonio Venturelli / Kai Tobias (Hgg), La cultura del paesaggio. Le sue origini, la situa­ zione attuale e le prospettive future, Firenze 2005, 213–228; Edith Beising, „Ökologische Pro­ blemzonen: Wahrnehmung und Darstellung der Sensitivität der Landschaft und ihres Risikopotentials. Erarbeitung von Grundlagen am Beispiel des Hochrheintals zwischen Grenzach und Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 45 (2013), 1–272; Hartmut Leser / Edith Beising / Heike Freiberger, „Das deutsch-schweizerische Hochrheingebiet zwischen Basel und Bad Säckingen – ein verdeckter ökologischer Problemraum“, in: Harald Zepp (Hg.), Ökologische Problemräume Deutschlands, Darmstadt 2007, 227–250; Angelika Neudecker, „Kulturlandschaftswandel seit 1900: Ausmass, Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und ethische Dimension. Beispiel: Verwaltungsgemeinschaft Bad Säckingen“, in: Physiogeographica, Basler Beiträge zur Physiogeographie 44 (2012), 1–193.

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b. wenn der Bewohner der wachsenden Agglomeration mit deren negativen Auswirkungen konfrontiert ist und sich an diesen stört, wie Lärm, Luftverschmutzung, zu viel Verkehr, lange Wege, unstrukturierte Siedlungsentwicklung, optisches Chaos durch Stillosigkeiten bei Bauten etc. Orts- und Regionalplanung bedürfen fachgeographischer Grundlagen, weil Begriffe wie „Raum“, „Landschaft“, „Kulturlandschaftswandel“ etc. traditionell zwar klar definiert sind49, leider aber beliebig verwendet werden. Umgekehrt gilt das auch für fachplanerische Begriffe wie „Zwischenstadt“, „Agglomeration“, „Leitbild“ etc.50 oder Begriffe der Sozialwissenschaften oder anderer für diese fächerübergreifende Thematik relevanter Fächer. Da das Vokabular disziplinübergreifend angewandt wird, würde daraus resultieren, dass man bei Querschnittsthemen wie Stadt-, Dorf-, Agglomerations- oder Zwischenstadtentwicklung aus der jeweiligen fachlichen Enge heraustritt. Das bedeutet, dass man nicht nur schlicht – wie es so schön heißt – „mit anderen Disziplinen zusammenarbeitet“ (was ja oft nur ein verbales Bekenntnis ist, aus dem methodisch nichts resultiert), sondern – die Disziplinen forschen auf der gleichen Dimensionsebene (d. h. sie arbeiten in der gleichen Größenordnung bei der Betrachtung des Gegenstandes) und – streben dabei den gleichen funktionalen Differenzierungsgrad an (das betrifft die Regler, Prozesse und Speicher im Wirkungsgefüge – sei es nun im sogenannten Landschafts-, sei es im sogenannten Stadtökosystem). Beides setzt einen einheitlich verstandenen und gleichsinnig verwandten Begriffsapparat voraus. Folgt man diesen Prämissen, lässt sich nicht nur Sprachverwirrung zwischen den beteiligten Fachgebieten vermeiden, sondern es kann daraus auch eine Präzisierung und Weiterentwicklung der facheigenen Methoden und Theorien resultieren. Für Stadtplanung und Politik bedeutet das zum Beispiel: – Bestehende Begriffs- und Methodenapparate – z. B. der Geographie, der Landschafts- und Stadtökologie und der Umwelttechnik – zu kennen und zu nutzen, vor allem jene, die auf Gegenstände wie „Umwelt“, „Stadt“, „Raum“ und den darin agierenden Menschen zielen, und die nur integrativ erfolgreich bearbeitet werden können. – Zur Verfügung stehen schon lange geographisch-raumwissenschaftliche Theorien.51 Sie sind universell anwendbar, weil sie Raum, Zeit, Wirkungsgefüge und Dimension als Basiskategorien verwenden. In erster Linie sind da die Grundsätze des Fachbereiches Geographie oder auch der Landschaftsökologie zu nennen, die sich auf vier Theorien verengen lassen52: 49 

Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie. Diese Begriffe sind ebenfalls enthalten in: Hartmut Leser (Hg.), Wörterbuch Geographie. 51  Diese Theorien wurden inzwischen von anderen Disziplinen übernommen und eingesetzt, z. B. Raumordnung, Geoinformatik, Bodenkunde, Stadtökologie oder Stadtplanung. 52  Hartmut Leser, Landschaftsökologie. Ansatz, Modelle, Methodik, Anwendung. Mit einem Beitrag zum Prozeß-Korrelations-Systemmodell von Thomas Mosimann, Stuttgart, 4. neu bearbei50 

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– Theorie der geographischen Dimensionen („Prinzip der räumlichen Größenordnungen“), – Theorie der komplex-geographischen Betrachtung („Prinzip des landschafts­ ökologischen Funktionskomplexes“), – Theorie der räumlichen Betrachtung („Prinzip der Dreidimensionalität“) und – Theorie der raum-zeitlichen Betrachtung („Prinzip der Entwicklungsdauer“) Ihnen untersteht die Erforschung und Darstellung der räumlich und zeitlich differenzierten natürlichen und anthropogenen Prozess-Reaktions-Systeme der Landschaften – seien es nun Hochgebirge, Wüste, Stadtlandschaft, Dorf oder Zwischenstadt. – Dies also wären Handwerkszeuge auch für die raumbezogen arbeitenden Politikund Planungsbereiche, weil diese Theorien die disziplineigenen Fachsprachen auf einen Nenner bringen, woraus wahrhaftige interdisziplinäre Zusammenarbeit am Objekt (Stadt, Agglomeration) resultieren könnte – ohne Sprachverwirrung! Bekanntlich greift nicht nur in den Fachwissenschaften, sondern auch in diversen Praxisbereichen die Spezialisierung um sich. Sie verstellt den Blick auf das Ganze, das im Fall Zwischenstadt der gesamte suburbanisierte Bereich, in seiner ganzen Heterogenität und Komplexität ist, die sich in Raum und Zeit entfalten. Der Gegenstand ist komplex, daher muss er als solcher wahrgenommen und demzufolge methodisch und methodologisch behandelt werden. Einem Ankündigungstext des Bandes „Netzwerk Kulturlandschaft“53 sei nachstehender bedenkenswerter Satz entnommen: Für Kulturlandschaft als Ganzes scheint niemand zuständig zu sein – das begünstigt ihr lautloses Verschwinden. Nur in der Vernetzung von Geographie, Geschichte, Landschaftsarchitektur, Ökologie, Archäologie und nicht zuletzt der Denkmalpflege kann man ihrer Komplexität gerecht werden und ihr Entwicklungspotenzial bestimmen.

Daraus ist zweierlei abzulesen: Einmal ist dies ein bemerkenswerter Hinweis auf den Kulturlandschaftswandel, verbunden mit einem geradezu erschreckenden Wahrnehmungsverlust real bestehender Zusammenhänge. Zum anderen ist daran beachtenswert, dass für komplexe Zusammenhänge trans- und interdisziplinäres Zusammenarbeiten eingefordert wird, damit „das Ganze“ – die Landschaft! – überhaupt realistisch wahrgenommen und „bearbeitet“ werden kann. Planer und Politiker, die verantwortlich handeln sollten, dürfen also keine Facette ausblenden. Das setzt jedoch das Bewusstsein voraus, dass interdisziplinär tete Auflage 1997; Hartmut Leser / Rita Schneider-Sliwa, „Die ‚Spinne‘ und der Ring – Masterplanung für die Region“, in: Uni Nova, Wissenschaftsmagazin der Universität Basel 84 (1999), 26–29; Ernst Neef, Die theoretischen Grundlagen der Landschaftslehre, Gotha 1967. 53 NIKE  / BAK / ICONOS (Hgg.), „Netzwerk Kulturlandschaft. Auch eine Aufgabe für Archäo­logie und Denkmalpflege“, in: Schriftenreihe zur Kulturgüter-Erhaltung (SKE) 1 (2012), 1–123.

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und begrifflich konzis vorgegangen werden muss. Erst, wenn nicht nur rechtliche und ökonomische Aspekte, sondern auch die des physiogenen und biotischen Umfeldes sowie die sozialen und ethischen Ansprüche in Planung und politisches Handeln einbezogen werden, darf man von „verantwortlichem Handeln“ sprechen.

8. Zusammenfassung Dieser Beitrag zeigt am Beispiel der Agglomeration methodische und begriffliche Gräben zwischen Natur- und Kulturwissenschaften einerseits und Planung und Politik andererseits auf. „Politik“ agiert heute – so das Schlagwort! – „politisch“, d. h. überwiegend auf sogenanntes Wachstum bezogen, wobei übersehen wird, dass Wachstum, am Bruttosozialprodukt gemessen, noch keine „Entwicklung“ bedeutet, und wenn eine solche realisiert werden soll, dann eine, die nicht nur politisch, sondern auch ethisch und ökologisch zu begründen wäre. Die auf sogenanntes „Wachstum“ gerichtete Herrschafts- und Herrenmentalität übersieht den im Lebensraum real existierenden Menschen, also das Individuum, übersieht oder ignoriert gar dessen Bedürfnisse und Mentalität, dessen Sorge um seine ganz individuelle Zukunft. Diese Sorge kann ihm genommen werden, wenn man ihm einen – im Sinne Alexander Mitscherlichs – „wirtlichen“ Lebensraum zur Verfügung stellt, mit dem er sich nicht nur identifizieren, sondern den er auch aktiv mitgestalten kann. Politisch-planerische Entscheidungen können auch einen methodischen und praktischen Mehrwert erzielen, nämlich wenn sie sich auf den vierdimensionalen, theoretisch abgesicherten ökologischen Ansatz gründen. Das verhindert fachsprachliche Verwirrungen, methodische Missverständnisse, politische Vernebelungsaktionen und damit die Irreführung des Normalbürgers. Letztlich sollten sich alle Ansätze politisch-planerischer Entscheidungen an den Grundprinzipien der sogenannten geographischen Raumforschung orientieren, die weniger eine spezifisch (fach-)geographische, denn eine metawissenschaftlich relevante Raumforschung darstellt – die an sich auch für Planung und Politik leitend sein sollte.

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Natur als „Schöpfung“? Zu Problematik und Produktivität theologischer Umweltethik

Georg Pfleiderer 1. Christentum und Umwelt – neuere Diskurse zu einem als spannungsvoll empfundenen Verhältnis Dass sich die Theologie, also die wissenschaftliche Reflexionsform des Christentums, in einem Band zur Umweltethik zu Wort meldet, dürfte plausibel sein. Denn das Christentum, das kirchlich verfasste, aber auch das kirchenunabhängigere, hat sich in den letzten Jahrzehnten in umweltethischen Fragen und in Umweltbewegungen stark engagiert. In Erinnerung gerufen sei etwa der 1983 ins Leben gerufene Konziliare Prozess „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ und darin die Erste Europäische Ökumenische Versammlung 1989 in Basel. Christlicher Einfluss ist auch in manchen Teilen der Umweltbewegung zu spüren, die sich nicht explizit auf die Bibel oder christliche Werte berufen. Doch das Christentum und seine Vertreter spielen nicht nur eine Rolle aufseiten der Protagonisten der Umweltbewegung; sie sitzen auch auf der Anklagebank. Seit Carl Amerys einflussreichem Büchlein Das Ende der Vorsehung1 und seiner Rede von den „gnadenlosen Folgen des Christentums“ für die Umwelt wird die These diskutiert, das Christentum sei einer der wichtigsten ideengeschichtlichen und kulturellen Bedingungsfaktoren und Steigbügelhalter der modernen Natur- und Umweltzerstörung. Der biblische Herrschaftsauftrag „Macht euch die Erde untertan“2 habe die Natur zum an sich selbst wertlosen Objekt menschlicher Herrschsucht und Ausbeutungslust degradiert. Gegenüber einer vermeintlich intrinsischen Tendenz zur Naturvergewaltigung durch die monotheistisch-anthropozentrische Religion des Christentums wird oft auf indigene Religionen, etwa nordamerikanische, verwiesen; die berühmte Rede, die der Sioux-Häuptling Seattle 1855 in Washington gehalten haben soll, beschreibt eine innige Verbindung von (indigenen) Menschen und Natur über deren Tod hinaus.3 1  Carl Amery, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums [1972], Hamburg 1984. 2  Gen. 1,28. Die Bibelzitate folgen der bekannten Lutherübersetzung. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers revidiert 1956/1964, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1970. 3  Zum Klassiker in der Umweltbewegung wurde die freie (aber als solche nicht kenntlich gemachte) Nachdichtung der Rede von Ted Perry aus den frühen 1970er Jahren, die ihrerseits

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Kritikern wie Carl Amery wird man zumindest insoweit Recht geben müssen, als in der traditionellen christlichen Ethik die nichtmenschliche Natur – Tiere, Pflanzen, Täler und Berge – und die Verantwortung des Menschen für die Natur­ erhaltung in der Tat zumeist keine besondere Rolle gespielt haben. Dem Christentum ist ohne Zweifel seit biblischen Zeiten eine grundsätzliche Desakralisierung der Natur wie auch ein gewisser Anthropozentrismus eingeschrieben.

2. Natur und Umwelt in der Bibel Der Gott der Bibel ist ein Gott, der sich von den Naturgöttern anderer Völker, etwa der Kanaanäer, strikt und durchaus polemisch unterscheidet: Er ist nicht wie der im Alten Orient weitverbreitete Gott Baal ein im Naturkreislauf sterbender und wieder auferstehender Gott; er ist auch der mächtigen Lebensgewalt der Sexualität selbst nicht unterworfen, er ist weder männlich noch weiblich. Dabei ist jedoch zwischen der theologischen Ebene der biblischen Texte, die für das Natur- und Umweltverhältnis des Judentums und des Christentums bestimmend wurden, und der altisraelitischen Religionsgeschichte selbst, wie sie sich moderner historisch-­ archäologischer Forschung präsentiert, zu unterscheiden. Dass der altisraelitische Gott Jahwe mit Naturerscheinungen, etwa dem Donner4, korreliert ist, spiegelt sich auch noch in den Texten. Archäologische Funde lassen darauf schliessen, dass an der Seite Jahwes zumindest in den Anfängen eine Frau gestanden hat, Aschera.5 Aber die biblische Theologie hat solche Naturverhaftungen Jahwes, wie gesagt, mehr und mehr ausgemerzt und das Natürliche in Gott gewissermassen depotenziert, so wie die Sonne, der Mond und die Sterne, die in den ausserbiblischen Religionen, etwa in Babylon, als Gottheiten verehrt wurden, im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht zu blossen „Lichtern“, also Leuchten, herabgesetzt werden.6 Ein säkularisierender Zug geht also tatsächlich durch das biblische Naturverständnis. Und solche Überweltlichkeit Gottes ist in der Tat mit einem (theozentrisch grundierten) strukturellen Anthropozentrismus des biblischen Naturverständnisses korreliert. Dem überweltlichen Gott entspricht innerweltlich der Mensch als Bild, d. h. als Mandatar, als Beauftragter Gottes. Gottebenbildlichkeit ist wesentlich, auch darin ist C. Amery Recht zu geben, zu verstehen als Herrschaftsauftrag Gottes an den Menschen über die Schöpfung.7 Darin ist jedoch keine schrankendeutliche Züge einer – auch christlich – motivierten Modernitätskritik enthält. Zur problematischen Überlieferungsgeschichte der Rede vgl. Herbert Gruhl, Häuptling Seattle hat gesprochen. Der authentische Text seiner Rede mit einer Klarstellung: Nachdichtung und Wahrheit, Düsseldorf, 5. Aufl. 1986. 4  Vgl. Ps. 29,3 u.ö. 5  Vgl. Israel Finkelstein / Neil A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 2002, 262. 6  Vgl. Gen. 1,16. 7  Vgl. Gen. 1,26.

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lose Verfügungsgewalt über die nichtmenschliche Natur eingeschlossen. Diese bildet nicht das an sich selbst wertlose Material hemmungsloser menschlicher Selbstverwirklichung und Selbstbefriedigung; wohl darf er sie zu seinem Lebensunterhalt benutzen, doch ist der Mensch eingesetzt als verantwortungsvoller Heger und Pfleger der Natur. Die Ermächtigung, nicht nur Pflanzen, sondern auch Tiere zu töten und zu essen, ist nicht Teil dieser ursprünglichen göttlichen Zusage. Sie erfolgt erst in Ansehung der durch die Sintflut bestraften menschlichen Bosheit, im Rahmen des Bundes mit Noah. Zwar werden nun die Tiere in die Hände der Menschen gegeben: „Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel über allem was auf dem Erdboden wimmelt und über allen Fischen im Meer. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut hab ich’s euch alles gegeben.“ (Gen. 9,2 f.) Und doch wird das Blut selbst, als der nach antiker Vorstellung eigentliche Träger und Sitz des Lebens, ausdrücklich ausgenommen von der Verzehrerlaubnis.8 Dass die Erlaubnis Tiere zu verzehren ein Zugeständnis ist, um dessen problematischen Charakter gewusst wird und das keineswegs mit einer Depotenzierung der Tiere zu blossen Nahrungsmitteln, zu Sachen oder gar Waren, einhergeht, erhellt daraus, dass der neue Bund von Gott ausdrücklich nicht nur mit Noah und den Menschen, sondern mit „allem Fleisch auf Erden“ (Gen. 9,17) geschlossen wird. Die Tiere sind Bündnispartner Gottes wie die Menschen. In kulturgeschichtlicher Perspektive ist hinzuzufügen, dass diese Texte selbstredend vor dem Hintergrund der damaligen soziokulturellen Verhältnisse zu lesen sind: Die Natur war für den biblischen Menschen eine überwiegend feindliche Lebenswelt, Wildnis, der er in harter, täglicher Arbeit, unter Schweiss und Schmerzen, wie die Sündenfallgeschichte voraussetzt, sein zumeist karges Leben abzutrotzen hatte. Verlässliche Fruchtbarkeit, gar ein „Land, in dem Milch und Honig fliesst“, war alles andere als selbstverständlich; es war, wenn es denn gewährt wurde, Gottes grosszügige Gabe an sein auserwähltes Volk, das von Hause aus die unwirtlichen Lebensräume der Halbwüste gewohnt war, die nur nomadische Lebensweise zulässt. Im Kampf ums Dasein konkurrierte der biblische Mensch, wie ihm sehr bewusst war, mit Pflanzen – Disteln und Dornen auf seinen Äckern – und wilden Tieren – Bären, Berglöwen, Wölfen –, die seine Herden bedrohten. Wohlstand und Reichtum hiess für das Gros der Bevölkerung, insbesondere der ländlichen: nicht aus der Hand in den Mund leben zu müssen; und alle kulturellen Leistungen wie etwa die Steuerlasten für eine stabile Staatlichkeit oder für das zentrale Kultheiligtum, waren für die Bevölkerung mit grossen Belastungen verbunden. Hungersnöte durch Missernten aufgrund von Trockenheit oder Unwettern waren für alle biblischen Generationen gewohnte Lebenserfahrungen; und ein Bewusstsein davon, dass der Mensch durch seine Kulturarbeit und seine durch keine Trieb8 

Vgl. Gen. 1,4. – Das ist der Sinn und Anhaltspunkt der jüdischen und in ihrer Folge auch der muslimischen Schächtpraxis.

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struktur limitierten, ins Offene gehenden Lebensbedürfnisse, Natur über Gebühr zerstören könnte, lag ausserhalb des allgemeinen Vorstellungshorizonts. Grossen antiken Städten wie Babylon, Ninive, Rom oder auch dem herodianischen Jerusalem begegnete man zwar mit einer Mischung aus Unterlegenheitsgefühl, Bewunderung und Misstrauen; und die Grösse und Enge des überbauten urbanen Raums konnte durchaus Thema biblischen und vor allem prophetischen Nachdenkens werden; aber auch dann war es nicht die Zerstörung oder der Verbrauch natürlicher Landschaft, der Sorge und prophetische Kritik galten, sondern die sich darin bekundende menschliche Gier nach Besitz und Ruhm und die sich damit verbindende soziale Ungerechtigkeit.9 Andererseits verstellte die dominierende Lebenserfahrung der Kargheit und Bedrohtheit menschlicher Existenz im umgebenden Raum der wilden, bedrohlichen Natur den biblischen Menschen erstaunlicherweise nicht den Blick für den Reichtum, für ‚das Funktionieren‘, die Wunder und Schönheiten der Natur. Der Schöpfungsglaube öffnete dafür vielmehr die Augen. In Ps. 104 etwa erlebt der Mensch die Welt dankbar als harmonisches Panorama – kontrafaktisch zu vielen Alltagserfahrungen – und sich selbst als Teil einer von Gott geschaffenen und wohlgeordneten, schönen Naturwelt, die ihm Heimat bietet und Lebensraum für alle.10 Diese schöpfungsfromme, dankbar-zuversichtliche Grundstimmung, die das Leben und Ergehen jedes Spätzleins als Gegenstand von Gottes fürsorglichem Handeln deutet und die Schönheit der Lilien auf dem Felde als Ausdruck von Gottes Wohlwollen für seine Schöpfung und besonders für den Menschen, als seinen Mandatar und ihren Bewunderer, versteht,11 ist auch im Neuen Testament noch die voraus­gesetzte Naturanschauung; allerdings steht sie, und nicht erst dort – wie­  9 Vgl.: „Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern ­rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen.“ Jes. 5,8. 10 Vgl.: „Du lässest Wasser in den Tälern quellen, dass sie zwischen den Bergen dahinfliessen, dass alle Tiere des Feldes trinken und das Wild seinen Durst lösche. Darüber sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen. Du feuchtest die Berge von oben her, du machst das Land voll Früchte, die du schaffest. Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, dass du Brot aus der Erde hervorbringst, dass der Wein erfreue des Menschen Herz und sein Antlitz schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke. Die Bäume des HERRN stehen voll Saft, die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat. Dort nisten die Vögel, und die Reiher wohnen in den Wipfeln. Die hohen Berge geben dem Steinbock Zuflucht und die Felsklüfte dem Klippdachs. Du hast den Mond gemacht, das Jahr danach zu teilen; die Sonne weiss ihren Niedergang. Du machst Finsternis, dass es Nacht wird; da regen sich alle wilden Tiere, die jungen Löwen, die da brüllen nach Raub und ihre Speise suchen von Gott. Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen. So geht dann der Mensch aus an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend. HERR, wie sind deine Werke so gross und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. Da ist das Meer, das so gross und weit ist, da wimmelt’s ohne Zahl, grosse und kleine Tiere. Dort ziehen Schiffe dahin; da sind grosse Fische, die du gemacht hast, damit zu spielen. Es warten alle auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt.“ Ps. 104,10–28. 11  Vgl. Mt. 6,26–31.

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derum auf den ersten Blick schroff der anderen Auffassung gegenüber, nach der diese Welt auch in ihrer kreatürlichen Verfasstheit endlich sei, weil sie auf ein neuerliches ­grosses Gericht Gottes zugehe, das sich mit „Erdbeben und Hungersnöte[n]“ (Mk. 13,8) ankündigen und schliesslich mit einer Sonnen-, Mond- und Sternenfinsternis enden würde und einer allgemeinen Erschütterung der „Kräfte des Himmels“ (Mk. 13,25; vgl. Apg. 2,19–21). In dieser Katastrophe kommt Gottes Gericht über die Bosheit der Menschen zum Ausdruck, aber auch die widersprüchliche, leidende Signatur des natürlichen Lebens insgesamt, welche „die ganze Schöpfung…“, also auch Tiere und Pflanzen, „… sehnsüchtig harren…“ lässt „…auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes“ (Röm. 8,19). Im Durchbruch dieser kosmischen Katastrophe erwarteten die frühen Christen in Aufnahme alttestamentlicher Endzeitvorstellungen eine neue Welt, in der die Unvollkommenheiten des Noahbundes definitiv überwunden sein und mithin das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens nicht mehr gelten sollte, in der „die Wölfe bei den Lämmern wohnen, die Panther bei den Böcken lagern“ (Jes. 11,6) sollten. Für die urchristlichen Gemeinden war es Jesus, der diese neue Welt und ihren eschatologischen Tierfrieden bereits zeichenhaft vorweggenommen hatte, als er in der Latenzzeit vor Beginn seiner öffentlichen Verkündigungs- und Zeichentätigkeit sich für die biblisch-mythologische Dauer von 40 Tagen in die Wüste begab und dort, „war bei den [wilden] Tieren“ (Mk. 1,13). Mit diesem spannungsvollen biblischen Bild der Welt als einerseits von Gott gut geschaffener und gemeinter und auch erhaltener, gleichwohl aber permanent bedrohter, sich selbst zerstörender Menschen- und Naturwelt, die auf eine endzeitliche Katastrophe und – heilsame – Überwindung zugeht, war der christlichen Theologie die Matrix vorgegeben. Sie betonte jedoch in der Regel den anthropozentrischen Strang dieses Vorstellungskomplexes, den sie häufig mit der platonisch-aristotelischen Auffassung von der Logozentrizität des Menschen verband. Franz von Assisis Kreaturverbundenheit ist die Ausnahme, nicht die Regel im Christentum. Vor dem biblischen Hintergrund waren vegetarische Strömungen im Christentum selten und in der Regel auf randständige asketische Gruppen, wie die mittelalterlichen Katharer, beschränkt. Es ist die Vernunft, nach der sich, etwa für Calvin, der Mensch vom Tier unterscheidet.12 Aber mit dieser Vernunft erkennt der Mensch die „schöne Ordnung der Welt … als Spiegel, in dem wir allenthalben den unsichtbaren Gott erschauen können“13; diese Ordnung kommt jedoch wiederum im Menschen als „‚Mikrokosmos‘“14 zur besonderen Anschauung. Stärker 12 Selbst „noch unter den wildesten Völkern…, die sich in ihrem sonstigen Lebensstande kaum von den Tieren abzuheben scheinen…“, zeigen die Menschen noch zumindest keimhaft Vernunft – und Religion. Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, 26 (I, 3,1). 13  A.a.O., 30 (I, 5, 2). 14  A.a.O., 30 (I, 5, 3).

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eingeordnet in die kreatürliche Welt als bei Calvin wird der Mensch – unter festgehaltenem anthropozentrischem Vorzeichen – bei Luther. Im Kleinen Katechismus legt er den ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses („Von der Schöpfung“) mit dem Gedanken aus, „dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält“15. Die im 19. Jahrhundert aufkommende Tierschutzbewegung hatte einen starken Entstehungshintergrund in der Erweckungsfrömmigkeit insbesondere des lutherischen Pietismus.16 In der biblischen und theologischen Tradition des Christentums kommt der aussermenschlichen Natur kein Eigenwert zu; dem Menschen selbst jedoch auch nicht. Dennoch ist der Schöpfungsgedanke, wie die vorstehende Skizze zeigen sollte, auch wiederum nicht als prinzipielle Abwertung der Natur und des ‚Irdischen‘ zugunsten der Alleinwirklichkeit Gottes zu verstehen. Gott ist in der Bibel die grundgute absolute Macht, die die Welt, die Natur und zumal das Leben, will und die das Beste für die belebte Natur will. Darum zerstört das Reich Gottes nicht die Welt und die Schöpfung, sondern führt ihren ursprünglich gemeinten Zustand wieder herauf. Der Gesamtbefund ist gleichwohl durchaus nicht spannungsfrei und will es auch nicht sein. Die Spannung von Anthropozentrismus und allgemeiner Kreatürlichkeit, von Schöpfungsfrömmigkeit und Erlösungshoffnung, ist nicht aufzuheben, sondern konstitutiv für Bibel und Christentum. Dies wird im Folgenden noch etwas weiter auszuarbeiten sein. Die Relevanz solcher Ausarbeitungen hängt von der Bedeutungszuschreibung ab, die man dem Christentum zuzuerkennen bereit ist. Sie hängt unter Umständen auch davon ab, in welchem Masse man in säkularen Diskursen zur Umweltethik religiöse Subkodierungen mitschwingen hört und diese wichtig findet. Dies sei illustriert an einigen darauf gerichteten Überlegungen zum modernen Gebrauch der umweltethischen Leitbegriffe „Natur“ und „Leben“. Zu fragen ist nämlich, in15  Martin Luther, „Der Kleine Katechismus“, in: ders., Kirche und Gemeinde, Stuttgart/Göttingen, 2. erw. und neubearb. Aufl. 1966 (= Kl. Katechismus), 138–159, hier: 145. In Tierschützerkreisen zu einer gewissen Berühmtheit gekommen ist Luthers (humorvoll gestaltete, aber im Kern durchaus ernst gemeinte) „Klageschrift der Vögel“: „Klageschrift der Vögel an Lutherum über seinen Diener Wolfgang Sieberger. Unserm günstigen Herrn, Doctori Martino Luthern, Prediger zu Wittenberg. Wir Drosseln, Amseln, Finken, Hänflinge, Stieglitze, samt andern frommen, ehrbaren Vögeln, so diesem Herbst über Wittenberg reisen sollen, fügen Eurer Liebe zu wissen, wie wir gläublich berichtet werden, dass einer, genannt Wolfgang Sieberger, Euer Diener, sich unterstanden habe einen grossen freventlichen Durst (Vermessenheit) und etliche alte verdorbene Netze aus grossem Hass und Zorn über uns theuer gekauft, damit einen Finkenheerd anzurichten, sondern auch uns allen die Freiheit, zu fliegen in der Luft und auf Erden Körnlein zu lesen, von Gott uns gegeben, zu wehren vornimmt, dazu uns nach unserm Leib und Leben stellet“ (Luther WA 38, 292). Zit. n. Gotthard M. Teutsch, Da Tiere eine Seele haben. Stimmen aus zwei Jahrtausenden, Stuttgart 1987, 169. 16  Vgl. Martin Jung, „‚Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs‘: Der Tierschutzgedanke im Pietismus“, in: Bernd Janowski / Peter Riede (Hgg.), Die Zukunft der Tiere: Theologische, ethische und naturwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 1999, 128–154.

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wiefern dieser moderne Gebrauch, der von den Naturwissenschaften bestimmt ist, nicht gleichwohl noch eine religiöse, unter Umständen sogar christliche Signatur erkennen lässt.

3. Zur religiösen (Sub-)Kodierung umweltethischer Grundbegriffe Um mit dem Naturbegriff zu beginnen: Gegen die naturwissenschaftliche Kodiertheit des modernen Naturbegriffs regt sich in der Gegenwart, insbesondere in der Umweltschutzbewegung, vielfach Widerstand. Moderne Naturwissenschaft sei seit Descartes mit einem objektivierenden Duktus verbunden, der der Natur, insbesondere der belebten Natur, nicht gerecht werde. Überdies dependiere der neuzeitliche Naturbegriff von seiner Gegenüberstellung zum Begriff der Kultur, was schon in sich selbst eine aporetische Figur sei. Der wahrscheinlich radikalste Korrekturversuch neuzeitlicher (vermeintlicher) Fehlobjektivierung von Natur ist die sogenannte Gaia-Hypothese von Lynn Margulis und James Lovelock aus den 1960er Jahren. Nach ihr sei die Erde und ihre Biosphäre als ganze als ein dynamisches biologisches System, im Grunde als ein lebendiger Organismus aufzufassen.17 Als Lebewesen zeige die Erde ein an ihrer Selbsterhaltung orientiertes Verhalten.18 Diese dem Anspruch nach naturwissenschaftliche These ist oft religiös verstanden worden; und diese Assoziation klingt in ihrem theophoren Titel bereits an. In der Tat ist es vermutlich schwierig, sich einen Organismus von der Grösse und Komplexität des Planeten Erde nicht als göttliches Wesen vorzustellen. Die Gaia-Hypothese ist eine relativ spekulative Form eines holistischen Physiozentrismus. Davon zu unterscheiden ist eine individualistische, d. h. die einzelnen Entitäten in der Welt als solche wertschätzende, Version von Physiozentrismus. Grundsätzlich impliziert er die Forderung, dass der Natur – im Einzelnen oder Allgemeinen – ein intrinsischer Wert bzw. Eigenwert zukomme. Darum sei eine „Ethik der Achtung gegenüber der Natur“19 zu entwerfen. Dies wird in der Regel negativ, nämlich durch Kritik an enger gefassten Wertzuschreibungen begründet; die Natur sei als voraussetzungsärmste Trägerin von Wertzuschreibungen zu verstehen, insofern bei ihr nicht besondere Eigenschaften oder Leistungen den Zuschreibungsgrund bildeten;20 darum sei diese Position zugleich die am wenigsten anthropomorphe und die relativ diskriminierungsfreiste, was sie vorzugs17  Vgl. James Lovelock, Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Aus dem Engl. übertr. von Jochen Eggert und Marcus Würmli, Scherz, Bern, München, Wien 1992. 18  Vgl. James Lovelock, Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt, List 2007. 19  Paul W. Taylor, „Die Ethik der Achtung gegenüber der Natur“. Übersetzung von Hilal ­Sezgin, in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und öko­ ethischen Diskussion, Frankfurt am Main 1997, 111–143. 20  Vgl. a.a.O., 135.

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würdig gegenüber anderen ethischen Grundpositionen mache. Allerdings wird bei dieser negativen Begründungsstrategie die Frage schwer zu beantworten, was der positive Grund für die Achtung der Natur als solcher sei. Hier scheint, freilich entgegen der erklärten Absicht der meisten philosophischen Vertreter solcher Theorien, ein metaphysischer oder religiöser Gedanke mitzuschwingen, der dem Sein selbst das Prädikat der (moralischen) Güte zuschreibt. In der Tat ist von dieser Intuition schwer zu abstrahieren. Gleichwohl ist daran zu erinnern, dass sie keineswegs kulturinvariant ist. In der antiken griechischen, namentlich sokratischen Philosophie galt zumindest die auf den einzelnen Menschen bezogene Frage, ob es unter Umständen besser sein könnte, er wäre gar nicht geboren worden, durchaus als offene Frage. Dass das Sein selbst, also Existenz, bzw. Bestimmtheit und Differenz, dem Nichtsein, bzw. der gestaltlosen Unbestimmtheit, vorzuziehen seien, ist durchaus keine allgemein evidente Intuition. „Wert“ ist ein Prädikat, das (ganz abgesehen vom epistemischen Anthropozentrismus seiner Erkennbarkeit) erst mit dem Sein selbst in die Welt kommt und insofern begrifflich von diesem – und weiteren Zusatzannahmen – dependiert. Die Frage aber, ob dem Sein selbst gegenüber dem Nichtsein, respektive der Differenz gegenüber der Indifferenz, Eigenwert und also Vorzugswürdigkeit zukomme, setzt, so scheint es, gedanklich ein – absolutes – Subjekt voraus, für welches Sein oder Nichtsein wählbare Handlungsoptionen sind. Von daher ist es schwierig, im individuellen und zumal im holistischen Physiozentrismus nicht den jüdisch-christlichen Schöpfungsgedanken hintergründig mitschwingen zu hören. Ähnliche Fragen lassen sich, wie mir scheint, nicht minder berechtigt auch an viele ethische Verwendungen des Lebensbegriffs stellen. Will man eine Apotheose holistischer Begriffe, insbesondere des Naturbegriffs vermeiden, so wendet man sich oft dem Lebensbegriff zu. Hier scheint jener Übergang vom Sein zum Sollen verankert, den Viele in umweltethischen Fragestellungen suchen. Dazu wird dann nicht selten dem Leben selbst ein intrinsischer Wert, nicht selten sogar Unverfügbarkeit zugeschrieben; das ist die Position des Biozentrismus. Im Grunde lässt sich die Gaia-Hypothese als Versuch verstehen, diese biozentrische Grundidee in die Natur, bzw. in einen bestimmten Teil der Natur (des Universums), nämlich in den Planeten Erde, einzuzeichnen. Streng genommen ist die Gaia-Hypothese keine physiozentrische, sondern eine hinsichtlich ihres Integrationsradius entscheidend erweiterte biozentrische Position. Zugleich zeigt sich so an der Gaia-Hypothese die unterschwellige religiöse Imprägnierung des Biozentrismus – zumindest in manchen seiner Ausprägungen. Diese wird erkennbar bzw. explizit, wo von einer „Heiligkeit des Lebens“ gesprochen wird. In der Tat fällt es intuitiv schwer, im autopoietischen System des lebendigen Organismus nicht den eigentlichen und letzten Träger (bzw. Adressaten) von berechtigten Eigenwertzuschreibungen zu erkennen. Der Grund für diese Intuition liegt im Eindruck der Unableitbarkeit, der Spontaneität des Lebens (überhaupt). Dies setzt jedoch eine stabile Grenze von organischem Leben und nichtorganischer Na-

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tur voraus. Allein, diese Anschauung birgt Probleme. Zum einen muss die evolutionäre Entstehung des Lebens auf der Erde dann als ein emergenter Sprung gedacht werden. Zum andern darf dieser Sprung durch Artefakte nicht überbrückbar sein. Beide Annahmen sind aber in der Gegenwart ins Wanken geraten. Es scheint sehr rudimentäre biochemische Konfigurationen gegeben zu haben (und vielleicht auch noch zu geben), in Bezug auf welche es schwierig ist, die Differenz von organischer versus anorganischer Natur eindeutig zu bestimmen. Die „Synthetische Bio­logie“ zielt ausserdem darauf, diese Grenze von der Seite menschlicher Artefakte her durchlässig zu machen; ob es ihr gelingen wird oder schon gelungen ist, ist nicht zuletzt eine Frage der Definition von Leben und bleibe hier einmal dahin gestellt.21 Sowohl die Evolutionsbiologie als auch die „Synthetische Biologie“ tendieren somit unter bestimmten Umständen dazu, den Lebensbegriff zu entgrenzen. In dem Masse, in dem dieses geschieht bzw. gelingt, verflüssigt sich die Grenze von (ethischem) Bio- und Physiozentrismus. Entsprechend und in diesem Masse werden auch die oben für den Physiozentrismus hinsichtlich seiner metaphysischen bzw. religiösen (Sub-)Kodierungen angestellten Überlegungen auf den Biozentrismus übertragbar. Die Frage nach der Herkunft des intrinsischen Werts des Lebens ist der eine Grund für die religiös-metaphysische Konnotiertheit seiner ethischen Valenz. Man könnte diesen Zusammenhang die schöpfungstheologische Signatur des Lebensbegriffs nennen. Daneben gibt es noch einen zweiten Zusammenhang, der in der inneren Verfasstheit des Lebens begründet ist; diesen könnte man die erlösungstheologische bzw. soteriologische Signatur des Lebensbegriffs nennen. Gemeint ist dies: Die Selbsterhaltung lebendiger Organismen ist nur möglich auf der Basis der Zerstörung anderer lebendiger Organismen; Leben lebt auf Kosten des Todes anderen Lebens. Die berühmteste, klassische Formulierung des Biozentrismus, die bekanntlich von dem Theologen und Kulturphilosophen Albert Schweitzer stammt, bringt genau dies zum Ausdruck: „‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘“22 Das Paradox der Lebenserhaltung durch Lebenszerstörung ist wahrscheinlich ein wichtiger Grund für die evolutionäre Entstehung von Religion gewesen, zumindest spielt die Auseinandersetzung damit in wahrscheinlich allen archaischen Religionen eine bedeutende Rolle. Insbesondere der Verzehr tierischen Lebens wurde als Sakrileg empfunden, das spezieller Riten, die im Grunde Entsühnungsriten waren, bedurfte. Im oben angesprochenen Noahbund liegt die alttestamentliche Variante dieses Denkens vor. Das christliche Fest mit der vermutlich am 21  Als Einführung in die „Synthetische Biologie“ eignet sich beispielsweise die von der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) in Auftrag und herausgegebene Studie von Joachim Boldt, Oliver Müller und Giovanni Maio, Synthe­ tische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, Bern 2009. 22  Albert Schweitzer, Kultur und Ethik [1923], München 1996, 330.

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weitesten zurückreichenden religionsgeschichtlichen Vergangenheit ist das Erntedankfest. Es ist ein Dank-, im Kern jedoch ein Opferfest. Und das ursprünglichste und wichtigste, und vielleicht nicht umsonst auch noch bis in die gegenwärtige, von vielen Säkularisierungen durchzogene religiöse Praxis hineinreichende Gebet ist das Tischgebet. „Unser tägliches Brot gib uns heute“ (Mt. 6,11). Die Nähe der Brotbitte im christlichen Vaterunser zur Bitte um die Vergebung der Schuld ist nicht zufällig. Der intrinsische Zusammenhang von Brot, Tod, Schuld und Vergebung scheint auf im johanneischen Bildwort vom Weizenkorn: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh. 12,24). Im christlichen Abendmahl rückt die Paradoxie des Lebens ins Zentrum des Kultes. Das „Geheimnis des Glaubens“ besteht darin, dass der Herr des Lebens sich selbst dessen Paradoxie – in ihrer äussersten schuldhaften menschlichen Steigerung – unterwirft. An diese Zusammenhänge sei hier zunächst nur in einer religions- und kulturgeschichtlichen Perspektive erinnert. Sie sollten lediglich illustrieren, inwiefern die religiöse Konnotierung des Lebensbegriffs nicht erst ein Implikat moderner bioethischer Diskurse (mit unter Umständen antimodernen Akzenten) ist, sondern tatsächlich in der Religionsgeschichte – hier des Christentums – selbst tief, und auf eine sehr bestimmte Weise verankert ist. ‚Beweise‘ für eine notwendig theologische Entfaltung der Umweltethik sind auf diese Weise, also im Rahmen solchermassen religions- und kulturgeschichtlich erweiterter Überlegungen zu Konnotationen des Natur- und Lebensbegriffs selbstverständlich nicht zu erbringen. Das war auch nicht das Ziel dieser skizzenhaften Überlegungen. Lediglich Triftigkeitsgründe für die Legitimität einer theologischen Perspektive auf die Umweltethik und Hinweise auf ihre spezifische Perspektivität könnten damit gegeben sein. Diese theologische Perspektivität ist noch etwas genauer zu umreissen.

4. Natur als Schöpfung – Zum christlichen Konzept der Schöpfung als Heilsgeschichte Vor dem Hintergrund der zuletzt angestellten Überlegungen ist das christliche Naturverständnis vom Gedanken göttlicher Schöpfung aus zu entfalten, der das Moment der kreativen Vergebung menschlicher Schuld als Ermöglichung von neuem Leben, konstitutiv in sich birgt. Auf diese Weise ist Schöpfung im christlichen Sinn als creatio continua, als fortgesetzte Neuschöpfung, nämlich Wiederermöglichung todgeweiht erscheinenden Lebens, zu verstehen. Dieser Vorgang ist nur dann radikal gedacht, wenn er Gott als seinem Ermöglichungsgrund nicht äusserlich bleibt. Der hier zu denkende Gedanke ist notwendigerweise theologisch-spekulativ: Dem im Prozess der Selbsterhaltung des Lebens getöteten individuellen Leben wird eine ‚Aufhebung‘ in Gottes absolutem Leben selbst verheissen. Solche Aufhebung ist zu

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verstehen als bewahrende Vollendung des individuellen Lebens in seinem von Gott gemeinten Sinn. Dies gilt für alles Leben, unerachtet der Umstände seiner Tötung, also nicht nur, jedoch in gewisser Weise vor allem, für das schuldhaft getötete Leben. Es gilt aber nicht zuletzt, sondern, wiederum in gewisser Weise ebenfalls vor allem, für das schuldhaft tötende Leben. An diesem jedoch kommt der Doppelcharakter der ‚Aufhebung‘ als Bewahrung und Gericht zum Vorschein. Dieses vollstreckt sich an jenem in dem Masse, in welchem das schuldhaft tötende Leben in seine Tötungsabsichten verstrickt bleibt. Es zieht sich selbst in die „Verhältnislosigkeit“ zurück, die das „Wesen des Todes“23 ist. Leiden, Schmerzen und Tod des Individuums sind in diesem heilsgeschichtlichen Prozess der Schöpfung teils ein prozessimmanentes und insofern notwendiges, teils ein kontingentes, prozessstörendes Moment. Erstere sind sie etwa in Gestalt von Alterungsprozessen; letzteres in Gestalt von erlittener Gewalt. Zu unterscheiden ist zwischen einer biologisch-strukturellen und einer kontingenten Form der Selbsterhaltungstendenz von Organismen (Selbstzentriertheit bei Menschen). Zentral ist dabei das Problem des Opfers, also des unschuldig getöteten Lebens. Dieses wird im Christentum zum Thema des göttlichen Lebens selbst. In einem so verstandenen theologischen Schöpfungskonzept wird mithin die anorganische Natur auf die organische hingeordnet gedacht. Natur ist auf das Leben hin geschaffen. Natur muss gewissermassen als blosse Natur sterben, damit belebte Natur werden kann. Aber auch diese Verwandlung wird damit der Aufhebung in Gott bedürftig und, so ist im Glauben zu postulieren, auch teilhaftig. Alles Sein, das belebte wie das unbelebte, hat ein Für-sich-Sein, ein Eigenrecht, das ihm im kreativen Prozess göttlichen Lebens zuteil wird. Spekulativer Kern und Ermöglichungsgrund dieser schöpfungstheologischen, näherhin heilsgeschichtlichen Konzeption von Natur und Leben ist der Gedanke, dass dieser göttliche Prozess dem Wesen und Leben Gottes selbst nicht äusserlich bleibt: „Gottes Sein ist im Werden“24. Das zeigt sich christlich gesprochen daran, dass die lebenserneuernde Entsühnung als in Jesus Christus kulminierender und in ihm zentrierter Akt zu denken ist, und zwar wiederum so, dass Jesus Christus trinitätstheologisch als personaler Akt in Gott selbst gedacht wird. In diesen heilsgeschichtlichen Prozess ist, wie bereits erwähnt, nach Paulus nicht nur der Mensch, sondern auch die nichtmenschliche Kreatur hineingenommen. Die Kreatur „seufzt“, „harrt“ der Erlösung. Ethisch gewendet bedeutet dies, dass die menschliche ‚Kultur‘-Arbeit in ihren zerstörerischen Implikationen kritisch gesehen, aber auch bejaht wird. Der kulturschaffende Mensch ist, sofern die so geschaffene Kultur lebensdienlich ist, das Ebenbild Gottes. Das ist mit dem sogenannten Herrschaftsauftrag gemeint: „Ma23 

Eberhard Jüngel, Tod [1971], Gütersloh 1979, 171. Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen, 4. durchges. Aufl. 1986. 24 

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chet euch die Erde untertan“. Denn die Natur als Schöpfung ist die Kultur Gottes. Der Garten Eden ist sein Kunstwerk. Gott gibt es sozusagen zur Weiterarbeit frei – an den Menschen. Der Möglichkeitsgrund menschlicher Kulturarbeit ist das schöpferische Handeln Gottes. Man kann durchaus sagen: In der menschlichen Kulturarbeit arbeitet Gott selbst an seiner Schöpfung weiter. Er gibt dazu die Schaffenskraft, er entsühnt den Menschen auch, der töten muss, um zu leben; aber er legt ihm zugleich Verantwortung auf; und er führt ihn zu einem Leben, in dem nicht mehr getötet werden muss, und in dem alles Leben aufbewahrt ist; das ist die biblische Schöpfungsgeschichte, die immer zugleich auch Heils- und Hoffnungsgeschichte ist. Solche Schöpfungs-Geschichte als creatio continua ist als ein in mehrfacher Hinsicht rekursiver, ja reflexiver und gerade darin: frei-kreativer Prozess zu denken, der in einer Folge von Vermittlungen besteht: creatio continua vermittelt zwischen Umschaffung, Neuschaffung und Bewahrung, Pflege; diese Vermittlung lässt sich mit dem Begriff Nachhaltigkeit beschreiben. Sie ist ausserdem zu denken als Prozess der Ermöglichung freien, selbstständigen Andersseins, das sich seinerseits als solches, als freies Anderssein, nur realisieren kann, indem es seine Freiheitsakte mit der Freiheit anderen Seins vermittelt. Bei den nichtmenschlichen Lebewesen ist diese Vermittlung durch ihr Instinktprogramm (Brutpflege, altruistisches Verhalten), bzw. das sog. „Gleichgewicht der Natur“ gewährleistet. Menschen sind zu dieser Vermittlung auf ethische Orientierung und Regulierung ihres Handelns angewiesen.

5. Folgerungen für die Umweltethik Wie ist ein solches Verständnis der Natur als göttlicher Heilsgeschichte in die gängige umweltethische Typologie von Anthropo-, Bio-, Patho- oder Physiozentrismus einzuordnen? Von einer gewissen Nähe zum Anthropozentrismus war bereits die Rede. Einem exklusiven Anthropozentrismus dürfte jedoch auf der skizzierten Basis kaum das Wort geredet werden dürfen. Wo ein solcher theologisch behauptet würde, ist von einem Selbstmissverständnis zu sprechen. Denn jedem der vier umweltethischen Grundtypen ist theologisch eine gewisse particula veri zuzuerkennen. Sofern man freilich eine solche Pluralisierung der ‚-zentrismen‘ begriffswidrig findet, wäre aus einer schöpfungstheologischen Perspektive insgesamt von einem hierarchischen Physiozentrismus zu sprechen, der die Wahrheitsmomente der übrigen Positionen in der nachstehend zu skizzieren versuchten Weise umschliesst.

Natur als „Schöpfung“?

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5.1. Christlicher Physiozentrismus Das schöpfungstheologische Konzept der Natur hat eine fundamentale Affinität nicht nur zum Anthropozentrismus, sondern auch zu demjenigen Typus, der von diesem am weitesten entfernt ist: zum Physiozentrismus. Insofern nämlich alles, was ist, das Sein überhaupt, grundsätzlich als Gottes gute Schöpfung verstanden wird, liegt in ihm eine grundsätzliche ethische Bejahung allen Seins, als Totalität, aber auch vor allem, sofern gegeben, als Individuen. Allerdings kann theologisch nicht mit einem intrinsischen ontologischen Eigenwert der Natur argumentiert werden, sondern mit ihrem Wert als Werk eines absoluten Handlungssubjekts. Insofern ist der Wert der Natur ein abgeleiteter (ab alio). Die betreffende Handlungsrationalität zielt jedoch wiederum auf die – relative – Selbstständigkeit solchen Andersseins. Sie zielt auf eine Individuierung des Seins, auf ein Für-sich-Sein, auf ein So- (und nicht anders) Sein, dessen So-Sein sich in der Spitze wiederum gerade als Sein für Anderes realisiert. In der hier umrissenen theo-ontologischen Perspektive ist die particula veri des Physiozentrismus in der ontologischen Grundierung von Individualität und deren Eigenwert zu sehen. Der Eigenwert der Individuen ist in ihrer zeitlich-räum­lichen Bestimmtheit, also Endlichkeit, begründet. In ihr spiegelt sich die Einmaligkeit – und Endlichkeit – des heilsgeschichtlichen Schöpfungsprozesses als ganzen. Individuen sind zunächst alle selbstzentrierten Organismen, also Lebewesen, die räumlich und zeitlich abgrenzbar sind, also Menschen und Tiere. Pflanzen, aber auch anorganische Entitäten wie Täler, Flüsse, Berge, sowie Artefakte fallen zunächst nicht unter diesen Begriff. Freilich lässt sich ein erweiterter Begriff von Individualität auch auf solche Entitäten anwenden. „Individualität“ muss nicht nur als ontologischer Begriff, er kann auch als Wahrnehmungskategorie verstanden werden. „Individuell“ sind alle Ensembles von Seiendem, die von einem Betrachter als in sich kohärente, stimmige Einheit wahrgenommen werden. Genau dies ist, und sogar in gesteigertem Mass, der Fall beim biblischen Schöpfungskonzept. Der biblische, priesterschriftliche Schöpfungsbericht lässt jeden einzelnen Schöpfungsakt beginnend mit dem von anorganischer Natur (Erde, Wasser) mit organischer Natur (Pflanzen), dem von deren Zeitordnung (Tag, Nacht), der Schaffung von Tieren und Menschen und schliesslich im Rückblick auf das Gesamtwerk schliessen mit dem Satz: „und Gott sah, dass es gut war“25. Damit ist das Wohlgefallen des Künstler-Gottes an seinem Werk gemeint. Es ist die Wert-Schätzung eines Künstlers, eines artifex, gegenüber dem Objekt als seinem Artefakt. Wir kennen solche Wertschätzungsakte in Bezug auf naturale Ensembles auch: So entsteht der Begriff Landschaft. Wo Natur als Landschaft beschrieben wird, wird sie als Produkt eines ästhetisch-ethischen Aktes der individualisierenden Wahrnehmung verstanden. Die erste Landschaft ist der Garten Eden, 25 

Gen. 1,10.12.18.21.24.31.

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eine Pastorale. Im biblischen Paradieskonzept wird das Schöpfungskonzept gewissermassen in sich selbst gespiegelt: die Ur-Welt, die Natur, wie sie war oder besser, wie sie im Auge Gottes gemeint ist, ist paradiesisch: ein geordnetes Ganzes, in dem ein Jegliches seinen Platz, seine Schönheit und seinen eigenen Wert hat. Aber schon die biblische Urlandschaft des Garten Eden ist nicht statisch. Der Mensch ist ja als sein Pfleger und Heger eingesetzt, insofern ist ein gewisses Mass an Dynamik mitgesetzt. Landschaften unterliegen Schöpfungsdynamiken; sie sind theologisch gesprochen göttliches work in progress. Gleichwohl steckt hier das physiozentrische Moment einer theologischen Schöpfungsethik. Alles, was ist, hat Wert – als Teil einer Um- und Mitwelt, die Landschaft ist, gutes Ensemble. Zugleich ist jeder solcher Wahrnehmungsakt eine Momentaufnahme. Er sistiert die Dynamik. Er individuiert in der Zeit; in gewisser Weise tötet dieser Blick, jedenfalls hält er fest, er friert ein. Das originale Medium der Landschaftswahrnehmung ist die Malerei, die Fotografie, nicht der Film. Landschaft ist ein ikonologischer Begriff. In theozentrischer Aisthetik darf man sich diesen Blick jedoch in der Tat als einen Film, als eine Serie von Momentaufnahmen vorstellen. Der göttliche Blick archiviert gewissermassen alle früheren Zustände einer Landschaft. Er hält sich das Gewesene präsent. Zugleich ist die göttliche Wahrnehmung als antizipierende Integration aller vergangenen Zustandsmomente eines Ensembles in einen eschatologischen Begriff desselben vorzustellen. 5.2. Christlicher Bio- und Pathozentrismus Dass auch der Bio- und der Pathozentrismus particulae verae einer theologischen Schöpfungs- bzw. Umweltethik beinhalten, dürfte evident sein und bedarf vergleichsweise weniger der Begründung. Das Leben, alles Leben, ist als solches wertvoll, weil es in gesteigertem Masse, nämlich intrinsisch, individualisiert ist. Lebewesen sind intrinsisch, also für sich selbst, individualisiert; nicht nur für anderes. Lebendige Individualität ist identische Individualität. Leiden muss als Funktion des erlittenen (oder befürchteten) Verlusts identischer Individualität verstanden werden. Wer leidet, wird gegen seine Eigenintentionalität alteriert. Im Schöpfungsgedanken steckt eine Aufforderung zur Solidarisierung des Menschen mit allem Geschaffenen. Zu erinnern ist noch einmal an Luthers Auslegung des Schöpfungsartikels. „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen“26. Es ist ein egalisierendes Moment, das aus dem ontologischen Charakter des Schöpfungsgedankens resultiert. Allerdings ist, was sich etwa an der Abfolge der Schöpfungstage in der Bibel ablesen lässt, auch erkennbar, dass das Leben – und ihm eingeordnet sein Leiden – abgestuft wird. Der Mensch ist in der Tat die ‚Krone der Schöpfung‘; und je näher das Leben dem menschlichen ist, desto höherwertig scheint es zu sein, und desto ethisch gravierender scheint auch sein Leiden zu sein. Menschen 26 Luther, Kl. Katechismus, 145. S. o. Anm. 15.

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zu töten ist immer ein Vergehen gegen Gottes ausdrückliches Gebot, denn „Gott hat den Menschen…“, wie an der betreffenden Stelle ausdrücklich wiederholt wird, „… zu seinem Bilde gemacht“ (Gen. 9,6). Tiertötung ist dem Menschen zugestanden. Christlicher Bio- und Pathozentrismus hat so gesehen hierarchische Züge. Dennoch sperrt sich diese grundsätzliche Abstufung der Ausarbeitung in eine durch- und ausdifferenzierte scala naturae in ethischer Absicht. Denn eine solche scala würde die ethische Absicht auf einem juridisch-kasuistischen Weg zu realisieren suchen und damit den bleibenden Schuldcharakter der Lebenserhaltung durch Lebensvernichtung und dessen bleibende Angewiesenheit auf das vergebende, neuschaffende, ‚aufhebend-bewahrende‘ Handeln Gottes auszublenden drohen. 5.3. Christlicher Anthropozentrismus Unverkennbar billigt der theologische Schöpfungsgedanke aber auch einer anthropozentrischen Perspektive ein Wahrheitsrecht zu; zunächst und vor allem einem methodischen Anthropozentrismus. Bei einem weiten Begriff von Sittlichkeit und entsprechenden Annahmen und Beobachtungen neuerer Tierphilosophie folgend kann man zwar auch einigen Tieren vielleicht gewisse Formen sittlichen Verhaltens zubilligen; aber ethische Reflexivität und Diskursivität ist keinem Tier zuschreibbar. Insofern ist das einzige Wesen, das nicht nur die Schöpfung als Schöpfung zu erkennen vermag, sondern auch schöpfungsethisch, bzw. umweltethisch zu handeln vermag, der Mensch; er hat es freilich auch am nötigsten. Daraus folgt aber nicht zwingend, und in theologischer Perspektive gerade nicht, dass die Schöpfungsethik allererst mit dem Menschen in die Welt käme. Theologisch ist vielmehr zu sagen, dass sie nicht durch ihn, sondern durch Gott in die Welt kommt. Die biblischen Schöpfungsberichte bringen dies dadurch zum Ausdruck, dass der Mensch von Gott angesprochen und durch Gebote verpflichtet wird. Gleichwohl ist der Mensch der einzige (uns bekannte) Träger, Rezipient und auch Akteur der Schöpfungsethik. Wenn Schöpfungsethik Verantwortlichkeit für das Geschaffene, Für-Sorge für Individuen und deren Leidentlichkeit bedeutet, dann kann aus dem methodischen, gnoseologischen Anthropozentrismus der biblischen Schöpfungsethik keine exklusive, materiale Anthropozentrik gefolgert werden. Denn damit würde der intrinsische Richtungssinn des Ethischen, die Fähigkeit von sich und seinen unmittelbaren Eigeninteressen zugunsten der Wahrnehmung der Interessen anderer bzw. des Ganzen, zu abstrahieren, auf der formalen Ebene geradezu konterkariert. Insofern und soweit wäre der Speziesismusvorwurf Peter Singers völlig im Recht.27 Denn der Mensch ist ja nicht nur der einzige Träger ethischer Verantwortung, sondern zugleich auch der wichtigste Erzeuger eines Bedarfs an ethischem 27 

Vgl. Peter Singer, Praktische Ethik. Aus dem Englischen übersetzt von Oscar Bischoff u. a., Stuttgart, 2. rev. und erw. Aufl. 1994, 90–94 u.ö.

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Verhalten gegenüber der Umwelt. Es sind bekanntlich in allererster Linie menschlich induzierte „Umweltsünden“, um deren Sühnung und Folgenbekämpfung es heute zu tun ist. Gleichwohl ist dem Anthropozentrismus aber insofern ein höheres und tatsächlich das relativ höchste Recht einzuräumen, als am Menschen der Vollbegriff ethisch relevanter Individualität abgelesen werden kann. Das kommt im Begriff der Menschenwürde zum Ausdruck. Menschenwürde ist biblisch Gottebenbildlichkeit. Menschen sind im Stande, den göttlichen Blick auf die Schöpfung zumindest teilweise zu praktizieren; sie vermögen in Entitäten Wesen mit intrinsischem Wert weil individueller Identität zu sehen; sie vermögen in Naturensembles (blühende) Landschaften wahrzunehmen. Sie können in ihrem aktiven und passiven Weltumgang die göttliche Kreativität spiegeln. Sie vermögen Symbiosen zwischenmenschlichen Lebens, aber auch solche von menschlichen mit nichtmenschlichem Leben wahrzunehmen, sich in den göttlichen Blick einzustellen, und darin zu leben. Darum seien diese Überlegungen zur theologischen Umwelt- als Schöpfungsethik abgeschlossen mit einem vordergründig nicht sehr, hintergründig durchaus ernst gemeinten Anhang, nämlich mit einem Gedicht von Christian Morgenstern, das eine solche Symbiose des göttlichen Blicks augenzwinkernd beschreibt:

6. Anhang: „Deus artifex“ „Wer kennte nicht die wackre Mähre, die, täglich weniger gespeist, zuletzt, gedrängt von innrer Leere, emporfuhr als verklärter Geist? Dies Tier ward Richards Rosinante, als er sein bodlos Leben schloss. Es hob der grosse Unbekannte höchstselbst den Seligen aufs Ross. Worauf er sprach: „Du mochtest wähnen, du seist ein gottverlassner Tropf. Ich habe stets bei meinen Plänen ein ganz bestimmtes Bild im Kopf.“ Und schritt hinweg. Der ganze Himmel sprang auf und wünschte Richard Glück… Und traun! Der Mann samt seinem Schimmel war in der Tat ein Meisterstück.“28 28 

Christian Morgenstern, Werke und Briefe, Band III – Humoristische Lyrik, hrsg. v. Maurice Cureau, Stuttgart 1990, 197.

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Naturschutz jenseits des Menschen Dietmar von der Pfordten Menschliches Handeln ist nicht nur faktisch der Natur unterworfen. Es erfährt auch wertende und verpflichtende Beschränkungen durch tatsächlich bestehende Normordnungen wie Moral, Recht, Technik, Politik, Religion, Medizin usw. Waren diese Normordnungen traditionell im Wesentlichen am Menschen und seinen Interessen orientiert, so stellt sich angesichts der immer intensiveren Veränderung der Natur durch den Menschen die Frage, ob die nichtmenschliche Natur eine eigenständige Berücksichtigung verdient. Ist also ein Naturschutz jenseits des Menschen, genauer jenseits menschlicher Belange, durch Moral, Recht, Politik, Technik usw. gerechtfertigt? Die Instanz, welche diese Frage zu erörtern und zu beantworten hat, ist die normative Ethik. Sie besteht in der Kritik und Rechtfertigung der tatsächlich bestehenden Normordnungen wie Moral, Recht, Politik, Technik usw. Die normative Ethik kann allerdings ihre Aufgabe der Rechtfertigung und Kritik dieser primären Normordnungen nur als Ganze erfüllen. Das bedeutet: Man kann die Frage nach dem Naturschutz jenseits des Menschen zwar vorläufig und aus pragmatischen Gründen der Ökologischen Ethik als disziplinärer Spezialisierung überantworten.1 Aber man sollte sich immer bewusst bleiben, dass eine Ethik ihre Kraft der Rechtfertigung und Kritik nur als Ganze entfalten kann. Aus diesem Grund werden nachfolgend zunächst fünf, an anderer Stelle erarbeitete Elemente einer allgemeinen normativen Ethik zusammengefasst.2

I. Normativer Individualismus Das erste Grundelement einer adäquaten normativen Ethik ist das Prinzip des normativen Individualismus. Es enthält drei Teilprinzipien, die sich in vielen Theorien der neuzeitlichen Ethiktradition finden, etwa bei Kant, im Utilitarismus und in den Vertragstheorien, und die deshalb als weitgehend akzeptiert gelten können.3 (Sofern man von den noch zu erörternden kollektivistischen bzw. holistischen Ethiken absieht.) 1  Vgl. z. B. Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, Reinbek 1996. 2 Verf., Normative Ethik, Berlin 2010. 3  Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Berlin 1911,

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(1) Ausschließlich Individuen können letzter Ursprung der primären Verpflichtung und damit als betroffene Andere und Akteure letzter rechtfertigender Fixpunkt der Ethik sein, nicht aber Kollektive oder holistische Entitäten, etwa die Nation, das Volk, die Gesellschaft, der Staat, die Rasse, die Familie, die Sippe, das Ökosystem oder die Biosphäre, wie eine kollektivistische oder holistische Ethik annimmt.4 Der verpflichtende und deshalb ethisch zu berücksichtigende Andere muss also ebenso wie der ethisch verantwortliche Akteur in letzter Instanz immer ein Individuum sein (verstanden in einem sozialen Sinn, nicht in einem physikalischen). Oder anders formuliert: Das moralische Grundverhältnis kann letztlich nur zwischen Individuen bestehen. Man kann dies das „Individualprinzip“ des normativen Individualismus nennen. (2) Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung betroffenen Individuen (alle sog. moral patients) müssen bei der letzten Rechtfertigung einer Handlung oder Entscheidung berücksichtigt werden. Man kann dies das „Allprinzip“ des normativen Individualismus nennen. (3) Alle von einer Handlung betroffenen Individuen müssen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Man kann dies das „Gleichheitsprinzip“ des normativen Individualismus nennen. Warum können nach dem Individualprinzip des normativen Individualismus in letzter Instanz nur Individuen moralische Verpflichtungen bzw. Bewertungen rechtfertigen? Eine Begründung muss ihren Ausgangspunkt beim Sinn und Zweck primärer Normordnungen wie Moral und Recht und daran anknüpfend der Ethik nehmen. Moral, Recht usw. dienen dazu, unseren Charakter sowie unser Handeln und Entscheiden angesichts zumindest potentiell widerstreitender Gesichtspunkte, Werte und Belange zu bestimmen, und zwar nicht nur mittels Ratschlägen und Empfehlungen, sondern auch mittels genuiner, kategorischer Pflichten. Die Ethik hat also als Teil der menschlichen Kultur den Sinn und Zweck, faire und vernünftige Lösungen eventuell gegenläufiger Charakter-, Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu ermöglichen, die dann auch zu handlungsleitenden, kategorischen Pflichten führen. Das erfordert, dass Handelnder und Betroffener nicht Teil eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs sind. Denn wären sie Teil eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs, so würde das bedeuten, dass sie zueinander nur im Verhältnis einer internen normativen Relation stünden, nicht im Verhältnis einer externen normativen Nachdruck 1968, Bd. IV, 429. Jeremy Bentham, The Principles of Morals and Legislation, New York 1988, 1 f. 4  Vgl. zu einem allgemeinen ethischen Kollektivismus: Ludwig Siep, Konkrete Ethik, Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt a. M. 2004, 14, 16, 24, 26 ff. Vgl. zu einem Holismus der Natur: Martin Gorke, Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, Stuttgart 1999; ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, Stuttgart 2010; Aldo Leopold, „The Land Ethic“, in: ders., A Sand County Almanac, Oxford 1989, 201–226; James E. Lovelock, Gaia. A New Look at Life on Earth, Oxford 1979. Holmes Rolston, Environmental Ethics. Duties to and Values in the Natural World, Philadelphia 1988.

