Ueber den Umgang mit Leidenden: Seitenstück zu Adolph Freiherrn von Knigge's über den Umgang mit Menschen [2. Ausg., Reprint 2021 ed.] 9783112426401, 9783112426395

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Ueber den Umgang mit Leidenden: Seitenstück zu Adolph Freiherrn von Knigge's über den Umgang mit Menschen [2. Ausg., Reprint 2021 ed.]
 9783112426401, 9783112426395

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Ueber den

Umgang mit Leidenden. S e i t e n stü ck r»

Adolph Freiherrn von Knigge's über den

Umgang mit Menschen. Don

Ernestine von Krosigk.

Mit einem Titclkupfer »ach Raphael.

Zweite Ausgabe.

Berlin, 1834. In der Sander'schen Buchhandlung-

Vorwort. JJCit Helligen Gefühlen übergiebt die Verfasse­ rin

dieses

Buch

in

einer

der edleren Menschheit.

neuen

Ausgabe

Sein Gegenstand ist

zu reichhaltig, als daß es möglich wäre, ihn zu erschöpfen, und schwierigcp noch ward seine Be­ arbeitung kn dem Gange eines Lebens, dem es oft an Mußestunden, ungestörter Ruhe und sanf­

ter Befreiung von Sorgen gebrach.

Wenn in­

dessen schöne Seelen — besonders unter der

aufblühenden, für reine Gefühle so leicht em­

pfänglichen Jugend



wenn

sie nur einige

freundliche Winke, nur einige wahre Ansichten des Lebens Unglücklicher daraus ziehn, und sie

in ihrem eigenen Leben — möge es das beglück­

teste sein und bleiben — zum Trost, zur Hülfe, zum Wohl ihrer leidenden Mitmenschen anwen­

den, so ist diese Arbeit vieler Jahre reich be­ lohnt, und die Verfasserin

darf mit sanftem

IV. Dankgefühl gegen die Vorsehung daß

auch

die schmerzhaften

sich sagen, Erfahrungen,

welche das Geschick ihr zu machen auflegte, nicht zu theuer um einen solchen Preis erkauft wurden. So möge denn auch die neue Ausgabe

dieses Buches freundlich ausgenommen werden,

und die Samenkörner des Guten darin zum

Wohl der leidenden Menschheit nicht auf ganz fruchtlosen Boden fallen, sondern auch ferner» hin tausendfältige Früchte trage«!

Ihr aber trostlos Niedergebeugte und Be» kümmerte: Verzweifelt nicht an Gottes ew'ger Güte!

Der Welten lenkt vergißt auch Eurer nicht;

Welch schaurig Dunkel uns das Leben biete: Der höchsten Huld vertrau’«, ist heil'ge Pflicht! Gefühl schenkt Gott dem glücklichen Gemüthe, Zn Finsterniß strahlt er, ein Helles »Licht:

Er senkt Erbarmen in der Menschen Herzen, Zu lindern ihrer Brüder Noth und Schmerzen.

Inhalt.

Seite 3. 2. Kennzeichen des wahren Leidenden

S. 15.

3. Achtung der Leidenden für sich selbst

S. 42.

4. Ueber menschliche Leiden im Allgemeinen

S. 71«

5. Leiden durch Krankheit und körperliche Mängel S. 9L

6. Dürftige

7. Arme

S. 114.

S. 131.

8. Leidende im Alter

S. 164.

9. Leidende in der Kindheit S. 175.

10. Waisen in ihren verschiedenen Verhältnissen, öffentliche wohlthätige Anstalten für sie S. 196.

11. Wohlthätige

Anstalten

für

Kranke

und

Schwache

S. 213.

12. Edle verschämte Arme S. 223. 13. Wittwen und Waisen edler Männer des Vaterlandes

S. 284.

14. Leiden, die durch lieblose Urtheile, durch Derläumdung entstanden oder erschwert werden.

S. 248.

15. Leidende, deren edle Absichten vom Glück nicht begün­ stigt sind; gesunkner Glücksstand, gehemmte Thätig-

VI kett, Talent bei unglücklichen Lebensverhältnissen S. 274. 16. Freunde als Leidende S. 311. 17. Feinde als Leidende S. 332. 13. Leiden unglücklicher Ehen S. 246. 19. Leiden unglücklicher Eltem S. 354. 20. Leiden durch den Tod geliebter Angehörigen S. 365. 21. Fürsten: Verhältniß edler Menschenfreunde zu ihnen S. 383. 22. Frühes Gewöhnen zum Thetlnehmen — Menschenglück und Menschenleben S. 394. 23. Wie wett kann und darf unser Mitleid für Unglück­ liche gehen? — Bemerkungen von Knigge über die­ sen Gegenstand. — Darf der Gedanke, daß es Un. dankbare giebt, Einfluß auf unsere Wohlthätigkeit ha­ ben ? — S. 403. 24. Verhältniß und Pflichten des Leidenden gegen Glück, liche S. 428. 25. Schluß 456

Ueber den

Umgang mit Leidenden.

Einleitung

Oeierllch ist das Gefühl, mit welchem des For­ schers Auge prüfend, so weit es menschlichen Kräf­ ten angemessen ist, in den unergründlichen Reich­ thum deS Weltalls schaut. Hier reihen sich Schö­ pfungen an Schöpfungen; jede bewohnte Erde schließt, für ihre zahllosen Bewohner, wieder zahl­ lose mindre Welten in sich, und der lebendige Athem, wodurch das Daseyn Aller hervorge­ bracht, beseelt, erhalten wird, ist der Geist der Liebe, ausgegangen vom Throne dessen, in welchem der denkende Weise, wie der an Begriffen arme Sohn des wilden Eilands alles vereinigt As

4 sieht, was den höchsten Begriff deS Guten aus­

drückt; dessen, den jede Sprache der Völker, sie sey reich oder arm, mit dem liebeeinflößenden Na­ men »Schöpfer- bezeichnet. Dieses Schöpfers leuchtende Sonnen und Ge­ mit ihrem wohlthätigen Einfluß auch über euch dahin, Welten des Gesteins und

stirne

wandeln

der Pflanzen, und vielleicht empfindet ihr, anschei­

nend unbcseelte Wesen, ihn dennoch in einiger Art. Aber eine Seele, begabt mit ordnender, lichter Denkkraft, ward euch nicht» Mittheilung der Em­ pfindungen ist euch kein Bedürfniß, und blieb euch

daher versagt. Ihr, verschiedene Geschlechter der Thiere, seyd

zwar, jede Art unter sich, durch sichtbare Bande der Geselligkeit, naher unter einander verbunden; aber thcilnehmend für einander empfinden, liebe­ voll für einander handeln liegt nur dann in eu­ rem beschränkten Wirkungskreise, wenn die, auch im vernunftlosen Geschöpf heilige Elternliebe euch

und eure Fähigkeiten den Geschöpfen edlerer Art gleichsam um eine Stufe naher bringt.

Allgemei­ ne Liebe für Wesen seiner Gattung, reges Mitge­

fühl für sie, Wirksamkeit für ihr Wohl sind nur des Menschen Antheil; er allein hat das große Vorrecht,

empfindungsvolle Thränen zu weinen,

5 und die edelsten dieser Thränen sind, nächst denen,

welche dem anbetenden Gefühl für seinen Schö­ pfer fließen, diejenigen, welche er dem Leiden sei­ ner Mitmenschen weiht.

Durch allgemeine Men­

schenliebe steht, unter allen sichtbaren Wesen, der Mensch dem Heiligthum Gottes am nächsten, dem

Heiligthum, von welchem alle schöne Empfindun­

gen, alle erhabne und sanfte Tugenden ausgehn, deren wohlthätiger Quell die Menschenliebe wer­ den sollte.

Verabsäume also nichts, a Mensch, was die Liebe zur Menschheit in Deiner Seel« erhöhen, befestigen kann — dies veredelnde Gefühl ist das unverkennbare Siegel der nähern Beziehungen, in welchen Du, vorzugsweise vor allen andern Ge­

schöpfen, mit der Gottheit stehst.

Zwar bist Dl»

allen Wesen, denen die Natur, wenn auch nur

thierisches Leben, wenn auch nur sinnliches Em­ pfinden gab, sanftes Erbarmen schuldig; Deine vorzüglichsten Gefühle aber gehören denen, wel­ che die Natur eng mit Dir verband, indem sie sie

zu Wesen Deiner Gattung bildete.

Sanfte,

theilnehmende Freude bei dem Wohl des Mitmen­ schen, wahres, inniges Mitgefühl bei seinem Schmerz mußt Du als ein heiliges Naturgesetz be­

trachten; denn die Menschheit steht auf einer sicht­

bar zu erhabnen Stufe, als daß nicht die Dan-

6 de, welche Wesen einer so ausschließlich begünstige ten Gattung vereinen, die edelsten und die innig­ sten seyn sollten.

Alle Menschen sind Brüder — diese heilige Wahrheit lehrt schon die Stimme der Natur; Wei­

se und Fromme aller Zeiten lehrten sie, und je mehr, je inniger sie in ihrem ganzen edlen Um­ fang empfunden und beherzigt wird, je höher steigt die Summe des moralischen, und mit ihm des phy­ sischen Glücks auf Erden. — Gönne mir die reine

Seeligkeit, hierzu beigetragen zu haben, o milde Natur, die mir ein empfindendes Herz, eine gern thätige Denkkraft gab; gönne einem Herzen voll

Menschenliebe das schöne Bewußtseyn,

sie in An­

dern erweckt oder erhöht zu haben, da es selbst sie nicht immer nach dem ganzen Umfang seiner Ge­ fühle beweisen konnte.

Glücklicher, der Du, im Genuß alles Wohl­ ergehns, Dich gesichert hältst vor Unfällen und Be­

kümmernissen dieses Erdenlebens,

den unzählige

Freuden umgeben, welche Tausende Deiner Mit­ menschen kaum dem Namen nach kennen; wenn Du wahrhaft Deines Glücks Dich freust, so freut auch

mein Herz sich wohlwollend mit Dir; denn Du bist mein Brudsr. — Leidender, dessen gan­ zes Daseyn jedem in das ruhige, oft unbegreifli-

che Walten der Vorsehung nicht eintzewrihten Au­ ge, vielleicht DK selbst, nur eine Kette von Müh­

seligkeiten scheint, oder welchem doch im Leben weit mehr Schmerzen als Freuden wurden — Lei­

dender, meine Seele theilt jeden Deiner Schmer­

zen, denn Du bist mein Bruder. — Ist es aber «nbezweifelte Wahrheit, daß die Gleichheit der Gefühle und der Verhältnisse unS mit Menschen, mit denen schon das allgemeine Band der Natur uns vereint, noch enger verbinden müssen, so fühle

ich mich mehr zu Dir, o Traurender, hingezogen, und die wärmsten, di« edelsten meiner Gefühle sind Dein. — Die Kunst, mit Unglücklichen wohlthuend und

weise umzugehn, giebt der Menschheit ihren wah­

ren Adel;

jede Uebung in dieser Kunst ist seelige

Annäherung an die Gottheit. Menschenliebe, wenn

sie sich durch Wohlthat beweist, selbst dann, wenn diese Wohlthat dem Leidenden ersehnte Rettung wäre, giebt dennoch bei weitem nicht Alles, was in ihren reichen Schätzen liegt; — durch Umgang mit edlen Unglücklichen

lernen wir erst,

daß

Wohlthat nur der mindr« Grad des Wohlthuns

genannt werden kann. Zeder Umgang

setzt

Bekanntschaft

voraus,

wenn diese gleich in dem Umgang des gewöhnli-

8 chen Lebens nicht immer sehr genau zu seyn braucht; aber der, welcher den Umgang mit Leidenden sich zu einem

wahren Geschäft deö Herzens machen

will, muß sie ganz kennen, und die Worte, »sie ganz kennen,« umfassen sehr viel. Wenn gleich die Natur ihre edelsten Geschö­

pfe, die Menschen, durch das sanfte Band allge­ meiner Liebe vereint, so giebt es, in den Verhält­

nissen des Lebens, auch wieder Vieles, wodurch dieses Band erschlafft wird; von allen Verhältnis­ sen aber, wodurch Menschen von Menschen getrennt werden» ist vielleicht keins, daS so sehr absonderte, als die Verschiedenheit des Standpunkts, welchen der Glückliche, und dessen, welchen der Unglückli­ che einnimmt. Der Glückliche, besonders wenn

er schon seit früher Jugend im Besitz alles dessen war, was seinen Wünschen schmeicheln und sie be­ friedigen konnte, mußte ja natürlicherweise mit je­ dem niederschlagenden Gefühl des Entbehrens, auch

der nothwendigsten Bedürfnisse, des Mißlingens,

auch der bescheidensten Wünsche, fast ganz unbe­ kannt bleiben, ahnet vielleicht kaum das Daseyn

menschlicher Leiden; wenigstens legt Terenz, der herzenskundige Dramatiker, einem solchen gebornen Schooskinde des Glücks die Frage in den Mund: »was ist ein Armer?«— Mag ein ge­ fühlvolles Herz bei einer solchen Frage schaudern—

9 dennoch ist dieser scharfe Zug wahr, ist Unentbehr­ lich zum Gemälde des kalten Glücklichen, den sein Ueberfluß von Menschenherzen und ihren edel­ sten Gefühlen trennt. Eigne Erfahrungen der Lei­

den machte er nicht; Stolz, üppige Pracht, feile Schmeichler hielten den Unglücklichen von ihm zu­

rück, dessen sanftes Vertrauen dadurch für ihn ver­ loren gieng.

War also jene kalte, herzlose Frage

unnatürlich? — Jede edle Kunst, jede Wissenschaft muß ge­ lernt werden, und der Lernende gewinnt, wenn es früh geschieht. Eben dieses gilt von dem schö­

nen Studium des Umgangs mit Leidenden, worin wir immer vollkommener werden, je mehr wir, durch Veredlung unsrer Gefühle,

den uns dazu

angebornen Anlagen zu Hülfe kommen.

Den zar­

ten Keim des Mitleids legte die Natur selbst in dje menschliche Seele; er bedarf nur der Fürsor­

ge, daß er nicht erstickt werde — seine übrige War­

tung ist zu belohnend, als daß sie mühsam werden

könnte.

Ein Herz, das sich dem Mitgefühl für

seine Mitmenschen verschließt,

ward

äußere Veranlassungen verwahrlost;

nur durch

und wer ein

solches Herz besitzt, der ist kein Zögling der Natur. Selbst da, wo die Natur sich völlig zu ver­ leugnen scheint, selbst bei einer an sich schauder«»-

IO regende» Handlung, kann das innigste Mitgefühl,

das schon voll trauriger Ahnungen in die Zukunft blickt, zum Grunde liegen, und so blieb der Mensch, wenn auch nicht in seiner Handlung, doch in sei­ nem Bewegungsgrund, der Natur treu. Würde die gequälte Negerin ihr Kind todten, an welchem sie mit heißer Mutterliebe hieng, wenn sie es nicht in der Absicht thäte, es auf immer von dem Druck einer Sklaverei zu befreien, die ihr so unaus­

sprechlich lastend ward? Würden, auch unter ge­ bildeten Völkern, ähnliche Beispiele der Berzweis-

lung unglücklicher Eltern statt finden, wenn diese nicht eine ganz hoffnungslose Zukunft für die Ih­ rigen vorauszusehn» und ihnen, durch den Tod, die Leiden dieser Zukunft zu ersparen glaubten? — So kann die Handlung an sich entsetzlich seyn; aber ihre Quelle war rein; sie floß aus dem Mit­ leid, aus einer der schönsten Anlagen der Natur

im Mrnscheuherzen, wenn sie richtig geleitet roitj).

Sobald wir nun, in jeder unverdorbnen See­ le, die Anlage zur Theilnehmung an Andrer Lei­ den voraussetzcn,

so werden wir auch zuaeben,

daß dieses Theilnehmen um so mehr berichtigt und

erweitert wirb, je genauer wir jene Leiden ken­ nen, je gehöriger w»r sic würdigen lernen; daher muß die Bekanntschaft mit Leidenden selbst, und mit ihrem Schmerz» der erste Schritt seyn, wo-

II durch wir uns deS Umgangs mit ihnen fähig mar

chen; denn wer vermag richtig zu beurtheilen, was er nicht anschaulich erkennt? — »Aber" — so könnte vielleicht auch ein Mensch von edlem Herzen fragen — »soll der Gefühl«

volle, oft vielleicht zur Storung seines eignen Frie­ dens, den Anblick von Leiden aufsuchen, denen auch der größte Machthaber auf Erden nicht im«

mer abhelsen kann?" — Zwar ist die Summe der Freuden von der Hand des milden Schöpfers reichlich auf Erden vertheilt; aber groß ist auch die Summe der Leiden, und kann der Einzelne, auch bei dem innigsten Mitgefühl, jedem bedrück­ ten Herzen die Last abnehmen, unter welcher es

seufzt? — Wird ihm das eigne Daseyn nicht höchst schmerzvoll werden, so oft er in das Innre einer leidenden Seele blickt, und dann tief bekümmert,

mit nagendem Gefühl, sich sagen muß, »ich kann

nicht helfen? * —

Guter Mensch — denn das bist Du, wenn Du aus dieser Besvrgniß nur Dich schüchtern

von dem Leiden zurückhältst,

welchem Du nicht

abhelfen zu können glaubst — verbanne diese Furcht, denn sie ist ungegründet; vertraue Deiner Kraft» denn sie ist größer als Du denkst. Zwar hat die

unseelige Ueberschätzung des Reichthums, beson-

12 ders in unsern Tagen, schon so viel Einfluß ge­

wonnen, daß selbst ein edler Mensch, wenn ihn daS Glück nicht in jener Hinsicht begünstigte, sich oft weniger zutraut, als er vermag, sich oft schwä­ cher hält, als er es wirklich ist, und nur ver­ nünftig zu handeln glaubt, wenn er nicht un­ ternimmt, was anscheinend über feine Kräfte geht.

— Erstlich aber giebt es der Leiden viel, die nicht immer aus Mangel an Glücksgütern entstehn, und für deren Lindrung

thätige Theilnehmung mehr

thun kann, als Gold; zweitens muß man sich im­ mer fragen, welches die wahrste, wesentlichste Wohlthat für den Unglücklichen sey, und nie wird man sich zu schwach fühlen, ihm diese zu erzei­ gen. Wenn der Glückliche — sobald sein Herz edel genug ist, dies zu wünschen — mehr Mit­

tel in Händen hat, den Leiden feiner Mitmen­ schen abzuhelfen, so findet doch der minder Be­ glückte häufiger Gelegenheit dazu, indem er

diese Leiden theils aus eigner Erfahrung, theils auch dadurch näher kennen lernte, daß die Aehnlichkeit der Lebensverhältniffe den Leidenden mehr zu ihm hinzieht, statt daß ihn di« Verschiedenheit

derselben von dem Glücklichen zurückscheucht.

Die

Fälle sind nicht selten, wo es auch in des Aermsten Vermögen steht, Leiden zu heben, die nur der Augenblick fühlbarer machte, und Leiden lindern

kann sogar der Unglücklichste;

vielleicht kann er

13 es am besten, wenn er nur, bei oft erduldetem

eignen Schmerzgefühl, sein Herz bewahrt, daß es auch dem Schmerz Andrer offen bleibe.

Zartes

Mitgefühl, edle Achtung für den Leidenden und seinen Kummer, sanfter Trost, der einem verwun­

deren Herzen wohlthut, diese himmlischen Wohl­

thaten liegen in den Kräften eines Jeden, und welche höhere kann der Menschenfreund, wäre er auch Besitzer eines Throns, wohl ertheilen?

Sie

sind die süße Pflicht Aller, welche auf den edlen Namen „ Mensch “ gegründeten Anspruch machen

wollen, und durch sie wird es auch dem, der gänzlich unvermögend zur Hülfe scheint, dennoch oft möglich, für des Mitmenschen Wohl thätig zu handeln,

z. B. durch Fürbitte bei gutdenkenden

Menschen, durch Dienstleistungen u. s. w.

Wache daher, Du innig empfindender, aber noch zu schüchterner Freund des Leidenden, wache

über Dein weiches Gefühl, Weichlichkeit ausarte,

daß es nicht in

die nicht weit davon

entfernt ist, Egoismus zu werden — geh' nicht, in dem Wahn Deiner gänzlichen Ohnmacht, trauernd, aber unthätig, bei dem Leidenden vor­ über! Wende Dich vielmehr zu ihm, wie ein prü­

fender, gewissenhafter Arzt, der wenigstens die Krankheit kennen lernen, und sie lindern will,

wenn er gleich noch nicht verfichert ist, sie zu he-

14 den; übernimm standhaft das Schmerzgefühl, welches der Anblick menschlicher Leiden in jedem weichen Herzen erregt! Aus dem Schmerz, den Du so freiwillig übernimmst, wird für Andre der Trost herfließen, der in Deinem Vermögen steht, und Blumen des Himmels werden aus den Thränen aufblühn, die jenes edle Trauern Dei­ nem Auge entlockt.------

Kennzeichen des wahren Leidenden.

SÜSem es Angelegenheit ist, die Kennzeichen des wirklich Leidenden richtig auszusinden, und den Grad seines Leidens aus einem richtigen Gesichts­ punkt anzusehn, der muß dahin streben, sein eig­ nes Gefühl so sehr als möglich zu veredlen; er muß sich, so viel nur in seinen Kräften steht, Er­ fahrungen in der Seelenkunde sammeln, und sich einen prüfenden Beobachtungsgeist zu eigen ma­ chen; denn so wie die körperlichen Leiden, denen der Mensch unterworfen ist, ihre Anzeigen haben, so haben auch seine Seelenleiden die ihrigen, nur daß die letztern schwieriger aufzufinden sind, be­ sonders da, wo es am nöthigsten ist, daß sie ge­ funden werden. Eine Klaffe der Leidenden giebt es — und, der Vatergüte Gottes sey Dank, die mehrsten gehören zu dieser Klasse — wo die Schwie­ rigkeit, ihren Schmerz oder seine Ursachen aufzu­ finden, wegfallt, weil ihnen dieser noch Kraft ge-

i6 nug laßt, ihre Gefühle auszusprechen, und so den

Trost, dessen sie bedürfen, bei ihren Mitmenschen zu suchen.

Diese kommen dem Menschenfreunde

auf offnem Wege entgegen, und obgleich die An­ zeigen, daß sie Leiden fühlen, auf diese Art deut­

lich da sind, so kann man doch, ohne lieblos zu urtheilen, wohl annehmen, daß der Grad eines

Leidens, welches sich ohne große Ueberwindung

ausspricht, geringer sey, als da, wo das Gegen­ theil statt findet.

Das reizbare Empfindungsver­

mögen , welches im Allgemeinen die Eigenschaft der minder starken Seelen ist, nimmt sehr leicht Eindrücke auf, und stellt sie eben so leicht wieder anschaulich dar; aber solche Eindrücke sind nur lebhaft, nicht tief; sie berühren die Seele

nur, ohne ganz in sie einzudringen; daher vermag das Gefühl, welches sie hervorbringen,

sich zu zeigen, wo ein tiefres sich im Gegentheil verbirgt, so wie der leichtre Körper auf der Oberfläche des Wassers bleibt und sichtbar ist,

da hingegen der schwerere bis zum tiefsten Grunde sinkt und dort verborgen liegt. Das lebhaft empfundne Leidensgefühl nennen

wir Schmerz. Der Schmerz — wenn er nicht in dem außerordentlichen Grade die Seele ergreift, wo er ihr, oder dem Körper zerstörend wird — hat für den beobachtenden Menschenfreund den Vor­

theil, daß er in seinen Anzeigen deutlich und un-

räth-

i7 rathselhaft ist; dadurch wird er leichter zu behan«

dein, und leichter bieten sich, sowohl Hoffnungen als Mittel dar, ihn zu lindern.

Er characteri-

sirt sich lebhaft; da er aber den Trost nicht flieht, sondern ihm vielmehr entgegen kommt, so ist es nicht so sehr schwierig, Trost für ihn zu finden. Weibliche oder jugendliche Seelen, auch solche, die

nicht auf einer sehr hohen Stufe der Bildung stehn, sind für den Schmerz am empfänglichsten, über­

winden ihn aber leicht.

Wenn solche Leidende uns

zu Vertrauten ihrer Gefühle machen, so sind wir ihnen unsre Theilnehmung zwar schuldig, aber un­

ter weisen Einschränkungen. Erstlich, ist es nothwendig zu prüfen, ob der

uns mitgetheilte Schmerz einen Grund habe, der

sich vor der Vernunft rechtfertigen laßt, daS heißt ob er nicht aus ganz eingebildeten, oder doch weit weniger bedeutenden Ursachen entsteht, als die uns dargelegt wurden. Diese Prüfung muß aber nicht

den leisesten Anstrich von Harte annehmen; wir müssen sie, mit Wohlwollen, zuerst für uns selbst

anstellen, und finden wir eingebildetes, oder doch weit geringeres Uebel, als wir dachten, so wird es

Pflicht, den Leidenden zur Ueberzeugung hiervon, wäre es auch für den ersten Augenblick nur durch sanfte Ueberredung, zu führen. Aber hier ist, wie bei jeder Art des Trostes, Behutsamkeit sehr nö­

thig ;

denn einmal,

ist es schwer, sich ganz in

B

i8 eines Andern Seelenlage zu denken, und dann er­ scheint

einem

aufgeregten Gemüth Manches als

Härte, was dem Unbefangnen nur bloßer Vernunft­ grund ist. Die Prüfung eines uns mitgetheilten Leidens ist aber durchaus nicht Härte, wenn sie mit

der gehörigen sanften Vorsicht angestellt wird, son­ dern Weisheit und Menschenliebe fordern sie. Die

Weisheit sagt uns: das edle menschenfreund­ liche Mitgefühl sey ein zu heiliges Geschenk, als daß es verschwendet werden dürfte, und verschwen­ det würde es, wenn jede unbedeutende Deran« lassung es in Anspruch nehmen dürste. Die Men­ sch en liebe gebietet uns, so viel in unsern Kräf­ ten steht, jedes Uebel aus unsrer Mitmenschen Le­

ben hinwegzunehmen, und das thun wir, wenn

wir ihnen einen quälenden Wahn benehmen, ihnen Leiden verursachte,

der

oder wenn wir die zu

ausgedehnten Ansichten, die sie von ihren Leiden haben, in die gehörigen Gränzen zurückführen.