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Relation. Würden sie aber zueinander nur im Verhältnis einer internen normativen Relation als Teil eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs stehen, so wäre nicht zu erklären, warum zwischen ihnen kategorische, handlungsbegrenzende Pflichten bestehen sollten, wie sie für Moral, Recht usw. begriffliche Voraussetzung sind. Innerhalb eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs kann es gute Gründe der Klugheit geben, einzelne widerstreitende Handlungsgesichtspunkte zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Kategorische Pflichten müssen ihre letzte Quelle aber außerhalb dieses Kollektivs haben, denn nur dann hängen sie nicht von willkürlichen Entscheidungen des umfassenden Kollektivs mit unmittelbarer Wirkung für seine Teile ab. Hängen Konfliktlösungen von willkürlichen Entscheidungen des Kollektivs für seine Teile ab, so besteht keine kategorische, externe, moralische oder rechtliche Pflicht, sondern eben nur eine interne, unmittelbar wirksame Klugheitsentscheidung. Kollektive bedürfen für normative Entscheidungen keiner kategorischen Pflichten. Innerhalb eines normativ letztlich relevanten Kollektivs herrscht keine Moral und damit keine Ordnung, deren Verpflichtungen auf externen Relationen basieren, sondern lediglich die Faktizität der kollektiven, mehr oder weniger klugen Entscheidung über interne Relationen. Zwischen ethisch zu berücksichtigenden Individuen und Kollektiven besteht eine unhintergehbare ethische und damit normative Asymmetrie. Wir sprechen zwar von den Belangen bzw. Interessen von Kollektiven und akzeptieren damit das Bestehen derartiger kollektiver Belange bzw. Interessen. Daran lässt sich aber immer die Frage anschließen: Entsprechen diese kollektiven Belange bzw. Interessen auch wirklich den dahinter stehenden moralisch zu berücksichtigenden Belangen bzw. Interessen der Mitglieder des Kollektivs? Liegt etwa ein bestimmtes Handeln eines Unternehmens auch wirklich im moralischen Interesse der Arbeitnehmer, Aktionäre und Kunden? Handelt die Repräsentantin oder der Repräsentant einer Familie wirklich im Interesse aller Familienmitglieder? Das Umgekehrte gilt aber nicht: Wenn Individuen moralisch betroffen sind und nicht in speziellen Rollen als Repräsentanten eines Kollektivs agieren, so kann man – so jedenfalls unsere phänomenal zu ermittelnde allgemeine Ansicht – nicht normativ bzw. moralisch, sondern nur faktisch bzw. kausal sinnvoll fragen: Entsprechen die Auffassungen der fraglichen Individuen auch wirklich den dahinter stehenden, individualunabhängigen Auffassungen des Kollektivs? Die grundlegende Asymmetrie der ethischen Berücksichtigung von Individuen und Kollektiven manifestiert sich am deutlichsten in der Frage der Auflösbarkeit von Kollektiven. Lässt man religiöse oder sonstige transzendente Rechtfertigungen außer Betracht, so sehen wir keinen ethischen Grund, warum Kollektive gegen den klaren Willen, d. h. die Ziele und Wünsche aller zu berücksichtigenden Betroffenen bestehen bleiben sollen. Stimmen alle zu berücksichtigenden Betroffenen zu, so ist die Auflösung von Kollektiven nicht verwerflich. Man hat es etwa nicht allgemein als ethisch verwerflich angesehen, dass die Sowjetunion

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oder die Tschechoslowakei aufgelöst wurden – allenfalls vielleicht als unzweckmäßig. Ebenso sieht man es nicht als verwerflich an, wenn Freundschaften auseinandergehen oder ein Verein seine Selbstauflösung beschließt. Nur enttäuschte Erwartungen, nicht erfüllte Verpflichtungen oder andere, auf den Fortbestand des Kollektivs gerichtete Belange bzw. Interessen der Individuen können in solchen Fällen zu einer negativen Bewertung und zu entsprechenden Verzögerungs- und Kompensationspflichten führen, nicht aber die Beendigung der Gemeinschaft als solche. Diese ist grundsätzlich ethisch indifferent, weil die Gemeinschaft als solche jenseits der Bejahung dieser konkreten Gemeinschaft durch die Individuen keinen eigenen intrinsischen Wert hat. Für die Ökologische Ethik bedeutet das Individualprinzip des normativen Individualismus, dass Kollektive wie Arten, Biotope, Ökosysteme, die Erde sowie das gesamte Universum in letzter Instanz nur im Interesse von Individuen ethisch zu berücksichtigen sind, womit allerdings nicht nur Menschen gemeint sind, sondern auch Tiere, Pflanzen, Pilze, Mikroorganismen usw. Auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein.

II. Die entscheidenden Eigenschaften der Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen) Sind ausschließlich die betroffenen Individuen letzter Ursprung der ethischen Rechtfertigung bzw. Kritik, stellt sich die Frage, welche Eigenschaft bzw. welcher Aspekt der Individuen normativ entscheidend sein soll. Nimmt man die Individuen ernst, dann darf man ihnen keine bestimmte Eigenschaft von außen vorschreiben, sondern muss sie grundsätzlich selbst entscheiden lassen, welcher Aspekt ihrer Individualität ausschlaggebend sein soll, selbst wenn die Entscheidung irrational ist. Eine solche Selbstentscheidung ist aber natürlich im Rahmen einer abstrakten ethischen Theorie nicht für konkrete Konflikte und konkrete Individuen möglich. Dann muss man jedoch zumindest Theorieelemente annehmen, durch welche die Selbstentscheidung der Individuen möglichst ernst genommen wird. Diesem Anspruch auf voluntative und mentale Selbstentscheidung, der ein zentraler Ausdruck unserer Individualität und unseres Selbstverständnisses ist, muss im Rahmen einer ethischen Theorie, die dem normativen Individualismus verpflichtet ist, Rechnung getragen werden. Die normativ relevanten Eigenschaften der Individuen stehen in einem Kontinuum oder einer Reihe von Abstufungen zwischen körperlicher und mentaler Bestimmtheit: Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele (Absichten, verallgemeinert: der Wille). Die vier Begriffe sind unscharf begrenzt, aber man kann sie vielleicht folgendermaßen präzisieren: Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperli-

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chen Integrität jenseits der bloßen Wirkung der physikalischen Grundkräfte dienen. Sie lassen sich als lokale und zeitweilige Umkehrung der allgemeinen physikalischen Entropie kennzeichnen und finden sich nur bei Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen, nicht aber bei lebloser Materie, wie Steinen oder Gewässern. Eine Strebung des Menschen ist z. B. die nach körperlichem Temperaturausgleich. Bedürfnisse haben häufig eine körperliche Basis, sind aber geistig beeinflussbar, etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt und den Umfang der Befriedigung. Sie finden sich nur bei Tieren und Menschen, etwa das Bedürfnis nach Nahrung, nach Flüssigkeit, nach Ausscheidung, nach Wärme, nach Trockenheit etc. Wünsche haben gelegentlich auch eine körperliche, primär aber eine geistige Komponente. Die geistige Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig sachlich und zeitlich gegenüber einer eventuellen körperlichen Komponente durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches inhaltlich modifizieren oder sogar ganz unterdrücken. Wünsche finden sich hauptsächlich bei Menschen, möglicherweise auch bei höheren Tieren, etwa der Wunsch nach Geselligkeit, Schutz, Abenteuer, Unterhaltung, neuen Erlebnissen, Vergnügen. Ziele (Absichten) sind schließlich rein mentale Eigenschaften und nach allem, was wir wissen, vor allem bei Menschen zu finden, obwohl höhere Tiere nach neueren Erkenntnissen z. B. auch Werkzeuge zu bestimmten Zwecken benutzen. Ziele wären etwa die Veränderung der Gesellschaft, der Erwerb von Anerkennung, das Verfassen eines Buches, das Erreichen einer beruflichen Stellung, die Teilnahme an einer Reise. Ziele können zu anderen Zielen in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen. Man spricht dann von untergeordneten und übergeordneten Zielen.

III. Pluralismus des Bezugs der Wertungen und Verpflichtungen Die Belange des von einer Handlung betroffenen Anderen können sich prinzipiell auf alle Aspekte der Handlung eines Akteurs im weitesten Sinn beziehen: Charaktereigenschaften/Tugenden, Überzeugungen, Wünsche, Absichten, die Suche nach Mitteln, der Handlungswille/die Mittelauswahl, die Handlung im engeren Sinne sowie die Konsequenzen. Utilitaristische bzw. konsequentialistische Theorien behaupten dagegen eine ausschließliche oder in schwächeren Versionen zumindest primäre Bezugnahme der Interessen bzw. moralischen Wertungen und Verpflichtungen auf die tatsächlichen bzw. intendierten Konsequenzen von Handlungen, wobei alle anderen Elemente allenfalls sekundär der Sicherung bester Konsequenzen dienen sollen. Kant sowie kantianische Theorien wollen die Berücksichtigung dagegen auf den guten Willen bzw. die guten Absichten begrenzen. Beide Beschränkungen sind nach der hier vorgetragenen Auffassung unhaltbar. Warum? Man kann eine tatsächliche Bezugnahme auf alle Elemente der Handlung beobachten. Die meisten Menschen

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haben nicht nur ein Interesse, dass sie ihr Nachbar nicht in den Konsequenzen seines Handelns schädigt, sondern auch, dass er keinen gewalttätig-schädigenden Charakter hat, keinen Schädigungswunsch entstehen lässt, keine Schädigungsabsicht entwickelt, keine Vorbereitungen zur Schädigung trifft, keine schädigenden Mittel erwägt, keinen konkreten Handlungswillen zur Schädigung fasst und keine Schädigungshandlung durchführt. Auch das Strafrecht bestraft nicht nur die vollendete, vorsätzliche Tat, sondern bei vielen Delikten bereits den Versuch einerseits und die fahrlässig herbeigeführten Folgen andererseits.

IV. Notwendigkeit eines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzips Bei einem realen oder möglichen Widerstreit müssen die individuellen Belange notwendig abgewogen bzw. zusammengefasst werden, um zu einer begründeten ethischen Entscheidung zu gelangen. Ein vergleichbares Prinzip der Abwägung wird vom Utilitarismus (als Maximierungsprinzip bzw. Summenprinzip), von deontologischen Ethiken (als Verallgemeinerungsprinzip) sowie beinahe allen anderen Ethiken mit Ausnahme rein egoistischer Willensethiken, wie derjenigen Nietzsches, oder situativen oder dezisionistischen Ethiken bejaht.

V. Das Abwägungsprinzip der relativen Individual- und Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange Im Rahmen des fünften Elements einer adäquaten normativen Ethik müssten nun alle Abwägungsprinzipien materialer und prozeduraler Art diskutiert werden: das Vertragsprinzip, das Verallgemeinerungsprinzip, das Diskursprinzip, das Gleichheitsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Maximinprinzip (Differenzprinzip), das Paretoprinzip, das Genügensprinzip (satisficing principle) usw. Die hier vertretene kritische These lautet, dass alle diese Prinzipien eine gewisse Berechtigung haben, aber entweder zu abstrakt sind und deshalb nur die bisher erläuterten vier Elemente einer überzeugenden Ethik verbinden, also eine Abwägung nicht konkret inhaltlich steuern können (Vertragsprinzip, Diskursprinzip), oder zu konkret sind und deshalb nur bei bestimmten Fallkonstellationen überzeugen können (Gleichheitsprinzip, Maximierungsprinzip, Maximinprinzip, Paretoprinzip, Verallgemeinerungsprinzip, Genügensprinzip usw.). Wie könnte dann ein allgemeines, für jeden ethischen Konflikt signifikantes und gleichzeitig abwägungstaugliches Prinzip aussehen? Der erste und grundlegende Gesichtspunkt ist beim fünften Element die unterschiedliche Wertigkeit bzw. Berücksichtigungswürdigkeit der Belange in der Abwägung. Aber wie soll

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diese bestimmt werden? Eine Lösung bietet folgendes „Prinzip der relativen Individual- und Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange“: Je stärker der Belang bzw. das Interesse eines ethisch zu berücksichtigenden Individuums in der Entstehung oder Realisierung notwendig von anderen Betroffenen bzw. einer Gemeinschaft abhängt, desto eher muss sich das Individuum eine Relativierung in der Abwägung gefallen lassen bzw. darf die Gemeinschaft nach Gemeinschaftszielen entscheiden. Was bedeutet „in der Entstehung oder Realisierung notwendig von anderen Betroffenen bzw. einer Gemeinschaft abhängt“? Diese Abhängigkeit kann sich aus zwei Gründen ergeben: (1) historisch und vergangenheitsorientiert, weil eine bestimmte Praxis mit Anderen oder in einer bestimmten Gemeinschaft notwendige Entstehungsbedingung der Ausprägung des Belangs war, etwa der gesellschaftliche Trend zu einem bestimmten Freizeitvergnügen; (2) instrumentell und zukunftsorientiert, weil eine bestimmte Praxis nur mit Anderen bzw. in einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren Einrichtungen realisiert werden kann, etwa das Interesse, mit anderen zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten oder in einer bestimmten Stadt ein bestimmtes öffentliches Verkehrsmittel wie die U-Bahn zu benutzen. Man kann bei der relativen Individual- und Gemeinschaftsabhängigkeit in idealtypischer Form von einem Kontinuum ausgehen. An dessen einem Ende stehen Belange, die sehr wenig oder gar nicht notwendig von den jeweils betroffenen Anderen bzw. der spezifischen Gemeinschaft abhängen, sondern durch sie allenfalls zufällig gefördert oder nicht gefördert werden, etwa das physische Leben des einzelnen, seine körperliche Unversehrtheit, sein grundlegendes Denken und Wollen, seine Würde etc. Diese Interessen lassen sich in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften realisieren. Für sie gilt vor allem das Gleichheitsprinzip, weil sich die Individuen ohne Rechtfertigung für eine Unterscheidung mit ihren individuellen Belangen gegenüberstehen. Das Interesse, nicht gefoltert zu werden, verbindet z. B. die jeweils kaum gemeinschaftsabhängigen Interessen an der eigenen körperlichen Unversehrtheit und der eigenen Willensentschließung und potenziert damit quasi deren je einzelne starke Individualabhängigkeit. Deshalb muss das Interesse, nicht gefoltert zu werden, in höchstem Maße frei von relativierenden Abwägungen bleiben. Am anderen Ende des Kontinuums stehen fast vollständig von Anderen bzw. sozialen Gemeinschaften abhängige Belange, wie etwa das Interesse, mit anderen zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten, gemeinsam Sport zu treiben, öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Verkehrsmittel zu nutzen, das Interesse an sozialer Unterstützung, an der gemeinsamen Wirtschaft, an natürlichen Ressourcen wie sauberer Luft oder Mineralöl, an dem Erhalt der Gemeinschaft. Für diese sehr stark sozial abhängigen Belange gilt wohl vor allem das Maximierungsprinzip, weil die Abhängigkeit der Belange von der Gemeinschaft die gemeinschaftliche Entscheidung rechtfertigt. Der einzelne kann der kollektiven Perfektionierung kein legitimes Veto entgegenhalten. Zwischen beiden Extremen liegen z. B. Interessen an respektvoller Behandlung, der Aufklärung über persönlich wichtige Tatsachen,

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der Erwerbstätigkeit, der freien Meinungsäußerung, der Nutzung eigener Güter etc., also vor allem die klassischen Menschenrechte jenseits von Leib, Leben und Psyche. Für diese Interessen gilt weder das Gleichheits- noch das Maximierungsprinzip, sondern es muss eine faire Abwägung erfolgen, etwa nach dem Pareto­ prinzip oder dem Maximinprinzip.

VI. Welche Individuen sind ethisch zu berücksichtigen? Für die ethische Frage nach dem Naturschutz ist entscheidend, welche Dinge, Lebewesen oder Entitäten im Rahmen der solchermaßen gerechtfertigten Ethik des normativen Individualismus zu berücksichtigen sind.5 Die selbstständige ethische Berücksichtigung eines Anderen setzt voraus, dass er eigene Belange, also Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele entfaltet. Die andere Entität muss mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen Kräften oder sonstigen externen Beeinflussungen unterliegt. Ein Stein verdient keine ethische Berücksichtigung, weil er in seiner Existenz und seinen Veränderungen bloß kausales Ergebnis physikalischer Kräfte ist. Eine Maschine verdient keine ethische Berücksichtigung, weil sie in allen strebungsähnlichen Abläufen durch ihren Konstrukteur determiniert ist. Was in all seinen Abläufen von uns Menschen determiniert ist, dem können wir keine eigenständige Fähigkeit zuerkennen, unsere Handlungen ethisch, das heißt jenseits der bloßen Naturgesetze einzuschränken. Denn wir hätten die Maschine auch anders konstruieren können, ohne dass dagegen von einem ethischen Standpunkt etwas einzuwenden gewesen wäre. Der Gedanke, dass derjenige, der etwas vollständig oder praktisch vollständig herstellt und damit bestimmt, auch darüber verfügen kann, spielt in vielen Argumentationszusammenhängen eine Rolle, z. B. in der Schöpfungstheologie, aber auch in säkularen Rechtfertigungen, etwa in der Eigentumstheorie John Lockes.6 Danach erwirbt derjenige an einem Gegenstand Eigentum, der ihn bearbeitet. Die Entwicklung von Computern begann wie die von anderen Werkzeugen unter dem Signum einer vollständigen Instrumentalisierung durch den Menschen. Diese vollständige Instrumentalisierung schließt ihre eigenständige ethische Berücksichtigungswürdigkeit aus. Auch wenn Computer partiell Selbststeuerungselemente erzeugen, so bleiben diese doch im Rahmen menschlicher Zwecksetzungen. Avancierte Computer können mittlerweile primitive Programmierungsschritte ausführen. Dies geschieht aber nur als Erfüllung menschlicher Programmvorga5  Vgl. zu den folgenden Überlegungen: Verf., „Eine Ökologische Ethik der Berücksichtigung anderer Lebewesen“, in: Konrad Ott / Martin Gorke (Hgg.), Spektrum der Umweltethik, Marburg 2000, 41–65; ders., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, Reinbek 1996, 237 ff.; ders., Normative Ethik, Berlin 2010, 338 ff. 6  John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 25 ff.

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ben höherer Ordnung. Selbst die einfachste Pflanze entwickelt sich dagegen selbst und wird allenfalls im Rahmen dieser Entwicklung vom Menschen instrumentalisiert. Es ist aber nicht zu leugnen, dass sich beide Typen von Wesen in ihrer ethischen Signifikanz mit der zunehmenden Selbststeuerung von Computern und der zunehmenden Genmanipulation von Pflanzen an ihren Extremen annähern. Da Computer aber von vornherein für menschliche Zwecke konstruiert wurden, wird man von einem Überschreiten der Grenze zur ethischen Berücksichtigungswürdigkeit trotz steigender Selbststeuerungsanteile erst ausgehen können, wenn sie einen eindeutigen Bruch mit der menschlichen Vorgabe der Instrumentalisierung vollziehen, also Strebungen entfalten, die signifikant von diesen menschlichen Vorgaben abweichen, das heißt falls sie z. B. selbstständig aus den menschlichen Verwertungszusammenhängen ausbrächen, etwa als Roboter eine eigenständige Existenz führen würden.

VII. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen? Viele Ethiker sind der Auffassung, dass nur empfindungsfähige, das heißt bewusstseinsfähige Lebewesen, also höhere Tiere mit Nervensystem und Menschen ethisch zu berücksichtigen sind. Man bezeichnet diese Auffassung als „pathozentrisch“. Gegen die pathozentrische Auffassung und für eine „biozentrische“ Haltung, wonach alle Lebewesen, also auch Tiere ohne Nervensystem, Pflanzen und Mikroorganismen, prinzipiell ethisch zu berücksichtigen sind, sprechen die folgenden vier Argumente: Konsequente Vertreter der pathozentrischen These müssen erstens jede moralische Berücksichtigung irreversibel komatöser Menschen (sog. human vegetables) um ihrer selbst willen verneinen. Nur die Belange der Angehörigen dieser Menschen oder deren frühere Belange im bewussten Zustand können als ethisch und moralisch berücksichtigungswürdig angesehen werden. Dies dürfte mit der gegenwärtig gesellschaftlich akzeptierten Praxis der monatelangen, aufwendigen Pflege irreversibel komatöser Patienten in deren Interesse kaum vereinbar sein. Zweitens haben auch bewusstseinsfähige Lebewesen Strebungen, die ihnen selbst niemals bewusst werden und deren Missachtung trotzdem ethisch unerlaubt ist. Die Schädigung des Immunsystems des Menschen war sicherlich bereits ethisch verwerflich, bevor die Medizin das Immunsystem entdeckte. Eine solche Schädigung ist ethisch verwerflich, auch wenn ein Kind nichts von seinem Immunsystem weiß. Wenn es aber nicht nötig ist, dass sich das Bewusstsein eines Wesens auf die ethisch relevante Funktion bzw. Strebung seines Körpers bezieht, so ist kaum einsichtig, warum eine vergleichbare Funktion bzw. Strebung bei anderen Lebewesen ohne Bewusstsein ethisch irrelevant sein soll. Auch Pflanzen haben z. B. ein Immunsystem, das zwar einfacher, aber demjenigen von Tieren und Men-

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schen in ihrer Strebungsstruktur zur Selbsterhaltung jenseits bloßer physikalischer Gesetze vergleichbar ist. Die Entkopplung, die sich ergibt, wenn man das Bewusstsein einerseits als conditio sine qua non für die Anerkennung von Belangen einer Entität ansieht, andererseits aber die Berücksichtigung einzelner Belange ohne Bewusstseinssteuerung zulässt, führt zu wenig plausiblen Konsequenzen: Man gelangt auf diese Weise zu einer Ethik, die uns bei der Wahl eines anderen Kriteriums ganz absurd erschiene. Niemand würde etwa zugestehen, dass es zulässig wäre, die Gruppe der ethisch relevanten Betroffenen nach einem abstrakten Maßstab und vollständig unabhängig von den Kriterien für konkrete Interessenverletzungen zu bestimmen, etwa indem man allgemein festlegte, ausschließlich Weiße oder ausschließlich Farbige seien ethisch zu berücksichtigen und dann erst fragt, welche einzelnen Strebungen bzw. Belange dieser willkürlich eingeschränkten Entitätengruppe Berücksichtigung verdienen. Mit der Hypostasierung des Bewusstseinskriteriums als Schibboleth für die Träger von Belangen werden also – zumindest auf einer ersten Stufe – nicht die tatsächlich bestehenden Strebungen als ethisch relevant ausgezeichnet, sondern eine zusätzliche Eigenschaft ihrer Träger. Dies ist in zweifacher Hinsicht unbefriedigend: Ungelöst bleibt damit zum einen, was dann als Kriterium für das Bestehen einzelner Interessen fungieren soll. Wenig einleuchtend erscheint es zum anderen, die eigentliche normative Begründungslast nicht in der normativ-ethisch signifikanten Eigenschaft der Strebung, sondern in der kognitiven Trägereigenschaft der Bewusstseinsfähigkeit zu verorten, denn man begeht damit zwangsläufig einen naturalistischen Fehlschluss. Drittens wirft die Kopplung des Interessenbegriffs an die Begriffe Bewusstsein und Empfindung noch ein tiefer liegendes Problem auf: Die Begriffe des Bewusstseins und der Empfindung sind zunächst rein empirische Begriffe. Sie finden ihre Anwendung in verschiedenen empirischen Wissenschaften, etwa der Psychologie, der Biologie und der Medizin. Sie werden dort ausschließlich deskriptiv gebraucht. Eine wertende Komponente wie bei anderen Begriffen der Ethik, etwa „gut“ oder „gerecht“, ist nicht erkennbar. Der Begriff „Belang“ bzw. „Interesse“ erfüllt dagegen – zumindest im Zusammenhang einer normativ-ethischen Rechtfertigung – eine praktische Funktion. Er stellt eine rechtfertigende Brücke zwischen Deskriptionen und moralischen bzw. ethischen Präskriptionen her und ist kein rein deskriptiver Begriff. Versucht man nun, den solchermaßen praktischen Belang- bzw. Interessenbegriff durch einen rein deskriptiven Begriff, wie Bewusstsein oder Empfindung, zu konkretisieren, ohne die gesamte ethische Rechtfertigung mit ihrer Verbindung von Tatsachen und Normen in den Blick zu nehmen, so bleibt diese Konkretisierung zwangsläufig eine bloße Willkürentscheidung, ohne wirklich rechtfertigen zu können. Man kann hier auch ein beliebiges engeres oder weiteres Kriterium wählen, etwa Sprachfähigkeit oder die Qualität, ein Lebewesen zu sein. Kann man ein Resultat aus der Diskussion um das Sein-Sollen-Problem und den naturalistischen Fehl-

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schluss ziehen, so ist es das Verbot jeder rein naturalistisch-deskriptiven Lösung der Qualifikation ethisch zu berücksichtigender Entitäten. Der Interessenbegriff bedarf natürlich einer Konkretisierung durch stärker deskriptive Begriffe wie Strebung, Bedürfnis, Wunsch und Ziel, sonst kann er seine Vermittlungsfunktion zwischen Tatsachen und Normen nicht erfüllen. Aber der Einbau deskriptiver Begriffe muss seinerseits unter Berücksichtigung der spezifischen Rechtfertigungsfunktion des Interessenbegriffs im Rahmen einer praktischen Begründung erfolgen. Andernfalls kann die ethische Rechtfertigung keine normative Begründungskraft entfalten. Die normative Begründungskraft einer ethischen Theorie ergibt sich aus zwei Quellen: zum einen daraus, dass die in Frage kommenden Strebungen nicht nur Tatsachen sind, sondern eine Form des Selbstbezugs und des Selbsterhaltungsstrebens aufweisen, zum anderen daraus, dass ethische Rechtfertigungen nur in Konfliktsituationen überhaupt ihre begründende Kraft entfalten können und müssen, in denen sowieso Anspruch gegen Anspruch steht. Um eine andere Entität als ethisch berücksichtigungswürdig anzuerkennen, ist demnach nur ein irgend gearteter Selbstbezug, ein eigenes selbstbezogenes Streben jenseits rein physikalischer Kräfte nötig. Aber es ist nicht ersichtlich, warum Strebungen, die wenigstens biologisch sind, also über rein physikalische Kräfte hinausgehen, der Voraussetzung des Selbstbezugs nicht genügen sollen. Dazu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt. Moral und Ethik schränken die Handlungen des Akteurs im Interesse anderer Entitäten ein. Das impliziert aber, dass nicht der einzuschränkende Akteur entscheiden darf, wodurch er eingeschränkt wird. Teil der Selbstzuschreibung der ethisch zu berücksichtigenden anderen Entität muss demnach auch die Art und Weise ihres Selbstbezugs sein. Als rationales, sprachbegabtes und empfindungsfähiges Wesen darf der Mensch deshalb nicht einfach Rationalität, Sprachbegabung oder Empfindungsfähigkeit zum notwendigen Kriterium des Interessenbegriffs für andere, von ihm ethisch zu berücksichtigende Entitäten erklären. Denn dann wären nicht der Selbstbezug der betroffenen Entität und damit der ethisch zu berücksichtigende Andere entscheidend, sondern eine Kategorie, die der Akteur bestimmt, dessen Handlungen gerade durch die Belange des betroffenen Anderen eingeschränkt werden sollen. Viertens: Der Vertreter einer pathozentrischen Auffassung könnte sich durch diese Argumente noch nicht überzeugt zeigen und einwenden, dass es für die Berücksichtigung der Strebungen von Lebewesen ohne Empfindungsfähigkeit keine besseren Gründe als für die Beschränkung auf die Berücksichtigung der Strebungen von Lebewesen mit Empfindungsfähigkeit gebe. Hier stellt sich die Frage der Beweislastverteilung. Schließt man – wie oben – rein physikalische Einwirkungen auf den Menschen als Grundlage für eine ethische Berücksichtigung aus, dann verbleibt die Menge der Wesen mit biologischen Strebungen und als weitere Teilmenge dieser Menge die Menge der Wesen mit bewussten Strebungen, also mit Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Erkennt der Mensch die biologischen Strebungen anderer Wesen, so ergibt sich – wenn er überhaupt bereit ist, moralisch bzw. ethisch und

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nicht nur eigenorientiert zu handeln –, dass alle diese Strebungen in ihrem normativen Status gleich sind. Das Fluchtverhalten eines Insekts erkennt er als prinzipiell genauso eigenbezogen wie das Fluchtverhalten eines empfindungsfähigen höheren Wirbeltiers. Um nun nur das Fluchtverhalten des höheren Wirbeltiers als ethisch berücksichtigenswert anzusehen, bedürfte der Akteur einer Rechtfertigung. Die Beweislast für seine eingeschränkte Berücksichtigung liegt also auf der Seite des Pathozentrikers, nicht aber auf der Seite des Biozentrikers. Da eine Rechtfertigung für die pathozentrische Einschränkung nicht ersichtlich ist, muss es bei der biozentrischen Position verbleiben. Alle individuellen Lebewesen verdienen demnach grundsätzlich ethische Berücksichtigung.

VIII. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen? An dieses biozentrische Ergebnis schließen sich zwei Fragen: Zunächst ist in Wiederaufnahme der Eingangsüberlegungen zu fragen, was unter „Lebewesen“ zu verstehen ist. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass dazu Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen als Individuen gehören. Aber fallen darunter auch Naturkollektive wie Arten, Ökosysteme, die Biosphäre und sogar das Universum, weil ihr Selbstbezug demjenigen eines Lebewesens entspricht? Sollen wir Arten, Ökosysteme, die Biosphäre oder sogar das gesamte Universum um ihrer selbst willen schützen und nicht nur aus menschlichen, tierischen und pflanzlichen Interessen? Das war oben schon bei der Grundentscheidung zwischen der Alternative normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus in abstracto verneint worden, muss nun aber näher begründet werden. Es muss jetzt also konkreter gefragt werden, ob Naturkollektive nicht doch Individuen gleichzustellen sind: Nach meiner Einschätzung kann man bei Arten schon nicht von einem Kollektiv ausgehen. Die einzelnen Exemplare von Arten ähneln sich, aber das tun sie nur als Individuen. Sie interagieren, aber das tun sie nur als Individuen. Arten weisen keinen Selbstbezug auf wie eine Zelle. Dies zeigt die biologische Definition des „Artbegriffs“. Es handelt sich um eine „reproduktiv isolierte Gruppe von Populationen, die sich miteinander kreuzen können, weil sie dieselben Isolationsmechanismen haben“.7 Ökosysteme und die Biosphären werden dagegen von manchen immerhin in einem gewissen selbstregulierenden Gleichgewichtszustand gesehen. Bei ihnen läge im Falle des Zutreffens dieser Annahme die Parallele zu Lebewesen näher. Allerdings wird dieser Gleichgewichtszustand ausschließlich durch das Verhalten der Individuen und durch physikalische Faktoren herbeigeführt und aufrechterhalten. In einem Ökosystem gibt es nichts, was dem Selbstschutz durch ein Immunsystem 7 

Ernst Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg 1998, 401.

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bei Lebewesen oder dem Fluchtverhalten bei Tieren und damit wenigstens Strebungen eines individuellen Lebewesens entsprechen würde. Die biologische Definition des Begriffs „Ökosystem“ unterstützt diese Zweifel: „Jede Einheit, die alle Organismen in einem gegebenen Areal umfasst und die mit der physikalischen und chemischen Umwelt in Austausch steht, so dass ein Energiefluss, klar definierte Nahrungsketten, Mannigfaltigkeit der biologischen Beziehungen und Stoffkreisläufe schafft.“8 Auch für Ökosysteme wird man deshalb die ethische Berücksichtigung um ihrer selbst willen ablehnen müssen. Gegen diese Argumentation wurde geltend gemacht,9 dass nicht nur Arten und Ökosysteme und deren Regulationsmechanismen unter streng reduktionistisch-mechanistischer (kybernetisch-systemtheoretischer) Perspektive betrachtet werden können, sondern auch Organismen einschließlich des Menschen und deren Zwecke. Moderne Theorien der Selbstorganisation gingen grundsätzlich davon aus, dass sich die zielgerichteten Verhaltensweisen von Lebewesen ausschließlich kausal erklären lassen. Dagegen wird man einwenden müssen, dass eine rein kausale Erklärung allen Tuns und Handelns auch jede Ethik aufhebt. Die ethische Einschränkung von Handlungen und die ethische Reflexion finden sowieso auf einer Ebene statt, die nicht kausal-systemtheoretisch und damit kybernetisch-reduktionistisch erklärbar ist. Das heißt, für die Berücksichtigung anderer im Rahmen einer ethischen Theorie muss man in jedem Fall die bloße Kausalgesetzlichkeit überschreiten. Dann bietet sich aber eine Stufenfolge in der Komplexität des Selbstbezugs als relevantes Kriterium an. Das Immunsystem einer Pflanze mag partiell kausal erklärbar sein, aber die Kausalität ist die Binnenkausalität dieser Pflanze, die von der allgemeinen physikalischen Kausalität ein Stück weit als biologische Strebung emergent abgekoppelt und in sich geschlossen ist. Diese Abkopplung und Selbstschließung unterscheidet sich nicht prinzipiell, sondern nur graduell von menschlichen Belangen. Deshalb gibt es keinen Grund, sie im Rahmen einer Ethik nicht zu berücksichtigen. In einem Ökosystem mögen etwa Populationen voneinander abhängig sein und in ein Gleichgewicht gelangen. Aber es gibt keine manifest gewordene, für die Erhaltung des Ganzen zuständige Einrichtung, wie etwa ein Immunsystem oder das Fluchtverhalten eines Tieres. Martin Gorke hat neuerdings mit Rekurs auf das fundamentale ontologische Prinzip der Sparsamkeit eine holistische Ethik zu rechtfertigen versucht.10 Nach dem ontologischen Prinzip der Sparsamkeit – das auch Ockhams Rasiermesser genannt wird, obwohl der Satz in Ockhams Schriften nicht nachweisbar ist – gilt, dass im Rahmen einer Ontologie eine Vielheit nicht ohne Notwendigkeit anzunehmen sei. Im Theorievergleich soll also die sparsamere ontologische Theorie den Vorzug verdienen, sofern sie mindestens genauso viel Erklärungskraft aufweist wie  8 

Eugene P. Odum, Grundlagen der Ökologie Band 1, Stuttgart, 2. Aufl. 1983, 10. Martin Gorke, Artensterben. Von der Ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, 272. 10  Martin Gorke, Eigenwert der Natur, 39 ff.  9 

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andere Theorien. Frage man nun – so fährt Gorke fort –, welche Wesen ethisch zu berücksichtigen seien, so müsse man diese Frage im Hinblick auf den universellen Charakter der Moral folgendermaßen reformulieren:11 „Wer sind alle?“ Die holistische Ethik gebe darauf die einfachste Antwort: „Alle“ seien bei ihr einfach „alle“, während die Interpretationen, die andere Typen der ökologischen Ethik gäben, also eine biozentrische, pathozentrische oder anthropozentrische Theorie, durchweg aufwendiger seien, weil sie jeweils einer zusätzlichen Begründung bedürften, um von „alle“ zu „alle außer ganz bestimmten Entitäten“ zu kommen. Diese Argumentation scheint mir schon im zweiten Teil bei der Ersetzung der im Radius neutralen Einbeziehungsfrage durch die Frage „Wer sind alle?“ eine petitio principii zu enthalten: Die Tatsache, dass die Moral bzw. Ethik universal gilt, impliziert keine Entscheidung, wie weit der Radius von „universal“ reicht, sondern führt vielmehr nur zur Einbeziehungsfrage in ihrer ursprünglichen Form, nämlich zur Frage, für welche Wesen die Moral bzw. Ethik gilt. Wenn von „alle, die ethisch zu berücksichtigen sind“ zu „alle“ übergegangen wird, so ist das kein einfacher, harmloser Schritt, sondern als eine bestimmte rechtfertigungsbedürftige Antwort in Behauptung und Begründung genauso aufwendig, wie die Antworten „alle Menschen“, „alle bewusstseinsfähigen Wesen“ oder „alle Lebewesen“. Dass der Holismus sparsamer als die anderen Alternativen sein soll, wurde also nicht gezeigt. Auf einer grundlegenderen Ebene begegnet aber schon die Heranziehung des Sparsamkeitsprinzips zur Entscheidung ethischer Reichweitefragen methodischen Zweifeln. Selbst wenn man das Sparsamkeitsprinzip grundsätzlich bejaht – was auch erst einmal begründet werden müsste –, handelt es sich bei ihm um ein ontologisches Prinzip. Im Rahmen einer Ontologie ist es nicht gestattet, zusätzliche Entitäten ohne Notwendigkeit als existent anzunehmen. Im Rahmen der Frage, welche Entitäten ethische zu berücksichtigen sind, geht es nun aber gerade nicht um eine Ontologie, sondern um die Reichweite einer normativen Ethik. Das bedeutet: Man muss zur Beantwortung der Reichweitefrage zunächst eine möglichst überzeugende normative Ethik entfalten und darf dann erst im Rahmen dieser normativen Ethik untersuchen, welche Entitäten ethische Beachtung verdienen. Das Sparsamkeitsprinzip gilt – anders, als Gorke ohne weitere Begründung anzunehmen scheint – nicht als generelles Superprinzip auf der Metaebene zur Entscheidung zwischen allen konkurrierenden Theorien. Dies zeigt sich schon bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Theorien der normativen Ethik. Für die Wahl zwischen normativen Ethiken ist es wesentlich, dass ihre Prämissen und Ableitungen möglichst gut begründet und überzeugend sind. Ob diese Prämissen und Ableitungen aufwendiger oder sparsamer sind, ist dafür ganz gleichgültig. Durch eine Ausweitung des Sparsamkeitsprinzips dürfen in der Ethik Begründungen und Überzeugungen nicht abgeschnitten werden.

11 

Martin Gorke, Eigenwert der Natur, 48.

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Die Ablehnung einer eigenständigen ethischen Berücksichtigungswürdigkeit von Arten, Ökosystemen, der Biosphäre und sonstigen Naturkollektiven sowie nichtbelebten Individuen wie Steinen oder Felsen bedeutet natürlich nicht, dass deren Zerstörung oder Beeinträchtigung ethisch erlaubt wäre. Allerdings liegt der Grund für die starke Verpflichtung, sie zu bewahren, nicht in ihrem Eigenwert als Ganzem, sondern in den Belangen der von ihrer Zerstörung betroffenen Lebewesen, also den Belangen der betroffenen Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen. Das zeigt sich sehr gut an einem Beispiel, das Gorke fälschlicherweise für geeignet zur Unterstützung seiner holistischen Position hält:12 Auf der kalifornischen Insel Santa Barbara drohen mehrere hunderte, nachträglich eingeschleppte Kaninchen die letzten Vertreter des nur auf dieser Insel beheimateten Dickblattgewächses Dudleya traskiae zu zerstören. Nachdem Versuche, die Kaninchen einzufangen, gescheitert sind, entschließt sich der U.S. Nationalpark Service zu deren Tötung, um die Dickblattgewächse zu retten. Gorke vertritt die Meinung, dass sich die Tötung der Kaninchen im Rahmen pathozentrischer oder biozentrischer Theorien nicht rechtfertigen ließe, weil diese keine Arten um ihrer selbst willen schützten, sondern nur Individuen. Lediglich im Rahmen einer holistischen Ethik sei das Handeln des U.S. Nationalpark Services zu rechtfertigen. Aber auch eine biozentrische Ethik kann die Entscheidung des U.S. Nationalpark Services begründen. Im fraglichen Beispiel stehen die Pflanzen als Individuen gegen die Kaninchen als Individuen. Normalerweise würde man den höher entwickelten Kaninchen den Vorrang in der Abwägung einzuräumen haben, etwa wenn es sich bei den Pflanzen um bloße, einfache Schilfgräser handeln würde. Im Fall einer seltenen, vom Aussterben bedrohten Pflanzenart kommen nun aber zu den schwachen Individualinteressen der betroffenen Pflanzenindividuen noch die Interessen von Milliarden Menschen und Tieren am Erhalt dieser Art hinzu. Mir erscheint es deshalb in einem solchen Fall von einem biozentrischen Standpunkt aus gut begründbar, die Pflanzen zu erhalten und nicht die Kaninchen.

IX. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? Weiterhin ist zu fragen, ob die ethisch zu berücksichtigenden Lebewesen alle gleichwertig oder aber hierarchisch gegliedert zu berücksichtigen sind. Es gibt offensichtlich keinen guten Grund, gleichartige Strebungen unterschiedlich zu behandeln, nur weil sie von unterschiedlichen Arten von Lebewesen stammen. Allerdings werden auch bei gleichartigen Lebewesen verschiedenartige Belange unterschiedlich stark gewichtet. Es gibt Belange, die einer intensiveren, komplexeren 12 

Martin Gorke, Eigenwert der Natur, 26.

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und damit eigenständigeren, das heißt stärker von den physikalischen Kräften entkoppelten Selbstzuschreibung entspringen. Dies muss auch über Artgrenzen hinweg ein Kriterium sein. Empfindungsfähigkeit, Rationalität und Sprachfähigkeit können daher die ethische Berücksichtigung von nichtempfindungsfähigen Wesen nicht ausschließen. Aber sie markieren eine intensivere, komplexere und damit eigenständigere Selbstzuschreibung von Belangen. Sie sind also nicht für das „Ob?“ einer Interessenzuerkennung entscheidend, wohl aber für das „Wie stark?“. Plausibel erscheint also eine nichtegalitäre und somit hierarchische biozentrische Position im Hinblick auf die jeweiligen Belange. Alle singulären Lebewesen verdienen ethische Berücksichtigung. Aber je komplexer und intensiver ihre Belange werden, desto stärkeres Gewicht verdienen diese Belange in der ethischen Abwägung. Das bedeutet nicht, dass die Belange niederer Lebewesen zwangsläufig denen höherer Lebewesen zu weichen hätten, sondern erfordert nur eine stärkere Berücksichtigung in der Abwägung. Die zentralen Leidens- und Überlebensinteressen von Tieren verdienen etwa wohl grundsätzlich gegenüber den bloß kulinarischen Freuden der Menschen Vorrang, soweit diese sich ohne größere Schwierigkeiten vegetarisch ernähren können. Pflanzen müssen wir natürlich in viel stärkerem Maße nutzen als höhere Tiere, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Die Belange von Pflanzen sind deshalb so schwach, dass sie in den weitaus meisten Fällen gegenüber denen des Menschen zurückzustehen haben. Aber es gibt doch Fälle, in denen die Kumulation einer Vielzahl von tierischen und pflanzlichen Belangen den Ausschlag geben wird, wenn die Vorteile der Menschen nur gering sind, v.a. bei Großprojekten, z. B. Staudämmen oder Kanälen, sofern deren wirtschaftlicher Nutzen zweifelhaft ist. Hier wird sich auch in der Praxis ein großer Unterschied, v.a. zu pathozentrisch-utilitaristischen Positionen ergeben, auch wenn manchmal versucht wird, diese praktische Differenz nicht allzu groß erscheinen zu lassen. Fest steht, dass die utilitaristische Doktrin, die weite Teile unseres traditionellen Denkens gerade in der Politik mitbestimmt hat, für die brutale Ausbeutung der Natur mitverantwortlich ist. Man wird deshalb nicht zu einem verbesserten Naturschutz kommen können, wenn man den Utilitarismus als umfassende ethische Leitlinie nicht aufgibt. Man kann versuchen, die relative Höherwertigkeit der Belange der einzelnen Entitäten genauer zueinander in Beziehung zu setzen, indem man die zentrale Vokabel des Selbstbezugs im Hinblick auf die Grundkategorie der Zeit aufspaltet. Man erhält dann die Aspekte der Selbstentstehung, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. Jede Entität wird jedes dieser Elemente zumindest in Rudimenten entwickeln müssen, um ethisch berücksichtigungswürdig zu sein: Für einzelne Typen von Entitäten ergeben sich dann folgende tentativen Einschätzungen ihres Selbstbezugs, wobei „x“ das bloße Vorhandensein des Merkmals meint und mehrere „x“ eine eigenständigere Ausprägung. Nicht impliziert ist damit eine interpersonale Austauschbarkeit in Form eines Nutzensummenkalküls. Variabilitäten durch menschliche Manipulationen sind durch Klammern

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gekennzeichnet und können sich durch zunehmende technische Möglichkeiten natürlich vergrößern: Selbstbezug einzelner Arten von Entitäten Selbstent­stehung

Selbst ent­faltung

Selbsterhaltung

Belange

Mensch

xxxxxx(x)

xxxxxxx

xxxxxxx

Ja

Höh. Wildtier

xxxxxxx

xxxxx

xxxxx

Ja

Höh. Nutztier

xxxxx(xx)

xxx(xx)

xxx(xx)

Ja

Wildtier

xxxxxxx

xxx

xxx

Ja

Nutztier

xxxx(xxx)

x(xx)

x(xx)

Ja

Wildpflanze

xxxxxxx

xx

xx

Ja

Nutzpflanze

xxxx(xxx)

x(x)

x(x)

Ja

Mikroorganismus

xxxxxxx

x

x

Ja

Nutzorganismus

xx(xxxxx)

x)

x)

Ja

Stein/Fluss







Nein

Art







Nein

Ökosystem

?

?



Nein

Biosphäre

?

?



Nein

Computer



x)

x)

Nein

Erläuterung: Höheres Wildtier: Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmelzung, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls, aber mangels Rationalität und entwickelter Sprache nicht so elaboriert. Höheres Nutztier: Selbstentstehung wie beim Menschen, durch Erbgutverschmelzung, aber partiell durch Züchtung und partiell auch schon durch Genmanipulation eingeschränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls durch Haltung eingeschränkt und mangels Rationalität und entwickelter Sprache nicht so elaboriert.

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Wildtier: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung vorhanden, aber nicht so elaboriert wie bei den höheren Wildtieren, z. B. mangelnde Empfindungsfähigkeit usw. Nutztier: Selbstentstehung durch Züchtung und Genmanipulation eingeschränkt, ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. Wildpflanze: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls, aber mangels Rationalität, Sprache, Empfindungsfähigkeit, ausgebildetem Immunsystem usw. nicht so elaboriert wie bei Menschen und Tieren. Nutzpflanze: Selbstentstehung gegeben, aber durch Züchtung und mittlerweile auch genetische Eingriffe extrem eingeschränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls vorhanden, aber mangels Rationalität, Sprache, Empfindungsfähigkeit, ausgebildetem Immunsystem usw. nicht so elaboriert und durch Anbau und Kultivierung stark eingeschränkt. Mikroorganismus: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung noch beschränkter als bei Pflanzen. Nutzorganismus: Selbstentstehung mittlerweile durch Züchtung und Gentechnik stark eingeschränkt, ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. Stein/Fluss: Entstehung, Entfaltung und Erhaltung nur durch äußere physikalische und chemische Faktoren. Art: Entstehung, Entfaltung und Erhaltung vollständig auf individuelle (Mutation) und externe physikalische Faktoren (Selektion) rückführbar. Ökosystem und Biosphäre: Selbstentstehung und Selbstentfaltung zweifelhaft, Selbsterhaltung jeweils vollständig auf externe physikalische Faktoren oder das Verhalten von Einzelindividuen rückführbar. Computer: Keine Selbstentstehung, da Konstruktion durch den Menschen, aber bei den am weitesten entwickelten Modellen Ansätze zu Selbstentfaltung und Selbsterhaltung (autogene Funktionskontrolle usw.).

Zunehmende Berücksichtigungswürdigkeit

Insgesamt ergibt sich damit folgendes Bild: Tiere Pflanzen Mikroorganismen Arten Ökosysteme Biosphäre verschiedene Entitäten

Abb. 1:  Berücksichtigung von Entitäten um ihrer selbst willen.

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Zunehmende Berücksichtigungswürdigkeit

Blickt man dagegen nur auf die menschlichen Interessen, dann ergibt sich folgendes Bild: Arten Ökosysteme Biosphäre Mikroorganismen Pflanzen Tiere verschiedene Entitäten

Abb. 2:  Berücksichtigung von Entitäten um des Menschen willen.

Zunehmende Berücksichtigungswürdigkeit

Bringt man beide Gesichtspunkte zusammen, so erhält man folgendes Bild: Tiere Pflanzen Mikroorganismen Arten Ökosysteme Biosphäre

verschiedene Entitäten

Abb. 3:  Kombination der Berücksichtigung der Entitäten um ihrer selbst und um des Menschen willen. Wie lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen? Außer Menschen sind nur nichtmenschliche, individuelle Lebewesen um ihrer selbst willen ethisch zu berücksichtigen, also Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen. Nichtlebendige Individuen wie Steine und holistische Entitäten bzw. Naturkollektive, wie Arten, Biotope, Ökosysteme, die Biosphäre oder das gesamte Universum, verdienen dagegen keine ethische Berücksichtigung um ihrer selbst willen. Allerdings sind die allgemeinen Interessen des Menschen in ihrer Gewichtigkeit genau umgekehrt einzuschätzen, wenn man von der je individuellen Zuneigung zu Haus- oder Zootieren absieht. Für den Menschen im Allgemeinen sowie für Tiere und Pflanzen haben

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insbesondere Naturkollektive wie Arten, Biotope, Ökosysteme und natürlich vor allem die Biosphäre und das gesamte Universum eine viel höhere Bedeutung als einzelne Lebe­wesen. Der Schutz der nichtmenschlichen Natur ruht also ethisch auf zwei Säulen: für Naturkollektive und nicht belebte Naturindividuen wie Steine die Belange des Menschen, der Tiere und Pflanzen, für alle Lebewesen ihre je eigenen Belange.

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Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch: Ein richtiger Weg zur nachhaltigen Bodennutzung Silvia Tobias, Corinna Jung, Franz Conen, Christine Alewell 1. Einleitung Boden ist eine zentrale Ressource, die für den Menschen heute und in Zukunft viele lebenswichtige Funktionen erfüllt. Zu diesen Bodenfunktionen zählt nicht nur die Produktionsfunktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse, sondern auch die Wasserspeicherfunktion zur Eindämmung von Hochwasserabflüssen, die Funktion als CO2-Senke, Lebensraum und Genpool für natürliche Pflanzen und Tiere sowie Filter- und Pufferfunktion chemischer Stoffe, was unter anderem zur Trinkwasserreinigung beiträgt. Diese Funktionen kann der Boden jedoch nur erfüllen, solange seine Oberfläche nicht versiegelt ist. Überbauungen sind die stärkste Bedrohung des Bodens, denn sie zerstören alle diese genannten Bodenfunktionen.1 Bedingt durch den hohen Flächenverbrauch der heutigen Siedlungsentwicklung (1m2/s in der Schweiz, 8m2/s in Deutschland), die immer mit Versiegelung gekoppelt ist, wird der Boden zu einer endlichen Ressource. Insbesondere in der Raumplanung ist dies heute bereits zu spüren. In jüngster Vergangenheit gab es in der Schweiz verschiedene politische Vorstösse gegen die unbegrenzte Siedlungsausdehnung in die Fläche: die Volksabstimmung zur Beschränkung des Zweitwohnungsanteils in den Gemeinden vom März 2012, die Volksabstimmung zur Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG) vom März 2013 und im Kanton Zürich die Volksabstimmung über die sogenannte „Kulturlandinitiative“ zur zukünftigen Beschränkung der Siedlungsfläche auf das aktuelle Ausmass vom März 2012. Alle diese Initiativen wurden in den Abstimmungen vom Stimmvolk gutgeheissen; ein Zeichen, dass die Bevölkerung die Problematik bei der Siedlungsentwicklung erkannt hat. Diese Entwicklung lässt sich auch in anderen Ländern Europas beobachten. Besorgnis bereitet den Staaten vor allem die im Vergleich zum Bevölkerungswachstum wesentlich stärkere Ausbreitung der Siedlungsflächen.2 Als Reaktion werden in verschiedenen Ländern Mass1  Salenghe, Riccardo / Marsan, Franco Ajmone, „The anthropogenic sealing of soils in urban areas“, Landscape and Urban Planning 90 (2009), 1–10. 2  EEA (European Environment Agency), Urban sprawl in Europe. The ignored challenge, Kopenhagen 2006.

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nahmen zur Begrenzung der versiegelten Flächen getroffen.3 Diese reichen von der Parkplatzpflasterung mit Rasengittersteinen zur Erhöhung der Wasserinfil­ trationskapazität bis hin zur Forderung nach Rückbau und Entsiegelung versiegelter Flächen als Kompensation für neue Versiegelung an anderer Stelle. Auch in der Schweiz wird man in Zukunft Massnahmen zur Kompensation neu versiegelter Flächen treffen müssen. Viele Gemeinden beklagen sich, dass die erwähnten politischen Entscheide eine weitere Siedlungsentwicklung an gut erschlossenen, raumplanerisch sinnvollen Orten verhindern. Gleichzeitig liegen in verschiedenen Gemeinden überbaute Flächen, z. B. alte Industrieareale, brach. Die gesellschaftliche Veränderung von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft stellt neue Anforderungen an die Raumplanung: Während im Industriezeitalter die Nähe zu Rohstoffen und Energieträgern die Fabriken an die Flussufer und Waldränder ziehen liess, ist heute für den Dienstleistungssektor die Erreichbarkeit der zentrale Standortfaktor.4 So siedeln sich die Firmen heute mit Vorliebe in der Nähe von Flughäfen, grossen Bahnhöfen und Autobahnanschlüssen an. Mit der allgemein stark gestiegenen Mobilität haben sich auch die gesellschaftlichen Ansprüche an die Transportsysteme geändert. Heute besteht ein grosser Bedarf nach Hochleistungsstrassen und -eisenbahnstrecken.5 Das führt gerade bei den Strassen dazu, dass die Hauptverbindungsachsen nicht mehr wie früher die Dorfzentren miteinander verbinden, sondern als Umgehungsstrassen um die Dörfer herum ausgebaut werden. Heute ist den Verkehrsplanern aber auch bewusst, dass die alten Strassen zurückgebaut und für den Durchgangsverkehr unattraktiv gestaltet werden müssen, da sie andernfalls als „Schleichwege“ genutzt werden. Angesichts der veränderten gesellschaftlichen Ansprüche an die Landnutzung und der aktuellen politischen Voraussetzungen drängt sich für die Raumplanung eine Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch auf. Die Idee ist einfach: Jede neue Bodenversiegelung ist im Interesse gegenwärtiger und zukünftiger Generationen mit dem Rückbau und der Entsiegelung brachliegender versiegelter Flächen zu kompensieren. Dadurch könnten die mit der Neuversiegelung zerstörten Bodenfunk­ tionen an einem anderen Ort wiederhergestellt werden. Dies könnte zu einer echten Ressourcenschonung im Sinne des Konzepts der starken Nachhaltigkeit beitragen. Wir prüfen in diesem Artikel in einem Gedankenexperiment, ob der Verlust von Bodenfunktionen infolge Versiegelung durch Bodenentsiegelung an einer anderen Stelle kompensiert werden kann und ob dies zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt, sowie welche Konflikte und Probleme dabei gegebenenfalls entstehen können. Die Diskussion wird vor dem Hintergrund der Konzepte der starken 3  Prokop, Gundula / Jobstmann, Heide / Schönbauer, Arnulf, Overview of best practices for limiting soil sealing or mitigating its effects in EU-27, Brüssel 2011. 4  Kobayashi, Kiyoshi / Okumura, Makoto, „The growth of city systems with high-speed railway systems“, Annals of Regional Science 31 (1997), 39–56. 5  Feitelson, Eran / Salomon, Ilan, „The implications of differential network flexibility for ­spatial structures“, Transportation Research A (2000), 459–479.

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und schwachen Nachhaltigkeit geführt. Dabei werden drei verschiedene Perspektiven eingenommen: i) die Perspektive der Raumplanung, die eine Kompensation der Landnutzungen verfolgt, ii) die Perspektive des Bodenschutzes, der eine Kompensation der Bodenfunktionen verlangt, iii) die Perspektive der Gesellschaft und Ethik, die die Erfüllung der Ansprüche sowohl der heutigen als auch der zukünftigen Generationen anstrebt.

2. Konzepte starker und schwacher Nachhaltigkeit Der ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammende Begriff der Nachhaltigkeit schaut mittlerweile auf eine dreihundertjährige Geschichte zurück. Obwohl Hans Carl von Carlowitz, ein Oberberghauptmann im sächsischen Freiberg, in seinem 1713 erschienenen Werk Sylvicultura oeconomica den Begriff der Nachhaltigkeit eigentlich nur einmal erwähnte, wird ihm landläufig die Urheberschaft dieses Begriffs zugeschrieben.6 Grund dafür ist der Gegenstand, mit dem er sich vor allem beschäftigte: drohender Holzmangel und die Sorge darum, den Bestand respektvoll zu behandeln und für die Nachwelt zu sichern. Holz war damals eine zentrale Ressource für energieintensive Manufakturen wie Glashütten und Schiffswerften, es war notwendig für den Erzbergbau und gleichzeitig bestand grosser Bedarf an Ackerlandgewinnung: Wälder wurden daher im grossen Stil abgeholzt. Sollte weiter so mit den Waldbeständen umgegangen werden, war ein Holzmangel unvermeidlich.7 Carlowitz prognostizierte bei einem sich nicht ändernden Abholzungsverhalten auch Folgen für nachkommende Generationen. Er proklamierte daher einen wertschätzenden und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und besonders den Baumbeständen, um diese auch für die Nachwelt zu erhalten. Von Anfang an bringt daher der entstehende Begriff der Nachhaltigkeit Ressourcenmanagement, Verantwortung, eine Form von Generationengerechtigkeit sowie ökonomische Interessen zusammen. Knappe 300 Jahre später sind diese Begriffe im Brundtland-Report8, dessen offizieller Name Our Common Future lautet, nach wie vor zentrale Themen. Allerdings wird mittlerweile Nachhaltigkeit, bzw. sustainability oder sustainable development, explizit genannt und ausführlicher besprochen. In Absatz 27 steht unter der Überschrift „Sustainable Development“ im Bericht: 6  „wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine conti­ nuirliche, beständige und nachhaltende Nutzung gebe/ weil es eine unentbehrliche Sache ist/ ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag“ (Carlowitz 1713, 105, zitiert nach Grober, Ulrich, „Urtexte – Carlowitz und die Quellen unseres Nachhaltigkeitsbegriffs“, Natur und Landschaft 88 [2013], 46). 7  Grober, Ulrich, „Urtexte – Carlowitz und die Quellen unseres Nachhaltigkeitsbegriffs“, Natur und Landschaft 88 (2013), 47 f. 8 World Commission of Environment and Development, Our common future (Brundtland-Report), Oxford 1987.

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Humanity has the ability to make development sustainable to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.

Und etwas weiter: sustainable development is not a fixed state of harmony, but rather a process of change in which the exploitation of resources, the direction of investments, the orientation of technological development, and institutional change are more consistent with future as with present needs. (Absatz 30)

Im Sinne der Nachhaltigkeit muss es also im Hinblick auf zukünftige Generationen Ziel sein, Ressourcen zu erhalten. Als Ressourcen gelten hierbei verschiedene Arten von Kapital. Grunwald und Kopfmüller unterscheiden zwischen natürlichem Kapital (wie Boden, Rohstoffe, Wasser oder Luft) und künstlichem Kapital, also von Menschen produzierte Entitäten (wie etwa Wissen, Technik, Gebäude, Strukturen).9 Döring und Ott legen diversifizierter eine Liste mit sechs verschiedenen Kapitalarten vor: Sie trennen in Naturkapital, Sachkapital, kultiviertes Naturkapital (wie landwirtschaftliche Nutzflächen), Sozialkapital (z. B. Institutionen), Humankapital ([Aus-]Bildung) und Wissenskapital.10 Auch wenn die zweite Liste etwas ausführlicher ist, wird auch hier eigentlich eine Zweiteilung weitergeführt, nämlich die Unterscheidung in was natürlich bzw. ökologisch ist und das, was durch Menschen hinzugefügt wurde. Nachhaltigkeit kann nun so verstanden werden, dass entweder versucht wird, die Gesamtheit verschiedener Kapitalarten zu erhalten oder aber die Einzelkomponenten. Das Hauptaugenmerk der Nachhaltigkeit liegt also auf der Frage der Substitution. Die zentrale Frage lautet: wie und in welchem Umfang können bzw. müssen verschiedene Arten von Kapital ersetzt werden? Dies führt zur Unterscheidung zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit. Ansätze der starken Nachhaltigkeit verlangen, dass die natürlichen Bestände, „über die Zeit hinweg konstant gehalten werden“.11 Dies hat weitreichende Konsequenzen, man denke etwa an den Verbrauch von Bodenschätzen, die nicht reproduzierbar sind. Im Gegensatz dazu kann bei Modellen schwacher Nachhaltigkeit natürliches Kapital auch durch künstliches ersetzt werden. Döring und Ott sprechen hier von einer „Portfolio-Perspektive auf die Kapitalbestände der Gesellschaft“, da jeder Posten austauschbar ist und schliesslich nur die Maximierung von Nutzen zählt.12 Wie schon diese kurze Charakterisierung zeigt, handelt es sich bei starker und schwacher Nachhaltigkeit um theoretische Konzepte, die jeweils einer Auslegung bedürfen und in entsprechenden Kontexten auf ihre Bedeutung und Folgen hin überprüft werden müssen. 37.

 9  10 

Grunwald, Armin / Kopfmüller, Jürgen, Nachhaltigkeit, Frankfurt a. M./New York 2006,

Döring, Ralf / Ott, Konrad, „Nachhaltigkeitskonzepte“, Zfwu 2/3 (2001), 320 f. Döring, Ralf / Ott, Konrad, „Nachhaltigkeitskonzepte“, Zfwu 2/3 (2001), 321. 12 Ebd. 11 

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3. Konzeptionelle Fallbeispiele Wir diskutieren die Möglichkeiten einer Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch an zwei Fällen, die im Zusammenhang mit der Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung typischerweise vorkommen.

Abb. 1:  Fallbeispiel A Siedlungserweiterung: Hier wurde eine landwirtschaftlich genutzte Braunerde neu versiegelt und zur Kompensation ein ehemaliges Industriegelände entsiegelt und wieder für die Landwirtschaft nutzbar gemacht. Die Flächen sind gleich gross und der Boden wurde direkt umgelagert.

Ein Bahnhof, der zwei Dörfer bedient, stand bis vor kurzem auf der sogenannten grünen Wiese. Neben diesem Bahnhof und zwischen den beiden Dörfern ist nun ein neues Dienstleistungszentrum entstanden. Die Erschliessung ist ideal; nicht nur durch den Bahnhof, sondern auch durch die benachbarte Strasse, einen Autobahnzubringer. Zur Kompensation wurde am Rande des Dorfes A ein stillgelegtes Industrieareal von derselben Fläche zurückgebaut und entsiegelt. Die Fabrik hatte sich ursprünglich wegen der Wasserkraft am Ufer des Dorfbaches angesiedelt. Die neu überbaute Fläche in der Nähe des Bahnhofs entstand auf einer tiefgründigen, nährstoffreichen Braunerde aus sandigem Lehm, die vorher landwirtschaftlich genutzt wurde. Vor der Überbauung wurde dieser Boden auf die entsiegelte Fläche des stillgelegten Industrieareals umgelagert und dort wieder für die landwirtschaftliche Nutzung zur Verfügung gestellt.