Die Menschenliebe verliert bei solchen Prüfungen

nicht, sie gewinnt vielmehr; denn wenn wir uns überzeugt haben, ein Uebel sei leicht, so werden wir auch finden, daß ihm leicht abzuhelfen sey, und jeder gute Mensch wird zu einer solchen Hülfe wil­

lig und bereit seyn.

In jedem Verhältniß, wo ge­

ringen Unfällen zuviel Wichtigkeit beigelegt wird —

und dies geschieht nur zu oft — muß unsre sanfte Theilnehmung sich mit weisem Ernst vereinen,

19 wenn wir des Mitmenschen Bestes wahrhaft wollen;

der Leidende aber,

sein Schmerz beruhe nun auf leerem Wahn, oder auf wenig bedeutenden Ursa­ chen, muß uns immer ehrwürdig bleiben; er lei­

det, und dies ist genug, ihm Anspruch auf unser Bedauern zu geben, —r

Eine Hauptsache, die der Pflicht gegen unS selbst und gegen wahre Unglückliche ganz ange­ messen ist, bleibt noch die ernstliche Prüfung, ob der Schmerz, welchen man uns zeigt, ein aufrich­ tiger oder ein erheuchelter sey. Wer nur einigermaaßcn Lebenserfahrungen sammelte, der weiß auch, daß es Unwürdige giebt, die durch erkünstel­ ten Schmerz, durch auswendig gelernte Klagen, eins der schönsten Gefühle der Guten, das Mitleid,

nur erregen wollen, um es zu misbrauchen. sah zum Beispiel nicht in seinem Leben,

Wer ober

machte auch wohl selbst die Erfahrung, daß Men­

schen, die sich arm stellen, oder nach häufiger, die es durch schlechten Wandel wirklich wurden, die wohlmeinende Milde ihrer Mitmenschen in Anspruch nehmen, sie hintergehn, um Vortheile von ihnen zu ziehen, und so, im Müßiggang und den damit verbundnen Lastern, ein Leben voll üppiger Genüsse

führen, sich begehrend anmaaßen, was ihre Wohl­ thäter selbst, um vernünftige Einschränkung zu be­ obachten, auch vielleicht um wohlthun zu können, sich versagen? Wenn wir, ohne gehörige Ueber B 2

20

legung, solchen Unwürdigen unser Mitleid schen­ ken, ihrem erheuchelten Schmerz Trost und Wohl­ thaten gewähren, so entzieh» wir dadurch dem wah­ ren Leidenden, was eigentlich nur ihm gebührt; wir lassen die Tugend schmachten, und begünstigen

das Laster, welches doch den weisen und milden Zwecken der Wohlthätigkeit ganz entgegen ist.

Auch aus andern tadelhaften Absichten kann ein

erkünstelter Schmerz zur Schau gestellt werden, und lassen wir unS, ohne vorhergegangne reifliche

Prüfung, daS Mitleid zu schnell hinreißen, so se­ tzen wir unS ost in Gefahr, daß wir, ohne unser Wissen, schädliche Absichten befördern helfen, und also gegen das Gute arbeiten, dessen Beförderung

doch der vorzüglichste Zweck unsres Daseyns auf Erden seyn soll. Wer also zweckmäßig für das Wohl der Menschheit handeln will, muß es immer nur unter der Leitung weiser Vorsicht und reiner Tugendliebe zu bewirken streben. Fern sey es indessen von Dir, o Menschen­

freund, diese Vorsicht so weit zu treiben, daß die warme, edle Empfindung Deines Herzens, Dir selbst unmerklich, nach und nach erkalte; daß die, bei Gewährung des Trosts und der Hülfe, oft so unschätzbare Zeit darüber verloren gehe, oder daß

wohl gar, nach einem langen, sehnsuchtsvollen Harren, das Maaß der Leiden eines Unglücklichen

noch durch vereitelte Hoffnung gehäuft wer-

01

dt— nein; der gewahrt den Trost doppelt, wel­ cher ihn bald gewahrt. Heuchelei kann zwar die Zeichen des Schmerzes zu unwürdigen Absich­

ten entlehnen, aber dieser Gedanke darf dem Men­ schenfreunde in seinem wohlthätigen Wirken nicht störend werden; denn wenn er es an weiser Vor­

sicht nicht fehlen ließ, und dennoch unredlich hinter­ gangen ward, so muß das Bewußtseyn ihn trösten, daß sein schönes Gefühl, welches der Unwürdige mißbrauchte, nur dem Unglücklichen gelten und

geheiligt werden sollte. Jeder Mensch, der von Natur gutmüthig und mitleidig ist, hat Ursache, sich zu hüten, daß er nicht in einen Irrthum verfalle, der im gewöhnli­ chen Leben häufig seyn mag, nemlich, die Aeuße­ rungen des Schmerzes für das einzige oder doch

sicherste Kennzeichen eines Leidenden zu halten —

im Gegentheil, die größern Leiden sind immer die, welche sich am wenigsten kund thun wollen oder können. Der Schmerz ist ein lebhaftes Leidens­ gefühl , wovon aber die Ursachen noch möglicher­ weise wegfallen können, und die Wirkung dann, wenigstens größtentheils, gehoben seyn würde —

wo aber dieses schwerlich oder nie vorauszuschn ist, da ändert sich das Wesen des Schmerzes, und er

wird Kummer. Der Kummer ist also ein aus fortdauernde Ur­ sachen gegründeter und durch sie verlängerter

22

Schmerz. Er hat ein sanftres, oder auch trüberes Leußre; er kündigt sich nicht so lebhaft und deut­ lich, am wenigsten durch Worte, an; aber er liegt tiefer in der Seele, und belastet sie drückender;

denn er wird durch Empfindungs- und Erkenntniß­ vermögen zugleich genährt. Kummer kann man nur über solche Unfälle haben, die zwar schon in der Vergangenheit liegen , deren Folgen aber auf Gegenwart und Zukunft noch Einfluß haben.

Dieses Gefühl kann nur in Seelen wohnen,

welche zu denj zartempsindenden, zu den, ihrem Verhältniß nach, mehr gebildeten gehören, welche nicht allein des bloßen Leidensgefühls, sondern auch der Betrachtungen über dasselbe, fähig sind. Man kann also annehmen, daß Leidende, welche

Kummer haben, schon zu den vorzüglichsten Men­ schen gehören. Dieses, und der höhere Grad ihres Leidens, macht sie einer angelegentlichem Theilnehmung werth. Der Kummer hat das Eigenthümliche,

daß

er sich lieber verbirgt, als mitthcilt — man könnte

sagen: der Schmerz wünscht Zeugen, der Kum­ mer flieht sie. Da er schwerer zu durchschauen ist, so wird es auch schwerer, Trost für ihn zu fin­ den, wiewohl er, wenn wir ihn kennen lernen, unser Interesse in einem höhern Grade gewinn:: eS sey nun weilAlles, was den Schleier des G-heimnisses tragt, jeden Menschen unwillkührli;•

LZ anzieht; oder es sey, daß wir fühlen, Kummer könne bloß ein auf erhebliche Ursachen gegründetes

Leiden vorzüglicherer Seelen seyn. — Wir geben Unglücklichen dieserArt unser Interesse aus Mitgefühl und Achtung zugleich. Daß solche Seelen ihr Leiden lieber zu verber­

gen streben, als es Andern mittheilen, davon liegt

der Grund in ihrer ganzen eigenthümlichen Beschaf­

fenheit. Das deutliche Bewußtseyn, oder das dunkle Gefühl sagt ihnen, daß sie wohl selten auf Erden eine edlere Quelle des Trosts und der Beruhigung finden können, als ihr eignes Herz; sie wollen also dort nur die sanfte Labung schöpfen, die sie zu fernerm Dulden, oder zu erheiternden Hoffnungen stärkt. Durch gehaltvolle Lebenserfah­

rungen, die sie machten, sammelten sie und befe­ stigten in sich Grundsätze, die so ganz aus ihren eigenthümlichen Verhältnissen fließen, daß sie nicht leicht hoffen dürfen, der Glückliche werde ganz in ihre Gefühle und Ansichten eingehn, und diese in­

nere Trennung entfernt sie auch im Aeußern, oft noch weit mehr, als die Verschiedenheit der Lebens­ verhältnisse, von ihm. Der Charakter edler Unglücklichen ist entweder

sanft, und dann neigt er sich zum stillen Dulden; oder er ist lebhaft, und dann ist er leicht reizbar. Die sanften Leidenden, an stille Resignation gewöhnt, schmeicheln sich nicht leicht mit dem trö-

24 stenden Gedanken, daß ihr Kummer für Andre ein wichtiger Gegenstand seyn könnte —

vielleicht

machten sie auch schmerzhafte Erfahrungen, die ih­

nen diesen Trost benahmen — sie verschließen daher stilltrauernd ihr Leiden in ihrem Innern,

bis es endlich einem wohlwollenden Herzen glückt, ihnen

mit entgegenkommender Liebe näher zu treten, die sanfteste Saite ihrer Empfindungen zu berühren,

daß sie anspricht, wie die klagende Saite derAeolsharfe bei der Berührung milder Lüfte. — Einem wahren Menschenfreunde glückt es, das Geheim­ niß des Kummers sanfter Leidenden zu enthüllen;

ihm werden sich ihre lange verschloßnen Lippen ent­ siegeln, wenn er mit der zarten, bescheidnen Em« psindung, die eben so weit entfernt ist von herzlo­ ser Kalte, als von widriger Zudringlichkeit, ihrer leisen Klage auf halbem Wege entgegen kommt.

Besitzt der Leidende eine lebhafte und reizbare Gemüthsstimmung, so ist es noch schwerer, ihm in ir­ gend einer Art näher zu treten. Ein sokcherCharakter hatte gewöhnlich viel mit Menschen und Geschick zu

kämpfen; der Widerstand, den er ihnen thun muß­ te, machte ihn kräftig, bestimmt und ernst, so daß er eine gewisse Ehrfurcht auflegt, die man ihm auch, oft unwillkührlich, zollt, und ihm nur mit einer Art von Schüchternheit naht. Leidende die­ ser Art verschließen ihren Kummer ungleich mehr,

und mit viel geschärstern Empfindungen in sich selbst,

25 als ein stilles duldsames Gemüth,

weil sie einen

Stolz besitzen, der bei gewissen Veranlassungen leichter rege wird, als es der Glückliche zu ahnen

vermag.

In den Augen gewöhnlicher Men­

schen — deren Anzahl doch immer die größte bleibt — führt das Unglück einen Begriff von Erniedri­ gung mit sich; die Unzartheit, dies zu erkennen zu geben, ist nicht so selten, als sie es, zur Ehre der Menschheil, seyn sollte; spricht sie sich gleich nicht

mit Worten aus, so liegt sie doch, dem verfeiner­ ten Sinn sehr sichtbar, in Ton, Benehmen, und

vielen andern Dingen, oft sogar in einer Art deS Bedauerns, die unglücklich oder ungeschickt Der stolze, edle Lei­ er vermeidet Alles, was

genannt zu werden verdient. dende scheut dies Alles ;

ihn der Geringschätzung aussetzt, die er nicht ertra­ gen kann und will. — Zwar vermögen Seelen­ größe und Weisheit,

ihren Freund über unver­

diente Geringschätzung zu erheben; zwar sollte das, was nur von Zufälligkeiten abhangt, nur von Menschen ausgehn kann, deren Stimme nichts mo­ ralisch Entscheidendes hat, kein Gewicht für den

Weisen haben; aber wo lebt der Mensch, der zu allen Stunden ein Weiser bleibt? —

Um sich

also jedes bittre Gefühl zu ersparen, welches durch Bekanntwerden seines Kummers für ihn entstehn könnte, duldet der edle Leidende lieberden schwer­ sten Druck desselben, wenn es nur unter dem, für

ihn wohlthätigen Schleier des Geheimnisses ge* schehn kann.

Ganz zu billigen ist diese Handlungsweise

des Leidenden nicht immer,

weil er dadurch oft

ungerecht gegen sich und Andre wird.

Gegen Andre

wird er es, weil er vermeidet zu finden, waS daS von Natur so gute menschliche Herz, wenn eS nicht ausartete, doch immer, wie einen reichen Schatz, in sich faßt: — liebevolles Mitgefühl; weil

er der Menschheit das ehrende Vertrauen, welches ihr im Allgemeinen gebührt, gänzlich, oder doch zum Theil, entzieht. Gegen sich selbst handelt er ebenfalls ungerecht und ohne die gehörige Scho­ nung, weil er zu kühn übernimmt, die schwere Bürde des Kummers allein zu tragen; eine Bür­ de, welche die Menschenliebe und Theilnehmung,

wäre es auch nur eines edlen Herzens auf Erden, ihm willig erleichtert, vielleicht freundlich ganz

abgenommen hätte;

eine Bürde,

die durch zu

langes Alleintragen endlich auch der stärksten Seele zu schwer werden kann. Aber selbst dieser verschwiegene Kampf in seinem Hetzen ist für den Unglücklichen ein Leiden mehr und giebt ihm folg­ lich einen Anspruch mehr auf die innige Theilnehmung des Menschenfreundes, welcher, Mensch

wie der Leidende, an dessen Stelle wahrscheinlich eben so gehandelt hätte; der ihn also da nicht streng

»7 richten wird, wo es ungleich liebevoller und süs­

ser ist, zu bedauern. Unter den mannichfaltigen Gründen,

die ein

edler Unglücklicher zur Absonderung von Menschen

haben kann,

ist es nicht einer der unwichtigsten,

wenn er Vorzüge besitzt, die von ihnen absichtlich oder nachlaßig verkannt wurden. Das Gefühl der Gristesvorzüge besonders ist, bei ungünstigen Umgebungen,

schon an

sich kein unbedeutendes

Leiden; es ist nichts Geringes, von der Natur Ansprüche empfangen zu haben, denen ein schö­

nes, weites Feld geöffnet war, denen aber durch Menschen oder Umstande, die beengendstcn Grän­ zen angewiesen wurden, wenn nicht gar Vernich­ tung ihr trauriges Loos ward. Ein vorzüglicher Geist, den das Unglück am Boden halt, schmach­ tet dort, wie ein edler, verlorner Sprößling in der Wüste, und das Gefühl seines eignen Werths

regt sich größtentheils nur schmerzhaft in ihm, wie das Lebensgefühl im zertretnen Wurm sich

regt. Behalt aber auch das Bewußtseyn des eig­ nen Werths eine freundlichere Gestalt in der Seele des Leidenden,

so bringt er dennoch dasje­

nige, was er nur mit Verehrung, oder gar nicht, betrachtet haben will, sein ed le res Selbst, nicht einem Jeden zum näheren Anschauen dar, son­ dern er wartet, bis Menschen, die seiner werth sind, ihn suchen und finden. An eigene See«

28

lengröße gewöhnt,

und man möchte sagen ver­

wohnt durch sie, will er sie auch bei demjenigen,

dem er sein Vertrauen schenken soll, nicht entbeh­ ren; er prüft also lange und scharf, eh' er das Heiligthum seines Herzens und seiner geheimsten Empfindungen öffnet.

Daß eines solchen Her­

zens hohe Forderungen an die Menschheit nur sel­ ten befriedigt werden, ist natürlich; denn wenn auch Hcrzensgüte uuter den Menschen allgemeiner

ist, als ihre mürrischen Tadler zugeben wollen, so sind doch Seelen, die Güte und Größe in sich verei­

nen, nur selten zu finden— daß sie selten sind, weiß vielleicht niemand gewisser, als der edle Un­ glückliche; er zieht sich also in das Heiligthum zu­

rück, wo, bei allem Ungemach seines Lebens, doch sein kostbarster Besitz verborgen liegt, das heißt, in sein eignes Herz, und dies kann er nur Seelen

öffnen, die der Seinen werth, und ihr verschwi­

stert sind. — Mancher unter den ediern Leidenden ist durch lange Uebung schon daran gewöhnt, in den Ereig­ nissen seines Lebens nur Zuflucht und Trost in sich

selbst zu suchen; er behalt also, auch unter Lei­ den, die jeden Andern entkräften würden, die Ge­ wohnheit dieser Selbstständigkeit bei, obgleich sein Herz oft schwer dafür büßt. — Endlich — und dies ist wohl der erhabenste Grund,

nicht leicht

Trost bei Menschen zu suchen, von denen wir nicht

die Ueberzeugung, oder doch die sanfte Ahnung ha« den, daß die Vorsehung sie bestimmte, unS Trost und Rettung zu gewähren— endlich, fühlt

der Leidende, welcher den wahren Werth der Re­ ligion kennt, durch seine Leiden sich zu seinem Schöpfer, dem Quell der höchsten Liebe, folglich auch des höchsten Trostes, näher hingezogen, und einen sehr vollgültigen Werth müssen in seinen Augen die Freunde haben, welchen er, nächst je­

nem erhabensten Freunde, eine Stelle in seinem Herzen anweisen kann. Diese, und ähnliche Bewegungsgründe, wel­

che nur sehr veredelte Seelen in der Handlungs­ weise des verschwiegen Leidenden aufsinden können, machen es selbst ihnen schwierig, seinem

stillen Kummer nachzugehn, ja, nur die Gewißheit zu erlangen, daß wirklich Kummer in seinem Her­ zen wohne. Um dieses schönste Geschäft derMenschheit Manchem ihrer wohlwollenden Freunde zu er­ leichtern, werde hier, wenn auch nur in sanftem Däm­ merlicht, das Bild des edlen Leidenden entworfen— und du, geheiligte Menschenliebe, würdige mich, die

Farben zu diesem Gemälde mir zu leihen!-------Freund der Menschheit, ist dir das Geschäft

heilig, wahre Leidende kennen zu lernen — für

Dich heißt dies eben so viel, als zu ihrem Trost beitragen zu wollen — so bringe in die mensch­ liche Gesellschaft nur überall dein reines, unver-

30 dorbenes Gefühl mit,

dies wird Deinem for­

schenden Auge der sicherste Leitstern seyn.

Siehst

Du vielleicht in geselligen kleinen Kreisen — denn

in glanzenden und großen findest Du ihn schwer­ lich— siehst Du dort einen Menschen, auf dessen Antlitz der Ernst, nicht finster,

nicht mürrisch,

qber mit stiller, unwandelbarer Haltung seinen Zug geprägt hat; dessen nur seltnes Lächeln durch eine gewisse milde Trauer blos dämmert, wie die Sonne durch herbstliche Nebelgewölke; der ei­

nen stillen Zug der Schwermuth und der Gedan­ kenfülle trägt, um Aug' und Mund — diesen Zug kann der Leidende, auch der, dem es im höch­ sten Grade glückt, sein Gefühl zu beherrschen, doch

nie verleugnen— siehst Du einen Menschen, der

den Blick oft senkt, und nur langsam erhebt; der nie Andre, auch den ermüdendsten Schwätzer nicht, im Reden unterbricht, dessen Aufmerksamkeit aber durch seichtes, gewöhnliches Gespräch nie gefesselt

werden kann;

der selbst nur wenig, aber gehalt­

voll spricht; dessen Schweigen sogar einen be­ redten Ausdruck hat; der sich, in geselligen Krei­ sen, der Freude mehr leiht als giebt,

und die

Einsamkeit angelegentlich aussucht, wie mün in die Arme eines längst ersehnten Freundes eilt; der

vergangner Tage, auch ohne etwas Bestimmtes darüber zu sagen, mit einer merklichern Empfindung erwähnt, als der gegenwärtigen oder der zukünfti-

3» gen ;

der den Umgang der Reichen nicht störrisch

oder mißgünstig flieht, aber ihm sanft und mit stil» ler Würde ausweicht;

ohne ungebildet in

der,

Sachen des Geschmacks zu seyn, ja, oft bei sehr vieler Bildung, Vieles nicht achtet, was Eitelkeit,

Mode oder Einbildung dem

klebenden

macht; Farben

Glücklichen

zur

an seichten Dingen Nothwendigkeit

dessen Auge von der Zeichnung und den eines schönen Insekts oder einer zarten

Blume erquickt werden kann, und die Pracht in goldnen ©dien übersieht; der nur Wenige liebt, aber dessen innigste Gefühle diesen Wenigen so ganz gehören, daß sie sein andres, vielleicht

geliebteres Selbst sind; dessen stille, heilige Würde den Menschen fast als Bewohner einer an­ dern Welt ihn zeigt, und Dich, gefühlvoller Ed­ ler, mit unwiderstehlicher Macht zu ihm hinzieht,

ungeachtet in seinem ganzen Thun etwas liegt, was, mit sanftem Ernst, eher zurückzuweisen, als anzulocken scheint — siehst Du einen Menschen, an welchem Du

einige dieser Kennzeichen wahr­

nimmst , so wird eine innere Stimme dir sagen, daß sie die Anzeigen stillen Kummers sind. Folge dieser heiligen Stimme — durch sie spricht die nie irrende Natur zu deinem Herzen,

und dein Blick hat den wahren Leidenden ausgefunden, den we­ niger seelenvolle Menschen übersahn, oder mit irrigen Urtheilen anstaunten. —

32 ES giebt aber auch Leidende, durch deren Aeußres selbst die erfahrne Seelenkunde getäuscht

wird;

die nichts weniger als unglücklich schei­

nen,

wenn gleich jedes edle Herz in ihrer Nähe

empfindet,

sind.

daß sie nichts weniger als glücklich

Einige derselben können in Kreisen der Ge­

selligkeit vielleicht wirklich froh seyn, weil, bei

ihrer, von Natur glücklichen Seelenstimmung, eine

erheiternde Zerstreuung wohlthätig genug auf sie

wirkt, um ihnen

für Stunden das Andenken ih­

res Kummers zu entfernen; Einige streben, heiter zu scheinen, wenn sie unter Glücklichern sich be­ finden, weil sie sich nicht gern der Vernachlässigung, oder einem Mitleid aussetzen wollen, das mehr

kränkt als tröstet.

Aber noch Einige sind unter den

Leidenden, zuweilen sogar unter denen, welchen des Lebens schwerste Prüfungen auferlegt wur­

den —

Einige,

fast

über die

Gränzen blos

menschlicher Tugend erhaben! Diese Edlen, mit einem Gefühl der Liebe für die Menschheit ge­

boren, das, wenn sie es hätten können durch Hand­

lungen anschaulich machen, ihnen die Herzen aller Mitmenschen zu eigen gemacht, und auf dem Thron ihnen den schönen Beinamen eines Titus * erwor­ ben hätte;

diese Edlen ehren der Glücklichern Freu-

Wonne des menschlichen Geschlecht-.

33 Freude mit so zartem Gefühl,

daß sie lieber die

schwersten Opfer brächten, um diese Freude zu be-

fördern, als nur den Gedanken ertrügen, sie zu stören. Für diese kann es oft Veranlassun­

gen geben, wo sie ihren innern Schmerz in ein heiterseynsollendes Lächeln zwingen; aber irrt euch an ihnen nicht, ihr schönern Seelen unter den Glück­ lichen — ihr Lächeln ist, nach des brittischenDich­

ters Gemälde: „Wie die Geduld,

auf einem Grabmal,

„dem Kummer lächelt.--------Ihr habt diese Leidenden nie dann gesehn, wenn sie aus den Kreisen froher Geselligkeit nun zurück­ kehren in ihre stillen Mauern, wo Umgebungen

der Freude nur selten sind; wo vielleicht Kum­ mer und Sorge, ihre täglichen Hausgenossen, sie bei der Rückkehr schon erwarten — ihr habt nie gesehn, wie die verhaltnen Seufzer ihres Schmerz­

gefühls sich nun aus der beengten Brust hervor­ drängen; eure Thränen wären sonst mit schmerz­

vollem

Erbarmen

bei

ihrem

Lächeln

geflos­

sen! — Ein Kummer, der beständig verschwiegen, oh­ ne Hülfe, ohne Lindrung wenigstens, in der Sesle genährt blieb, wird ihr endlich zu mächtig, und ar­ tet in Gram aus.

Heil dem Menschenfreunde,

der einen Unglücklichen noch zu rechter Zeit aus C

34 der Gefahr errettete,

ein Opfer deS Grams zu

werden — Segen ihm, denn er hat ein Menschen­

leben gerettet.

Wo der Gram erst im Herzen

eines Leidenden Wurzel schlagt, da bricht auch schon der erste Keim zu den Cypressen seines Grab­ hügels hervor, und leicht, sehr leicht kann es ge­ schehn , daß hier der Trost,

thätigsten Menschenliebe,

auch der reinsten,

zu spat kommt.

O

du Edler, dem das Wohl seines Mitmenschen theuer ist, tröste, lindre in Zeiten; du vermagst

es, auch wenn Du selbst nicht zu den Lieblingen des Glücks gehörst — zum Trost bedarf es ja nicht immer einer geöffneten Hands nur der Liebe eines geöffneten Herzens bedarf es, und weh dem, der das seinige dem leidenden Mitmenschen fühllos verschließt! — Wer nur einen Todten sah, dessen ehmals blühende Lebenskraft vom Gram

verzehrt ward, der mußte, o er mußte fühlen, daß der Zug stiller Trauer auf des Entschlafnen bleichem Antlitz denjenigen verklagte, dem es mög­

lich, dem es leicht gewesen wäre, ihm Trost zu ge­ wahren, und der diesen heilenden Balsam nicht in seine brennenden Wunden goß! — —

Wenn man die erste Bekanntschaft eines Lei­ denden, auch in den menschenfreundlichsten Absich­

ten, nun macht, so muß man wohl erwägen, so muß man sich selbst sagen, daß es anfänglich nicht

immer leicht sey, ihn nach seinem wahren Werth zu

35 schätzen, oder ihn so, wie er es wirklich verdient, zu lieben, weil er bei einer ersten Bekanntschaft, und überhaupt im gewöhnlichen Umgang des Le­

bens, nicht immer so sehr für sich einnimmt, als

es die warmen, wohlgemeinten, aber oft zu idealischen Darstellungen der Romane schildern. Wir sind Menschen, daher wird, wenn nicht unser Ur­

theil, doch unser Gefühl, sehr leicht vom ersten Eindruck bestochen, und dieser ist dem Leidenden selten günstig.

Was bahnt einem Menschen den

Weg zu unsrer Liebe und zu unsrer Achtung? — Eigenschaften, die wir als gefallend und liebens­ würdig erkennen, ein sanfter Einklang mit unsern

Gefühlen, eine trauliche Annäherung an uns, ge­ winnen ihm unsre Liebe, und Borzüge edler Art,

die wir, in einem schönen, deutlichen Lichte, an ihm wahrnehmen, erwerben ihm unsre Achtung.



Kann nun wohl der Leidende immer diesem

freundlichen Bilde entsprechen? Vielleicht kann er es die wenigsten Male. RuhigeFreude erweitert das Herz zu angenehmen, sich gern mittheilenden Empfindungen; Kummer engt cs zu Trübsinn und Verschlossenheit ein.

Des Leidenden Seele,

an

diese beengenden Gefühle gewöhnt, empfindet Ban­

gigkeit, wenn er unter Menschen erscheinen soll, welche die lange Gewohnheit gemeinschaftlich durchlebter Jahre, oder Aehnlichkeit der Schicksale

nicht etwa zu seinen nähern Bekannten machte; dies (5 2

36 unbehagliche Gefühl wird endlich Schüchternheit,

wohl gar eine trennende Scheu, welche nichts Ein­ nehmendes hat, und folglich nicht Lieb« ge­

winnt — Durch häufiges Fehlschlagen der lieb­ sten Hoffnung, durch beständiges Mißlingen der Weisesten Entwürfe, kann auch eine große Seele

viel von ihrer Kraft verlieren— ein Verlust, der sich sehr bald verräth — und der Unglückliche machte jene schmerzenden Erfahrungen oft, weil in den Gang seines Lebens, seiner Unternehmungen, so viel Beschränkungen und Hindernisse, so unmerklich

verstochten waren, daß der Allwissenheit Auge dazu gehört hätte, sie vorauszusehn, daß Allmacht dazu gehört hätte, ihnen entgegen zu wirken, und nun ward er von Menschen,

welche auch die schönste

Anlage eines Unternehmens nur nach seinem Er­ folg beurtheilen, als unweise getadelt, er, der doch blos unglücklich war. Dadurch mußte die innere Kraft,

das edle Selbstvertrauen,

welches

auf alle , besonders auf geistige Vorzüge, das schöne günstige Licht wirst, nothwendig und merk­

lich leiden;

wo wir aber Schwäche wahrnehmen,

oder wahrzunehmen glauben, dahin geben wir nicht unsre Achtung. Daß es Schicksale, Erfahrun­ gen, Umgebungen im Leben des Unglücklichen gab, welche die anscheinende, oder wirkliche Entkräftung

seiner Seele zu ihrer. nothwendigen Folge haben mußten, daran denken nur wenige, und diese

37 Wenigen müssen sehr innige, sehr einsichtsvolle Freunde der Menschheit seyn. Endlich fragt es sich noch, wodurch werden die mehrsten menschlichen Leiden veranlaßt? — Die gehören zu den seltner«, welche das Geschick aufer­ legt, oder mehr im Geist einer lichten, trostvollen Religion zu sprechen: der Leiden sind wenig, wel­ che unmittelbar aus der Hand Gottes kommen. Don den meisten, welche den Lebensgang, der eben und ruhig seyn sollte, mühvoll und uneben machen, welche den Frieden stören, der ihnen beschieden ward, sind blos Menschen die wirkende Ur­ sache; sie trüben nur zu oft einander den kurzen Lebenstag, der heitrer und froher seyn konnte, und wenn er nun getrübt ist, so sind es wieder Menschen, unter deren sorgloser Vernachlässigung oder liebloser Behandlung der Unglückliche leidet. Wäre es nun von ihm zu verlangen, daß er den Menschen gern sich näherte, und wenn sie ihm sich nähern, ihnen seine, vielleicht oft getauschte« Gefühle Hingabe? — Wenn er ein edles Herz hat, so kann zwar nie die allgemeine Menschenliebe in ihm aufhören, selbst, wenn er im augenblickli­ chen Unmuth sagt oder glaubt, sie könne aufhö­ ren , so ist dem nicht so; bei der ersten Veranlas­ sung wird er doch andrer Leidenden Zähre abtrocknen, ihnen den Trost bringen, den er vermag; aber suchen wird er die Menschen nie, und nur

38 schwer sich von denen finden lassen,

die

ihn su­

chen — besonders vermeidet er die Kreise, wo die Töne der lauten, oft geistlosen Freude, mit der

innern, gehaltvollen Klage seines fühlenden Her­ zens nie im Einklang stehn. —

Hangt er auch

noch an der süßen Hoffnung, die der beßre Mensch wohl nie ganz aufgiebt, an der Hoffnung, daß es noch Edle gebe, deren Herz die leise Sprache sei­

nes bekümmerten Herzens verstehn und sie, voll Innigkeit, in sich aufnehmen würde, so ehrt er solche Edle genug, um zu glauben, ihnen werde die heilige Vorsehung, welche über Leben und Wohl aller Wesen waltet, die Wege in seine stille Abge­ schiedenheit nicht verborgen bleiben lassen, wenn

sie zu seinen Tröstern und Rettern bestimmt find. Im Allgemeinen aber zieht der zartfühlende Lei­ dende sich von Menschen still zurück — hiervon, bis zum geflissentlichen Vermeiden ist nur ein Schritt,

und sehr zu wünschen ist es einem, durch schmerz­ volle Erfahrungen oft getäuschten Herzen, daß die ehmals in ihm so heilig genährte Flamme reiner

Menschenliebe sich wenigstens in sanfterwärmen­ den Funken ihm bewahre. — Prüfe Dich nun genau, edler Freund der Un­ glücklichen, prüfe, ob es Dir so leicht werden wird,

den äußern Schein, die Gewalt des ersten Eindrucks muthig zu entkräften, Ziel gelangest,

damit Du zu dem schonen

den Leidenden wirklich kennen,

39 ihn lieben, ihn achten zu lernen.

Traust Du

Deinem Gefühl und Deinem Scharfblick zu,

daß

sie Dich den richtigen Weg leiten werden, und un­ ternimmst du muthig, da Größe und Vorzüge aufzusinden, wo der Schein nur Schwäche und Fehler verspricht? —

Die schönsten Anlagen, welche die

Natur einem Menschen gab, können,

selbst schon

ausgebildet, durch harte Schicksale und unfreund­ liche Menschen, so verlieren, wie ein unschätzbares

Gemälde unter der Hand eines Sudlers verunstal­ tet wird, und wie oft geht bei solchen Ruinen das hellste Auge kurzsichtig, das fühlcndste Herz gleichgültig vorüber, weil es sie nicht ähnele. — Wenn gewöhnliche Seelen nur auf das sehn, was

der Mensch zu seyn scheint, wenn der Weisere prüft, was er wirklich ist, so forscht doch allein

der Edelste nach dem, was er seyn konnte, oder ehmals war. — Die Kunsttrümmer von Pom­ peji und Hcrknlanum werden mit Gold ausgewo­

gen, schon der Gedanke an Ruinen von Memphis, Palmyra,

oder Athen erregt Begeistrung und Trauer — mit Recht, denn wer könnte fühllos die

Ruinen großer Vorzeit sehn? —

Aber die edlern

Trümmern eines großen H erzcns, eines seltnen Geistes — ach, wie Mancher geht bei denen

vorüber,

ohne nur zu ahnen, daß sie hier vor­

handenwaren! —

40 Für den Leidenden, welchen ein schon langer,

oder sehr nagender Kummer drückt, spricht selbst sein Aeußres oft nicht günstig.

Sein Gesicht, auf

welchem erduldete Leiden ihre unverkennbaren Spu­ ren zurückließen, wird durch frühes Veralten ent­ stellt; durch trübe Seelenstimmung verliert es die

einnehmende Heiterkeit, wodurch die Herzen ge­

wonnen werden, und an die Stelle des unmalbar lieblichen Ausdrucks der innern Seelenruh tritt in sich gekehrter Ernst, ähnlich einer Kalte, die nichts

außer sich zu beachten scheint; das Auge ver­ lernt den beredten Ausdruck des Wohlwollens, durch welchen es ehmals so sanft zum Herzen des Mitmenschen sprach — eins der lieblichsten, der ersten Bande der Geselligkeit, der Freundschaft, der Liebe! — Des Leidenden ganze Haltung tragt das Gepräge seiner bedrückten Seele, und gränzt nah an Vernachlässigung seiner selbst, wel­ che nirgend empfiehlt. Auf den Lippen des Un­ glücklichen wohnt die gefällige Beredsamkeit, der

angenehme Weltton nicht; denn Fülle der Em­

pfindung vermag selten sich auszusprechen, und we­ nig Gegenstände haben Interesse für den, der fast immer nur in seiner innern, oder in der fernen bessern Welt lebt.

Dies ist oft die Gestalt, in

welcher der Unglückliche unter die Menschen tritt,

und ohne sein Verschulden ihnen vernachlässigend,

unempfindlich, oder wohl gar feindlichgesinnt gegen

4i sie, erscheint. —

Hast du nun Muth, edles Herz,

unter dieser Hülle den Unglücklichen zu suchen,

um ihn zu lieben? — Wohlan, folge Deinem schönen Gefühl — sey beharrlich; so wirst Du einst den Leidenden in seiner wahren Gestalt sehn; so

wird sein Herz sich Dir aufschließen, wie unter Dornen die Rose sich dem freundlichen Morgen öff­ net , wie unter rauhem Gestein eine reiche Gold-"

mitte sich aufthut, und Du wirst selige Belohnung deiner zarten Sorgfalt finden. In Deinem Charakter, Du Edler, dem der Umgang-mit Leidenden ein Gegenstand des Inter­ esse ist, in Deiner Art, Dich mktzutheilen, wird gewiß etwas liegen, das den Unglücklichen zu Dir

hinzieht;

Dir wird es gewiß leicht werden, we­

nigstens eine Saite seiner Empfindungen so sanft zu berühren, daß sie, harmonisch mit den Deini­

gen, nun anspreche, und dadurch ist das erste Band gegenseitiger Liebe geknüpft; ihr wird Vertrauen folgen, denn dieses ist ihr befestigendes Siegel. Wenn Du selbst nun den wahren Schmerz,

den Kummer in seinen leisen Anzeigen, den stillen Gram in einem Herzen fandest, oder wenn die .sanfte Fürsprache eines andern Freundes der Be­ trübten Dich bekannt mit den Lebensverhaltnissen

eines Unglücklichen machte, o so prüfe, welchen ersten und vorzüglichsten Trost Du ihm geben mußt, wenn Du sein zartes Gefühl ehren willst —

42 ein Trost, der, auch der sanftesten, der ersehntesten Lindrung vorangehn muß, wenn es Dein Wunsch ist, daß der edle Leidende einst Deine Hülfe, welcher Art sie auch sey, ohne das drü­ ckende Gefühl der.Beschämung annehmen möge.

Achtung des Leidenden für sich selbst. ,, Habe Achtung für Dich selbst"— dies em­ pfahl ein edler Schriftsteller einst einer der schönsten

weiblichen Seelen. * — In diesen wenigen Wor­ ten liegt zwar für jeden Menschen sehr viel; aber in Ansehung des Leidenden sind sie von einer unzuberechncnden Wichtigkeit,

in Hinsicht auf seinen

Trost, sogar auf seine Rettung. Achtung für sich selbst haben, ist das unschätz­ barste Glück auf Erden — dies bewahrt unsre Seele vor jeder Entwürdigung, richtet sie auf,

wenn zu lastende Unglücksfalle sie niederbeugen wollen; cs ist der höchste Besitz der anerkannten

Tugend; es ist der verkannten letzte, einzige Stütze, ihr reicher Ersatz für Alles, was sie gezwungen ward, zu entbehren. Zwar scheint cs, als könne, selbst unter dem

Druck der Leiden, dieses unschätzbare Gut nie eiQ)orit an Eli s a.

42 ein Trost, der, auch der sanftesten, der ersehntesten Lindrung vorangehn muß, wenn es Dein Wunsch ist, daß der edle Leidende einst Deine Hülfe, welcher Art sie auch sey, ohne das drü­ ckende Gefühl der.Beschämung annehmen möge.

Achtung des Leidenden für sich selbst. ,, Habe Achtung für Dich selbst"— dies em­ pfahl ein edler Schriftsteller einst einer der schönsten

weiblichen Seelen. * — In diesen wenigen Wor­ ten liegt zwar für jeden Menschen sehr viel; aber in Ansehung des Leidenden sind sie von einer unzuberechncnden Wichtigkeit,

in Hinsicht auf seinen

Trost, sogar auf seine Rettung. Achtung für sich selbst haben, ist das unschätz­ barste Glück auf Erden — dies bewahrt unsre Seele vor jeder Entwürdigung, richtet sie auf,

wenn zu lastende Unglücksfalle sie niederbeugen wollen; cs ist der höchste Besitz der anerkannten

Tugend; es ist der verkannten letzte, einzige Stütze, ihr reicher Ersatz für Alles, was sie gezwungen ward, zu entbehren. Zwar scheint cs, als könne, selbst unter dem

Druck der Leiden, dieses unschätzbare Gut nie eiQ)orit an Eli s a.

43 nem Herzen genommen werden, welches wirklich eine edle Reinheit bewahrte; dennoch giebt es La­ gen der Seele, wo auch er verlöschen kann, dieser göttliche Funke; wo er alles , oder doch viel von seiner beseligenden Kraft verlieren kann, und in solche herbe Lagen der Seele kann der Leidende oft gerathen. Wie soll sein schönes Selbstbewußtseyn völlige Kraft behalten, wenn die Vernachlässigung, die Gleichgültigkeit andrer Menschen, diese zarte Pflanze in seinem Herzen verschmachten läßt, wenn absprechende Geringschätzung recht eigentlich strebt, sie zu tobten? Wie sollte er, — wenn er nicht ausgezeichnete Seelengröße besitzt — wie müßte er nicht beinah dem eignen Werth mißtrauen, den er von keinem ihm wohlwollenden Herzen freundlich anerkannt sah ? Man kann also dem rein empfindenden, edlen Unglücklichen keinen sicherern Trost, keine höhere Wohlthat geben, als wenn man strebt, ihm die Achtung für sich selbst zu erhalten, oder, wenn seine Seele unter dem Druck der Leiden, mehr noch der Menschen, schon gebeugt zu werden begann, durch jenes schönste Gefühl, es sorgsam pflegend, sie wieder aufzurich­ ten— ohne diese Wohlthat hört jede andre bei­ nah auf, Wohlthat zu seyn. — Jedem Freunde der Leidenden wird es also wichtig seyn, zu prüfen, was von seiner Seite gethan werden könne und müsse, wenn jener höchst edle Zweck erreicht wer-

44 den soll.

Der Menschenfreund, der so gern «inen

wohlthätigen Einfluß auf wahre Lindrung des Lei­ dens haben will, wird, um ihn haben zu kön­

nen, willig in die innersten, zartesten Gefühle ei­ nes ihm verbrüderten Menschenherzens eingehn. Es ist uns möglich, in dem Urtheil über Andre völlig gerecht, völlig unpartheyisch zu seyn;

denn unser Urtheil wird von dem geleitet, was un­ ser eignes Gefühl, unsre eigne Vernunft uns sagt; ist nun die Vernunft nicht durch Irrthum befangen, wird das Gefühl nicht von verblendender Leidenschaft falsch geleitet, so kann das Urtheil, welches sie sprechen, nicht anders als wahr und

richtig ausfallen. Ganz anders verhält es sich mit dem Urtheil über unsern eignen Werth. Man sollte zwar

als eine unstreitige Wahrheit annehmen, daß die, allen Menschen so natürliche Eigenliebe unsern Werth uns immer nur. im günstigsten Lichte zeigen

würde, und daß wir eher in Gefahr waren, ihn zu hoch, als zu niedrig anzuschlagen; aber verän­ derte Lage der Sachen verändert auch die Ansichten, und schmeichelnde Selbstliebe möge nun ein sehr

günstiges, oder ruhige, unbefangne Vernunft ein sehr gerechtes Urtheil über unsern eignen Werth im Innern unsrer Seele aussprechcn, so leitet doch die Stimme Andrer, mehr als wir selbst glauben, unser Urtheil über das, was wir in unsern Augen

45 sind.

Wir raumen dieser Stimme, willkührlich

oder unwillkührlich, eine große Herrschaft über uns

«in; sie verfehlt nie, bedeutenden Einfluß auf unsre Meinung von uns selbst zu haben, und oft bedür­ fen Weisheit und das reinste innere Bewußtseyn, oft bedürfen sie aller ihrer edlen Kraft, um unser Urtheil über uns selbst dann ganz richtig festzustel-

len, wenn die Stimme Andrer ihm widerspricht. Der Weiseste, so wie der Eitle, findet sich, auch

wenn er blos über gleichgültige Gegenstände ur­ theilt, doch angenehm befriedigt, wenn die zustim­ mende Meinung Andrer die seinige bestätigt; wie viel natürlicher ist uns dieses Gefühl bei dem Ur­ theil über uns selbst, und wie sehr werden wir

durch das Gegentheil gekrankt! Unstreitig bildete des Schöpfers weise Anordnung diese Seite des menschlichen Herzens gerade so, damit sie ein sanf­ tes Band der Geselligkeit würde, eine schöne Trieb­

feder zu Handlungen, wodurch wir uns der liebe­ vollen, der ehrenden Meinung unsrer Mitmenschen würdig machen.

Gefährlich kann eS aber für den

Unglücklichen werden,

wenn auch dieses Ver­

hältniß zu seinen Mitmenschen ihm nur unbefrie­ digte Wünsche, nur schmerzhafte Entsagung dar­

bietet, wenn die öden Umgebungen des Leidens ihn trennen von Kreisen der Edlen, wo er sein Herz, durch die süße Zufriedenheit über den Beifall

Andrer, wohlthätig stärken könnte, oder wenn er

46 auch nur in der geringsten Abhängigkeit von unge­ bildeten Menschen leben muß, die ihn hart behan­

deln , wie die ungeübte Hand aus sanften, melo­

dischen 'Saiten nur Mistvne ziehn, oder sie spren­ gen kann. Unter so ungünstigen, so drückenden Verhältnissen des Leidenden, wird das Gefühl sei­

nes eignen Werths in seiner Seele abgestumpft; Muthlosigkeit, mit ihren stummen Schmerzen, mit allen ihren traurigen Folgen erwartet ihn, und im günstigsten Falle wird er durch das edelste Bewußt­

seyn des eignen Werths kaum getröstet, wo dem Glücklichern durch dieses schöne Gesühl die reinsten Freuden geblüht hätten — der Leidende ist noch glücklich genug, wenn es ihm nicht eine Quelle neuen Kummers wird; denn, o wie leicht verken­

nen wir in unserm Schmerz die großen Absichten, in welchen die Vorsehung unsern Lebenspfad so bahnte, daß wir neben Unwürdigen ihn wandeln

müssen, und edlere Begleiter für das Leben um­ sonst wünschen , nur fern von unserm verödeten Pfad sie stehn sehen. Wenn du also

den Unglücklichen wahrhaft

liebst, o Menschenfreund, wenn das Heil seines Lebens Dir werth ist, so laß, sobald das erste sanfte Gesühl für ihn sich in Deinem Herzen regt, es auch Deine erste Sorge seyn , daß du seine Ach­ tung für sich selbst, dies Heiliathum des bessern

Menschen, in seiner Seele aufrichtest und bewah-

47 diese köstlichste Wohlthat kann dein Her;

test;

ihm geben:

auch wenn Deine Hand nie eine

ihm zu ertheilen vermag; andrer Trost, andre Wohlthat, die Du ihm ertheilen könntest,

andre

sind ihm bei weitem nicht Alles, und prüfst Du Dein eignes schönes Gefühl,

so werden sie auch

Dir nicht Alles scheinen, was Du ihm schuldig

bist. Stolz der edlen Art ist, wie schon gesagt, ein

Charaktcrzug der meisten

Leidenden.

Dieses ih­

nen eigenthümliche Gefühl wird denjenigen befrem­

den , der an das Wort „Leiden" zugleich den Begriff einer gänzlichen Resignation knüpft; aber man muß nur bedenken, daß Seelen,

die einer

durchdachten Resignation fähig sind, nicht zu den gewöhnlichen gehören; also kann in ihnen

sehr füglich die Erhabenheit des Stolzes neben dem stillen Trauern des Leidens Platz finden, und man wird selten im Umgang mit Unglücklichen irren,

wenn man diesen Stolz bei ihnen voraussetzt. —• Wie auf einen Körper, dessen Nervensystem durch physische Leiden reizbar ward,

alles bedeu­

tend, und sehr oft ungünstig wirkt, was aus den

Gesunden wenigen, oder doch unschädlichen Einfluß hat, so wird auch das Empfindungsvermögen der Seele durch ihre Leiden reizbarer,

Zustande wirkt jeder Eindruck,

und in diesem besonders jeder

schmerzende, mit vermehrter Kraft auf sie;

keiner

48 aber mehr, als der, welcher ihrem innern Selbst­ gefühl verletzend wird.

Wer mit Leidenden der

gebildetern Art wohlthuend umgehn will, der muß annehmen, daß viel Empsindlichkeit in ihrem Cha­ rakter liegt, und muß diese Seite ihres Charakters äußerst schonend behandeln. Allerdings gehört hier­

zu viel eignes Zartgefühl, und eine fast nie ermü­

dende sanfte Duldung;

allerdings ist die, zuwei­

len allzuverletzbare Empfindlichkeit eine Eigenschaft,

die den Umgang mit Leidenden, auch ihren wohl­ meinenden Freunden oft erschwert, ja, oft sie selbst in unsern Augen minder liebenswürdig macht — aber selbst dann, wenn Du jene Eigenheit für Fehler hieltest, so verzeih, o Du selbst Irrthü­

mern unterworfner Mensch, verzeih dem irrenden Bruder eine Schwache, die mit seinem Seelenzu­ stand und Lebensverhältniß fast nothwendig verbun­

den ist!

Habe Nachsicht mit ihm, wie mit einem

Kranken, zu dessen rettendem Seelenarzt die Vor­

sehung Dich vielleicht bestimmte — wie sehr wird dieser Gedanke Deine, nicht immer leichte Müh versüßen, wie belohnend wird das Bewußtseyn der Erfüllung einer schönen, von dem liebevollen Er­

halter unzähliger Schöpfungen

Pflicht,

Dir auferlegten

wie belohnend wird es Dir für Zeit und

Ewigkeit werden! Zum Ersatz für jene kleine Unvollkommenheit im Charakter gebildeter Unglücklichen, haben sie — wenn

49 wenn nicht Alterschwachen oder körperliche Leiden

ihre Gemüthsstimmung versäuern, welches bei ge­ bildeten Menschen doch nicht leicht überhand nimmt — den, im geselligen Leben sehr angenehmen Bor« zug, daß sie selbst, im Umgänge mit Andern, äußerst sorglich Alles vermeiden, was Kränkung oder Beleidigung werden könnte, und daß sie, in

jeder Art, voll sehr zarter Rücksichten sind, wel­ che, selbst im feinsten Umgänge der glücklichem

Kreise, nicht immer hinlänglich beobachtet werden. Dieser Vorzug hebt das Unangenehme, was ein empfindliches Gemüth im Umgänge etwa haben kann, größtentheils wieder auf, und für junge

Seelen, wenn sie mit gehöriger Bescheidenheit sol­ chen edlen Leidenden sich zu nahen wissen, kann der Umgang mit ihnen sogar eine nützliche Schule für einen wesentlichen Theil feiner Weltbildung,

für die Kunst,

zarte und weise Rücksichten auf

Verhältnisse zu beobachten, werden.-------Die edlen Ansprüche des Selbstgefühls in der Seele des Leidenden werden noch durch eine sehr

schöne Seite des menschlichen Herzens begründet; nämlich, daß im Allgemeinen der Anblick des Lei­

dens eine Art von Ehrfurcht gebietet. Selbst der roheste Mensch, im Taumel seiner lärmenden Freu­

de, wird für Augenblicke ihr Einhalt thun, wenn er die Stimme des Schmerzens Andrer vernimmt, oder ihre Thränen fließen sieht; selbst für den Ver-

D

50 brecher empfindet auch der ungebildetere Mensch,

im Augenblick, wo jener die zwar gerechte, aber schreckliche Strafe seiner Vergehen erduldet, noch ein gewisses Gefühl, das mehr als bloßes Mit«

leid ist — es ist die geheime Ehrfurcht, welche je«

des menschliche Herz dem Leiden zollt, wenn gleich derjenige, den es trifft, sie für seine Person

nicht verdient. Wie sollte nun der Unglückliche ed« lerer Art nicht wissen, oder doch fühlen, daß sein Leiden selbst ihn ehrwürdig macht? — Trägt

er es vollends unverschuldet; entstand es vielleicht gar aus Ursachen, die seinen Geist, die sein Herz ehren, wie viel bedeutender werden dann seine ed« len Ansprüche! Man sollte zwar glauben, dies Bewußtseyn seiner Würde als Leidenden, das Gefühl seines

innern Werths, worauf sein edler Stolz sich grün­ det, müßte ihn vor der Gefahr sichern, daß die

Achtung für sich selbst jemals in seiner Seele schwa­ cher würde, oder daß er wohl gar dieses schöne, beruhigende Gefühl ganz verlöre.