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Abb. 2:  Fallbeispiel B Umfahrungsstrasse: Zur Verkehrsentlastung eines Dorfes wurde eine Umfahrungsstrasse durch ein Moor und durch Landwirtschaftsland neu gebaut. Kompensiert wurde der Eingriff mit der Entsiegelung eines Abschnitts der alten Hauptstrasse in das Dorf. Durch den Rückbau entstand neu eine Ruderalfläche, während durch den Strassenbau ein Braunerdeund ein Torfboden zerstört wurden.

Ein Dorf, das durch ein hohes Aufkommen an Durchgangsverkehr belastet war, wurde durch eine Umfahrungsstrasse entlastet. Damit die alte Strasse zu Stossverkehrszeiten nicht zum „Schleichweg“ wird, wurde ein Teilstück zwischen der Umfahrungsstrasse und dem Dorf aufgebrochen und als Ruderalfläche dem Naturschutz und der Naherholung zur Verfügung gestellt. Der neu gebauten Umfahrungsstrasse fielen eine landwirtschaftlich genutzte Braunerde und ein Moor zum Opfer. Die entsiegelte Fläche besteht aus dem ursprünglichen Strassenplanum, d. h. einem stark verdichteten, kiesigen Rohboden. Die entsiegelte Fläche ist nicht nur wesentlich kleiner als die neu versiegelte, sie ist zudem durch einen Bodentyp und Bodeneigenschaften charakterisiert, die bislang in der Region nicht vorkamen und damit auch nicht unbedingt die vorherigen Bodenfunktionen ersetzen.

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4. Starke und schwache Nachhaltigkeit aus Sicht der Raumplanung Zu den wichtigsten Aufgaben der Raumplanung gehört die Abwägung der verschiedenen Nutzungsinteressen auf der beschränkten Bodenfläche. Problematisch ist dabei, dass die eigentlichen Ziele der Raumplanung gemäss Art. 1 des Raumplanungsgesetzes (RPG) in sich schon widersprüchlich sind: Die Raumplanung soll einen haushälterischen Umgang mit dem Boden und den Schutz der natürlichen Ressourcen gewährleisten und gleichzeitig eine geordnete Siedlungsentwicklung ermöglichen und die Landesversorgung sicherstellen. Es ist offensichtlich, dass eine Neuversiegelung des Bodens nur nach einer sorgfältigen Abwägung aller Nutzungsinteressen erfolgen sollte. Doch auch bei einer Bodenentsiegelung ist für die Wahl einer sinnvollen Nachnutzung eine Interessenabwägung nötig. Die Erhaltung des Naturkapitals im Sinne der starken Nachhaltigkeit kann für die Raumplanung zweierlei bedeuten: i) die Kompensation einer neu versiegelten Fläche mit der Entsiegelung einer Fläche von derselben Grösse (quantitativer Bodenschutz); und ii) die Wiederherstellung der durch die Überbauung verloren gegangenen Landnutzung auf einer entsiegelten Fläche. Diese Bedingungen sind im Fallbeispiel A ideal erfüllt. Ganz anders sieht es im Fallbeispiel B aus. Die entsiegelte Fläche entspricht dort nur einem Bruchteil der neu überbauten Fläche. Zudem sind die verloren gegangenen Landnutzungen keineswegs kompensiert. Als Verluste sind die landwirtschaftlichen Produktionsfunktionen des Bodens, Naturschutz-Aspekte im Sinne der Erhaltung der Feuchtgebiete und Klimaschutz-Aspekte durch Verlust eines Kohlenstoffspeichers zu nennen, wenn man davon ausgeht, dass Teile des Moores für den neuen Strassenabschnitt trocken gelegt werden müssen. Gewonnen werden durch die Förderung von Ruderalstandorten Biodiversitätsfunktionen und die Erholungsfunktion für die Bevölkerung im betreffenden Dorf. Der grösste Nutzen dieser Massnahme ist allerdings die Entlastung des Dorfzentrums vom Durchgangsverkehr, wovon generell die Dorfbevölkerung profitiert. In Beispiel A wird aus Sicht der Raumplanung das Prinzip der starken Nachhaltigkeit konsequent umgesetzt; sowohl das Naturkapital, d. h. die Bodenfläche, als auch die wirtschaftliche Produktionsgrundlage für die Landwirtschaft werden kompensiert. Demgegenüber repräsentiert das Beispiel B das Prinzip der schwachen Nachhaltigkeit. Der gesellschaftliche Nutzen aus der Verkehrsentlastung und der neu gewonnenen Naherholungsfläche steht im Vordergrund. Das entsiegelte Strassenstück kann für die Erholungsnutzung wesentlich zugänglicher sein als ein sumpfiges Moor oder ein Getreide- oder Maisfeld, das nicht betreten werden darf.

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5. Starke und schwache Nachhaltigkeit aus Sicht des Bodenschutzes Wie eingangs erwähnt, erfüllt der Boden für Mensch und Umwelt essentielle Funktionen. Die Ausprägungen dieser Bodenfunktionen hängen vom Bodenaufbau, der Topografie und den klimatischen Bedingungen am jeweiligen Standort ab. Je nach Standortbedingungen bilden sich verschiedene Böden aus. Diese Vielfalt an Böden führt zu einer entsprechend grossen Vielfalt an Ökosystemen, die der Mensch unter anderem als landschaftliche Vielfalt wahrnimmt und die ihm unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten bietet. Das bedeutet aber auch, dass nicht jeder Boden an jedem beliebigen Standort wiederhergestellt werden kann, bzw. dass ein rekultivierter Boden seine spezifischen Funktionen nicht zwingend an jedem Standort in gleichem Masse erfüllen kann. Hinzu kommt, dass die Prozesse des Bodenabtrags und der Rekultivierung den Boden stark beeinträchtigen.13 Durch den Abtrag wird der Boden in seinem natürlichen Aufbau und Gefüge gestört. Bei der Schüttung ist darauf zu achten, dass der Boden in abgetrocknetem Zustand möglichst locker geschüttet, möglichst wenig und nur mit leichten Maschinen befahren wird. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das Bodengefüge verdichtet und in der Folge die Sauerstoffversorgung im Boden eingeschränkt wird. Dies wiederum beeinträchtigt die Bodenfunktion als Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Bodenverdichtungen waren die häufigsten Schäden, die die Landwirte in der Vergangenheit auf Rekultivierungen, z. B. über ehemaligen Kiesabbaugebieten, beklagten. In den vergangenen 20 Jahren wurden grosse Fortschritte im schonenden Umgang mit Boden bei Bauvorhaben erzielt.14 Dennoch bleiben Rekultivierungen heikle Eingriffe in den Boden. Im günstigsten Fall sind die Schüttungen überlockert und müssen sich über mehrere Jahre durch ihr Eigengewicht setzen, um eine tragfähige Bodenstruktur wiederzugewinnen.15 Gewisse Böden, insbesondere Moorböden, können nur mit grösster Mühe oder gar nicht rekultiviert werden (siehe weiter unten). In Fallbeispiel A wurde auch aus Sicht des Bodenschutzes das Prinzip der starken Nachhaltigkeit umgesetzt. Der überbaute Boden wurde direkt umgelagert und am neuen Standort wieder aufgebaut. Eine sandig-lehmige, nährstoffreiche Braunerde lässt sich wegen ihres hohen Anteils mineralischer Bestandteile und ihrer, bei fachgerechter landwirtschaftlicher Praxis in der Regel gut ausgebildeten, Boden­ 13  Friedli, Bénédicte / Tobias, Silvia / Fritsch, Martin, „Quality assessment of restored s ­ oils: combination of classical soil science methods with ground penetrating radar and near in­frared aerial photography?“, Soil and Tillage Research 46 (1998), 103–115. 14  Tobias, Silvia, „Fortschritte im Bodenschutz beim Bauen“, in: Thema Umwelt 4 (2007). 15  Tobias, Silvia/Haberecht, Maja / Stettler, Matthias / Meyer, Martin / Ingensand, Hilmar, „Assessing the reversibility of soil displacement after wheeling in situ on restored soils“, Soil and Tillage Research 98 (2008), 81–93; dies., „Setzungsmessungen bei der Befahrung rekultivierter Böden“, Agrarforschung 15 (2008), 282–287.

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struktur mit stabilen Aggregaten auch schadlos rekultivieren, d. h. es besteht keine besondere Gefahr, dass der Boden während des Abtrags- und Rekultivierungsprozesses verdichtet würde. Sandig lehmige Braunerden haben eine für den Wasserhaushalt relativ günstige Korngrössenverteilung. Der ausreichend hohe Sandanteil fördert die Durchlässigkeit des Bodens, verhindert Staunässe und Sauerstoffmangel und lässt das Niederschlagswasser in tiefere Schichten einsickern. Gleichzeitig sorgen die feinkörnigen Bodenanteile Schluff und Ton für die Speicherung von pflanzenverfügbarem Wasser sowie eine genügende Kationenaustauschkapazität, was für die Speicherung von Nährstoffkationen wie auch die Ausbildung eines stabilen Bodengefüges entscheidend ist. Ganz besonders wegen der günstigen Wasserhaushaltseigenschaften, der stabilen Bodenstruktur, und der häufig anzutreffenden tiefen Gründigkeit der Böden, sind diese Braunerden im Schweizer Mittelland sehr geeignet für den Anbau landwirtschaftlicher Kulturpflanzen. In Fallbeispiel A ist das Prinzip der starken Nachhaltigkeit vollumfänglich umgesetzt, wenn der rekultivierte Boden seine Produktionsfunktion für landwirtschaftliche Kulturen genauso gut erfüllen kann, wie er das zuvor am Standort der neuen Überbauung tat. Wegen der kurzen Distanz zwischen dem überbauten und rekultivierten Standort kann davon ausgegangen werden, dass an beiden Standorten dieselben klimatischen Bedingungen herrschen und dieselben Kulturpflanzen daher an beiden Standorten gleich gut gedeihen können. Sollte sich der rekultivierte Standort aber im Schatten eines Hügelzugs oder Waldes, oder in Tal- oder Hanglage befinden, kann die landwirtschaftliche Nutzbarkeit des rekultivierten Bodens gegenüber dem ursprünglichen Standort stark eingeschränkt sein. Das bedeutet, dass mit der Wiederherstellung des ursprünglichen Bodens nicht in jedem Fall auch die Bodenfunktionen im ursprünglichen Ausmass wiederhergestellt werden können, sondern dass auch Exposition und Geomorphologie berücksichtigt werden müssen. Versteht man starke Nachhaltigkeit als vollständige Kompensation der verlustigen Bodenfunktionen, dann ist nicht nur die Wiederherstellung des durch Überbauung verlorenen Bodens, sondern auch die Wahl des geeigneten Standorts für die Entsiegelung ausschlaggebend. Werden die ursprünglichen Bodenfunktionen am Standort der Entsiegelung weniger gut erfüllt und auch nicht durch andere Bodenfunktionen wie z. B. erhöhter Wasserspeicherung zum Hochwasserschutz kompensiert, ist der ganze Prozess der Überbauung trotz begleitender Entsiegelung letztlich als nicht nachhaltig zu bezeichnen.

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a)

b)

c)

d)

Abb. 3:  Beispiele von Bodenprofilen: a) Braunerde; b) Moorboden; c) entwässerter Moorboden; d) Auenboden (Rohboden). © für a) und c): Agroscope: Gabriela Brändle, Urs Zihlmann; LANAT: Andreas Chervet; © für b) und d): WSL: Marco Walser

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Fallbeispiel B führt für den Bodenschutz schon rein aus der Flächenbilanz zwischen der neu versiegelten und der entsiegelten Fläche zu grossen Verlusten. Zudem kann der neu erschaffene Rohboden nicht oder zumindest nicht in demselben Ausmass dieselben Bodenfunktionen erfüllen wie die verlorene Braunerde und/ oder der Moorboden. Während die Braunerde, wie oben erläutert, mit bodenschonenden Techniken am neuen Standort unter Umständen hätte rekultiviert werden können, hätte eine Umlagerung des Moorbodens an den entsiegelten Standort kaum Erfolg gehabt. Moore entstehen unter Luftabschluss über einer wasserundurchlässigen Stauschicht, z. B. über einer Grundmoräne eines Gletschers oder über einer dichten Tonschicht. Unzersetztes organisches Material lagert sich am Gewässergrund über der Stauschicht ab und führt über Jahrhunderte zur Verlandung des Gewässers. Niedermoore (in der Schweiz auch Flachmoore genannt) sind typischerweise immer bis zur Bodenoberfläche wassergesättigt und bestehen weitgehend aus Torf, d. h. aus unzersetzten Pflanzenresten. Somit spielen Moore auch eine bedeutende Rolle als CO2–Senke. Der starke Sauerstoffmangel in Moorböden schränkt die Pflanzenvielfalt ein, bietet aber gleichzeitig einigen konkurrenzschwachen, hoch spezialisierten und oft seltenen Arten eine biologische Nische. Abtrag und Umlagerung führen zur Entwässerung des Moorbodens. Zudem besteht die Gefahr der Bodenentwässerung, wenn die Unterlage des Moorbodens am neuen Standort nicht absolut wasserundurchlässig ist. Entwässert man einen Moorboden, was dank seiner hohen Durchlässigkeit wegen dem hohen Porenvolumen und dem hohen Anteil an Grobporen des Torfes schnell eintritt, tritt Luft in die Poren ein und setzt die aeroben Abbauprozesse der Mikroorganismen in Gang. Der Torf wird in seine mineralischen Bestandteile zersetzt, es werden grosse Mengen an CO2 in die Atmosphäre abgegeben, der Stickstoff wird zu den pflanzenverfügbaren Molekülen Ammonium und Nitrat umgewandelt und schliesslich sackt der Boden infolge der Zerkleinerung der organischen Substanz in sich zusammen. Um ein Moor umzulagern, müsste also ein Standort gefunden werden, der die Wassersättigung des umgelagerten Materials gewährleistet, ohne dabei ein bestehendes Moor zu zerstören. Letzteres wäre wohl nur auf heutigen intensiv genutzten und in der Vergangenheit drainierten Moorflächen denkbar, die im Zuge der Umlagerung und Aufschüttung dann gleichzeitig wiedervernässt und damit rekultiviert würden. Ursprünglich wurden Moore als Streuwiesen genutzt und waren für die Landwirtschaft von geringem Interesse. Um die Bodenstabilität zu erhöhen und die Sauerstoffversorgung der Pflanzenwurzeln zu verbessern wurden insbesondere in den Zeiten der Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Moorböden entwässert und für den Anbau landwirtschaftlicher Kulturen urbar gemacht. Gleichzeitig wurden während der Zersetzung des Torfes wichtige Nährstoffe freigesetzt. Heute steht unsere Gesellschaft einer Moorentwässerung kritisch gegenüber, weil durch die Drainage und intensive landwirtschaftliche Bearbeitung, besonders im Gemüsebau des schweizerischen Mittellandes, in einigen ehemaligen

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Moorböden der Torf bis zur Stauschicht zersetzt ist und damit zum Einen eine Bewirtschaftung in Zukunft in Frage gestellt ist und zum anderen diese Böden nicht mehr als Kohlenstoffspeicher im Sinne des Klimaschutzes funktionieren können. Zudem verlangt die Gesellschaft heute den Schutz von Mooren wegen ihrer park­ ähnlichen landschaftlichen Ästhetik und der seltenen Arten, die sie beherbergen (Biodiversitätsfunktion). Der Bau der Umfahrungsstrasse in Fallbeispiel B führt somit zum Verlust wichtiger ökologischer Funktionen des Moores. Daher stossen heutzutage Strassenbaupläne durch Moorgebiete auch vermehrt auf Widerstand seitens der Naturschutzorganisationen und der breiten Bevölkerung. Auf der Ertragsseite erhält der Bodenschutz im Fallbeispiel B einen Rohboden. Rohböden bestehen zur Hauptsache aus dem unverwitterten Muttergestein, d. h. dem C-Horizont mit einer sehr dünnen Bodenauflage. Natürlicherweise kommen Rohböden an Standorten mit relativ hoher Frequenz an starken mechanischen Störungen vor. Diese sind z. B. Flussauen mit häufig wiederkehrenden Überschwemmungen oder Hanglagen im Gebirge mit häufigen Massenbewegungen (Rutschungen). Auf diesen Böden können sich Pflanzen nur punktuell auf kleinen Flächen im Schatten der mechanischen Störungen ansiedeln und dort die Verwitterung des Muttergesteins und die eigentliche Bodenbildung vorantreiben. Das führt in der Fläche zu sehr unregelmässigen und geringen Horizontmächtigkeiten und extremen Wasserhaushaltseigenschaften (von extrem trocken bei Normalwasser­ stand zu Wassersättigung während hoher Niederschläge). Auf Rohböden finden sich in der Regel Pionierökosysteme, die sich durch Arten mit tiefen Ansprüchen an den Standort, aber einer grossen Konkurrenzschwäche gegenüber anderen Pflanzenarten kennzeichnen. Zudem bleiben diese Pionierökosysteme an Standorten mit wenig Störung in der Regel nur wenige Dekaden bestehen, weil die Verwitterungs- und Bodenneubildungsrate auf Rohböden besonders hoch ist und die Sukzession nachfolgender Pflanzengesellschaften begünstigt.16 Bewirtschafter von Kiesgruben gestalten ihre Abbauetappen heute in einigen Fällen so, dass sich Pio­ nierökosysteme einrichten und vom einen zum nächsten abgebauten Kompartiment wandern können (sog. Wanderbiotope). In Fallbeispiel B wurde mit der Entsiegelung ein Bodenökosystem erschaffen, das es bislang in dieser Region noch nicht gab. Dadurch wurde die ökologische und landschaftliche Vielfalt erhöht, was durchaus als Gewinn bezeichnet werden kann. Allerdings ist eine Abwägung zwischen den verlorenen und neu gewonnenen Bodenökosystemen sehr schwierig. Wenn der überbaute Moorboden seltene Arten der Roten Liste beherbergte und der neu entsiegelte Rohboden vorab Ubiquisten bzw. Generalisten einen Lebensraum bieten kann, ist aus naturschutzbiologischer Sicht der Verlust der seltenen Arten viel stärker zu gewichten als der Gewinn des neuen Pionierökosystems. 16  Stockmann,

Uta / Minasmy, Budiman / McBratney, Alex B., „How fast does soil grow?“, Geoderma 216 (2014), 48–61.

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6. Starke und schwache Nachhaltigkeit aus gesellschaftlicher Sicht Betrachtet man die beiden Fallbeispiele vom Standpunkt der intergenerationellen Gerechtigkeit, so bietet Beispiel A den zukünftigen Generationen sehr ähnliche Voraussetzungen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, wie sie die aktuelle Generation erfährt. In Beispiel B hingegen werden die zukünftigen Generationen stark veränderte Rahmenbedingungen vorfinden, die andere Bedürfnisse decken können als heute. Doch wie bereits erwähnt ändern sich die gesellschaftlichen Ansprüche an die Umwelt in Abhängigkeit von wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen oder auch Zwängen und nicht zuletzt auch dem Zeitgeist. Wir können heute die zukünftigen gesellschaftlichen Bedürfnisse kaum mit Sicherheit voraussehen. Während in der Wirtschaftskrise um die beiden Weltkriege auch in der Schweiz eine regelrechte Anbauschlacht stattgefunden hat, um die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen, steht die Gesellschaft seit den 1970er-Jahren der intensiven Landwirtschaft kritisch gegenüber, weil sie zu ausgeräumten Landschaften, hohen Biodiversitätsverlusten, hohen Bodenerosionsraten und starken Schadstoffimmissionen in die Umwelt geführt hat. Es ist deshalb möglich, dass die in Fallbeispiel B neu erstellte Ruderalfläche von der heutigen Bevölkerung stärker geschätzt wird als der in Fallbeispiel A wiederhergestellte Landwirtschaftsboden. Die zukünftigen Generationen könnten aber wieder andere Prioritäten setzen, insbesondere aufgrund der Auswirkungen des globalen Klima- und Landnutzungswandels. Ausgehend von den Klimaänderungsszenarien des Intergovernmental Panels on Climate Change (IPCC) sagen Parry et al.17 für die gemässigten Breiten des Globus eine landwirtschaftliche Ertragssteigerung von 5 % bis 10 % bis zum Jahr 2080 voraus, während sie in ariden Gebieten der Erdkugel mit Ertragseinbussen von bis zu 30 % gegenüber dem heutigen Stand rechnen. Zentraleuropa kann nach diesem Modell zu einer landwirtschaftlichen Gunstregion werden und als Produktionsregion für die globale Ernährungssicherung stark an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig ist es möglich, dass unter Szenarien von weltweiten Wirtschaftskrisen und zunehmender Rohstoffknappheit die Bedeutung an lokaler und regionaler Lebensmittelproduktion zunimmt und Forderungen nach autarker Versorgung zumindest innerhalb Europas gestellt werden könnten. Zudem geht die Food and Agricultural Organization of the United Nations (FAO) derzeit davon aus, dass die für 2050 auf 9 Milliarden geschätzte Weltbevölkerung nur ernährt werden kann, wenn die Entwicklungsländer ihren landwirtschaftlichen Ertrag verdoppeln.18 Es ist jedoch sehr unsicher, ob diese Ertragsteigerung erreicht, und vor allem, ob sie 17 Parry, Martin L. / Rosenzweig, Cynthia / Iglesias, Ana / Livermore, Matthew / Fischer, ­ ünther, „Effects of climate change on global food production under SRES emissions and G ­socio-economic scenarios“, Global Environmental Change 14 (2004), 53–67. 18  Fischer, Günther / Hizsnyik, Eva / Prieler, Sylvia / Wiberg, David, Scarcity and abundance of land resources: Competing uses and the shrinking land resource base, FAO, Rome 2011.

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über 50 Jahre aufrechterhalten werden kann. Um die Weltbevölkerung in Zukunft zu ernähren, erachten es die Autoren für nötig, global alle Land- und Bodenressourcen nachhaltig zu bewirtschaften, insbesondere in Regionen mit ertragreichen Böden. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass die Gesellschaft in Zukunft die landwirtschaftliche Produktion wieder stärker gewichten wird und daher auch in Fällen wie im Beispiel B auf der entsiegelten Fläche einen rekultivierten Landwirtschaftsboden vorziehen würde.

7. Fazit Will man eine neue Bodenversiegelung mit der Entsiegelung einer anderen Fläche kompensieren, stellen sich viele praktische Fragen nach dem geeigneten Bodenaufbau und der erwünschten Nachnutzung auf der entsiegelten Fläche. Das Prinzip der starken Nachhaltigkeit verlangt die Erhaltung aller Kapitalarten, insbesondere des ökologischen Kapitals. Will man dieses Prinzip mit einer Bodenentsiegelung zur Kompensation einer Neuversiegelung streng verfolgen, gilt es nicht nur, eine Fläche derselben Grösse zu entsiegeln und den ursprünglichen Boden der neu versiegelten Fläche darauf wiederherzustellen, sondern der Boden sollte auch am neuen Standort seine ursprünglichen Funktionen wieder mindestens im selben Mass erfüllen können. Da die Ausprägung der Bodenfunktionen aber auch stark von den Standortverhältnissen (Klima, Relief, Untergrund, Wasserhaushalt) abhängen, wird das Prinzip der starken Nachhaltigkeit wohl in den seltensten Fällen so streng umgesetzt werden können. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass nach erfolgter Bodenumlagerung gewisse Bodenfunktionen noch besser als am ursprünglichen Standort des Bodens erfüllt werden können. Grundsätzlich kann das ökologische Kapital auch erhalten bleiben, wenn am entsiegelten Standort andere Bodenfunktionen gefördert werden als diejenigen, die der Versiegelung zum Opfer gefallen sind. Es können neue Bodenökosysteme entstehen, die bislang in der Region gefehlt haben. So kann z. B. in einer „Agrarwüste“ eine Ruderalfläche, wie sie in Beispiel B hergestellt wurde, zur räumlichen Vernetzung natürlicher Lebensräume und Erhöhung der Biodiversitätsfunktion beitragen. Angesichts des fortschreitenden Artensterbens können nach einer Bodenentsiegelung naturbelassene Flächen als Gen-Reservoir für die Zukunft dienen. Doch auch diese Funktion als „Trittsteinbiotop über Raum und Zeit“ kann die entsiegelte Fläche nur erfüllen, wenn sie an einem geeigneten Standort angelegt wird. In der Praxis stellt sich also die nach wie vor schwierige Substitutions-Frage, welches natürliche Ökosystem neu erschaffen werden soll und wo das wie möglich ist. Das heisst, eine Gesellschaft, die eine Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch anstrebt, muss ein Wertesystem und Zielvorstellungen hinsichtlich der Bodenfunktionen entwickeln und entsprechende Entscheidungsprozesse etablieren.

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Noch schwieriger wird die Abwägung, wenn im Sinne der schwachen Nachhaltigkeit bei einer Bodenentsiegelung zur Kompensation einer Neuversiegelung in der Summe das ökologische Kapital eingeschränkt wird, dafür aber der gesellschaftliche oder wirtschaftliche Nutzen aus der Massnahme gross ist. Eine genaue Bilanzrechnung zwischen dem ökologischen Verlust und dem gesellschaftlichen Nutzen ist kaum möglich. Daraus folgt wiederum das Risiko, dass die Massnahme der Bodenentsiegelung in der Praxis sehr beliebig ist oder zur Ersparnis kurzfristiger Kosten gar nicht umgesetzt wird. In diesem Fall würde der Anteil des versiegelten Bodens jedoch weiterhin ungebremst ansteigen. Dies wiederum würde global zu einer noch grösseren Fläche beitragen, auf der alle Bodenfunktionen ausser der Standortsfunktion (Trägerfunktion) zerstört sind. Die eingangs erwähnten politischen Vorstösse machen jedoch deutlich, dass die Bevölkerung ein weiteres Wachstum der versiegelten Bodenfläche nicht mehr toleriert. Eine Kreislaufwirtschaft im Bodenverbrauch wird dringend benötigt. Die Siedlungsplanung muss um den Aspekt der Bodenentsiegelung zur Kompensation von Neuversiegelungen erweitert werden. Dabei sind die folgenden Fragen besonders zu beachten: i) welche Bodenfunktionen können wo wie gut (wieder-)hergestellt werden? ii) mit welcher Nachnutzung bzw. mit welchem Bodenökosystem lässt sich die intergenerationelle Gerechtigkeit am ehesten erreichen? iii) wie können Wertsysteme und Zielvorstellungen von Bodenfunktionen geschaffen werden?

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Ökologische Humanität Elemente einer Grundlegung der Umweltethik

Markus Vogt 1. Zur Fragestellung Zwischen den Idealen der Humanität und den „unbequemen Wahrheiten der Ökologie“1 besteht eine unauflösliche Spannung. Die globale Umsetzung eines Verständnisses von Humanität, das auf menschenrechtlich sowie wohlfahrtsökonomisch motivierte Armutsbekämpfung und Freiheitserweiterung zielt, mündet in eine fortschreitende Übernutzung der natürlichen Ressourcen.2 Dem Druck dieser Entwicklung scheinen viele Ökosysteme immer weniger gewachsen zu sein.3 Die Spannung zwischen Humanität und Ökologie besteht nicht nur auf der pragmatischen Ebene des Umweltschutzes, sondern ist zugleich ein Spiegel des „garstigen Grabens“ zwischen Ethik und Evolution: Zwischen dem evolutionären Daseinskampf in der Natur und den Geboten der Humanität gibt es keine prästabilisierte Harmonie.4 Die Spannung ist jedoch nicht als konträrer Gegensatz zu verstehen, sondern in paradoxer Weise zugleich als wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Humanität, die nicht von den Bedingungen der Natur mitgetragen wird, schlägt in Inhumanität um. Humanität und damit verbundene ethische Leitbegriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung müssen angesichts der ökologischen Herausforderungen selbst transformiert werden. Letztlich ist weder das Humane noch das Natürliche eine bekannte Größe, sondern sie stellen zwei vielschichtige, offene 1 

Wolfgang Haber, Die unbequemen Wahrheiten der Ökologie, München 2010. Die wohlfahrtsökonomische und utilitarische Vereinnahmung des Humanitätsprinzips ist freilich nicht ohne Kritik geblieben. So entwickelt beispielsweise Otfried Höffe in bewusster Abgrenzung hiergegen einen ganz eigenen Zugang zur Humanität als ein „negatives und kritisches Prinzip“ und als „Korrektiv-Kategorie“; vgl. Otfried Höffe, Strategien der Humanität, Frankfurt a. M. 1985, 191–197. 3 Vgl. Millennium Ecosystem Assessment [MEA], Ecosystems and Human Well-Being. Synthesis, Washington 2005. An dem Bericht, der im Auftrag der UNO verfasst wurde, haben mehrere tausend Wissenschaftler mitgewirkt. Demnach haben sich von 24 grundlegenen Ökosystemleistungen in den letzten 50 Jahren 15 verschlechtert und sind vor allem durch exponentielle Entwicklungen im Ressourcenverbrauch und in der Emission zivilisatorischer Reststoffe sowie durch die radikal größere Eingriffstiefe in ökologische Systeme essentiell gefährdet. 4  Markus Vogt, Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg i.Br. 1995, bes. 307–368. 2 

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Deutungsmuster und Abstraktionen dar, deren genaue theoretische und praktische Bestimmung voneinander abhängig und im Fluss ist.5 Die Berücksichtigung der Natur als Grenze und Anspruch transformiert die gegenwärtigen Vorstellungen von Humanität in grundlegender Weise. Zugleich unterliegt die Natur einem vom Menschen ausgehenden Transformationsprozess.6 Humanökologie ist von daher also mehr als die bloße Schnittmenge und Ausbalancierung zweier bekannter Größen. Sie umfasst die Suche nach einigen Aspekten der Neubestimmung im Verständnis des Humanen. Nur als „homo oecologicus“7 hat der Mensch angesichts der prekären Umweltsituation in der aktuellen Entwicklung der Erde Zukunft. Dabei sind viele Rückgriffe auf tradierte Elemente der Anthropologie möglich. Die gegenwärtige Entdeckung der ökologischen Dimension des Menschseins hat in vielen Aspekten den Charakter einer Wiederentdeckung einer lange als selbstverständlich vorausgesetzten Natureingebundenheit. Dennoch muss diese Dimension der conditio humana heute unter veränderten Bedingungen neu reflektiert und gestaltet werden. Was „ökologische Humanität“ mit ihren beiden Polen von humaner Entfaltung und naturbedingter Dynamik bedeutet, muss in jeder Epoche neu ausgehandelt werden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, aus der Analyse von Humanität eine Begründung und Strukturierung von Umweltethik abzuleiten. Es geht dabei nicht um eine Reduktion der Umweltethik auf anthropozentrische Argumentationsmuster, die den Naturschutz allein aus dem Horizont menschlicher Zwecke ableitet und dabei auf eine zeitliche und ressourcenökonomische Ausweitung der Perspektive zielt.8 Die Leitfrage ist, ob und in welcher Weise die Beziehung zur Natur 5 

Vgl. hierzu als Strukturparallele die Institutionentheorie von Helmut Schelsky, die davon ausgeht, dass „Mensch“ und „Gesellschaft“ zwei „generalisierte Begriffe“ und Abstraktionen darstellen, die nicht ohne wechselseitigen Bezug zueinander verstanden werden können. Ich wende dieses Modell hier auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur an. Vgl. Helmut Schelsky, „Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie“, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, 95–146, hier 98; Helmut Schelsky (Hg.), Zur Theorie der Institutionen, Düsseldorf 1973; Markus Vogt, „Institutionen als Organisationsformen mensch­ lichen Handelns“, in: Wilhelm Korff u. a. (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 1, Gütersloh, 2. Aufl. 2010, 268–284. 6  Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Begriff des „Anthropozän“ im zweiten Abschnitt dieses Beitrags. Zum Naturbegriff vgl. Angelika Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M. 1997; Markus Vogt, „Was taugt der Naturbegriff für die Umweltethik?“, in: Markus Vogt / Frank Uekötter / Jochen Ostheimer (Hgg.), Wo steht die Umweltethik? Argumentationsmuster im Wandel (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung, Bd. 5), Marburg 2013 (= Umweltethik), 21–50. 7  Vgl. Siegfried Höfling / Felix Tretter (Hgg.), Homo Oecologicus. Menschenbilder im 21. Jahrhundert, München 2012. 8  Zur höchst vielschichtigen Debatte um anthropozentrische Begründungsmuster der Umweltethik vgl. Angelika Krebs (Hg.), Naturethik a.a.O.; Markus Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive (Hochschulschriften zur Nachhaltigkeit, Band 39), 3. Auflage, München 2013, 252–259. Einen Überblick über die Debatte gibt die Grafik bei

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in ihrer Integrität, Unverzwecktheit, Eigenart und Schutzwürdigkeit als Bestandteil menschlicher Entfaltung zu verstehen und zu gestalten ist. Offensiv als These formuliert: Das Konzept der ökologischen Humanität, wie ich es im Folgenden verstehe, geht davon aus, dass der Natur als Lebensraum und Bezugspunkt für das Selbstverständnis des Menschen eine unverzichtbare Bedeutung zukommt, die weit über ihre Funktionalität als Ressource hinausgeht. Angesichts der Gefährdung oder Verarmung der Vielfalt von Tieren, Pflanzen und Landschaften erweist sich ihr Schutz als notwendiger Bestandteil von Humanität. Naturschutz ist Kulturaufgabe und eine Kultur der Humanität ist ein notwendiger Bestandteil und Weg zum Naturschutz.9 Das Verhältnis von Humanität und Ökologie ist von daher also sowohl von einer unauflöslichen Spannung als auch zugleich von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis geprägt. Der Begriff „Ökologische Humanität“ knüpft an die inzwischen weltweit etablierte Disziplin der Humanökologie an, von der ich hier einige ethisch-systematische Aspekte aufgreife und weiterzuentwickeln versuche. Humanökologie ist ein Forschungsansatz, der zwischen den Stühlen sitzt – zwischen den Human- und Sozialwissenschaften auf der einen und der Ökologie als naturwissenschaftlicher Disziplin auf der anderen Seite. Er hat seinen systematischen Ort im Grenzbereich zwischen personalem und systemischem Ansatz sowie nicht zuletzt zwischen sehr unterschiedlichen Verständnisweisen des Begriffs „Ökologie“. Dies macht die Humanökologie methodisch heterogen und angreifbar, zugleich jedoch auch interessant und zukunftsweisend, da die Bruchstelle, an der sie angesiedelt ist, für Verunsicherungen des gesamten heutigen Wissenschafts- und Selbstverständnisses des Menschen sorgt.10 Die Humanökologie hat so in besonderer Weise Anteil an der Suche nach neuen Modellen des Mensch-Natur-Verhältnisses. Durch die enorme Eingriffstiefe der Umgestaltung der Natur im Zeitalter der globalen ökonomisch-technischen Expansion ist dies nicht nur eine akademische Herausforderung, sondern von existentieller Bedeutung für unzählige Menschen, insbesondere in den ökologisch sensiblen tropischen und subtropischen Zonen der Erde. In der Christlichen Sozialethik ist der Begriff Humanökologie bereits seit Beginn der 1990er Jahre etabliert, bisher allerdings lediglich auf der Ebene der päpstlichen Sozialverkündigung und kaum in der wissenschaftlichen, kirchlichen oder gesellschaftlichen Debatte.11 Eine Klärung der spezifischen und keineswegs unproAngelika Krebs, „‚Und was da war, nahm uns an‘. Heimat, Landschaft, Stimmung“, in: Markus Vogt / Frank Uekötter / Jochen Ostheimer (Hgg.), Umweltethik, 215–225, hier 225.  9  Am Beispiel der Bedeutung der Natur als Heimat hat Angelika Krebs dieses Wechselverhältnis sehr deutlich aufgezeigt: Beheimatet zu sein und dabei die Eigenart und Schönheit der Landschaft wahrzunehmen sowie zu pflegen, ist ein wesentliches Element humaner Entfaltung und zugleich eine der stärksten Motivationskräfte für Naturschutz (vgl. Krebs 2013, a.a.O.). 10  Vgl. Dieter Radaj, Weltbild in der Krise. Naturwissenschft, Technik und Theologie – Ein Auswegweiser, München 2013. 11  Zur Analyse und Deutung der lehramtlichen Texte sowie zu einigen weiteren Aspekten der folgenden Darstellung vgl. Markus Vogt, „Von der Humanökologie zur ökologischen Humanität.

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blematischen Bedeutung des Begriffs für die Ethik ist bisher nur in Ansätzen entfaltet. Der folgende Beitrag möchte diese Forschungslücke schließen und dabei besonders auf kontextuelle und raumethische Ansätze eingehen, die die Natur nicht nur als Ansammlung von Schutzobjekten verstehen und ethisch taxieren, sondern als Lebensraum und Wirkungszusammenhang in den Blick nehmen. Diese Ansätze erschließen eine Tiefendimension der humanökologischen Ethik, ohne die diese nicht verstehbar ist. So soll die Umweltethik in einer Weise konzeptionell verortet werden, die über das Muster der Übertragung von sozialethisch geprägten Begriffen des Zwischenmenschlichen (wie z. B. Solidarität und Gerechtigkeit) auf die Umweltbeziehung hinausgeht.12

2. Humanökologie in der Epoche des Anthropozän: Wissenschaftstheoretische Annäherung 2.1 Entstehung der Humanökologie Die Entstehung der Humanökologie ist eng mit methodischen Neuorientierungen in Biologie, Anthropologie und Ethnologie, Geographie, Psychologie, Soziologie und Medizin verknüpft und stellt von Anfang an ein vielschichtiges, eher handlungsorientiertes, weder inhaltlich noch methodisch streng abgrenzbares Forschungsprogramm dar.13 Als Fachterminus wurde „Humanökologie“ erstmals beim Treffen der britischen ökologischen Gesellschaft 1914 öffentlich diskutiert.14 Lange hat sich Humanökologie als Fachdisziplin nur in den USA etabliert, human ecology wurde im Deutschen zunächst mit „Sozialökologie“ oder „Stadtökologie“ übersetzt.15 Konzeptionell wurde sie vor allem in den 1920er und 30er Jahren von der Chicago School of Sociology (Robert Park u. a.) entwickelt, später jedoch weitgehend von funktionalistischen (Mead) und interaktionistischen AnGrenzgänge zwischen Pädagogik und kontextueller Sozialethik“, in: Michael Obermeier (Hg.), Humane Ökologie – Gesellschaftliche Fragmentierungen – Pädagogische Suchbewegungen (Festschrift für Gerhard Mertens), Paderborn 2012, 111–127. 12  Die Etablierung der Umweltethik als ein eigenständiges und kohärentes Forschungsfeld steht in vielerlei Hinsicht noch ziemlich am Anfang. Vgl. dazu die Beiträge in Markus Vogt /  Frank Uekötter / Jochen Ostheimer (Hgg.), Umweltethik. 13  Vgl. Christine Katz, „Der Mensch und das Naturverständnis der Humanökologie“, in: Dieter Rink / Monika Wächter (Hgg.), Naturverständnisse in der Nachhaltigkeitsforschung, Frankfurt a. M. 2004, 73–101, hier 73. 14  Vgl. Wolfgang Serbser (Hg.), Humanökologie. Ursprünge – Trends – Zukünfte, München 2004, 23–179; Bernhard Glaeser (Hg.), Humanökologie: Grundlagen präventiver Umweltpolitik, Opladen 1989, 25–93; Wolfgang Nentwig, Humanökologie: Fakten – Argumente – Ausblicke, 2. Aufl. 2005, Berlin. 15  Vgl. Parto Teherani-Krönner, „Von der Humanökologie der Chicagoer Schule zur Kulturökologie“, in: Bernhard Glaeser / ders. (Hgg.), Humanökologie und Kulturökologie: Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992, 15–46.

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sätzen (Parsons) zurückgedrängt. Andernorts blieb die humanökologische Forschung lange ganz im Rahmen soziobiologischer Anpassungstheorien.16 Eine Institutionalisierung der Humanökologie ging von den USA aus und begann in den 1970er Jahren in Europa Fuß zu fassen (Lehrstühle in Schweden, der Schweiz, Belgien, Frankreich und Großbritannien). 1975 wurden in Wien die International Organisation for Human Ecology sowie in Deutschland die Gesellschaft für Humanökologie gegründet. In der Pädagogik hat die Humanökologie insbesondere in Deutschland seit den 1970er Jahren eine eigene Tradition ausgebildet, wobei der Terminus „Ökologie“ hier nicht für den biologischen Bezug zur Natur steht, sondern für einen methodischen Ansatz, der im Unterschied zur „Laborpsychologie“ auf den lebensweltlichen Kontext der sozialen Beziehungen größten Wert legt.17 Humanökologie ist „jene originäre Betrachtungsweise der Wirklichkeit, die sich mit Mensch-Umwelt-Interaktionen unterschiedlicher Größenordnung und Komplexität befasst“18. Heute ist die humanökologische Forschung vor allem deshalb sehr unübersichtlich, weil sie sich zu einer „trans- und interdisziplinär arbeitenden Koevolutionsund Nachhaltigkeitswissenschaft“19 weiterentwickelt hat. Dabei bleibt offen, ob die Humanökologie eine Heuristik darstellt, die sich heute in die Nachhaltigkeitsforschung auflöst, oder ob man umgekehrt eine Metamorphose der Nachhaltigkeitswissenschaft auf der Basis der Humanökologie zu erwarten hat.20 Jedenfalls stehen Humanökologie und Nachhaltigkeitsforschung in einem engen Verhältnis, da sich beide mit der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt bzw. Gesellschaft und Natur beschäftigen.21 Beiden Forschungszweigen ist gemeinsam, dass sie sich bisher eher in einer Vielzahl wissenschaftlicher Institute, Gesellschaften und Initiativen weltweit denn als akademische Disziplin etabliert haben. Die Spannung zwischen biologisch-naturwissenschaftlichen und soziologisch-humanwissenschaftlichen Zugängen prägt die humanökologische Forschung und führt häufig zu einem heterogenen Nebeneinander unterschiedlicher, gleichwohl zusammenhängender Methoden und Perspektiven.22 Humanökologie ist eine „ganzheitliche, integrative, interdisziplinäre und eher anthropozentrische 16  Vgl. Katz 2004, a.a.O., 76; Gerhard Mertens, Umwelten: Eine humanökologische Pädagogik, Paderborn 1998, 102. 17  Vgl. Mertens 1998, a.a.O., 101–166. 18 Mertens 1998, a.a.O, 164. 19 Serbser 2004, a.a.O., 14. 20  Vgl. Marina Fischer-Kolakowski, „Gesellschaftliche Kolonisierung natürlicher Systeme. Arbeiten an einem Theorieversuch“, in: Wolfgang Serbser (Hg.), Humanökologie. Ursprünge – Trends – Zukünfte, München 2004, 308–325, hier 308 ff. 21  Vgl. Vogt 2013, a.a.O, 134–179.347–372. 22  Gerhard Mertens, „Humanökologie der Erziehung und Bildung“, in: Ursula Frost/Winfried Böhm / Lutz Koch / Volker Ladenthin / Gerhard Mertens (Hgg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft. Grundlagen, Bd. I, Paderborn 2008, 567–594, hier 567.

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Forschungsperspektive […], die disziplinenabhängig […] verschiedene Zugänge evoziert“23. Natürliche und soziale Umwelten werden dabei als zwei interdependente Dimensionen des einen Oikos der menschlichen Lebenswelt begriffen.24 Von ihrer ökologischen Wurzel her ist die Humanökologie ein systemischer Ansatz.25 Sowohl durch ihre von Anfang an mitgedachte normative Komponente als auch durch die Fokussierung auf Fragen der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Natur steht sie dem Konzept der „ökologischen Sozialethik“26 nahe. Wissenschaftstheoretisch kann man die Humanökologie als Querschnittsdisziplin mit Brückenfunktion charakterisieren.27 2.2 Humanökologie als Schlüsseldisziplin in der erdgeschichtlichen Epoche des Anthropozän? Eine besondere wissenschaftstheoretische und praktische Aktualität der Human­ ökologie liegt darin, dass der Mensch heute zum dominierenden Faktor der Veränderungen von Ökosystemen geworden ist und die Erdsystemforschung daher in neuer Weise nach Modellen für die Wechselwirkung zwischen Human- bzw. Sozialsphäre und Ökosphäre sucht.28 Das Auftreten der urban-industriellen Gesellschaft als geologischer Faktor hat die Geografen dazu veranlasst, von einer neuen erdgeschichtlichen Epoche zu sprechen, die sie „Anthropozän“ nennen.29 Neben dem Anstieg der Produktion von Treibhausgasen spielen für die Stratigraphen landschaftliche Veränderungen durch den Menschen, die „mittlerweile die Auswirkungen der natürlichen Sedimentproduktion (pro Jahr) um eine erhebliche Größenordnung übertreffen“, die Übersäuerung der Ozeane, die globale Veränderung des Süßwasserhaushaltes und die stetige Reduktion der Artenvielfalt 23 

Katz 2004, a.a.O., 74; vgl. auch Nentwig 2005, a.a.O. Vgl. Mertens 1998, a.a.O., 163. 25  Vgl. Eugene P. Odum, Ökologie. Grundbegriffe, Verknüpfungen, Perspektiven. Brücke zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, München, 4. Aufl. 1980, 14. 26  Vgl. Hans-Joachim Höhn, Ökologische Sozialethik. Grundlagen und Perspektiven, Paderborn 2001. 27  Vgl. Markus Vogt, „Ökologie als Gesellschaftskritik? Zur normativen Relevanz der Ökologie“, in: Barbara Köstner / Markus Vogt (Hgg.), Mensch und Umwelt. Eine komplexe Beziehung als interdisziplinäre Herausforderung, Dettelbach 1996, 25–44. 28 Vgl. Will Steffen  / Jacques Grinevald / Paul J. Crutzen / John McNeill, „The Anthropocene: conceptual and historical perspectives“, Philosophical Transactions 369 (2011), 842–867; Paul J. Crutzen, „Die Geologie der Menschheit“, in: Paul J. Crutzen / Mike Davis / Michael D. Mastrandrea / Stephen H. Schneider / Peter Sloterdijk, Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011, 7–10. 29  So offiziell seit Februar 2009 die Stratigraphie-Kommission der Geological Society of London; vgl. Mike Davis, „Wer baut uns jetzt die Arche? Ein utopischer Blick auf unser Zeitalter der Katastrophe“, in: Markus Vogt / Frank Uekötter / Mike Davis, Prinzip Nachhaltigkeit. Ethische Fragen im interdisziplinären Diskurs, München 2009, 47–62, hier 47; Jan Zalasiewicz et al., „Are we now living in the Anthropocene?“, GSA Today 2 (2008), 4–8 (www.geosociety.org/gsatoday/ archive/18/2/pdf/i1052-5173-18-2-4.pdf). 24 

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eine Rolle. Die Erde ist „in einen stratigraphischen Abschnitt eingetreten […], für den in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist“30. Für die Erdsystemforschung hat die Erkenntnis, dass der Mensch zum Schrittmacher und „Ingenieur“ der gegenwärtigen Veränderungen der Biosphäre geworden ist, weitreichende Konsequenzen: Sie braucht zugleich ökologisches und sozialwissenschaftliches Wissen, um ihren Gegenstand zu verstehen und Entwicklungen zu prognostizieren. Damit ist sie auf die Forschungstradition der Humanökologie verwiesen. Deren Methodenproblem spitzt sich hier jedoch noch einmal zu: Menschliche und gesellschaftliche Interaktionen sind wesentlich intentional geprägt und lassen sich deshalb nur höchst unzureichend in den systemisch geprägten theoretischen Überbau der Ökologie bzw. der Ökosystemforschung einpassen.31 So bleibt der Ansatz einer humanökologischen Erdsystemforschung, wenn er diese Spannung nicht einseitig auflösen will, notwendig heterogen. Positiv formuliert: Zentrale Aufgabe der Humanökologie in der Epoche des Anthropozän ist die Suche nach einer forschungsadäquaten Brücke zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, um die Wechselwirkung zwischen natürlicher und sozialer Umwelt zu modellieren. Wenn ihr hier methodische Zuordnungen gelingen, kann die Human­ökologie zur Schlüsseldisziplin für sozialethische Fragestellungen des Anthropozän werden.

3. Die Entdeckung des Raumes als Grundlage einer humanökologischen Ethik 3.1 „Spatial turn“ in der christlichen Sozialethik Ein in vieler Hinsicht mit dem Anliegen der Humanökologie analoger Ansatz ist der spatial turn in der Sozialethik, der die Kategorie des Raums für die ethische Reflexion erschließt.32 Voraussetzung dafür, dass der Begriff des Raumes als sozialethischer Basisbegriff in den Blick genommen werden kann, ist die These, dass dieser wesentlich sozial bzw. humanökologisch konstituiert ist. Wichtigster Maßstab, um auf dieser Basis normative Leitlinien für eine Gestaltung des Raumes zu formulieren, ist das Personprinzip: Der sozial konstituierte und gestaltete Raum soll den Entfaltungsbedingungen menschlicher Personalität angemessenen sein und gerechte Teilhabe für alle ermöglichen. 30 Davis 2009, a.a.O., 48; vgl. auch Zalasiewicz 2008, a.a.O., 5 f.; Steffen 2011, a.a.O., 849–860. 31 

Vgl. Katz 2004, a.a.O., 82 f. Vgl. Martin Schneider, Raum – Mensch – Gerechtigkeit. Sozialethische Reflexionen zur Kategorie des Raumes, Paderborn 2012a; ders., „Spatial turn in der christlichen Sozialethik. Ein Plädoyer“, Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 53 (2012b), 221–244. 32 

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Eine an diese Perspektive anknüpfende, räumlich-kontextuelle und damit zugleich humanökologische Ethik verbindet den analytischen Zugang des spatial turn mit der normativen Perspektive der spatial justice.33 Der raumethische Zugang zur Humanökologie könnte helfen, die Dichotomie zwischen bio- und sozialökologischen Ansätzen durch den Bezug zu einer fundamentaleren Kategorie aufzulösen. Der Ansatz ist radikal im wörtlichen Sinne: Er geht an die Wurzeln des Selbstverständnisses sozialethischer Forschung. „Das Soziale ist weitgehend unter Absehung des Räumlichen gedacht worden“34. Die Wechselwirkung zwischen Raum und Gesellschaft sei neu zu bedenken. Ähnlich wie in der Philosophie lange die Sprache als für das Denken nicht weiter relevantes Medium vorausgesetzt wurde und erst im linguistic turn als ein von sich her strukturiertes und das Denken strukturierendes Feld erkannt wurde, so ist der Anspruch der humanökologischen Pädagogik, den Raum als ein von sich her strukturiertes und soziale Prozesse strukturierendes Medium, das wesentlich zum pädagogischen Verständnis der Ausbildung personaler Identität beiträgt, in den Blick zu nehmen. Als übergeordnetes Leitziel humanökologischer Pädagogik definiert Mertens dabei „Raumdurchdringung“35 im Sinne einer produktiven Aneignung von humanen Umwelten in ihren individuellen, sozialen und naturalen Dimensionen. Gegen die behavioristische und strukturfunktionalistische Vorstellung der passiven Geprägtheit des Menschen durch den Raum postuliert er ein Gewahrwerden, dass der Mensch seine Raumbezüge aktiv gestalten kann und muss.36 Räume sind demnach nicht einfach gegeben, sondern bedürfen der symbo­ lischen und praktischen Aneignung, um Identität zu stiften. Daraus ergibt sich als „produktive Leitvorstellung der Bildung […] eine Entscheidungsvernunft, eine Phantasie und Ich-Stärke, die angesichts raschen Wechsels und zunehmender Komplexität Individuen zur fortschreitenden Aneignung von Räumen be­ fähigt“37.

33  Vgl. Edward W. Soja, Seeking Spatial Justice (Globalization and community series, 16), Minneapolis 2010; Schneider 2012a + 2012b, a.a.O.; siehe auch die dem Thema Der „spatial turn“ der sozialen Gerechtigkeit gewidmeten Beiträge in Ethik und Gesellschaft 1/2013, (http://www. ethik-und-gesellschaft.de/dynasite.cfm?dsmid=114995). 34 Schneider, 2012a, 19. 35 Mertens 1998, a.a.O., 163. 36  Vgl. Mertens, 1998 a.a.O., 10. 37 Mertens, 1998 a.a.O., 166.

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3.2 Die erhöhten Anforderungen an Raumaneignung im Zeitalter der Globalisierung Die verbreitete These, dass mit dem Zurücktreten der Ortsgebundenheit in der Globalisierung zugleich die Bedeutung des Raumes abnehme, ist ein Irrtum. Gerade die wachsende physische und virtuelle Mobilität macht den Raum in neuer Weise zum prägenden Medium für vielschichtige Inklusions- und Exklusionsprozesse. Was zurücktritt, ist lediglich die Bindung an einen geografisch vorgegebenen „Containerraum“. Die vielfältigen sozial konstituierten Räume, die eine aktive Aneignung erfordern, werden dagegen in neuer Weise zu einer Basiskategorie hinsichtlich des Verständnisses (post-)moderner Gesellschaft sowie für die Verteilung von Lebenschancen. In dieser Situation wächst die Bedeutung einer raumbezogenen, kontextuellen Ethik. Maßgeblich für diesen Ansatz ist die qualitative Unterscheidung zwischen dem bloßen Vorkommen an einem beliebigen Raumpunkt und dem „Zur Welt-Kommen“ als Beheimatung an einem bestimmten Ort.38 Die Analyse von Raumaneignungsprozessen kann in eine „Anthropologie des Wohnens“ münden.39 Wohnen und Beheimaten werden davon ausgehend als ein existenzielles Grundbedürfnis und eine lebenslange Aufgabe des Menschen verstanden. Raumaneignung und -gestaltung ist von daher ein konstitutives Moment jeder menschlichen Vergesellschaftung. Diese ist unter den sich rasch wandelnden Raumbedingungen der Spätmoderne gesellschaftlich höchst brisant, gleichwohl bisher selten explizit ethisch und pädagogisch entfaltet worden. Die Zeit-Raum-Kompression ist ein wesentliches Merkmal der Moderne. Beschleunigung und Globalisierung führen zu einem „Übermaß an Raum“40, das es erschwert, sich mit bestimmten Orten und Räumen zu identifizieren und sie sich anzueignen. Wenn Menschen überall und doch nirgends daheim sind, entsteht ein schleichender Verlust an Lebensqualität. Menschen verlieren ihre Identität, wenn sie Punkte in einem beliebigen Umfeld werden, wenn Städte, Straßen, Bahnhöfe oder Kaufhäuser zu „Nicht-Orten“41 und bloßen Transiträumen werden, die überall sein könnten und folglich keine lokale Zugehörigkeit vermitteln. Die zunehmende Durchlässigkeit von Räumen in der spätmodernen, globalisierten und beschleunigten Zivilisation erfordert ein ständig neu reflektiertes Sich-Verorten der Person in ihren jeweiligen Umweltbezügen und dem vielfältigen Neben- und Nacheinander wechselnder Umwelten.42 Über die analytische Re38 

Vgl. Schneider 2012a, a.a.O., 336. Vgl. Schneider 2012a, a.a.O., 307–398, vgl. auch die monumentale „Sphären-Triologie“ von Peter Sloterdijk, Sphären. Trilogie, I. Blasen, II. Globen, III. Schäume, Frankfurt a. M. 1998–2004. 40  Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994, 41. 41 Augé 1994, a.a.O., 92 f. 42 Mertens 1998, a.a.O., 160. 39 

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flexion und die pädagogische Befähigung hinaus ist dem menschlichen Grundbedürfnis nach Raumaneignung ethisch-politisch durch den Schutz privater Räume sowie durch die Gestaltung von Räumen, die Inklusion ermöglichen, Rechnung zu tragen.43 Weil Räume soziale Hierarchien, Differenzen sowie Exklusion oder Inklusion hervorbringen bzw. verstärken oder abmildern, muss das Streben nach Gerechtigkeit die räumlichen Aspekte mit bedenken. 3.3 Transformationen der Raumbezüge als Thema humanökologischer Ethik Häufig wird Umweltethik – etwa mit Ausdehnungen von Solidaritätsappellen auf die so genannte „Mitwelt“ – innerhalb der traditionellen Begrifflichkeiten der Sozialethik verhandelt und darauf verkürzt. Demgegenüber bietet eine humanökologisch gewendete Raumethik eine viel weitere systematische Verankerung und Verortung: Umweltethik ist Raumethik44, der Raum ist ein „primärer Strukturierungsfaktor des Ethischen“45. Es geht im Kern nicht um eine Ausdehnung von Solidaritätspflichten auf Pflanzen, Tiere und Landschaften, sondern um ein vergessenes Existential menschlichen Daseins.46 Es ist folglich ein Missverständnis, wenn man Umweltethik als verlängerten Arm der Ethik des Zwischenmenschlichen konzeptualisiert. Sie findet ihren spezifischen Gegenstand nur im Ausgang von humanökologischen Raumbezügen. So wie die Erkenntnis, dass Normen und gesellschaftliche Strukturen nicht nur vor-, sondern auch aufgegeben sind,47 konstituiert die analoge Erkenntnis hinsichtlich des Raumes wissenschaftstheoretisch eine neue Perspektive. Sie erschließt fundamentale und oft überraschende Bedeutungsaspekte sozialethischer Leitbegriffe wie Inklusion, Integration, Teilhabe oder Beteiligungsgerechtigkeit. Sie fokussiert den Blick auf Prozesse und Institutionen, die den Menschen helfen, ihren Platz in der Gesellschaft und in der Natur zu finden und so ihre Fähigkeiten zu entfalten. Aus raumethischer und kontextueller Perspektive hat diese Ermöglichung einen strukturellen und gerechtigkeitstheoretischen Vorrang gegenüber dem Versorgtwerden mit Gütern.

43 

Vgl. Schneider 2012a, a.a.O., 399–631. Vgl. Martin Schneider, „Raum-Ethik als Basistheorie der Umweltethik“, in: Markus Vogt /  Jochen Ostheimer / Frank Ueköter (Hgg.), Umweltethik, 189–213. 45  Wilhelm Korff, „Individualethik, Sozialethik und Umweltethik in ihrer Differenz und Interdependenz“, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 1., Gütersloh 1999a, 207–212, hier 209. 46  Vgl. Schneider (2013), a.a.O., 200–210. 47  Diese Erkenntnis hat das Fach der Sozialethik als Sozialstrukturenethik hervorgebracht (vgl. Wilhelm Korff, „Der sozialethische Paradigmenwechsel: Voraussetzungen und Konsequenzen“, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 1, Gütersloh 1999b, 212–225.). 44 

Ökologische Humanität

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3.4 Humanökologie und kontextuelle Sozialethik Auffallend ist, dass die Begriffe „Ökologie“ und „Umwelt“ in dem sich dynamisch entwickelnden Forschungsfeld der Humanökologie sehr unterschiedlich gebraucht werden. Im älteren bio-ökologischen Forschungsstrang werden sie auf die biologisch-naturhafte Umwelt, im sozial-ökologischen Forschungsstrang auf die soziale und kulturelle Umwelt bezogen. „Zentrales Verbindungsstück zwischen den beiden Richtungen ist die moderne Zivilisation als Forschungsobjekt, insofern sich zivilisatorischer Naturumgang unter den Prämissen der Moderne sowohl bio-ökologisch auf die natürliche Umwelt als auch sozial-ökologisch auf soziale Umwelten des Menschen gleichermaßen auswirkt.“48 Versteht man Sozialethik als Auseinandersetzung mit dem Projekt der Moderne49, dann folgt aus den Ausführungen, dass man diese heute verstärkt auf eine Wechselwirkung bzw. „Durchlässigkeit“ zwischen sozial-ökologischen und bio-ökologischen Bezügen anlegen muss, um damit überhaupt erst einen Zugang zu der spezifischen Problemstellung der Gegenwart zu gewinnen. Denn die Gefährdung dieses Projekts durch die ökologischen Veränderungen wie Klimawandel und Bodenerosion sind offensichtlich, ebenso aber auch die Notwendigkeit eines vertieften sozial-ökologischen Wissens, um Steuerungskompetenz zurückzugewinnen.50 Man braucht einen Zugang, der dem Dualismus „biologisch – sozial“ vorausliegt und zugleich eine Analyse der spezifischen Dynamik postmoderner Gesellschaft ermöglicht. Die an den spatial turn anknüpfende „Raumethik“ kann genau dies in hervorragender Weise leisten.

4. Von der Humanökologie zur „ökologischen Humanität“ 4.1 Die ambivalente Rolle des Konzeptes „Humanökologie“ in der Katholischen Soziallehre Für die ökologische Diskussion im Kontext der katholischen Soziallehre ist die Einführung des Begriffs der „Humanökologie“ von prägender Bedeutung. Erstmals taucht er 1991 in der Sozialenzyklika Centesimus Annus51 auf: „Außer der sinnlosen Zerstörung der natürlichen Umwelt muss hier die noch schwerwiegendere Zerstörung der menschlichen Umwelt erwähnt werden, die noch lange nicht 48 Mertens 2008, a.a.O., 568.

49  Vgl. Gerhard Bachleitner / Wolfram Winger (Hgg.), Moderne im Umbruch. Fragen nach einer zukunftsfähigen Ethik (FS für Wilhelm Korff), Freiburg/Schweiz 1993; Korff 1999b, a.a.O.. 50  Vgl. dazu auch das Konzept der Politischen Ökologie: Cornelius Mayer-Tasch (Hg.), Politische Ökologie. Eine Einführung, Opladen 1999. 51  Johannes Paul II., Papst, Centesimus annus. Enzyklika zum hundertsten Jahrestag von „Rerum novarum“, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1991.

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die notwendige Beachtung gefunden hat. Während man sich mit Recht, wenn auch viel weniger als notwendig darum kümmert, die natürlichen Lebensbedingungen der verschiedenen, vom Aussterben bedrohten Tierarten zu bewahren, im Bewusstsein, dass jede von ihnen einen besonderen Beitrag zum allgemeinen Gleichgewicht der Erde erbringt, engagiert man sich viel zu wenig für die Wahrung der moralischen Bedingungen einer authentischen ‚Humanökologie‘. Nicht allein die Erde ist von Gott dem Menschen gegeben worden, dass er von ihr unter Beachtung der ursprünglichen Zielsetzung positiv Gebrauch mache. Der Mensch ist selbst ein Geschenk Gottes an den Menschen. Darum muss er die natürliche und moralische Struktur, mit der er ausgestattet wurde, beachten“ (Nr. 38). Parallel zu dem Begriff der Humanökologie wird der Begriff „Sozialökologie“ eingeführt und im Blick auf Arbeitsbedingungen sowie Stadtplanung entfaltet (vgl. Nr. 38). Eine charakteristische Erweiterung der Humanökologie als „Ethik des Lebens“ findet sich in der Enzyklika Evangelium Vitae52: Hier wird die ökologische Frage unter den Leitbegriff einer „Kultur des Lebens“ (Nr. 21.28.50.77.88.92.98.100) gestellt. Die „Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts“ (Nr. 10) wird als Teil der Kultur des Todes gebrandmarkt. Als umweltethisches Leitkonzept dient wiederum die Humanökologie (Nr. 42). Auch wenn der Fokus der Enzyklika Evangelium vitae nicht auf ökologischen Fragen liegt, sondern auf bioethisch-medizinischen und sozial-familiären, ist doch die Ökologie im Sinne einer umfassenden Ethik des Lebens und des natürlichen Lebensraumes als Habitat des Menschen (vgl. Nr. 42) der Rahmen, in dem diese Fragen diskutiert werden.53 Der Begriff der Lebensqualität (Nr. 27) dient als Brücke zwischen dem personalen und dem ökologisch-politischen Bereich. Bei Verhandlungen des Vatikans im Rahmen von Umwelt und Entwicklungskonferenzen spielt die Humanökologie eine zentrale Rolle (Muñoz, 2007). Dennoch findet sie in der wissenschaftlichen und ökumenischen Theologie bisher kaum nennenswerte Resonanz (vgl. Vogt 2009a, 180–214). Hinter dieser auffallenden Differenz steht eine tiefe sachliche Kontroverse: Der Begriff wird teilweise in einem verkürzten, von den bioökologischen Bezügen abstrahierenden Verständnis rezipiert und steht so unter dem Verdacht, als Deckmantel für die herkömmliche anthropozentrische Ethik, die allein dem Menschen einen ethischen Eigenwert zuerkennt, zu dienen.54 52  Johannes Paul II., Papst, Evangelium vitae. Enzyklika über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1995. 53  Vgl. Karl Golser, Verantwortlich für das Haus des Lebens. Zum zehnjährigen Erscheinen der Enzyklika „Evangelium Vitae“, Brixen 2005, 17–19. 54  Auch die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ (Benedikt XVI., 2009) hilft hier nicht wirklich weiter, da sie zwar unter dem Titel „Grammatik der Schöpfung“ eine differenzierte ethische Reflexion zum Verhältnis von Mensch und Natur entfaltet (Nr. 48–52), jedoch konzeptionell nicht über die traditionelle Anthropozentrik hinausgeht und sich dafür ohne jede Problematisierung auf den Begriff der Humanökologie beruft (vgl. dazu Vogt, 2009c, S. 27–31, 34 f.).