Dieser Schluß

hat die Wahrscheinlichkeit für sich, und kann den­ noch die meisten Male trüglich werden, weil der Grund, auf dem er festgestellt ist, oft zu sehr von äußern Ursachen entkräftet wird.

Auch der gegründetste Stolz auf unsern in­ nern Werth kann, an und für sich, nie ein befrie­ digendes Gefühl für die Seele werden, so wenig

51 als die einzelne Stimme eine Harmonie ausma­ chen kann; denn Stolz kann sich blos aus unsre eigne Ueberzeugung von unserm Werth gründen; in dieser Gestalt wird er dann nur ein Anspruch, der aber noch nicht befriedigt ist, und, als ein solcher, der Seele kein angenehmes Gefühl gewäh­ ren kann, im Gegentheil, ihrer Ruhe oft durch seine unbefriedigten Forderungen störend wird. Dann aber wird er Selbstachtung, wenn.die bei­ fällige Stimme Andrek unser Urtheil von unserm Werth bestätigt, unsre Aufmerksamkeit auf densel­ ben rege hält, und uns zu höherm Streben nach Bervollkommnerung, wozu jede menschliche Seele erschaffen ward, freundlich ermuntert. Diese Selbst­ achtung ist dann eine ruhige, befriedigte Empsindung, und als solche eine Wohlthat für das Herz; sie verschönt die glücklichen Stunden, welche die Vorsehung uns beschicken hat, und giebt uns neue Kraft, die Leiden zu ertragen, welche eben diese weise Vorsehung uns auferlegte. Daher verdient derjenige in der That ein Wohlthäter genannt ZU werden, der das große Werk unternimmt, dem Herzen eines Leidenden seine Selbstachtung zu er­ halten, oder wo sie schon geschwächt ward durch Menschen und Verhältnisse, sie ihm liebevoll wiederzugcben. Vorzüge des Geistes und des Herzens sind diejenigen, durch welche wir am gewissesten den D2

52 Beifall und die Achtung unsrer vernünftig urcheilenden Mitmenschen erlangen;

um diese Vorzüge

aber richtig zu beurtheilen, ist es nothwendig, daß sie in ihrem gehörigen Licht gesehn werden müssen; und dieses Glück wird dem Leidenden nicht oft.

Immer ist es nicht gerade die Schuld der Menschen, wenn sie Geistesvorzüge des Unglückli­ chen nicht ganz nach ihrem eigentlichen Werth be­ urtheilen.

Häuslicher Kummer der Eltern,

ihre

Armuth, ihr Mangel an einsichtsvollen Rathgebern, und viele andre Hindernisse können schon dem Kin­ de bei der Ausbildung seines Geistes entgegen seyn, und gelingt es endlich dem Jüngling, sich einen Weg durch alle diese Hindernisse zu bahnen, so öffnet sich ihm nicht immer der Wirkungskreis, wo es ihm möglich wäre, seine Talente in ihrem

vollen Licht zu zeigen, und Mancher, der geboren

war, das Wohl ganzer Staaten zu befördern, muß

zufrieden seyn, wenn die Welt ihm so viel bietet, daß er nur den Mangel von seiner eignen armen Behausung abwehren kann.

So wie man nun

nicht urtheilen kann,, welche Früchte ein edler Wein­

stock, der ohne Wartung am Boden liegt, hatte tragen können, oder, bei milder Pflege, jetzt noch tragen könnte, so ist es auch schwer, einett Geist,

dem ungünstige Verhältnisse Fesseln anlegten, nach seinem völligen Werth zu beurtheilen. Aus dieser natürlichen Ursache fehlt es also dem Leidenden oft

53 an dem schönen, ermuthigenden Beifall der Edlen, wodurch die wahre Selbstachtung begründet wird, und unter solchen Umständen, besonders wenn noch drückende Sorgen den Geist belasten, ist es leicht möglich,

daß das Gefühl

seines eignen Werths

allmählig schwächer in ihm werde. — Noch schwerer, als richtig über die Geistes­ vorzüge des Leidenden zu entscheiden, ist es, ein

durchaus wahres Urtheil über den Werth seines

Herzens zu fallen. Zwar giebt es keine so un­ glückliche Lage im Leben, wo es ganz unmöglich

würde, Herzensgüte zu beweisen; aber des Unglück­

lichen Herz, das Du blos als gut kennen lern­ test, war vielleicht für höhere Gefühle geschaffen;

es war, seiner Natur nach, vielleicht für die edel­ ste Menschenliebe, für die erhabenste Großmuth

gebildet, und größtentheils gehören Umgebungen des Glücks dazu, diese schönen Tugenden ein­ leuchtend zu beweisen; daher wird ein solches

Herz selten oder nie nach seinem wahren Werth beurtheilt, weil die meisten Menschen immer nur sehn wollen, eh' sie glauben; wenigstens bei Tu­

genden ihrer Mitmenschen wollen sie eL — an Fehler glauben sie bereitwilliger. Die Erfahrung

lehrte auch, zur Ehre der Menschheit, daß von den ärmsten Hütten der Unglücklichen solche Hand­

lungen ausgiengen, welche Edelsinn, Großmuth, erhabne Aufopferung für Menschenwohl bereit«

fe n, — Möchten solche Handlungen nur immer be» kannt werden, wie fie es verdienten, so würde vielleicht mancher Große, mancher Reiche erröthen, daß er, von Schmeichlern oder Eigendünkel verhlendet, sich selbst bisher für großmüthig hielt; möchten die edelsten Schriftsteller der Nation sol­ che Handlungen einer unverdienten, für die Mensch­ heit unglücklichen Vergessenheit entreißen, und sorgfältig sie sammeln! Verdiente je eine Samm­ lung die Verewigung, verdiente je eine den schö­ nen Namen heiliger Jahrbücher der Menschheit, sy wäre es diese. In dem gewöhnlichen Gange des Lebens aber hat der edlere Unglückliche dem Schmerz des lei­ denden Mitmenschen selten mehr zu geben, als in­ niges Bedauern — er kann blos trösten, wo et so gern thätig helfen möchte. £Dft fließen seine schmerzvollen Thränen nur dann dem eignen Lei­ hen, wenn dieses ihm die Rettung eines noch Un­ glücklicher», als er selbst, unmöglich mächt. Wie viel sind nun aber der Edlen, die solche Thrä­ nen verstehn, die es verstehn, ein Herz zu würdi­ gen, welches hohe Menschenliebe, sanfte Milde, ungewöhnliche Gryßmuth in sich faßt, aber diese schönsten Gefühle nicht durch die That beweisen kann? Wer sucht oder findet im Bewohner elen­ der Hütten so leicht eine Seele, welche selbst den Monarchen, der sie besäße, noch höher adeln wär-

65 de, als feint Krone? — Es ist überhaupt schwer, das menschliche Herz richtig zu beurtheilen; aber ein sehr veredeltes Gefühl gehört dazu, das Herz des Leidenden nach seinem wahren Werth zu schätzen. Noch eine sehr wichtige Betrachtung für den Menschenfreund liegt in dem eigentlichen Sinn, in welchem Vorik die schönen Worte: »habe Ach« hing für Dich selbst,« zu seiner Elisa sprach. Ach­ tung für fich^ selbst ist ein schützender Engel, be­ sonders für den Leidenden — sie erhalt ihn, sie stärkt ihn auf dem Pfad der Tugend, den Men­ schen und Verhältnisse ihm oft erschweren; sie mahnt ihn ab von dem Irrweg, auf welchen er leicht gerathen kann, wenn dieser sich ihm, in sei­ nen drückendsten Leiden, als ein Ausweg zur Ret­ tung bietet, Dies AllrS, o Menschenfreund, hat Dein etx teS Herz gewiß mit reiner Liebe für hie Mensch­ heit erwogen, und nur der Wunsch fclei&t Dir übrig, daß es in Deinen Kräften stehn möge, ei­ nem belasteten Herzen das schöne Gefühl der Ach­ tung für sich selbst zu erhalten, oder wo sein wohlthätiger Einfluß schon schwacher ward, es ganz wiederherzustellen. Du vermagst es, auf welchen. Standpunkt im Leben die weise Vorsehung Dich auch gestellt hat; Du vermagst es unter der heiligen Leitung der

56

Menschenliebe, der Weisheit, der Religion.

Ist

Dir ein mäßiges, ist Dir ein glänzendes äußeres

Glück von Gott beschieden, so danke seiner Güte innig dafür, daß sie Dir mehr Mittel dadurch

gab, Gutes in der Welt zu befördern; noch inni­ ger aber danke ihr dafür, daß sie Dich fähig

machte, einem Menschenherzen den sanften Frie­ den zu erhalten oder wiederzugeben, den, wenn er einmal völlig verloren gieng, weder Dein Gold,

noch das Gold aller Herrscher der Erde wieder er­ kaufen kann. Bist Du minder vom Glück be­

günstigt, so wirst Du über den Leidenden und fein Gefühl noch mehr vermögen; williger wird er sich an Dich, den nicht ganz Glücklichen, schließen, weil er überzeugt ist, daß auch Dein Herz, wenn nicht all«, doch wenigstens einige der Schmerzen, die sein eignes verwundeten, aus Erfahrung kennt.

Der begünstigte Liebling des Glücks vermag also

hier nicht mehr, als Du; es steht in Deinen Händen, wie in den seinen, dem leidenden Mit­

menschen, durch zartes Ehren seines edlen Stol­ zes, durch Schonung seiner leicht zu verletzenden Empfindlichkeit, xnd durch Achtung für sein Lei­ den selbst,

die höchste aller Wohlthaten zu er­

zeigen. Gewöhne Dich, denjenigen, den Du als ed­

lem Leidenden kennen lernst, mit einer ungeheu­ chelten Ehrfurcht, die aus dem Herzen kommt, zu

57 betrachten. Du weißt nicht, welche wirkliche Vor­ züge er vor Dir haben kann; denn da nichts so sehr die menschliche Seele veredelt, als wohlgenutzte Leiden, und da es so sehr schwierig ist, die dunkle Hülle zu durchschauen, unter welcher der Leidende entweder sich selbst verbirgt, oder durch ungünstige Verhältnisse verborgen wird, so kannst Du sicher von seinem innern Werth viel mehr vor­ aussetzen, als Dir bis jetzt sichtbar werden konnte. Zeigt der Leidende Dir die Wunden.seines Herzens, weil er in Deinen Gefühlen einen sanf­ ten Einklang mit den srinigen wahrzunehmen glaubt, so beweise Du ihm innige Dankbarkeit für sein schönes Vertrauen — Du bist sie ihm schuldig; denn bedenke, welchen edlen Standpunkt in feinem Herzen er Dir gab! Nur Gott, von dem er kind­ lich Trost und Hülfe erwartete, war bisher die Hoffnung dieses leidenden Herzens, und zunächst diesem erbarmendsten Vater aller Wesen, zunächst diesem allmächtigen Netter aus allen Trübsalen setzte er, o Menschenfreund, Dich. Ließ der Unglückliche Dich lange forschen nach dem Grunde seines stillen Leidens, so schätze, wenn er es nun endlich Dir enthüllt, sein mühsam Dir gegebenes Vertrauen, wie Du das Gold schätzen würdest, welches ein edles, lange verschloßnes Bergwerk Dir zollte — unendlich höher schätze e§; denn was ist Gold gegen den Reichthum eines sich

58 Dir hingehenden Herzens? — Jemehr Du sähest,

daß es dem Leidenden Ueberwindung kostete, sei­ nes Kummers langes Schweigen zu brechen, desto

höher rechne den gewiß schmerzvollen Kampf seiner Seele ihm an; desto aufrichtiger danke ihm für sein Vertrauen. Nicht der allein, welcher Dei­ nen Trost oder Deine Wohlthat empfangt, hat

die schöne Pflicht der Dankbarkeit auf sich, son­ dern auch Du, der Wohlthäter selbst — wärest Du Deinem leidenden Bruder nichts schuldig für

die Wonne, zu welcher er Dir Veranlassung gab,

welche er durch seinen Schmerz Dir erst erkaufen mußte, für die fettige Wonne, im edelsten Sinn des Worts, als Mensch zu fühlen? — Vermeide, dem Leidenden gegenüber, in Dei­

nem Trost, in Deinen Erbietungen Alles,

was

Dich zu deutlich als seinen Beschützer ankündi­

gen könnte — als ein solcher würdest Du in sei­ nen Augen über ihn erhaben, und folglich von ihm getrennt, dastehn. welche, bei dem edelsten,

Es giebt Menschen, wärmsten Gefühl für

Menschenwohl, in ihrem Aeußern, in ihrem Ton

eine verlegne Kälte haben,

die fast absprechend

wird, selbst dann, wenn das heiligste Feuer der

Menschenliebe in ihrem Dusen glüht. Diese an­ scheinende Kälte ist aber nur Erziehungsfehler, und

hat ihren Grund in einer gewissen Schüchternheit,

die gewöhnlich schon in der Kindheit angenommen,

59 und im reifern Alter schwer abgelegt wird. Doch, so viel es möglich ist, suche jeder Mensch, beson­ ders der, welcher voraussehen kann, daß sein Ein­ fluß auf Menschen und ihre Schicksale einst bedeu­

tend seyn werde, sich diese verlegne Acngstlichkeit abzugcwöhnen; er wird sonst oft in Gefahr kom­ men, bei seinen edelsten Gesinnungen verkannt zu werden, und selbst seine Wohlthaten werden im­

mer etwas von ihrem Werth verlieren, wenn die

freundliche Herzlichkeit sie nicht begleitet, welche jedes Geschenk erst angenehm macht. Du, o Men­ schenfreund , sprich zu dem Leidenden nur mit der

Stimme theilnehmender Freundschaft; dann wird er, in sanfter Täuschung, Dich betrachten wie ei­ nen langst bekannten Freund, und in der That

knüpfen oft Minuten, in denen edle Herzen ihre übereinstimmenden Gefühle gegen einander aus­ sprachen,

ein engeres und schöneres Band,

als

Jahre bloßer Bekanntschaft es zu thun vermögen.

Um den

edlen Stolz des Leidenden

harter

und rechtmäßiger zu ehren, mache Dich selbst mit

den vorzüglichen Eigenschaften, die er besitzt, ge­ nau bekannt, mache ihn, vorzüglich aber mache Andre auf den, vielleicht lange verborgen geblieb-

nen Werth dieser Vorzüge ayfmerksam, und ver­ absäume nichts, was ihn in das günstigste Licht bei edlen und gebildeten Menschen stellen kann. —

6o Hörst Du, im Gegentheil, daß man, den Unglück­ lichen verläumdet, oder sich seichten, größtentheilS ungegründeten Tadel über ihn erlaubt — wie daö

von müssigen, herzlosen Menschen nur zu ost ge­ schieht — so hüte Dich sorgfältig, daß Du nicht in der guten, aber nicht genug überlegten Mei­

nung, ihn vor Uebelgefinnten zu warnen, sein Herz mit ^Wiederholung der nachtheiligrn Reden verwundest, welche müssige Schwätzer von ihm führten, und welche im Mrunde nur die Gering­

schätzung bessrer Menschen verdienen, da einst doch eia Zeitpunkt kommt, wo und mehr noch die Lüge,

jedes falsche Urtheil, sich selbst widerlegt.

Warnungen vor Tadlern und Verläumdern sind,

unter hundert Malen» nicht ein Mal von Nutzen;

sie erbittern den Unschuldigen, und bessern den Schuldigen nicht — ertheilt man sie aber dem Lei­ denden, so sind sie oft Grausamkeit; denn sie stö­ ren die Ruhe, deren er noch genießen könnte; sie verwunden sein Herz, das jetzt für alles Schmerz­

gefühl nur zu empfänglich ist;

sie entfernen ihn

immer mehr von den Menschen überhaupt,

und

diese Entfernung ist, wenn sie zu weit geht, sehr schädlich für sein äußeres und innres Wohl — noch mehr, sie können sein Herz sogar von Dir

selbst unmerklich entfernen; denn cs liegt nun ein­

mal in der menschlichen Schwache, daß wir einen Theil des unangenehmen Gefühls, welches durch

6i eine üble Botschaft in uns erregt wird, uns selbst

unwissend, auf den Ueberbringer derselben übertra­ gen. Auch ist es immer beschämend, selbst bei der

vollkommensten Unschuld, sich angeklagt zu sehn, auch nur mit einem Wort sich vor demjenigen ver­ theidigen zu müssen, auf dessen ungestörte Achtung man rechnete und Werth setzte. Beschämung aber ist ein kränkendes Gefühl, und dies wird die,Men­

schenliebe einem schon bedrückten Herzen gern er­

sparen.

Vertheidige also, wie es überhaupt die

Pflicht jedes Gutgesinnten gegen jeden seiner Mitmenschen ist, vertheidige mit warmer Theilnehmung, wo Du es nur vermagst, den falsch beur­ theilten Unglücklichen gegen seine Tadler; aber,

wenn es nicht die dringendste Nothwendigkeit, wenn

eS nicht besondre Verhältnisse gebieten, so erfahre

er ihre nachtheiligen Reden nie durch Dich. Wenn sich aber in den Kreisen edler, gebilde­ ter Menschen reine Achtung für ihn, wenn sich

warmes Lheilnchmen im günstigen Urtheil, im lie­

bevollen Erwähnen, im sanften Bebauern seines Geschicks, in der Freude über eine bessere Wen­ dung desselben ausspricht, o so verabsäume es nie,

ihn mit diesem Allen bekannt zu machen — es sey

Dir heilige Angelegenheit, ihm zu zeigen, daß er, auch wenn er, durch die Verhältnisse gezwungen, abgeschiedner von Menschen lebt, als ehmals, doch

noch freundliches Andenken,

edle Achtung,

und

6s wohlwollendes Theilnchmen

von

ihnen erwarten

darf. Es ist eine große Schattenseite in dem schon trüben Leben des Unglücklichen, daß er sich oft von der wohlwollenden Erinnerung seiner Mit­

menschen ausgeschlossen glaubt — wo es Dir mög­

lich ist, da benimm ihm diesen traurigen Gedan­ ken, der zuweilen wahr seyn kann, in vielen Fal­ len aber auch nur ein Irrthum ist, den eine ge­

trübte Phantasie leicht hervorbringen kann.

Laß

keine Gelegenheit vorüber, ihm zu zeigen, daß,

wenn gleich das ungünstige Geschick Macht hatte, ihn vielleicht weit unter den Standpunkt zu setzen,

der sein eigentlicher hatte seyn sollen, es dennoch

nicht mächtig genug war, seinen eigenthümlichen Werth in Deinen und jedes Edlen Augen zu ver­ ringern; im Gegentheil, daß es ihn, eben so wie

die Tugenden, welche sein Herz auch im schwersten Leiden bewahrte, der bessern Menschheit heilig und achtungswürdig mache. Glückt es Dir, ihn von dieser tröstenden Wahrheit zu überzeugen, so wer­ den sanfte Gefühle der Freude sein Herz wohlthä­ tig erwärmen; eS wird auslebcn, wie die Pflanze auflebt, wenn der erste Sonnenstrahl des Früh­

lings die starre Eisrinde löst, womit sie umgeben war.

Zu neuem Leben erweckt, wird der Leidende

dann wieder in die ihm geöffneten Arme, an das liebevolle Herz der bessern Menschheit hineilen; er wwd sich wieder hingezogen fühlen zu ihr, die er,

63 auch in der fernsten Abgeschiedenheit, nie zu lie­ ben aufgehört hatte.

Mit der Achtung für sich

selbst begründetest Du dann in seinem Herzen noch

die Liebe zur Menschheit — o beseeligendes, rei­ ches Geschenk, welches Du ihm machtest! —

Stellte Dich die Vorsehung auf einen Stand­

punkt, der es Dir möglich macht,

der vielleicht

Dir die nähere, heilige Pflicht auflegt, für Ret­ tung und Wohl Deiner Mitmenschen wirksam zu

seyn, so wache behutsam über Dich selbst und über

Alles, was Dich umgiebt, wenn der Leidende mit sanfter Klage Dir naht. Wäre es nur immer mög­

lich, daß Du in seiner eignen armen Hütte diese Klage zuerst vernähmest! Die Hütte des Unglück­

lichen war« Dir ein heiliger Tempel, wo Alles

zarte Empfindung zu Deinem Herzen spräche, und nirgend lernt man den Leidenden genauer kennen

und wahrhafter lieben, als in seinen eignen be­ scheidnen Umgebungen.

Da indessen die Verhält­

nisse des Lebens solche Annäherungen nicht immer zulassen, so müßte, wenn der Leidende mit Bitten um Schutz und Beistand Dir zu nahen genöthigt

ist, jede Deiner Umgebungen so einfach als mög­

lich, jeder Deiner Hausgenossen müßte freundlich und wohlwollend seyn. Kein blendendes Schaugeprange überflüssiger Pracht umgebe Dich; keiner derjenigen, die Dir angchörcn, müßte, auch nur durch einen Blick, dem Unglücklichen Urberhebung,

64 oder das Mitleid zeigen, welches mehr kränkt als tröstet; nie müßte eine kalte Aufnahme von ihrer Seite sein Herz verwunden, und das schöne Ver­ trauen, welches er im Begriff war Dir zu schen­ ken, in schüchterne Zurückgezogenheit umwandeln. Herrsche in diesem Verhältniß besonders auf das strengste über die, welche in Deinen Diensten find; denn selten ist der Fall, daß Menschen dieses Standes nicht auf das Ansehn ihres Herrn über­ müthig würden, und leicht ist es, daß sie durch diesen Uebermuth beleidigen — dulde keinen sol­ chen Unwürdigen um Dich, von dem Du erführest, daß er es gewagt habe, nur durch ein unfreund­ liches oder geringschatzendes Wort, nur durch ei­ nen überhebenden Blick das heilige Gefühl eines Unglücklichen zu kränken. Glaube gewiß, je­ ner feile Sklave Deines Glücks würde, wenn unvermuthete Unfälle Deine bisher glänzende, oder doch glückliche Lage erschütterten, Dich eben so hingeworfen behandeln wie den, welcher mit schö­ nem Vertrauen Dir nahen wollte — selbst jetzt handelt er feindlich gegen Dich; denn es ist leicht möglich, daß er ein sich Dir hingebendes, vielleicht sehr edles Herz unwiederbringlich von Dir ent­ fernt. Wie oft wendet sich das bittre Gefühl, welches eines niedrigen Dieners übermüthiges Be­ tragen int Vorzimmer in die Seele eines Unglück­ lichen goß, wie oft wendet es sich auf den edlen Herrn

65 Herrn selbst — und er, in der Stille seines Kabinets, zum Wohl, zum Seegen der Menschheit

arbeitend, hat nicht die leiseste Ahnung, welche Seufzer, welches Schmerzgefühl seinen sonst so geliebten Namen jetzt verklagend vor den heiligen

Altaren der Menschenliebe nannten. Dein Haus, o Menschenfreund, bleibe in allen seinen Theilen jener himmlischen Tugend unentweihter Tempel *

— das Erscheinen jedes Deiner Hausgenossen sey freundlich, und gebe dem Leidenden ein schönes Vorgefühl desjenigen, welches er von Dir zu tv

warten hat, so wie eine liebliche Morgenröthe die wohlthätige Wirkung der ihr nun folgenden Son­ ne verkündigt. —

Erhebt Dich Verhältniß und Stand über den

Leidenden, ist er in einiger Art von Deinem Wohl-



(Allen Edlen des Auslandes, welche das schöne Urbild zu die­ sem Gemälde zu kennen wünschen — daS V aterland kennt es — werde hier der Hof des königlichen Menschenfreundes, Prinz Wilhelm von Preußen und-seiner erhabnen Gemah­ lin, Mariane der Geliebten, genannt. — Aber auch die Hauser mehrerer Edlen des preuß. Staats können Züge zu diesem sanften Gemälde liefern — so ist das Haus des seel. Hrn. Staatsministers v. Massow, des Hrn. geh. Staats­ raths v. Raumer, des königl. Kammerherrn, Grafen v.

Lottum, gewiß vielen edlen Leidenden ewig unvergeßlich, und ihnen, zum Seegen der Menschheit, sind mehrere noch ähnlich. Verzeiht, Ihr Würdigen, die Nennung Eurer Na­ men; aber wer Euch kannte, hatte sie ja doch hier genannt.)