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Aufschlussreich und innovativ in dieser Debatte ist die jüngste Enzyklika „Laudato Si“, die Papst Franziskus im Juli 2015 veröffentlicht hat.55 Diese war zunächst unter dem Titel „Die Ökologie des Menschen“ – also einer Variation des Terms „Humanökologie“ – angekündigt. „Humanökologie“ ist dort ein Schlüsselbegriff; er wird jedoch der im Untertitel gebrauchten Metapher „das gemeinsame Haus“ untergeordnet, die nach lateinamerikanischer Tradition auf den Planten Erde bezogen und in der ethischen Argumentation mit dem Postulat eines rücksichtsvoll-achtsamen Zusammenlebens mit allen Kreaturen verbunden wird. Zugleich wird der Begriff „Humanökologie“ durch Nominalverbindungen wie „Kulturökologie“, „Sozialökologie“ oder „Ökologie des Alltags“, die auf ein neues Verständnis von Lebensqualität und ein „Denken in Beziehungsgefügen“ zielen, flankiert (z.B. Nr. 117). Vor allem aber wird der Begriff explizit gegen eine „falsch verstandene Anthropozentrik“ (Nr. 113–136) abgegrenzt. Auf dieser Basis könnte „Humanökologie“ als „missing link“ zwischen personalem und ökologisch-systematischem Ansatz durchaus auch für eine substantielle Weiterentwicklung der katholischen Umweltethik hilfreich sein, um die Sackgassen bisheriger Kontroversen zu überwinden und die Potentiale ökologisch-systemischer, christlich-anthropologischer und schöpfungstheologischer sowie humanistischer Zugänge zusammenzuführen. Voraussetzuung für die Tragfähigkeit eines solchen Konzeptes ökologisch-christlicher Humanität ist jedoch seine differenzierte Interpretation entsprechend der methodischen Standards einer kontextuellen und topologisch-raumbewussten ökologischen Sozialethik. 4.2 „Ökologische Humanität“: ein Brückenschlag zwischen Personalität und Nachhaltigkeit Das Christentum ist keine Naturreligion. Der Mensch als Ebenbild Gottes hat eine herausgehobene Stellung. Nach Carl Amery wurde der Schöpfungsauftrag „Macht euch die Erde untertan“ (Gen 1,26) in der europäischen Kulturgeschichte zur Legitimationsformel für Naturausbeutung, deren Folge die heutige Umweltzerstörung sei.56 In der Ethik wird dies seit Jahrzehnten kontrovers unter dem Stichwort „Anthropozentrik“ diskutiert. Inzwischen werden dabei auch die Alternativen einer bio-, patho- oder ökozentrisch-holistischen Begründung der Umweltethik (die „Leben“, „Leidvermeidung“ oder ökosystemare Gleichgewichtszustände als normative Basis der Ethik definieren) nüchtern betrachtet. Es kristallisiert sich ein Kompromiss heraus, den man als „aufgeklärte Anthropozentrik“ beschreiben kann.57 55  Franziskus, Papst: Laudato Si‘. Enzyklika über die Sorge für das gemeinsame Haus, Vatikan 2015. 56  Vgl. Carl Amery, Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek 1972. 57 Höhn 2001, a.a.O., 88–92; Vogt 2013, a.a.O., 252–259.

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Demnach ist der Bezug zum Menschen als sittlichem Subjekt für die Ethikbegründung unverzichtbar, aber auf der Ebene der Kriterien zählen nicht nur menschliche Bedürfnisse, sondern auch der abgestufte Eigenwert der Lebewesen und Naturzusammenhänge. Dies entspricht dem Konzept der Nachhaltigkeit, das von seinem forstwissenschaftlichen Ursprung her ein Naturnutzungskonzept und damit im Kern anthropozentrisch ist. Auch wenn der Begriff Humanökologie in der kirchlichen Rhetorik teilweise im Rahmen einer unaufgeklärten Anthropozentrik des alten Stils, die den Eigenwert der Natur nicht systematisch und gesellschaftstheoretisch bedenkt, verwendet wird, eignet er sich doch in sehr guter Weise, die ethische Erkenntnis aus der vierzigjährigen Debatte um Anthropozentrik oder Biozentrik auf den Begriff zu bringen: Ökologisch-vernetzte Humanität58 zielt darauf, Fragen der Politischen Ökologie59 stärker mit der Auseinandersetzung um die Anthropologie und die Determinanten menschlichen Handelns sowie Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Steuerung zu verknüpfen.60 Es geht nicht nur um die äußere Natur des Menschen, also das ökologische Umfeld, sondern auch um die innere Natur des Menschen sowie um sein soziales Umfeld. Die Dringlichkeit dieses Perspektivenwechsels liegt auf der Hand: Armut ist heute nicht nur ein sozialer Verteilungskonflikt, sondern zunehmend im Kontext der Frage nach dem Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Wasser und fruchtbarem Boden brisant. Die spezifische Kompetenz des theologischen Zugangs zu Fragen des Naturverhältnisses liegt von alters her darin, dass diese in ihren kulturellen und sozialen Zusammenhängen thematisiert werden. Dies entspricht dem Ansatz der Humanökologie. Das Paradigma der Humanökologie bietet die entscheidende methodische Basis zur kulturgeschichtlichen Vertiefung und Erweiterung des Nachhaltigkeitsdiskurses, der in den politisch einschlägigen Programmen meist einen überwiegend funktionalistischen Naturbegriff voraussetzt.61 Humanökologie gibt der sozialen Nachhaltigkeit eine weit über die verteilungspolitischen Aspekte hinausgehende Substanz.62 Eine humanökologische Ethik der Nachhaltigkeit hält prinzipiell an dem transzendentalphilosopischen Ansatz der Kantschen Ethik fest, stellt also den Menschen als Person und Verantwortungsträger in den Mittelpunkt der ethisch-politischen Konzeption. Sie konzentriert sich jedoch darauf, die naturalen Bedingungen des menschlichen Personseins zu verdeutlichen, um dem Menschen in einer ganzheitlich-konkreten Sicht nicht nur als abstraktem Subjekt, sondern auch als leiblich-seelischem Wesen gerecht zu werden. Darüber hinaus zielt ökolo58 

Vgl. Höhn 2001, a.a.O., 91 f. Vgl. Mayer-Tasch 1999, a.a.O., zu den sozio-kulturellen und spirituellen Dimensionen bes. 139–160. 60  Vgl. Glaeser 1998, a.a.O., 27–45. 61  Vgl. Rink / Wächter 2004, a.a.O., 11–34.203–208. 62  Vgl. Serbser 2004, a.a.O., 396 ff. 59 

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gische Humanität auf eine differenzierte Wahrnehmung des Eigenwertes der Natur. Diese verlangt eine ästhetische und spirituelle Sensibilität, die die Dinge nicht nur vereinzelt sieht, sondern in ihrer inneren Verbundenheit und Ganzheit, ihrer Schönheit sowie ihrem Symbolgehalt. Zugleich fördert sie wesentlich die Identitätsbildung.63 So können sich humanökologische, religiöse und pädagogische Sichtweisen im Ringen um ein neues Naturverhältnis wechselseitig ergänzen und befruchten.

5. Resümee: Konzeptionelle Konsequenzen für die Umweltethik Was sind nun die Konsequenzen aus dem Dargelegten? Welcher Ertrag ergibt sich für die Umweltethik? (1) Mit der Orientierung an dem Theorem einer ökologischen Humanität kann ein zentrales Anliegen jeglicher Umweltethik auf ein anthropologisches Fundament gestellt werden: die Überwindung des Dualismus zwischen Mensch und Natur. Dieser blendet das leibliche „In-der-Natur-Sein“ des Menschen aus, seine natürliche Verankerung und Verwobenheit, und konzipiert das Selbst als der Natur beziehungslos gegenüber stehend. Die Natur erscheint dem anthropozentrischen Dualismus vor allem „als technisch beherrschbar, offen für den ausbeuterischen und manipulativen Zugriff“64. Im Unterschied hierzu ruft die ökologische Humanität zum einen in Erinnerung, dass der Mensch immer schon in natürliche Zusammenhänge verstrickt ist, er von diesen in seiner Entfaltung abhängt, er sie aber auch gestaltet. Gut zum Ausdruck bringt dies der Begriff Anthroporelationalität. Der Mensch erscheint in dieser Sichtweise als relationales Beziehungswesen, und zwar nicht nur im Hinblick auf soziale, sondern auch auf natürliche Zusammenhänge. Man kann auch von einem natürlichen Lebensnetz sprechen, in das der Mensch eingebunden ist. Das Theorem der ökologischen Humanität erinnert zum anderen daran, dass die Natur für den Menschen nicht nur einen funktionalen Wert hat, sondern einen Eigenwert besitzt. Diesen Eigenwert zu erkennen und zu achten, ist eine spezifisch menschliche Kulturleistung. Deswegen wird auch im Rahmen einer ökologischen Humanität die Besonderheit und Selbstzwecklichkeit des Menschen nicht einfach eingeebnet. (2) Der Natur einen Eigenwert zuzusprechen und ihn zu achten, bedeutet nicht, dass die „Unberührtheit der Natur“ als zentrale Norm der Umweltethik stilisiert wird. Insofern die ökologische Humanität die Verwobenheit des Menschen in natürliche Zusammenhänge in Erinnerung ruft, soll gerade hervorgehoben werden, dass der Mensch in relationalen Beziehungen zu ihr steht. Diese sind verfehlt, wenn 63 

Vgl. Mertens 1998, a.a.O., 190–200.

64 Schneider 2013, a.a.O., 206.

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sie die Form der Ausbeutung und Manipulation annehmen. Sie sind geglückt, wenn sich der Mensch die Natur aneignet, pflegerisch mit ihr umgeht und sie im wahrsten Sinne des Wortes bewohnbar macht. Der Blick auf die „bewohnbare Natur“ hat zur Folge, dass die starre Gegenüberstellung von Natur und Kultur, von Natur und Gesellschaft etc. überwunden wird. Natur ist nicht das, was dort aufhört, wo Kultur anfängt. Es gibt keine „kulturlose“ Naturerkenntnis und keine „naturlose“ Kultur. Umweltschutz ist daher immer auch mit der Förderung von Lebensqualität verbunden. (3) Eng verknüpft mit der Überwindung der Antithese von Natur und Kultur ist die Überwindung der Antithese von sozialwissenschaftlichem und naturwissenschaftlichem Wissen bzw. humanwissenschaftlichen und ökologischen Methoden. Der Blick auf die Verzahnung und Verwobenheit von Mensch und Natur, von Kultur und Natur, von Gesellschaft und Natur kann dazu führen, diesen tiefen Graben zu überwinden. Das soll die positive Konsequenz haben, dass die Ethik nicht immer nur als Sache der bloß subjektiven Empfindungen im Unterschied zu den vermeintlich objektiven Tatsachen der äußeren Welt gilt. Ethische Urteile kommen immer auch durch die Art und Weise, wie wir Natur und ihre empirisch erforschbaren Sachverhalte wahrnehmen, zustande, freilich ohne sich dabei in der bloßen Feststellung des Vorgegebenen zu erschöpfen.65 Eine Ethik der ökologischen Humanität ist programmatisch auf die Verknüpfung und Zuordnung von natur- und sozialwissenschaftlichen sowie empirischen und transempirischen Perspektiven angelegt. (4) Das Theorem der ökologischen Humanität führt zu der Erkenntnis, dass es bei der Umweltethik nicht (nur) um eine Ausdehnung von Solidaritätspflichten auf Pflanzen, Tiere und Landschaften geht, sondern um die Erinnerung an ein Existential menschlichen Daseins. Dieser Zugang hat einen besonderen Charme, weil damit die Umweltethik an den Diskurs über das Projekt der Moderne und über das neuzeitliche Naturverhältnis anschließen kann. Die Umweltethik wird damit zur ökologischen Sozialethik. (5) Profitieren kann die Umweltethik in den bisher angesprochen Punkten von einem raumethischen Ansatz. So wie die ökologische Humanität das „In-der-Natur-Sein“ des Menschen expliziert, so die Raumethik das „Im-Raum-Sein“. Über die Explikation der räumlichen Verfasstheit des Menschen ergibt sich die Möglichkeit, Intuitionen einer ökologischen Humanität auf eine umfassende anthropologische Basis zu stellen. Spannend wäre es zum Beispiel, raumphänomenologische Analysen zum leiblichen Subjekt und zu den raumerschließenden Praktiken des Aneignens und Wohnens für die Umweltethik fruchtbar zu machen.66 Ein innova65  Vgl. Markus Vogt, „Empirie in der Ethik. Zum Verhältnis von Fakten, Werten und Normen“, in: Peter Schallenberg / Arnd Küppers (Hgg.), Interdisziplinarität der Christlichen Sozialethik, Paderborn 2013, 405–424. 66  Zu ersten Versuchen in diese Richtung vgl. Schneider 2013, a.a.O., 200–210.

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tiver Ansatz der Umweltethik ergibt sich hier vor allem dann, wenn auch die zweite Grundkategorie des menschlichen Daseins, die Zeit, berücksichtigt wird. Ansätze einer „Ökologie der Zeit“ sprechen dies bereits an. Denn die atemlose Beschleunigung ist eine nicht geringe Ursache für die ökologische Krise. (6) Eine Ausformulierung der ökologischen, naturbezogenen Dimensionen von Humanität, kann und muss Folgen haben für das, was wir unter Bildung verstehen. Im Horizont einer ökologischen Humanität darf Bildung nicht auf die Anhäufung von Wissen verkürzt werden. Bildung muss verstanden werden als eine Wahrnehmungschulung, die die Basis für die Ethik ist.67 Denn wir können nur das schützen, was wir kennen und wahrnehmen. Von gesellschaftlicher Bedeutung ist dies, weil zur Bewältigung der ökologischen Krise die Effizienzstrategie nicht ausreicht. Jeder technische Effizienzgewinn verpufft, wenn nicht Praktiken, die Energie und Ressourcen übermäßig verbrauchen, eingeschränkt oder verändert werden. Konkret bedeutet dies, dass in der Bildungsarbeit Erfahrungsräume geschaffen werden, in denen Kinder und Jugendliche die Schönheit und Vielfalt der Natur entdecken und darüber staunen können. Damit verbunden sind pädagogische Konzepte, die sich nicht einseitig auf die Förderung von kognitiven Kompetenzen konzentrieren. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ist verknüpft mit Ansätzen, die das Lernen mit allen Sinnen in den Mittelpunkt stellen: das Hören, das Riechen, das Schmecken, das Tasten und Be-greifen, das Sehen.68 Sich am Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu orientieren, bedeutet nicht, dass Kinder und Jugendliche in abgeschlossenen Räumen etwas über die Natur lernen. Zunächst und vor allem geht es darum, in die Natur zu gehen und lustvoll und kreativ mit dem Leben in Berührung zu kommen. Das Konzept der ökologischen Humanität ist im Grenzbereich zwischen Ethik und Bildung angesiedelt. (7) Last, but not least: Die Theologische Kompetenz in der Explikation einer ökologischen Humanität besteht darin, die Natur in ihren kulturellen Zusammenhängen zu denken, auch als „Symbolressource“, als Heimat, als geschenkter und unverzweckter Lebensraum, als „Lebenshaus“, das der Mensch mit anderen Mitgeschöpfen teilt, ja als Schöpfung. Verknüpft mit der Größe, mit der im Juden- und Christentum vom Menschen gedacht wird, hat dies ein Schöpfungsverständnis zur Folge, in dem die Schöpfung als sich kreativ-schöpferisch weiterentwickeln67  Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs führt Sigurd Bergmann den Begriff Ästh /  Ethik ein. Verbunden damit ist die Überzeugung, dass Sozialisation und Erziehung einen großen Stellenwert dafür haben, ob und wie moralische Probleme wahrgenommen und gelöst werden. Mit dem Begriff Ästhetik geht es Bergmann nicht um Kunst oder „Verschönerung“, sondern um die sinnliche Wahrnehmung (gr. αίσθησις: Sinneswahrnehmung); vgl. Sigurd Bergmann, Raum und Geist. Zur Erdung und Beheimatung der Religion – eine theologische Ästhetik des Raumes (Research in Contemporary Religion, Bd. 7), Göttingen 2010, v.a. 33–39; Schneider 2012a, a.a.O., 34–38. 68  Markus Vogt, „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“, in: Hans Münk/Michael Durst (Hgg.), Kirche, Theologie und Bildung, Freiburg/Schweiz 2010, 149–182.

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der Raum erscheint, und nicht als statische, bloß zu bewahrende Ordnung. Umweltethik ist vor diesem Hintergrund die wissenschaftliche Reflexion der Orientierungen, Maßstäbe und Institutionen für die Gestaltung der sich dynamisch entwickelnden Beziehung zwischen Mensch und Natur.

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Naturveränderung und Natur-Heimatrecht Normative Fragen der Strukturveränderung des ländlichen Raumes

Carl Friedrich Gethmann Die im Untertitel dieses Beitrags gebrauchte Wendung von der „Strukturveränderung des ländlichen Raumes“ wird meistens im Zusammenhang mit Problemen der Veränderung der „Sozial-Struktur“ des ländlichen Raumes, d. h. der Struktur der Mensch-Mensch-Interaktion und der mit den Interaktionsverhältnissen verbundenen Strukturen von Kooperation und Kommunikation verstanden und somit als ein Thema der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und der an diese angelehnten Fächer der Agrarwissenschaften aufgefaßt. Hier dagegen sollen Strukturfragen des Mensch-Natur-Verhältnisses in das Zentrum der Überlegungen gestellt werden. Dabei soll selbstverständlich nicht verkannt werden, dass sich das Mensch-Mensch-Verhältnis und das Mensch-Natur-Verhältnis auf komplexe Weise wechselseitig, wenn auch unumkehrbar, bedingen. Das Verhältnis des Menschen zur Natur als normatives Problem ist bisher in der Umweltethik vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtungen und Berechtigungen menschlicher Interventionen in „die Natur“ (etwa im Zusammenhang mit der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren) betrachtet worden.1 Demgegenüber sind normative Fragen, die sich spezifisch aus bestimmten naturnahen Lebensformen, wie etwa der Landwirtschaft, der Tierhaltung oder der Jagd ergeben, kaum behandelt worden. Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Strukturveränderungen des ländlichen Raumes wird jedoch der Zusammenhang beider Fragenkontexte offenkundig. So ist beispielsweise im Rahmen der ethischen Diskussionen über die Gentechnik nicht allein ihr Gefahrenpotential im Kontext einer Abwägung von Chancen und Risiken zu betrachten, sondern auch die Befürchtung zu berücksichtigen, die Vertrautheit mit der gewohnten natürlichen Umgebung zu 1  Diese Betrachtungsweise steht auch noch in den Beiträgen des Verfassers im Rahmen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Zukunftsorientierte Nutzung ländlicher Räume der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Vordergrund. Vgl. Carl Friedrich Gethmann / Susanne Hiekel, „Gerechtigkeit, Verantwortung, Vertrautheit“ in: Reinhard F. Hüttl / Oliver Bens / Tobias Plieninger (Hgg.), Zur Zukunft ländlicher Räume. Entwicklungen und Innovationen in peripheren Regionen Nordostdeutschlands, Berlin 2008, 216–222. Die folgenden Überlegungen haben sich auf dem Hintergrund dieses Projekts entwickelt und wurden im Rahmen des Projekts in einer ersten Fassung vorgetragen.

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verlieren. Damit sind grundlegende Fragen zu beantworten, die in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich von philosophischer Anthropologie und Ethik reichen. Vor allem stellt sich die Frage, ob es so etwas wie die Berechtigung zur Vertrautheit mit der natürlichen Umgebung, eine Art „Natur-Heimat-Recht“ gibt, das zwar keine Konstanz der natürlichen Umgebung, wohl aber so etwas wie ein Recht auf moderate Veränderungsgeschwindigkeit beinhaltet.

1. Mensch und Natur Naturveränderungen durch gentechnische Eingriffe in das Genom von Pflanzen und Tieren sind sozusagen der ethische Lackmustest hinsichtlich des Mensch-­ Natur-Verhältnisses, nicht nur, weil sie die aktuelle Debatte dominieren, sondern auch weil die gentechnische Veränderung von Pflanzen und Tieren eine Intervention in das Lebendige darstellt, die die größte Eingriffstiefe aufweist, die wir uns derzeit vorstellen können.2 Die lebensweltliche Grundlage der Gentechnik und damit auch ihr wissenschaftshistorischer context of discovery ist das Züchtungs-Know-how des Menschen. Es ist verbunden mit bestimmten Zwecksetzungen des Züchters. Diese Zwecksetzungen dienen beispielsweise der Herstellung von Bekleidung oder der Verbesserung der Nahrungsmittelgewinnung und lassen daher die Intervention in den Genbestand als ein „zweck-mäßiges“ Unternehmen erscheinen. Solche Zwecksetzungen des Menschen sind allerdings selbst keine Naturphänomene, sondern kulturelle Konventionen. Sie sind grundsätzlich kulturvariant, d. h. Menschen können züchterische Zwecke ändern und tun das auch laufend, wodurch sich auch die Interventionsstrategien ändern können. Gleichwohl ist das Züchten ein Handeln, das auch aus der Anerkennung der Sache selbst seinen Erfolg schöpft. Zwecke gegenüber der Natur und durch Intervention in die Natur zu realisieren, heißt nicht, beliebig handeln zu können. Die Debatte, die in den letzten Jahrzehnten etwa mit Schlagworten wie „Anthropozentrismus versus Ökozentrismus“ bis hin zur Diskussion um die Formulierung des Staatsschutzziels „Umweltschutz“ im Deutschen Grundgesetz geführt wurde, hat daher eine bemerkenswerte Schieflage. Hier wurde die Frage aufgeworfen, um wessen natürliche Umwelt es überhaupt geht: um die des Menschen oder um Umwelten anderer, vielleicht sogar aller lebenden Wesen. Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst festzustellen, dass wir als Menschen strukturell gezwungen sind, menschliche Zwecke zu realisieren um menschlichen Zielen zu folgen. Der 2  Die ethischen Fragen der Humangenetik werden hier nicht betrachtet, weil sie in die Sphäre der Mensch-Mensch-Interaktion gehören. Vgl. dazu Carl Friedrich Gethmann / Felix Thiele, „Ethische Probleme der Molekularen Medizin. Grundlagen und Anwendungen“, in: Detlev Ganten / Klaus Ruckpaul (Hgg.), Grundlagen der molekularen Medizin, Berlin u. a., 2. Aufl. 2003, 711–734.

Naturveränderung und Natur-Heimatrecht

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Mensch kann sich nicht als Handelnder in fremde Zweckwelten versetzen, er muss seine Wirklichkeit bewältigen. „Die Natur“ hat ihn so hervorgebracht, dass er nur durch Verfolgen seiner Zwecke leben und überleben kann. Überlegungen der Art, ob es nicht sogar wünschenswert wäre, wenn der homo sapiens die Welt im Interesse der Natur verließe, müssen daher als absurd erscheinen. In diesem strukturellen Sinne ist der Mensch als Zentrum seiner Umwelt unhintergehbar. Der Mensch kann nicht unter Absehung seiner Zwecksetzung einschließlich seiner Nutzenerwartungen auf die Natur blicken.3 In diesem Zusammenhang erscheinen metaphorische Formeln wie die vom „Frieden mit der Natur“ als irreführend.4 Die Natur ist weder ein denkbarer Friedenspartner noch ein Kriegsgegner. Krieg und Frieden sind Metaphern, die in die zwischenmenschliche Sphäre gehören und nicht in den Bereich der Interaktion zwischen Mensch und Natur. Die Unhintergehbarkeit des menschlichen Handlungs- und Erkenntniszusammenhangs, der strukturelle „Pragmazentrismus“5, kann nicht bedeuten – und das ist in dieser Klarheit eine Einsicht der jüngeren moralischen Reflexion über das Mensch-Natur-Verhältnis –, dass der Mensch mit ungezügeltem Ausbeutungsinteresse (als „Humanegoist“) die Natur nutzen darf. Dies gilt schon deshalb, weil er sich auf diese Weise selbst langfristig Schaden zufügte. „Umsichtiger Naturumgang“ bedeutet Rücksichtnahme auf systemische Zusammenhänge, bedeutet langfristiges Denken, bedeutet aber nicht Absehen von menschlichen Zwecken überhaupt.6 Auch sogenannte „intrinsische“ Zwecke sprechen sich die nicht-menschlichen Lebewesen nicht selbst zu, sondern sie werden vom Menschen zu- oder aberkannt. Wenn über Natur-Schutz gesprochen wird, darf nicht übersehen werden, dass der Mensch der Akteur des Schützens ist – einen Selbst-Schutz der Natur wird man der Natur wohl nicht abverlangen. Schützen heißt aber ebenfalls, durch Handlungen Zwecke setzen, Unterzwecke und Mittel auswählen, die einen Zwecke bevorzugen und die anderen nachrangig behandeln. Der Naturschutz der Lüneburger Heide beispielsweise be3  Allerdings dürfen Zweck und Nutzen nicht begrifflich konfundiert werden. Nur solche Zwecke stellen einen Nutzen dar, die grundsätzlich tauschbar und somit auf eine intersubjektiv verbindliche Bewertung („Geld“) bezogen werden können. Demzufolge gibt es trans-utilitäre Zwecke, zu denen beispielsweise Zwecke der Naturästhetik gehören. Ob der Schutz einer Landschaft einen Nutzen abwirft, hängt vom Handlungskontext ab, unabhängig davon handelt es sich aber um einen Zweck menschlichen Handelns. 4  Vgl. Klaus Michael Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik. München 1984. 5  Vgl. genauer Carl Friedrich Gethmann, „Pragmazentrismus“, in: Anne Eusterschulte/Hans W. Ingensiep (Hgg.) Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen – Probleme – Perspektiven, Würzburg 2002, 59–66. 6  Vgl. Carl Friedrich Gethmann, „Zur Ethik des umsichtigen Naturumgangs“, in: Peter Janich / Christoph Rüchardt (Hgg.), Natürlichkeit und Chemie, Berlin 1996, 27–46; ders., „Can there be universal principles of circumspective concern towards our natural environment?“, in: Eckart Ehlers / Carl Friedrich Gethmann (Hgg.), Environment across Cultures, Berlin 2003 (Wissenschaftsethik und Technikfolgenbeurteilung, Bd. 19), 205–211; zum Begriff des „umsichtigen Umgangs“ s.u. §3.

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zieht sich auf einen Zustand dieser „Gegend“, wie er seit etwa 200 Jahren besteht, dagegen nicht auf den Zustand des Waldgebietes von vor 300 Jahren. Langohreulen zu schützen dürfte vielen Menschen attraktiver erscheinen als der Schutz von Mücken.7 Diesem Ansatz des „Pragmazentrismus“ steht ein mehr oder weniger latenter holistischer Naturalismus eines Teils der Teilnehmer an der Diskussion entgegen, die dem Menschen mit der Argumentation, der Mensch sei doch („auch nur“) Teil der Natur, die Interventionsberechtigung gänzlich oder jedenfalls sehr weitgehend bestreiten und anderen Naturwesen so etwas wie genuine, d. h. nicht vom Menschen (mit-) konstituierte Berechtigungen zusprechen möchten. Diese Vorstellung der Naturbetrachtung und -behandlung ist jedoch selbst eine spezifische Möglichkeit des Erkennens und Handelns des Menschen. Was der Mensch als Natur betrachtet, ist selbst ein Kulturphänomen. „Der Mensch ist Teil der Natur“, sagt der Mensch (nicht die Natur), indem er die von ihm (nicht von der Natur) erfundene Kategorie von Teil und Ganzem auf sein (nicht der Natur) Naturverhältnis anwendet. Deswegen kann naturgemäß handeln auch nicht bedeuten, dass uns der Blick in die Natur lehrt, wie wir mit ihr umgehen sollen. Naturgemäß handeln bedeutet einerseits, dass wir nicht machen können, was wir wollen, vielmehr haben wir uns sachgerecht zu orientieren. Das heißt andererseits aber auch nicht, dass die Natur und die wissenschaftliche Betrachtung der Natur uns letztlich sagen, was wir tun sollen oder tun dürfen. Eine radikal naturalistische Interpretation des Ethos (der Moral, der Sitte), beispielsweise im Rahmen einer evolutionären Ethik, müsste ja auch als moralisch verwerflich eingestufte Handlungen als Effekte des evolutionären Mechanismus von Mutation und Selektion interpretieren und als Optimierungsergebnis akzeptieren. So kann eine evolutionäre Erkenntnistheorie möglicherweise erklären, wodurch das Phänomen des Ethos in die Welt gekommen ist, jedoch nicht die Geltung derjenigen Maximen rechtfertigen, gemäß denen Menschen Handlungen als empfehlenswert, verwerflich oder zulässig qualifizieren. Auch Maximen, die von manchen als verwerflich qualifiziert werden, sind durch die Mechanismen der Evolution hervorgebracht oder wenigstens ermöglicht. 8 Ein Modell, das versucht, dieses komplizierte Verhältnis zu illustrieren, ist das Verhältnis des Bildhauers zur Natur des von ihm bearbeiteten Stoffes. Der Bildhauer, der seinen Stoff bearbeitet, muß selbstverständlich die „Natur des Stoffes“ respektieren. Er wird kein gutes Kunstwerk zustande bringen, wenn er versucht, der Na7  Es sei angemerkt, dass Referenzobjekte des Schützens nur erste Substanzen im aristotelischen Sinne sein können, aber nicht abstrakte Entitäten. Man kann versuchen, seine Kinder vor Armut zu schützen oder den Eisbären vor dem Untergang, aber nicht das Bruttosozialprodukt und auch nicht die Wetterstatistik (nämlich das „Klima“ – der Ausdruck „Klima-Schutz“ ist eine semantische Kakophonie). 8  Vgl. Bernd Gräfrath, Evolutionäre Ethik? Philosophische Programme, Probleme und Perspektiven der Soziobiologie, Berlin 1997.

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tur des Stoffes Gewalt anzutun. Gleichwohl ist der Bildhauer am Ende der vollständige Urheber seines Produktes. Außer ihm ist niemand als Produzent aufgetreten – So ist es mit dem Naturverhältnis auch im Allgemeinen.9

2. Grenzen des Abwägens Eine wohl tief verwurzelte Grundintuition menschlicher Zweckrationalität beruht darin, Vorteile relativ zu den eigenen Zwecken zu nutzen und Nachteile zu vermeiden. Daraus ergibt sich scheinbar analytisch zwingend die Handlungsmaxime, Handlungen dann für empfehlenswert zu halten, wenn der Nutzen den Schaden übersteigt. Treten Nutzen und Schaden nur mit einer gewissen (bekannten oder wenigstens abschätzbaren) Wahrscheinlichkeit ein, spricht man von Chancen und Risiken. Es liegt daher durchaus nahe, auch für großtechnische Installationen bzw. technisch avancierte Interventionen in die Natur die Rationalitätsmaxime anzunehmen, gemäß der eine Handlung dann für empfehlenswert zu erklären sei, wenn die Chancen (wahrscheinlicher Nutzen) die Risiken (wahrscheinlicher Schaden) übersteigen. Diese Maxime erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung keineswegs als so plausibel, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Ersichtlich liegt ihr eine Konzeption der Handlungsbeurteilung zugrunde, die die Qualifikation einer Handlung als empfehlenswert, verwerflich oder zulässig ausschließlich an die Beurteilung der (außermoralischen) Handlungsfolgen bindet. Diese Maxime ist daher der Theoriefamilie des ethischen Konsequentialismus zuzuordnen, zu deren bekanntesten Ausprägungen die Varianten des Utilitarismus gehören. Sie gehen auf die britischen Moralphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts zurück und liegen als normatives Konzept sowohl den utilitaristischen Ethikansätzen als auch der liberalen Wirtschaftstheorie zugrunde. Die Verbindung zwischen den einfachen Fragen der moralischen Beurteilung von Handlungsfolgen und Problemen der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten ergab sich am Beginn der Neuzeit aus kollektiven Problemen der sozialen Selbstorganisation wie beispielsweise der Organisation von Versicherungen oder dem rationalen Wettverhalten im Rahmen wirt­schaft­licher Interaktion. Mit der Erfindung der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch ­Jakob I. Bernoulli und der Entwicklung der Versicherungsmathematik u. a. durch G. W. Leibniz10, konnte der Ökonom Th. Bayes die Handlungsmaxime „Chancen nutzen – Risiken vermeiden“ auf den Vergleich von Handlungsoptionen beziehen und mathematisch präzisieren. Danach lautet die Maxime ökonomischer Rationalität, dass ein Akteur diejenige von zwei Handlungsoptionen wählen sollte, die den ge 9 

Eine plausible Metapher ist auch das Verhältnis des Gärtners zu seinem Garten. Hauptschriften zur Versicherung und Finanzmathematik, Berlin 2000 (hg. von Eberhard Knobloch / J.-Matthias v.d. Schulenburg). 10 Vgl.

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ringeren Risikograd (den höheren Chancengrad) aufweist (der Nutzen [Schaden] sei ceteris paribus gesetzt). Unterstellt man eine numerisch ausgedrückte Präferenzordnung, dann lautet die Maxime: „Wähle unter den möglichen Handlungen diejenige, welche in der numerischen Präferenzordnung den höchsten Wert hat.“11 Die enge Verbindung des utilitaristischen Ansatzes in der Ethik in Verbindung mit ökonomischen Ansätzen hat zu den modernen Formen beispielsweise des Präferenzutilitarismus, der Rational-Choice-Theory und der Spieltheorie geführt und gilt heute strukturell als Grundlage der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Man kann nicht verkennen, dass sich dieser Ansatz in vielen Kontexten – beispielsweise der Organisation von Versicherungen oder der Allokation von Einrichtungen und Dienstleistungen im Gesundheitssystem – bewährt hat, d. h. immer dann, wenn ein Kollektiv versucht, eine optimale kollektiv grundsätzlich allen zumutbare Strategie bezüglich der Risiken angesichts mehrerer Handlungsoptionen zu entwickeln. Von daher liegt nahe, diesen Ansatz auch einzusetzen, wenn es gilt, die Installation von großtechnischen Anlagen beispielsweise zur Stromgewinnung, für die chemische Industrie oder zur Einrichtung eines nuklearen Endlagers rational zu beurteilen. Von da aus ist es nicht weit, auch beispielsweise Interventionen der so genannten grünen Gentechnik nach der utilitaristischen Maxime zu beurteilen. International wird dieser Ansatz daher auch oft als Grundlage des technology assessment angesehen. Demgegenüber wird der utilitaristische Ansatz generell12 und die utilitaristische Risiko-Ethik speziell aus der Sicht der Ethik mit einer Reihe von Gründen als nur in Grenzen akzeptabel wenn nicht überhaupt untauglich eingestuft.13 Die Kritik bezieht sich im Kern vor allem auf die ethische Unterstellung, dass sich die moralische Qualifikation einer Handlung (als empfehlenswert, verwerflich, zulässig) und darauf aufbauend im Falle der Verallgemeinerbarkeit die ethischen Beurteilungen von Handlungen (als geboten, verboten, erlaubt) ausschließlich aus der außermoralischen Qualifikation der Folgen der Handlung (beispielsweise als chancenreich, risikoreich oder Risiko-Chancen-indifferent) ergibt.14 11  Wolfgang Stegmüller, Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit. Erster Halbband. Personelle Wahrscheinlichkeit und rationale Entscheidung, Berlin u. a. 1973, 297. 12  Vgl. zur Kritik des Konsequentialismus v.a. Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequen­ tialismus, München 1993. 13  Eine entsprechende Begrenzung der utilitaristischen Risiko-Ethik hat schon Nicholas Rescher, Risk. A philosophical introduction, Washington 1983 vor allem mit Blick auf große Schadensszenarien gefordert. In Carl Friedrich Gethmann, „Zur Ethik des Handelns unter Risiko im Umweltstaat“, in: Carl Friedrich Gethmann / Michael Kloepfer (Hgg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, Bonn 1993, 1–54 werden vor allem die prozeduralen Grenzen des utilitaristischen Ansatzes (Kriterien der Verallgemeinerbarkeit) erörtert. Den jüngeren Stand dieser Debatte fasst sehr gut zusammen: Julian Nida-Rümelin / Benjamin Rath / Johann Schulenburg, Risikoethik, Berlin u. a. 2012. 14  In der internationalen Natur- und Technikdebatte hat vor allem die Schrift von Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt

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In diesem Zusammenhang kann davon abgesehen werden, dass das konsequentialistische Handlungskonzept bei formalwissenschaftlich präziser Durchführung von starken Rationalitätsbedingungen (wie der transitiven Ordnung der Präferenzen der Akteure) und somit starken Idealisierungen abhängt.15 Die materiellen ethischen Anwendungsschranken des utilitaristischen Grundmodells werden sofort deutlich, wenn man sich fragt, ob die Orientierungsprobleme des richtigen Handelns immer auf Optimierungsfragen zurückgeführt werden können. Ein erster Problemkomplex ergibt sich daraus, dass die Messgrößen für die Bestimmung des Optimums keineswegs von Natur aus feststehen. Auch wenn zweifellos in vielen Kontexten die Angabe von Mortalitäts-, oder Morbiditätsraten oder ökonomischen Größen wie ausgefallenen Mannsstunden plausibel ist, wird dies niemand als generelle Handlungsbeurteilung akzeptieren. Die Gegenbeispiele, die häufig aus dem Gesundheitskontext genommen werden (durch die Explantation der Organe eines Menschen kann man eventuell fünf Menschenleben unter Verlust von einem retten; alle Therapien, die die durchschnittlichen Beerdigungskosten übersteigen, sind unwirtschaftlich usw.), zeigen jedenfalls, dass für die Beurteilung eines Optimums Größen herangezogen werden, deren nume­ rische Ausdrückbarkeit jedenfalls in intersubjektiv verbindlicher Weise manchmal unmöglich erscheint. Dies weist auf die grundsätzlichere Erfahrung hin, dass es Zwecke gibt, die der Sphäre des Tausches und damit der Bestimmung eines Nutzens grundsätzlich entzogen sind. Neben dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sind das trans-utilitäre Zwecke wie Gesundheit, Freundschaft, Glück, Frieden, Gerechtigkeit, soziale und institutionelle Partizipation, Leben in transparenten Umständen (unter Einschluss des sog. Rechts auf informationelle Selbstbestimmung) u. a. Mit Blick auf die Maxime des umsichtigen Naturumgangs lautet daher die Frage, wie weit Naturinterventionen – insbesondere gentechnische – als ein Problem von Risiko- und Chancenabwägung betrachtet werden dürfen.16 Die jüngere technik- und umweltethische Debatte hat beispielsweise die Verpflichtung gegenam Main 1979 und seine darin entwickelte Konzeption der „Heuristik der Furcht“ die Kritik am bayesianischen Utilitarismus populär gemacht. 15 Vgl. Julian Nida-Rümelin / Benjamin Rath / Johann Schulenburg, Risikoethik, 78 ff. 16  Ethikkonzeptionen, die unter Rekurs auf trans-utilitäre Zwecke normative Grenzen des utilitaristischen Abwägens vorsehen, werden im internationalen ethischen Fachjargon mit Blick auf Kant „deontologisch“ genannt. Dazu ist zu beachten, dass konsequentialistische Ethikkonzeptionen dadurch ausgezeichnet sind, dass sich nach ihnen die moralische Qualifikation der Handlung ausschließlich nach der außermoralischen Qualifikation der Handlungsfolgen richtet. Entsprechend ist für deontologische Ethikkonzeptionen kennzeichnend, dass für sie neben der Beurteilung der Handlungsfolgen auch andere Handlungsgründe für die moralische Qualifikation ausschlaggebend sind. Eine deontologische Ethikkonzeption besteht im Kern in einem kombinierten Folgen/Gründe-Raisonnement. Die Kennzeichnung deontologischer Ethikkonzeptionen dahingehend, dass für sie die Handlungsfolgen für die moralische Qualifikation unbedeutend seien (sie also reine „Gesinnungsmoralen“ seien), geht auf utilitaristische „Feindpropaganda“ zurück.

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über den Mitgliedern künftiger Generationen oder die Artenvielfalt (Biodiversität) als Zwecke herausgearbeitet, die sich einer utilitären Beurteilung und damit einer Risiko-Chancen-Abwägung systematisch entziehen. Verpflichtungen gegenüber Angehörigen künftiger Generationen und entsprechend Berechtigungen dieser gegenüber den Angehörigen der jetzigen Generation lassen sich schon deswegen nicht direkt nach der bayesianisch-utilitaristischen Maxime rechtfertigen, weil die tatsächlichen Präferenzen der Angehörigen künftiger, jedenfalls ferner Generationen nicht bekannt sind.17 Ferner ist die Festlegung einer Diskontrate hinsichtlich zukünftiger Verpflichtungen und Berechtigungen pragmatisch witzlos, weil auch eine noch so kleine Rate recht schnell zu nicht vermittelbaren Größen führt. Dagegen erscheint eine deontologische Rechtfertigung von Langzeitverpflichtung im Rahmen einer universalistischen Ethik unschwer möglich.18 Betrachtet man die Probleme der Biodiversität ausschließlich unter der Maßgabe einer Risiko-Chancen-Abwägung, und legt man als Kriterien solche utilitaristischen zugrunde, kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass man sich die den Menschen umgebende Natur mit erheblich weniger natürlicher Vielfalt vorstellen kann. In diesem Zusammenhang wird dann gerne darauf hingewiesen, dass es naturgeschichtlich immer wieder starke Artenreduktionen aufgrund natürlicher Prozesse gegeben hat. Daran zeigt sich, dass das Biodiversitätsproblem nur in Grenzen als Ergebnis einer Risiko-Chancen-Abwägung behandelt werden kann. Fragen von Gleichgewichten, holistischen Phänomenen wie Landschaften, systemischen Passungsverhältnissen im Rahmen der Vielfalt des Lebendigen, erst recht Fragen der Naturästhetik und affektiver Naturbezüge, schließlich Gesichtspunkte von Vertrautheitsqualität und Veränderungsgeschwindigkeit, fallen aus einer solchen Risiko-Chancen-Abwägung heraus.

3. Die Vertrautheit mit der natürlichen Umgebung Die herausgestellten Grenzen des Abwägens ergeben sich aus Überzeugungen hinsichtlich menschlicher Interaktions- und Kommunikationsverhältnisse, die in der Regel, außer in Krisensituationen, den Status impliziten Regelwissens aufweisen. 17 

Eine indirekte utilitaristische Rechtfertigung aus dem Bedauern (und somit dem Schaden) der jetzt Lebenden hinsichtlich dieses Umstands hat Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988 zu entwickeln versucht. 18  Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, in: Carl Friedrich Gethmann / Michael Kloepfer / Hans G. Nutzinger (Hgg.), Langzeitverantwortung im Umweltstaat, Bonn 1993, 1–21; Carl Friedrich Gethmann / Georg Kamp, „Gradierung und Diskontierung von Verbindlichkeiten bei der Langzeitverpflichtung“, in: Dieter Birnbacher / Gerd Brudermüller (Hgg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg 2001, 137–153; Carl Friedrich Gethmann, „Wer ist der Adressat der Langzeitverpflichtung?“, in: Carl Friedrich Gethmann / Jürgen Mittelstraß (Hgg.), Langzeitverantwortung. Ethik – Technik – Ökologie, Darmstadt 2008, 10–22.

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Solche Regeln bilden ein konventionelles Ensemble von Üblichkeiten in einer Gemeinschaft, welches die griechische Philosophie als das Ethos (lateinisch: die Moral, deutsch: die Sitte) einer Gemeinschaft anspricht.19 Die Grenzen des Abwägens sind in diesem Sinne moralische (ethos-bezogene) Grenzen. Die Ethik (ars ethica) ist die begrifflich-systematische Reflexion auf derartige Grenzen. In ihre fachliche Obliegenheit gehört somit auch die Reflexion auf Grenzen, wie sie durch Gesichtspunkte der Biodiversität oder der Langzeitverantwortung gegeben sind. An dieser Stelle ist klarzustellen, dass die professionelle Ethik nicht ihre Aufgabe darin sieht, aus irgendeiner besonderen Quelle schöpfend für Menschen, die über diese Informationsquelle nicht verfügen, Gebote oder Verbote zu erlassen. Aufgabe der Ethik ist es vielmehr, bestehende Moralüberzeugungen kritisch auf Verallgemeinerbarkeit hin zu überprüfen. Ein Beispiel für eine solche Überprüfung von Verallgemeinerbarkeit ist die bekannte Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“. Diese Regel sagt nichts über das aus, was man tun oder lassen soll, sondern sie sagt, wie man gewisse ausgeführte oder unterlassene Handlungen bzw. Handlungsoptionen im Hinblick auf Zulässigkeit oder Unzulässigkeit beurteilen soll. Die Ethik hat es mit der Prüfung der Verallgemeinerbarkeit bestimmter Moralüberzeugungen zu tun, sie strebt somit die Verallgemeinerbarkeit von Normsetzungen an und ist insofern Teil des Rationalitätsparadigmas „Wissenschaft“. Moralen unterliegen ethischer Kritik nicht von Haus aus, sondern vor allem dann, wenn sie Konflikte erzeugen, die z. B. dadurch entstehen, dass sie Unvereinbarkeiten mit anderen Moralüberzeugungen aufweisen. In solchen Fällen bedarf es eines „rationalen Schiedsrichters“, der schließlich feststellt, welcher Orientierung die Teilnehmer an einer sozialen Situation folgen sollen.20 Im Fall der Gentechnik liegt der mögliche Konflikt darin, dass auf der einen Seite – für Pflanzen- und Tierzüchtung – genetisches Wissen wegen der Anwendbarkeitschancen etwa zur Verbesserung der Zuchtergebnisse durch Reduzierung von Pflanzenkrankheiten oder durch Pestizidresistenz oder zur Nahrungsmittelvermehrung und -verbesserung höchst erwünschtes Wissen ist. Auf der anderen Seite erzeugt sowohl bereits die Produktion dieses Wissens, die Wissenskonstitution, als auch insbesondere die Anwendung dieses Wissens, die Wissensapplikation, Risiken. So ergibt sich zunächst als naheliegende Strategie der Konfliktbewältigung, die in Aussicht stehenden Chancen mit den Risiken gegeneinander abzuwägen. Der faktischen Diskussion ist jedoch zu entnehmen, dass die Skepsis gegenüber der Gentechnik nicht allein durch ihr Gefahrenpotential bedingt ist, das heißt genauer, durch die Befürchtung, dass die Risiken die Chancen übersteigen, sondern 19  Die Wendung vom Ethos als Ensemble der Üblichkeiten verdankt sich der Verbalisierung durch Odo Marquard; vgl. u. a. ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981. 20  Vgl. Carl Friedrich Gethmann, „Professionelle Ethik und Bürgermoral. Zur Debatte um die ‚Bio-Politik‘“, in: Jan-Christoph Heilinger / Colin Guthrie King / Héctor Wittwer (Hgg.), Individualität und Selbstbestimmung (Festschrift für Volker Gerhardt), Berlin 2009, 225–241.

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eher in der Befürchtung gründet, die Vertrautheit mit der gewohnten natürlichen Umgebung zu verlieren. Auf die berühmte „Schiege“ wird ja von vielen nicht mit Unbehagen wegen des mit ihr verbundenen Risikos (der Bastardisierung o.ä.) reagiert, sondern sie wird als Provokation gegenüber der Vertrautheit mit der Natur erfahren. Damit stellt sich die Frage, ob es so etwas wie das Recht auf Vertrautheit mit der natürlichen Umgebung gibt, wie es gegebenenfalls zu verstehen und zu rechtfertigen ist. Man könnte von einem „Natur-Heimat-Recht“ sprechen. „Vertrautheit“ ist eine Kategorie, die bisher nicht zum begrifflichen Instrumentarium der Ethik gerechnet wird. Der Begriff scheint eher in die Sozialpsychologie zu gehören und somit eine deskriptive Bedeutung aufzuweisen, die bei Strafe des naturalistischen Fehlschlusses nicht in einen normativen Kontext transferiert werden darf. Zudem sind die Konnotationen zweideutig: Vertrautheit ist positiv verbunden mit Nähe, Intimität, Heimat, negativ mit Gefühlsduselei, Unbeweglichkeit, Bequemlichkeit, Fremdenfeindlichkeit. Allenfalls könnte man sich das Thema als eines der Philosophischen Anthropologie vorstellen. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass keine Ethik ohne eine begriffliche Vor-Investition hinsichtlich des Verständnisses des Akteurs und seiner Adressaten auskommt. Zu jeder Ethik gehört eine (wenigstens Minimal-) Anthropologie.21 Daher ist abschließend zu fragen, ob die Kategorie der „Vertrautheit“ ein Element einer solchen ethikbezogenen Minimalanthropologie sein müsste. Die Frage lenkt den Blick auf anthropologische Ansätze einer konservativen Kulturkritik im Anschluss an den Rechts-Hegelianismus bei H. Freyer, A. Gehlen, H. Schelsky und H. Lübbe.22 Die genannten Autoren plädieren allerdings keineswegs dafür, dass alles so bleiben müsse, wie es ist, sondern dafür, dass der Wunsch nach Vertrautheit mit der sozialen und natürlichen Umgebung ein Recht auf moderate Veränderungsgeschwindigkeit beinhaltet. Die illustrativen Beispiele der kulturkritischen Philosophie beziehen sich vor allem auf soziale Strukturen, Institutionen und Konstellationen von Artefakten wie beispielsweise Gebäuden. Zu prüfen ist, ob analog, gerade im Blick auf die Gentechnik, die Naturveränderung in bestimmten Dimensionen nicht einfach ethisch erlaubt oder verboten ist – das ist vielleicht eine zu einfache Gegenüberstellung –, sondern ob in bestimmten Bereichen die Verlangsamung von Veränderungsgeschwindigkeiten (etwa durch Moratorien) zu fordern ist. Eine Handlung kann auch dann moralisch verwerflich sein, wenn sie ihre Handlungsfolgen schneller als in einer gewissen Geschwindigkeit realisiert, so dass die Teilnehmer an dieser Situation die Vertrautheit mit ihrer natürlichen Umgebung verlieren.23 21  Diesen Zusammenhang hat vor allem Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim 1972, herausgestellt. 22  Mit der Rubrizierung „konservativ“ ist freilich nur eine Einordnung vorgenommen, noch kein Argument formuliert worden. 23  Dies wäre übrigens ein Beispiel für ein kombiniertes Folgen-Gründe-Raisonnement; erst der praktische Syllogismus, der die hypothetische Forderung der Vertrautheit mit der Feststellung der Handlungsfolgen verbindet, führt zu einer normativen Konklusion.

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Dies sei an dem von H. Lübbe angeführten Beispiel einer Innenstadterneuerung illustriert.24 Es gibt sicher keinen hinreichenden ethischen Grund, die bau­ liche Erneuerung eines Stadtzentrums kategorisch für verwerflich zu erklären, aber gesetzt, es gebe ein Recht des Stadtbürgers, mit dem baulichen Bild seiner Stadt auch seine Wohnidentität (vulgo: Heimat-Gefühl) zu verbinden, dann muß die Veränderungsgeschwindigkeit eine humanitätskonforme Langsamkeit aufweisen. In einer Kontrastaufnahme mit 50 Jahren Zwischenzeit könnte somit keines der ursprünglichen Gebäude mehr da sein, aber der Anwohner könnte doch jederzeit den Eindruck haben, noch in seiner Stadt zu wohnen. In eine solche Betrachtung gehen allerdings starke identitätstheoretische Annahmen ein, die die Identität des Individuums nicht nur an seine individuelle Eigensphäre binden (die Identität, wie sie in größter Verdichtung im Personalausweis steht), auch nicht nur an seine soziale Umwelt (wie die Intersubjektivitätstheorien des 20. Jahrhunderts hinzufügen), sondern auch an die dingliche, kultürliche und natürliche Umwelt. Die phänomenal wohl adäquateste und begrifflich schärfste Analyse dieser Zusammenhänge hat M. Heidegger in der Welt-Analyse in Sein und Zeit (1927) vorgeführt, auf die abschließend noch hingewiesen werden soll.25 Besonders aufschlussreich ist dabei der Zusammenhang, den Heidegger zwischen den Begriffen der „Vertrautheit“, der „Gegend“ und des „umsichtigen Umgangs“ herstellt. Im Zusammenhang mit der Untersuchung des „In-der-Welt-seins“ weist Heidegger auf die Verschränkung von Verstehen (der Welt) und Vertrautheit (mit der Welt) hin: Worin das Dasein in dieser Weise sich je schon versteht, damit ist es ursprünglich vertraut. Diese Vertrautheit mit der Welt verlangt nicht notwendig eine theoretische Durchsichtigkeit der die Welt als Welt konstituierenden Bezüge. Wohl aber gründet die Möglichkeit einer ausdrücklichen ontologisch-existenzialen Interpretation dieser Bezüge in der für das Dasein konstitutiven Weltvertrautheit, die ihrerseits das Seinsverständnis des Daseins mit ausmacht.26

24  Hermann Lübbe, „Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus“, in: ders., Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, Düsseldorf 1980, 143–158. 25  Dieser Rekurs auf Heidegger könnte den Vorwurf auf sich ziehen, gegen Heideggers ausdrücklichen Hinweis die Aussagen der Fundamentalontologie anthropologisch zu interpretieren. In der Tat beabsichtigt Heidegger in Sein und Zeit nicht, eine Anthropologie zu entwickeln (etwa als Gegenentwurf zu den anthropologischen Ansätzen von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Aussagen der Fundamentalontologie anthropologisch unbedeutend sind. Zu den damit verbundenen methodischen Problemen vergleiche im Detail Carl Friedrich Gethmann, „Transzendentalphilosophie – Anthropologie – Fundamentalontologie“, in: Carl Friedrich Gethmann / Jochen Sattler (Hgg.), Kultur – Mensch – Technik. Studien zur Philosophie Oskar Beckers, Paderborn 2014, 161–208. 26  Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 17. Aufl. 1963, 86.

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In diesem Zusammenhang führt Heidegger dann den Begriff der „Gegend“ ein: Die vorgängige Zuhandenheit der jeweiligen Gegend hat in einem noch ursprünglicheren Sinne als das Sein des Zuhandenen den Charakter der unauffälligen Vertrautheit.27

„Gegend“ ist also in diesem Zusammenhang kein kartographischer oder geographischer Ausdruck, sondern ein „existenzialer“, d. h. er bezeichnet eine Existenzbedingung des Menschen. Betrachtet man bestimmte Lebensformen, z. B. die „rustikale“ und die mit ihr gegebene spezifische Form der sozialen Interaktion wie Mehrgenerationenfamilie, kulturellem Parochialismus („Landgemeinde“), affektivem agrikulturellem Verhältnis zu Natur („Scholle“) usw., dann wird deutlich, wie sich soziale und naturhafte Elemente zu einem Vertrautheitssyndrom, eben der Gegend, verbinden. Die normativen Implikationen der Gegend als anthropologischem Strukturelement haben ihre operative Grundlage in einer Handlungsform, die durch den Begriff des „umsichtigen Umgangs“ herausgestellt wird. Der phänomenologische Aufweis des Seins des nächstbegegnenden Seienden bewerkstelligt sich am Leitfaden des alltäglichen In-der-Welt-seins, das wir auch den Umgang in der Welt und mit dem innerweltlichen Seienden nennen.28 Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht. Der Umgang mit dem Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit des ‚Um-zu‘. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht.29

Im Anschluss an diese Analyse Heideggers ist daher zu fragen, ob das Recht auf Vertrautheit des Menschen mit der natürlichen Umgebung nicht neben anderen (wie Verantwortung gegenüber den Mitgliedern künftiger Generationen) zu jenen Grenzen zu rechnen ist, die die Risiko-Chancen-Abwägung beschränken sollten. Wie herausgestellt geht es dabei nicht um die Erlaubtheit gentechnischer Interventionen in die Natur im Sinne einer Ja-Nein-Frage, sondern um die Dynamik der Naturveränderung angesichts einer bisher ungewohnten Eingriffstiefe. Die selbstkritische Reflexion auf die Dynamik der Naturveränderung wäre dann ein wesentliches Element eines umsichtigen Naturumgangs.

27 

Martin Heidegger, Sein und Zeit, 104. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 66 f. 29  Martin Heidegger, Sein und Zeit, 69. 28 

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„Und was da war, es nahm uns an“ Landschaft, Stimmung und Heimat

Angelika Krebs In einer Satire aus den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, mit dem Titel „Gewinn der Mitte“, führt der Münchner Schriftsteller und Verleger Michael Krüger die grüne Gesellschaft der Mitte vor: Ja, mit der Natur hatten wir Probleme, auch mit deren Schutz. Diese verwirrende Vielfalt, die sich kaum unterscheiden läßt! Wer kann schon jeden Käfer schützen! Jeden gefiederten Freund? Von den niederen Pflanzen ganz zu schweigen! Sollen wir dem Buchfink verbieten, aus unseren Seen zu trinken? Wir sind grundsätzlich gegen Verbote. Aber auch hier hat die Mitte Lösungsvorschläge gemacht, die tragfähig sind. Erstens haben wir die Arten radikal reduziert, aus dem unübersichtlichen Gewimmel eine repräsentative Auswahl getroffen. Das war schwer und nur mit Hilfe der Industrie zu bewältigen. Zweitens haben wir den Biologieunterricht eingeschränkt, große Teile der Geschichte übertragen. Das Resultat läßt sich sehen: jetzt ist ein Baum nicht mehr Zwergahorn oder Rotbuche oder Bonsai, er ist nur noch ein Baum. Baum, Säugetier, Insekt, sehr einfach. Maus macht eine Ausnahme, auch Hund, Katze, Pferd. Der Rest ist Säugetier oder Huhn. Und der Baum ist – im Gegensatz zum Bonsai – gut zu schützen. Wir schützen den Bonsai – das geht nicht; wir schützen den Baum als Baum. Sehen Sie selbst, überall Bäume. Und darin: Vögel, wie jeder hören kann. Auch der Fisch wurde beobachtet! Und Kleinsttiere, wohin man sich wendet, bis zu den Einzellern. Man schützt nicht die Einzeller, man schützt Tiere. Unsere Rinder erhalten Hormonmast, das macht sie und uns glücklich. Nehmen Sie ein Flugzeug und schauen Sie auf die Mitte herab: alles grün. Wir sind grün. Alles in Saft und Kraft, nicht zuletzt dank unserer Industrie.1

Die Satire war, wie der Untertitel anzeigt, als „Einstimmung in künftige Zeiten“ gedacht. Inzwischen sind die künftigen Zeiten da. Sehen Sie selbst, überall Bäume! Dem muss man etwas entgegensetzen. Das will ich in diesem Kapitel tun. Ich will zeigen, wie wichtig es ist, dass wir nicht nur Bäume sehen, sondern die Natur, die uns umgibt, in ihrer ganzen Fülle erleben und mit all unseren Sinnen. Denn nur dann können wir uns, so meine These, als Menschen in der Welt angenommen und zuhause fühlen. Und nur dann werden wir die Kraft haben, der Industrie und

1  Michael Krüger, „Gewinn der Mitte“, in: ders., Das Schaf im Schafspelz und andere Satiren aus der Bücherwelt, Zürich 2000, 117 f. In die gleiche Kerbe haut der Kabarettist Josef Hader mit seinem Kurzfilm Holz wächst im Wald von 1999.

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Angelika Krebs

Politik der „Mitte“ zu trotzen und uns die Natur, die wir zum guten Leben brauchen, auch zu erhalten. Dieses Kapitel hat drei Teile. Im ersten, einführenden Teil werde ich einen Blick zurück auf die naturethische Debatte der letzten Jahrzehnte werfen und eine Landkarte der einschlägigen Positionen und Argumente zeichnen. Ich werde dafür eintreten, dass wir eine bestimmte Art von Argumenten ernster zu nehmen haben als bisher. Die bisherige Debatte war beherrscht von Argumenten einerseits für den instrumentellen Wert der Natur, andererseits für ihren moralischen Eigenwert. Wenig Beachtung fand dagegen der sogenannte „eudaimonistische“ Eigenwert der Natur. Natur ist aber wichtig für unser gutes Leben, 1. in ihrer Schönheit, 2. als identitätsstiftender Ort unseres Lebens und 3. in ihrer Heiligkeit. Der zweite und zentrale Teil des Textes ist ganz der Naturästhetik gewidmet. Meine Hauptthese wird, wie schon angedeutet, sein, dass wir uns durch die ästhetische Erfahrung schöner Landschaften in der Welt geborgen fühlen können und dass darin ihr unersetzlicher Wert liegt. Um diese These zu entfalten und zu begründen, werde ich zunächst die Begriffe der Landschaft und der Stimmung klären, dann die Frage angehen, wie Stimmung in die Landschaft kommt, alsdann vier Modi der Landschaftserfahrung unterscheiden, um schließlich die beheimatende Wirkung schöner Landschaften herauszuarbeiten. Im dritten, letzten Teil werde ich vorführen, wie Kunst uns dazu anleiten kann, die Schönheit der Natur besser zu erfahren. Ich werde diese ästhetische Erziehung anhand von fünf Gedichten des Wiener Naturlyrikers Michael Donhauser, aus seinem Zyklus Variationen in Prosa von 20132, versuchen. Wenn das naturästhetische Argument draußen in der Welt überhaupt eine Wirkung entfalten soll, muss die Philosophie mit ihrer klaren Begriffsbestimmung und stringenten Argumentation Hand in Hand gehen mit der Kunst und ihrer Kraft, Dinge präsent zu machen.

I. Eine Landkarte der Naturethik Welchen Wert hat die Natur? 1. Der instrumentelle Wert der Natur Es liegt auf der Hand, dass die Natur in vielfältiger Weise von instrumentellem Wert für uns ist. Am wichtigsten ist zweifellos ihr Wert als ökologische und ökonomische Ressource zur Sicherung unserer Grundbedürfnisse und der zukünftiger Generationen.

2 

Micheal Donhauser, Variationen in Prosa, Berlin 2013 (= Variationen).

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2. Der moralische Eigenwert der Natur Eher zweifelhaft ist dagegen, ob die Natur so wie die Menschheit einen moralischen Eigenwert, eine eigene Würde hat. Zwei Hauptargumente sind für den moralischen Eigenwert der Natur ins Feld geführt worden. Beide überzeugen nicht. Das eine ist das teleologische Argument. Es sieht in der Natur, etwa in Pflanzen, Zwecke wirken (telos = Zweck) und verlangt von uns, auf diese Zwecke so wie auf menschliche Zwecke Rücksicht zu nehmen.3 Zwecke im moralisch relevanten Sinn können aber nur freie, handelnde Wesen verfolgen. Die sogenannten „Zwecke“ der Natur bezeichnet man besser als „Funktionen“. Einem Computer macht es nichts aus, wenn er einen Text nicht ausgedruckt kriegt. Dem Aids-Virus ist es egal, wenn er Menschen umbringt. Die bloß funktionalen „Zwecke“ der Natur verdienen keine moralische Rücksicht um ihrer selbst willen. Das andere wesentliche Argument für den moralischen Eigenwert der Natur ist das holistische. Es ruft zu einer Überwindung unserer dualistischen Ontologie, „hier der Mensch, da die Natur“, auf (holos = das Ganze). Wir sollten endlich realisieren, dass Gaia größer ist als wir, wir nur ein kleiner Teil sind von ihr, nur ein Element in ihrem System, nur eines von vielen gleichwertigen Mitgliedern der natural community 4. Dieses Argument führt uns freilich noch tiefer in den Sumpf der Metaphysik hinein und hat je nach Ausgestaltung – der Ausgestaltung sind da keine Grenzen gesetzt – sogar ökofaschistische Konsequenzen, bis hin zur Diagnose der Menschheit als zu liquidierendes Krebsgeschwür der Erde. Ganz falsch ist die Kritik am Anthropozentrismus (anthropos = Mensch) aber auch nicht. Denn nicht nur dem guten Leben von Menschen, sondern auch dem Wohl empfindungsfähiger Tiere kommt ein moralischer Eigenwert zu. Das pathozentrische Argument (pathos = Leiden) dürfte das einzige physiozentrische Argument sein (physis = Natur), das einer kritischen Prüfung standhält.5

3 

Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1979; Klaus Michael MeyerAbich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München 1984; Holmes Rolston, Environmental Ethics. Duties to and Values in the Natural World, Philadelphia 1988. 4  Vgl. Arne Naess, Ecology, Community and Lifestyle. Outline of an Ecosophy, Cambridge 1989, und mit ihm die Tiefenökologie und der Ökofeminismus. 5  Vgl. Peter Singer, Practical Ethics, Cambridge 1979; Tom Regan, The Case for Animal Rights, Berkeley 1984; Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge 2007. Für eine detaillierte Diskussion all dieser Argumente vgl. Angelika Krebs, „Naturethik im Überblick“, in: dies. (Hg.), Naturethik, Frankfurt a. M. 1997, 337–379 (= Naturethik); dies., Ethics of Nature, Berlin 1999 (= Ethics).