E

66 wollen abhängig, oder stehst Du auch nur In dem Verhältniß des Freundes mit ihm, bist aber vom Glück mehr begünstigt als er, so hüte Dich sorg« faltig, wenn er, in schwierigen Fallen, nicht aus« drücklich um Deinen Rath bittet, ihm Rath ge­ ben zu wollen. Einmal weiß der Unglückliche nur zu genau, weiß aus zu vielen herben Erfahrungen, daß derjenige, welcher zu dienstfertig ihm mit Rat­ zn vorkommt, ihm selten mit einem wahrhaft fühlenden Herzen entgegenkam. Wer nicht auf das genaueste mit den Verhältnissen der Lei­ den selbst bekannt ist, handelt bedachtlos, wenn er es für leicht hält, dem Leidenden Rath zu ertheilen, in dessen Angelegenheiten nicht blos Vernunst, sondern auch tiefes Gefühl den kleinsten Umstand abwägen muß. Ferner, wenn des Leidenden Wohl, wärt es auch nur in einiger Art, von Dir abhangt, möch­ test Du dann wohl das Ansehn haben, als woll­ test Du durch Deinen Rath — der im Munde ei­ nes Beschützers beinahe zum Befehl wird — einem freien Herzen Fessel anlegen, die Vernunft eines Andern der Deinigen unterordnen? UeberdieS ist dem gegenseitigen Wohlwollen, selbst zwischen Freunden in gleichen Glücksverhältnissen, nichts so gefährlich, als unjeitiges Rathgeben; es trennt oft, die am innigsten verbunden waren. Derjeni­ ge, welcher unerbetnen Rath empfangt, findet

6? sich immer durch ihn entweder einigermaaßen ver­ letzt oder beängstet, wenn es die Umstände Nicht erlauben, daß er jtjrt befolgen kann; derjenige, welcher ihn ertheilt, wird »«merklich kälter, wenn er ihn Nicht befolgt sieht, und dieses Erkal­ ten des Wohlwollens führt weiter. Dennoch ge­ hört es zu dem Mißgeschick des Leidenden, daß eben er, häufiger als je ein Sterblicher, mit dem Dichter seufzen muß:

»Ich seh, was besser mir wäre, ich billige es, Ach, Und wähle das Schlimmre!« denn die allgebietende Nothwendigkeit zwingt ihn zu dieser Wahl. Menschen, welche nie durch die Erfahrungsschule der Leiden giengen, kennen sol­ che fesselnde Verhältnisse nicht.

Bittet über der Leidende um Deinen Rath, und siehst Du ein, daß dieser günstigen Einfluß auf sein Wohl haben kann, so versage ihm den­ selben nicht; denn weiser, freundlicher Rath kann oft die größte Wvhlthat werden. Doch bringe zu diesem Geschäft die gefühlvollste Theilnehmung, die prüfendste Umsicht, aber vorzüglich die sanfte, feine Bescheidenheit mit, welche deutlich zeigt, daß Du ihn, den freierschaffnen Menschen, nicht zum Sklaven Deiner Meinung machen wollest, daß Du seine Vernunft eben so hoch achtest, als die Deinige, und vorzüglich, daß Du Gefühle ehrst,

E 2

68 welche

daS

eigentliche Heiligthum jedes guten

menschlichen Herzens sind. — Naht Dir bittend ein Unglücklicher, der einst

schönre Tage sah, und ihre Seeligkeit nicht durch

unverzeihliche Schuld verscherzte,

o so behandle

ihn mit der zartesten, schonendsten Achtung, deren ein wohlwollendes Herz, deren ein gebildeter Geist nur fähig ist! Wache auf das sorgfältigste über Dein Benehmen gegen ihn;

denn wenn ihn die­

ses verletzt, so hast Da seinen Schmerz doppelt geschärft; Du legtest das Gefühl der traucrvollen

Gegenwart ihm lastender auf, und erwecktest ihm die Erinnerung seiner schönern, jetzt für ihn ver­ lornen Vergangenheit.

So, wie tr tu diesen Au­

genblicken vor Dir steht, gebeugt von dem Druck

des Kummers, so standen, als er noch glücklich war,

vielleicht Leidende vor ihm;

er kam ihren

Bitten mit wohlwollenden Herzen entgegen, er tröstete sie, er that ihnen wohl, und für diese rei­ ne, seelige Aussaat für Erdenlebcn und Ewigkeit

sollte er schmerzende Dornen erndten? — Darf ein volles Herz Dir noch mehr sagen, Du Mäch­ tiger, Begüterter, Du, allen menschlichen Ansich­ ten nach, ganz sicher geborgner Liebling im Schooß des Glücks? — Betrachte, indem Du ei­ nen Leidenden vor Dir siehst, welcher einst Schutz und Hülfe gewähren konnte, jetzt aber für sich

selbst sie wünschen muß, betrachte mit tiefer Em-

§9 psindung die Ungewißheit jedes irdischen Besitzes, den so oft erprobten, und doch nie genug be­ herzigten Wankelmuth des trügerisch lächelnden Glücks — sage Dir, daß auch Du, als Mensch, ihm unterworfen bist,

und demüthige Dich vor

Gott. Der Unglückliche, welcher vor Dir trauernd steht, war einst, was Du bist; wer bürgt Dir dafür, daß Du nicht werden könntest, was er jetzt ist? -TGesetzt aber auch, Du verlörest nie die äu­ ßern Güter des Glücks, wie er sie verlor, giebt

es nicht noch viel andre Verhältnisse des Lebens, in denen man unglücklich seyn kann? Jener Arme, zum Beispiel, entbehrte viel, entbehrte selbst die nöthigen Bedürfnisse für sich, litt vielfach in dem

Leiden seiner Kinder, auf deren Tage er die Ro­ sen der Freude zu streuen wünschte, und doch nur

Dornen der Widerwärtigkeiten ihnen bieten konn­ te; Deine Elternliebe, vereint mit dem günstig­ sten Glücksstand, that für Deine Kinder Alles, was jener fruchtlos wünschte, für die deinen zu

thun.

Bist Du aber gesichert dafür,

daß nicht

einst Deine Kinder mit Undank Dir lohnen, durch Ungehorsam, durch unkindliches Benehmen bittern Kummer über Deine Tage bringen?—Oder, wenn

sie gleich Deine liebste Wonne,

Dein Stolz wa­ ren, können nicht ihnen bittre Leiden des Lebens

beschieden seyn, wirst Du nicht vielleicht sie au

7Q ihren frühen Gräbern beweinen? —

Wäre dann

der Arme, wenn gleich sein Gang durch das Leben nur still und mühevoll war, im Kreise der lieben­ den Seinen nicht immer noch weit glücklicher, als Du, im Besitz aller andern Glücksgüter, die oft

nur den Neid der Thoren erregen? — Beherzige also, bei dem Anblick jedes Unglück­ lichen, immer die wichtige Wahrheit, daß nichts so wandelbar ist, als das äußere Glück, so wird

gerechte Selbstliebe, vereint mit sanfter Menschen­ liebe, Deine Achtung für ihn, und Dein Mitge­ fühl für seine Leiden erhöhen;

er wird den Aus­

druck Deines schönen Herzens in jedem Deiner Blicke finden, und mit seeligem Gefühl wird er ihn verstehn.

Beseelt von der Menschheit heilig­

sten Empfindungen, wirst Du, im Leidenden und in Dir selbst, das Edelste sehn, was Heide seyn können, den Menschen — mit der sanften An­ näherung, welche jedes reine Verhältniß der Gleich­

heit erzeugt, wirst Du ihn aufnehmen und ehren, und indem Du, seinen zartesten Gefühlen gemäß, ihn als den behandelst, der er einst war, ge­ währst Du seiner Seele das sanfte, beruhigende Vergessen seines Kummers über das, was er jetzt

ist, — So rufe Dein Auge, beseelt vom schönen Ausdruck des Mitgefühls,

so rufe Dein Herz,

durch ehrendes Erheben des Unglücklichen zu Dir, so rufe Deine Hand, im leisen Druck ihm wohl-

7i wollende Liebe und festes Bündniß edler Seelen

verkündigend, dem Leidenden zu:

»Du bist der

bessern Menschheit ehrwürdig, bist ein Gegenstand

ihrer zartesten Achtung, ihrer reinsten Liebe * — und dann hast Du, edler Menschenfreund, Alles

gethan, eine der heiligsten Pflichten gegen den Uw­ glücklichen zu erfüllen; denn in jenem liebevollen, feierlichen Zuruf liegen ganz die ihm und Dir so gehaltvollen Worte: »habe Achtung für Dich selbst.« —

Ueber menschliche Heiden im Allgemeinen. Leidende jeder Art sahen entweder eh mal­

glücklichere Tage, oder sahen sie nie, und schwer

ist es, zu entscheiden, Welches Loos von beiden das bedauernswürdigere sey, Nie eines genoßnen Glücks sich erinnern zu können, welch ein trauri­ ges Gefühl — aus vergangne, vielleicht nicht wie­ derkehrende Freuden nur mit schmerzhafter Erinnrung blicken, welch ein betrübendes An­ denken. —

Die Leiden des Unglücklichen entstanden ent­ weder durch sein eignes Verschulden, indem sie die natürliche Folge von tadelhaften Handlungen

wurden, zu denen er durch unstetigen Leichtsinn,

7i wollende Liebe und festes Bündniß edler Seelen

verkündigend, dem Leidenden zu:

»Du bist der

bessern Menschheit ehrwürdig, bist ein Gegenstand

ihrer zartesten Achtung, ihrer reinsten Liebe * — und dann hast Du, edler Menschenfreund, Alles

gethan, eine der heiligsten Pflichten gegen den Uw­ glücklichen zu erfüllen; denn in jenem liebevollen, feierlichen Zuruf liegen ganz die ihm und Dir so gehaltvollen Worte: »habe Achtung für Dich selbst.« —

Ueber menschliche Heiden im Allgemeinen. Leidende jeder Art sahen entweder eh mal­

glücklichere Tage, oder sahen sie nie, und schwer

ist es, zu entscheiden, Welches Loos von beiden das bedauernswürdigere sey, Nie eines genoßnen Glücks sich erinnern zu können, welch ein trauri­ ges Gefühl — aus vergangne, vielleicht nicht wie­ derkehrende Freuden nur mit schmerzhafter Erinnrung blicken, welch ein betrübendes An­ denken. —

Die Leiden des Unglücklichen entstanden ent­ weder durch sein eignes Verschulden, indem sie die natürliche Folge von tadelhaften Handlungen

wurden, zu denen er durch unstetigen Leichtsinn,

72

oder durch noch sträflichere Gemüthsfehler verleitet

ward; oder seine Leiden entstanden ohne sein Der« schulden, indem sie durch Umstande herbeigeführt

wurden, die er nicht vermögend war, zu lenken, noch abzuändern. Es ist nicht leicht, zu beurtheilen, inwiefern ein Mensch die Leiden, welche ihn drücken, im ei­

gentlichen Sinn des Worts verschuldet habe. Wer über Handlungen richtig urtheilen will, muß

ihre Quellen auf das genaueste kennen, und dies wird uns selten möglich, so lange wir noch in den Fesseln des Körpers leben. Ein edles Herz wird sich überhaupt sorgfältig hüten, über irgend ein,

den Mitmenschen betreffendes Mißgeschick zu schnell das strenge Urtheil, »verschuldet,« auszusprechen — der Schein kann uns so leicht irre führen, und thut es wirklich so oft, daß es in vielen Verhält­ nissen des Lebens besser ist, durch zu gütiges, als

durch zu strenges Urtheil zu fehlen; wenigstens ist das Erste immer eines wohlwollenden Herzens wür­

diger. Träten indessen Fälle ein, wo das strengere Urtheil auf ganz erweisliche Thatsachen sich grün­ dete, so wird doch ein edles Herz, selbst im Ver­

brecher, blos das Laster verabscheuen, aber nie wird es dem Lasterhaften, als Unglücklichen, sein Bedauern versagen.

O, wenn so Mancher, der

jetzt vorwurfsfrei dasteht, und des seeligen Glücks

genießt, unter die Tugendhaften gezählt zu wer­ den ,

wenn er unter den nämlichen Umständen,

wie der, welcher zu Lasterthaten herabfank, durch frühere schlechte Erziehung, durch böse Beispiele der Seinen, durch andre unglückliche Veranlassung,

von guten Menschen getrennt, seine Lebensbahn zuerst betreten hätte, so wäre er vielleicht eben so tief, wo nicht noch tiefer, gesunken, als jener Ver­

lorne. — Welcher gutdenkende Mensch, welcher Vernünftige wird also wagen, mit der größten

Strenge über eine Lage zu urtheilen, in welcher er selbst sich möglicherweise befinden könnte, wenn nicht günstigere Verhältnisse des Lebens ihn dafür

gesichert hätten? — Doch, diesseits dieser äußersten Gränzen des Unglücks der Sterblichen — denn Schuld ist das höchste Unglück — diesseits dieser Gränzen giebt es noch viele andre Fälle, wo des Menschen

Leiden nur die natürlichen Folgen seiner,Verirrungen sind, weil es in dem weisen Plan der Vorse­ hung liegt, daß jeder Fehltritt durch seine Folgen

sich selbst bestraft. Wenn aber Gott, das höchste, das weiseste Wesen, es für gut befand, aus den Fehlern der Menschen selbst das sie bestrafende Lei­

den Herfließen zu lassen, so wird der Gute, der Vernünftige doch nie vergessen, daß kein sterbli­ ches Wesen frei von Fehlern sey; daß also die Zeit kommen könne, wo es ebenfalls für seine

74 Verirrungen büßt.

Wenn wir überdies Gott in

dem richtigsten Begriff uns vorstellen, das heißt: ihn als die höchste, ewige Liebe denken, so müssen wir auch annehmen, daß die Leiden des Verirrten nur ernste Warn mg, nur väterliche Zurücklcitung zum verlaßnen Pfad der Tugend von Seiten Got­ tes für ihn seyn sollen. Wie dürften nun wir,

selbst schwache, dem Irrthum unterworfne Men­ schen, absprechend über den urtheilen, lieblos von

dem uns wenden, welchen das reinste, erhabenste Wesen noch an Vaterhänden zu einem schönen Zie­ le führen will? — O, wie viel angemcßner ist es unserm eignen Zustande, unsrer schönen Bestim­ mung für Erdenleben und Ewigkeit, wenn wir je­ de Veranlassung nützen, die es uns möglich macht,

einen Verirrten durch unser Mitgefühl für seinen Schmerz, durch unsern Trost und unsre Hülfe in seinem Leiden, zuerst der Liebe für Tugendhafte, und, in der Folge, der Liebe für die Tugend

selbst wiederzugeben! -r- Ein Erdentag, an wel­ chem Gott eine

solche That uns gelingen laßt,

gleicht den Tagen einer bessern Welt an reiner

Seeligkeit. —

Von einem Leidenden, dem seine eigne Schuld «in unglückliches Loos zuzog, laßt sich, wenn er nicht ein ganz verhärtetes Herz besitzt, mit Grund

annehmcn, daß Reue nicht das kleinste seiner Lei­

den ausmache;

daß in Tagen des Kummers, wo

75 gewöhnliche Menschen, besonders, wenn sie nur den geringsten scheinbaren Vorwand dazu finden, so gern den Unglücklichen fliehn, daß in solchen Tagen das strafende Gewissen ihn mit Schmerz­ gefühlen peinigt; daß er also zwiefach leidet und höchst unglücklich ist, weil ihm der edelste Trost im Leiden, das Bewußtseyn einer von Schuld freien Seele, mangelt. Sind seine Fehler verzeih« lich -r- und bloße Fehler sind ja fast immer zu ver­ zeihen -e- so wirst Du, edler Menschenfreund, nicht schwierig seyn, Nachsicht zu gewahren; Du wirst Dein Mitgefühl und Deinen Trost, auch dem nicht ganz schuldlosen Herzen, nie versagen, wenn es nach Trost sich sehnt; denn es bleibt im­ mer ein menschliches Herz, Wenn eines sol­ chen Unglücklichen eignes Gefühl ihm zugleich An­ kläger und Richter ward, so finde er in Deinen sanften Gefühlen den Vertheidiger — verzeihendes Erbarmen kann mit der unsträflichsten Tugend be­ stehn, weil es an sich selbst eine Tugend, das Ab­ bild einer der uns beglückendsten Eigenschaften Gottes ist. Wenn nun der Edle sein schönes Mitgefühl schon dem nicht ganz tadellosen Unglücklichen schul­ dig zu seyn glaubt, wie viel inniger wird er es schuldlosen Leidenden gewahren, solchen, die im tiefsten Leiden die Reinheit, den Adel ihrer Seele bewährt erhielten; solchen, die vielleicht sogar

?6 um der Tugend selbst willen jedes äußere Glück

mit ruhiger Ergebung, mit wahrer Seelengröße

Opferten. Unverschuldetes Leiden der Menschen

ist ein

Begriff, der uns mit der Gerechtigkeit, mit der Güte und Weisheit unsres Schöpfers schwer zu vereinen scheint, und doch besteht auch in diesem Theil seiner göttlichen Regierung, wie in allen an­

dern, die seeligste Harmonie des Ganzen.

Unser

Geist ist viel zu schwach, in alle Größe des gött­

lichen Plans einzudringen, nach welchem das Ge­ schick des einzelnen Wesens unzertrennlich in das

Beste des Ganzen verwebt ist; unser Geist sieht dann, im eignen Leiden oder im Leiden Andrer,

nur das, was ihm zunächst liegt; nur auf uns selbst, oder auf die, welche uns theuer sind, be­ zieht er, was uns oder ihnen begegnet, was in­ dessen einen unendlich großem Zweck umfaßt; wenn wir aber unsern Geist durch Nachdenken und Be­ obachtung zu erhöhen, unser Herz durch den heili­

gen Glauben an göttliche Vorsehung immer mehr

zu befestigen streben, so werden wir bald dahin kommen, das höchste Wesen gerade dann im Licht

eines gütigen, weisen Vaters zu sehn, wenn es Leiden, auch über die Guten unter seinen Men­

schen/ verhängt. Wie oft muß ein sterblicher Va­ ter — die Schrift stellte ja mehrmal die Liebe

Gottes für seine Geschöpfe unter dem Bild der

77 Elternliebe bar — wie oft muß er beS AkndeS

Herz betrüben, sey es durch Versagen der liebsten

Wünsche, sey es durch ernste Zurechtweisung, oder durch Strafe der Fehler, die vor künftigen größer» Fehlern bewahrt! Wer will aber leugnen, daß hier

Liebe und Weisheit die Vaterhand leitet? — Soll­ te nun daS höchste Wesen, der Quell ewiger Lie­ be, unergründlicher Weisheit, sollte es weni­ ger wohlthuend , weniger weise handeln, als mensch­

liche, bei allen ihren Tugenden noch immer unvollkommne Wesen, und sollte es nicht in jeder seiner Wirkungen, sie sey welche sie wolle, Va­ terliebe beweisen? — Nicht allein im freundlichen

Lächeln der Natur, im sanften Säuseln des Hains, im fruchtbaren Reichthum des Aehrenfeldes, durch

den seine milde Hand zahllose Geschöpfe nährt, verkündigt sich Gott als den Gott der Liebe — er

bleibt es im verheerenden Sturm, im drohenden Wetterstrahl; denn auch durch sie weiß er See­

gen zu verbreiten. — Es ist nicht zu leugnen, daß jedes äußere Glück, an sich selbst, ein sehr freundliches Geschenk der Vorsehung sey; denn nicht allein verschönt eS unser eignes Leben bei einer vernünftigen und ta­ dellosen Anwendung, sondern es giebt uns auch

Mittel, die Tage unsrer Mitmenschen froher zu machen, oder sie in ihrem Leiden zu trösten. Den­ noch giebt es Viele, denen die äußern Güter des

78 Glücks, mehr oder minder, versagt sind, nnb nun

ist dem Menschenfreund allerdings die Frage wich­ tig, ob das Entbehren dieses oder jenes Erden­ glücks wirklich ein Verlust für den Entbehrenden sey, oder ob er deswegen wahrhaft unglücklich zu

nennen ist. Der arme Taglöhner erwacht mit dem ersten frühen Morgenstrahl, der rosig und lächelnd die Wohnungen der Glücklichern beleuchtet,

ohne sie

aus ihrem süßen, weichlichen Schlummer zu stö­

ren;

er erwacht, noch glücklich genug, wenn ihm

nicht Arbeit, und mit ihr sein eigner und der Seinen Unterhalt mangelt. Der Lohn für das

mühsame Geschäft des Tages beseitigt vielleicht kaum die nothwendigsten Bedürfnisse für diesen Tag, und nur nach der äußersten Anstrengung ist

dem Müden die Ruh auf seinem schlechten Lager vergönnt, wahrend die prächtigen Zimmer der Rei­ chen noch von vielen Lichtern erhellt sind, wah­

rend rauschendes Vergnügen

bei ihren kostbaren

Gastmalett den Vorsitz führt, und Ergötzlichkeiten aller Art ihre leicht dahin schwebenden Stunden beflügeln. Er verdiente mit saurer Arbeit die ärm­ liche Speise,

vielleicht nur das schwarze Brod,

welches er genoß;

mit erschöpfender Anstrengung

erkaufte er den Schlummer auf seinem harten Pfühl, vielleicht nur auf dem armseeligen Stroh­ lager. —

79 In verschiednen Standen seufzt mancher Ver­ dienstvolle unter dem Druck innrer und äußrer Lei­ den, verbannt in das traurige Dunkel der Ver­

borgenheit, nie ausgezeichnet vom lächelnden Glück, daS ihn vergessen zu haben scheint, indeß Min­ derwürdige emporkommen,

glanzen,

und Beloh­

nungen für Verdienste erndten, die sie nicht hat­ ten, die vielleicht sogar jener Edle für sie haben mußte, und die er ihren stolzen Anmaaßunge»

schweigend und duldend abtrat, weil er sich, durch Verhältnisse gebunden, nicht der Gefahr aussetzen

konnte, durch den Neid, durch die verborgnen Ränke jener wcrthlosen Lieblinge des Glücks sich zu einer noch bedrängtem Lage heruntergebracht zu sehn, als die seinige jetzt ist. —

Der, welcher in der tiefsten Dürftigkeit, im

beständigen Mangel lebt, der, welcher fast Alles

entbehren muß, was auch die bescheidensten An­ sprüche ein Bedürfniß nennen können, der die ein­ fachsten Genüsse des Lebens kaum ihrem Namen

nach kennt, dieser lebt nur, um zU entsagen, stirbt

nur, um vergessen zu werden von den Menschen, unter welchen er still durch das mühvolle Leben wandelte. — Sind nicht alle diese Menschen, sind

nicht Viele noch in andern Lebensverhaltnissen un­ glücklich, und scheint es nicht, als wären sie von

dem milden Geber alles Guten, bei der Derthei-

8o lung seiner freundlichen Gaben, fast gänzlich aus­

geschlossen, oder doch zu sparsam bedacht? — Freund der Menschheit, indem Du sanft und theilnchmend für die Brüder empfindest, klage

nicht die weisen Führungendes Vaters an, wel­ che auch dann liebevoll sind, wenn sie es am we­ nigsten scheinen. Die thätigste Liebe der Menschen

kann, an sich, nur für Beziehungen auf das Er­ denleben wirken, und eine höhere Hand muß sie

an das künftige Leben knüpfen; die Liebe Gottes aber waltet für die Ewigkeit, und ist unendlich, wie sie. Betrachte den armen Taglöhner in seiner be­

schränkten Hütte — unter seinem Dach,

das

kaum Schutz gegen Sturm und Regen ihm ge­

währt,

wohnt doch oft die glückliche Ruhe, der

innre Friede de§ Herzens, den das Geräusch einer glänzenden Lebensweise, den der Aufruhr großer und kleinlicher Leidenschaften nur zu häufig aus

Pallästen und aus Wohnungen der Bequemlichkeit Den Armen be­

und des Ueberflusses verbannt.

lohnt sein schweres Geschäft gewöhnlich mit einer

festen Gesundheit, mit der wohlthätigen Eßlust, die ihm sein schlechtes Mahl köstlicher würzt, als

die leckern Schüsseln des Reichen zubereitet seyn können; ihn flieht nie der balsamische Schlaf, der, auf Rosenflügeln um sein ärmliches Lager schwe­

bend,

ihm freundliche Träume und wohlthätige Erqui-

Erquickung bringt, wenn Unruh- und Schlaflosigkeit

oft den sogenannten Glücklichen ihren weichen Flaum

zum Dorncnlager machen.

Jeden kleinen, frohen

Lebensgenuß nimmt er freudig und dankbar aus der milden Hand feines Schöpfers ; Ekel und Ueber-

druß ,

die so oft den auserlesensten Genüssen der

Verschwender folgen, oder schon zur Seite stehn, kennt dieser glücklichere Arme nicht. Wenn der Er­ trag feines Fleißes ihm nur für Tage das Noth­ wendigste gewahrt, so rauben ihm dagegen entfern­ te Sorgen, writaussehende Entwürfe für Jahre,

den köstlichsten Theil seiner Lebenszeit nicht. —

Und wenn durch alle diese Vortheile schon sein irdischer Gewinn sichtbar ist, wie viel mehr gewann seine Seele gewiß durch die beschränkte Lage, in welche ein anscheinend ungünstiges Geschick, kn der That aber Gottes liebevolle Vorsehung ihn setzte! — Als Reicher wäre er vielleicht der Welt durch kein nützliches Bestreben, durch keine löbliche Anwen-

düng seiner Kräfte brauchbar geworden; er hatte Anmaaßung, kalten Stolz gelernt, er hätte vielleicht durch Härte den bessern Mitmenschen unter­ drückt. Täglich neue Genüsse hatten ihm täglich

neue Wünsche geschaffen, und mit ihnen hatte er Neid, Habsucht, ruhestörende Unzufriedenheit ken­

nen gelernt. Letzt forderte seine Armuth ihn zur Thätigkeit aus; Fleiß, bescheidne Wünsche, Gnügsamkeit waren Tugenden,

zu denen seine Lage

F

82 ihn erst nöthigte,

und die endlich eine tägliche

Uebung ihm aneignete. Er ist geliebt von Freun« den oder Nachbarn, die das Glück nicht höher be« günstigte, als ihn selbst; ohne Glanz, aber auch

ohne Dorwurf,

fließt sein einfaches Leben dahin,

und einst sinkt er in sein Grab, ruhig, wie er jetzt nach vollbrachtem Tagewerk auf seine Schlummer­ stätte hinsinkt; er entschlaft am stillen Lebensabend, um zu dem frohen Morgen der Ewigkeit zu erwa­

chen. - ------Oft zwar seufzt der Würdige hier auf Erden,

und fein Verdienst wird verkannt oder übersehn; das Glück, das Verdienstlose oft aus dem Dunkel

zu unerwartetem Glanz erhebt, das parteiische Glück hat nur für ihn kein Lächeln, hat für seine Tugend keine Belohnung. tige Güter der Erde,

des Volks ,

Aber können wohl flüch­ können Ehrenbezeigungen

kann selbst die günstige Meinung der

Edlen, wohl die schöne Selbstachtung aufwiegen, die das Glück ihm nicht nehmen, dem Verdienst­

losen nicht geben konnte? —

Rein, wie das Gold

aus dem Feuer, gieng die Seele deS Edlen aus sei­ nen schweren Prüfungen hervor; in heiliger Unverletztheit blieb sein besseres Selbst — was kann die Welt noch Wesentlichers für ihn haben? — Seine schönen Fähigkeiten, seine Kenntnisse, seine

nur auf das Gute und Erhabne gerichteten Gefühle konnten auf Erden ungleich größer» Nutzen stiften,

83 als den, welchen fein beschrankter Wirkungskreis ihm erlaubte. — Menschenfreund, so urtheilst Du; aber des höchsten Wesens unbeschränkter Blick dringt tiefer, ftine Allweisheit unterscheidet deutlicher, was zum Wohl des Ganzen gehört, und zu diesem schönen Ziel wird des Einzelnen Ge­ schick durch sie geleitet. Das stille Dulden jenes verdienstvollen unglücklichen, sein Wirken in einem beschrankten Kreise, ward für das moralische Wohl der Welt nützlicher, als seine glänzendsten Hand­ lungen es ihr geworden wären. Auch für ihn selbst ist das, was jetzt von ihm und Andern als ein Un­ glück betrachtet wird, ist seine bedrückte Lage viel­ leicht ein wahrer Gewinn. Selbst unter den härte­ sten Prüfungen des Lebens wohnt seliger Friede im Herzen des Tugendhaften, des Menschenfreun­ des — jener edle Unglückliche blieb Beides; wäre er es aber geblieben, wenn das Glück ihn weit über seine jetzige Sphäre erhoben hätte, und wäre es nicht wahrer, unersetzlicher Verlust für ihn gewesen, wenn er vergängliche Güter der Erde für Tugenden eingetauscht hätte, die uns zu einem bessern Leben führen, einen wesentlichen, unvergänglichen Theil unsrer Seligkeit dort ausmachen sollen? — Er, der jetzt als Leidender sanftes Mitgefühl für den noch Unglücklichem hat, ihn tröstet, ihm hilft, so weit es seine eigne beschränkte Lage zuläßt, er wäre auf dem Throne vielleicht ein blutdürstiger F -

84 Tyrann, in hohen Ehrenstellen ein Unterdrücker der Menschen geworden,

die er jetzt liebt, mit denen

er innig fühlt, weil er selbst den Druck der Leiden kannte; daß also, zugleich mit seinem Wirkungskreise, auch feinen Leidenschaften wohlthätige Fessein angelegt wurden, war für die Welt und für als seine Erhebung eS Als Mächtiger wäre er vielleicht

ihn ein höherer Gewinn,

gewesen wäre.

von ganzen Völkern, oder doch von vielen Redli-

chen, verabscheut und verachtet; jetzt hat er, im kleinen Kreise, in welchem er lebt und wirkt, die Liebe und die Achtung der Guten. Eine treue Gat­ tin, gute Kinder, Geschwister, Verwandte lieben ihn, und hatte er diese alle nicht, so gab doch der gütige Gott gewiß seinem Leben einen Freund. —

Was ist nun aber Entbehren des flüchtigen Erden­ glücks für den, der seines eignen Herzens Achtung und die treue Liebe eines Freundes behielt? —

Ueberhauvt, wer hier auf Erden entbehrt, der ent­ behrt nicht so viel und nicht so lange, als ge­ wöhnliche Menschen glauben, und für jeden Ver­

lust dieses flüchtigen Lebens hat das Unwandelbare der bessern Welt einen reichen Ersatz.--------

Nichts scheint so unglücklich, als das Leben eines Menschen in hoffnungsloser Dürftigkeit — es hat der Freuden so wenig, es hat der Schmerzen so

unzählig viel.

Freund der Menschheit und der Tu­

gend, je schwerer das Leiden Dir scheint, das er

85 unverschuldet trägt, mit desto heiligern Empfindun­ gen blicke Du auf ihn ; denn nicht, auf ihn allein bezieht sich dieses Leidens Zweck — die göttliche

Liebe und Vorsehung dehnt ihn, in den erhabensten, seligsten Beziehungen, auf mehrere Menschen, auf vervielfältigtes Wohl des Ganzen aus.

Wenn wir das bittre Loos des Dürftigen be­ trachten, sein Leben ohne alle die Freuden, die das ruhige Leben so freundlich verschönen, ohne alle die Hoffnungen, die den herbsten Schmerz so sanft lindern, so müßten wir nicht Menschen seyn, wenn

wir nicht das volle Bedauern unsres fühlenden Her­ zens einem solchen Unglücklichen gäben, zumal, wenn wir überzeugt sind, er habe nichts gethan, wodurch er seine Leiden verschuldet hatte. Unser Mitleid ist eine der schönsten, löblichsten Empfin­

dungen der Menschheit, ist höchst wohlthätig, weil cs die erste Veranlassung wird, da Trost und £ülfe

zu gewähren,

wo wir es vermögen.

Wenn aber

dies auch gar nicht, oder nur in einem geringen Grade möglich wäre, so bleiben dem Unglücklichen

und denen, die ihn lieben, noch Hoffnungen, welche an' sich selbst schon lindernder Trost sind. Einmal muß der Mensch, wenn er nicht ganz die Güte und die Weisheit seines Schöpfers verkennen will, sich

fest an den heiligen, vcrtrauenvollen Gedanken ge­ wöhnen, daß Gott seinem schwachen Geschöpf nie mehr Leiden auflegen wird, als e- zu tragen per-

86 mag, und daß, wenn dieses Leiden einen sehr ho­ hen Grad erreichte, gerade ein solcher nothwendig

war, um des Menschen Seele auf der Stufe schon

befestigter Tugend zu erhalten, oder sie zu der­ jenigen zu erheben, auf welcher sie unumgänglich stehn muß, wenn sein irdisches Daseyn für ihn ein Uebergang in künftige selige Fortdauer werden soll; einUebergang, der um so freundlicher dort endet, je mehr verwundende Dornen er hier darbot. Die erhabne Verkettung des Vergänglichen an das Un­

vergängliche ist oft ein zu heiliges Geheimniß der Vorsehung, ist oft in zu tiefes Dunkel gehüllt, als daß ein sterbliches Auge ganz oder immer ihr folgen könnte; aber nie, nie verliert sie sich vor den Bli­ cken deS Unendlichen. Wenn seine Weisheit es vor­ zog, lieber durch Leiden, als durch Freuden, sein Geschöpf an das eigentliche Ziel seines Daseyns zu führen, so war es, weil sie voraus wußte, daß seiner Seele die läuternde Widerwärtigkeit im ir­

dischen Leben nothwendig sey, um sie für die Freu­ den des höhern Lebens vorzubereiten. Was sind nun die kurzen, heilsamen Leiden unsres flüchtigen

Erdentags, wenn durch sie die unvergänglichen Freuden unsrer dauernden Ewigkeit erkauft werden sollen? — Diese Hoffnung, welche für ein gott­ geweihtes Herz schon an sich wirksamer Troff ist, wird auch für das irdische Leben Wohlthat, indem

sie uns neue Kräfte giebt, die Mittel zur Abwen«

87

düng, oder doch zur Lindrung unsrer Leiden zu su­

chen, und sie weislich zu gebrauchen. Zu seinen Brüdern, den Menschen, steht der Leidende, ehrwürdig in seinem Schmerz, heilig in seinem Kummer, zu ihnen steht er in sehr erhabnen

Beziehungen,

weil ihre Veredlung ein Haupt­

zweck seines Leidens, nach der weisen Anordnung Gottes, werden sollte. Die Natur, welche uns ein Herz voll Mitgefühl für fremde Schmerzen gab,

zeigt uns, eben durch dieses Geschenk, einen der fei­

erlichsten Gänge in der erhabnen Weltregierung Gottes an — er, der Allweise und Allgütige, ließ aus seiner schönen Erde die Leiden der Menschen zu, damit die Liebe ihrer Mitbrüder sich herrli­ cher bewähren sollte— nun aber, giebt es wohl ein schönres Band, nächst der Liebe zu Gott, als thätige Menschenliebe, welche das zeitliche Leben so sanft mit dem ewigen vereint? — Wären

menschliche Leiden nicht, so gienge ein großer Theil menschlicher Tugenden hier auf Erden, und mit ih­ nen viel selige Annäherungen an die Ewigkeit ver­

loren. — Diesewichtige Wahrheit wird uns auf rich­ tige Beobachtungen führen, wird uns zeigen, wie

sehr durch des Einzelnen Leiden die Summe des moralischen Guten für das Ganze vermehrt wird, und auch diese Wahrnehmung wird ein Grund mehr

für uns zu innigerm Theilnehmen an dem Geschick des Leidenden werden.

88 Loch, auch für den Unglücklichen selbst, blü­

hen noch Freuden der reinsten Art, und unmittel­ So

bar aus seinen Leiden blühen sie ihm auf.

wie derjenige,

welcher nie durch Krankheit litt,

das unbeschreiblich süße Gefühl der Genesung nie

kannte, welches fast dem vollen Genuß der Gesund­ heit an die Seite zu stellen ist, so wird es für den Glücklichen unmöglich, sich die sanfte, wohlthuen­

de Empfindung des Leidenden zu denken, wenn er nun, durch Trost, Schutz oder Hülfe seiner Mitmenschek, sein Herz von eine» Sorge erleichtert fühlt, die es lange gedrückt hatte — selbst wenn die Erleichterung nur augenblicklich war oder seyn konnte, blieb sie nicht ohne lebhafte Freuden; dau­ erte sie aber länger in wohlthätigen Folgen fort, welch einen Reichthum schöner Empfindungen legte dann die Vatergüte Gottes in das beruhigte Herz!

Dankbarkeit gegen ihn, den Geber alles Guten, Dankbarkeit gegen den rettenden Mitmenschen, Lie­ be für den gütigen Wohlthäter, Freude über das.

eigne erlangte Glück, wäre es auch noch so klein,

seligere Freude bei dem Gedanken, es mit den Seinen zu theilen, vielleicht noch Unglücklichem zu helfen — welch eine Fülle beseligender Gefühle,

die doch nicht anders, als nur aus erduldeten Lei­ den entstehn konnten! Gehört vollends der Leiden­ de zu den gebildetem Menschen, oder sind seine Ge­ fühle nur unverdorben, so ist es gewiß ein erqui-

89 ckender Genuß für ihn, wenn er die Menschheit von ihrer edelsten Seite kennen lernt; und wer hat gün-

stigere Gelegenheit hierzu, als er? —

Zwar ist e$

nicht zu leugnen, daß zuweilen die Dernachläßi-

gung, die Harte fühllvser Menschen sein Leiden er­ schwert; aber man kann, zur Ehre der Menschheit,

gewiß annehmen,

daß schlechte Menschen seltner

sind, als gute, und wenn nun edle Herzen den Klagen des Leidenden sich öffnen, oder ihnen mit sanfter Liebe zuvorkommen, wenn ihre schönen Gefühle sich ihm durch herzlichen Trost, durch wohl­ thätiges Handeln, durch Aufopferung sogar, be­ weisen, so werden ihm hierdurch so zarte, so innige Freudenan der guten Menschheit bereitet, daß eS

kaum möglich »st, sie demjenigen zu schildern, der

ihren reinen Genuß nie kannte. Außerdem wartet seiner noch ein hoher Gewinn --- nur mit schönen Seelen konnte sein Leiden ihn in jene engere Ver­ bindung bringen, und seine Seele wird sich, nach Maaßgabe seines Empfindungsvermögens, aufdaS

allergewisseste dadurch veredlen. Die körperlichen Leiden, welche aus schwacher oder ganz zerrütteter Gesundheit entstehn, sind hier

nicht erwähnt, weil der nächste Abschnitt blos den Betrachtungen über das so tiefe Leiden der Kranken gehören soll.

Jetzt im Allgemeinen nur noch einige

Worte an Freunde der Unglücklichen. —

90 Nur der Unzufriedne, oder der Undankbare sinnen leugnen, daß die Summe des Glücks auf

Erden viel größer sey, als die des Unglücks.

Doch

werden auch viel Thränen des gerechten Kummers hier verweint, und jeder Mensch, der richtig fühlt,

was er der Verwandtschaft, Freundschaft oder an­ dern Beziehungen, in denen er mit Menschen steht,

schuldig ist, jeder wird Gelegenheit haben, Leidende

unter ihnen kennen zu lernen, deren Kummer er abzuhelfen, oder zu lindern wünscht. Zu dieser Absicht werden edlen Seelen die Bemerkungen nicht

unwillkommen seyn, welche die Frucht eigner Em­ pfindungen und Erfahrungen sind. Es ist süß, auf überstandne Leiden beruhigt zu blicken; noch süßer ist das Bewußtseyn, nicht vergebens gelitten zu haben, da aus unserm Schmerz Trost für Andre

hervorgehn sollte.

Für den Menschenfreund, welcher dem Umgang mit Leidenden ein völlig theilnehmendes Herz wei­ hen will, ist es nothwendig, die wesentlichsten ih­

rer Leiden, und die verschiednen Mittel zur Lind­ rung derselben, prüfen.

mit Sorgfalt und Einsicht zu

91 Leiden durch Krankheiten und körperliche Mängel. Es ist ein großer Vorzug, wenn dem Men­ schen eine gesunde Seele ward, die in einem gesun­ den Körper wohnt; und selbst der Weiseste ist nicht gleichgültig gegen den angenehmen Vorzug einer schönen körperlichen Bildung; denn sie ist ein Em­ pfehlungsschreiben der Natur, welches freundlich zu jedem Herzen spricht. Derjenige, welchem diese gütige Mutter aller Wesen einen Körper zutheilte, der siech und gebrechlich ist, dem sie schwache, man­ gelhafte Sinneswerkzeuge gab, oder dem vielleicht ein oder der andre Sinn gänzlich fehlt, dieser ent­ behrt vielen angenehmen Genuß; viel unschuldige Freuden in der Schöpfung, besonders die der Ge­ selligkeit, gehn größtentbeils für ihn verloren; manche Stunden, manch« Lage und Nächte, bringt er in Schmerzen zu, wenn kränkliche Säfte statt des Balsams der Gesundheit durch die Adern schlei­ chen, wenn seine Glieder ihm den gewohnten Dienst versagen, wenn der erquickende Schlaf sein ermat­ tetes Auge, sein Lager flieht! — Welche rtine, an Seelenfreuden gränzende Freuden verschafft uns der Sinn deZ Gesichts, welchen seligen Genuß in so vieler Art gewährt das Gehör, und wie beklagenswerth ist ein Mensch, der durch Mangel dieser Sinne aller schuldlosen Erheiterung, alles herzer-

92 hebende Vergnügen entbehren muß, welches fl« ge­

währen.

Aber, »Menschenfreund, indem Dein fühlen­ des Herz solche Leidende bedauert, klage nicht den Schöpfer, oder die ewig milde Natur an, die viel­ leicht von der einen Seite ihre Gaben versagten, und sie desto reichlicher von der andern gewährten. Für wie viele der größten Geister aller Zeiten ward

nicht gerade ihre körperliche Schwäche die erste Ver­ anlassung zur Abgezogenheit von Zerstreuungen, zur Liebe für stilles, gehaltvolles Nachdenken, zur

weisen Benutzung der Zeit, zur vortheilhastcn Aus­ bildung der edelsten Anlagen, welche zu ihrer eig,

iten reichen Entschädigung, welche zum Wohl, noch ferner Generationen ihnen gegeben wurden! — Pope, der liebenswürdige Dichter, der gefühl­ volle Weise, war von seiner ersten Kindheit an kränklich; dies entführte — nach dem schönen Aus­

druck unsres Utz —

seinen jugendlichen Geist den

Zerstreuungen; dadurch erwarb er sich seinen un­

sterblichen Ruhm, in einem Alter, wo Tausende kaum die gewöhnlichste Laufbahn des Lebens begin­

nen. — Mendelssohn, und o Du, schon früh sein leitender Genius, unsterblicher Sokrates — wer trüge nicht gern die schwächliche, mangelhafte Hülle,

die eurer großen Seelen irdische Wohnung war, wenn er dadurch feinen Geist zu der Stufe erheben

93, könnte, wo der eurige, im Nachruhm der Jahr­ hunderte , glänzt?— Garve, Heller, unum« wölktet Geist in einem leidenden Körper — viel Stunden verlebtest Du im stillen, schmerzvollen Dulden; aber auch dieser Stunden heiligte die Weisheit sich viel, um durch Dich ihr wohlthätigeLicht auszubreiten, und seine Klarheit war sanft, wie bis zum letzten Augenblick ihres irdischen Wal­ tens Deine Seele e§ war; reichhaltig ward die Ein­ samkeit, welche Deine Körperleiden so oft Dir auf­ erlegten; dann raubten Menschen und Verhältnisse die köstlichen Früchte dieser Stunden Dir und der Nachwelt nicht. — Homer und Du, Ossian, ihr, allen Jahrhunderten ehrwürdige Barden — wer wünschte nicht, daß ewige Nacht sein Auge, wie das Eure, verhüllte, wenn er dadurch den ho­ hen Gewinn erkaufen könnte, mit geistigem Auge einzudringen in das verborgenste Heiligthum des Schönen, des Erhabnen, des Unsterblichen, wie ihr? — Euch, Geweihten, und Allen die euch ähnlich find, wog die Weisheit eures Schö­ pfers in der einen Schaale zwar Leiden zu, aber welchen milden, reichen Ersatz legte sie in die andre! — Zwar wird nicht jeder körperlich Leidende durch so seltne Geistesvorzüge entschädigt, weil die Na­ tur sie nur an Wenige austheilen kann, und daher ist es die Pflicht liebender Mitmenschen, wenigstens

94 das, was möglich ist, zur Erleichterung solcher Leiden zu thun. Es ist fast ganz überflüssig, den traurigen Zu­

stand des Blinden aus einander zu setzen, um Mitleid für ihn zu erregen; denn dieses Leiden hat das Eigenthümliche, daß es bei allen, auch sogar

bei sonst nicht eben tiefempsindenden Menschen, ein sanftes Interesse erregt. Milde Anordnung der göttlichen Vorsehung — denn wenn es nun der

Heilkunst nicht mehr möglich ist, den Verlust deS

edelsten der Sinne zu ersetzen, so ist der Blinde, besäße er auch die reichsten Glücksgüter, doch sehr aus die theilnehmende Liebe seiner Mitmenschen an­ gewiesen, und sie kann in der That ihm seinen Zu­ stand sehr erleichtern. Er besitzt gewöhnlich eine lebhafte Einbildungskraft,

oder, wenn er nicht

blind geboren war, ein lebhaftes Erinnerungsver­

mögen, und hierin liegen schon reiche Schätze der Unterhaltung für ihn, welche

eine der größten

Wohlthaten ist, die man ihm erzeigen kann.

Er

hat, weil äußere Gegenstände ihn nicht zerstreuen, sehr oft Sinn für Nachdenken und Geistesbildung — man wähle eine Art derselben für ihn, wo er den

Sinn des Gesichts nicht allzuschmerzlich vermißt, z.B. Deklamation, Arithmetik, man lese ihm gute, gehaltvolle Schriften vor; man suche für ihn me­

chanische Beschäftigungen, wo der, bei ihm in ho­ hem Grade verfeinerte Sinn des Gefühls den Ab«

95 gang des Gesichts einigermaßen, oft gänzlich, er» setzt, oder wo es wenigstens leicht möglich wird,

daß,

wie Gellert sagt, eines Andern Helles Auge

das Seine werde. Nur brauche man die menschenfreundliche Vor­ sicht, daß man, so viel es seyn kann, vermeide, solcher Gegenstände zu erwähnen, die ihn immer wieder auf seinen unersetzlichen Verlust zurücksüh-

ren; und muß es ja geschehn, so sei es in solcher Verbindung, wo ein andrer Sinn ihm die Freuden seines verlornen ersetzen kann. Man rühme nie eine schöne Aussicht, ein herrliches Gemälde in seiner

Gegenwart; aber man mache ihn aufmerksam auf die milde, wohlthätige Luft eines schönen Tages, auf den Gesang der Vögel, auf den lieblichen Duft der Blumen; kurz, auf Alles, was in einen an­

dern Sinn, als den des Gesichts, fällt, und wer sein wahrer Wohlthäter seyn will, verschaffe ihm die Gelegenheit, in der Musik unterrichtet zu wer­ den, worin es Blinde, bei zweckmäßiger Lehrme­

thode, sehr weit bringen können, und wodurch er manche seiner, sonst trüben, Stunden auf das ange­ nehmste verschönen wird. Fühlt er dennoch — wie

es nicht anders seyn kann — das Schmerzliche seiner Lage oft, so tröste man ihn auf das liebevollste;

man suche den religiösen Sinn möglichst in ihm zn erhöhen; denn hieraus stießt sanfte Ergebung in Gottes unergründliche Schickungen, und drückt ihn,

96

außer seinem schon so großen Leiden, noch Armuth, so stehe unter den Empfängern unsrer Wohlthatrn

der Blinde, so wie der, welchem Lähmung den Ge­ brauch seiner Hände benahm, immer obenan. — Auf den ersten Anblick scheint uns der Verlust

des Gehörs ein weit geringeres Leiden, als die Blindheit, und ist auch in so fern viel erträglicher, als es die, zum wahren Glück des Menschen, so nothwendige Thätigkeit nur in wenigen Arten hemmt.

Aber der völlig Taube, oder auch nur

schwer Hörende, verliert doch viel von den Freuden,

die zum gebildeten Leben gehören.

Musik, Schau­

spier, witzige rasche Unterhaltung in geselligen Krei­ sen, gehn für ihn verloren; selbst der ungleich werthvollere Vortrag des vorzüglichsten Kanzelred­

ners bleibt für ihn unvollkommen, kann ihn also nicht, wir Andre, erbauen. Anstatt daß der Blin­

de allgemeines Interesse erregt, hat der Taube daS Unglück, durch öftere Fragen, oder durch die Schwierigkeit, mit der man sich ihm verständlich

machen muß,

in Gesellschaften lästig zu werden;

auch nimmt sein Charakter ost die Untugend des

Argwohns an, weil er nicht sicher ist, ob nicht das, was gesprochen ward,

reicht. —

zu seinem Nachtheil ge­

Man sey nachsichtig gegen das Unan«

Lenehme, was mit dieser Art des Leidens verbun­ den ist; man suche durch einen erhöhten Sprachkon,

durch deutliche Aussprache, durch möglichst bezeich-

97 nende Bewegung der Lippen sich dem Leidenden

verständlich zu machen, und wo dieses nicht aushilft, da höre man ihn, wenn er spricht, mit Theilnehmung an, damit auch er, nach seinem Maaß, die angenehmen Freuden der Geselligkeit genießen

könne. Ueberhaupt wird das Mitleid für diese UnVollkommenheit des Sinnes, so wie für Blindheit, noch mehr in uns rege werden, wenn wir bedenken, daß Niemand im Alter gegen dergleichen Unglück ge­ sichert seyn kann. Leibesgebrechen haben Anspruch auf das Be­ dauern aller guten Menschen; nur minder gute

werden sie mit Unempfindlichkeit betrachten, und nur die allerschlechtesten oder leichtsinnigsten können

sie zum Gegenstand ihres Spottes machen.

Wer

also einen Menschen deswegen weniger achtet, weil

dir Natur ihn misgestaltet erschuf, oder weil ein unglücklicher Zufall ihn verunstaltete, der vergißt seine eigne Würde, und setzt sich zum eitlen Thoren herab. Körperliche Gebrechen eines Menschen wer­ den sehr oft durch einen gebildeten Geist, durch ein

edles Herz ersetzt; der erste erwirbt Achtung, und des edlen Herzens himmlischer Einfluß wirkt auf Alles, was ihm naht, mit solcher unwiderstehlichen

Kraft, daß, wo er waltet, wir ganz der äußern Umgebungen vergessen, nur ihn fühlen, und mit geistigem Auge da nur Ebenmaaß und Schönheit sehn, wo das körperliche zuerst Mängel und GebreG

99 chen fand.