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3. Der eudaimonistische Eigenwert der Natur Die Natur spielt allerdings eine nichtinstrumentelle Rolle im guten menschlichen Leben und hat in diesem Sinn einen „eudaimonistischen“ Eigenwert (eudaimonia = Glück, gutes Leben). Manche der besten Gründe und Motive für den Schutz der Natur fußen auf diesem Eigenwert. Es war nicht moralischer Respekt für Bäume, welcher die Massenproteste gegen das Abholzen der Bäume am Stuttgarter Bahnhof („Stuttgart 21“) und auf dem Istanbuler Taksim-Platz antrieb. Der eudaimonistische Eigenwert der Natur ist von dreierlei Art: ästhetisch, psychologisch und religiös. 3.1. Schönheit In ihrer Veränderlichkeit und Kontingenz ist die Natur ein besonders einladender und lohnender Gegenstand nichtinstrumenteller ästhetischer Betrachtung. Als solcher kommt ihr ein Eigenwert oder „Schönheit“ im weiten Sinn zu. Diesen ästhetischen Eigenwert hat die Natur nicht an sich, sondern nur für uns: Wir genießen es, die Natur um ihrer selbst willen zu betrachten.6 In einer seiner Keuner-Geschichten bringt Bertolt Brecht dies gut auf den Punkt. Statt von „Veränderlichkeit“ spricht er vom „Andersaussehen“ der Natur je nach Tages- und Jahreszeit und statt von „Kontingenz“ von ihrer „Selbständigkeit“, ihrer Indifferenz uns gegenüber: Herr K. und die Natur Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: „Ich würde gern mitunter aus dem Hause tretend ein paar Bäume sehen. Besonders da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen einen so besonderen Grad an Realität erreichen. 6  Vgl. Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991 (= Ästhetik). Mit 1. Veränderlichkeit und 2. Kontingenz sind nur die zwei wichtigsten Merkmale benannt, welche die naturästhetische Betrachtung zu einer besonderen und unersetzbaren machen. Eine ausführlichere Liste enthielte weitere Merkmale, die die Natur als Landschaft allerdings mit der Architektur teilt und beide zusammen gegenüber der Kunst auszeichnen: 3. alle fünf Sinne sind angesprochen und interferieren, auch die selteneren wie der Geruchs- und der Tastsinn, 4. der Gegenstand der ästhetischen Betrachtung ist nicht gerahmt wie ein Gemälde oder ein Roman zwischen zwei Buchdeckeln, die Grenzen sind offener, 5. der ästhetische Betrachter steht dem Gegenstand nicht gegenüber, sondern ist und bewegt sich in ihm, 6. worauf es ankommt, ist die Stimmung oder Atmosphäre, 7. Erhabenheit findet sich zwar auch in der Kunst, aber eindrucksvoller ist sie in der Natur und der Architektur, 8. der Gegenstand ist ortsgebunden und daher, mit seinen offenen Grenzen, überaus anfällig für eine Beeinträchtigung oder Zerstörung von außen, 9. der Gegenstand ist öffentlich, 10. er ist auch ohne Vorwissen, also relativ leicht zugänglich, 11. er dient zu allerlei anderen Zwecken, der Erholung etwa oder dem Schutz, ist also funktional (zur Architekturästhetik vgl. Steen Eiler Rasmussen, Experiencing Architecture, Cambridge 1964 (= Architecture); Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, Princeton 1979 (= Architecture); Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge 1997; Juhani Pallasmaa, The Eyes of the Skin. Architecture and the Senses, Chichester 2005 (= Eyes) und Christoph Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie, Münster 2013). Insbesondere die Merkmale 3–6 sind für die immersive und beheimatende Wirkung schöner Landschaften von Bedeutung und werden weiter hinten im Text aufgegriffen.

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Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer Gebrauchsgegenstände zu sehen. Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären. Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Menschen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für den Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann.“7

3.2. Identität Unsere individuelle und kollektive Identität ist in den Orten verwurzelt, an denen wir leben. Wenn man jemanden fragt, wer er ist, bekommt man häufig als Antwort, woher er kommt, aus dem Schwarzwald oder dem Ruhrpott. Was Teil unserer Identität ist, kann nicht sinnvoll als ihr Instrument begriffen werden, es hat Eigenwert. Unser Bedürfnis nach Verwurzelung unserer Identität ist genau so eine anthropologische Konstante wie unser Bedürfnis nach Schönheit.8 3.3. Heiligkeit Die weise Haltung zu unserem Leben weiß um seinen Widerfahrnischarakter und macht den Sinn des eigenen Lebens nicht abhängig vom Erfolg irgendwelcher Projekte im Leben, sei es in der Liebe oder in der Karriere. Denn all diese Projekte können scheitern und dann verlöre das eigene Leben seinen Sinn. Die weise Person begreift daher das Leben selbst als Sinn des Lebens und schreibt allem, was Teil des Lebens ist, auch der Natur, einen Eigenwert, eine Heiligkeit zu. Das zumindest ist es, was die Weltreligionen und große Mystiker wie Meister Eckhart oder Dschuang-Dsi uns lehren.9 Im Folgenden werde ich nur das erkunden, was in der Mitte der hier angeführten Landkarte steht: die Schönheit der Natur. Die Landkarte verzeichnet drei Klassen von Naturwerten: anthropozentrischen instrumentellen Wert, anthropozentrischen eudaimonistischen Eigenwert und physiozentrischen moralischen Eigenwert. Ich werde auch nicht einmal alles ansprechen, was unter das ästhetische Argument fällt, sondern nur die Schönheit von Landschaften und nicht die einzelner Dinge oder Wesen in der Natur. Die Einordnung meiner Überlegungen in die weite Landschaft der Naturethik nehme ich auch deshalb vor, damit nicht der 7  Bertolt Brecht, „Herr K. und die Natur“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1967, 381 f. 8  Vgl. Hermann Lübbe, „Identität durch Geschichte“, in: ders., Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Basel 1977, 145–154; Roger Scruton, Green Philosophy, London 2012. Bernhard Gill unterscheidet dieses identitätsorientierte Argument von alteritätsorientierten Argumenten, wie dem ästhetischen, und von utilitätsorientierten, wie dem Basic-Needs-Argument; vgl. ders., Streitfall Natur, Wiesbaden 2003. 9  Vgl. Friedrich Kambartel, „Bemerkungen zu Verständnis und Wahrheit religiöser Rede und Praxis“, in: ders., Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a. M. 1989, 100–103. Auch zu diesen drei Naturschutzargumenten vgl. ausführlicher Angelika Krebs, Naturethik und dies., Ethics.

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falsche Eindruck entsteht, ich wollte die Natur allein mit der Ästhetik und der Naturlyrik, die eh kaum jemand liest und versteht, „retten“. z. B. zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse

instrumenteller Wert als Ressource

Schönheit (ästhetisches Argument)

Welchen Wert hat die Natur?

eudaimonis­ tischer Eigen­ wert für uns

Identität (psychologisches Argument)

anthropozentrischer Wert

Heiligkeit (religiöses Argument) Eigenwert Wohl der Tiere (pathozentrisches Argument)

moralischer Eigenwert an sich

Leben der Pflanzen (teleologisches Argument) Gedeihen von Gaia (holistisches Argument)

physiozentrischer Wert

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II. Schöne Landschaft 1. Der Begriff der Landschaft Um den Begriff der Landschaft zu bestimmen, muss ich zunächst sagen, was der Begriff der Natur bedeutet. „Natur“ ist der Teil der Welt, der nicht vom Menschen gemacht wurde, sondern von sich aus entstanden ist und weiter entsteht und sich verändert. Wir unterteilen die Natur in Organismen (wie Pflanzen) und Dinge (wie Steine) auf der einen Seite und größere räumliche Einheiten (wie Landschaften) auf der anderen Seite. Die meisten Landschaften heutzutage sind kultiviert und nicht unberührt oder wild. Das heißt nicht, dass sie allein deshalb nicht Natur oder weniger schön wären, man denke nur an die parkartige englische Hecken- und Hügellandschaft. Der Übergang zwischen „Natur“ und „Artefakt“ ist fließend, wie auch der Übergang zwischen „Landschaft“ und „Park“/„Garten“, wie man wiederum an England und seinen Landschaftsgärten sieht. Ein Garten ist 1. eigens auf den ästhetischen Genuss hin angelegt, er steht also zwischen Natur und Kunst, es gibt Traditionen der Gartengestaltung, wie es Traditionen der Kunst gibt; 2. umgibt ein Garten ein Haus, er ist begrenzter als eine Landschaft, oft durch einen Zaun, er vermittelt zwischen Haus und Landschaft.10 Das Verständnis von Landschaft als größere räumliche Einheit in der Natur ist nur ein Verständnis unter mehreren. Dieses bescheidene, topographische Verständnis, für welches ich hier optieren werde, kann von zwei anspruchsvolleren, ästhetischen Verständnissen unterschieden werden.11

10 

Vgl. David Cooper, A Philosophy of Gardens, Oxford 2006. „Landschaft“ wird hier als Naturlandschaft verstanden. Es gibt freilich auch „Landschaften“ in übertragener Bedeutung: Stadtlandschaften, Parteilandschaften oder philosophische Landschaften wie die Naturethik, deren „Landkarte“ ich im letzten Teil zeichnete. Wer eine Stadt wie eine Landschaft anschaut, schaut sie an, als ob sie Natur wäre, etwa als urwüchsig und fremdartig. Thomas Kirchhoff und Ludwig Trepl geben einen Überblick über die Vielfalt vor allem fachwissenschaftlicher Landschaftsdefinitionen; vgl. dies., „Landschaft, Wildnis, Ökosystem. Zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen“, in: dies. (Hgg.), Vieldeutige Natur, Bielefeld 2009, 13–66 (= Landschaft). Sie unterscheiden „Landschaft“ (als ästhetischen Begriff einer schönen, harmonischen Ganzheit in der Natur) von „Wildnis“ (als moralischen Begriff einer Gegenwelt zur kulturellen Ordnung) und von „Ökosystem“ (als naturwissenschaftlichen Begriff von Gesellschaften von Organismen). Dabei verlieren sie freilich den lebensweltlichen Landschaftsbegriff aus den Augen. Nach ihrem Definitionsvorschlag kann eine Landschaft nur schön, aber nicht erhaben sein. Das macht lebensweltlich keinen Sinn. Mir geht es im Text um eine Rekonstruktion des lebensweltlichen Landschaftsbegriffs, der allen fachwissenschaftlichen vorausgeht. 11 

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1.1. Größere räumliche Einheit in der Natur Im 12. Jahrhundert meinte das althochdeutsche lantscaf ein größeres Gebiet und seine Bevölkerung („Gebiet“ von gebieten, die Grenzen waren oft politischer Art). In den Niederlanden des 15. Jahrhunderts fand der Begriff auch auf Gemälden größerer naturräumlicher Einheiten Anwendung. Die Kunsthistoriker reden heute noch so. Was der Landschaft ihre „Einheit“ gibt – denn darauf kommt es an: eine Landschaft ist kein Sammelsurium, sondern eine Ganzheit – werden wir im nächsten Abschnitt unter der Überschrift „Stimmung“ klären. 1.2. Größere naturräumliche Einheit in ästhetischer Betrachtung Nach diesem ästhetischen Verständnis begegnet man nur dann Landschaften, wenn man sich auf seine Umgebung um ihrer selbst willen einlässt. Wer nur der Erholung halber in der Natur weilt oder um willen der wissenschaftlichen Forschung dort zugange ist, sieht demnach keine Landschaften. 1.3. Größere naturräumliche Einheit in autonomer ästhetischer Betrachtung Ein noch weitergehendes ästhetisches Verständnis verlangt die Autonomie ästhetischer Betrachtung gegenüber Metaphysik und Religion. Dieses Verständnis verbindet man, zumindest im deutschen Sprachraum, mit Joachim Ritters berühmtem Aufsatz „Landschaft“ von 197412. Ritter lässt das Phänomen der Landschaft mit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux 1336 beginnen, da Petrarca sich damals der Natur als solcher zugewandt habe und nicht der Natur als Buch Gottes. Die meisten Landschaftstheoretiker, zumindest im deutschsprachigen Raum, folgen Ritter.13 Man könnte jedoch einwenden, dass auch eine Zuwendung zu Landschaft, die sich noch nicht von einem religiösen oder metaphysischen Weltbild emanzipiert hat, eine landschaftsästhetische Zuwendung ist, wenn auch nicht in reiner, sondern in symbolischer Form. Die noch nicht aufgeklärten Menschen sahen schließlich nicht nur Buchstaben im Buch Gottes, sondern Flüsse, Täler und Hügel. Man denke nur an den locus amoenus in Platons Phaidros.14

12  Joachim Ritter, „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, 141–166. Vgl. aber bereits Georg Simmel, „Philosophie der Landschaft“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1909–1918, Frankfurt a. M. 2001, 471–482. 13  Vgl. Manfred Smuda (Hg.), Landschaft, Frankfurt a. M. 1986; Seel, Ästhetik; Thomas Kirchhoff/Ludwig Trepl, Landschaft; Kurt-H. Weber, Die literarische Landschaft. Die Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2010. 14  Vgl. Winfried Elliger, Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung, Berlin 1975.

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2. Der Begriff der Stimmung Das deutsche Wort „Stimmung“ ist unübersetzbar, noch unübersetzbarer, wenn Sie mir diesen falschen Komparativ gestatten, als „Heimat“, wo das englische being at home zumindest nahe herankommt. „Stimmung“ deckt drei verschiedene Phänomene ab, wohingegen die entsprechenden Ausdrücke im Englischen oder Französischen (mood, attunement, ambience/ambiance, humeur oder atmosphère) meist nur ein oder zwei davon meinen.15 2.1. Harmonie Die ursprüngliche Bedeutung von Stimmung als Harmonie stammt aus dem 16. Jahrhundert. Musikinstrumente wurden „gestimmt“, damit sie in sich oder auch untereinander zusammenstimmten oder harmonierten und bereit waren zum Spielen. Später, im 18. Jahrhundert, redete man so auch von den Vermögen der menschlichen Seele. Kant spricht in seiner Kritik der Urteilskraft berühmterweise von der „proportionalen Stimmung“ der beiden Erkenntnisvermögen, Einbildungskraft und Verstand, in der ästhetischen Betrachtung. 2.2. Befindlichkeit Stimmung als Befindlichkeit gehört in die Sphäre menschlicher Empfindungen. Im Unterschied zu Standardgefühlen oder Emotionen wie Wut, Trauer und Freude, die auf etwas Bestimmtes in der Welt gerichtet sind, haben Stimmungen wie Verzweiflung und Fröhlichkeit kein bestimmtes Objekt, sie richten auf das Leben und die Welt im Ganzen, sie sind der tragende Untergrund unseres Seelenlebens.16 Stimmungen integrieren uns (wie in 2.1. Stimmung als Harmonie). Manche Stimmungen kommen und gehen, andere sind beständiger und machen als Grundstimmungen einen Teil unseres Charakters aus. Zudem sind echte, welterschließende Stimmungen abzugrenzen einerseits von künstlichen, etwa drogeninduzierten Stimmungen, andererseits von selbstgenüsslichen, sentimentalen Stimmungen.17

15  Vgl. Leo Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegommena to an Interpretation of the Word „Stimmung“, Baltimore 1963; David Wellbery, „Stimmung“, in: Karlheinz Buck u.a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 2003, 703–733. 16  Vgl. Aaron Ben-Ze’ev, The Subtlety of Emotions, Cambridge 2001; Peter Goldie, The Emotions, Oxford 2003; Jan Slaby, Gefühl und Weltbezug, Paderborn 2008. 17  Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1941; Matthew Ratcliffe, Feelings of Being. Philosophy, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008. Zu Sentimentalität neben Bollnow: Michael Tanner, „Sentimentality“, Proceedings of the Aristotelian Society 1976/77, 127–147; Roger Scruton, The Aesthetics of Music, Oxford 1997 (= Music).

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2.3. Atmosphäre Wenn wir Landschaften oder Städten eine Atmosphäre oder Aura zuschreiben, dann betrachten wir sie nicht nur als integrierte Ganzheiten (wie in 2.1), sondern auch als gefühlsvoll, etwa friedlich oder düster (wie in 2.2). Die Atmosphären von Landschaften wechseln mit dem Wetter, der Tages- und der Jahreszeit. Diese wechselnden Atmosphären sind vom permanenten Charakter einer Landschaft zu unterscheiden. Der Charakter einer Landschaft konstituiert sich über ihre Physio­ gnomie, ihr Klima und ihre Geschichte. Sowohl die wechselnden als auch die permanenten Atmosphären von Landschaften sind objektive Phänomene, wir können uns darüber verständigen. Aber natürlich spielen in tatsächlicher Landschaftserfahrung auch subjektive Faktoren wie persönliche Erinnerungen und Befindlichkeiten eine Rolle.18 Der Charakter einer Landschaft ist das Einheitsprinzip hinter dem anspruchslosen, topographischen Landschaftsbegriff (1.1). Da nicht jede Erfahrung von Landschaft in diesem Sinn eine ästhetische ist – die Erfahrung kann auch vom Interesse am Angenehmen oder an Erkenntnis her motiviert sein –, sind die beiden ästhetischen Varianten des Landschaftsbegriffs (1.2 und 1.3) zu eng. Wenn eine Landschaft durch menschliche Eingriffe wie den Bau einer Autobahn, der Ansiedlung von Industrie, der Verkabelung oder der Zerstörung des Horizonts durch Windräder ihr Gesicht, ihren Charakter verliert, dann verliert sie die Einheit, die sie braucht, um überhaupt eine Landschaft zu sein. Sie verwandelt sich in eine ausdruckslose Heterogenität, in einen Nicht-Ort oder in Landschaftsmüll. Sie verwandelt sich nicht in eine hässliche Landschaft. Hässliche Landschaften sind das Gegenteil von ästhetisch attraktiven und in diesem weiten Sinn „schönen“ Landschaften. Es wäre eine interessante Übung, die Fotos auf dem Back Cover von Klaus Ewalds und Gregor Klaus’ monumentalem geographischen Werk Die ausgewechselte Landschaft (200919) daraufhin anzusehen. Die Fotos zeigen, wie es in der einst so schönen Schweiz inzwischen vielerorts aussieht: planiert, flurbereinigt, entwässert, kanalisiert, überdüngt, artenarm, verbaut, zersiedelt, verschandelt, beleuchtet, zerschnitten, begradigt, beschneit, überlaufen und verkabelt.

18  Vgl. Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Ausgewählte Werke, Bd. 2, Heidelberg 1993; Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963; Marc Augé, Non-Lieux, Paris 1992; Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995; Edward Casey, The Fate of Place, Berkeley 1997; Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfeldern 1998. 19  Klaus Ewald/Gregor Klaus, Die ausgewechselte Landschaft. Vom Umgang der Schweiz mit ihrer wichtigsten natürlichen Ressource, Bern 2009.

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3. Wie kommt Stimmung in die Landschaft? Phänomenologen wie Martin Heidegger, Hermann Schmitz und Gernot Böhme glauben, dass die Frage, wie Stimmung in die Landschaft kommt, falsch gestellt ist. Weil sie immer schon dort war. Wenn wir uns in Landschaften bewegen, träten wir in ihre Stimmungen ein. Stimmungen lägen vor dem Split zwischen Subjekt und Welt. Doch das wird dem Phänomen der Stimmung nicht gerecht. So primitiv sind Stimmungen nicht. Erwachsene unterscheiden zwischen sich und der Welt und erleben dennoch Stimmungen. Wie also kommt Stimmung in die Landschaft? Vier Antworten auf diese Frage lassen sich ausmachen.20 3.1. Kausales Modell Dass eine Landschaft friedlich ist, bedeutet nach dem kausalen Modell, dass sie uns friedlich macht, selbst aber gar nicht friedlich ist. Wenn wir sie „friedlich“ nennen, projizieren wir unsere durch sie kausal ausgelöste Stimmung nur auf sie zurück. 3.2. Assoziatives Modell Dem assoziativen Modell zufolge bedeutet, dass eine Landschaft friedlich ist, dass sie uns an etwas Friedliches denken lässt. Diese beiden ersten, populären Modelle verkennen, dass die friedliche Stimmung direkt mit der Landschaft zu tun hat. Wie die Landschaft aussieht, klingt und riecht, gehört zu einer vollen Beschreibung der Stimmung hinzu. Ganz anders ist das zum Beispiel bei einer Flasche Wein, die einen munter macht und an die guten alten Tage erinnert. Um diese Munterkeit zu beschreiben, muss man nicht darüber reden, wie der Wein schmeckt. 3.3. Animistisches Modell Dass eine Landschaft friedlich ist, bedeutet nach dem animistischen Modell, dass sie voller Geister, Feen oder Nymphen ist, die selbst friedlich sind. Das mögen vielleicht kleine Kinder glauben, als Erwachsene wissen wir aber, dass dem nicht so ist.21 Bleibt das expressive Modell.

20  Diese Viererunterscheidung ist weder erschöpfend noch ausschließend. Für ähnliche Unterscheidungen vgl. Scruton, Architecture; ders., Music; Nelson Goodman, „How Buildings Mean“, in: ders./Catherine Elgin (Hgg.), Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis 1988, 31–48. 21  Vgl. Ulrich Gebhardt, Kind und Natur, Wiesbaden 1994.

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3.4. Expressives Modell Dass eine Landschaft friedlich ist, bedeutet danach, dass sie Frieden ausdrückt und selbst friedlich ist, aber nicht im wörtlichen Sinn (wie im animistischen Modell). Der Husserl-Schüler Moritz Geiger22 hat das expressive Modell für Farben und Landschaften ausgearbeitet. Er stellt der kausalen „Bewirkungstheorie“ und der animistischen Belebungstheorie seine eigene expressive „Gefühlscharaktertheorie“ gegenüber. Noch detaillierter finden wir das expressive Modell bei dem englischen Ästhetiker Roger Scruton, ihm geht es dabei aber vor allem um die Musik.23 In der Musik können wir mit Scruton drei Ebenen unterscheiden: 1. die physikalische Ebene von Schallwellen, 2. die phänomenale Ebene von Lauten, audibilia, die ein Tauber nicht hören kann (im Englischen sounds), und 3. die musikalische Ebene von Tönen (im Englischen tones). Wenn wir hören, wie sich Töne in der Musik nach oben und unten bewegen, sich gegenseitig anziehen und abstoßen, vorwärts streben und innehalten, schmerzlich aufheulen und trösten, dann hörten wir Laute durch die Metapher des menschlichen Lebens, wir hörten Bewegung, Handlung und Gefühl. Wir verwendeten absichtlich Begriffe, von denen wir wüssten, dass sie striktermaßen nicht zutreffen. Das Hören von Musik sei notwendig metaphorisches Hören, ein Hören mit doppelter Intentionalität. Wir hörten sowohl Laute als auch Töne, indem wir Töne in Lauten hören. Im Gefolge von Scruton können wir landschaftliche Stimmungen als tertiäre Aspekte von Landschaften verstehen, wie musikalische Stimmungen tertiäre Aspekte der Musik sind. Diese landschaftlichen Stimmungen sind so wirklich wie die Farben und Laute auf der sekundären Ebene, welche ihrerseits so wirklich sind, wie die Licht- und Schallwellen auf der primären Ebene. Landschaftliche Stimmungen sind freilich simpler als die Stimmungen in einer expressiven Kunst, wie die Musik eine ist. Expressive Kunst ist eine Kommunikation von Seele zu Seele. Sie hat eine Botschaft, eine Bedeutung. Sie artikuliert, exploriert und reflektiert menschliche Belange in einer ihr eigenen Struktur. Expressivität in der Kunst ist eine Leistung. All das gilt nicht für Landschaften. Im Vergleich zu Kunst ist der Ausdruckscharakter von Landschaften ein oberflächliches Phänomen. Trotzdem können wir nicht anders als Ausdruck in der Landschaft sehen: Because we are subjects the world looks back at us with a questioning regard, and we respond by organizing and conceptualizing it in other ways than those endorsed by science. The world as we live it is not the world as science explains it, any more than the smile of Mona Lisa is a smear of pigments on a canvas. But this lived world is as real as the Mona Lisa’s smile.24 22  Vgl. Moritz Geiger, „Zum Problem der Stimmungseinfühlung“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunsttheorie 6 (1911), 1–42. 23  Vgl. Scruton, Music. 24  Roger Scruton, The Face of God, London 2012, 128 f.

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Gegen den Imperialismus der Naturwissenschaften und ihrer „rechnenden Weltbemeisterung“25 ist die schauende Hingabe an den Reichtum der Welt in ihr Recht zu setzen.26 4. Vier Modi der Landschaftserfahrung Zur Vorbereitung und Abgrenzung des ästhetischen Modus der Landschaftserfahrung gilt es, mit Max Scheler27 und Edith Stein28 zunächst vier elementare Arten von Fremderfahrung zu unterscheiden: 1. Wahrnehmung, 2. Empathie, 3. Sympathie und 4. Ansteckung. Diese Unterscheidung soll der modischen Aufladung des Empathiebegriffes mit allem, was gut und schön ist, entgegenwirken, wobei es auf die Wortwahl selbst natürlich nicht ankommt, sondern nur darauf, dass ein bestimmtes Unterscheidungsniveau nicht unterlaufen wird. 4.1. Wahrnehmung Wenn wir den Ausdruck einer Landschaft bloß wahrnehmen, bleiben wir affektiv mehr oder weniger neutral. Wir stellen einfach nur fest, dass die Landschaft (im metaphorischen Sinn) friedlich ist. 4.2. Empathie Wenn wir uns in den Ausdruck einer Landschaft einfühlen, ihre Stimmung nachfühlen, malen wir uns anhand ihrer weichen Formen und sanften Farben aus, was es heißt, so friedlich zu sein. Wie Otto Friedrich Bollnow es ausdrückt: Die Formen der Natur aber, schon die Linien der fernen Berge oder die der aufsteigenden Bäume oder die des im Winde schwankenden Korns, regen im betrachtenden Menschen 25 

Theodor Litt, Naturwissenschaft und Menschenbildung, Heidelberg 1959, 166. Malcolm Budd feststellt, ist das expressive Modell in der Naturästhetik noch nicht recht angekommen: „no satisfactory account has been given of the experience of nature as the bearer of expressive qualities“ (ders., The Aesthetic Appreciation of Nature, Oxford 2002, 116). Im Stanford Encyclopedia of Philosophy Übersichtsartikel „Environmental Aesthetics“ von Allen Carlson (2007/2010) findet Expressivität keine Erwähnung. Carlsons eigener, einflussreicher „scientific approach“ (ders., Aesthetics and the Environment, London 2000), wonach wir naturwissenschaftliches Wissen benötigen, um Natur ästhetisch zu erfahren, verfehlt denn auch den phänomenalen Charakter der ästhetischen Landschaftserfahrung. Im Unterschied dazu betont Emily Brady immerhin die Rolle der Imagination (als vierfach: „exploratory“, „projective“, „ampliative“ und „revelatory“); vgl. dies., „Imagination and the Aesthetic Experience of Nature“, Journal of Aesthetics and Art Criticism 56 (1998), 139–147. Was sie über „Projektion“ und „Sehen als“ sagt, entspricht am ehesten dem, was hier als expressives Modell entwickelt wird. In letzter Zeit dringen allerdings immer mehr phänomenologische Ansätze vor allem Heidegger’scher und Merleau-Ponty’scher Prägung, auch in die englischsprachige Naturästhetik, vgl. z.B. Karl Benediktsson / Katrín Anna Lund (Hgg.), Conversations with Landscape, Farnham 2010. 27  Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1999. 28  Vgl. Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung, Freiburg 2012. 26  Wie

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ein eigenes Verhalten an, das sich in die Linien einfühlt und die Bewegung in Gedanken mitvollzieht.29

Zum Wissen „dass“ der Wahrnehmung tritt in der Einfühlung ein anschauliches Wissen „wie“. Trotzdem bleiben wir auch in der Empathie affektiv mehr oder weniger neutral. Dass es Empathie als Zwischenform zwischen Wahrnehmung (4.1) und Sympathie (4.3) gibt, macht das Beispiel der Grausamkeit klar. Als Freude am Leiden eines anderen, und damit bestimmt keine Form von Sympathie, verlangt auch Grausamkeit, damit sie funktioniert, Empathie. 4.3. Sympathie Wenn wir die Stimmung einer Landschaft mitfühlen, kommt zu dem Wissen „dass“ und „wie“, eine eigene gleichsinnige Gefühlsregung hinzu, in deren Zentrum wie bei allen Emotionen ein Werturteil steht. Das Werturteil kann entweder ein Metaurteil sein, der Art, dass es gut ist, dass hier so ein Frieden herrscht. Oder das Werturteil übernimmt das in der Stimmung der Landschaft liegende Werturteil, wonach die Welt eine friedliche ist, und geht mit ihrer Stimmung mit, so wie man beim Hören von Musik mitgeht. Der Kontrast zwischen diesen beiden Varianten fällt in der zwischenmenschlichen Emotionalität deutlicher aus. Wenn wir mit Sympathie auf den Ärger einer Person über eine andere reagieren, dann kann uns ihr Ärger einfach nur bedrücken oder wir ärgern uns mit ihr über die andere Person. Die zweite, die „Mitgeh“-Variante, dürfte für Landschaftserfahrung einschlägiger sein als die erste, die „Meta“-Variante. 4.4. Ansteckung Wenn wir uns von der Stimmung einer Landschaft anstecken lassen, werden wir von ihr ergriffen wie Kinder vom Lachen anderer Kinder. Ansteckung ist ein kausales Phänomen, während Wahrnehmung, Empathie und Sympathie intentionaler Art sind, sie sind auf die expressive Qualität von Landschaften gerichtet. Insofern sie darauf gerichtet sind, setzen sie im Gegensatz zu Ansteckung eine Distanz zwischen Selbst und anderem voraus. Ansteckung ist von Bedeutung für seelische Gesundheit und Wellness. Ein „ästhetisches“ Phänomen im nichtinstrumentellen Sinn des Wortes ist sie aber nicht.

29 

Otto Friedrich Bollnow, „Die Stadt, das Grün und der Mensch“, in: ders., Zwischen Philosophie und Pädagogik, Aachen 1988, 44–62, hier: 51.

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5. Die ästhetische Erfahrung schöner Landschaft als Heimat Wenn wir die Stimmung einer schönen Landschaft ästhetisch erfahren, dann nehmen wir diese Stimmung nicht nur wahr (4.1) und fühlen sie nach (4.2), sondern wir treten auch in sie ein, wir fühlen sie mit (4.3) und das um ihrer selbst willen. Dieses Verständnis der landschaftsästhetischen Erfahrung ist im lockeren Sinn kantisch, insofern es die Distanz betont, die sowohl im Gefühl der Sympathie als auch im Modus des „Um-seiner-selbst-willen“ liegt. Die kantische Ästhetik ist freilich deutlich kälter als das hier entwickelte Verständnis. Ein Gefühl der Sympathie spielt in ihr keine Rolle. Trotzdem ist es wichtig, mit Kant die ästhetische Erfahrung im vorhinein von „nur“ physiologischen oder psychologischen Effekten abzugrenzen. Auch die Hauptthese dieses Artikels zur Beheimatung in der Natur ist nicht physiologisch oder psychologisch gemeint, sondern rein ästhetisch.30 Als soziale Wesen genießen wir mitfühlende oder sympathetische Koordination. Paradigmatisch dafür ist das Tanzen. Perfekte Koordination fühlt sich an wie Verschmelzung, obwohl es sich strenggenommen „nur“ um eine perfekte Abstimmung aufeinander handelt. Martin Buber wusste das, als er in Ich und Du schrieb: Was der Ekstatiker Einung nennt, das ist die verzückende Dynamik der Beziehung; nicht eine in diesem Augenblick der Weltzeit entstandene Einheit, die Ich und Du verschmilzt, sondern die Dynamik der Beziehung selbst, die sich vor deren einander unverrückbar gegenüberstehende Träger stellen und sie dem Gefühl des Verzückten verdecken kann. Hier waltet dann eine randhafte Übersteigerung des Beziehungsaktes; die Beziehung selbst, ihre vitale Einheit wird so vehement empfunden, daß ihre Glieder vor ihr zu verblassen scheinen, daß über ihrem Leben das Ich und Du, zwischen denen sie gestiftet ist, vergessen werden.31

Auch Otto Friedrich Bollnow spricht von „Vereinigung“ (unveröffentlicht), Theodor Litt von „liebender Einswerdung“ und „Amalgamierung“32, Josef König dagegen nur von „Resonanz“33, wie auch heute Hartmut Rosa34. 5.1. Michael Donhausers „Gärten“ Eine literarische Inszenierung dieser ekstatischen „ästhetischen Feier“ finden wir in Michael Donhausers lyrischem Prosatext „Die Gärten“ (200435). Als Vorbereitung der Feier dient dem lyrischen Ich: das tägliche Sitzen, Bleiben und Warten in einem Gastgarten, das Grüßen und Zuneigen, selbst den Fliegen auf der Tisch30  Vgl. Josef König, „Die Natur der ästhetischen Wirkung“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Freiburg 1978, 256–337. 31  Martin Buber, Ich und Du, Darmstadt 1997, 104 f. 32  Theodor Litt, Naturwissenschaft und Menschenbildung, Heidelberg 1959. 33  Josef König, „Die Natur der ästhetischen Wirkung“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Freiburg 1978, 256–337. 34  Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2005. 35  Michael Donhauser, „Die Gärten“, in: ders., Vom Sehen, Basel 2004, 47–62 (= Gärten).

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platte zu, das gegenseitige Sich-aneinander-Gewöhnen, das Weintrinken, das Ablassen von der mitgebrachten Arbeit, von der Lektüre, von den „zu gestellten“ Fragen, sodass dann irgendwann nur noch „die Blätter fächern und ein Atmen durch die Gärten ging“36, das genaue Hinsehen, Nachsprechen und Auswendiglernen, etwa der Risse im Tischlack, das Imaginieren der Gärten, der nachmittäglichen als nächtliche, als Bett, auf dem der Dichter ruht, das Berühren der flüsternden Blätter mit einem Flüstern, das dem Flüstern entgegengehaltene Sehen und so das Begleiten der Bewegung, das Werben um die Gärten, wie ein Liebhaber um eine Geliebte wirbt, auf welches Werben die Gärten nicht nur mit Lächeln antworten, sondern auch mit Zurückblicken, Singen, Entkleiden, Umfangen wie mit Armen, das synästhe­tische Erleben: das Berührtwerden vom Wind, das Atmen der Weite und ihres Geruchs nach Heu und Brennnesseln, und so der Beginn der Feier. Die eigentliche Feier, die immer wieder neu vorbereitet werden will durch ein entsagendes, genaues Sehen, sodass das, was mit Nüchternheit beginnt, immer wieder in Ekstase endet, ist mit Sehnsuchtswörtern wie „Entkommen“, „Heimfinden“, „Schutz“, „Zuflucht“, „Trost“ und „alles war gut“ belegt. Die „Einswerdung“ wird sprachlich vollzogen durch den Übergang von einem Ich, das die Gärten betrachtet, hin zu einem Ich, das von ihrer Bewegung ergriffen wird, das nun selbst wie die Blätter sinkt („ich sank, es war ein wankendes Sinken im Sitzen, ich sank durch mich hindurch und lag als Verglühen auf dem Kies“37) und dessen eigenes Denken und Sagen davon erfasst wird, sich quasi automatisiert („Ich dachte in Lauten, ich vernahm, was ich dachte, in Lauten, ich belauschte mich und hörte das Laub und hörte es rascheln“38). Was das sinkende Ich hier erfährt, ist der Herbst. Das Ich schwingt mit mit der herbstlichen Stimmung des wehmütigen Genusses von Fülle angesichts des Endes, der sanftmütigen Einwilligung in das Vergehen. 5.2. Immersion in der Landschaft Landschaften und Gärten sind schön (im weiten Sinn), wenn sie zu einer solchen sympathetischen Erfahrung einladen, sie lohnen. Da wir Landschaften synästhetisch, mit all unseren Sinnen, aufnehmen und nicht nur mit den Augen und den Ohren, die zu ästhetischer Neutralität und Distanz fähiger sind als unsere Nasen, Zungen und Finger, ist leibliches Empfinden und ja, auch Ansteckung, notwendig Teil der Erfahrung schöner Landschaften.39 36 Donhauser, Gärten, 49. 37 

Donhauser, Gärten, 54. Donhauser, Gärten, 58. 39  Vgl. Hans Jonas, „Der Adel des Sehens“, in: ders., Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, 198–225; Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment, Philadelphia 1992; Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995. Und für die Architektur: Steen Eiler Rasmussen, Architecture; Juhani Pallasmaa, Eyes und Jenefer Robinson, „On Being Moved by Architecture“, Journal of Aesthetics and Art Criticism 70 (2012), 337–353. 38 

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Dass wir uns in Landschaften geborgen fühlen, geht zum einen auf diese synästhetische Erfahrung zurück. Zum anderen hat die Immersion in Landschaften mit der gefühlten Buber’schen Verschmelzung zu tun. Schöne Landschaften sind darin unersetzbar, dass sie unsere Sehnsucht danach erfüllen, ein Teil der Natur zu sein, der Welt, die einfach so da ist, einfach so entsteht, sich verändert und wieder vergeht. Die Erfahrung schöner Landschaften heilt den Riss zwischen Subjekt und Natur: der Natur draußen und der Natur in uns drinnen. Wie Otto Friedrich Bollnow es in seinem Aufsatz „Die Stadt, das Grün und der Mensch“ (1988) formuliert: Es ist verhängnisvoll, wenn die Menschen in den Steinwüsten der Städte, in möglicherweise noch vollklimatisierten Räumen, vom Wechsel der Jahreszeiten kaum noch erfasst werden. Darum ist es außerordentlich wichtig, daß die Menschen im Miterleben des Rhythmus der Natur auch die rhythmische Gliederung des eigenen Lebens erfahren, daß sie die Haltepunkte spüren und einhalten und mit voller Kraft das neu erwachende Leben des Frühlings als eine radikale Erneuerung erfahren. Das aber gelingt nur im intensiven Miterleben des neu aufsprießenden Grüns der Natur. So heißt es ja auch in den schönen Versen Hölderlins, daß das „heilige Grün“ uns „erfrischt“ und wieder zum „Jüngling“ verwandelt.40

Schöne Landschaften lehren uns, was es heißt, auf der Erde zu „wohnen“ (so weiter Bollnow im Anschluss an Heidegger41). Sie geben uns einen sense of place und lassen uns ihn ehren. Sie bringen uns dazu, irgendwo Wurzeln zu schlagen und für das, was dann unsere besondere Heimat ist, Sorge zu tragen (hier berührt sich das ästhetische Naturschutzargument mit dem Identitätsargument aus I.3.2). Wir brauchen keine dubiose teleologische oder holistische Metaphysik, um zu verstehen, dass wir ein Teil der Natur sind und uns entsprechend in die Natur einzufügen haben, statt die Erde mit einer hässlichen grauen Betonkruste zu überziehen. Die Erfahrung der Schönheit der Natur reicht dafür ganz und gar aus. Drei verschieden starke Varianten der ästhetischen Geborgenheit in der Natur lassen sich unterscheiden. Bislang war in idealtypischer Absicht vor allem von der stärksten Variante die Rede, von perfekter Koordination, die sich anfühlt wie Verschmelzung. Oft gelingt das sympathetische Mitgehen freilich nur partiell, was nicht am Subjekt liegen muss. Es kann auch am Objekt liegen. Die klassische Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen lässt sich so rekonstruieren,

40 

Otto Friedrich Bollnow, „Die Stadt, das Grün und der Mensch“, in: ders., Zwischen Philosophie und Pädagogik, Aachen 1988, 55. Zum Gegensatz zwischen Stadt und Land vgl. Georg Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908, Frankfurt a. M. 1995, 116–131; Joachim Ritter, „Die große Stadt“, in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 2003, 341–354; Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a. M. 1965; Hermann Lübbe, „Stadt und Land. Über das Verschwinden einer Kulturdifferenz“, in: Winfried Woesler / Ulrich Wollheim (Hgg.), Droste-Jahrbuch 5, Münster 2004, 15–34; Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2005 und die Bewegung der „Rurbanisierung“. 41  Vgl. Martin Heidegger, „Bauen, Wohnen, Denken“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a. M. 1951, 145–164.

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dass nur das Schöne (nun in einem engeren Sinne und nicht mehr synonym mit „ästhetisch attraktiv“) ein Aufgehen des Subjekts im Objekt gestattet. Das Erhabene, in seiner unendlichen Größe und Macht, reißt das Subjekt zwar einerseits auch lustvoll mit und das Subjekt partizipiert im Mitgehen an der Ausdehnung und Kraft des Objekts. Andererseits fühlt sich das Subjekt aber auch schmerzlich an seine eigene Nichtigkeit und Verletzlichkeit erinnert. Das Erhabene konfrontiert uns mit einer Spannung zwischen der Feier des Objektes und der Selbst-Negation. Insofern uns das Erhabene nicht einfach kalt lässt oder gar existenziell bedroht, sondern uns anspricht und zu partiellem Mitschwingen einlädt, können wir uns auch beim Erhabenen, zwar schwächer und durchmischt mit Irritation und Herausforderung, aber immerhin doch noch, zuhause und nicht völlig fremd in der Welt fühlen. Das ist das zweite, schwächere Verständnis der ästhetischen Geborgenheit in der Natur.42 Ein drittes Verständnis erschließt sich, wenn wir die uns umgebende Landschaft nicht an sich betrachten, sondern bezogen auf uns, in ihrer Funktionalität für ein gutes menschliches Leben. Mit Kant gesprochen, gilt letztere Betrachtung der „abhängigen“ oder „anhängenden“ und nicht der „reinen“ Schönheit der Landschaft („Schönheit“ nun wieder im allgemeinen Sinn von ästhetischer Attraktivität). Eine Landschaft, der man ansieht, wie wohl es dort für unsereiner zu sein ist, ist schön im funktionalen Sinn. Dagegen ist eine Landschaft, der man ansieht, dass es Menschen in ihr elend ergeht, hässlich. Natur kann also, entgegen der Position der sogenannten positive aesthetics43, regelrecht hässlich sein. Die Unterscheidung zwischen funktionaler und reiner Schönheit ist dabei nicht zu verwechseln mit dem eingangs (in II.1) gemachten Punkt, dass alle Landschaften heutzutage mehr oder weniger vom Menschen auf seine Zwecke hin bearbeitet sind. Auch relativ unberührte Natur kann uns zuweilen funktional schön, paradiesisch anmuten, wenn dies auch bei stärker kultivierter Natur häufiger der Fall sein dürfte (nicht von ungefähr sprechen wir vom „Garten“ Eden). In funktional schöner Landschaft fühlen wir uns geborgen, nicht nur weil es uns in ihr leiblich und seelisch gut geht, sondern auch weil sie uns dies anzeigt.

42  Vgl. Tom Cochrane, „The Emotional Experience of the Sublime“, Canadian Journal of Philosophy 42 (2012), 125–148. Cochrane trennt in seinem ausgezeichneten Überblick über verschiedene Modelle des Erhabenen zwischen selbst- und objektzentrierten Ansätzen. Genauer macht er fünf verschiedene Modelle aus: das Modell der Erleichterung, dass wir dem Erhabenen widerstanden haben (etwa bei Burke), das heroische Modell, dass wir als Vernunftwesen der Natur doch über sind (wofür Kant berühmt und berüchtigt ist), das demütige Modell, dass unsere kleinen Sorgen schwinden im Angesicht der Unendlichkeit der Natur (findet sich auch bei Kant), das Bewunderungs- und, eng verwandt, das Identifikationsmodell, für welches Cochrane selbst eintritt. In der Erfahrung des Erhabenen identifizierten wir uns mit der Macht und Größe des Objekts, fühlten aber auch, wie unbedeutend wir eigentlich sind. 43  Vgl. Allen Carlson, Aesthetics and the Environment, London 2000; Malcolm Budd, The ­Aesthetic Appreciation of Nature, Oxford 2002.

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Martin Seel in seiner Ästhetik der Natur (1991) nennt diese funktionalästhetische Dimension „korresponsiv“ und grenzt sie von zwei weiteren ästhetischen Dimensionen ab: der „kontemplativen“ und der „imaginativen“. Die kontemplative Dimension betrifft die reine Schönheit der Natur. Seels imaginative Dimension betrachtet die Natur, als wäre sie wie Kunst ein Sinnbild unseres Lebens. Seel erläutert diese drei Dimensionen genauer anhand des Blicks auf den Bodensee aus seinem Büro an der Universität Konstanz. Die kontemplative Naturerfahrung erlebt die Natur „als Ort der beglückenden Distanz zum tätigen Leben“44. Sie nimmt die Natur unter Abstraktion von jeder Wichtigkeit und Wertigkeit der Dinge für das Erkennen und Handeln wahr. Das Ich löst sich auf, verschwindet im Raum der Natur. Der sinnfremde Blick auf den Bodensee sieht ein nie gleiches sinnliches „Spiel der Erscheinungen“: das Tanzen der Lichtreflexe, das Schlagen der Wellen, die Fächerung der Farben. Die korresponsive Naturerfahrung erlebt die Natur „als Ort des anschaulichen Gelingens menschlicher Praxis“45. Sie gilt dem Ausdruck der Natur und unserer eigenen affektiv erschlossenen Lebensmöglichkeiten in ihr. Das Ich identifiziert sich mit der Natur und fühlt sich in ihr geborgen. Der existenziell interessierte Blick auf den Bodensee sieht im Sommer die labende Kühle der Seefläche, im Winter den wärmenden Dampf des Nebels. Er bleibt in Erinnerung und Vorfreude an bestimmten Orten haften. In der imaginativen Naturerfahrung erscheint die Natur „als bilderreicher Spiegel der menschlichen Welt“46. Die Natur wird wahrgenommen, als ob sie Kunst wäre und auf Kunst improvisierte. Das Ich findet seinen Horizont erweitert durch diese doppelte Spiegelung menschlichen In-der-Welt-Seins. Der sinnhaft deutende Blick auf den Bodensee sieht, wie der See Zwiesprache hält, erst mit Lorrain und Watteau, dann mit Turner und Hodler. Anders als Seel will ich in diesem Artikel die beheimatende Wirkung aller drei Naturerfahrungen herausstellen. Seel tendiert ohnehin zu einer Überzeichnung der Unterschiede. Seel geht zu weit, wenn er kontemplativ erfahrener Landschaft jedes expressive Beredtsein, jeden anthropomorphen Ausdruck abspricht. Dieser Formalismus oder Autonomismus der Kontemplation erinnert an ebensolche Strömungen in der Musik- und Architekturästhetik, die nur vorgeben, sich für das sinnfremde Spiel der Erscheinungen zu interessieren, während ihre Sprache nur so von anthropomorpher Expressivität „trieft“. Denn ist das „Tanzen“ der Licht­reflexe, das „Schlagen“ der Wellen auf dem Bodensee etwa nicht anthropomorph-expressiv?

44 

Seel, Ästhetik, 18.

45 Ebd. 46 Ebd.

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Besonders überzeugend ist freilich Seels dezidiert metaphysikkritische Stoßrichtung. Er widersteht jeder Versuchung, die Schönheit der Natur als einen „Wink“ der Welt oder Gottes zu verstehen, als ein Signal, dass wir Menschen in der Welt willkommen sind. Bei Roger Scruton können wir uns in diesem Punkt dagegen nie so ganz sicher sein. Wer oder was, will man fragen, beruhigt und bestätigt uns, wenn es von der Erfahrung natürlicher Schönheit in seinem Buch Beauty heißt, „It contains a reassurance that this world is a right and fitting place to be – a home in which our human powers and prospects find confirmation“47? Meine Hauptthese zur beheimatenden Wirkung schöner Landschaft will nicht in einem metaphysischen oder theologischen Sinn verstanden werden, wenngleich die landschafts­ ästhetische Erfahrung, um es noch einmal mit Kant zu sagen, uns sicher „viel zu denken veranlasst“ und damit auch metaphysische und theologische „ästhetische Ideen“ erzeugt. Zum Abschluss dieses zweiten und zentralen Teils des Kapitels möchte ich noch einmal betonen, dass es in der Natur auch andere ästhetische Attraktionen als landschaftliche Atmosphären gibt und es selbstverständlich nicht nur die Natur ist, die ästhetisch attraktiv ist aufgrund von Atmosphären. Expressive Kunst ist das auch. Doch bei expressiver Kunst ist es das Kunstwerk und was es unserem Vorstellungsvermögen vorstellt, unter anderem die Natur, worin wir uns geborgen, womit wir uns eins fühlen, und nicht die Natur selbst. Kunst ist kein Ersatz für the real right thing. Wer sich an Kunst als Ersatz hält, ist sentimental. Doch Kunst kann uns lehren, wie wir die Schönheit der Natur besser: voller, tiefer und feiner erfahren können.

III. Ästhetische Erziehung Michael Donhausers Variationen in Prosa, und damit komme ich zum Schlussteil meines Textes, evozieren synästhetisch nicht nur die vielfältigen, wechselnden Stimmungen der Natur und laden uns ein zum Mitschwingen und Einsfühlen mit ihnen, sondern sie umkreisen oder variieren bevorzugt eine bestimmte Naturstimmung. Es ist die gleiche Stimmung wie in den „Gärten“. Man kann sie, bei aller Vorsicht vor der „Häresie der Paraphrase“ oder dem „Paradox der Interpretation“, als eine „herbstliche“ bezeichnen oder, etwas genauer, mit dem Titel eines Gedichts von Georg Trakl, als Stimmung der „Sommersneige“. Diese Stimmung ist eine gemischte, sie ist „bittersüß“, sie ist schön und einen Touch erhaben, gleichzeitig ein Noch und Nichtmehr des Sommers, ein Genuss seiner Fülle und ein Schauer vor dem nahenden Ende. Indem wir mit dieser Stimmung mitgehen und „Ja“ sagen zur Fülle des Lebens in vollem Bewusstsein seiner Vergänglichkeit, üben wir uns ein in eine angemessene Haltung zu unserer eigenen Sterblichkeit (hier berührt sich 47 

Roger Scruton, Beauty, Oxford 2009, 65.

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die ästhetische Naturerfahrung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens in I. 3.3). Wir lernen etwas zu fühlen, was schwer zu fühlen ist: Dankbarkeit für das große Geschenk des Lebens in dem Wissen, dass es uns bald wieder genommen werden wird oder, um es noch einmal anders, mit Roger Scruton zu sagen, der dies freilich nicht auf Donhausers Variationen, sondern auf ein Streichquartett von Schubert gemünzt hat: „you are rehearsing something that it is very hard to feel – the impulse to selfless gratitude for the gift of life, in full awareness that the gift will soon have vanished“48. Die Kunst bietet uns, wie Scruton weiter ausführt, Ikonen menschlicher Gefühle: We encounter works of art as perfected icons of our felt potential, and appropriate them in order to bring form, lucidity, and self-knowledge to our inner life. The human psyche is transformed by art, but only because art provides us with the expressive gestures towards which our emotions lean in their search for sympathy – gestures which we seize, when we encounter them, with a sense of being carried at last to a destination that we could not reach alone, as when a poem offers us the words of love or grief which we cannot find in ourselves. Art realizes what is otherwise inchoate, unformed, and incommunicable. It does this because we recognize its expressive properties, and appropriate them as vehicles of our own emotion.49

Hier sind nun die ersten fünf der insgesamt 68, in der Matthes-&-Seitz-Ausgabe in Blocks von je elf Zeilen gesetzten Donhauser’schen Variationen. Doch eigentlich muss man diese Variationen hören und nicht nur lesen. Und was da war, es nahm uns an, verloren ging, was streifte noch als Lächeln bald die Frage, ob, denn wo sie war, so nah verzweigt, war Früchten gleich, die reiften, fiel, was schön war, groß, was ungetrübt, es war ein Weg, ein Duft, und was durchs Laub als Luftzug fuhr, das war ein Sehen, war wie Wut, erinnert schon als Lust und schau, wie standen wir am See im Licht, da voll die Dolden, da der Tag uns gütig fast umfing, mit Armen, die wie trunken noch erblühten dann und sanken, süß und mild. Anfänglich erst neigten sich die Rosen, da die Dahlien standen, sich entblätterten die Zweige, dass in Farben stieg, was sommerlich spät war und warm noch ein Weichen, als wäre, da zogen wie Vögel die Schatten, ein Wiegen das Bleiben und leise im Laub, wenn es sank, wenn sich füllten mit Röte, gelblich die Birnen wie Äpfel oder lagen im Gras, gärend unter der gelichteten Krone, da ein Wind hob nicht und brach kaum und einzeln nur wanken ließ und lose eine Ranke, eine Wicke am rostenden Zaun. Und die Menschen, die wir waren unter Bäumen, da im Regen oder Laubfall wir einst gingen, wie verloren an die Dauer als die Tage, die da waren lang und lieblich, golden blauend nah dem See, wo Pappeln silbern sich bald reihten mit den Birken, deren Blätter gelb schon fielen, duftend wie gestreift dann lagen vom Verlangen, noch zu träumen von dem Leben, wo kein Ruf als Frage bliebe, wo die Blumen, Schatten wären, noch zu nehmen, wenn es Winter und die Sonne ihren Schein tiefer zwischen Zweige legte. Ordnungen gehorchte das Verwahrlosen auch, da im Herbst uns ergriff das Entblättern, und es leuchteten die Gärten, so verwunschen von den Jahren, da sie lagen und zerfielen, da bald wich, bald auch vergaß ob dem Blühen oder welkte, was wie wundertätig noch sich 48  49 

Scruton, Music, 359. Scruton, Music, 352.

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fügte, stürzte oder sank als Reigen, wenn kein Tag als wie ein Herz noch fasste, was reich sich uns und sanft versprach, kühl und bald verlassen von den Wünschen ruhte, überwachsen und dem Abend dann für nichts anheim gegeben. Wenn es auch war, dass wärmer ein Tag uns lockte oder schien, wenn Dornen am Gestrüpp wie Beeren spiegelten die Bläue und fern als Mauer standen die Wolken, dass hell sich wölbte und herbstlich der Himmel, dass wogten die Zweige und seufzend sich wand oder leise sinkend wie Laub bald fiel, bald wie Gräser sich beugte, was brach dann auf, reifend voll wie dargeboten auch, da still gab nach und wankend wich, da schattig mischte sich ins milde Licht ein kühler Hauch von innigem Verzagen.50

Die erste Variation setzt ein mit einem auftaktigen Zweier und benennt nach dem „Und“ auf zwei das Subjekt der Variationen, das „Was“. Es gibt aber auch ein abstraktes „Wir“, das Fragen und Bangen, „ob“, hinter sich gelassen hat, und sich angenommen fühlt, umfangen, berauscht von einer sanften, vollen, reinen und schönen gütigen Stimmung an einem See. Wäre da nicht der Luftzug, der den Abend und damit das Ende des Tages ankündigt, das nur „Fast“ des Umfangenseins und das „Sinken“ der erblühenden Arme, müsste man die Stimmung „paradiesisch“ nennen. Die Sanftheit wird mit dem wiederholten weichen „W“ und dem vielfachen dunklen und ruhigen „A“ gleich am Anfang erfahrbar: „Und was da war, es nahm uns an“. Das in der Lyrik eher unübliche Präteritum dürfte dem vielen „A“ in dieser Zeitform im Deutschen geschuldet sein. Denn das „A“ zusammen mit dem „W“ grundiert sozusagen die Stimmung der ganzen Variationen. Die Fülle spürt man im doppelten „O“ und „L“ des an „golden“ anklingenden „voll die Dolden“, die große Reinheit und Schönheit, ja Pracht im Vokalakkord aus „I“ – „A“ – „E“ im Ausruf: „Wie standen wir am See im Licht“, die Kraft, fast Gewalt im klimak50 

Michael Donhauser, Variationen, 7–11. Es gibt einige Aufzeichnungen der Variationen, wie sie der Dichter selbst liest: eine CD mit 14 Variationen, die dem vergriffenen Buch Dichterpaare: Borbély Szilard / Michael Donhauser (hrsg. v. Elke Atzler, Budapest/Wien 2009) beigelegt ist, und Videomitschnitte der von mir organisierten Lesungen in Basel 2011 und Oxford 2012. Die Videomitschnitte sind auf Anfrage im Intranet der Universität Basel abrufbar. Michael Krüger macht in seiner Einleitung „Ein Koffer voller Stimmen“ zu der CD-Sammlung Erzählerstimmen (2012) eine Dreiertypologie lesender Schriftsteller auf: 1. Schriftsteller, die miserable Vorleser sind (was nicht gegen ihre Texte sprechen muss), 2. Schriftsteller, die wahre Virtuosen des Vortrags sind (von denen freilich manche besser vorlesen als schreiben können) und 3. Autoren, die genau diese Brillanz im Vortrag verabscheuen, weil sie den Zuhörer ausdrücklich nicht lenken wollen, sie lesen „flach“, ohne große Emotion im Vertrauen darauf, dass der Hörer sich seinen eigenen Reim machen wird. Donhauser dürfte am ehesten zum dritten Typus gehören. Immerhin hören wir in seiner „flachen“ Lesung, wie er seine überlangen Sätze in kleinere Einheiten strukturiert – jede Variation besteht aus einem einzigen Satz mit zwei oder drei thematischen Clustern –, mitunter aber sinnfällige Pausen verschleift, vielleicht um den großen Bogen zu halten oder zu glatte Schönheitserwartungen zu unterlaufen. Wir hören den Rhythmus – die Variationen sind anders als die meiste Gegenwartslyrik weder freirhythmisch noch nur optische Verse, sie sind gebrochen jambische oder daktylische Prosagedichte (Hans-Jost Frey, „Vers und Prosa bei Baudelaire“, in: ders., Vier Veränderungen über Rhythmus, Basel 2000, 10–20) – und wir hören, wo sich die Sprachbewegung beschleunigt, etwa in dem durchs Laub fahrenden Luftzug, und wo sie sich verlangsamt, zur Ruhe kommt, wie in „süß und mild“.

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tischen „Das war ein Sehen, war wie Wut“. Die klangliche Schönheit dieser ersten Variation ist Teil ihrer Aussage. Die zweite, gegenständlichere Variation liefert anders als die erste eine Nahaufnahme, man bewegt sich sozusagen im Schritttempo durch einen Garten, der wie der Weg und See in der ersten Variation fast überall sein könnte. Die zweite Variation ist vornehmlich in einem wiegenden Dreier-Rhythmus gehalten und auch inhaltlich stellt sie ein einziges Wiegen, ein Hin und Her, ein Auf und Ab dar: Die stehenden Dahlien gegen die sich neigenden Rosen, die steigenden Farben gegen die sich entblätternden Zweige, die sich füllenden Äpfel gegen das sinkende Laub, das leichte Anheben des Windes gegen das gärende Liegen des Fallobsts. Das klare, gelbblaue „I – A – E“ der ersten Variation ist durch die vielen Umlaute, vor allem das „Ä“ in „anfänglich“, „entblätterten“, „spät“, „Äpfel“ und „gärend“ herbstlich heruntergedimmt. Vom „Licht“ der ersten Variation bleibt die „gelichtete“ Krone. Das weiche „W“ ist aber immer noch allgegenwärtig, unter anderem im „warm noch ein Weichen“, welches die Redewendung „Bleib’ noch ein Weilchen“ aufnimmt, sie aber durch das folgende konjunktivische „als wäre ein Wiegen das Bleiben“ abschlägig beantwortet, das Wiegen scheint nur zu bleiben, es bleibt nicht wirklich. Und auch die Schatten, die wie Zugvögel in den wärmeren Süden ziehen, das Gären des Fallobsts, das Brechen des Windes, das Wanken, das Lose, das Rosten des Zauns deuten als Kontrapunkt zur satten Fülle der gelben und roten Birnen und Äpfel auf den Herbst und das Ende des Jahres hin. In der dritten Variation kehrt der auftaktige Zweier aus der ersten Variation als Vierer wieder und auch das „Wir“ am See. Doch geht dieses „Wir“ nun, seltsam entfremdet und entrückt, als „Menschen unter Bäumen“ im Regen und geht da verloren, in Reminiszenz an bessere Tage, deren gelbblaues „I – A – E“ sich in der Erinnerung zu einem goldblauenden „A – I – O – Au – A – E“ in „lang und lieblich, golden blauend nah dem See“ vertieft und dann scharf kontrastiert mit dem Silbriggelben der Pappeln und der Birkenblätter. Das sinkende Laub aus der zweiten Variation wird zum „Laubfall“, was kein Wort der deutschen Sprache ist und an Schneefall denken lässt, und das weiche „W“ paart sich nun mit dem Winter in „wenn es Winter“. Das Verlangen, noch zu nehmen von dem Leben, ist ein Verlangen, das um das Ende weiß, aus diesem Wissen erst hervorgeht und das die bange Frage, „ob“, nicht mehr abstreifen kann. Die dritte Variation variiert nicht nur die ersten beiden, sondern auch (mit Seel in „imaginativer“ Manier) eines der berühmtesten Gedichte deutscher Sprache, Friedrich Hölderlins „Hälfte des Lebens“: „Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein / Und Schatten der Erde?“ In der vierten, wiederum gegenständlicheren und umlautigeren Variation, die untypischerweise mit einer betonten Silbe anfängt, dann aber typischerweise eine Weile braucht, bis sie zu ihrem Dreier-Rhythmus gefunden hat, ist der Spätsommer explizit dem „Herbst“ gewichen. Das „Wir“ ist passiv als „Uns“ zugegen, es wird nun jedoch nicht mehr um-, sondern ergriffen, und zwar von einer Bewegung

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nach unten: dem Entblättern, dem Sinken, dem Stürzen. Mit dem unaufhaltsamen Zerfallen und Verwahrlosen in dieser Variation geht das Märchen vom reifen Obst und den bunten Blättern zu Ende. Das vielfache „ver“ („verwahrlosen“, „verwunschen“, „vergessen“, „verlassen“) liefert das „Uns“ an das Nichts aus, was um so schmerzlicher empfunden wird, da im „Anheimgegeben“ sein das heimatliche Gefühl der ersten Variation noch nachklingt. In der fünften Variation, in ihrem weichen „W“ des konzessiven „Wenn es auch war“ des „wärmer“ lockenden Tags, hellt sich die Stimmung anscheinend noch einmal auf, die reife Fülle aus der zweiten Variation ist wieder da und auch das Fallen. Aus dem Wiegen aber ist ein Wogen geworden, aus dem Nicht-Heben und Kaum-Brechen des Windes ein Aufbrechen, das an das Sehen, das „war wie Wut“ der ersten Variation erinnert, aber nun nicht mehr im „Schau“ mit einem Du geteilt wird, sondern in stillwankendem Nachgeben und Weichen verzagt. Und die Rosen sind, wenn überhaupt, nur noch als Dornen im Gestrüpp da. Die Wolken drohen, doch nur von fern, und das „Au“ ihrer Mauer mischt sich als „kühler Hauch“ in das schattiglichte „I“ und „A“ der letzten Zeilen: „da still gab nach und wankend wich, da schattig mischte sich ins milde Licht, ein kühler Hauch von innigem Verzagen.“ Ein Niedergang der Stimmung von der ersten zur fünften Variation ist deutlich spürbar: Es geht von selbstvergessener gütiger Geborgenheit (1) über das Wiegen (2) über das Verlangen, noch zu nehmen (3), über das Verwahrlosen (4) hin zu einer gemischten Stimmung der sanftmütigen Einwilligung in das Ende (5). Die gemischte Stimmung wird als gesuchte Variable in den folgenden Variationen immer weiter umkreist. Ihren reifsten Ausdruck findet diese Stimmung vielleicht in einer Variation, in der von einer bitteren, einsamen Nacht in einem Zimmer die Rede ist, wo nur ein Strauß von Tulpen „zu feiern schien das Welken“. Die Tulpen werden zum Anlass für die Reflexion, dass man trotz aller Warnungen vom Ende, trotz allem memento mori, zu sorglos in den Tag hinein gelebt hatte und dass nur der über eine angemessene Haltung zur Endlichkeit des Lebens verfügen mag, der sich, den Tod im Auge, dem Leben hingibt, dass „beschenkt nur ohnegleichen sich fände, was hingegeben dem Taumel schaute die Fülle als Not“. Die Variation im Ganzen: Bitter sei und so blieb, war einsam die Nacht in dem Zimmer, wo vergessen ein Strauß nur von Tulpen zu feiern schien das Welken, sich windend an den Stielen, als suchte Halt, so nahe dem Fallen, Blüte um Blüte, und aufwärts weit sich öffnend entgegen der Neige, dass wir ahnten, wie sorglos einst und vergeblich uns anvertraut war die Sage vom Reichtum und der Demut, von dem Sinken der Blätter, oder wie beschenkt nur ohnegleichen sich fände, was hingegeben dem Taumel schaute die Fülle als Not.51 51  Donhauser, Variationen, 34. Eine eingehendere Beschäftigung mit den Variationen müsste sich auch mit ihrer zweiten und dritten Bedeutungsebene befassen: der Liebe oder genauer dem Niedergang einer Liebesbeziehung und der Sprache oder genauer den Grenzen der begrifflichen Sprache und ihrem „Mord an den Dingen“ (so Donhauser in einem frühen an Rilke angelehnten Gedicht).