Wenn ein gebildeter Geist, wenn ein

schönes Herz aus den Zügen spricht, welch ein sanf­ ter , rosenfarbner Schleier breitet sich dann über Naturfehler, die unverschuldet sind, und die dem

eigenthümlichen Werth des Menschen durchaus nichts benehmen können. — Würdiger Mann, hoffnungsvoller Jüngling, dessen schöner Seele die Natur einen

ihr so wenig ähnlichen Körper zum

Gefährten gab, über seine Misgestalt Dich zu be­ trüben, hält männliche Weisheit Dich ab; darüber aber

könntest Du

trauern,

Schwächen dich oft hinderten.,

daß dieses Körpers den Aufwand von

Kräften zu machen, den Du so gern der edlen Sorge für Menschenwohl, dem Besten des Vater­

landes, t.in Kamps für eine geheiligte Sache ge­ weiht hättest.

Traure darüber nicht — indem Du

jeden Tag eines Lebens, welchem die Natur nicht lange Dauer verheißt, indem Du minder ange­ strengte , aber gewissenhaft berechnete Kräfte Deinen edlen Absichten für das Gute opferst, so hast Du in Tagen länger und thätiger gelebt, als Tausende, die

ihre geistigen und körperlichen Kräfte zwecklos ver­ schwendeten ,

in Jahren lebten.

Jede Deiner

Handlungen hatte auf Menschenwohl den Einfluß,

der Dir gering scheint, der eS aber vor den Augen Gottes nicht ist, weil dort nur die edle Absicht der geräuschlosen That ihren Werth beilegt, und weil ihre seligen Folgen, die dem sterblichen Auge

99 oft entgehn, nur von der Allwissenheit durchschau!

werden können. Jede dieser Handlungen wird, ei­ nem tröstenden Engel gleich, in den Lagen Deines

stillen Leidens Dich

erheitern,

wird Lindrung zu

Deinem Schmerzenslager bringen, und in der Stunde des frühern Scheidens mit freundlichen

Palmen Dir Erquickung wehn. Auch Du, gutes, sanftes Mädchen, betrübe

Dich nicht, wenn die Natur Deinem Körper das holde Ebenmaaß seiner

Glieder,

den blühenden

Reiz, das Gefallende versagte, das gewöhnlich als ein so angenehmer Vorzug Deines Geschlechts be­ trachtet wird — Schönheit ist nicht unumgänglich nöthig, um liebenswürdig zu seyn. — Deine von

der Natur unbegünstigte Gestalt hielt den seichten Thoren, den schmeichelnden Verführer von Dir zu­

rück; sie sicherte also dein Leben vor der Reue über

eine unglückliche Verbindung, vor der noch bittrem

Reue über Verirrungen des Leichtsinns, zu welchen

Schönheit nur zu Dielen Deines Geschlechts die erste Veranlassung ward, und vielleicht auch Dir es geworden wäre. Der Mangel an äußermReiz lehr­

te Dich Vorzüge suchen durch Tugenden, neben welchen die Schönheit flüchtig abblüht, wie Rosen eines Sommermorgens neben der milden Rebe, die im späten Herbst noch mit süßer Frucht erquickt,

wenn langst die Zeit der Rosenblüthen vorüber schwand.

Deine edlen Eigenschaften gaben. Katt

G 2

100

schaaler Bewundrer, Dir weise und liebend« Freun­

de; die vielen gefahrbringenden Leidenschaften, de­ ren Quelle die weibliche Eitelkeit ist, stören nicht den stillen Seelenfrieden, den Bescheidenheit, An-

spruchlosigkeit und wohlwollende Herzensgute Dir gaben. Wählt Dich ein Mann zur Gefährtin sei­ nes Lebens, so wird es nur ein solcher seyn, der Deiner, Liebe werth ist, und die seinige wird auf

Vernunft und Achtung gegründet seyn.

An dieses

Edlen Hand gehst Du dann friedlich durchs Leben, eine glückliche Gattin, eine zärtliche Mutter, eine theilnehmende Freundin, «in« Wohlthäterin vieler

Armen — o wie süß, wie belohnend sind diese Na­ men. Vielleicht hättest Du sie nie erhalten, nie ihre Seligkeit empfunden» wenn die Natur Dich blos mit Schönheit ausgestattet hätte — gerade sie wär«

vielleicht Dir

unglückbringend

geworden,

hätte Dich vielleicht in den Strudel des Leichtsinns,

oder doch in die Leere eines gehaltlosen Lebens ge­ rissen, und Drin Geist, Dein Herz wär«, wo nicht her«rbgewürdigt,

doch ohne die günstige Ausbildung,

ohne die schönen Gefühle geblieben, die jetzt Dein Daseyn veredlen. — Gesetzt aber, Dein künftiges Loos gliche diesem lieblichen Gemälde nicht ganz, gesetzt,

ein kränklicher oder gebrechlicher Körper

nähme Dir die süße Hoffnung auf das Glück der Gattin, der Mutter,

so wandle , Du Gute,

nur

still durch Dein schuldloses, Dir und Andern so viel

IOJ Du vermagst nützliches, Leben

von Wenigen ge­

kannt, aber von diesen Wenigen geachtet und ge­

liebt ,

wirst Du Deiner Tugend Dich erfreuen,

und unter den Thränen edler Freunde des Guten und Deines schönen Herzens wirst Du einst sanft zum Grabe entschlummern, um froh zu dem Tage zu erwachen, der die schönsten Belohnungen für

stille Tugend hat. — — Nach der gütigen und weisen Anordnung des Schöpfers, wird dem Menschen kein Leiden auser-

legt, das nicht zu seinem eigentlichen und wahren Heil diente, sobald er es nur weidlich dazu anwen­

den will, und der Ersatz oder der Trost liegt jedem

Leiden naher, als der Unerfahrne es glaubt. Den­ noch erregt und verdient unter den Leidenden ein Kranker, und wären seine übrigen Verhältnisse die glücklichsten, unser inniges Mitgefühl.

Weder

dem Mächtigen, noch dem Reichen, können seine Macht oder seine Schätze die Gesundheit erkaufen,

welche doch der süßeste Geyuß des Lebens ist, und sein Leiden wird durch das Gefühl vermehrt, daß

nur ihr Besitz zu seinem Glück mangle, daß aber dieser Mangel ein sehr wesentlicher sey.

Drücken

noch die Sorgen der Armuth den Kranken, o wie schmerzend muß es für ihn seyn, wenn aus seinem schwächlichen Zustande nun vermehrte Bedürfnisse

erwachsen, und wenn die Schwierigkeit, vielleicht die Unmöglichkeit, sie zu beseitigen, das Herz derer,

ioa die ihm theuer sind, denen er es ist, bei jrdkr feiner triststen Klagen, tief verwundet! — Wenn aber bei einem fortdauernd kränklichen Zustande die völlige Hülfe unmöglich ist,, so kann er doch wenigstens gelindert werden, und es ist schon Verdienst, die Summe der Leiden auf Erden, so viel in unsern Kräften steht, vermindert zu ha­ ben ; schon in den edlen Absichten, aus welchen ein Menschenfreund handelt, liegt reine Seligkeit für ihn, und in ihrer Wahrnehmung liegt sanfter Trost für den, dessen Wohl sie galten. Kein Verdienst, welche- der Menschenfreund sich um den durch Kränklichkeit Leidenden macht, ist also klein zu nen­ nen, es bestehe nun in feiner Erheiterung, in sei­ ner Erquickung, oder in seiner Unterstützung. — Bei mehr oder minder gefährlichen, aber vorüber­ gehenden Krankheiten steht die Erleichterung vor­ züglich in den Händen derer, welche um den Kran­ ken sind, und.wohl ihm, wenn ihr Herz für das sanfte Geschäft seiner Pflege von der Natur geschaf­ fen , wenn es durch theilnehmendes Gefühl für diese Pflege gebildet ist. — Das Verdienst be­ fühlenden Arztes, des gebornen Wohlthäters Mr leidenden Menschheit, ist zwar hier unstreitig das wichtigste, aber es ist nicht das einzige. Ihm zeichnet sein ehrwürdiger Beruf schon den Gang sei­ ner Behandlung des Kranken vor; aber möchten diese Blätter dazu beitragen, auch Andere, welche

tos durch zweckmäßig« Krankenpflege dem Arzt die ver­ einigende Hand bieten sollen, ihr übernommenes Geschäft wichtig und heilig zu machen — möchten sie mit sanfter Sympathie zu theilnehmender Her­ zen eignen Gefühlen sprechen! — Du, von Gott zur innigfühlenden Trösterin in Leiden gebildet, Du, weibliche Seele voll milder und zarter Empfindungen, Du, deren sanfte Hand geschaffen ward, vom Pfad des Lebens Dor­ nen hinwegzunehmen, und Blumen an ihre Stelle zu pflanzen, sey vorzüglich »m Krankenlager Dei­ ner schönen Natur getreu'. — Schöner erscheinst Du nie, Würdige Deines Geschlechts, auch im lieblichsten Ioeal des Künstlers nicht, als wenn Du, eine liebevolle Tochter oder Schwester, am Krankenbette des entkräfteten Baters, der leiden­ den Mutter, der zarten Geschwister, mit sorgsa­ men Blicken an ihnen hangst, mit sanfter Hand ih­ nen Pflege und Wartung ertheilst. In höherer Würde erscheinst Du nie, auch auf Thronen nicht, als wenn Du, eine treue Gattin, eine zärtliche, sorgende Mutter, am Schmerzenslager des Gatten, des leidenden Kindes , mit weiser Prüfung Alles entfernst, was ihnen schädlich seyn könnte, wit mildem Wohlwollen Alles aufsuchst, was ihr Leiden für den Augenblick lindern, für die günstige Folge früher heben kann. Sey am Krankenbett derer, die das Blut, oder dgS sanfte Band der Freund-

104 schäft Dir näher anschloß, sey eine liebende Ver-

wandtin, «ine theilnehmende Freundin, und wenn Du Dich auf die edelste Stufe des Wohlthuns er­ heben willst, so sey es auch dem Hülflosen, dem

Armen.

Die Pflege, welche Du giebst, sey nicht

allein liebevoll, sondern auch einsichtsvoll — höre

nicht auf abergläubige Thorheiten — folge nicht dem unüberlegten Rath der Unkundigen, wende nie zur Heilung ihre oft schädlichen Mittel an, son­ dern, dem Arzt gehorsam, biete ihm, dem Wohl­

thäter der leidenden Menschheit, mit weisem Ein­ gehn in seine Ansichten, zu seinem heiligen Geschäft die Hand.

Besitzt er, neben seinem wohlthätigen

Studium, zugleich die in seinem Fach so nützliche Seelenkunde, o dann höre ihn doppelt lernbegierig;

denn viel wirst Du durch seine Belehrung gewin­ nen; sie wird Dir zeigen, wie wichtig die Bezie­ hungen der Seele auf den leidenden Körper, und die seinigen wieder auf die Seele sind; Du wirst

einsehn lernen, wie Vieles zur Erleichterung der Leiden eines Kranken, zur Beförderung seiner frü­ hern und vollendeten Genesung gehört,

was acht­

losen oder ungebildeten Menschen ewig unbekannt

bleibt. Suche auch durch das Lesen zweckmäßiger Schriften über die von der Heilkunde so unzertrenn­

liche Wissenschaft der Diät Dich zu belehren — diese Kenntniß ist nicht schwierig zu erwerben, und sie muß Dir Angelegenheit seyn;

denn sie ist ein

105 wesentlicher Theil, auch Deiner häuslichen Bestim­

mung, edle Tochter der Natur und des Vaterlan­ des. — Deutsche Frauen der Vorzeitwaren immer mit den Kenntnissen vertraut, welche zureinfachen

Heilkunde gehören. Opfre Du nicht die kostbare, vom Schöpfer Dir angerechnete Zeit dem häufigen

Lesen

schaaler Romane,

die Deinem Geist nur

eine falsche und folglich schädliche Richtung ben ;

lich,

ge­

opfre die edle Zeit so wenig als mög­ den Armseligkeiten,

die

nur Mode oder

seichte Eitelkeit zu den Beschäftigungen rechnen

können, sondern beschäftige Dich wirklich, und so, wie es einer Seele werth ist, die früh mit dem Gedanken an ihre Bestimmung für dieses und für »in beßres Leben vertraut ward. Sanft ist die Lei­ tung einfacher Weisheit; gefahrlos ist das Wan­

deln auf den heiligen Pfaden der Natur — hier wirft Du immer sichre Mittel zur Verschönerung Deines eignen Lebens und des Lebens Andrer, zum Trost für Deine eignen und für Andrer Leiden fin­ den.

Lerne und übe was zu wahrem Nützlichseyn

im Leben, zum Wohl der Deinen, zum Trost de­ rer, die Dein schönes Herz Dir befreundet, der Leidenden, dient, so hast Du in Deinem stillen Wir­ kungskreise mehr für die Menschheit gethan,

als

Mancher, den Schmeichler feiern, und Weise be­ dauern , weil er sein Leben einem glänzenden Trug­

bild hingab. —

io6 Der körperliche Schmerz ist vielleicht nicht im« mer das höchste, und gewiß nicht immer das ein­

zige Leiden deS Kranken. Diesem Schmerz vermag die sanfte Hand der Heilkunst, wenigstens perioden­ weise, etwas von seiner Scharfe zu benehmen; aber eine stille Traurigkeit oder ein merklich düstrer Un-

wuth, auch wohl reizbare Heftigkeit, je nachdem der Charakter des Kranken beschaffen ist, sind die bedeu­ tenden, von einem kränklichen Zustande fast unzer­ trennlichen Uebel,

welche oft langsamer weichen,

als der Schmerz selbst.

Sie sind es, die des Kran­

ken Leidenstage unbeschreiblich trüben, und derje­ nige hat wahres Verdienst um ihn, dem es gelingt, sie zu heben, oder sie wenigstens zu lindern.

Die

Behandlungsart, welche auf diesen wichtigen Ge­ genstand abzweckt, könnte man in der That die Diät der Seele nennen ; denn sie tragt zur Erleich­ terung und zur frühern Genesung des Kranken eben

so viel bei, als die körperliche Diät. obachtungen hierüber

giebt

ein

Einige Be­

wohlwollendes

Herz, belehrt durch eigne Erfahrungen, und vor­ züglich durch einsichtsvolle Aerzte, denen Seelen­ kunde eine Angelegenheit war, jetzt Eurem Gefühl,

wohlthätige Freunde und Freundinnen des Kranken. Es ist bekannt, daß bei manchen bedeutenden Krankheiten Zufälle eintreten, wo Zerrüttung der

Phantasie Statt findet, und dieser für den Kranken

io7 peinvolle Zustand ist ost noch schmerzlicher für die ihn Umgebenden.

Doch wer den Leidenden liebt,

der hüte sich sehr, in dieser Lage seiner Seele ihm

zu widersprechen,

um vielleicht das Ungegründete

seiner quälenden Erscheinungen, das Unwahre sei­

ner Behauptungen, zu seinem Trost, ihm zu zei­ gen. Dieser Trost ist, in einem solchen Zustande» durchaus nichtig; denn es ist ja nicht möglich, daß des Kranken jetzt geschwächtes Denkvermögen Grün­

de der Vernunft prüfen und

in sich aufnehmen

kann — blos das unangenehme Gefühl, das jedes Widersprechen erregt, wird dadurch in ihm erweckt,

wird durch seinen jetzt so reizbaren Zustand noch verstärkt, und die daraus herfließende Erbitterung, wenn sie auch nur .augenblicklich ist, kann nicht an­ ders als ungünstig auf seinen Körper wirken. Viel lieber gehe das menschenfreundliche Herz seiner Pfle­

ger, unter stiller, aber immer reger Beobachtung seiner Zdeen, in dieselben, so viel als möglich , ein,

und ohne sie gerade zu wiverlegen, suche man durch mit ihnen verbundne, unschuldige Täuschungen dem

Leidenden seine irrigen Vorstellungen erträglicher, weniger angreifend und widrig zu machen, als sie es in Fieberphantasieen gewöhnlich sind. Auf diese Art wird es noch am sichersten gelingen,

daß die

kranke Phantasie beruhigt werde. — Geschahe es

aber nicht, so muß man durchaus der eignen Aengstlichkeit Herr werden, man muß gelassen seyn, und

108

den Kranken gelassen behandeln.

Mindert sich der

Grad seines Leidens, so wird sein Zustand sich auch

nach diesem Maaß bessern; denn jede Wirkung hört auf, sobald ihre Ursache nicht mehr vorhanden ist.

Es ist nur das Geschwätz eines leeren Trostes,

es ist sogar lieblos, wenn man den Kranken dadurch beruhigen >ill, daß man ihm sein Uebel geringer vorstellt, als es wirklich ist,

fühlt;

und als er selbst es

aber man vermeide auch, ihn durch unvor­

sichtige Aeußerungen der Besorglichkeit um seinen Zustand ängstlich zu machen; Jeder, der um ihn ist.

beweise ihm also eine sanfte, aber immer gemäßigte Mitempsindung seines Leidens. Ein Vernünftiger wird wohl den Kranken so schonend behandeln, daß er ihm nichts mittheilt, was Verdruß, Kummer oder Sorge in ihm rege machen könnte; aber es

giebt auch der Unvernünftigen viel; daher verbanne

man aus seinem Zimmer dienstfertige Zuträger,

Plauderhafte Weiber,

und ungesittetes

Gesinde.

Nie drehe sich, in seiner Gegenwart, die Unterhal­ tung um widrige Gegenstände, z. B. gefährliche Zufälle andrer Kranken, schmerzvolle Operationen,

Mordgeschichten u. s. w.

Der einsichtsvolle Arzt

wird zwar dergleichen Gespräche nie dulden; aber

er kann nicht immer gegenwärtig seyn, und unbe­ sonnene Wärter oder Wärterinnen besonders füh­

ren sie ost. Selbst leise von unangenehmen Sa­ chen, von unverinutheten Unglücksfällen, im Zim-

109

mer des Kranken zu sprechen,

ist misli'ch;

denn

wer kann wissen, ob nicht gerade jetzt sein Gehör eben so leise ist —

wenigstens führt sein leiser

Schlaf auf diese Vermuthung.

Er werde auch sorgfältig vor unangenehmen Eindrücken bewahrt, welche in die Sinne fallen;

kein zu starkes Licht, oder was sonst die Sehner­

ven anstrengt, welches sich sogar bis auf hervorste­

chende Farben erstreckt;

kein angreifender Geruch,

weil dieser Sinn in Krankheiten sich oft verfeinert;

keine betäubende Stimme; keine Hand, die nicht gewohnt ist, einen schwächlichen Körper sanft zu be­ handeln, werde am Lager eines solchen Leidenden geduldet. Besonders bleibe Alles entfernt, was ihn abhalten könnte, wäre es auch nur für Minuten,

des labenden Schlummers zu genießen, der, gleich einem geliebten Freunde, oft unerwartet, aber im­ mer willkommen, ein ermattetes Auge brschileicht — Ruh' und Stille müssen die wohlthätigen Schutz­

göttinnen jedes Krankenzimmers seyn. Zu allen diesen nothwendigen Aufmerksamkeiten gehört blos ein fühlendes Herz und ein richtiger Beobachtmngsgeist; es ist blos nöthig, nie zu vergessen, daß

dem reizbaren Nervensystem eines Kranken Vieles unerträglich werden kann, was dem Gesunden ganz gleichgültig ist, oder nicht von ihm beachtet wird. Wenn auf Ruhe der Seele und des Körpers eines Kranken nicht die gehörige Sorgfalt gewendet wird,

110 so kann em plötzlicher Tod, Verlust oder bleibende Schwäche des Verstandes,

so können wenigstens

gefährliche Rückfälle, oder dauernde Uebel für das

ganze Leben,

die Folge davon seyn.

Selbst die

zärtlichsten Empfindungen des Herzens muß man einem solchen Leidenden nur im gemäßigten Licht zeigen, damit er sich nicht anstrenge, sie zu erwie­ dern; auch beschuldige ihn Niemand des Undanks,

wenn er die zarteste Sorgfalt für ihn kalt hinzuneh­

men scheint — es ist unmöglich, daß setzt die lei­

denden Organe des Körpers Empfindungen der Seele ausdrücken können, die überdies, in einem solchen Zustande der Erschöpfung,

minder lebhaft

seyn müssen, als sonst. Wenn nun die Tage der freundlichen Genesung

für den Leidenden kommen, besonders, wenn sie langsam geht, so überzeuge man sich ja recht fest davon, daß, wenn auch die größte, doch bei wei­

tem noch nicht alle Gefahr für ihn vorüber ist.

Noch immer wache man sorgfältig darüber, daß er keine Beschäftigungen vornehme, mit denen kör­ perliche oder geistige Anstrengung verbunden ist;

Alles, was ihm ernste Sorgen,

oder Aufwallung

der Leidenschaften verursachen kann,

bleibe noch

immer entfernt. Wenn er unterhalten zu seyn wünscht — aber auch dann nur — so unterhalte man ihn von leichten, angenehmen Gegenständen; vorzüglich wähle man solche, die für ihn frohe Be-

11 r

ziehungen haben; aber das Aufwallen zu lebhafter Freude muß, wie jedes angreifende Gefühl, vor­ sichtig bei ihm verhütet werden. Erlaubt es sein Zustand, und ist er ein Freund gebildeter Unterhal­ tung , so erheitre ihn das Borlesen angenehmer, aber in keiner Art exaltirter Schriftsteller; doch, er selbst lese nicht zu früh, und sein Vorleser nicht zu lange. Heilsam wird der theilnehmende, aber nicht lange Besuch geliebter Freunde ihm seyn; nur vergesse man nicht, daß zu vieles Sprechen, wie zu vieles Hören, dem noch schwachen Körper nachtheilig werden kann. Ueberhaupt, so viel freund­ liche, lächelnde Bilder, als möglich, müssen den Genesenden zur völligen Genesung führen, und selbst dem Sterbenden sind sie wohlthätig; denn sie geleiten ihn sanfter und liebevoller zur seligen Ewigkeit. — Der reichhaltige Gegenstand einer zweckmäßi­ gen Krankenpflege würde noch vielen Stoff zu Be­ trachtungen geben; doch gnügen Winke, welche je­ den Menschen, der Einsicht und Gefühl besitzt, auf eigne nützliche Beobachtungen führen werden. Mit Herzenswärme sey denkenden Aerzten, Menschen­ freunden und wohlthätigen Fürsten hier noch eine Idee übergeben, die vielleicht schon irgendwo ge­ dacht seyn kann — wiewohl ich noch nie etwas ähn­ liches las — aber ausgeführt ist sie gewiß noch nir­ gend, außer da, wo sie es als religiöses Ordens-

112

gelübde wirb. — Alle diejenigen, welche in der bürgerlichen Gesellschaft für das Fach der Heilkunde arbeiten, studirtcn, ein Jeder in seiner Art, dieses Fach; sie leisteten den heiligen Eid, für das Wohl der Menschheit zu sorgen, und ihren Schaden zu verhüten. Ware es nicht möglich, daß, zur VerMehrung des Wohls dieser Menschheit, noch vernünftig belehrte, vereidete Wärter und Wärterin­ nen gebildet würden, die auch in Privathäusern ihr Geschäft ausüben könnten, wie die katholischen, der Menschheit ewig ehrwürdigen Orden der Barmherzigen in einigen Ländern es üben? — Wie Diele mag eine zweckwidrige, durch verjährte Vorurtbeile, Aberglauben und Unwissenheit irre geleitete Behandlung jährlich hinraffen, wenn Menschen, denen es an Einsicht und an Sorgfalt mangelt, sich zu Krankenwärtern aufwerfen? — Was hilft das höchste Pflichtgefühl, die redlichste Bemühung, die -einsichtsvollste Behandlung von Seiten würdiger Aerzte, wenn da, wo sie halfen, elende Menschen wieder verdarben? — In be­ trächtlichen Städten, wo Krankenhäuser, Hospitale u. s. w. vorhanden sind, wäre die Möglichkeit, sachverständige und gewissenhafte Krankenwärter zu bilden , nicht entfernt; dies wäre vielleicht bequem und ohne große Kosten auszuführen, wenn Sach­ kundige und Menschenfreunde den Plan dazu ent­ würfen. — Der

Der mildeste und heiligste Trost, welcher ei. nem Leidenden sich darbieten kann, ist gewiß der Trost, den die Religion für ihn hat; also wird er es auch für den Kranken seyn. Treue Lehrer einer Religion der Liebe, wie verehrungswürdig seyd ihr, wenn ihr mit freundlichem Trost, der aus ih­ ren heiligen Lehren herfließt, zum Krankenbette tretet, und so des Leidenden Wohlthäter werdet, in Stunden, wo einem frommen Herzen dieser Trost so erwünscht, so willkommen ist! — Wäre aber auch der leidende Kranke in den frohern Ta­ gen seines Lebens gleichgültig gegen die Religion gewesen, so werdet ihr desto väterlicher ihm na­ hen, weil er auf diese Art jetzt doppelt unglücklich ist. — Vielleicht wirkt euer sanftes, aus dem Her­ zen fließendes Trostwort jetzt in den Tagen seines Leidens, was es in den Tagen, wo er in Freuden und ihren Zerstreuungen lebte, nie bewirkt hätte; vielleicht wählte die Vorsehung diese seine Leidens­ zeit gerade als ein Mittel, euren sanften Ermah­ nungen Eingang zu verschaffen, die den Genesen­ den zu einem bessern Menschen umschaffen können, oder den Sterbenden, durch einen reuvollen Rück­ blick auf sein verfloßnes Leben, durch ein befestig­ tes Vertrauen in das Erbarmen seines Schöpfers, des ernsten Uebergangs in die Ewigkeit würdiger machen. Möge der Leichtsinnige hier eure große Bestimmung verkennen; auch für ihn wird der H

114 ernste Tag des Scheidens anbrechen — was kön­ nen menschliche Urtheile euch gelten, wenn ihr in eurem heiligen Beruf handelt, vor Gott, der eu­ res Herzens edle Absicht durchschaut? —

Dürftige, Dürftige und Arme müssen, anscheinenden Aehnlichkcit

sehr von einander

ihrer

ungeachtet der Lage,

doch als

verschieden betrachtet werden.