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Wenn wir mit dieser herbstlichen Stimmung mitgehen, angeleitet durch Kunst oder auch direkt in der Natur, setzen wir uns in ein Verhältnis zu unserer eigenen Natürlichkeit, gewinnen wir eine unserer Natalität und Mortalität angemessene Grundstimmung, die alle unsere seelischen Akte trägt und moduliert. In einer rein artifiziellen Welt dagegen droht uns der Verlust eines Teils unserer Menschlichkeit, droht uns Seinsvergessenheit und Entfremdung. Schöne Architektur vermag uns zwar in der menschlichen Gemeinschaft und ihrer Geschichte zu verorten. Doch um nicht zu vergessen, was es heißt, als Mensch Teil der Natur zu sein, brauchen wir Natur, brauchen wir schöne Landschaft – und nicht nur irgendwo in einem Reservat, zum Besichtigen, sondern „aus dem Hause tretend“.

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Der Garten – heilig oder profan? Zur Kulturgeschichte eines exemplarischen Stücks Landschaft in umweltethischer Perspektive

Andreas Dietrich 1. Was ist Landschaft? Mit dem Begriff Landschaft verbinden wir in unserer gewohnten Vorstellung das, was wir mit den Augen von der mehr oder weniger natürlichen Umgebung aufnehmen. Auch Geruchswahrnehmungen ordnen wir einer Landschaft zu, wenn auch eher im Zusammenhang der Rede vom Erleben der Landschaft. In jedem Fall ist „Landschaft“ ein ästhetischer Begriff. Dass die Landschaft, zumindest die in diesem Ensemble zusammengefasste Natur, darüber hinaus auch unsere Lebensgrundlage bildet, wird selten mit diesem Begriff verbunden, sondern mehr mit den Begriffen der Mit- oder Umwelt. Unsere Landschaftswahrnehmung, insbesondere unser Schönheitsempfinden von Landschaft, unterliegt kultureller Prägung und ist zugleich durch unser Wahrnehmungsinteresse bedingt. Die Wahrnehmung desselben Getreidefeldes am Ortsrand durch eine Architektin, einen Landwirt oder eine Kinderschar dürfte jeweils eine sehr unterschiedliche sein. Weltweit lebt die Menschheit hinsichtlich ihrer Nahrungsgrundlage im Wesentlichen von den obersten zwei Metern der Lithosphäre der Pedosphäre, also von den fruchtbaren Böden. Ergänzt wird diese terrestrische Nahrungsbasis durch diejenige, die das marine Leben beisteuert, wobei wiederum den obersten Wasserschichten die grösste Bedeutung zukommt. Wir leben sozusagen von und in der Landschaft. Schon aus diesem Grund umfasst eine Ethik der Landschaftsgestaltung mehr als nur ästhetische Kriterien. Die Landschaft ist immer einer natürlichen und oft einer kulturellen Dynamik unterworfen, auch wenn sich das unserer gewohnten Sichtweise auf eine Landschaft gewöhnlich entzieht. In unserer Alltagssprache verwenden wir die Begriffe Land, Natur und Landschaft zuweilen beinahe synonym, dann wieder unterschiedlich. Im Gegensatzpaar Natur und Kultur kommt zum Ausdruck, dass bis heute die Vorstellung besteht, dass es eine vom Menschen unbeeinflusste, oder teilweise unbeeinflussbare Sphäre gibt, die sich grundsätzlich vom Kulturraum unterscheide. Damit verkennen wir, dass es etwa in der Schweiz vom Menschen relativ unbeeinflusste Natur nur noch in Nationalparks und Naturreservaten gibt.

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„Land“ ist ein sehr unscharfer Begriff, denn er umfasst Vorstellungen wie Bauland, Getreideacker, Staatsgebiet einer Nation und vieles mehr zugleich. Künstlich ist ebenso der Gegensatz von Stadt und Land, weil sich in der Agglomeration der Städte keine scharfe Trennung von Stadt und Land mehr durchführen lässt. Da haben wir eine Denkweise von unseren Vorfahren übernommen, die der heutigen Realität in der Schweiz nur noch teilweise entspricht. Eine allgemeingültige Beschreibung dessen zu geben, was Landschaft ist und ausmacht, ist darum sehr schwierig, weil kulturelle Sehgewohnheiten und die fachliche Wahrnehmung von Landschaften sehr unterschiedlich sind. Darum beschränke ich mich auf Definitionen, wie sie in der Humangeographie geläufig sind. Obwohl fast jeder Mensch zu wissen glaubt, was Landschaft ist und meistens eine Vorstellung, sein eigenes inneres Bild, davon hat, könnte beispielsweise kaum jemand einem Blinden erklären, was eine Landschaft ist. Weder der Landschaftsbegriff noch die Landschaft selbst sind statisch, sondern unterliegen ständigen Veränderungen. Eine Landschaft entsteht erst in unserem Kopf, da wir Objekte unserer Umwelt in unserer Wahrnehmung zu einem Ganzen verschmelzen. Der Begriff Landschaft wird in aktuellen politischen Definitionen etwa wie folgt umschrieben: Landschaft ist sowohl Summe aller natürlichen Lebensgrundlagen eines Raumes, deren Zusammenwirken in der Zeit samt ihrer Reaktionsleistungen und -potenzialen auf Veränderungen, als auch Ergebnis ihrer Nutzung durch den Menschen und weiterer seiner Tätigkeiten. Sie ist damit Dokument der natürlichen Entwicklungsgeschichte des Raumes wie auch der gelebten Vergangenheit seiner Bewohner, ihres Handelns, Denkens und Fühlens.1

Diese Definition ist im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft 1991 erarbeitet worden. Landschaft umfasst den gesamten Raum, innerhalb und ausserhalb von Siedlungen. Sie ist das Entstandene und Werdende natürlicher Faktoren wie Untergrund, Boden, Wasser, Luft, Licht, Klima, Fauna und Flora im Zusammenspiel mit kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren.2

Diese Definition kann auf die Entwicklung des Begriffs Landschaft zurückgeführt werden, wie er sich in der Humangeographie herausgebildet hat. Die gegenwärtig umfassendste naturwissenschaftliche Definition dessen, was Landschaft ausmacht, verwendet aus meiner Sicht in der Schweiz das Bundesamt für Umweltschutz:

1  Hans-Dietmar Koeppel, Landschaft unter Druck: Zahlen und Zusammenhänge über Veränderungen in der Landschaft Schweiz, Bern 1991, 23. 2  Matthias Stremlow / Georg Iselin / Felix Kienast, Landschaft 2020 – Analysen und Trends. Grundlagen zum Leitbild des BUWAL für Natur und Landschaft, Bern 2003, 18.

Der Garten – heilig oder profan?

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Landschaften bilden räumlich die gelebte und erlebte Umwelt des Menschen, welche ihm als Individuum sowie der Gesellschaft die Erfüllung physischer und psychischer Bedürfnisse ermöglicht. Landschaften haben dabei als Ressource vielfältige Funktionen. Sie sind Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen, vielfältiger Erholungs- und Identifika­ tionsraum sowie räumlicher Ausdruck des kulturellen Erbes. Zudem leisten sie einen Beitrag zur Wertschöpfung. Landschaften sind dynamische Wirkungsgefüge und entwickeln sich aufgrund natürlicher Faktoren wie Gesteine, Boden, Wasser, Luft, Licht, Fauna und Flora im Zusammenspiel mit der menschlichen Nutzung und Gestaltung.3

Diese Definition ist prozessorientiert, trägt also der Dynamik der Landschaft und ihrer ständigen Weiterentwicklung Rechnung. Wichtig ist hier vor allem die durch den Hinweis auf Gesteine und Boden vorgenommene Erweiterung des Landschaftsbegriffs auf den Untergrund. Die Ausbildung eines fruchtbaren Bodens dauert mindestens 500 Jahre. Ein Boden ist zum Beispiel nicht nur blosser Standort von Pflanzen, sondern prägt die Landschaft (und das Landschaftsbild) entscheidend mit. In allen diesen Beschreibungen und Definitionen von Landschaft spiegeln sich bestimmte Umgangs- und Wahrnehmungsweisen von Landschaft, die ihrerseits kulturellen und damit immer auch historischen Prägungen unterliegen. Angesichts dieser Sachlage wollen die nachstehenden Überlegungen einen kleinen Beitrag zur Kulturgeschichte der Landschaftswahrnehmung unter einem bestimmten Aspekt und in Konzentration auf ein besonders signifikantes Stück Landschaft leisten. Der bestimmte Aspekt setzt sich zusammen aus der doppelten Überlegung, dass für die Landschaftswahrnehmung zum einen der Gegensatz von Natur und Kultur in der besonderen Form der Differenz von Land und Stadt von Bedeutung ist, und dass zum andern diese Differenz – zumindest in vorneuzeitlichen Kulturen – sehr oft mit einer anderen verbunden ist, nämlich mit derjenigen von „heilig“ versus „profan“. Der „heilige Hain“ ist von sonstigen Gehölzen qualitativ, ja kategorial unterschieden, dasselbe gilt von „heiligen“ und sonstigen Bergen. Dem wird nachzugehen sein. Einen diese Differenz überspannenden, einheitlichen Begriff von Landschaft konnte erst die Moderne bilden. Angewandt auf vor- und aussermoderne Kulturen inhäriert dem Begriff mithin ein gewisser Anachronismus; das ist zu beachten. Das signifikante Stück „Landschaft“, an welchem die sich daraus ergebenden Wahrnehmungsdifferenzen erprobt und illustriert werden sollen, ist der Garten. Gärten sind ja von jeher gewissermassen Schnittflächen von Natur und Kultur, sehr oft auch von Urbanität und Ruralität, vielleicht – wie zu zeigen versucht werden wird – aber auch von Sakralität und Profanität. Ob der letztere Gegensatz auch unter säkularen Bedingungen noch von Bedeutung ist oder zumindest nachwirkt, wird zu fragen sein. 3 

Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) u. a., Landschaftskonzept Schweiz, Teil 2 Bericht, Bern 1998, 127.

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Auf diese Weise soll im Medium kultur- und religionsgeschichtlicher Überlegungen zumindest ein indirekter Beitrag zu einer heutigen, hermeneutischen Ethik der Landschaftswahrnehmung und des Umgangs mit Landschaft geleistet werden.

2. Zur Modellierung von Landschaftswahrnehmung in kulturhistorischer Perspektive Wenn es richtig ist, dass für die Wahrnehmung und die ästhetische, aber auch ethische Deutung der Landschaft der Gegensatz von Stadt und Land und zugleich der Unterschied von „heilig“ und „profan“ grundlegend ist, dann lassen sich diese Differenzbestimmungen in einer einfachen Matrix miteinander kombinieren. Dieses Schema kann sodann auf kulturelle Wahrnehmungspraktiken von Landschaft angewandt werden. Zu erwarten ist, dass zumindest bezüglich der Landschaftswahrnehmung in traditionellen Kulturen, in denen die Sphäre des Religiösen nicht wie in der Moderne als eigener partikularer Bereich neben etlichen anderen empfunden wird, sondern die ganze Welt sachlich, aber meist auch räumlich, unter den Gegensatz von „heilig“ versus „profan“ gestellt wird, mit diesem Schema gut gearbeitet werden kann. Stadt

heilig

Land

profan

Ob und gegebenenfalls wie die Differenz auch auf moderne Landschaftswahrnehmungen angewendet werden kann, bedürfte gewiss eigener Untersuchungen. Hier wird für einmal davon ausgegangen, dass zumindest Nachwirkungen jener kategorialen Differenz auch heute noch spürbar sind. Zu vermuten könnte etwa sein, dass wir uns in der Gegenwart im westlichen Kulturkreis in einer Umbruchphase befinden, in der die – zumindest in der Ära der Romantik – tendenziell als „heilig“ bzw. „erhaben“ wahrgenommene Landschaft (Natur) dieses Attribut an ausgegrenzte Bezirke im urbanen Bereich abgibt, insbesondere an Gärten, Parks und auch Bauwerke wie Kirchen, Prachtbauten der Kultur, „Kulturtempel“, darunter nicht zuletzt auch an profane Hochhäuser, die als Sitz von Wirtschaftsunternehmen dienen etc. Bezeichnend ist, dass die hochwertige Kunst dort ausgestellt wird oder ihren ständigen Ort hat, wo sich (in traditionellen Kulturen) das Heilige befindet. Ein gutes Beispiel ist in New York der Cen­ tral Park. „Vom Grundstückpreis her gesehen ist der Central Park einer der teuersten Orte der Welt, er dürfte die teuerste Natur auf der ganzen Welt sein.“4 Obwohl 4 

Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2013, 40.

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an diesem Standort extrem teure Appartementhäuser errichtet werden könnten, ist der Park unantastbar, also sozusagen „heilig“. Ständiges Gast- oder Bleiberecht wird einzig der Kunst, soweit sie international anerkannt ist, gewährt. Eine für unsere Kultur wichtige, weil wirkmächtige Quelle der Landschaftswahrnehmung stellt gewiss die Bibel dar. Deren diesbezügliche Eigenheiten wiederum lassen sich gut erkennen, wenn man zum kontrastierenden Vergleich eine andere antike Quelle, nämlich das berühmte babylonische Gilgamesch-Epos heranzieht.5 Darin wird nämlich die Stadt erstmals, soweit wir sehen, als heiliger Ort und Hort von Kultur und Zivilisation beschrieben. Demgegenüber wird in den Grundschichten des Alten Testaments nicht die Stadt, sondern zunächst das Land als Ganzes (als Landschaft und Natur) als „heilig“ apostrophiert. Das paradigmatische Stück heiligen Landes ist das Land Israel. Aber schon in der Schöpfungsgeschichte ist gewissermassen die Urform heiligen Landes im Landschaftsgarten Eden, dem Paradies, präsent. Seit der staatlichen Zeit Israels (um 1000 v.Chr.) ist dann jedoch erkennbar, dass auch der Stadt, näherhin und vor allem der Stadt Jerusalem Heiligkeit prädiziert werden kann. Im späteren, hellenistisch beeinflussten Judentum und im Neuen Testament spielt diese Anschauung eine zentrale Rolle. In der griechischen Philosophie wurde die Natur in der Regel als chaotisch, feindselig oder uninteressant wahrgenommen. Die Haltung wird an den griechischen Gärten deutlich: „Die wenigen bildlichen Zeugnisse, die es von Gärten gibt (sie stammen zumeist aus der minoisch-kykladischen Epoche), zeigen den Garten nicht als ‚gebändigte‘ Natur in einem begrenzten Areal, vielmehr geben sie die ‚wilde‘ Natur, die man respektiert und fürchtet, in einer auf das menschliche Mass reduzierten Grösse wieder.6“ Das Gilgamesch-Epos hat als vollständige Fassung vermutlich ein Alter von 3800 Jahren. Viele Motive sind nachweislich in das Alte Testament aufgenommen worden, wie beispielsweise die Sintfluterzählung, oder erinnern zumindest an ­biblische Erzählungen (z. B. Gen 6,4). Wichtig für die spätere Landschaftsethik sind drei Elemente dieser altbabylonischen Dichtung. Im Epos wird Natur als bedrohlich, chaotisch und wild dargestellt. Die Personifikation dieses Naturverständnisses ist die Figur des Helden Enkidu, eines gottartigen Wesens. Dieser „Wilde“ wird mit Hilfe erotischer Verführung durch die Dirne Samhat in die Stadt Uruk gelockt. Er ist nun auch mit menschlichen Gefühlen und Verstand ausgestattet. Enkidu trinkt Bier, nimmt andere Nahrung als Gras, nämlich Brot, zu sich und wird eingekleidet, also mehr und mehr zu einem menschlichen Wesen der Stadt umgeformt. Gilgamesch, Halbgott und König der Stadt Uruk, gewinnt nach einem Kampf mit Enkidu, der unentschieden ausgeht, einen Freund. Die Freunde beschliessen dann gemeinsam Abenteuer zu bestehen. 5  6 

Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul, München 2012. Lucia Impelluso, Gärten, Parks und Labyrinthe, Berlin 2006, 11.

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Bezeichnend ist, dass sie die „Natur“ in einer Heldentat nutzbar machen wollen, indem sie Humbaba den Hüter des Zedernwaldes, töten und die Zedern des heiligen Haines der Göttin Ischtar fällen. Die Kultur, der heilige Bezirk, ist hier eindeutig der Stadt Uruk zugeordnet. Der heilige Zedernwald draussen in der Natur wird abgeholzt und damit für die Stadt ökonomisch nutzbar gemacht, also in profanes Holz umgewandelt und somit entweiht. Zedernholz war besonders kostbar.7 Das Gilgamesch-Epos verbindet das Heilige mit der Kultur und dem Bezirk der Stadt Uruk. In der Stadt hat es auch (heilige?) Gärten, wie das Epos festhält. Die Natur (Landschaft ausserhalb der Stadtmauern) wird als dem Menschen nicht zuträglicher Bereich empfunden. Dank sexueller Lust kann die Natur gezähmt werden und danach durch eine Heldentat nutzbar gemacht werden. Die Verführung wird dem weiblichen und die Heldentat dem männlichen Geschlecht zugewiesen. Das Alte Testament zeigt eine vom Gilgamesch-Epos charakteristisch verschiedene, ja geradezu gegensätzliche Auffassung von Landschaft. Die altorientalischen Nomadenvölker haben der Stadt misstraut, als Bezirk der ‚Verweichlichung‘, der Sünde („Sodom und Gomorrha“) und der sexuellen Gier. (Gen 13,10b; Gen 19). Nicht zufällig ist deshalb das Paradies ein Garten (Garten Eden), wo die ersten Menschen alles finden, was sie für ein angenehmes Leben brauchen (Gen 2,8 f.). Nach dem Sündenfall war es aber vorbei mit der Nahrung, die ohne jede Anstrengung verfügbar war. Noah und Abraham errichteten ihre Altäre nicht in Städten, sondern weitab von städtischen Gebieten. Land (oder Landschaft) ist Weideland und nur selten Ackerland, also fruchtbares und für Viehzuchtnomaden nutzbares Land. Ebenso wird die Grabstätte von Abrahams Hauptfrau Sarah auf dem Lande angelegt (Gen 23,7–20), wo später auch Abraham selbst begraben wird (Gen 25,9 f.). Das Land ausserhalb der Städte bietet also alles, was der Mensch für sein Überleben und für seine seelischen Bedürfnisse, wie Kultstätten und Gräber gebrauchen darf. Gott ordnet dem Menschen die Natur, verstanden als Pflanzen und Tiere (auch die Tiere des Meeres), zu. Der Mensch soll ihnen einen Namen geben. Auch alle Gottesbegegnungen finden zumindest zunächst ausserhalb der Städte statt. Gott zeigt sich in der Wüste, auf den Bergen und als Wind. Mit der Bundeslade wird der Gott der Väter zum Begleiter des frühjüdischen Volkes auf seinen nomadischen Reisen. Erst mit der Kultzentralisation und dem Bau des Tempels in Jerusalem werden viele der Heiligtümer und Altäre draussen in der Landschaft vergessen oder zerstört. Gott wird zu einem Gott der Stadt mit einem festen Wohnsitz im Tempel.

7  Die (kostbaren) Zedern des Libanons benutzte König Salomo zum Bau des Tempels in Jerusalem und seiner Paläste. Im Psalm 104 werden die Zedern als „Bäume des Herrn“ bezeichnet, die er selbst gepflanzt habe (Ps 104,16).

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3. Der Garten als exemplarisches Stück Landschaft. Kultur- und religionsgeschichtliche Beobachtungen Die bereits vom Gilgamesch-Epos bekannte Erotik kennt auch die Bibel. Im Hohelied schwärmt der Liebhaber von seiner Geliebten, während sie sich in einem schönen Garten befinden. Seine Vergleiche mit den Pflanzen des paradiesischen Liebesgartens sind auch Ausdruck für die Wertschätzung, die einem solchen Garten entgegengebracht wurden. Der Garten ist heilig und zugleich Ort der Liebe und der Lust. Bemerkenswert ist auch, dass die Geliebte von den Wächtern der Stadt Salomos geschlagen wird, als sie sich auf die Suche nach ihrem Liebsten macht. Hier ist die Stadt also der abweisende und gefährliche Ort, den Liebende meiden sollten. Die Heiligkeit des Ortes Garten ergibt sich bereits schon daraus, dass dieser Text in der Bibel steht. Das Heilige schliesst also Erotik, Lust und körperliche Liebe mit ein. In Darstellungen des mittelalterlichen Lustgartens wird die höfische Liebe und das ‚Lustwandeln‘ oft als besonders erstrebenswert dargestellt. Erbauung im Garten und die höfische Liebe gelten als Ideal des Lebensgenusses Später aber wird der Lustgarten dann eher als Ort des Ehebruchs oder der Unzucht dargestellt. Der Garten wird folgerichtig zu einem profanen Ort in Form des Nutzgartens, den es zwar schon seit altägyptischer Zeit gegeben hat, der so jedoch an Wert gewinnt. Anhand des Gartens und seiner Geschichte lässt sich gut verfolgen, wie der heilige und der profane Garten sich in der Vorstellung der Gesellschaften während der Zeitepochen abgewechselt haben und wie Gärten zu einer Vorlage der Gestaltung der Landschaft geworden sind. Von den frühesten bekannten Gärten der Menschheit zu der ‚ausgeräumten‘ Landschaft der heutigen, auf die Produktion ausgerichteten Landwirtschaft, lassen sich erstaunliche Bezüge herstellen. Unsere Konzepte der Landschaftsgestaltung haben sehr viel damit zu tun, ob wir Landschaft, oder allgemeiner die Natur, als Gottes heilige Schöpfung betrachten oder nur als nutzbares profanes Land. 3.1. Antike Gärten Um einen Blick über die europäische Kultur hinaus zu werfen: Über die ältesten bekannten Gärten und landwirtschaftlichen Flächen Chinas liegen uns zumindest für die älteren Zeiten keine schriftlichen oder bildnerischen Aufzeichnungen vor, sodass es nicht möglich ist, gesicherte Aufschlüsse über den Umgang dieser über 5000 Jahre alten Kultur mit kultivierten Flächen zu gewinnen. Wurde die Differenz von heilig und profan angewandt? Wir wissen es leider nicht. Die ersten greifbaren schriftlichen Berichte um etwa 200 v. Chr. belegen, dass sich eine wichtige chinesische Gartenkultur aus den Jagdgärten der Kaiser entwickelt hat. Das ist eine historische Parallele zum Jagdgarten der Perser, der dem Paradies seinen Namen gege-

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ben hat. Die Chinesen können als Erfinder des Landschaftsgartens gelten, der sich dadurch auszeichnet, dass ein fliessender Übergang zwischen dem Garten und der ihn umgebenden Landschaft geschaffen wird. Bei allen antiken Völkern dominiert der Nutzgarten mit dem Ziel der eigenen Nahrungsmittelversorgung. Am höchsten geschätzt waren aber Zier- und Lustgärten, die der Zerstreuung dienten. Im alten Ägypten beinhalteten diese Anlagen eine klar bestimmte geometrische Innenwelt, die einer unbestimmten oder zuweilen chaotischen Aussenwelt gegenüberstand. Eine hohe Mauer schützte gegen Sand und Hochwasser, wie auch gegen Eindringlinge. Der Garten musste von der Aussenwelt abgegrenzt oder sogar gegen sie verteidigt werden. Der Mensch schützt seine (Garten-)Kultur vor den zerstörerischen Mächten der Natur. Ägyptische Gärten waren wohl organisiert und Beete wurden angelegt. Das Gartenbeet wiederholt die Abgrenzung des Gartens im kleinen Massstab. Ein klarer Vorteil neben der einfacheren Gartenpflege ist die Ordnung und Überschaubarkeit des Gartens. Ich nehme an, dass diese Ordnung auch als schön und ebenso als heilig betrachtet wurde. Bereits in diesen Gärten kam dem Wasser eine entscheidende Rolle als heiliges Gestaltungselement zu. Ein Garten verfügte über ein zentrales Wasserbassin, das in den Gärten der Pharaonen manchmal so gross war, dass es mit einem Boot befahren werden konnte. Griechische Gärten waren eher Natur im überschaubaren Rahmen. Die gefürchtete Aussenwelt wurde weniger bekämpft als ignoriert. Die Nutzgärten wurden bevorzugt innerhalb der Städte angelegt, wo der Platz aber knapp war, wie im antiken Athen, im unmittelbaren Umfeld der Stadt oder in ihren Vororten. Bekannt ist, dass der Name der platonischen „Akademie“ auf ihren Ort im Hain, also im heiligen Garten, des attischen Helden Akademos zurückgeht. Auch die Anhänger des Philosophen Epikur trafen sich in einem Garten. Gärten waren den Gottheiten geweiht und heilig, nicht aber der Garten Epikurs der, entsprechend seiner Philosophie, dem Lebensgenuss gewidmet war. Reiche Römer besassen dann erstmals die Mittel Prunkgärten anzulegen und den Garten quasi ins Haus zu holen, indem das Atrium den Hausgarten beherbergte. Das ethische Modell eines antiken Gartens zeigt also überall die Tendenz, menschlichen Kulturraum gegen von aussen wirkende Kräfte zu verteidigen, oder einen solchen Raum der Natur draussen abzuringen. Wesentlich scheint mir, dass hier nicht in erster Linie ein Privatbereich durch Umfriedungen eines Gartens geschaffen werden soll, sondern vielmehr die Abwehr gegen das Chaos und die schlechte Beeinflussung von aussen Zweck des Schutzes der Gartenanlage war. Die griechischen Ideen haben sich über Handel und Sprache auch zu den orientalischen Völkern verbreitet. Die Hochschätzung der Stadt, ihrer philosophischen Schulen und der Gärten in ihr haben das Neue Testament entscheidend beeinflusst. Der Tempel in der Stadt Jerusalem ist nun das Zentrum des Judentums und Jerusalem wird zur Heiligen Stadt.

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3.2 Der Klostergarten Ähnlich wie bei den Gärten der Antike zu beobachten, die Leben und Nahrung der Menschen vor dem Chaos und der als bedrohlich empfundenen Natur schützen sollten, und ausserdem im Rückgriff auf die biblische Paradiesvorstellung, wird der Garten im Mittelalter tendenziell als ‚heiliger‘ – wenn auch nicht als sakraler, d. h. kultischer – Raum wahrgenommen; dies ist gut anhand der Klostergärten zu beobachten. Die Idee eines idealen Klostergartens ist uns etwa dank des Klosterplans von St. Gallen überliefert worden.8 Wichtig werden der Heilkräutergarten und Obstbäume, in deren Schatten auch Gräber angelegt werden sollten, was jedoch nicht so oft befolgt wurde. Gegen feindselige Einflüsse der Natur draussen hilft die Abgrenzung der Klosteranlage mit Mauern, aber auch die Vorstellung, dass hier ein Ort geschaffen wird, der an den Garten Eden der Bibel erinnern soll. Der Garten gehört zum sakralen Bereich, während ausserhalb der profane Bereich fortbesteht. Ein zentraler Brunnen, der – wie die Quelle der vier Ströme im biblischen Garten Eden9 – sein Wasser in vier Bächen oder Kanälen in alle vier Himmelsrichtungen abgeben konnte, nahm das Zentrum eines Klostergartens ein. Botanisches Wissen wurde von den Nonnen oder Mönchen gesammelt und Pflanzenzucht zur Optimierung von Heilkräutern und Nahrungspflanzen betrieben. Die ertragreicheren Nutzpflanzen kamen dann als Saatgut auch der Bauernschaft zugute. In vielen Fällen erliessen die Klöster auch Vorschriften zum Anbau von Pflanzen, die sich an die Bauernschaft richteten. Die Urbarmachung von Land durch Rodung von Wäldern, das Herauslesen von Steinen aus späteren Äckern und die Bodenverbesserung durch Eintrag von organischem Dünger war im frühen Mittelalter eine Aufgabe der Mönche. Sie erweiterten damit nicht nur das Eigentum des Klosters an nutzbaren Böden für Landwirtschaft und Rebbau, sondern schufen durch Pachten auch Einkommensmöglichkeiten für die Klöster. Nach den Regeln beispielsweise der Benediktiner waren die Mönche zum landwirtschaftlichen Dienst verpflichtet. Ziel war die Autonomie eines Klosters nicht nur in der Nahrungsmittelversorgung, sondern ebenso die ökonomische Unabhängigkeit. Im St. Galler Klosterplan sind die dargestellten Gärten quadratisch oder folgen den Regeln des Goldenen Schnitts. Dies betont ganz klar, dass die Gärten nicht einfach Nutzgärten waren, sondern heilige Anlagen, in denen Nonnen und Mönche 8 www.stgallplan.org.

9  Vgl. Gen 2, 10–14. – Auch im islamischen Garten wurde ein Teich oder Brunnen mitten im Garten angelegt oder errichtet. Dem Islam waren die apokalyptischen Vorstellungen des neuen Jerusalems der Bibel mit seinen klaren Strömen bekannt und sind auch in die Gartenarchitektur eingeflossen. Von einem Brunnen in der Mitte gingen vier Kanäle aus, die klares frisches Wasser durch den Garten führen sollten. Dieses Ideal konnte bei Wassermangel jedoch nicht verwirklicht werden. Fürstliche Gärten dienten nie nur der Versorgung, sondern ihr Hauptzweck war vielmehr die Erbauung, das Geniessen des Lebens in einer sicheren Umfriedung. Oft verfügten die grossen Gärten auch über sakrale Anlagen und Kultstätten für die gesellschaftliche Oberschicht.

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zu Ehren Gottes ihr landwirtschaftliches Tagwerk verrichteten. Die Idee, dass Gott für den Menschen sorge und die sorgfältige Gartenarbeit reichen Ertrag bringe, hat sich von den Klöstern ausgehend auch zu den Bauern verbreitet. Im nachfolgenden Schema10, das den Angaben im St. Galler Klosterplan folgt, werden Obst- und Kräutergarten als zusammenhängend dargestellt, wie es die Gartenanlagen auch in sehr vielen mitteleuropäischen Klöstern zeigen. Diese Aufteilung erinnert zugleich an ein Kirchenschiff, wobei der Teil des Kräutergartens dem Chor entspricht. Alle diese Gärten sind und waren fast ausnahmslos durch Mauern umgeben, und zwischen den Gärten bestand eine gemauerte Abtrennung, später oft ein eiserner Zaun, der an eine Chorschranke erinnert. Diese baulichen Elemente unterstreichen klar die heilige Bedeutung dieser Gärten.

10 

Schema nach: Dieter Hennebo/Alfred Hoffmann, Geschichte der deutschen Gartenkunst, Bd. 1: Gärten des Mittelalters, Hamburg 1962, 47 (Abb. 8).

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Das Wort Garten bedeutet in allen europäischen Sprachen fast einheitlich umfriedetes Grundstück. Wichtig ist also bei jedem Garten nicht nur die bepflanzte Fläche, sondern immer auch deren äussere Abgrenzung. Auch der Klostergarten verfügt immer über eine solche, meist gemauerte Abgrenzung, wie das vorherige Schema zeigt. Das nach Norden orientiertes Schema eines idealisierten Klostergartens zeigt zwei getrennte Gärten. Der Obstbaumgarten ist mit Obstbäumen bepflanzt, die gegen Süden als Schutz vor der Sommersonne und im Westen als Wetterschutz dienen. Im Zentrum befindet sich ein Brunnen oder eine Wasserstelle. Den grössten Teil des Obstgartens nimmt eine Rasenfläche ein, die frei begehbar ist. Zwei Rasenbänke und eine Abtrennung, die verschieden ausgeführt sein kann, unterteilen den Klostergarten. Im Kräutergarten führen Kieswege zu den quadratischen Beeten. Ein direkter Zugang zum Kräutergarten, der auch für Heilkräuter verwendet wurde, vereinfacht die Pflege und Ernte. Der Eingang in den Garten von aussen her befindet sich deshalb in der Regel beim Kräutergarten. Aus der Pflicht, für alle Kranken zu sorgen, die an die Pforte des Klosters klopfen, entwickelte sich der Heilkräutergarten weiter. Küchen- und Heilkräuter wurden getrennt, wie es der idealen Klosteranlage des St. Galler Klosterplans entspricht, und in einem Beet wurde jeweils nur noch eine Pflanze angebaut. Das hatte für die Züchtung natürlich einen erheblichen Vorteil, und ebenso gelang es so den Nonnen und Mönchen besser, sich botanisches Wissen anzueignen. Dieses Wissen konnte erst nach Erfindung des Buchdrucks und der Verbreitung der Fähigkeit Texte zu lesen in den Städten wirken, wo im Spätmittelalter Apothekergärten angelegt wurden. Auf dem Lande hielten sich noch längere Zeit die Bauern­ gärten, Nutzgärten mit Küchenkräutern und Gemüse für den Eigenbedarf der Bauernfamilien. 3.3 Vom Garten zur Landschaft Die mittelalterlichen Städte wuchsen nach den grossen Verlusten an Menschen durch Kriege und Krankheiten stark und die Bevölkerungszahl stieg an. Die Anlage von Nutzgärten der Bürger innerhalb der Stadtmauern brauchte zu viel Platz. Die Gärten wurden deshalb vor die Mauern der Stadt verlegt, oder zwischen Innenund Aussenmauer angelegt. War vorher das Wissen der Klöster über Botanik zu den Bauern gelangt, wurden nun die Gärten selbst in die Landschaft vor den Städten gebracht. Ich vermute darin die ganz wesentlichen Schritte dahin, dass die Be­ urde.11 wirtschaftung von Landschaft und später des Waldes selbstverständlich w Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ging dann eine Gartenrevolution einher. Die streng geometrisch angelegten italienischen Barock- und französischen Renaissance-Gärten, auch als architektonischer Garten bezeichnet, wurden abge11 

Dieser Umstand wird im Rahmen meiner Dissertation noch genau zu untersuchen sein.

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lehnt und der englische Garten, auch als Landschaftsgarten bezeichnet, entstand als neue Form des europäischen Gartens. Die Philosophen der Aufklärung gingen voran, die Gartenarchitekten nahmen die neuen Ideen auf und die Künstler folgten nach. Das Interesse der Gelehrten richtete sich neu auch auf die Bereiche ausserhalb der Siedlungen und nicht bewohnte Landschaften rückten in den Fokus. Das Interesse der Städter richtete sich damit vermehrt auf Bereiche ausserhalb der Stadt. Hatten zuvor Adel und Fürsten, Bauern und Förster jahrhundertlang für sich die Landschaft bearbeiten lassen, wird jetzt eine neue Bevölkerungsschicht, das Bürgertum, selbst ausserhalb der Städte aktiv. Innerhalb der Städte befanden sich noch die pflegeaufwendigen Gärten mit Heilkräutern und ebenso die kleinen Küchenkräutergärten. Obst- und Pflanzgärten lagen nun vor der Stadt. Die mittelalterliche Wahrnehmung des Gartens, namentlich des Klostergartens, als ein ausgegrenzter ‚heiliger‘ Schutzbereich wird in der Frühen Neuzeit immer mehr auf die Landschaft bzw. auf einzelne Landschaftsräume übertragen. Dieser Vorgang ist vor allem und zunächst durch die Auslagerung von Gärten in den Raum ausserhalb der Städte bedingt. Zuerst mögen vor allem pragmatische Gründe des Platzmangels innerhalb der Stadtmauern für die Anlage von Bürgergärten ausserhalb der Stadt in der Landschaft massgebend gewesen sein. So war die Anlage von grossen Gärten und Obstplantagen längst nicht mehr nur die Sache der Klöster vor der Stadt. Entscheidend wird der Einfluss der Kunst der Romantik, die Landschaft als eine ästhetische Raumkomposition im Bereich ausserhalb der Städte deutet und dabei sehr oft von der neuen Kategorie der „Erhabenheit“ als modernem Äquivalent von Heiligkeit Gebrauch macht. In der Malerei ist Landschaft nicht mehr nur Staffage oder Hintergrund zu insbesondere biblischen Szenen, die beispielsweise Jesus und seine Jünger in Galiläa zeigen, sondern die Landschaft selbst wird nun zum Sujet. Die Menschen im Bild sind nicht Hauptmotiv, sondern bewundern, oder sind sogar überwältigt, von der Grossartigkeit der Landschaft. Damit wird der moderne Begriff der Landschaft geschaffen. Eine neue Wahrnehmung des Raumes ausserhalb der Siedlungen wird zur gewohnten Sichtweise. Die Idee der erhabenen Landschaft findet ebenso Eingang in die Literatur. Illustrativ dafür ist etwa die spätromantische Novelle Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“12 von 1826. Die Beschreibungen der romantischen Landschaften mit ihren Schlössern, Gärten und Wäldern und das unbeschwerte Leben des „Taugenichts“, d. h. des zweckfreien Betrachters von Landschaft selbst, sind die wesentlichen Inhalte dieses Textes. Der Genuss von Freiheit ohne strenge Arbeit und Pflichten in einer idealisierten Landschaft vereinigen sich zum Lebensgenuss. Dank günstiger Umstände und Glück erreicht der junge Mann seine Lebensziele doch. Diese Art zu leben entspricht dem Ideal der Romantik. 12 

Joseph Freiherr von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, hrsg. v. Joseph Kiermeier-Debre, München 1997.

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In der Schweiz entwickelt sich ausgehend von den mythologischen Geschichten um Tell, Winkelried und anderen Heldengestalten ein Mythos „Alpen“ mit starken religiösen Konnotationen.13 Die Alpen werden zu einem heiligen Raum, wo edle Bergler sich tapfer gegen Fremdherrschaft zu wehren wissen und Kraft aus der Natur und der Schönheit der Berge empfangen. Vor dem ersten Weltkrieg wurde diese Idee nationalistisch vereinnahmt und zur Quelle des schweizerischen Heimatgefühls erklärt. Im aufkommenden Fremdenverkehr in der Schweiz überträgt sich das Heroische vor allem auf die Bergführer und teilweise auch auf die Alphirten. Sie verkörpern das naturverbundene Leben im Wissen um die Schönheit der alpinen Landschaften.14 An ihren Geheimnissen lassen sie die meist gut situierten Touristen zunächst vor allem aus dem angelsächsischen Raum teilnehmen. Die mythische Verklärung findet später Eingang in die schweizerische Tourismuswerbung, die in den Anfangszeiten vor allem Plakatwerbung war. Religiöse Konnotationen finden auch in die Konzeptionen der Natur- und Nationalparks Eingang. Sprachlich deutlich wird das in der Beschreibung von Landschaften mit erhabenen Bergen, von Bächen mit kristallklarem, frischem Wasser, was ohne Schwierigkeiten auf die Beschreibung des Garten Gottes selbst und die Paradieserzählung der Bibel zurückgeführt werden kann. Gottes Schöpfung (die wilde ursprüngliche Natur) soll vor der Übernutzung oder sogar Zerstörung durch den Menschen bewahrt werden. Wichtig ist auch die Rolle solcher Räume als Jagdbanngebiete. Die Nationalparkidee kommt zuerst in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, ausgelöst durch Bilder und Illustrationen von reisenden Künstlern wie Thomas Moran, der Bilder der Yellowstone-Expedition anfertigt und damit die puritanische Oberschicht tief beeindruckt. Erstmals soll eine Naturlandschaft als Ganzes unter Schutz gestellt werden. Der amerikanische Maler George Catlin, der sich mit Indianergemälden und Landschaftsdarstellungen eine guten Ruf geschaffen hat, unterstützt diese Idee ebenso wie der englische Dichter William Wordsworth und der schwedische Baron Adolf Erik Nordenskjöld.15 Sie wollten die Wunder der Natur für die nachfolgenden Generationen bewahren, was der modernen Idee der Nachhaltigkeit bereits teilweise entspricht. Im Jahr 1872 wurde mit dem Yellowstone-Nationalpark das erste Naturreservat, das direkt der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterstellt wurde, geschaffen. In Europa folgte Schweden 1909; der Schweizerische Nationalpark wurde 1914 gegründet, ist jetzt also gut 100 Jahre alt. Weltweit nahm die Zahl dieser Parks nach

13  Vgl. dazu z. B. Thomas K. Kuhn, „Die Schweizer Alpen in der neuzeitlichen Religions- und Frömmigkeitsgeschichte“, Theologische Zeitschrift 57 (2001), 416–436. 14  Greifbar wird die religiöse Konnotierung der Alpenlandschaft z. B. auch in der traditionellen Praxis des „Alpsegens“. 15  Aubrey L. Haines, Yellowstone National Park. Its Exploration and Establishment, Washington 1974 (auch: www.cr.nps.gov/history/online_books/haines1/index.htm).

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dem Zweiten Weltkrieg stark zu, gegenwärtig existieren in über 100 Ländern mehr als 2200 Nationalparks. 3.4 Zur Zukunft der Landschaft Zu vermuten ist, dass die gegenwärtige Verarmung der Landschaft aufgrund der Intensivierung der Landwirtschaft zu einer Profanisierung (Entheiligung) der Landschaft beiträgt oder teilweise deren hauptsächliche Ursache ist. Deshalb kehrt das Konzept des ‚heiligen Gartens‘ zurück in den Siedlungsraum der Städte und Agglomerationen, nämlich in Gestalt eines urban gardening, als Kunst in der Natur (land art) und in Form von Grossprojekten, wie etwa der geplanten Garten­brücke in London16. Auch erwähnenswert sind die Gärten der Welt in Berlin mit einem grossen authentischen traditionellen Chinagarten. Ebenso werden Industrie­ brachen in Städten des Ruhrgebietes vermehrt in Landschaftsgärten umgewandelt. Umgekehrt wird gerade die ehemals ‚wilde‘, ‚intakte‘ Natur gerade des Alpenraums in einem hohen Ausmass technisch erschlossen; Landschaft wird zum fun parc. Dadurch sinkt jedoch die sakrale Anmutungsqualität der Landschaft, denn in unserer Vorstellung sind nur ‚unberührte‘ Landschaften heilig. Dass der Stellenwert der Landschaft tendenziell eher abnimmt, beweist in der Schweiz auch die Politik der vergangenen zehn Jahre, die regelmässig grosse Infrastrukturprojekte des Verkehrs und der baulichen Erschliessung, wie zum Beispiel das Tourismusprojekt in Andermatt, dem Schutz von Landschaften übergeordnet hat. Die strikte Trennung von Bau- und Nichtbaugebiet, das Grundanliegen der Raumplanung überhaupt, wird ebenfalls aufgeweicht. Die wertvollsten landwirtschaftlichen Böden der Schweiz, in der Fachsprache der Raumplanung als Fruchtfolgeflächen bezeichnet, verlieren an Bedeutung. In den Plänen von Gemeinden und Kantonen werden auch solche, eigentlich klar dem Nichtbaugebiet zugewiesenen Flächen vermehrt für nichtlandwirtschaftliche Nutzungen frei gegeben. In der Bewertung vieler Gemeindebehörden werden Schutzgebiete eher als lästig und für die wirtschaftliche Entwicklung ihres Gebietes hemmend wahrgenommen. Diese Abwertung der Landschaft kann man meiner Meinung nach also anhand vieler Entscheide der Politik, von Firmen und auch im privaten Bereich beobachten. Natürlich ist noch der Beweis zu erbringen, dass das Attribut „heilig“ zum besten Schutz von Landschaften beiträgt oder die wesentliche Motivation der Gesellschaft in der Schweiz, Landschaften als wertvoll anzusehen, ist. Weiter zu untersuchen wäre, ob sich die heiligen Landschaften ganz aus der realen Welt in eine virtuelle verlagern. Neuste Computerspiele lassen die Vermutung aufkommen, dass sich mystische Landschaften im virtuellen Bereich, oder sogar ausschliesslich in Videospielen und technisch animierten Filmen, etablieren könnten. 16 Vgl. „Die schwebenden Gärten von London“, Tagesanzeiger vom 9. Dezember 2013, 12.

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Landschaft als unsere Lebensgrundlage lässt sich jedoch nicht virtualisieren, schon alleine deshalb, weil wir uns von realen Pflanzen und Tieren ernähren. Die Verbannung des Heiligen in virtuelle Welten der Informatik ist somit mit Sicherheit eine Scheinlösung. Hier sehe ich eine ganz entscheidende Aufgabe der Landschaftsethik dafür, der Bevölkerung der Schweiz die Augen zu öffnen, was mit dem Verlust der vertrauten und schönen Landschaften unwiederbringlich verloren geht – das Gefühl, noch irgendwo zuhause zu sein.

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„Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik Daniela Demko I. Der „Eigenwert der Natur“ 1. Eigenwert – Begriff und Begriffsunklarheiten Der Begriff des Eigenwertes hat in der heutigen Bio- und Umweltethik einen festen Platz eingenommen. Er findet in unterschiedlichsten Ausprägungen Verwendung, etwa wenn neben einem dem Menschen zukommenden Eigenwert und dessen Menschenwürde auch nach dem Eigenwert von nichtmenschlichen Lebewesen gefragt und hier vom Eigenwert von Tieren und Pflanzen gesprochen oder wenn der Eigenwertbegriff auf die Natur als Ganzes bezogen wird und vom Eigenwert von Arten, Ökosystemen und dem Planeten Erde insgesamt zu lesen ist. Lässt sich der Eigenwertbegriff aus der Bio- und Umweltethik nicht mehr hinwegdenken, so sind seine genauen Bedeutungsaspekte – und hier das Verhältnis zwischen „Eigenwert“ und „Würde“ –, seine Herleitungsmomente sowie Anwendungsbezüge dennoch bis heute nicht vollends geklärt und es tauchen unterschiedliche Erklärungsvorschläge auf: Die Rede ist etwa von einem nichtinstrumentellen1 Wert, einem moralischen Selbstwert,2 einem intrinsischen3 oder inhärenten4 Wert und zudem von einer „in-

1  Siehe etwa Sabine Odparlik, Die Würde der Pflanze. Ein sinnvolles ethisches Prinzip im Kontext der Grünen Gentechnik?, Freiburg i.Br./München 2010, 54, siehe dort auch die Ausführungen zur Vielfalt von Begriffsverwendungen; vgl. ebenso Jean-Claude Wolf / Peter Schaber, Analy­ tische Moralphilosophie, Freiburg im Breisgau, München 1998, 162 f.; Klaus Peter Rippe, Ethik im außerhumanen Bereich, Paderborn 2008, 100 f. sowie dort auch zu den verschiedenen Werte-­ Typen von Paul Taylor, 100 ff.; siehe zudem im Einzelnen instruktiv Paul W. Taylor, Respect for Nature. A Theory of Environmental Ethics, Princeton 1986, 99 ff.; zu verschiedenen Wertebegriffen auch Holmes Rolston, „Eine Ethik für den gesamten Planten [sic]. Gedanken über den Eigenwert der Natur“, Natur und Kultur 7/2 (2006), 27 ff. 2  Siehe etwa Konrad Ott, Umweltethik zur Einführung, Hamburg 2010, 101: „Kategorie des moralischen Selbstwertes (synonym: Eigenwert)“. 3  Siehe etwa Wolfgang Fritsche, „Welche Anwendungen der grünen Gentechnik tragen zum kulturellen Fortschritt bei?“, in: Sabine Odparlik / Peter Kunzmann / Nikolaus Knoepffler (Hgg.), Wie die Würde gedeiht. Pflanzen in der Bioethik, München 2008, 241. 4  Siehe etwa Anne Siegetsleitner, „Zur Würde nichtmenschlicher Lebewesen“, in: Sabine ­Odparlik / Peter Kunzmann (Hgg.), Eine Würde für alle Lebewesen?, München 2007, 117.

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härente(n) Würde“5 oder einer „immanente(n) Würde“.6 Letzteres verweist darauf, dass man den Eigenwert einerseits häufig mit der Würde in Verbindung oder mit dieser sogar identisch setzt,7 während man andererseits betont, dass der Eigenwert und die Würde voneinander zu unterscheiden seien.8 Zwischen diesen beiden Eckpunkten des Zuordnungsverhältnisses liegen Ansichten, welche weder eine völlige Identität noch eine komplette Trennung behaupten, sondern nach einem Begründungs- und Aufbauverhältnis zwischen dem Wert-, Eigenwert- und Würdebegriff suchen.9 Zu lesen ist hier von der Würde des Menschen und der Würde der Kreatur als einer „spezifische(n) Werthaftigkeit, als spezifischer Eigenwert“10 sowie davon, dass in der Eigenwertigkeit der „gemeinsame Begriffskern“11 liegt. Ebenso erfolgen Hinweise, dass selbst bei befürwortender Anerkennung eines Eigenwertes von Tieren, Pflanzen oder der Natur insgesamt eine „verbreitete Hemmung“12 sichtbar ist, speziell den Würdebegriff über dessen Anwendung auf Menschen hinaus auch auf Tiere, Pflanzen oder die Natur insgesamt zu beziehen.13  5 Odparlik, Die Würde der Pflanze, 54 (Hervorhebung Demko) mit weiteren Verweisen.

 6  Hermann Geissbühler, „Die Kriterien der Würde der Kreatur und der Menschenwürde in der Gesetzgebung zur Gentechnologie“, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins (2001), 242 (Hervorhebung Demko).  7  Siehe dazu auch die Fragestellungen bei Rippe, Ethik im außerhumanen Bereich, 302; vgl. zudem die Ausführung der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH), Die Würde der Kreatur bei Pflanzen, Bern 2008, 7: „Verfügt etwas über Eigenwert, bedeutet dies, dass es über etwas verfügt, das man auch ‚Würde‘ nennt.“; Beat Sitter-Liver, „Dignitas universalis – Versuch, von der Würde auch nichtmenschlicher Wesen zu sprechen“, in: Helmut Holzhey / Peter Schaber (Hgg.), Ethik in der Schweiz. Ethique en Suisse, Zürich 1996, 143 f.  8  Die Austauschbarkeit und Identität von Eigenwert und Würde wird hier gerade angezweifelt und es heisst etwa bei Ott, Umweltethik, 101, der Eigenwert im Sinne von „Selbstwert ist begrifflich von Würde zu unterscheiden“ in Verbindung mit der Ausführung, dass Würde als „Einheitsfokus hinter einem System von Rechten“ (Hervorhebung Demko) zu verstehen sei; siehe zudem Andrea Arz de Falco / Denis Müller, Wert und Würde von „niederen“ Tieren und Pflanzen. Ethische Überlegungen zum Verfassungsprinzip „Würde der Kreatur“, Freiburg/Schweiz 2001, 85 ff.; siehe zudem Peter Kunzmann, „Die ‚Würde des Tieres‘ – Grund oder Gegenstand einer Güterabwägung?“, TIERethik 3 (2011), 60: „setzt diesen aber fälschlich oder zumindest verkürzend mit der Würde gleich“, siehe auch die weiteren Ausführungen auf 60 f.  9  Dazu auch Odparlik, Die Würde der Pflanze, 55. 10  Ina Praetorius / Peter Saladin, Die Würde der Kreatur (Art. 24 novies Abs. 3 BV), Bern 1996, 86 (Hervorhebung im Original). 11 Praetorius  / Saladin, Die Würde der Kreatur, 86 (Hervorhebung Demko). 12 Odparlik, Die Würde der Pflanze, 115, siehe dort auch die weiteren Ausführungen. 13 Diese Vorsicht bei der Verknüpfung des Würdebegriffs mit nichtmenschlichen Lebewesen oder der Natur insgesamt könnte sich zum einen darauf zurückführen lassen, dass sich aufgrund der langen und traditionellen Bedeutungsverbindung des Würdebegriffs gerade und speziell mit der Menschenwürde hier Bedeutungsfacetten und Bedeutungsassoziationen für den Menschenwürdebegriff herausgebildet haben – sei es etwa zu den begrifflichen Ein- und Ausgrenzungen der Menschenwürde in der Ideengeschichte (siehe dazu unter II.1.(a.)) oder sei es zur Unantastbarkeit und Nichtabwägbarkeit der Menschenwürde im Gegensatz zur kreatürlichen Würde in Gestalt der Tierwürde, bei welcher Abwägungen erlaubt sind, siehe dazu etwa Kunzmann, ­TIERethik 3 (2011), 56 ff.; Klaus Peter Rippe, „‚Würde des Tieres‘ aus rechtsphilosophischer Sicht“, TIERethik 3

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Folgt man der Ansicht eines Begründungs- und Aufbauverhältnisses zwischen dem Wert-, Eigenwert- und Würdebegriff, so fungiert der Eigenwert als Begründungsbasis für die Würde: Der Eigenwert „ist“ kein begriffliches Synonym für die Würde, sondern diese wäre, da aus dem Eigenwert hervorgegangen, sein notwendiger Anschlussschritt: Der Würdebegriff fungiert dann – anders noch als bei Kant – nicht mehr als Gegenüber und Gegenbegriff zum Wertbegriff.14 Vielmehr würde in der Art einer Begriffs- und Bedeutungspyramide, zu der sowohl der Wert- als auch der Würdebegriff gehören, der Wertbegriff die Basis des Würdebegriffs darstellen und damit den „breiten Boden“ der Werte-Pyramide bestimmen, während der Würdebegriff als der „höchste(n) Wert“15 die Spitze der Werte-Pyramide bekleidet. Im Rahmen dieses weiten Wertebegriffs sind verschiedene Werte-Einzelformen voneinander zu unterscheiden, denken wir etwa an die vier Wertetypen von Paul Taylor, die er ausdifferenziert in den instrumentellen, intrinsischen, inhärenten und den Eigenwert.16 Von den Werte-Einzelformen stellt der Eigenwert mithin einen dar und ist hier gerade der, welcher wiederum die Begründungsbasis für die Würde ausmacht. Bei einer Bejahung zwar nicht einer Identität des Würdebegriffs mit dem, aber doch eines Begründungs- und Bedeutungszuordnungsverhältnisses des Würdebegriffs zum Wert- und speziell zum Eigenwertbegriff ist der Würdebegriff als eine Verdichtung und Konzentration des Wertbegriffs zu erkennen: Die Würde ist in den Bedeutungskreis des weiten Wertbegriffs aufgenommen und ist selbst ein Wert (hier jedoch nicht gemeint im kantischen Verständnis eines verrechenbaren Preis-Wer(2011), 13 ff. –, die mit dem Begriff des „Eigenwertes“ nicht in exakt gleicher Weise verbunden werden. Die Vorsicht bei der Verknüpfung des Würdebegriffs mit nichtmenschlichen Lebewesen und der Natur insgesamt könnte zum anderen darin begründet sein, dass eine unbesehene Ausweitung des (Menschen-)Würdebegriffs über den Menschen hinaus zu als problematisch angesehenen Fragen und unter Umständen nicht gewollten Folgen führen würde, wie etwa zur Frage, ob eine Tieren und Pflanzen zuerkannte Würde zu einer Verringerung des Gewichts menschlicher Interessen führen könnte. Zu letzterem und weiteren damit verbundenen Gesichtspunkten siehe etwa Odparlik, Die Würde der Pflanze, 115 ff.; vgl. auch Sitter-Liver, in: Holzhey/Schaber (Hgg.), Ethik in der Schweiz. Ethique en Suisse, 145 f.; siehe zudem die Gründe, die von der Pfordten gegen einen weiten Würdebegriff im Sinne ethischer Berücksichtigungswürdigkeit anführt (Prinzip begrifflicher Sparsamkeit, Begriffstradition, Bezug zur menschlichen Fähigkeit zur Erhebung über die und zur Bewertung der unmittelbaren Triebe, enge Begriffsverwendung durch Recht und Politik), Dietmar von der Pfordten, „Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde?“, in: Andreas Brenner (Hg.), Tiere beschreiben, Erlangen 2003, 112 f. 14  Zur Unterscheidung zwischen Würde und Preis siehe Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke VII, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1968, 68; siehe zudem Georg Mohr, „Ein ‚Wert, der keinen Preis hat‘ – Philosophiegeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, Frankfurt a. M. 2007, 17 ff.; Rippe, in: TIERethik 3 (2011), 16 f. 15 Odparlik, Die Würde der Pflanze, 92. 16  Siehe dazu Taylor, Respect for Nature, 99 ff.; siehe auch Rippe, Ethik im außerhumanen Bereich, 100 ff.

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tes17). Jedoch bezeichnet die Würde nicht einfach einen beliebigen Wert, sondern nimmt als sie tragenden Grund auf eine spezielle Werte-Ausprägungsform in Gestalt des Eigenwertes Bezug und verdichtet sich sodann in der Art einer Werte- und Eigenwerte-Zuspitzung zu dem allerhöchsten Wert an der Spitze der Werte-Pyramide. Die Würde ist damit ein Wert, aber eben nur und einzig der allerhöchste Wert, der – da an der Spitze stehend – etwaigen Verrechnungen mit anderen, auf niedrigeren Werte(pyramide)stufen stehenden Werten enthoben ist. Bei einem solchen Bedeutungsverständnis ist – entgegen der Wertekritik von Böckenförde18 – die Würde nicht durch Werte schutzlos gestellt, weil die Höchstrangigkeit, die „Höchstwertigkeit“ der Würde ihre Verrechnung mit und damit ihre Einschränkung oder gar Aufhebung durch andere(n), auf tieferer Schutzstufe stehende(n) Werte ausschliessen. 2. Die Suche nach Bedeutungsaspekten des Eigenwertbegriffs Der seinerseits in der Wertphilosophie bis heute umstrittene Begriff des Wertes – den der Wertobjektivismus und der Wertsubjektivismus mit unterschiedlichen Bedeutungsaspekten verbinden19 – wird (nach einem der vertretenen Bedeutungsverständnisse) als Ergebnis eines subjektiv-menschlichen Zumessungsaktes gesehen, welcher ausdrückt, was von den Teilen der Seinwirklichkeit für den Menschen von Bedeutung ist.20 Diese Beziehung, die der werte-zumessende Mensch zwischen sich und der Seinwirklichkeit herstellt, offenbart einen relationalen Aspekt des Wertebegriffs.21 Der Begriff des Eigenwertes deutet nun schon von seinem Wortbe17 

Siehe dazu Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke VII, 68. Siehe dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, 67 ff., 78, 88 ff.; siehe dazu instruktiv Kurt Seelmann, „Werte – zu Ursprung und Verwendung eines in der Ethik beliebten Begriffs“, in: Michael Fischer / Kurt Seelmann (Hgg.), Ethik im transdisziplinären Sprachgebrauch, Frankfurt a. M. 2008, 115 f. 19  Siehe zur Wertephilosophie sowie dem Wertobjektivismus und Wertsubjektivismus näher etwa Gerhard Luf, „Zur Problematik des Wertbegriffes in der Rechtsphilosophie“, in: Herbert Miehsler u. a. (Hgg.), Ius Humanitatis, Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, Berlin 1980, 127 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Kritik der Wertbegründung des Rechts. Überlegungen zu einem Kapitel ‚Rechtsphilosophie‘“, in: Reinhard Löw (Hg.), Festschrift für Robert Spaemann, Weinheim 1987, 1 ff.; John Leslie Mackie, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart, 1981, 11 ff.; Daniela Demko, „Werte in der Rechtsphilosophie“, ARSP Band 101, 2015, 226 ff. 20  Siehe dazu näher etwa Luf, in: Herbert Miehsler u. a. (Hgg.), 134 ff.: „Rückbezug auf den menschlichen Willen und seine Freiheit“ (S. 134), „durch einen faktischen Willensakt als verpflichtend gesetzt“ (S. 136); Böckenförde, in: Reinhard Löw (Hg.), 5 f.: „Das Individuum setzt und anerkennt Werte aus seiner subjektiven Entscheidungsfreiheit heraus … von sich aus und für sich einen Wert im Sinne einer positiven Bezogenheit beimißt“ (S. 5, Hervorhebung Demko); Seelmann, in: Fischer / Seelmann, Ethik, 111 ff.; Regina Binder, „Würde erster und zweiter Klasse? Überlegungen zur Forderung nach Anerkennung der Würde des Tieres aus tierschutzrechtlicher Sicht“, TIERethik 3 (2011), 33 f. 21  Siehe dazu die Angaben in der vorangehenden Fussnote; zudem Seelmann, in: Fischer /  Seelmann, Ethik, 112 f. 18 

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standteil „eigen“ her darauf hin, dass sich die Bedeutung des Eigenwertes allein aus dem Wertträger als solchem ergibt: Nicht die Relation zu einem wertenden Subjekt, sondern der Wertträger als solcher stellt den Bezugspunkt für den Eigenwertbegriff dar. In diesem Sinne wird der Eigenwertbegriff dem instrumentellen Wert gerade gegenübergestellt und etwa nach J. Baird Callicot sind „… ‚Eigenwert‘ und ‚nicht-instrumenteller Wert‘ zwei Bezeichnungen für das Gleiche“.22 Diese Gegensatzbedeutung des Eigenwertes zum instrumentellen Wert vertieft sich in der Ansicht von Taylor dahingehend, dass es für den Eigenwertbegriff allein auf einen Selbstbezug auf den Wertträger als solchen ankommt, nicht hingegen auf einen in irgendeiner Art über den Eigenwertträger hinausgehenden Relations-Bezug zu etwas Anderem oder zu einem Anderen.23 Mit Blick auf den angesprochenen Relations-Bezug einerseits und das „Eigen“ im Eigenwertbegriff andererseits ist hier aber in einer notwendig vorzunehmenden genaueren Betrachtung zwischen dem Entstehungsvorgang von Werten einerseits und dem Moment des Wertes als Entstandenem zu differenzieren: Folgt man (richtigerweise) dem Wertsubjektivismus, formt sich die Entstehung (oder unter Zugrundelegung des Wertobjektivismus zumindest die Anerkennung) von Werten stets in Relation zum Menschen aus, d. h. ohne ein wertezuschreibendes (oder zumindest werteanerkennendes) menschliches Subjekt gibt es für dieses keine (Eigen-)Werte.24 Jedoch kann der – die Werte zur Entstehung oder zumindest zur Anerkennung bringende – Mensch zugleich bestimmen, dass das Entstandene, das von ihm mit der Qualität eines Wertes ausgezeichnet wurde, diese Wertequalität allein um seiner selbst willen trägt (bzw. tragen soll), d. h. unabhängig von etwaigen dem Menschen dienenden, nützenden und instrumentellen Relationsbezügen: Das, was in seiner Entstehung (oder Anerkennung) hin zu einem Wert zwar in einer Relation zum Menschen stand, kann mithin als Entstandenes seitens des Menschen von einem menschlichen Relationsbezug befreit werden. Eben diese Loslösung vom Relationsbezug zum Menschen drückt sich im Eigenwert-Begriff aus, welche aber bei genauerer und richtiger Betrachtung keine Loslösung bezüglich des Entstehungsvorgangs, sondern eine Loslösung bezüglich des Entstandenen bedeutet. An dem Beispiel der Natur als eines Eigenwertes sei dies 22  J. Baird Callicot, „Eigenwert der Natur. Gedanken über Ethik und Pragmatik“, Natur und Kultur 4/2 (2003), 70 (Hervorhebung Demko): In eben diesem Sinne wird der Eigenwertbegriff – wenn auch in unterschiedlichsten Formulierungsweisen – als Gegenüber zum instrumentellen Wertbegriff und etwa von Callicot negativ definiert als „Gegensatz zum Nutzwert……: als der Wert, der übrig bleibt, wenn jeglicher Nutzwert entfernt worden ist……“ (S. 70, Hervorhebung Demko). 23  Dazu unter Bezugnahme auf Taylor sowie mit eigenen Ausführungen Rippe, Ethik im außerhumanen Bereich, 101 ff., wonach, wenn wir von dem Eigenwert sprechen, nicht anderen Menschen oder uns selbst eine respektvolle Behandlung der Eigenwertträger schulden, sondern wir schulden „es diesen, sie in respektvoller Weise zu behandeln …“ (S. 103, Hervorhebung im Original); zudem Rippe, TIERethik 3 (2011), 12: „Eigenwert ist … ein nicht-relationaler intrin­ sischer Wert“ (Hervorhebung Demko). 24  Siehe dazu bereits die Angaben in den Fussnoten 20 und 21.

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deutlich gemacht: Die Natur ist Teil der Seinswirklichkeit. Schreibt der Mensch dieser seinwirklichen Natur eine Wertequalität zu, so stellt sich zwar der entsprechende Werteentstehungsvorgang als ein menschlich-relationsbezogener dar. In diesem kann der Mensch aber zugleich mitvorgeben, dass die von ihm als Wert angesehene Natur allein um ihrer selbst willen, mithin als Eigen-Wert unter völliger Loslösung von etwaigen dem Menschen dienenden instrumentellen Relationsfunktionen zu schützen ist. Der Relationsbezug, der für die Entstehung von (Eigen-)Werten (jedenfalls nach dem Wertsubjektivismus) unabdingbar ist, schliesst also nicht aus, dass für das Entstandene dieser Relationsbezug gerade nicht gegeben ist bzw. sein soll. Dies hat wiederum zur Folge, dass es nur bezüglich dieses letzteren Aspekts des Entstandenen richtig ist, davon zu sprechen, dass sich der Eigenwertbegriff als ein Gegensatzbegriff zu einem auf etwas/jemand Anderes bezugnehmenden Relationswert ausformt. Es zeigen sich auf diese Weise drei verschiedene Bedeutungselemente des Eigenwertbegriffs. Das erste Bedeutungselement besagt: Der Wertträger, der Eigenwert hat, „zählt … moralisch um seiner selbst willen“25 und angesprochen ist hier die aufgezeigte Loslösung des Entstandenen von einem menschlichen Relationsbezug. Als ein in die „Moralgemeinschaft“26 aufgenommenes moralisches Schutzobjekt27 erlangt der Eigenwertträger einen moralischen Status in dem Sinne, dass ihm allein um seiner selbst willen eine „moralische(r) Berücksichtigungswürdigkeit“28 zukommt und dass sich in Folge in Bezug auf diesen moralisch zu berücksichtigenden Eigenwertträger die zu beantwortende und nach Begründung und Rechtfertigung verlangende Frage nach einer moralisch richtigen und moralisch falschen Behandlung stellt.29 Das zweite Bedeutungselement nimmt einen Richtungswechsel vor: Ist die Blickrichtung des ersten, den Eigenwert begründenden Bedeutungselements auf den Wertträger als moralisches Schutzobjekt gerichtet, so betrifft das zweite, die praktische Realisierung des Eigenwertschutzes ansprechende Bedeutungselement die Frage, von wem für den Fall einer Gefährdung oder Verletzung des Wertträgers die moralische Berücksichtigung des Eigen-Wertträgers zu erbringen ist und richtet sich damit an den moralischen Akteur. Es geht hier um eine normative Aussage in Ge25 EKAH, Die Würde der Kreatur bei Pflanzen, 7 (Hervorhebung Demko); siehe auch Wolf / Schaber, Analytische Moralphilosophie, 163. 26  Martin Gorke, „Die Vernichtung der biologischen Vielfalt als Herausforderung für eine holistische Ethiktheorie“, Natur und Kultur 4/2 (2003), 90 (Hervorhebung Demko). 27  Siehe dazu etwa Stan Rowe, „Eine Erd-Ethik für die Menschheit“, Natur und Kultur 1/2 (2000), 112 mit Bezug auf die Ökosphäre als das „bedeutendste moralische Objekt“ (Hervorhebung im Original). 28  Martin Gorke, „Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als Wegbereiterin einer holistischen Umweltethik. Gemeinsamkeiten und Unterschiede“, in: Michael Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph, Kusterdingen 2006, 267 (Hervorhebung Demko). 29  Siehe dazu auch etwa Mikael Stenmark, „Überblick über einige normative Ethik-Prinzipien von Biozentrismus und Ökozentrismus“, Natur und Kultur 5/2 (2004), 92 ff.

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stalt eines sich an die moralischen Subjekte richtenden normativen Achtungs- und Schutzappells, nach welchem der Mensch als hier gemeintes moralisches Subjekt für eben diese Achtung und den Schutz der Eigenwertträger zu sorgen hat. Betrachtet man diese beiden ersten Bedeutungselemente des Eigenwertes und hier für dessen Begründung den reinen Selbstbezug auf den jeweiligen Wertträger unter vollständiger Loslösung von einem Relationsbezug zu etwas oder jemand Anderem (und zwar hier, wie zuvor angeführt, mit Blick nicht auf die Entstehung, sondern auf das Entstandene), so zeigt sich als eine Folge ein weiteres drittes Charakteristikum des Eigenwertbegriffs in Gestalt einer begrifflich eröffneten grossen Weite der möglichen Eigenwertträger: Ist der Eigenwertbegriff ein Gegensatzbegriff zum instrumentellen Wert und ein Gegensatzbegriff zu einem auf etwas/jemand Anderes bezugnehmenden Relationswert und weist man den Eigenwertbegriff als einen Reduktions- und Verdichtungsbegriff auf das reine Selbst des jeweiligen Wertträgers aus, so können infolgedessen ein Jedes und Alles ein solcher Eigenwertträger sein. Versteht man den Eigenwert teleologisch im Sinne eines reinen Selbstbezugsbegriffs, der seine Begründung aus dem Eigen, dem Selbst von Etwas/Jemandem schöpft (bzw. genauer, der durch den werteschöpfenden Menschen diese Begründung zugeschrieben erhält), so ist der Eigenwertbegriff – im Gegensatz zum Würdebegriff, dessen Ideengeschichte seit jeher mit Ein- und Ausgrenzungen verbunden ist und der daher die Frage nach einer Verengung erfassbarer Würdeträger aufwirft – von einer Weite und Offenheit des Umfangs der von ihm erfassbaren Wertträger gekennzeichnet. Damit ist nicht gesagt, dass wir menschlichen Subjekte tatsächlich für ein Jedes und Alles einen Eigenwert anerkennen – dass wir dies gerade nicht tun, sondern den Eigenwertbegriff mit Beschränkungen belegen, zeigt sich im Zusammenhang mit den (nachfolgend dargestellten) anthropozentrischen, pathozentrischen und biozentrischen Ansichten. Jedoch, und dies ist hier entscheidend: Wir könnten dies tun, d. h. die im Gegensatz zum Würdebegriff bestehende begriffliche Weite und Offenheit des Eigenwertbegriffs als Folge seines teleologisch begründeten strengen Selbstbezugs liessen es zu, einen grösstmöglichen Umfang an unterschiedlichsten Wertträgern vom Eigenwertbegriff als erfasst anzusehen. 3. Erweiterungsstufen der Ethik mit Blick auf die Eigenwertträger: Die Moralgemeinschaften im Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Biozentrismus und Holismus Wie prägt sich der Eigenwertbegriff im Anwendungsbereich der Umweltethik konkret aus? Die Umweltethik mit ihren ungefähr 30–40 Jahren ist ein relativ junger Ethik-Bereich, der mit bedeutenden Einbrüchen in das traditionelle philosophische Nachdenken über das moralisch Richtige und Falsche einhergeht.30 Ange30 

Zu verschiedenen inneren und äusseren Gründen für die Erweiterungen des Kreises der Moralgemeinschaft siehe Martin Gorke, „Was spricht für eine holistische Umweltethik?“, Natur

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sprochen ist die zunehmende Erweiterung des moralischen Schutzkreises unter Aufnahme von Wertträgern in die Moralgemeinschaft, denen zuvor der Zugang strikt verschlossen war.31 Die in jüngerer Zeit zu beobachtende Ausweitung der Eigenwertträger über den Menschen hinaus auf nichtmenschliche Lebewesen und gar die Natur insgesamt wird mit eine Dynamik und Fortentwicklung in der Philosophie anzeigenden kraftvollen Ausdrücken – etwa mit einer „Evolution der Ethik“32 und den „Stufen der Ethik“33 – in Verbindung gebracht und es heisst, dass die „Natur als Gegenstand menschlicher Verantwortung … ein Novum in der ethischen Theorie“34 sei. und Kultur 1/2 (2000), 86 f.; ders., Natur und Kultur 4/2 (2003), 90 f.; Andreas Brenner, Umwelt Ethik, Ein Lehr- und Lesebuch, Freiburg/Schweiz, 2008, 118; Ott, Umweltethik, 24 ff.; siehe zudem instruktiv Regine Kather, Die Wiederentdeckung der Natur. Naturphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise, Darmstadt 2012, 203 ff.: „… nur wenn es gelingt, die Grenzen der Machbarkeit wieder in den individuellen Lebensentwurf zu integrieren, werden das Überleben und ein ethisch gutes Leben möglich sein “ (S. 204, Hervorhebung Demko). Weiter heisst es dort (S. 204) unter Bezug auf Spaemann, dass der „Prozess der naturwüchsigen Naturbeherrschung … an einem Punkt angelangt (ist), wo er sich gegen den Menschen selbst wendet … bewusste Erinnerung der natürlichen Voraussetzungen menschlicher Existenz“ (Hervorhebung Demko). Siehe zu letzterem mit weiteren instruktiven Ausführungen Robert Spaemann, „Natur. Zu Geschichte eines philosophischen Grundbegriffs“, in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Natur. Ein philosophischer Grundbegriff, Darmstadt 2010, 32 f. Hinzugefügt seien folgende Gedanken: Wurde das Können und auch moralische Dürfen eines Gestaltens und Verfügens des Menschen über die Natur, selbst wenn damit die Natur zerstörende Wirkungen einhergingen, aus einem lange vorherrschenden menschenzentrierten Selbstverständnis sowie aus einem den mit Vernunft und Moralfähigkeit ausgestatteten Menschen von Tieren, Pflanzen und der Natur abhebenden Blick heraus ursprünglich scheinbar nicht ernsthaft in Frage gestellt, so stellte sich – je mehr und je haltloser der Mensch von diesem seinem Selbstverständnis eines über die Natur Verfügen-Dürfens Gebrauch machte und damit immer mehr auch sich selbst und sein menschliches Leben in Gefahr brachte – dieses Selbstverständnis für den Menschen nun selbst in Frage. Um so grössere, ja globale und u.U. nicht mehr rückgängig machbare zerstörerische Folgen das Wirken des „Vernunftwesens Mensch“ auf die Natur – und damit auch, wie der Mensch bemerkte, auf den Menschen selbst – hatte und dem Menschen zeigte, dass er kein von der Natur Getrennter, sondern ein in die Natur Eingebundener ist, um so mehr trat nun die Natur als dem Menschen Einhalt-Gebietende und der menschlichen Formkraft Grenzen-Setzende in das Blickfeld des Menschen. Die Vernunft und Moralfähigkeit des Menschen, aus der heraus sich der Mensch zunächst Natureingriffe, und zwar noch dazu aus einem inneren Selbstverständnis heraus, gestattete, zeigten ihm nun die Grenze und das Gebot einer Umkehr seines menschlichen Auf-die-Natur-Einwirkens an: Die auf die Natur einwirkende menschliche Formkraft, die zu Beginn mit etwas „Gutem“ und Vernünftigem assoziiert wurde, offenbarte sich dem Menschen infolge des übertriebenen, grenzenlosen und missbräuchlichen Von-ihr-Verwendung-Machens und damit infolge einer vom Menschen gerade selbst erzeugten Naturzerstörung nunmehr in ihrer „schlechten“, weil naturvernichtenden Wirkung. 31  Dazu auch Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 90 f.; zur Frage der Ausweitungen siehe auch Rowe, Natur und Kultur 1/2 (2000), 113 f. 32 Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 90 (Hervorhebung Demko). 33  Klaus Michael Meyer-Abich, „Eigenwert der natürliche Mitwelt und Rechtsgemeinschaft der Natur“, in: Günter Altner (Hg.), Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, Stuttgart 1989, 260 (Hervorhebung Demko). 34  Hans Jonas, „Die Natur auf der moralischen Bühne. Überlegungen zur Ethik im techno-

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Die in jüngerer Zeit zu beobachtenden Erweiterungen des „Geltungsbereich(s) ethischer Normen“35 und die stufenweisen Ausweitungen der moralisch berücksichtigungswürdigen Eigenwertträger über den Menschen hinaus vollziehen sich in aufeinander aufbauenden konzentrischen Kreisen von Moralgemeinschaften,36 bezüglich derer heute üblicherweise vier Grundpositionen unterschieden werden:37 Im kleinsten Kreis der Moralgemeinschaften mit einem ausgeprägten menschenzentrierten Blick spricht der Anthropozentrismus allein dem Menschen Eigenwert zu.38 Eine direkte moralische Verpflichtung hat der Mensch als subjektiver Akteur nur gegenüber Menschen als eigenwerttragenden moralischen Schutzobjekten, während das menschliche Subjekt gegenüber nichtmenschlichen Lebewesen und der gesamten aussermenschlichen Natur nur indirekten Verpflichtungen unterliegt, nämlich nur dann und insoweit, als und soweit Menschen und menschliche Interessen in der Gefahr einer Beeinträchtigung oder Verletzung stehen. Als Anknüpfungspunkte für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit dienen hier die Vernunft und Moralfähigkeit des Menschen, dessen Personalität oder auch im Sinne eines Speziesismus das Menschsein als solches.39 In den über den kleinsten Moralgemeinschaftskreis des Anthropozentrismus hinausgehenden Kreisen dehnen sich die direkten moralischen Verpflichtungen des Menschen gegenüber der aussermenschlichen Natur zunehmend aus, wobei aber unterschiedlich beurteilt wird, welche Wesen und Bestandteile der Natur ausserhalb des Menschen aufgrund welcher Eigenschaften oder anderer für massgebend gehaltenen Anknüpfungspunkte in den Kreis der moralischen Schutzobjekte aufzunehmen sind: Die pathozentrische Umweltethik öffnet die Moralgemeinschaft unter Abstellen (etwa) auf die Fähigkeit, Freude und Leid empfinden zu logischen Zeitalter“, Evangelische Kommentare, Monatsschrift zum Zeitgeschehen in Kirche und Gesellschaft 6 (1973), 74 (Hervorhebung im Original). 35 Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 91. 36  Dazu näher etwa Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 91 f.; ders., Natur und Kultur 1/2 (2000), 87 f. 37  Siehe näher etwa Angelika Krebs, „Naturethik im Überblick“, in: dies. (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, 337 ff.; Gorke, Natur und Kultur 1/2 (2000), 87 ff.; Kirsten Meyer, Der Wert der Natur. Begründungsvielfalt im Naturschutz, Paderborn 2003, 74 ff.; Kather, Die Wiederentdeckung der Natur. Naturphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise, 205 ff.; Meyer-Abich, Eigenwert der natürliche Mitwelt und Rechtsgemeinschaft der Natur, 260 ff.; Wolf / Schaber, Analytische Moralphilosophie, 160 ff. 38  Siehe zum Anthropozentrismus die Literaturangaben in der vorangehenden Fussnote; siehe auch Brenner, UmweltEthik, 120 ff. 39  Für eine anthropozentrische Sicht ist etwa die Kantische Begründung des Tierschutzes zu nennen, nach welcher die Tierquälerei nicht wegen des Tierleides zu verurteilen sei. Vielmehr liege der Grund für die Verurteilung der Tierquälerei in der infolge dieser eintretenden Verrohung der Menschen, nach welcher ihnen ihr Mitleid und ihre Empathie in Bezug auf andere Mitmenschen genommen werden, siehe dazu Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke VIII, Frankfurt a. M. 1968, 578 f.; siehe dazu auch Gorke, Natur und Kultur 1/2 (2000), 87; Andreas Brenner, „Die Würde des Lebens. Vom Selbstsein der Tiere“, in: Margot Michel / Daniela Kühne / Julia Hänni (Hgg.), Animal Law – Tier und Recht, Zürich 2012, 56 f.

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können, auf das „Bewusstsein“ sowie das damit verbundene Interessen-Tragenkönnen über den Menschen hinaus für alle leidensfähigen bzw. bewusstseinsbegabten Naturwesen.40 Danach kommt vor allem höheren Tieren – und hier im Wesentlichen den Wirbeltieren – der Status eines moralischen Schutzobjekts zu, während man niederen Tieren und Pflanzen sowie biotischen Einheiten (z. B. Arten, Landschaften, Ökosystemen) mangels bewusster Empfindungsfähigkeit diesen moralischen Schutzstatus abspricht.41 Die auf Ähnlichkeiten speziell mit Menschen (wie es etwa die bewusste Schmerzempfindungsfähigkeit ist) oder auf eine speziell menschlich-emotionale Verbundenheit (wie sie zwischen Menschen und insbesondere höheren Tieren, wie Hunden, Katzen oder Menschenaffen besteht) abstellende Erweiterung des moralischen Schutzkreises, wie sie noch beim Pathozentrismus zu erkennen ist,42 wird im nächstgrösseren Kreis der Moralgemeinschaft in Gestalt des Biozentrismus aufgehoben und abgelöst durch eine menschliche wie alle nichtmenschliche Lebewesen einende Gemeinsamkeit in Form des Lebens an sich: Alle Lebewesen, d. h. neben Menschen auch alle Tiere, alle Pflanzen und alle weiteren niederen Organismen sind in den Schutzkreis der Moralgemeinschaft aufgenommen. Als Anknüpfungspunkte für diese biozentrische Moralgemeinschaft stellt man auf das Lebendig-Sein, den Lebensdrang und Lebenswillen – und zwar auch einen unbewussten –, auf einen damit verbundenen erweiterten Interessensbegriff und auf das infolge dieses Lebendig-Seins zugleich auch Subjekt-Sein von Zwecken ab.43 Der Holismus eröffnet den umfassendsten Kreis moralischer Schutzobjekte und schliesst in die Moralgemeinschaft zusätzlich zu den bereits von den vorgängig genannten Ethikgrundformen erfassten Moralobjekten, d. h. zusätzlich zu allen individuellen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen auch zum einen unbelebte Materie und zum anderen Systemganzheiten ein, d. h. überorganis­mische Ganzheiten wie Arten, Ökosysteme und die Biosphäre.44 Nicht als eine nur sog. 40  Siehe zum Pathozentrismus die Literaturangaben unter Fn. 37; zudem Brenner, Umwelt­ Ethik, 124 ff.; Konrad Ott, „Zum Verhältnis von Tier- und Naturschutz“, in: Andreas Brenner (Hg.), Tiere beschreiben, Erlangen 2003, 125 ff. 41  Siehe dazu bereits Daniela Demko, „Kreatürliche Würde als Achtung der Lebenswürde und deren spezifische Ausformung für die Würde des Tieres“, in: Angela Cavallo u. a. (Hgg.), Liber amicorum für Andreas Donatsch. Im Einsatz für Wissenschaft, Lehre und Praxis, Zürich, Basel, Genf 2012, 650 ff.; Ott, in: Brenner (Hg.), 125 ff. 42  Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 650 ff. 43  Siehe dazu etwa Dietmar von der Pfordten, Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, Reinbek 1996, 133 ff.; Gorke, Natur und Kultur 1/2 (2000), 88; Brenner, UmweltEthik, 126 ff.; Rippe, Ethik im außerhumanen Bereich, 99 ff.; Callicot, Natur und Kultur 4/2 (2003), 74. 44  Zusätzlich zu der in Fn. 37 aufgeführten Literatur siehe etwa auch Martin Gorke, Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, Stuttgart 2010, insbesondere 33 ff.; ders., Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, Stuttgart 1999; Brenner, UmweltEthik, 129 ff.; Meyer, Der Wert der Natur. Begründungsvielfalt im Naturschutz, 82 ff.; Dirk Lanzerath, „Der Wert der Biodiversität: Ethische Aspekte“, in: Dirk Lanzerath/Jens Mutke u. a.,

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ganzheitliche Umweltethik beschränkt sich der Holismus allein auf Systemganzheiten, sondern als eine pluralistisch und umfassend verstandene sog. „Ethik der uneingeschränkten moralischen Berücksichtigung“45 fliessen alle Teile und zugleich das Ganze der Seins-Existenz in den Kreis moralischer Schutzobjekte ein. 4. Die Begründung eines holistischen Eigenwertbegriffs und die Grundlinien seiner Begründungsstruktur Im Unterschied zum Anthropozentrismus, Pathozentrismus und Biozentrismus, denen nicht die Teilhabe an der Seins-Existenz als solche (d. h. das Dass der Teilhabe an der Seins-Existenz) genügt, sondern die ihre ethischen Sollensvorstellungen zur Aufnahme in die Moralgemeinschaft stets an zusätzliche spezielle Ausformungen eines Wie im Sinne einer bestimmten Art der Seins-Teilnahme anbinden – sei es in Gestalt der Vernunft des Menschen, der bewussten Empfindungsfähigkeit oder eines inneren Lebenswillens –,46 knüpft der Holismus nur an das für alle Moralkonzepte unabdingbare Mass an Ontologie, nämlich das Dass der Teilhabe an der Seins-Existenz an: Der Holismus weist sich so als das Moralkonzept mit den voraus­ setzungsschwächsten Kriterien zur Aufnahme in die Moralgemeinschaft aus.47 Neben den vom Holismus gegen die anderen Moralkonzeptionen angeführten Kritikpunkten – in Gestalt der Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse und der Gefahr der Willkür bei der Auswahl von als entscheidend angesehenen Seins-Merkmalen zur Aufnahme oder Nichtaufnahme in den moralischen Schutzkreis48 – macht der Holismus weitere Gesichtspunkte für sich geltend, die für eine umfangreiche Öffnung des Eigenwertbegriffs für Jedes und Alles der Seins-Existenz sprechen: Diese den Holismus begründenden Gesichtspunkte bringen in der Philosophie anerkannte Grundleitlinien in Gestalt von Verallgemeinerbarkeit, Universalität und Egalität zum Vorschein,49 wobei das holistisch denkende Weltbild zudem vom und einschliesslich des Ganzen hin zu seinen Teilen sowie zugleich von den Teilen des Ganzen hin zum Ganzen selbst reicht. Es sind nicht bestimmte besondere ontologische Annahmen einer Seins-Existenz (wie die Vernunft des Menschen Biodiversität, hrsg. vom Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, Freiburg im Breisgau, München 2008, 188 ff. 45 Gorke, Natur und Kultur 1/2 (2000), 88 (Hervorhebung Demko); vgl. zudem umfassend Klaus Michael Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München, Wien 1984. 46  Dazu im Einzelnen Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 96 f.: „zusätzliche ontologische Prämissen … ganz bestimmten Eigenschaft ……“ (Hervorhebung Gorke). 47  Dazu im Einzelnen Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 96 f.: „sparsamste, weil annahmeschwächste Version“ (S. 97) verbunden mit dem Hinweis auf Ockhams Sparsamkeinsgrundsatz; ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 39 ff. 48  Dazu etwa Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 97; siehe auch ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 57 ff. 49  Dazu auch Gorke, Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 36 ff., 115 ff.; ders., Natur und Kultur 4/2 (2003), 95 f.; ders., Natur und Kultur 1/2 (2000), 92 f.

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oder die Empfindungsfähigkeit), sondern in einer bevorzugten ontologischen Zurückhaltung 50 unter Abstellen auf das Dass der Seinsexistenz wird mit Blick auf die ethischen Grundleitlinien der Verallgemeinerbarkeit, Universalität und Egalität unter Anlehnung an Tugendhats Unterscheidung zwischen einem egoistischen und moralischen Menschen der „moralische Standpunkt“51 an sich mit seinem universalen Charakter an den Anfang holistischen Denkens gesetzt.52 Dies hat zur Konsequenz, dass ein solchermassen moralischer Mensch mit Blick auf die Suche nach eigenwerttragenden Schutzobjekten nur vertreten kann, dass einem Jedem und Allem der Seins-Existenz ein solcher Eigenwert zukommt. Würde er hingegen eine Auswahl treffen, nach der nur bestimmte Teile oder Ganzheiten in den moralischen Schutzkreis fallen und andere nicht, brächte ihn bereits dieses Wählerisch-Sein in den Denkkreis des Egoisten zurück und er hätte den moralischen Standpunkt mit seinem egalitären und universalen – und das heisst ein Jedes und Alles einschliessenden – Charakter bereits verlassen.53 Neben dem Bezug auf Tugendhat begründen Holisten die ethische Grundleit­ linie der Verallgemeinerbarkeit zudem unter Berufung auf Kant und hier mit Hilfe einer Erweiterung seines Kategorischen Imperativs: Danach ist nicht nur so zu handeln, dass die Menschheit, sondern über den Menschen hinausgehend, dass alles und jedes Seiende niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck gebraucht werden.54 Das holistische Instrumentalisierungsverbot schliesst die Seins-Existenz in ihrer Ganzheit und ihren individuellen Teilen ein, wobei – was es zu betonen gilt – die egalitäre Aufnahme des Jedes und Alles der Seins-Existenz in den moralischen Schutzkreis nicht automatisch auch eine vollständige Gleichbehandlung dieses Jedes und Alles bedeutet:55 Geht es auf der hier im Zentrum stehenden ersten Stufe um die Bestimmung, wer oder was Eigenwert hat, d. h. um die Eröffnung des moralischen Schutzkreises, so betrifft die sich anschliessende zweite Stufe die Frage, wie sich im Falle von Konflikten und Kollisionen zwischen den verschiedenen Eigenwertträgern deren Behandlung zu vollziehen hat. Die holistische Perspektive ist bestrebt, den Kreis der Eigenwertträger, d. h. die erste Stufe der Eröffnung des Status als moralisches Schutzobjekt umfassend zu gestalten, da andern50  Dazu näher Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 97: „ontologische Sparsamkeit“ (S. 97); ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 39 ff. 51 Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 95, siehe dazu näher 95 ff.; zudem ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 36 ff. 52  Siehe dazu Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1994, 93 ff.; Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 95 f.; ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 36 ff. 53  Eingehend dazu Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 95 f.; ders., Natur und Kultur 1/2 (2000), 92 f. 54  Dazu ebenso Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 98; ders., Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, 111 ff.; vgl. zudem Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 88 f. 55  Siehe zu dieser Unterscheidung auch Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 98.

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falls – wie es bei den anderen Moralkonzeptionen der Fall ist – bestimmte Teile oder Ganzheiten mangels Aufnahme in den moralischen Schutzkreis von vornherein keine Beachtung auf der zweiten Stufe finden, einen „blinden Fleck“ für die menschlichen Subjekte bedeuten und daher auch keinen hinreichenden Schutz geniessen würden. Führen die vorgängigen Darlegungen bedeutende Gewichte für eine holistische Begründung des Eigenwertcharakters an, so verstärken sich diese durch das teleologische Verständnis des Eigenwertbegriffs: Der Eigenwertbegriff mit seiner grossen begrifflichen Weite und Offenheit für die von ihm erfassten Wertträger ist ein Begriff, dem im Gegensatz zum Würdebegriff ein Ein- und Ausgrenzungscharakter teleologisch nicht immanent ist und welcher ganz im Sinne der holis­tischen Perspektive einem Jedem und Allem der Seins-Existenz moralische Berücksichtigungswürdigkeit zuerkennt.56 5. Zwischenergebnis zum „Eigenwert der Natur“ Ergebnis eines solchen die Seins-Wirklichkeit in ihrer Ganzheit und ihren Teilen erfassenden Blicks ist es zum Ersten, bei der Rede vom „Eigenwert der Natur“ einen holistischen Eigenwertbegriff der Natur zugrunde zu legen. Zum Zweiten führt ein die Seins-Wirklichkeit in ihrer Ganzheit und ihren Teilen erfassender Blick zu einer Umweltethik, die sich nicht mehr als eine sich um den Menschen als das Zentrum anordnende Um-Weltethik, sondern die sich mit Bezug auf den hier erörterten Eigenwertbegriff als eine – und zwar nicht nur begriffliche, sondern auch inhaltlich-wertgetragene – holistische Mit-Weltethik57 ausformt.

II. Die „Würde“ und ihr Bedeutungsverhältnis zum Eigenwertbegriff 1. Der Würdebegriff und sein Ein- und Ausgrenzungscharakter in der Ideengeschichte Ist neben dem „Eigenwert der Natur“ auch von der „Würde“ die Rede, so spricht dies zugleich die Frage nach dem Bedeutungsverhältnis zwischen dem Eigenwert und der Würde mit an.58 Legt man den Gedanken zugrunde, dass die „Würde“ nicht als ein Gegensatz zum „Wert“, sondern selbst als ein „Wert“ zu verstehen ist und sich hier auf den Eigenwert als Bedeutungsbasis gründet, so nimmt der Würdebegriff 56 

Siehe dazu bereits näher unter I. 2. am Ende der dortigen Ausführungen. Siehe zur „Mitwelt“ eingehend und instruktiv Klaus Michael Meyer-Abich, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, München 1990, hier u. a. die Ausführungen auf 85, 89, 91; siehe auch Fridolin Stähli, „Meditationen über Steine – Eine holistische Perspektive“, Natur und Kultur 2/2 (2001), 99: „Welt als Mitwelt und nicht nur als Ressourcen spendende Umwelt“. 58  Siehe dazu bereits unter I. 1. und 2. 57 

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an Bedeutungselementen des Eigenwertbegriffs teil. Möchte man den Würdebegriff einerseits zwar als auf den Eigenwertbegriff gestützt wissen, den Würdebegriff aber andererseits nicht als völlig identisch mit dem Eigenwertbegriff, sondern als einen auf einer höheren Ebene verdichteten und speziellen Eigenwertbegriff verstehen, so bleibt zu beantworten, bei welchem der Bedeutungselemente eine Unterscheidung zwischen beiden Begriffen sichtbar ist: Als gemeinsame Bedeutungselemente lassen sich die beiden ersten (oben genannten59) Charakteristika des Eigenwertbegriffs erkennen, d. h. der sich auf den Wert- und Würdeträger als moralisches Schutzobjekt konzentrierende Selbstbezugscharakter sowie die sich an den Menschen als moralisches Subjekt richtende normative Achtungs- und Schutzverpflichtung. Bezüglich des dritten Charakteristikums des Eigenwertbegriffs ist – betrachtet man die ideengeschichtliche Verwendung des Würdebegriffs – jedoch eine Unterscheidung zwischen beiden Begriffen zu erkennen, die mit dem einmal nicht vorhandenen und das andere Mal vorhandenen Ein- und Ausgrenzungscharakter beider Begriffe zusammenhängt. Beim Eigenwertbegriff zeigte sich, dass sich mit dessen Selbstbezugscharakter die teleologisch begründete Folge einer begrifflichen Offenheit und Weite und damit die Aufnahme eines Jedes und Alles in den moralischen Schutzkreis verbindet. Im Unterschied dazu zeigt die Ideengeschichte des Würdebegriffs einen Ein- und Ausgrenzungscharakter, eine stets gewollte Heraushebung von etwas Höchstbesonderem, das es durch den Würdebegriff zu schützen gilt.60 Zu erkennen ist, wenn von der Würde gesprochen wird, immer ein Verdichtungs-, ein Konzentrationscharakter, wonach nicht Alles und Jedes, sondern aus diesem nur bestimmtes Ausgewähltes vom Würdebegriff erfasst sein sollte, wobei im Laufe der Ideengeschichte jeweils unterschiedlich beurteilt wurde, „wer“ und „was“ zu diesem Auserwählten gehörte und nicht gehörte. Diese sich auf die Würdeträger beziehende Eingrenzung und Ausgrenzung,61 die mit dem Würdebegriff einhergehen, sind ideengeschichtlich in verschiedenen Schritten der früheren und heutigen Verwendung des Würdebegriffs sichtbar und form(t)en sich in unterschiedlicher Weise und in Abhängigkeit davon aus, welche Anknüpfungspunkte jeweils gewählt wurden, um den Würdebegriff mit Inhalt zu füllen.62

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Siehe dazu unter I. 2. dazu auch Kurt Seelmann, „Rang und Würde“, in: Isabell Götz u. a. (Hgg.), Familie – Recht – Ethik, Festschrift für Gerd Brudermüller zum 65. Geburtstag, München 2014, 772 f., 775. 61  Siehe auch Schaber, Menschenwürde, 13: „bestimmte Wesen als Träger von Würde ausweist“ (Hervorhebung Demko). 62  Siehe zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs etwa Kurt Bayertz, „Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien“, ARSP (1995), 465 ff.; vgl. zudem Nikolas Knoepffler, „Würde – Eine semantische Untersuchung“, in: Peter Kunzmann / Sabine Odparlik (Hgg.), Gentechnik – Pflanzen, Tiere und das Humane, Würzburg 2011, 63 ff. 60  Siehe

„Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik

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a) Der Ein- und Ausgrenzungscharakter beim Menschenwürdebegriff Ein Blick weit in die Geschichte hinein zeigt, dass der Würdebegriff mit einer Rangposition und damit mit einem Ranggefälle einherging, wonach der Würdebegriff sich auf eine besondere Ehrenstellung, einen gehobenen Rang eines Menschen in der sozialen Hierarchie bezog.63 Die spätere Loslösung des Würdebegriffs von Ehre und Rang ermöglichte zwar eine erweiternde Bezugnahme des Würdebegriffs nunmehr auf alle Menschen aufgrund ihres Mensch-Seins an sich. Doch auch hier stellten sich Ein- und Ausgrenzungsfragen, wenn – etwa mit Kant – für den Menschenwürdebegriff nunmehr auf die Autonomie des Menschen abgestellt wird.64 Die sich auf den Vernunftbegriff stützenden Eingrenzungen des Menschenwürdebegriffs auf vernunftbegabte Wesen waren in verschiedenen geschichtlichen Etappen sichtbar: So bereits in der Stoa mit ihrer Wertform der axioma, die sich auf vernünftige Personen bezog, und ebenso bei Cicero, der die Würde des Menschen mit seiner Vernunftbegabung verband.65 Einen ähnlichen Zugang finden wir in der Hochscholastik bei Thomas von Aquin, welcher Würde und Gottesebenbildlichkeit verknüpft und letztere auf die Eigenschaft des Menschen in Gestalt seiner Willensfreiheit stützt.66 Bei Kant sind es Vernunftwesen, welche Würde haben und die Menschenwürde verstanden als Personenwürde findet ihren Grund in der Autonomie von Personen.67 Als an die würdeverleihende Eigenschaft der Autonomie anknüpfend lassen sich in Orientierung an Kant auch Ansichten nennen, die etwa an die Fähigkeit des Menschen zu einem Handeln nach eigenen Gründen (Herman) oder an die Willensfreiheit und die Fähigkeit zur Selbstidentifikation (Tiedemann) oder an die Fähigkeit zur Kontrolle des eigenen Verhaltens und der Bestimmung geeigneter Mittel für die eigenen Zwecke (Gewirth) anknüpfen.68 Dieser autonomieorientierte Menschenwürdebegriff wird von anderen Stimmen als zu eng kritisiert. In einem geforderten erweiterten Menschenwürdeverständnis stehen etwa Bestrebungen, den Kreis von Menschenwürdeträgern mit Hilfe des Rückgriffs auf die Selbstachtung eines Menschen zu vergrössern: In Fällen von Demütigung und Erniedrigung werde der Mensch nach Ansicht von Margalit in seiner Selbstachtung und nach Ansicht von Stoecker in seinem „Anspruch, ein 63 

Dazu auch Seelmann, Rang und Würde, 771 f. Zu damit verbundenen Folgeproblemen siehe bereits die Hinweise bei Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 659 Fn. 58 und 664 f. 65  Peter Schaber, Menschenwürde, Stuttgart, 2012, 21 f., siehe dort zudem die instruktiven Ausführungen zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs 19 ff.; vgl. zudem Spaemann, Das Natür­liche und das Vernünftige, 86. 66  Dazu näher Schaber, Menschenwürde, 23 f. 67  Dazu näher Schaber, Menschenwürde, 39 ff. 68  Siehe im Einzelnen Barbara Herman, The Practice of Moral Judgement, Cambridge 1993, 228: „capacity to act for reasons all the way down“; Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt, 2006, 92 ff.; Alan Gewirth, The Community of Rights, Chicago 1996, 66; dazu auch Schaber, Menschenwürde, 60 f., 62 f. 64 

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eigenes Selbst sein zu können“,69 verletzt.70 Einen noch grösseren Würdeträgerkreis versucht Martha Nussbaum zu eröffnen, indem sie die Menschenwürde an typische menschliche Eigenschaften anbindet, zu welchen nicht nur die autonomiebezogene Fähigkeit zur „rationalen Selbstbestimmung“,71 sondern auch z. B. die Fähigkeit zum Sich-Emotional-Verbundenfühlen mit anderen Menschen zählen.72 In einem weiteren Vergrösserungsschritt wird zudem (etwa von Spaemann73) die würdeverleihende Eigenschaft in der Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ gesehen und infolgedessen sind zwar alle biologisch zur Menschheitsfamilie gehörende Wesen,74 d. h. alle Menschen, nicht aber nichtmenschliche Lebewesen in den Würdeträgerkreis aufgenommen. b) Der Ein- und Ausgrenzungscharakter beim Begriff der kreatürlichen Würde Zeigen sich bereits für den Menschenwürdebegriff unterschiedlichste Ein- und Ausgrenzungsansätze mit Bezug auf einen den Menschen einbeziehenden Schutzkreis, so stellen sich weitere Ein- und Ausgrenzungsfragen im Verhältnis zu nichtmenschlichen Lebewesen und der Natur insgesamt. Deutlich wurde dies schon im Würdebegriff der Renaissance, der sich noch nicht einem Würdeschutz gegenüber (anderen) Menschen, sondern einer Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier widmete.75 Aber selbst bei den in jüngster Zeit in der Bio- und Umweltethik sichtbaren Bemühungen, den Würdebegriff für nichtmenschliche Lebewesen zu öffnen, zeigen sich sogleich erneut Ein- und Ausgrenzungsansätze, wonach (zumindest in der praktischen Umsetzung76) doch nicht per se allen Tieren, Pflanzen und anderen Organismen und erst recht nicht der Natur insgesamt ein Würdeschutz zuerkannt ist: Ist man schon generell zurückhaltend, den traditionell auf den Menschen bezogenen Würdebegriff auf Tiere und Pflanzen auszuweiten, so ist die Schweiz mit ihrem in die Bundesverfassung aufgenommenen Begriff der 69 Schaber, Menschenwürde, 65 (Hervorhebung Demko).

70  Siehe dazu Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge 1996, 126 ff.; Ralf Stoecker, „Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung“, in: Ders. (Hg.), Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff, Wien 2003, 133 ff., insbesondere 141 ff.; dazu auch Schaber, Menschenwürde, 64 ff. 71 Schaber, Menschenwürde, 59. 72  Im Einzelnen siehe Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge 2006, 76 ff.; siehe auch Schaber, Menschenwürde, 59 f. 73  Siehe im Einzelnen Robert Spaemann, „Gezeugt, nicht gemacht. Die verbrauchende Embryonenforschung ist ein Anschlag auf die Menschenwürde“, in: Christian Geyer (Hg.), Bio­ politik. Die Positionen, Frankfurt a. M. 2001, 49: „…zu einer menschlichen Familie und so zur Menschheitsfamilie, die eine Personengemeinschaft ist. Es gibt nur ein zulässiges Kriterium für menschliche Personalität: die biologische Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie“. 74  Dazu auch Schaber, Menschenwürde, 72 ff. 75  Dazu auch Seelmann, Rang und Würde, 772. 76  Siehe dazu auch im Zusammenhang mit dem schweizerischen Tierschutzgesetz bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 650 ff.

„Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik

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kreatürlichen Würde (Art. 120 chBV) zwar einen vorbildlichen Schritt nach vorn gegangen.77 Jedoch selbst in diesem den Würdeträgerkreis erweiternden Würdebegriff der Kreaturwürde sind Ein- und Ausgrenzungen enthalten, was wiederum – wie schon in den geschichtlich früheren Würdebegriffsverwendungen – zu bestätigen scheint, dass mit dem Würdebegriff im Unterschied zum Eigenwertbegriff nicht eine unbeschränkte Weite und Offenheit für Jedes und Alles als Wertträger, sondern vielmehr eine Verdichtung und Einengung auf bestimmte als „höchstbesonders“ angesehene Eigenwert- und damit Würdeträger mitausgesprochen werden sollen. Den Würdebegriff mit dem Begriff „Kreatur“ verbindend – und hierbei Bezug nehmend auf die vom Wortsinn (lateinisch creare: schaffen, erschaffen) und vom christlichen Weltbild geprägte Bedeutung von der Kreatur als von Gott Erschaffenem oder von der Natur Kreiertem – liessen sich anknüpfend an den Holismus an sich ein Jedes und Alles des in die Seins-Existenz Gerufenen als Bezugsobjekt für die Würdezuschreibung denken.78 Jedoch sollte ein solchermassen weites Bezugsobjekt von dem in die Bundesverfassung eingeführten Begriff der kreatür­lichen Würde nicht erfasst sein, sondern vielmehr nur ein Ausschnitt, nur ein Teil von diesem: (Erstens) nur das lebendige Sein unter Ausgrenzung von unbelebter Materie und in weitergehenden ein- und ausgrenzenden Schritten (zweitens) nur individuelle lebende natürliche Einheiten unter Ausgrenzung von Systemganzheiten und der Natur insgesamt und zudem (drittens) nur bestimmte Kategorien von individuellen Lebewesen soll der kreatürliche Würdebegriff erfassen.79 Ist der Mensch aus dem Kreaturwürdebegriff ausgeschlossen, so besteht des Weiteren betreff des in den Kreaturwürdebegriff Einzubeziehenden Einigkeit nur in Bezug auf Tiere und Pflanzen, während hinsichtlich bestimmter anderer Organismen weniger Einigkeit zu verzeichnen ist.80 Deutlich zu erkennen ist: Der Holismus und der Anthropozentrismus sind nicht diejenigen Positionen, die als Telos hinter dem verfassungsrechtlichen Kreaturwürdebegriff stehen.81 Auch der Pathozentrismus – obwohl dieser in der Umsetzung des Verfassungsartikels, nämlich im schweizerischen Tierschutz77  Zu Begriff und Bedeutung der Würde der Kreatur und sich damit im Zusammenhang stellenden Fragen siehe etwa Philippe Tobler, Würde der Kreatur?, Universität Bern, Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie, Institut für Psychologie, Herbst 1994, 4 ff.; ­K noepffler, in: Kunzmann / Odparlik (Hgg.), Gentechnik – Pflanzen, Tiere und das Humane, 71 ff.; Marcus Düwell, Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche, Stuttgart, Weimar 2008, 111 ff.; siehe zudem die Buchbeiträge in Alberto Bondolfi/Walter Lesch / Daria Pezzoli-Olgiati (Hgg.), „Würde der Kreatur“. Essays zu einem kontroversen Thema, Zürich 1997; Gotthard M. Teutsch, Die „Würde der Kreatur“. Erläuterungen zu einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern, Stuttgart, Wien 1995; Philipp Balzer / Klaus Peter Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg, München 1998. 78  Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 648. 79  Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 648 f. mit weiteren Nachweisen. 80  Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 648 f. mit weiteren Nachweisen. 81  Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 649 mit weiteren Nachweisen.

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gesetz, sehr relevant ist – wird nicht als Grundlage des kreatürlichen Würdeverständnisses angesehen. Vielmehr ist es der Biozentrismus, der sich als entscheidender Ansatzpunkt für die Auslegung des kreatürlichen Würdebegriffs durchgesetzt und für welchen die Frage nach dem Lebensbegriff 82 eine entscheidende Rolle eingenommen hat.83 Bevor wir uns der Begründung eines solchen biozentrischen Würdebegriffs zuwenden, sei auf einen Gesichtspunkt hingewiesen, den es im Verhältnis zwischen einem weiten holistischen Eigenwertbegriff und einem enger zu verstehenden biozentrischen Würdebegriff zu beachten gilt: Möchte man den Eigenwert- und den Würdebegriff nicht identisch setzen, sondern deren Verschiedenheit betreff eines unbegrenzten bzw. begrenzenden Charakters im Blick behalten, so bedeutet die Konzentration des Würdebegriffs auf nur bestimmte Eigenwertträger, die dann auch Würdeträger sein sollen, auf der Grundlage zum Ersten des hier vertretenen Herleitungszusammenhangs zwischen Eigenwert und Würde und zum Zweiten des hier vertretenen holistischen Eigenwertbegriffs keine moralische Schutzlosstellung der übrigen Eigenwertträger, die nicht in den Würdebegriff aufgenommen sind. D.h. selbst dann, wenn man für den Würdebegriff nicht die holistische Sicht befürwortet und damit den Würdeträgerkreis enger als den Eigenwertträgerkreis fasst, führen zum einen die Herleitung der Würde aus dem Eigenwert und zum anderen der holistische Eigenwertbegriff in ihrem Zusammenwirken dazu, dass die nicht vom engeren Würdebegriff, jedoch vom weiteren Eigenwertbegriff erfassten Wertträger als moralische Schutzobjekte in die Moralgemeinschaft aufgenommen sind und der Mensch mithin ihnen und ihrem Schutz direkte moralische Verpflichtungen entgegenzubringen hat. 2. Die Begründung eines biozentrischen Würdebegriffs Hat die Ideengeschichte des Würdebegriffs dessen Ein- und Ausgrenzungscharakter gezeigt und möchte man diesen als Unterscheidungsmerkmal zum Eigenwertbegriff beibehalten, was – dies sei nochmals betont – nichts an dem Herleitungsverhältnis zwischen Würde und Eigenwert ändert, so fragt sich, welches Kriterium als das moralisch richtige erscheint, um Jemanden oder Etwas in den Würdeschutz des Höchstbesonderen aufzunehmen oder eben nicht. Was ist uns von einer solchermassen grossen Kostbarkeit, dass wir es als heilig und unantastbar mit dem höchsten Schutzniveau verbunden wissen möchten? Und wie eng und wie weit wollen und sollten wir, die wir Vieles in unserem Leben als kostbar und schützenswert empfinden, bei der Bestimmung des normativen und auf höchster Stufe liegenden Würdeschutzes gehen?

82  83 

Zum Lebensbegriff siehe unter II. 2. (b.). Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 647 ff. mit weiteren Nachweisen.

„Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik

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a) Der Würdebegriff im Spannungsverhältnis zwischen Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Biozentrismus und Holismus Die Kritik an einem als zu eng angesehenen autonomiebezogenen Menschenwürdebegriff einerseits, die nicht nur nach Erweiterungen des Würdeträgerkreises für den Menschenwürdebegriff, sondern auch für einen über menschliche Lebewesen hinausreichenden Würdebegriff sucht, sowie die Bedenken andererseits, dass die Sensibilität der Menschen für ihre sie gleichordnende Einbettung in die Natur als „vernunftbegabte Naturwesen“ derzeit noch nicht soweit reicht, einen Würdebegriff anzunehmen, der sich auf die gesamte Natur in ihrer Individualität und Ganzheit erstreckt, lassen erkennen, dass sich weder ein anthropozentrischer noch ein holistischer Würdebegriff als gegenwärtig zu bevorzugender erweisen: Einerseits scheint die Zeit eines anthropozentrischen, den Menschen ins Denkzentrum stellenden Würdebegriffs aufgrund verschiedenster Ablösungsansätze vom bisherigen traditionellen Menschenwürdeverständnis in einer Umwandlungs- und Öffnungsphase hin zu Erweiterungen des Würdeverständnisses begriffen. Andererseits scheint die Zeit für ein holistisches Würdeverständnis – welches aber jedenfalls für die Zukunft erforderlich ist – derzeit noch nicht vorzuliegen, sehen wir uns nur den gegenwärtigen zerstörerischen Umgang der Menschen mit den nichtmenschlichen Naturwesen und der Natur insgesamt an, wobei es den Menschen zudem häufig an bewusster Reflexion, Feingefühl und einem Verstehen-Wollen des Zusammenhängens eines Jeden mit Allem fehlt, was oft erst bei globalen Umweltkrisen und auch hier erst bei entsprechenden menschlichen Betroffenheiten wieder ins Bewusstsein und in die Diskussionen der Menschen rückt.84 Zudem zeigt die Kritik daran, für den sich zwar auf nichtmenschliche Lebewesen erstreckenden Würdebegriff im Ergebnis doch wieder den Menschen und hier menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften oder menschlich-emotionale Verbundenheiten als Massstab zu setzen – wie es bei einer pathozentrischen Sicht der Fall ist –, dass sich auch ein pathozentrisches Würdeverständnis als ein zu enges erweist.85 In diesem Spannungsverhältnis zwischen einem zu engen anthropozentrischen und pathozentrischen und einem zu weiten holistischen Würdeverständnis scheint sich unter Loslösung von speziell menschenbezogenen Kriterien als gegenwärtig moralisch geeignetes und sinnvoll erscheinendes Würdeverständnis ein biozentrisches Würdeverständnis zu entwickeln, welches aber zumindest zukünftig zu einem holistischen Würdeverständnis weiterentwickelt werden sollte. Mit diesem biozentrischen Würdebegriff gelangt die wichtige Frage nach dem Begriff von Leben und Lebendigsein ins Blickfeld. Die Beschäftigung mit dem Leben und dem Lebendigsein rückt bei vielzähligen gegenwärtigen philosophischen Fragestellungen 84  Zu inneren und äusseren Gründen von Erweiterungsbestrebungen des Kreises an moralischen Schutzobjekten und hier u. a. zu globalen Umweltkatastrophen siehe etwa näher Gorke, Natur und Kultur, 1/2 (2000), 86 f. 85  Dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 650 ff. mit weiteren Nachweisen.

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ins Zentrum, denken wir etwa an philosophische Anwendungsbezüge im Zusammenhang mit der PID, der Gentechnik oder im Bereich der life sciences mit dem Forschungsgebiet der synthetischen Biologie.86 Die Begriffe des Lebens und des Lebendigseins sind aber nicht erst jüngst in der Philosophie als Untersuchungsgegenstand entdeckt, sondern sie spielen seit jeher und bei zahlreichen Philosophen, wenn auch jeweils in anderer Ausgestaltung, eine grosse Rolle, und zwar auch betreff der Frage, was uns von Wert und Kostbarkeit ist. Der nachfolgende Einblick in die ideengeschichtliche Entwicklung des Lebensbegriffs in der Philosophie, auf welche im Rahmen dieses Beitrages nur in Bezug auf einige ihrer Grundzüge eingegangen werden kann, vermittelt uns eine interessante und wichtige Stütze dafür, den Begriffen von Leben und Lebendigsein eine massgebende Bedeutung auch für die Bestimmung des Würdebegriffs und damit für die Ausformung eines biozen­ trischen Würdebegriffs zuzumessen. b) Das „Lebendig-Sein“ in der Ideengeschichte der Philosophie sowie der Bio- und Umweltethik Mit verschiedenen Erklärungsvorschlägen versuchten und versuchen Philosophen, sich dem „Phänomen Leben“ zu nähern. Nicht soll und kann es hier, wie angeführt, darum gehen, den Lebensbegriff und seine Bedeutung in der Philosophie einer umfangreichen Erörterung zuzuführen – dies wäre Gegenstand eines eigenen Beitrages. Aufgezeigt werden soll vielmehr, dass die Begriffe des Lebens und Lebendigseins seit jeher und bis heute in der Philosophie eine grosse Rolle als Bedeutungsträger für etwas Kostbares und Schützenswertes spielen. Im antiken Denken und hier bei Naturphilosophen wie Thales von Milet und Heraklit stand die Natur am Anfang der philosophischen Reflexion und „die Frage aller Fragen“,87 nämlich danach, „was der Urgrund von allem sei“,88 wurde mit der Natur zu beantworten versucht:89 Eine Wesenseigenheit der Natur sei es, dass alles in ihr in Bewegung und im Fliessen sei (griechisch: panta rhei).90 Dieses In-Bewegung- und In-Veränderung-Sein, das jedem lebendigen Naturwesen (sei es einem 86  Siehe zur aktuellen Diskussion im Zusammenhang mit der Synthetischen Biologie etwa die Buchbeiträge in Peter Dabrock / Michael Bölker / Matthias Braun / Jens Ried (Hgg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011; vgl. zudem Hans Werner Ingensiep, „Lebensbegriffe – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. Vom Ende der Seelenordnung, von gespaltenen Lebensdiskursen und einer antizipatorischen Bioethik“, in: Hans Werner Ingensiep / Anne Eusterschulte (Hgg.), Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen – Probleme – Perspektiven, Festschrift für Klaus Michael Meyer-Abich, Würzburg 2002, 103 ff. 87  Dazu näher Brenner, UmweltEthik, 96: „… philosophische Kernfrage … die Frage der ­Fragen …“. 88 Brenner, UmweltEthik, 96: „… ‚Was ist der Urgrund von allem?‘ …“ (Hervorhebung ­Brenner). 89  Dazu näher Brenner, UmweltEthik, 96. 90  Dazu näher Brenner, UmweltEthik, 96.

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Menschen, Tier oder einer Pflanze) im Gegensatz zu toten Dingen (wie z. B. einer Maschine) als „ihre eigene Ursache“91 innewohnt, führt Aristoteles auf die einem jeden natürlichen Wesen eigene innere Lebenskraft zurück. Es sei eine innere und zur Vollendung (griechisch: Entelechie) als ihrem Ziel treibende teleologische Formkraft, die ihren Grund in der Seele als dem Lebensprinzip finde, welche jedes lebendige Wesen als das „Prinzip des Entstehens“92 in sich selbst trage.93 Diese innere Lebenskraft, die das Lebendige erst schafft, taucht, und zwar auch hier wieder in Verbindung mit der Seele, ebenso in der christlichen Naturverehrung und in der Natur-Mystik, etwa bei Hildegard von Bingen oder Meister Eckhart auf.94 Machen wir einen Sprung in die Zeit vom 19. ins beginnende 20. Jahrhundert, so wird von den Vertretern des Vitalismus und Neuvitalismus mit ihrer „Lebenskraftthese“ ebenfalls auf die Innenperspektive des Lebendigen und damit auf jene bereits zuvor genannte innere Lebenskraft abgestellt.95 Auch bei Schopenhauer heisst es, dass sich das Lebendige nicht durch ein äusseres Zusammenspiel von chemischen und physischen Faktoren erklären lasse, sondern in einem Willen liege, der alles, was lebt, ausmache.96 Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert hebt etwa Humberto Maturana auf das Selbst lebendiger Systeme und deren Fähigkeit zum Selbstentwurf (Autopoiesis) ab.97 Driesch spricht von der „Lebensautonomie“ von lebendigen Wesen, die im Unterschied zu Maschinen als eine ihnen eigene Eigengesetzlichkeit zur Vollendung streben, womit er Rückgriff auf den aristotelischen Entelechie-Begriff nimmt.98 Bei einigen Vertretern der Biosemiotik (wie z. B. Kalevi Kull) wird auf das Selbst und den Eigensinn von lebendigen Wesen abgestellt und hier auf deren innere Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, zur Wahl zwischen Lebenserhaltendem und Lebenszerstörendem und damit zur Sinnstiftung, was nicht nur für Menschen und Tiere, sondern auch etwa für Pflanzen zu bejahen sei.99 Der Bezug zur inneren 91 Brenner, UmweltEthik, 98.

92 Brenner, UmweltEthik, 99 (Hervorhebung Brenner).

93  Siehe im Einzelnen Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur, Hamburg 1995, Buch II, Kapitel 1, 193 b, 27 f.; ders., Metaphysik, Hamburg 1995, Buch IX, Kapitel 7, 190; ders., Über die Seele, Hamburg 1995, Buch I, Kapitel 5, 411 b, 57; dazu auch näher Brenner, UmweltEthik, 98 f. 94  Siehe im Einzelnen Hildegard von Bingen, Welt und Mensch. Das Buch „De Operatione Dei“, Salzburg 1965, 26, 131; Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Stuttgart 2001, Predigt Q 78, 142 f.; dazu auch Brenner, UmweltEthik, 100 ff. 95  Dazu näher Brenner, UmweltEthik, 107 f. 96  Siehe im Einzelnen Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Erster Teilband, Zürich 1977, Zweites Buch, Kapitel 19, 234 ff.: „Der Wille … macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus“ (S. 234); dazu auch Brenner, UmweltEthik, 107. 97  Im Einzelnen Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig, Wiesbaden 1985, siehe etwa 40, 157 ff.; Francisco J. Varela / Humberto R. Maturana / R. Uribe, „Autopoiesis: The organisation of living systems, it’s characterization and a model“, BioSystems 5 (1974), 187 ff. 98  Im Einzelnen Hans Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905, 208 f., 242 f.: „Lebensautonomie“ (S. 208), „Entelechie“ (S. 209; siehe dazu auch 242 f.); siehe zudem Brenner, UmweltEthik, 108. 99  Dazu näher Brenner, UmweltEthik, 112 f.

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Lebenskraft als Eigenheit aller lebendigen Wesen zeigt sich nicht zuletzt bei Albert Schweitzer als Vertreter des Biozentrismus in seinem Prinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ und hier in seiner biozentrischen Kernthese: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.100 In einer Ausweitung des Wohl-Begriffs, der üblicherweise unter Bezug auf ein Subjekt des Wohlseins bestimmt wird, heisst es sodann bei dem Biozentriker Paul Taylor, dass jedes lebendige Wesen – d. h. nicht nur wie beim Pathozentrismus ein Lebewesen mit Nervensystem – ein eigenes inneres Wohl habe, wonach seinem Wohlergehen gut oder auch nicht gut getan werde könne.101 Ein weiterer Vertreter des Biozentrismus, Nicholas Agar, hebt für das Gemeinsame aller Naturwesen auf deren Lebendigsein und für dieses wiederum auf ihre inneren Momente von Selbst-Gestaltung und Selbst-Bewegung und ihre Fähigkeit zur Repräsentation („representation“102) ab, worunter die sowohl den hochkomplexen als auch den einfachsten Organismen (wie z. B. Bakterien) zukommende Fähigkeit zu verstehen sei, ein Bild vom eigenen Selbst und von der Umwelt als „eigenes Entwicklungsziel“103 zu haben.104 Nicht zuletzt betonen die Vertreter des Holismus die Einheit aller lebenden Wesen: Unter Bezugnahme auf einen „Weltorganismus“105 (Adolf Meyer-Abich) und die Forderung eines Blickwechsels weg vom Gedanken der Um-Welt hin zum Gedanken der Mit-Welt (Klaus Michael Meyer-Abich) wird zutreffend hervorgehoben,106 dass bei einer solchen Mit-Welt-Sicht ein Jedes und Alles immer Zentrum und Mitwelt sind, woraus ein „umfassende(r) Erhaltungsanspruch von allem Lebendigen“107 folgt.

100  Albert Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, hrsg. von Hans Walter Bähr, München 2008, 111 (Hervorhebung im Original); dazu auch Brenner, UmweltEthik, 126 ff. 101  Im Einzelnen Paul W. Taylor, „Die Ethik der Achtung für die Natur“, in: Dieter Birn­ bacher (Hg.), Ökophilosophie, Stuttgart 1997, 79 ff.: „… Wohlergehen lebender Dinge … ebenso wie das menschliche Wohlergehen … als Zweck an sich“ (S. 79, Hervorhebung im Original); dazu auch Brenner, UmweltEthik, 128 f., 190. 102  Siehe näher Nicholas Agar, „Biocentrism and the Concept of Life“, Ethics 108 (1997), 156. 103 Brenner, UmweltEthik, 191 (Hervorhebung Demko), siehe dort auch die weiteren Ausführungen. 104  Im Einzelnen siehe Agar, in: Ethics 108 (1997), 156 f. 105  Adolf Meyer-Abich, Naturphilosophie auf neuen Wegen, Stuttgart 1948, 158 (Hervorhebung Demko). 106  Siehe Klaus Michael Meyer-Abich, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, 85, 89, 91; siehe auch Ders., Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München/Wien 1984, 44 ff., 101 ff. 107 Brenner, UmweltEthik, 131 (Hervorhebung Demko), siehe auch die weiteren Ausführungen auf 129 ff.

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III. Zusammenfassung und Ausblick auf zukünftige Forschungen Welche Ergebnisse im Sinne von Lösungsansätzen und -vorschlägen lassen sich nach diesen Ausführungen für das Verhältnis von Eigenwert und Würde im Zusammenhang mit der Natur zusammentragen? 1. Der biozentrische Würdebegriff und die biozentrische Lebenswürde-Ethik Bereits der kurze Blick in die Ideengeschichte des Lebensbegriffs zeigt, welch grosses Gewicht dem Gedanken des Lebendig-Seins, was immer darunter im Einzelnen auch verstanden wird, in der Philosophie im Allgemeinen und der Bio- und Umweltethik im Besonderen zugemessen ist. Greift man dieses Lebendig-Sein als Kernkriterium eines sich daraus formenden Würdebegriffs auf, so hätte dies (als erstes Ergebnis) für das Verhältnis von Natur und Würde einen biozentrischen Würdebegriff zur Folge, der alle menschlichen und nichtmenschlichen individuellen Lebewesen in sich einschliesst. Legt man diesen biozentrischen Würdebegriff auch der Umweltethik zugrunde, formt sich (als zweites Ergebnis) die Umweltethik in einer Verdichtung und Konkretisierung ihres Verständnisses als einer holistischen Mit-Welt-Ethik – wie sie auf der Grundlage des hier befürworteten holistischen Eigenwertbegriffs entwickelt wurde108 – zudem zu einer biozentrischen Lebenswürde-Ethik aus. 2. Die Ausformung eines umfassenden und aus mehreren Ebenen zusammengesetzten Schutzes Ein drittes Ergebnis steht hiermit im Zusammenhang: Die Natur und alle Naturwesen gewinnen durch den hier vertretenen holistischen Eigenwert- und biozen­ trischen Würdebegriff sowie das damit einhergehende Verständnis der Umweltethik als einer holistischen Mit-Welt-Ethik und biozentrischen Lebenswürde-Ethik einen zum einen umfassenden und zugleich zum anderen aus mehreren Ebenen zusammengesetzten Schutz: Der Aspekt des umfassenden Schutzes betrifft (nicht nur, aber) insbesondere Systemganzheiten: Da sich der biozentrische Würdebegriff aus dem Wert- und gerade Eigenwertbegriff herleitet und zudem für jenen Eigenwertbegriff hier eine holistische Sicht bevorzugt wird, sind die Systemganzheiten als Eigenwertträger – wie etwa Arten, Ökosysteme und die Natur insgesamt – durch den biozentrischen Würdebegriff nicht etwa schutzlos gestellt, sondern diese sind durch den zugrundeliegenden weiten, ja umfassenden holistischen Eigenwertbegriff in den Kreis der moralischen Schutzobjekte gerade umfassend aufgenommen. Nicht die Frage des 108 

Siehe dazu näher unter I. 4.

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„Ob“ des moralischen Status entscheidet sich mithin durch den Würdebegriff, sondern diese ist bereits durch den holistischen Eigenwertbegriff entschieden und umfassend für ein Jedes und Alles der Seinwirklichkeit bejaht: Der im Vergleich zum holistischen Eigenwertbegriff engere biozentrische Würdebegriff verringert mithin nicht das „Ob“ der direkten moralischen Schutzverpflichtungen des Menschen auch gegenüber Arten, Ökosystemen und der Natur insgesamt. Das aufgezeigte Herleitungs- und Begründungsverhältnis zwischen Eigenwert und Würde und ein holistisch verstandener Eigenwertbegriff ermöglichen das Verhindern eines „moralisch ungeschützten Raumes“, d. h. eines Raumes, aus dem bestimmte Wesen oder Ganzheiten herausfallen bzw. genauer gar nicht erst in diesen aufgenommen würden und damit menschlichen Eingriffen ohne jegliche Begründungs- und Rechtfertigungslasten ungeschützt preisgegeben wären. Umgekehrt ausgedrückt: Erst und nur ein solches Begründungsverhältnis zwischen Eigenwert und Würde und ein holistischer Eigenwertbegriff eröffnen einen lückenlosen moralischen Schutzraum, wonach dem Menschen als moralischem Subjekt bei allen seinen Eingriffen in die Natur stets und ausnahmslos eine Begründungs- und Rechtfertigungslast obliegen, unabhängig davon, ob es um von ihm bewirkte Eingriffe etwa in menschliche oder nichtmenschliche Lebewesen, in bestimmte Ökosysteme, Arten oder in die Natur insgesamt geht. Der weitere Aspekt des Schutzes auf mehreren Ebenen spricht (jedenfalls auf der Grundlage des hier dargestellten biozentrischen Würdebegriffs) die individuellen Lebewesen an: Sich hier jetzt auf alle menschlichen und nichtmenschlichen individuellen Lebewesen beziehend fügt der – wenn auch im Vergleich zum holistischen Eigenwertbegriff engere – biozentrische Würdebegriff dem bereits durch den Eigenwert eröffneten moralischen Schutzstatus einen zusätzlichen, dem Würdebegriff immanenten kraftvollen Schutzausspruch hinzu, nach welchem ein jedes Lebendige in dieser seiner konkreten Lebensform und damit in dieser seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zu schützen,109 und zwar auf höchster Würde-Ebene zu schützen ist. Hier gilt es auf einen weiteren Gesichtspunkt hinzuweisen, der mit der Unterscheidung zwischen dem Eigenwertbegriff mit seinem weiten und offenen Charakter einerseits und dem Würdebegriff mit seinem Ein- und Ausgrenzungscharakter andererseits im Zusammenhang steht: Mit dem sich auf bestimmte Eigenwertträger einengenden Würdebegriff ist nicht die ethisch zunächst relevante erste Stufe der Eigenwert-Zuerkennung angesprochen, denn die Aufnahme in den moralischen Schutzkreis erfolgt bereits über den (hier holistischen und daher weit verstandenen) Eigenwertbegriff. Vielmehr wirkt sich der Ein- und Ausgrenzungscharakter des Würdebegriffs erst auf der sich anschliessenden, d. h. auf der zweiten ethisch relevanten Stufe aus, die sich (u. a.) mit der Frage des Behandlungsverhältnisses und hier auch etwa mit der Frage eines Gleichrang- oder Vorrang-/Nachrangverhältnisses zwischen verschiedenen Eigenwertträgern in Fällen von Konflikten 109 

Siehe dazu bereits Demko, in: Cavallo u. a. (Hgg.), 657 mit weiteren Nachweisen.

„Eigenwert der Natur“ und „Würde“ als Fragen der Umweltethik

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und Kollisionen zwischen diesen beschäftigt.110 Der Frage nach dem „Wie“ der Lösung von solchen Zielkonflikten zwischen verschiedenen Eigenwertträgern kann hier aus Raumgründen nicht näher nachgegangen werden. Nur soviel sei gesagt: Die Frage nach dem „Wie“ der Lösung von Zielkonflikten, die sich immer ergeben können, wenn etwa menschliche Interessen mit solchen nichtmenschlicher Lebewesen oder der Natur insgesamt zusammentreffen, ist keine, die sich nur und erst bei einer holistischen Sichtweise stellt. Vielmehr bleibt diese Frage zum Umgang mit Zielkonflikten und nach einem Gleichrang- oder Vorrang-/Nachrangverhältnis auch im Rahmen aller anderen Moralkonzepte zu beantworten und ist – etwa mit Lösungsvorschlägen zu einem abgestuften oder gleichen Eigenwert, zu einer zwei­stufigen Ethik und zu Vorrangregeln, wie dem Verhältnismässigkeitsprinzip oder dem Prinzip des kleinsten moralischen Übels111 – Gegenstand gegenwärtiger kontroverser Diskussionen.

110  111 

Dazu auch Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 98 ff. Näher dazu Gorke, Natur und Kultur 4/2 (2003), 99 ff.; Taylor, Respect for Nature, 256 ff.

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Autorenverzeichnis Bruno Baur, Prof. Dr.: Professor für Naturschutzbiologie an der Universität Basel, Leiter des Instituts für Natur-, Landschafts- und Umweltschutz (NLU); Arbeitsschwerpunkte: anthropogene Veränderungen der Biodiversität, invasive Arten und die Biologie von seltenen und gefährdeten Arten; ausgewählte Publikationen: Biodiversität. UTB Profile. Bern 2010; (Ko-Autor): Changes in plant diversity along an urban-rural gradient in an expanding city in Kazakhstan. In: Landscape and Urban Planning 132 (2014), 111–120; (Hg.): Wissen schaffen – 100 Jahre Forschung im Schweizerischen Nationalpark. Nationalpark-Forschung in der Schweiz 100. Bern 2014. Andreas Brenner, Prof. Dr.: Professor für Philosophie, Globalisierung und Wirtschaftsethik an der FHNW in Basel, Titularprofessor an der Universität Basel; Arbeitsschwerpunkte: neue Phänomenologie, Philosophie des Leibes, angewandte Ethik; ausgewählte Publikationen: Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. Würzburg 2006; Leben. Grundwissen Philosophie. Stuttgart 2009; Umweltethik. Ein Lehr- und Lesebuch. Würzburg 2014. Daniela Demko, PD Dr. LL.M.Eur., Privatdozentin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsphilosophie (Universität Zürich), Entlastungsprofessur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Lehrbeauftragte an den Universitäten Zürich, Luzern, Basel und Bern; 2015 – Ruferteilung auf eine W 3-Professur an der Universität Leipzig; Arbeitsschwerpunkte in der Rechtsphilosophie: Grundsatzfragen der Rechtsphilosophie und deren Konkretisierung vor allem im internationalen (Straf-)Recht und in der Bio- und Umweltethik (u. a. Wertphilosophie, Würdebegriff, internationale Menschenrechte, internationale (Straf-)Gerechtigkeitstheorien, Tier- und Pflanzenethik); ausgewählte Publikationen: (Mit-Hg.), Menschenrechte: Begründung – Bedeutung – Durchsetzung. Würzburg 2015; Werte in der Rechtsphilosophie. In: ARSP Band 101, 2015, 226 ff. Andreas Dietrich, Lic. Theol.:, dipl. Geologe, Geo­informatiker und Raumplaner NDS FH. Carl Friedrich Gethmann, Dr. phil. habil.: Professor für Philosophie an der Universität Essen, Professor am Forschungskolleg „Zukunft menschlich gestalten“ der Universität Siegen; Arbeitsschwerpunkte: Logik und Sprachphilosophie, Phänomenologie, Angewandte Philosophie (Technikethik, Umweltethik, Medizin­

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ethik); ausgewählte Publikationen: (Hg.): Langzeitverantwortung. Ethik – Technik – Ökologie. Darmstadt 2008; (Ko-Autor): Radioactive Waste. Technical and Normative Aspects of ist Disposal. Berlin 2011; (Ko-Autor): Interdisciplinary Research and Trans-disciplinary Validity Claims. Berlin/Heidelberg 2015. Angelika Krebs, Prof. Dr.: Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Basel; Arbeitsschwerpunkte: (Praktische) Ethik, Politische Philosophie, Philosophie der Gefühle, Ästhetik; ausgewählte Publikationen: (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt 2000; Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt 2002; Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe. Frankfurt 2015. Hartmut Leser, Prof. em. Dr. Dr. h. c.: 1973–2005 ordentlicher Professor für Physiogeographie und Landschaftsökologie und Direktor des Geographischen Instituts der Universität Basel; Arbeitsschwerpunkte: Landschaftsökologie, Methodologie, Geomorphologie, Kartographie; ausgewählte Publikationen: Die Zwischenstadtproblematik und die Basler Agglomeration. In: Regio Basiliensis, Basler Zeitschrift für Geographie 55 (2014), 3–13; Landschaftsökologie im Wandel: Bedarf es einer Neuen Landschaftsökologie? In: Berichte. Geographie und Landeskunde 88 (2014), 63–71; Geographie In Forschung und Gesellschaft: Wege und Wandel – Eine Ideenskizze. In: Geographica Helvetica 69 (2014), 115–120. Georg Pfleiderer, Prof. Dr.: Ordinarius für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Basel; Arbeitssschwerpunkte: Grundfragen theologischer Ethik, Theorie des neuzeitlichen Christentums, Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (bes. Karl Barth-Forschung), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Theologie, Politische Theologie Grundfragen der Bio- und Medizinethik; ausgewählte Publikationen: (Hg.): Religions-Politik I. Zur historischen Semantik euro­ päischer Legitimationsdikur. Zürich 2013; (Hg.): Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe Dialektische Theologie. Zürich 2014; (Hg.): Kapitalismus – eine Religion in der Krise II. Aspekte von Risiko, Vertrauen, Schuld. Zürich 2015. Silvia Tobias, Dr. sc. techn.: Forschungsprogrammleiterin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in Birmensdorf, Mitglied des Eidgenössischen Rats für Raumordnung; Arbeitsschwerpunkte: Raumplanung, Urbanisierung, Ökosystemleistungen, Bodenschutz, Ingenieurbiologie, transdisziplinäre Forschung zwischen Wissenschaft und Politik; ausgewählte Publikationen: Can place branding support landscape conservation in city-­ regions? A case study from Switzerland. In: Land Use Policy 30 (2013), 266–275; Landschaft als Standortfaktor!? In: Holger Magel (Hg.): Verspielen wir Grund und Boden? Bestands- und Flächen-Entwicklung im Praxistest. Werte – Kriterien – Instrumente. 16. Münchner Tage der Bodenordnung und Landentwicklung. Mün-

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chen 2014; Zukunftsbilder für die Landschaft in vier periurbanen Regionen der Schweiz. WSL Berichte 7 (2014). Markus Vogt, Prof. Dr.: Professor für Christliche Sozialethik an der LudwigMaxi­milians-Universität München, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Sozial­ ethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raums; Arbeitsschwerpunkte: Methoden der Entscheidungsfindung, Gerechtigkeit, Klimawandel, Nachhaltigkeit; ausgewählte Publikationen: Handeln unter unsicheren Bedingungen. In: Peter Neuner (Hg.): Zufall als Quelle von Unsicherheit. Freiburg i. Br./München 2014, 227–260; Zur moralischen Grammatik der Solidarität und ihrer (begrenzten) Anwendbarkeit auf intergenerationelle Konflikte. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 22 (2014), 95–114; Konkurrenz und Solidarität: Alternative oder verwobene Formen sozialer Interaktion? In: Thomas Kirchhoff (Hg.): Konkurrenz: historische, strukturelle und normative Perspektiven. Bielefeld 2015, 191–214. Dietmar von der Pfordten, Prof. Dr.: Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Göttingen; Arbeitsschwerpunkte: Themen der angewandten Ethik bzw. Rechtsethik: Rechtfertigung von Strafe, Humanitäre Intervention, Gerechtigkeit, Menschnwürde, Ausarbeitung einer „Rechtsphilosophie“ sowie „Metaethik“, Untersuchung der Bildung von Begriffen, ausgewählte Publikationen: Suche nach Einsicht. Zu Aufgabe und Wert der Philosophie. Hamburg 2010; Rechtsphilosophie. Eine Einführung. München 2013; (Hg.): Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht. Tübingen 2014.

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Personenregister Agar, Nicholas 202 Alewell, Christine 91 Amery, Carl 55 f., 119 Aristoteles 16, 59, 128, 201 Arz de Falco, Andrea 182 Atzler, Elke 158 Augé, Marc 115, 146, 161 Bachleitner, Gerhard 117 Balzer, Philipp 197 Baumberger, Christoph 140, 161 Baur, Bruno 1, 207 Bayertz, Kurt 194 Bayes, Thomas 129 Becchi, Paolo 207 Beising, Edith 28, 30, 37, 45 f., 50 Ben-Ze’ev, Aaron 145, 161 Benedikt XVI. 118 Benediktsson, Karl 149, 161 Bentham, Jeremy 72 Bergmann, Sigurd 123 Berleant, Arnold 152, 161 Bernoulli, Jakob I. 129 Binder, Regina 184 Binswanger, Daniel 36 f. Binswanger, Ludwig 146, 161 Birnbacher, Dieter 132 Bleile, Matthias 30, 37, 45 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 184 Boesch, Hans 27, 40 Böhme, Gernot 146 f., 152, 161 Boldt, Joachim 63 Bölker, Michael 200 Bollnow, Otto Friedrich 145 f., 149 ff., 153, 161, 163 Bondolfi, Alberto 197 Brady, Emily 149, 161 Brändle, Gabriela 100 Braun, Matthias 200 Braun, Michael 161 Brecht, Berthold 140 f., 161

Brenner, Andreas 13, 183, 188 ff., 200 ff., 207 Buber, Martin 151, 153, 162 Budd, Malcolm 149, 154, 162 Burke, Edmund 154 Burkhard, Daniel 31, 44 Callicot, J. Baird 185 Calvin, Johannes 59 Carlson, Allen 149, 154, 162 Casey, Edward 146, 162 Catlin, George 177 Chervet, Andreas 100 Cicero, Marcus Tullius 195 Claudius, Matthias 14 Cochrane, Tom 154, 162 Conen, Franz 91 Cooper, David 143, 162 Costanza, Robert 7 f. Crutzen, Paul J. 112 Dabrock, Peter 200 Daum, Matthias 41, 46 Davis, Mike 112 f. Dell’Anno, Sina 161 f. Demko, Daniela 181 f., 184 ff., 188, 190 f., 195–199, 202, 204, 207 Dietrich, Andreas 165, 207 Descartes, René 61 Donhauser, Michael 138, 151 f., 156 ff., 160–163 Döring, Ralf 94, 105 Driesch, Hans 201 Dschuang-Dsi 141 Dutton, Denis 155, 162 Düwell, Marcus 197 Elliger, Winfried 144, 162 Emerson, Ralph Waldo 22 ff. Epikur 172 Ewald, Klaus 146, 162

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Personenregister

Fässler, Jessica 30 Feitelson, Eran 92, 105 Fichte, Johann Gottlieb 183 Fingerhuth, Carl 44, 46 Finkelstein, Israel 56 Fischer-Kolakowski, Marina 111 Fischer, Günther 103, 105 Franz von Assisi 59 Franziskus 119 Freiberger, Heike 37, 46, 50 Freudenberg, Matthias 59 Frey, Hans-Jost 158, 162 Freyer, Hans 134 Frick, Dieter 43 Friedli, Bénédicte 98, 105 Frisch, Max 27, 29 Fritsch, Martin 98, 105 Fritsche, Wolfgang 181 Galston, Arthur W. 20 Gebhardt, Ulrich 147, 162 Gehlen, Arnold 134 f. Geiger, Moritz 148, 162 Geissbühler, Hermann 182 Gethmann, Carl Friedrich 125 ff., 130, 132 f., 135, 207 Gewirth, Alan 195 Gill, Bernhard 141, 162 Glaeser, Bernhard 110, 120 Goldie, Peter 145, 162 Golding, William 16 Golser, Karl 118 Goodman, Nelson 147, 162 Gorke, Martin 72, 83 ff., 186–192, 199, 205 Graf von der Schulenburg, JohannMatthias 129 ff. Gräfrath, Bernd 128 Grinevald, Jacques 112 Grober, Ulrich 93, 105 Gruhl, Herbert 56 Grunwald, Armin 94, 105 Guratzsch, Dankwart 44 f. Haber, Wolfgang 107 Haberecht, Maja 98, 106 Hader, Josef 137 Haines, Aubrey L. 177 Harries, Karsten 140, 162

Heidegger, Martin 135 f., 147, 149, 153, 162 Hennebo, Dieter 174 Herman, Barbara 195 Hiekel, Susanne 125 Higgins, Polly 20, 22 Hizsnyik, Eva 103, 105 Hodler, Ferdinand 155 Höffe, Otffried 107 Hoffmann, Alfred 174 Höfling, Siegfried 108 Höhn, Hans-Joachim 112, 119 f. Hölderlin, Friedrich 153, 159 Husserl, Edmund 148 Iglesias, Ana 103, 105 Ingensand, Hilmar 98, 106 Ingensiep, Hans Werner 200 Impelluso, Lucia 169 Iselin, Georg 166 Jaeger, Jochen 45 Jeanneret, Charles-Édouard // Le Corbusier 43, 45 Jessel, Beate 42 Jesus Christus 65, 176 Job, Hubert 9 Jobstmann, Heide 92, 105 Johannes Paul II. 117 f. Jonas, Hans 130, 139, 152, 162, 188 Jung, Corinna 91 Jung, Martin 60 Jüngel, Eberhard 65 Kambartel, Friedrich 141, 162 Kamlah, Wilhelm 134 Kamp, Georg 132 Kant, Immanuel 71, 75, 120, 131, 145, 151, 154, 156, 183 f., 189, 192, 195 Kather, Regine 188 f. Katz, Christine 110–113 Kempel-Eggenberger, Christa 28 Kienast, Felix 166 Kirchhoff, Thomas 143 f., 162, 209 Kirchner, James W. 19 Klages, Ludwig 22 Klaus, Gregor 146, 162 Knobloch, Eberhard 129 Knoepffler, Nicholas 194, 197

Personenregister Kobayashi, Kiyoshi 92, 105 Koeppel, Hans-Dietmar 166 König, Josef 151, 162 Kopfmüller, Jürgen 94, 105 Korff, Wilhelm 116 f. Krebs, Angelika 108 f., 137, 139, 141, 162, 189, 208 Krüger, Michael 137, 158, 162 Kuhn, Thomas K. 177 Kull, Kalevi 201 Kunzmann, Peter 182 Küster, Hansjörg 49 Lanzerath, Dirk 190 Law, Ryan 18 Lec, Stanisław 15 Leibniz, Gottfried Wilhelm 129 Lemkin, Raphael 21 f. Leopold, Aldo 9, 72 Lesch, Walter 197 Leser, Anja 31, 44 Leser, Hartmut 27 ff., 30, 32–38, 41 f., 46 f., 50 ff., 208 Leypoldt, Patrick 30 Liessmann, Konrad Paul 29, 31 Litt, Theodor 149, 151, 162 Little, Colin 3 Livermore, Matthew 103, 105 Locke, John 78 Lorrain, Claude 155 Lovelock, James 16 f., 61, 72 Lowman, Paul 18 Lübbe, Hermann 134 f., 141, 153, 162 Luf, Gerhard 184 Lund, Katrín Anna 149, 161 Luther, Martin 55, 60, 68 Mackie, John Leslie 184 Magel, Holger 208 Magnano Lampugnani, Vittorio 40 Maio, Giovanni 63 Margalit, Avischai 195 f. Margulis, Lynn 17 f., 61 Marquard, Odo 133 Marsan, Franco Ajmone 91, 106 Maturana, Humberto R. 201 Maul, Stefan M. 169 Mayer-Tasch, Cornelius 117, 120

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Mayr, Ernst 82 McBratney, Alex B. 102, 106 McNeill, John 112 Mead, George Herbert 110 Meister Eckhart 141, 201 Merleau-Ponty, Maurice 149 Mertens, Gerhard 111 f., 114 f., 117, 121 Meyer-Abich, Adolf 16, 202 Meyer, Kirsten 189 f. Meyer-Abich, Klaus Michael 127, 139, 163, 188 f., 191, 193, 200, 202 Meyer, Martin 98, 106 Minasmy, Budiman 102, 106 Mitscherlich, Alexander 31, 53, 153, 163 Mohr, Georg 183 Moran, Thomas 177 Morgenstern, Christian 70 Moser, Samuel 161, 163 Müller, Denis 182 Müller, Oliver 63 Muñoz, Faustino 118 Naess, Arne 139, 163 Neef, Ernst 31, 34 Nentwig, Wolfgang 4, 110, 112 Neudecker, Angelika 30, 45 ff., 50 Neuner, Peter 209 Nida-Rümelin, Julian 130 f. Nietzsche, Friedrich 76 Nordenskjöld, Adolf Erik 177 Nussbaum, Martha C. 139, 163, 196 Odparlik, Sabine 181 ff. Odum, Eugene P. 83, 112 Okumura, Makoto 92, 105 Onori, Piero 28 Ostheimer, Jochen 110 Ott, Konrad 94, 105, 181 f., 188 f. Pallasmaa, Juhani 140, 152, 163 Palme, Olof 20 Park, Robert 110 Parry, Martin L. 103, 105 Parsons, Talcott 111 Paulus 65 Perry, Ted 55 Petrarca, Francesco 144 Pezzoli-Olgiato, Daria 197

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Personenregister

Pfleiderer, Georg 55, 208 Platon 144 Plessner, Helmuth 135 Praetorius, Ina 182 Priebs, Axel 41 Prieler, Sylvia 103, 105 Prokop, Gundula 92, 105 Pulver, Elsbeth 27, 40 Radaj, Dieter 109 Rasmussen, Steen Eiler 140, 152, 163 Ratcliffe, Matthew 145, 163 Rath, Benjamin 130 f. Regan, Tom 139, 163 Rescher, Nicholas 130 Ried, Jens 200 Rink, Dieter 120 Rippe, Klaus Peter 181 ff., 185, 190, 197 Ritter, Joachim 144, 153, 163 Robinson, Jenefer 152, 163 Rolston, Holmes, 10, 72, 139, 163, 181 Rosa, Hartmut 151, 153, 163 Rosenzweig, Cynthia 103, 105 Rowe, Stan 186, 188 Saladin, Peter 182 Salenghe, Riccardo 91, 106 Salomon, Ilan 92, 105 Schaber, Peter 181, 186, 189, 194–197 Scheler, Max 135, 149, 163 Schellenbaum Lovasi, Gina 6 Schlesky, Helmut 108, 134 Schmitz, Hermann 146 f., 163 Schneeberger, Paul 41, 46 Schneider-Sliwa, Rita 30, 32, 52 Schneider, Eric D. 18 Schneider, Martin 113–116, 121 ff. Schönbauer, Arnulf 92, 105 Schopenhauer, Arthur 201 Schrödinger, Erwin 18 Schubert, Bernd 37 Schubert, Franz 157 Schütz, Gottfried 163 Schweitzer, Albert 19, 63, 186, 202 Schwick, Christian 45 Scruton, Roger 140 f., 145, 147 f., 156 f., 163 Seattle 55 Sedláček, Tomáš 168

Seel, Martin 140, 155 f., 159, 163 Seelmann, Kurt 184, 194 ff. Serbser, Wolfgang 110 f., 120 Sieberger, Wolfgang 60 Sieferle, Rolf Peter 46 Siegetsleitner, Anne 181 Siep, Ludwig 72 Sieverts, Thomas 37 Silberman, Neil A. 56 Simmel, Georg 144, 153, 163 Singer, Peter 69, 139, 163 Sitter-Liver, Beat 182 f. Slaby, Jan 145, 163 Sloterdijk, Peter 115 Smuda, Manfred 144, 163 Smuts, Jan Christiaan 16 Soja, Edward W. 114 Spaemann, Robert 19, 188, 195 f. Spitzer, Leo 145, 163 Stähli, Fridolin 193 Steffen, Will 112 f. Stegmüller, Wolfgang 130 Stenmark, Mikael 186 Stein, Edith 149, 163 Stettler, Matthias 98, 106 Stockmann, Uta 102, 106 Stoecker, Ralf 195 f. Stremlow, Matthias 166 Tanner, Michael 145, 163 Taylor, Paul W. 61, 181, 183, 185, 202, 205 Teherani-Krönner, Parto 110 Teutsch, Gotthard M. 60, 197 Thiele, Felix 126 Thoreau, Henry David 22 ff. Tiedemann, Paul 195 Tobias, Kai 42 Tobias, Silvia 91, 98, 105 f., 208 Tobler, Philippe 197 Trakl, Georg 156 Trepl, Ludwig 143 f., 162 Tretter, Felix 108 Tugendhat, Ernst 192 Turner, J. Scott 19 Turner, Joseph Mallord William 155 Uekötter, Frank 110 Uribe, Ricardo 201

Personenregister Varela, Francisco J. 201 Vogt, Markus 107–112, 118, 122 f., 209 Vogt, Markus 29, 31 Volk, Tyler 18 Von Aquin, Thomas 195 Von Bingen, Hildegard 201 Von Carlowitz, Hans Carl 93 Von Milet, Thales 200 Von der Pfordten, Dietmar, 71, 78, 183, 190, 209 Von Eichendorff, Joseph Freiherr 176 Von Goethe, Johann Wolfgang 14 Von Humboldt, Alexander 33 f. Von Ockham, William 83, 191 Vonnegut, Kurt 14

Weber, Andreas 15 Weber, Kurt-H. 144, 164 Weber, Otto 59 Wehrli Sarmiento, Nicole 30, 37, 45 Weiss, Günther 40 Wellbery, David 145, 164 Wiberg, David 103, 105 Wiesing, Lambert 15 Wilson, Edward Osborne, 2 Winiger, Bénédict 207 Winger, Wolfram 117 Withaker, David 18 Wolf, Jean-Claude 181, 186, 189 Wordsworth, William 13 f., 177 Wronsky, Dieter 30

Wächter, Monika 120 Walser, Marco 100 Watteau, Antoine 155

Zalasiewicz, Jan 112 f. Zepp, Harald 41, 46 Zihlmann, Urs 100

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Sachregister Agglomeration IX, 30, 33, 36 f., 40 ff., 45 ff., 49, 51 ff., 166, 178, 208 – Agglomerationsentwicklung 49, 51 – Agglomerationskern 46 Alpen 5, 177 – Alpenraum 5, 178 – alpin 5, 177 Altes Testament 169 f., – alttestamentlich 59 Anthropologie VIII, 33, 110, 115, 120, 126, 134 f., 163, 207 – Anthropologie, Minimal- 134 ­– Anthoporelationalität 121 – anthropos 139 – Anthropozän 108, 110, 112 f. – Anthropozentrik 69, 118 ff. – Anthropozentrismus IX, 9, 56, 60, 62, 66 f., 69 f., 139, 187, 189, 191, 197, 199 – anthropologisch 108, 121 f., 134 ff., 141 – anthropogen 9, 33 f., 52, 207 – anthropogenic 91, 106 – anthropologisch, christlich- 119 – anthropomorph 61, 155 – anthropomorph-expressiv 155 – anthropozentrisch 6, 50, 59 f., 84, 108, 111, 118, 120 f., 141 f., 187, 189, 199 – anthropozentrisch, monotheistisch- 55 Armut 23, 120, 128 – Armung, Ver- IX, 109, 178 – Armutsbekämpfung VIII, 107 – artenarm siehe Stichwort Arten Arten IX, 1–11, 74, 82 f., 85, 87–90, 94, 101 f., 137, 149, 181, 190, 203 f., 207 – Arten, Kapital- 94, 104 – Arten, Pflanzen- 7, 102 – Arten, Planungs- 42 – Artenreduktion 132 – Arten, Tier- 1, 3, 8, 118 – Artenschwund 2 – Artensterben 72, 83 – Artenvielfalt 2, 4, 10, 112, 132

– Artenzahl 3 – artenarm 6, 146 – artenreich 6 Ästhetik IX, 102, 123, 140, 142, 144, 146, 151 f., 154 f., 161 ff., 208 – Ästhetiker 148 – Ästhetik, Natur- 127, 132, 138, 149 – aesthetics, positive 154 – ästhetisch VIII, 6, 37, 121, 138, 140–146, 149–157, 162–165, 168, 176 – ästhetisch-ethisch 67 – ästhetisch, funktional- 155 – ästhetisch, landschafts- 144, 151 – ästhetisch, natur- 138, 140 – ästhetisch, syn- 152, 156 Atmosphäre 5, 18, 101, 146, 152, 156, 161 – atmosphärisch 14 Aufklärung 77, 135, 175 f. Aussterben IX, 2 ff., 11, 85, 118 – Aussterben, Massen- 3 – aussterben 3 Basic-Needs-Argument 11, 141 Bibel 55 f., 60, 68, 169, 171, 173, 177 – biblisch 55–60, 67–70, 169, 173, 176 – biblisch, ausser- 56 – biblisch-mythologisch 59 Bildung 8, 27, 94, 111, 114, 123, 209 – Bildungsarbeit 123 – Bildung, Aus- 27, 94, 99, 114, 167 – Bildung, Boden- 6, 102 – Bildung, Identitäts- 121 – Bildung, Menschen- 149, 151, 162 – Einbildungskraft 145 Biodiversität V, IX, 1–11, 132 f., 190 f., 207 – Biodiversitätsaspekte 7 – Biodiversitätsfunktion 97, 102, 104 – Biodiversitäts-Konvention 2, 10 – Biodiversitätsproblem 132 – Biodiversitätsverlust 103 Biologie 2, 18, 33, 80, 82, 110, 207

218 – – – – – – – – –

Sachregister

Biologe/Biologin 16, 18 Biologie, Evolutions- 63 Biologie, Ingenieur- 208 Biologie, Naturschutz 207 Biologie, Sozio- 128 Biologieunterricht 137 Biologie, synthetische 63, 200 biological 17 biologisch 1 f., 4, 6–9, 29, 35, 81, 83, 101, 111, 186, 196, 201 – biologisch-naturhaft 117 – biologisch, naturschutz- 102 – biologisch, sozio- 111 – biologisch-strukturell 65 Biota 18 – Bioten, Neo- 4 – biotisch X, 28, 33 f., 50, 53, 190 – biotisch, a- IX, 28, 33 f., 50 – biotisch, nicht- X Biozentrismus IX, 19, 62 f., 186 f., 190 f., 198 f., 202 – Biozentrik 120 – Biozentriker 82, 202 – Biozentrismus, christlicher 68 f. – biozentrisch VIIf., 10, 22, 33, 62, 79, 82, 84 ff., 187, 190, 198 ff., 202 ff. Boden IX, 8, 18, 20, 24, 40, 49, 91, 94 f., 97 ff., 104, 120, 165 ff., 178, 183, 208 – Bodenanteile 99 – Boden, Auen- 100 – Bodenaufbau 98, 104 – Bodenauflage 102 – Bodenbildung 6, 102 – Bodeneigenschaften 96 – Bodenentsiegelung IX, 92, 97, 104 f. – Bodenentwässerung 101 – Boden, Erd- 57 – Bodenerosion 28, 117 – Bodenerosionsraten 103 – Bodenfläche 97, 105 – Bodenfunktion 91 ff., 96, 98 f., 101, 104 f. – Bodengefüge 99 – Bodenkunde 51 – Boden, Landwirtschafts- 103 f. – Boden, Moor- 100 ff. – Boden, Nähr- 43

– Bodenneubildungsrate 102 – Bodennutzung V, 91 f. – Bodenoberfläche 101 – Bodenökosystem 102, 104 f. – Bodenordnung 208 – Bodenpreis 48 – Bodenprofil 100 – Bodenressourcen 104 – Boden, Roh- 96, 100 ff. – Bodenschatz 94 – Bodenschutz 93, 97 f., 101 f., 106, 208 – Bodensee 155 – Bodenstabilität 101 – Bodenstruktur 98 f. – Boden, Torf- 96 – Bodentyp 96 – Bodenumlagerung 104 – Bodenverbesserung 173 – Bodenverbrauch V, IX, 91 ff., 95, 97, 99, 101, 103 ff. – Bodenverdichtung 98 – Bodenversiegelung IX, 104 – bodenlos 13 – bodenschonend 101 Christentum VIII, 55 f., 59 f., 64 f., 119, 123, 208 – christlich IX, 55 f., 59, 61, 63 ff., 68 f., 109, 113, 122, 197, 201, 209 – christlich-anthropologisch 119 – christlich, jüdisch- 62 – christlich-ökologisch 119 – christlich, ur- 59 creatio continua 64, 66 Ecocide 20 ff. Eigenwert VI ff., X, 9 f., 60 ff., 67, 72, 83 ff., 118, 120 f., 138–142, 181–193, 195, 197 ff., 201, 203 ff. Empathie 149 f., 189 – Empathiebegriff 149 Entsiegelung 92, 96 f., 99, 102, 104 – Entsiegelung, Boden- IX, 92, 97, 104 f. – entsiegeln 95, 97, 101 f., 104 Erd-System-Wissenschaft („Earth System Science“) 18 – Erdsystemforschung 112 f.

Sachregister – erdsystemisch 18 Erfahrung VIII, 14, 131, 138, 146, 151–154, 156 – Erfahrung, Alltags- 58 – Erfahrungsebene 31 – Erfahrung, Fremd- 149 – Erfahrung, Ganzheits- 14 – Erfahrung, Landschafts- 138, 149 f. – Erfahrung, Lebens- 57 f. – Erfahrung, Natur- 155, 157 – Erfahrungsräume 123 – erfahren 134, 138, 149, 151, 153, 155 – erfahrbar 158 Erhabene, das 153 f. – Erhabenheit 140, 176 – erhaben 143, 156, 168, 176 f. Erleben, das 31, 40, 152 f., 165 – Naturerleben VIII f. – erleben VIII, 14, 36, 137 Ethik VII, 9 f., 15, 19, 21, 44, 61, 63, 71 f., 76, 78, 80 f., 83, 93, 107, 110, 114–119, 122 f., 126 f., 130–134, 139, 165, 181–188, 190 ff., 194, 200, 202, 205, 207 ff. – ethica, ars 133 – Ethikansatz, utilitaristischer 129 – Ethikbegründung 120 – Ethik, Bio- 20, 181, 197, 200, 207 f. – Ethikgrundform 190 – Ethik, Individual- 116 – Ethikkommission 63, 182, 197 – Ethik, Kultur- 72 – Ethik, Landschafts- 169, 179 – Ethik, Meta- 209 – Ethik, Mit-Welt, holistische 193, 203 – Ethik, Medizin- VII, 207 f. – Ethik, Natur- 61, 72, 108, 138 f., 141, 143, 162, 189 – Ethik, Raum- 116 f., 122 – Ethik, Rechts- 209 – Ethik, Risiko- 130 f. – Ethik, Schöpfungs- 68 ff. – Ethik, Sozial- 109 f., 112 f., 116 f., 119, 122, 209 – Ethik, Technik- 207 – Ethik, Umwelt- Vf., 9, 36, 55, 60, 64, 66, 68, 78, 107 ff., 116, 119, 121–125, 181 ff., 185–191, 193, 195 ff., 199–203, 205, 207 – Ethik, Um-Welt 193

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– – – – – – – – – – –

Ethik, Willens- 76 Ethik, Wirtschafts- 31, 108, 116, 207 Ethik, Wissenschafts- 127 Ethik, anthropozentrische 118 Ethik, biozentrische 85 Ethik, christliche 56 Ethik, deontologische 76, 113 f. Ethik, dezisionistische 76 Ethik, hermeneutische 168 Ethik, holistische 72, 83 ff., 186 Ethik, humanökologische 110, 113 f., 116, 120 – Ethik, Kantsche 120 – Ethik, normative 71, 76, 78, 84 – Ethik, ökologische 71, 74, 78, 84, 190 – Ethik, praktische 69, 139, 163 – Ethische, das 69, 116 – ethisch VII, IX, 2, 9, 15 f., 30, 40, 45 ff., 50, 53, 60–63, 65, 67–70, 72 ff., 76–86, 89 f., 107, 110, 112 f., 115, 118 ff., 122, 125 f., 129 ff., 133 ff., 140, 162, 168, 172, 181 ff., 188–192, 204 – ethisch, natur- 138 – ethisch, normativ- 80 – ethisch, öko- 108, 189 – ethisch-politisch 116, 120 – ethisch, raum- 110, 114, 116, 122 – ethisch, schöpfungs- 69 – ethisch, sozial- 110, 113 f., 116 – ethisch-systematisch 109 – ethisch, theologisch- 107 f. – ethisch, umwelt- VI–IX, 55, 60 ff., 66, 69, 118, 131, 165 – ethisch, welt- 66 Evolution 3, 18, 108, 128, 162, 188 – Evolutionsbiologie 63 – Evolutionstheorie 108 – Koevolutions-Humanökologie 111 – evolutionär IX, 63, 108, 128, 154 – evolutionär-ökologisch 10

Freiheit 29, 31, 60, 66, 107, 152, 162, 176, 184 – Freiheit, Entscheidungs- 184 – Freiheitserweiterung 107 – Freiheitsschutz VIII – Freiheit, Willens- 195

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Sachregister

Gaia 13, 16–19, 22, 61, 72, 139, 142 Ganzheit 14, 16, 121, 143 f., 146, 190, 192 f., 199, 204 – Ganzheitserfahrung 14 – Ganzheitserkenntnis 14 – Ganzheit, System- 190, 197, 203 – ganzheitlich 16, 29, 11, 191 – ganzheitlich-konkret 120 Garten VI, IX, 10, 129, 143, 151 f., 156 f., 159, 165, 167–179 – Garten Eden 66 ff., 154, 170, 173 Gerechtigkeit 22, 55, 103, 105, 107, 110, 113, 114 ff., 120, 125, 131, 208 f. – Gerechte, der 61 – Gerechtigkeit, Beteiligungs- 116 – Gerechtigkeit, Generationen- 93 – Gerechtigkeit, Un- 58 – gerecht VIII, X, 2, 52, 61, 80, 113, 120, 147 – gerechtfertigt 71, 78 – gerechtigkeitstheoretisch 116 Gilgamesch 169 – Gilgamesch-Epos 169 ff. Gleichgewicht 24, 66, 83, 118, 132 – Gleichgewichtszustand 18, 82, 119 – Gleichgewicht, Un- 23, 34 Gleichheit 23, 208 – Gleichheitsprinzip 72, 77 f. – Gleichheit, Un- 23 Gott X, 56–60, 64–69, 118, 144, 156, 170 f., 174, 177, 197 – Gottebenbildlichkeit 56, 65, 70, 119, 195 – Gottheit 56, 172 – Göttin 17, 170 – göttlich 9, 57, 61, 64 ff., 68, 70 Heiligkeit VIII, 138, 141 f., 169 – Heilige, das 168, 170 f., 179 – Heiligkeit 171, 176 – Heiligtum 170 – „Heiligkeit des Lebens“ 62 – heilig VI, 165, 167–179, 198 Heimat V, 21, 24, 30, 49, 58, 109, 123, 134, 137, 145, 151, 153 – Heimatgefühl 135 – Heimatrecht, Natur- V, 125 ff., 129, 131, 133 ff., – Heimatung, Be- 115, 123, 151

– heimaten, be- 85, 109, 115, 140, 155 f. Herrschaft 28 – Herrschaftsanspruch VIII – Herrschaftsauftrag 55 f., 65 – Herrschaft, Fremd- 177 – Herrschaftsmentalität 53 Holismus vgl. auch mit Stichwort „Ganzheit“ VIII, 14, 16, 72, 187, 190 f., 197, 199, 202 – Holist 192 – holistisch 29, 31, 35 f., 61 f., 71 f., 83 ff., 89, 128, 132, 139, 142, 153, 186 f., 191 ff., 198 f., 203 ff. – holistisch, pathozentrisch- 119 Humanität V, VIII, 107 ff., 111, 113, 115, 117, 119–123 – Humanbereich, Ausser- 63, 182 – Humane, das 107 f., 194, 197 – „Humanegoist“ 127 – Humanforschung 207 – Humangenetik 126 – Humangeographie 166 – Humanität, ökologische 108 – Humanitatis, Ius 184 – Humanity 94 – Humanitätsprinzip 107 – Humankapital 94 – Humanökologie VIII, 108–114, 117–120 – Humansphäre 112 – Humanwissenschaften 109 – Human Rights Consortium 20, 22 – human 17, 47, 107 f., 110, 141, 156 f., 162 – human, ausser- 181 ff., 185, 190 – humana, conditio 108 – humanitär 209 – humanökologisch 110 f., 113 f., 116, 120 f. – human vegetables 79 Identität 4, 21, 46, 48, 70, 114 f., 135, 141 f., 162, 182 f. – Identitätsargument 153 – Identitätsgefühl 49 – Identitätsstiftung VIII – Identität, Wohn- 135 – identitätsorientiert 141 – identitätstheoretisch 135 Immersion 152 f.

Sachregister Individualität 67 f., 70, 74, 199 – Individualabhängigkeit 77 – Individualbelange 76 f. – Individualbezogenheit 76 – Individualethik 116 – Individualinteresse 43, 85 – Individualismus 61, 71 f., 74, 78, 82, 209 – Individualprinzip 72, 74 – Individuierung 67 f. – Individuum VII, 1, 5, 30 f., 41, 53, 65, 67, 69, 72 ff., 77 f., 82, 85, 114, 135, 167, 184 – Individuum, Einzel- 88 – Individuum, Natur 90 – individualisieren 68 – individuell 16, 28, 41, 53, 62, 64 f., 67, 70, 76 f., 82 f., 88 f., 114, 135, 141, 188, 192, 204 Jerusalem 169 f., 172 f. Jesus (Christus) 59, 65, 176 Judentum 56, 169, 172 – jüdisch 57, 170 – jüdisch-christlich 62 Klima 5 f., 8, 104, 128, 146, 166 – Klimaänderungsszenario 103 – Klimaschutz 97, 102, 128 – Klima, Stadt- 28, 35 – Klimatologie, Stadt- 35 – Klimawandel 5, 103, 117, 209 – klimatisch 4, 98 f. Kloster 173, 175 f. Kollektiv, das 73 f., 82, 130 – Kollektiv, Natur- 82, 85, 89 f. – Kollektivismus 71 f., 82 – kollektiv 72 f., 77, 129 f., 141 Konsequentialismus 129 f. – konsequent 79, 97 – konsequentialistisch 75, 131 Konsum 23 f. – Konsum, Fleisch- 31 Kontingenz 140 – kontingent 65 kreativ 49, 64 ff., 123 – kreativ-schöpferisch 123 Kreatur 23, 60, 65, 119, 182, 186, 197 – Kreatürlichkeit 60

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– Kreaturverbundenheit 59 – Kreaturwürde 197 – kreatürlich 59 f., 190, 196 ff. Kultur VII–X, 9, 28, 37, 52, 61, 63, 65 f., 72, 77, 99, 101, 109, 118, 121 f., 128, 135, 143, 162, 165, 167–172, 181, 185 f., 188–193, 199, 205 – Kulturarbeit 57, 65 f. – Kulturdifferenz 153, 163 – Kulturethik 72 – Kultur, Garten- 171 f. – Kulturgeschichte VI, IX, 119, 165, 167 – Kulturkreis 168 – Kulturkritik 134 – „Kulturlandinitiative“ 91 – Kulturlandschaft 30, 41, 49 f., 52 – Kulturökologie 110, 119 – Kulturpflanze 8, 99 – Kulturraum 165, 172 – Kulturwissenschaften 53 – kulturell IX, 7, 9, 21, 28, 34, 47, 57, 117, 120, 123, 126, 136, 143, 165–168, 181 – kulturell, sozio- 57, 120 – kulturgeschichtlich 57, 64, 120, 168, 171 – kulturhistorisch 168 – kulturlos 122 – kulturvariant 126 – kulturwissenschaftlich 47, 208 Kunst VIII, 123, 138, 140, 143, 148, 155 ff., 161, 168 f., 176, 178 – Kunst, Garten- 174 – Kunsttheorie 162 – Kunstwerk 66, 128, 156 – Künstler 14, 67, 176 f. – Künstler-Gott 67 – künstlich 94, 145, 166 Land 3, 37, 42 f., 47, 50, 57 f., 72, 77, 93, 97, 103, 105, 136, 153, 163, 165–171, 173, 175, 178, 208 – Land, Acker- 93, 170 – Land, Bau- 166 – Landeigentümer 42 – Landentwicklung 208 – Landesforschung 47 – Landeskunde 44, 208 – Landinitiative, Kultur- 91 – Landkarte 28, 138, 141, 143

222

Sachregister

– Land, Mittel- 16, 99, 101 – Landnutzung 10, 92 f., 97, 103 – Landressourcen 104 Landschaft Vf., VIII ff., 7, 13 f., 27 f., 30–33, 36 f., 40 f., 45 ff., 49–52, 58, 67 f., 70, 91, 93, 103, 105 f., 109, 116, 122, 127, 132, 137 f., 140 f., 143 f., 146–156, 161–172, 175–179, 190, 207 f. – Landschaftsarchitektur 52 – Landschaftsbegriff 49, 143, 146, 166 f. – Landschaftsethik 169, 179 – Landschaftsforschung 33, 49 – Landschaftsgarten 143, 169, 172, 176, 178 – Landschaftsgestaltung 165, 171 – Landschaftskonzept 167 – Landschaft, Kultur- 41, 45 f., 49 f., 52 – Landschaft, Natur- 143, 177 – Landschaftsraum 176 – Landschaftsschutz 207 – Landschaftswahrnehmung 165, 167 ff. – Landschaft, Natur- 143, 177 – Landschaftsnutzung 36, 46, 50 – Landschaftsökologie 29, 31, 33 f., 36, 51, 208 – Landschaftspflege 28 – Landschaftsplanung 37, 41, 49 – Landschaft, Stadt- 52, 143 – Landschaftszerschneidung 30, 37, 45 f. – landschaftsästhetisch 144, 151, 156 – landschaftlich 98, 102, 112, 148, 156 – landschafts-ökologisch 52 Landwirt 98, 165 Landwirtschaft VIII f., 4, 95, 97, 101, 103, 125, 171, 173, 178 – Landwirtschaftsboden 103 f. – Landwirtschaftsfläche 48 – Landwirtschaftsland 96 – landwirtschaftlich 40, 49, 91, 94 ff., 97 ff., 101, 103 f., 171, 173 f., 178 Leben V, VIII, 2, 9 f., 15, 18 f., 22–25, 32 ff., 55–60, 62–66, 68–70, 77 f., 82, 115, 118 f., 121, 123, 131, 138–142, 145, 148, 151, 153–157, 159 f., 165, 170, 173, 176 f., 186, 188 ff., 198 ff., 201 f., 207 – Lebende, das 132 – Lebendige, das 15 ff., 19, 68, 126, 132, 201 f.

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Lebendigkeit 19 Lebendig-Sein 190, 199 f., 202 f. Lebensbedingung 19, 118 Lebensbedürfnis 58 Lebensbegriff VIII, 62 ff., 198, 200, 203 Lebensdrang 190 Lebenserfahrung 57 f. Lebenserhaltung VIII, 63, 69 Lebensform VIII, 125, 136, 204 Leben, Geistes- 153, 163 Lebensgenuss 171 f., 176 Lebensgrundlage 10 f., 165 f., 179 Lebenskraft (vis vitalis) 201 Lebensprinzip 201 Lebensqualität 10, 115, 119 Lebensraum 1, 4 ff., 10, 28 f., 31, 36, 40 f., 43, 45 f., 48, 53, 57 f., 91, 98, 102, 104, 109 f., 118, 123, 167 Lebensrecht 21, 23 Leben, Seelen- 145 Leben, Über-, das 22, 86, 155, 170, 188 Lebensumwelt 28, 33 Lebensunterhalt 57 Lebensvielfalt IX, 1 Lebensweise 3, 17, 25 Lebenswelt 111 f., 126, 143 Lebenswillen 190 Lebenswirklichkeit 21 Lebenswürde 190 f., 203 Lebenszerstörung VIII, 63, 201 leben VIII, 2 f., 8, 18 f., 30 f., 47, 57, 63, 66, 70, 126 f., 141, 147, 165, 176, 197, 202 leben, über- 10, 33, 127 lebendig 15–19, 61, 63, 89, 197, 200 ff. lebensnotwendig 33 lebenswert 41

Mensch V, VII f., X, 1, 3 f., 6–11, 14 f., 17, 19, 21–25, 27–34, 36, 40 f., 45 f., 50 f., 53, 56–60, 62, 65–71, 73 ff., 77 ff., 81, 83–91, 94, 98, 108–124, 125–128, 131 ff., 135 ff., 139, 141, 143 f., 146, 149 f., 153 f., 156 f., 159, 161, 165 ff., 170, 172–177, 181–201, 204 – Menschenbild 207 – Menschenbildung 149, 151, 162 – Menschenleben 22, 131 – Menschenrechte 78, 107, 207

Sachregister – Menschenwürde 70, 181 ff., 194–197, 199, 207, 209 – Menschliche, Zwischen-, das 110, 116 – Mensch, Mit- 21, 189 – Menschheit 4, 7, 10, 21, 112, 139, 165, 171, 186, 192, 196 – Menschlichkeit 20 f., 161 – menschlich VIII, 4–7, 9 f., 19, 34, 55, 57 f., 63–66, 68, 70 ff., 78 f., 82 f., 86, 89, 108 f., 112 f., 115–118, 120–123, 125 ff., 129, 132, 139 f., 142, 145 f., 148, 154 f., 157, 161, 163, 167, 169, 172, 183–190, 193, 196, 199, 202–205, 207 – menschlich, ausser- 60, 189 – menschlich, nicht- 15, 56 f., 65 f., 70 f., 89 f., 127, 181 ff., 188 ff., 196, 199, 203 ff. – menschlich, zwischen- 70, 127 Moral 22, 29, 31, 71 ff., 81, 84, 128, 133, 150, 190 f., 193, 205 – Moralfähigkeit 188 f. – Moralgemeinschaft 186–191, 198 – Moral, Gesinnungs- 131 – Moralphilosophie 129, 181, 186, 189 – moralisch VII–X, 23, 62, 72 f., 75, 79 ff., 118, 123, 127–131, 133 f., 138–143, 162, 181, 186–195, 198 f., 203 ff., 209 – moralisch, ausser- 129, 131 Musik 145, 148, 150 – Musikästhetik 155 – musikalisch 148 Nachhaltigkeit VIII, 66, 92 ff., 97 ff., 103 ff., 108, 111 f., 119 f., 177 – Nachhaltigkeitsforschung 108, 110 f. – nachhaltig V, 2, 10 f., 20, 36 f., 44, 46, 50, 91 f., 99, 104, 123 Nationalpark 8 ff., 85, 165, 177 f., 207 Natur Vf., VIII ff., 2, 8 f., 13–16, 19, 21–25, 27, 29, 31, 33 ff., 37, 39, 41, 43, 45, 47, 49, 51, 53, 55–70, 71 f., 78, 83–86, 90, 93, 102, 107–112, 116–118, 120–129, 131 f., 134, 136–144, 147, 149, 151, 153–156, 160 ff., 165–173, 177 f., 181 ff., 185–189, 191 ff., 195 ff., 199–205 – naturae, scala 69 – Naturalismus, holistischer 128 – Naturalist 22 – Naturästhetik 127, 132, 138, 149

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –



223

Naturausbeutung 119 Naturbegriff 61 f., 64, 108, 120 Naturbeherrschung 188 Naturerfahrung 155, 157 Naturerhaltung VIII, 56 Naturerkenntnis 122 Naturerleben VIIIf. Naturerlebnis 7 f. Naturethik 61, 72, 108, 138 f., 141, 143, 162, 189 Naturgesetz 49, 78 Natur-Heimatrecht V, 125 ff., 129, 131, 133 ff. Naturkapital 94, 97 Naturkollektiv 82, 85, 89 f. Natürliche, das X, 56, 107, 192, 195 Natürlichkeit 127, 161 Naturpark 177 Naturphilosophie 15 f., 127, 139, 163, 188 f., 191, 200, 202 Naturreservat 165, 177 Naturschutz V, 1 f., 9, 71, 73, 75, 77 ff., 81, 83, 85 ff., 89, 97, 102, 108 f., 127, 141, 153, 190, 207 Naturveränderung V, 125 ff., 129, 131, 133–136 Naturverehrung 201 Naturverhältnis VIII, 56, 109, 125 f., 120 ff., 128 f. Naturvernichtung VIII, 188 Naturwesen 128, 190, 199 f., 202 f. Naturwissenschaften X, 34, 53, 61, 109, 112 f., 149, 151, 162 Naturzerstörung 55, 188 natural 21, 23, 67, 114, 120, 127, 139, 163 naturalistisch 80 f., 128, 134, 191 naturästhetisch 138 naturbedingt 108 naturbelassen 104 naturethisch 138 naturgemäss 128 naturgeschichtlich 132 natürlich VIII f., 3 f., 9, 28, 31, 33 f., 52, 58 f., 74, 77, 81, 85 ff., 90 f., 94, 97 f., 104, 107, 111 ff., 117 f., 120 f., 125 ff., 132, 134 ff., 146, 149, 156, 162, 165 ff., 175, 178, 188 f., 197, 200 f. naturnah VIII, 1, 125

224

Sachregister

– naturwissenschaftlich VII, X, 14, 17, 28, 31, 60 f., 109, 111, 122, 143, 149, 166 Neues Testament 58, 169, 172 Ökologie VIII f., 19, 29, 33 f., 44, 52, 83, 107, 109 ff., 112 f., 117, 119, 123, 132, 197, 207 – Ökologie, Human- VIII, X, 108–112 ff., 117–120 – Ökologie, Kultur- 110 – Ökologie, Landschafts- 28 f., 31, 33 f., 36, 51, 208 – Ökologie, Sozial- 110, 118 f. – Ökologie, Stadt- 35, 51 – Ökologie, Tiefen- 139 – ökologisch V, IX, 2, 4 f., 7, 10, 21 f., 28 ff., 32, 36, 42, 44 f., 47 f., 53, 72, 83, 94, 102, 104 f., 107–110, 112 f., 117–120, 122 f., 138, 188 ff. – ökologische Ethik 71, 74, 78, 84, 112, 122, 189 – ökologischer Fussabdruck 4 – ökologische Humanität 107 f., 111, 113, 115, 117, 119, 121 ff. – ökologischer Problemraum 28 f., 37, 41, 46, 50 – ökologische Theologie 188 Ökosystem 1, 3–7, 9 f., 18, 33 f., 72, 74, 82 f., 85, 87–90, 98, 102, 107, 112, 119, 143, 162, 181, 190, 203 f., 208 – Ökosystem, Boden- 102, 104 f. – Ökosystemforschung 113 – Ökosystem, Geo- 34 – Ökosystemmodell, Landschafts- 32 – Ökosystem, Stadt- 51 Ökozentrismus 126, 186 Ontologie 83 f., 139, 191 – ontologisch 67 f., 83, 191 f. – ontologisch-existenzial 135 Opfer IX, 21, 65, 96, 104 – Opferfest 64 Our Common Future 2, 93, 106 Paradies 68, 169 f., 173, 177 – paradiesisch 68, 154, 158, 171 Pathozentrismus IX, 66, 68 f., 82, 187, 190 f., 197, 199, 202 – pathos 139

– pathozentrisch VIII, 79, 81 f., 84–86, 119, 139, 142, 187, 189, 199 Person 11, 15, 108, 113, 115, 120, 150, 195 f. – Personalität 13, 119, 189, 196 – personal 65, 109, 114, 118 f. – personal, inter- 86 Physiozentrismus IX, 61, 63, 66 f. – physiozentrisch 62, 68, 139, 141 Profanität IX – Profanisierung IX, 178 – profan VI, IX, 165, 167–171, 173, 175, 177, 179 Rational-Choice-Theory 130 Raum V, X, 27 f., 29 f., 32 f., 37, 40–43, 46–52, 58, 104, 113–116, 119 122–125, 144, 146, 155, 161, 163, 166, 172 f., 176 f., 204, 209 – Raumentwicklung 41, 48 – Raum, Erholungs- 6 – Raumethik 116 f., 122 – Raumforschung 53 – Raum, Kultur- 165, 172 – Raum, Lebens- 4 ff., 28 f., 31, 36, 40 f., 43, 45 f., 48, 53, 58, 91, 98, 102, 109 f., 118, 123, 167 – Raumordnung 29, 34, 36, 40 f., 51, 208 – Raumplaner 49, 207 – Raumplanung 30 f., 36 f., 44 f., 47, 91 ff., 97, 178, 208 – Raumplanungsgesetz 36, 49, 91, 97 – Raum, Siedlungs- 178 – raumethisch 110, 114, 116, 122 – räumlich VIII, 27 f., 40, 52, 67, 104, 114, 116, 122, 143 f., 167 f. Religion IX, 9, 55, 59, 63, 71, 123, 141, 144 – Religionsgeschichte 56, 64, 168, 171, 177, 208 – Religion, Natur- 119 – Religiöse, das 168 – religiös VIII, 60–64, 73, 121, 140 ff., 144, 162, 177 Ressource VIII, 4, 8, 10, 77, 91, 93 f., 97, 107–109, 120, 123, 138, 142, 146, 162, 167, 193 – Ressourcen, Boden- 104 – Ressourcenmanagement 93

Sachregister – Ressourcenschonung 92 – Ressourcenverbrauch 4, 11, 107 Romantik 13, 168, 176 Schönheit VIII, 8, 58, 68, 109, 121, 123, 138, 140 ff., 153–156, 158 f., 165, 177 – schön VIIIf., 6, 14, 24, 51, 58 f., 138, 143, 146, 149, 151–154, 156 f., 161, 163, 172, 179 Schöpfung V, 9, 55–61, 63–70, 118 f., 123, 171, 177 – Schöpfungsbericht 56, 67, 69 – Schöpfungsethik 68 ff. – Schöpfungsgeschichte 66, 169 – Schöpfungstag 68 – Schöpfungstheologie 78 – Mitgeschöpf 123 – schöpfen VIII, 23, 126, 133, 187 – schöpfungstheologisch 63, 65 ff., 119 Schweiz 36, 43, 45, 48, 91 f., 103, 111, 117, 123, 146, 162, 165 ff., 177 ff., 182 f., 188, 196, 207 f. – Schweizer 22, 40, 99, 101, 177 – schweizerisch X, 30, 36 f., 45, 49, 177, 197, 207 – schweizerisch, deutsch- 37, 46, 50 Seele 15, 22, 60, 145, 148, 200 f. – Beseeltheit 15 – Seelenleben 145 – seelisch 120, 150, 154, 161, 170 – beseelt VIII, 16 Solidarität 110, 116, 209 – Solidarisierung 68 – Solidarität, Generationen- 132 – Solidaritätspflicht 116, 122 Sparsamkeit 83, 183, 192 – Sparsamkeitsprinzip 84 spatial turn 113 f., 117 Speziesismus 69, 189 Spieltheorie 130 Stadt IX, 6, 27, 30 f., 33, 35–38, 40 f., 43 f., 45–49, 51 f., 58, 77, 115, 135, 141, 143, 146, 150, 153, 161, 163, 166–172, 175 f., 178 – Städtebau 42–44 – Stadtbevölkerung 6 – Stadtbild VIII, 46 – Stadtentwicklung 43, 48, 51

225

– – – – – – –

Stadtfauna 35 Stadt, Kern- 40, 45 ff., 48 f. Stadtklima 28, 35 Stadtlandschaft 52, 143 Stadtökologie 35, 110 Stadtökosystem 51 Stadtplanung 29, 35, 37, 41–47, 49, 51, 118 – Stadtquartier 28 – Stadtrand 38 – Stadtrandentwicklung 39 – Stadtwachstum 40 – Stadtzentrum 135 – Stadt, Zwischen- V, 27, 35 ff., 40 ff., 45 f., 47–52 – Stadtentwicklung, Zwischen- 39, 47, 49 ff., 208 – städtert, ver- 40 – städtisch 35, 44, 48, 170 Strebung VII, 74 f., 78–83, 85 Sünde 170 – Sündenfall 57, 170 – Sünde, Umwelt- 70 Superorganismus 16 f., 19 sustainable development 93 f. Sympathie 149 ff., 163 Tier 1, 3, 4, 6, 8, 10, 14 ff., 19, 22, 33, 56–60, 67, 69 f., 74 f., 79, 82 f., 85 f., 88–91, 98, 109, 116, 118, 122, 125 f., 138 f., 142, 167, 170, 179, 181–184, 188 ff., 194, 196 f., 200 f. – Tierfrieden 59 – Tierhaltung VIII, 4, 125 – Tierleid 189 – Tier, Nutz- 87 f. – Tierphilosophie 69 – Tierquälerei 189 – Tier, Säuge- 138 – Tierschutz 60, 189 f., 184, 196 ff. – Tiere, Wild- 8, 87 f. – Tier, Wirbel- 3, 82, 190 – Tierwürde 182 f. – Tierzüchtung 133 – tier-ethisch 61, 108, 189 Umwelt V, VII, IX f., 2, 9, 11, 27, 29–37, 39, 41–45, 47, 49, 51, 53, 55 f., 70, 83, 98, 103,

226

Sachregister

106, 110–112, 114 f., 117 f., 126 f., 135, 165 ff., 188 f., 193, 202 – Umweltämter 30 – Umweltbewegung 55 – Umwelteinflüsse 19 – Umweltethik V ff., 9, 36, 55, 60, 64, 66, 68, 70, 78, 107–110, 116, 119, 121 ff., 125, 181 ff., 185–191, 193, 195 ff., 199–203, 205, 207 – Umweltgefährdung 45 – Umwelt-Katastrophe 20, 31, 199 – Umweltkrise 199 – Umweltpolitik 35, 110, 127, 139, 163, 191, 202 – Umweltproblem IX, 28 f., 44 – Umweltschutz 1, 35, 61, 107, 122, 126, 166, 207 – Umweltsituation 108 – Umweltstaat 130, 132 – Umweltsünde 70 – Umweltverantwortung 37 – Umweltwissenschaften 33, 35 f. – Umweltzerstörung 7, 20, 119 – umweltethisch VI–IX, 55, 60 ff., 66, 69, 118, 131, 165 Urbanität IX, 37, 46, 167 – Urbanisierung 208 – Urbanisierung, Sub- 45, 48, 50, 52 – Urbanistik 27, 40 – urban 58, 91, 105 f., 112, 168, 178, 207 – urban, peri- 37 f. – urban, sub- 37, 40, 47 Utilitarismus 71, 76, 86, 129, 131 f. – Utilitarismus, Präferenz- 130 – utilitaristisch 75, 86, 107, 129–132 Vatikan 118 Verantwortung V, VII, 1, 3, 5, 7, 9, 11, 30 f., 33 f., 37, 44, 56, 66, 93, 107, 125, 130, 132, 136, 139, 163, 188 – Verantwortliche, der/die IX, 29 ff., 41, 43, 49 – Verantwortlichkeit 44, 69 – Verantwortung, Langzeit- 132 f., 207 – Verantwortungsträger 120 – Verantwortung, Zukunfts- 132 – verantwortlich IX, 29 f., 36 f., 41, 43, 52 f., 65, 72, 86, 118

– verantwortungsvoll 57, 93 Vereinigte Staaten von Amerika 177Wahrnehmung 14 f., 24, 28–31, 42, 45 ff., 50, 66, 68 f., 121, 123, 149 f., 165 f., 167 f., 176 – Wahrnehmungsakt 68 – Wahrnehmungsdifferenz 167 – Wahrnehmungsfähigkeit 15 – Wahrnehmungskategorie 67 – Wahrnehmung, Landschafts- IX, 165, 167 ff. – Wahrnehmung, Selbst- 14 f., 201 – Wahrnehmung, Sinnes- 123 – Wahrnehmungsverlust 52 – Wahrnehmung, Welt- 14 f. – wahrnehmen 15, 19, 24, 122 f., 149 – wahrnehmbar 36, 40 f., 43 Wasser 2, 4, 6, 18, 20, 58, 67,91, 94, 99, 120, 165 ff., 172 f., 177 – Wasserbassin 172 – Wasserhaushalt 6, 99, 102, 104 – Wasserhaushalt, Süss- 112 – Wasser, Hoch- 91, 172 – Wasserinfiltrationskapazität 92 – Wasserkraft 95 – Wasser, Oberflächen- 18 – Wasserreinigung 9 – Wasserreinigung, Trink- 91 – Wassersättigung 101 f. – Wasserstelle 175 – Entwässerung, Boden- 101 – Entwässerung, Moor- 101 – Gewässer 75, 101 – Gewässerverschmutzung 28 – wasserundurchlässig 101 Wert VIII, 1, 7 ff., 22, 44, 62, 67 f., 72, 74, 86, 111, 118, 121 f., 130, 138 ff., 142, 171, 181 f–186, 189 f., 195, 200, 203, 208 f. – Wertung, Ab- 60, 178 – Wertung, Auf- 1, 48 f. – Wertung, Be- 9, 40, 50, 72, 74, 127, 178, 183. 193 – Wertbegründung 184 – Wert, Eigen- VI–VIII, X, 9 f., 60 ff., 67, 72, 83 ff., 118, 120 f., 138–142, 181–195, 197 ff., 201, 203 ff. – Werteentstehungsvorgang 186

Sachregister – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wertekritik 184 Wertequalität 185 f. Wertestufen 184 Wertesystem IX, 104 f. Werthaftigkeit 182 Wertigkeit 50, 76, 155 Wertigkeit, Höchst- 184 Wert, Natur- 141 Wert, Nutz- 185 Wertobjektivismus 184 f. Wert, Relations- 186 f. Wertphilosophie VII, 184 Wertschätzung 9, 24, 61, 67, 93, 171 Wert, Selbst- 181 f. Wertsubjektivismus VII, 184 ff. Wertträger 185–188, 193 f., 197 f. Werturteil 150 Wertzuschreibung 61 Werte-Pyramide 183 f. Werte-Typen 181 Wert, anthropozentrischer 142 Wert, christlicher 55 Wert, ethischer 9 Wert, eudaimonistischer VIII Wert, intrinsischer IX, 61 ff., 70, 185 Wert, instrumenteller VIII, 138, 141 f., 185 Wert, nichtinstrumenteller 181 Wert, ökonomischer IX, 7 f. Wert, physiozentrischer 142 werttragend, eigen- 189, 192 werteanerkennend 185 wertend 71, 80, 185 wertig, gleich- 85, 139 wert, lebens- 41 wertlos 55, 57 wert, schützens- 198, 200

227

– wertvoll X, 9 f., 68, 161 Wesen V, VIII, 13–17, 19, 21 ff., 25, 61, 65, 69 f., 79, 81, 84, 86, 120, 126, 139, 141, 145, 149, 151, 161, 163, 169, 182, 189, 194 ff., 201 f., 204 – Wesen, Beziehungs- 121 – Wesenheit 22 f. – Wesen, Lebe- 3, 15, 17, 22, 33, 61, 66 ff., 78–86, 89 f., 120, 127, 181, 183, 188, 190, 196 f., 199, 202–205 – Wesen, Natur- 128, 190, 199 f., 202 f. – Wesenseigenheit 200 – Wesentliche, das 23, 71, 165, 190 – Wesen, Vernunft- 154, 188, 195 – wesentlich 45, 56, 84, 91, 96 f., 109, 113 ff., 121, 136, 139, 172, 175, 178 – wesentlich, un- 49 Wille 11, 36, 73 ff., 76 f., 184, 201 – Willensakt 184 – Willensfreiheit 195 – Willen, Lebens- 190 f. – Wille, Volks- 43 Wirkungsgefüge 31–35, 46, 51, 167 Wohnen VIII, 4, 6, 47 f., 115, 162 – Wohngebiet 10 – Wohnidentität 135 – Wohnraumangebot 48 – Wohnsiedlung 37, 40 – Wohnstandort 48 – Wohnungsneubau 48 – Bewohner 29, 41, 46 f., 49 ff., 166 – wohnen 40, 57 ff., 135, 153 – wohnen, be- 9, 122, 141, 176 Wüste 52, 59, 170 – Wüste, Agrar- 104 – Wüste, Halb- 57 – Wüste, Stein- 153