Dürftigkeit ist ohne Ausnahme ein Leiden; Ar­ muth ist es nicht immer; Dürftigkeit ist der Man­

gel an fast Allem, was im wahren Sinn zu den Nothwendigkeiten deS Lebens gerechnet werden

kann;

Armuth ist nur ein beschrankter Besitz die­

ser Nothwendigkeiten, schließt aber nicht immer von dem Genuß der einfachsten Annehmlichkei­ ten des Lebens aus. Dürftigkeit ist eins der Leiden, dessen schwe­

ren Druck jeder Mensch von einigem Gefühl, so­ bald er es näher kennen lernt, mitcmpfindet.

Aber unter vielen Glücklichen lernt kaum Einer es anschaulich kennen; es wird also nur selten in

seinem ganzen Umfange nachempfunden. Leicht ist es fühlenden Herzen, dem Dürftigen, bei seinem Anblick, ihr Mitleid zu schenken, süß ist es, durch

114 ernste Tag des Scheidens anbrechen — was kön­ nen menschliche Urtheile euch gelten, wenn ihr in eurem heiligen Beruf handelt, vor Gott, der eu­ res Herzens edle Absicht durchschaut? —

Dürftige, Dürftige und Arme müssen, anscheinenden Aehnlichkcit

sehr von einander

ihrer

ungeachtet der Lage,

doch als

verschieden betrachtet werden.

Dürftigkeit ist ohne Ausnahme ein Leiden; Ar­ muth ist es nicht immer; Dürftigkeit ist der Man­

gel an fast Allem, was im wahren Sinn zu den Nothwendigkeiten deS Lebens gerechnet werden

kann;

Armuth ist nur ein beschrankter Besitz die­

ser Nothwendigkeiten, schließt aber nicht immer von dem Genuß der einfachsten Annehmlichkei­ ten des Lebens aus. Dürftigkeit ist eins der Leiden, dessen schwe­

ren Druck jeder Mensch von einigem Gefühl, so­ bald er es näher kennen lernt, mitcmpfindet.

Aber unter vielen Glücklichen lernt kaum Einer es anschaulich kennen; es wird also nur selten in

seinem ganzen Umfange nachempfunden. Leicht ist es fühlenden Herzen, dem Dürftigen, bei seinem Anblick, ihr Mitleid zu schenken, süß ist es, durch

"5

Wohlthaten ihre Leide» zu lindern;

aber es ge­

hört eine nicht ganz gewöhnliche Menschenliebe,

es gehört ost Muth dazu, selbst einzutreten in die Wohnungen des Elends, sich durch den Augen­ schein von allen Leiden ihrer unglücklichen Bewoh­

ner zu überzeugen;

denn keine Schilderung stellt

solche Leiden in ihrem ganzen Umfang dar; aber fast jedes ihrer Berhaltnisse ist so herzangreifend, daß sie nur gesehn zu werden brauchen, um das fühlloseste Herz zu erschüttevn — Augen, welche

nie deS Mitleids Thräne benetzt hätte,

würden

bei einem solchen Anblick zum ersten Mal sie wei­ nen lernen. In den Hütten dieser Unglücklichen wohnt Hunger, Blöße, Frost, der ihre Glieder erstarrt, hülfloses Alter, Krankheit, welche oft den

Abscheu erregt — doch wer konnte das herzzerrei­ ßende Gemälde vollenden? — In einem wohleingerichteten Staat müssen zwar nur wenig Dürftige seyn, und es werden ih­

rer auch wenig seyn, wenn die Klasse der Armen Beschäftigung findet, deren Ertrag sie »ähren kann, und wenn die Güte Gottes ihnen die dazu

erforderliche Gesundheit giebt. — Unser Vater­ land, berühmt durch zweckmäßiges Wohlthun, sorgt auf die edelste Art dafür, daß keins seiner Glieder in den Abgrund des Elends versinke; Unterstützun­ gen aller Art helfen dem gesunknen Dürftigen auf, und Menschenfreunde aus allen Ständen geben sich H 2

n6 dem Geschäft seiner Rettung hin, opfern ihre Zeit, ihren Vortheil, ihre Kräfte dem seegensvollen Ge­ schäft, solche Unglückliche zu trösten.

Ueberhaupt,

rvo Krankheit,

wo Alter, wo Entkräftung dem Leidenden das Vermögen zur Thätigkeit nehmen, und nun von allen Seiten der Mangel über ihn einbricht, da ist wohl kein Vaterland auf Erden,

welches nicht strebte, einen solchen Jammer zu lin­ dern; da ist wohl, so weit die Sonne des großen Erbarmers seine Erde bestrahlt, die Hand der füh­ lenden Menschheit zum Wohlthun geöffnet; denn

wer sähe mit gleichgültigem Herzen den Menschen, seinen Bruder, darbend, unbekleidet, seine Glie­

der von Frost erstarrt oder verletzt, entkräftet von Alter, hülsios in Schmerzen der Krankheit, ohne Heilmittel, ohne Erleichterung, ohne Trost? — Elend dieser Art spricht zu jedem Herzen; es darf sich nur zeigen, um, wenigstens für den Augen­ blick, Hülfe und Linderung zu finden. Dennoch wird Jeder, dem die Führung wohlthätiger Anstal­ ten übergeben ist, wissen, daß die Anzahl der

Hülfsbedürftigen

immer

noch,

verhaltnißmäßig,

sehr groß gegen die Anzahl der Helfenden ist. Die Beisteuer der Wohlthätigen an solche edle, die Menschheit und das Vaterland ehrende Anstalten

ist das sicherste und

zweckmäßigste Mittel,

schreckliche Leiden der Dürftigkeit zu

wenn es da ist;

das

lindern,

aber sehr verdienstlich handelt

ii7 auch der, welcher in seinem großem oder kleinern Wirkungskreise dahin wirken kann, dies Leiden in

seinem ersten Anfang »ott dem Armen abzuwen« den, und dieses edle, menschenfreundliche Geschäft ist nicht immer so schwierig, als es scheint. Vor­ her noch einige Worte über die vielen moralischen Uebel, deren Quelle in der Dürftigkeit liegt. Das nächste und sichtbarste Uebel bei diesem

Leiden ist, daß eS die feinern, geistigen Empfin­ dungen abstumpft, welche die Natur in jedes mensch­ liche Herz legte, weil sie die Grundlage aller mensch­

lichen Tugenden werden sollten.

Es ist so leicht

möglich, daß der Dürftige, immer nur mit nie­

drigen Sorgen für das Erdenleben beschäftigt, im­ mer nur den Druck seines Elends fühlend , seinen Geist und sein Herz seltner zu Gott erhebe, daß er, in Stunden der höchsten Muthlofigkeit, die liebevollen Fügungen seines Schöpfers verkenne;

es ist so leicht möglich, daß er, immer nur mit seinem eignen Leiden kämpsend, auf die Leiden deS Mitmenschen immer nur mit sehr geschwächtem Ge­ fühl des Mitleids blicke, oder diese schöne Empfin­

dung endlich ganz verlerne; es ist so sehr leicht möglich, daß er auf die, für ihn nie zu hoffenden Lebensfreuden des Beglücktem zuerst mit sehnsuchts­ voller Betrübniß, später mit finstrer Mißgunst bli­ cke, die endlich in Menschenhaß ausarten kann. So gehn ihm also die schönsten Empfindungen, Lie-

ii8

be und Vertrauen zu Gott, Liebe und Mitgefühl für die Menschen, beinahe völlig verloren, und wo diese veredelnden Empfindungen nicht mehr sind, da tritt moralische- Verderben so leicht an ihre Stelle, da ist es so leicht, daß die Verzweiflung zu den schädlichsten Lastern führt, welche die Ruhe der menschlichen Gesellschaft stören. Wenn ein Un­ glücklicher, der sich von Menschen verlaffen glaubt, nun nicht mehr religiös» Standhaftigkeit genug in sich fühlt, um unerschütterlich auf die Fürsorge Gottes zu bäum; wenn er keine andre Aussicht mehr zu haben glaubt, als die, welche ihm den Abgrund des tiefsten Elends zeigt; wenn sich ihm die lockmde Möglichkeit, vielleicht die Gewißheit darbietet, daß er durch Verleugnung seiner bis­ her noch guten Grundsätze eine Verbesserung, wohl gänzliche Aenderung seines so unbeschreiblich trau­ rigen Zustandes bewirken könne, so ist es schwer, daß er nicht von der Bahn des Guten weiche — o Menschen, laßt dem schwachen Bruder die Gerechtigkeit widerfahren, einzugestehn, es sey schwer! — Wenn indessen ein Unglücklicher dieser Art sich auch noch vor groben Lastern bewahrt, so verliert doch, besonder in der niedern Volksklasse, sein Charakter immer bedeutend von seinem moralischen Werth. Schwäche deS Körpers, Alter, Mangel an den nöthigsten Bedürfnissen können leicht llr-

119

fache werden, daß er in Unordnung und Unreinlich­

keit verfallt, die schon ein Grad der Unsittlichkeit ist. Wie soll Schamhaftigkeit, Keuschheit da ein­

heimisch bleiben, wo die Schwierigkeit, ein eignes Obdach, oder ein geräumigeres, zu bezahlen, Men­ schen jedes Alters, jedes Geschlechts in den be­ schranktesten Raum zusammendrängt? — O, hier

seufzet die edlere Menschheit, sie seufzet für jetzig.« und künftige Generationen!--------Die sanftesten Lebcnsverhaltnisse, welche für

denkende,

empfindende Wesen die reinste Quelle

ihrer Freuden seyn sollen, Verhältnisse, deren Werth durch veredelte moralische Gefühle so wesent­ lich erhöht wird, sind ost für den Dürftigen nur die Ursache neuen Leidens, wobei jenes schätzbare Gefühl verliert. Was ist dem, auch nur mäßig Beglückten süßer, als Elternfreude, wie belohnend

ist ihm schon die bloße Hoffnung, sein Kind einst zum nützlichen Menschen, zum Tugendhaften zu

bilden? — Wie sanft ergötzt er sich an den schuld­ losen Freuden, die seine Hand dem Kinde darzu­ bieten vermag, mit welcher süßen Empfindung

sieht er es zu noch edlem Lebensfreuden aufblühn! — Mit wie ganz verschiedenem Gefühl betrachtet

der Dürftige den Eintritt seines Kindes

Welt!

in die

Es ward nur geboren, jetzt unglücklicher

Eltern Leiden zu theilen, oft noch zu vermehren — muß dieser Gedanke nicht das schöne, zarte Ge-

120 fühl elterlicher Freude ersticken, müssen nicht statt der Seegensthränen, welche den schuldlosen An­ kömmling begrüssen sollten, die Thränen des na­

genden Kummers ihn empfangen? —- Wird seine aufblühende Kindheit Freuden haben, welche die Unschuld und die Sittlichkeit billigen kann? —

Welch

ein

schönes Gefühl ist kindliche Liebe —

welche heilige Führerin wird sie der jungen Seele zum Pfad der Tugend, und wie belohnend ist

kindliche Dankbarkeit für das Elternherz!

Aber

werden Kinder, die im Schooß des Elends gebo­ ren, unter dem Druck des Mangels erwachsen sind, werden diese für ihre Eltern das zarte Dankgefühl

haben, welches nur die Folge erkannter sorglicher Liebe und empfangner Wohlthaten ist? — Wenn liebende Gatten, selbst nur im Genuß eines mä­

ßigen Glücks, friedlich auf der Lebensbahn wan­ deln, Freude mit einander theilen, und vorüber­ gehende Leiden sich gegenseitig erleichtern, werden

dann Gatten, die, im tiefsten Elend lebend, einer mit dem andern und durch den andern unglücklich sind, werden dies« das Band ihrer Ehe nicht sehr

bald als eine drückende Fessel betrachten, die sie

nur zum gemeinschaftlichen Leiden vereint? — O gewiß, viel der reinsten Freuden des irdischen Da­ seyns gehn im Leben der Dürftigkeit verloren! — Wenn quälende Sorgen, MiSmuth, Freudenlvsigkeit erst eine unseelige Wurzel im Herzen fassen,

121 so flieht der stille Seelenfriedt, welcher durchaus

in der Natur des guten Menschen liegt — jedefühlende Herz bebt zurück bei dem Gedanken an den unsäglichen Schaden, welchen die moralischen Empfindungen eines Menschen in Seelenzustande leiden müssen.

einem solchen

Gewöhnlich trennt die Verborgenheit den jam­

mervollen Zufluchtsort dieser Klasse von Leiden» den weit von den Umgebungen der Glücklichen; selten kennen ihn sogar diejenigen, welche mit der edelsten Menschenliebe die Thränen jener Unglück­ lichen trocknen würden, wenn ihr gefühlvolles Herz ahnen könnte, wo Einer der so schmerzlich Trau­

ernden läge. Ihr, Bewohner glänzender Palläste, ihr Mäch­ tigen, deren Tage dahinfliehen im Strom des Ge­ nusses, des Glanzes, des Ueberflusses; ihr wirk­ lich Beglücktern, denen im sanften, ruhigen Le-' brnsgenuß, in geselligen Freuden, in den noch ed­

iern Freuden des gebildeten Geistes, ihre Tage leicht und rosig dahinschweben, ihr Beneidenswerthen, denen ein bescheidnes Loos, bei bescheidnen An­ sprüchen, gnügt, und noch Mittel zum stillen Wohl­ thun übrig laßt;

ihr Alle,

auch bei den regsten

Gefühlen der Menschenliebe, womit ihr gern den

Leidenden aufsucht,

ihm Trost zu bringen;

ihr

werdet doch schwerlich eine der tiefsten Stufen menschlichen Elends, die Dürftigkeit, anschaulich

122 kennen kernen; denn zu getrennt ist der Anblick desselben von den Verhältnissen eures Lebens, wenn

ihr diesen Anblick nicht selbst, in edlen Absichten, aufsucht. Wenn aber euer Auge jenes Elend nicht erblickt, wenn blos zufällig seine Schilderung euer Ohr erreicht, und, bereitwillig zur Hülfe, euer Herz lebhafter im Gefühl des Mitleids schlägt, o so gehorcht seiner Stimme unverzüglich — bei dem Heiligsten,

was die Menschenliebe

hat,

säumet

nicht! Mitgefühl, Trost, Hülse müssen schnell sich folgen, wie die geflügelten Augenblicke einander berühren; denn hier kann jeder Trost wichtig, jede

Hülfe eine Lebensrettung werden.

Wünscht ihr,

daß eure Hand den Balsam auf die tiefen Wun­ den menschlicher Herzen lege, wünscht ihr in die­ ser edlen Absicht wenigstens mittelbar ein Leiden zu kennen, was euer Auge nie unmittelbar sah,

vielleicht nie sehen wird, so fragt, wo dies stille Elend hause, den Arzt, wenn er, seiner großen Bestimmung eingedenk, ein Menschenfreund, be­ sonders wenn er Arzt der Armen ist; fragt den Geistlichen, wenn er, in der hohe» Würde sei­

nes Berufs, den himmlischen Trost der Religion zu Siechbetten der Elenden, zu den gruftähnlichen Behausungen der stillen Hoffnungslosigkeit bringt; fragt die Menschenfreunde, welche der Staat, und mehr noch ihr edles Herz, zu der Sorge für Trost

der Unglücklichen berief, und ihr werdet mehr er-

I2Z fahren, als eure Seele zu ahnen vermochte. Gebt ihr dann dem Verschmachtenden Speise, erwärmt und bekleidet ihr die starren Glieder dessen, der Frost und Bloße litt, gebt ihr Erquickung dem pfleglosen Sterbenden» so übt ihr die Milde sanf­ ter Menschlichkeit, so habt ihr das Gebot aller

Religionen und das heilige Gebot der Natur er­ füllt. Ist aber euer Glücksstand, ist eure Seele

groß genug, mehr zu umfassen als Wohlthat deS Augenblicks, wollt und könnt ihr einem ge-

sunknen Dürftigen durch kräftigere Hülfe die Le­ bensfreude, die Thätigkeit, den Muth, der ihm das Bestreben für sein eignes und der Seinen Wohl wieder möglich macht, könnt und wollt ihr

dies Alles ihm freundlich wiedergeben, damit der, welcher fast bis zur Tiefe der Hoffnungslosigkeit

sank, wieder auf die Stufe bescheidner, gnügsamer Armuth gehoben werde, so ist euer Wohl­ thun schon das sanfte Abbild göttlicher Milde, so wird eures Herzens schönes Bewußtseyn hier

auf Erden euch schon ein Vorgefühl eurer Beloh­ nung im bessern Leben seyn. — Zwar ist es möglich, daß manches Dürftigen gegenwärtige Lage eine Folge seiner frühern Ver­

irrungen sey, und daß er nicht ganz ohne sein Verschulden leidet. Vielleicht verschwendete er leichtsinnig das Seine; vielleicht füllte er den Wir­

kungskreis, den Gottes weise Fürsorge ihm an-

124 wies, nicht nach seiner Pflicht aus; vielleicht riß der Müssiggang, die Quelle so vielen Uebels, viel­

leicht verlockten gefährliche Leidenschaften ihn hin zu Irrwegen; er betrat sie, und sank in den Ab­

grund seines jetzigen Elends — ach leider ist die­ ses der Gang des Geschicks vieler Dürftigen! —

Machen aber nicht etwa Laster, die höchst sel­

ten Besserung zulassen, z. B. Trunkenheit Spielsucht, machen diese den Unglücklichen ganz eurer Hülfe unwürdig, oder machen sie Hülfe, welche Würdigere genießen konnten,

oder nicht diese nicht

ganz an ihm vergeblich, so versagt ihm auch nicht

ganz euer Erbarmen in den Augenblicken, wo es vielleicht seine einzige Zuflucht auf Erden ist, In diesen Augenblicken, wo die sanft« Menschlichkeit zu schneller Rettung aufruft, kann euer edles Herz die verklagenden Worte: »er hat sein Elend selbst

verschuldet,« auch wenn Ueberzeugung sie euch auf­

dränge, nicht so lebhaft denken, daß sie euch ganz von dem Unglücklichen entfernen sollten, der jetzt hülflos am Wege liegt,

wartend der rettenden

Hand, die Balsam in seine brennenden Wunden gießen soll. Vielleicht ist es noch möglich, daß ernste Ermahnungen, wenn thätige Hülfe sie be­

gleitet, den fast schon Verlornen wieder gewinnen,

und daß seines Lebens Besserung die seelige Folge davon ist —

diese schöne Hoffnung wird eurem

125 Herzen verzeihende Milde einflößen, und ihr wer­ det nach dem göttlichen Vorbild dessen handeln,

der seine Sonne strahlen läßt über Böse und Gute.

Unverschuldet ist die Dürftigkeit, wenn sie aus

Unfällen des Lebens, z.B. aus langwierigen Krank­ heiten, Verlust der Habe durch Feuersnoth u. s. w. entsteht, oder wenn das Gewerbe des fleißigen Ar­

men durch bedeutende Ereignisse der Zeit, durch Krieg, durch Stockung des Handels u. s. w. am Boden liegt; überhaupt sind der Unglücksfälle mehr, wodurch rin Zustand, der bescheidnen Ansprüchen gnügen konnte, allmahlig oder plötzlich in trostlose Dürftigkeit übergeht.

Zu allen Zeiten, besonders

aber in den unsern, machte man die erschütternde Erfahrung, daß gewaltsame Umwälzungen der so

sehr wohlthätigen Ordnung der Dinge, daß Ver­ lust der Besitzungen, der Würden, des Vermögens, den Mächtigen, den Großen, den Begüterten bis zum Mangel, ja Einzelne sogar bis zur Dürftig­ keit brachten. Zn dem gewöhnlichsten Gange des

Lebens aber pflegt Dürftigkeit größtentheils das

Loos derer zu seyn, welche, der äußern Ordnung der Stände, und folglich der Bildung ihres Gei­ ste- nach auf der niedrigern Stufe stehn, und es ist nicht zu leugnen, daß das Gewicht der Leiden

d a um etwas verringert wird, wo die Erinnerung an «ine bedeutend glücklichere Vergangenheit nicht

ia6 zu seiner Erschwerung beiträgt;

dieser Gedanke

wird aber ein menschenfreundliches Herz nie kalter in seinen Empfindungen für den Unglücklichen ma­

chen; im Gegentheil ermuthigt er eher zum freund­ lichen Wohlthun. Es ist Beruhigung, denken zu können, daß derjenige, welcher nun einmal ent­ behren muß, durch die, mit seinem Verhältniß und seiner Geistesbildung verbundn« glückliche Un­ wissenheit auch leichter entbehren wird; daß Man­ ches, was der Gebildetere zum äußern Glück rech­

net, Jenes Wünsche gar nicht aufregt, weil er es nie kannte. Es ist süße Anregung zum Wohlthun für einen Menschenfreund, wenn er sich überzeugt, daß Vieles, was der Glücklichere nicht achtet, in

der Hand eines weisen Wohlthäters ein hinreichen­ des Mittel werden kann, den Unglücklichen nicht allein zu trösten, zu starken, zu erfreuen, sondern auch vielleicht die erste Grundlage zur künftigen

Verbesserung seines Geschicks zu werden. — Für

den Einzelnen ist es in der That nicht oft mög­ lich, dem Leiden eines Dürftigen ganz abzuhelfen; aber leicht ist es möglich, ihm Hülfe für Tage

zu geben, und wer kann die seeligen Folgen dieser

so klein scheinenden Wohlthat berechnen?

Es ist

möglich, daß ein Tag, frei von nagenden Sor­

gen, in stiller Beruhigung des lange geängsteten

Herzens zugebracht, daß ein solcher Tag den Muth des Unglücklichen zu Entwürfen für die Verbesse-

127 rung seiner Lage erhöhe,

fruchtlos bleiben.

welche vielleicht nicht

So viel ist wenigstens gewiß,

daß schon Stunden, wo der Leidende sich vom Druck seines Kummers erleichtert fühlt, für ihn einen Werth haben, den Du, beständig Glückli­ cher, nicht leicht ganz durchschauen wirst, so wie Du manchen freundlichen Lebensgenuß nicht nach

seinem wahren Werth zu würdigen vermagst, weil Du seine höchste Würze, »Entbehrung,« nie kann­

test.

Darum, ihr sanften Seelen, die ihr fühlt,

daß es euch theure Angelegenheit, daß es euch an­ dre Natur ist, dem Unglücklichen wohlzuthun, be­ herzigt nur die einfache Regel: »Alles in der Welt

ist zu einem Nutzen da, so werdet ihr, bei wei­ ser Verwaltung der zeitlichen Güter, auch wenn

ihr deren minder besitzt, als eure Wohlthätigkeit euch wünschen läßt, immer genug haben, den Un­

glücklichen zu trösten; ihr werdet nie mit einer Wohlthat unentschlossen zögern, weil sie euch zu klein scheint; ihr werdet erfahren, daß auch die geringste Hülfe einen Werth für den Leidenden ha­

ben, ihn trösten, ihn erfreuen kann, wenn sie nur mit willigem Herzen und zu rechter Zeit dargebo­

ten wird. Wie jede Klasse von Leidenden ihre vorzüg­

lich Würdigen unter sich hat, so finden sich diese auch unter den Dürftigen. Diejenigen, deren See­ le auch in einem günstigern Verhältniß des Lebens

128 nur zu den gewöhnlichen gehört haben würbe, sind dem Fehler eines störrischen Mismuths unterwor­

fen, beneiden den Glücklichern, und, nur auf sich bedacht, nehmen sie selten Antheil an dem Leiden Andrer; gewöhnlich ist auch Alles, was sie äußer­ lich umgiebt, eben so vernachlässigt, als ihr Herz. Diejenigen aber, welche in ihrer bedrückten Lage

doch einen gewissen Frieden der Seele, ein Wohl­ wollen gegen beglücktere Menschen, Mitleid für Unglückliche, die Neigung, wohlzuthun, und Sinn für eine, zwar ärmliche, doch strenge äußre Ord­ nung beibehalten, diese verdienen gewiß, durch

noch andre ehrende Eigenschaften, unsre reine Ach­ tung , die Fürsorge milder Anstalten und die Wohl­ thaten jedes Menschenfreundes.

Kann aber die Neigung wohlzuthun mit dem so fesselnden Verhältniß der äußersten Dürftigkeit bestehn? — O, sie kann es — Seeligkeit für die

Menschheit ist es, daß das so reine Vergnügen, wohlzuthun, nicht immer dem Begüterten allein aufbewahrt bleibt; auch der Dürftige findet einen

noch Dürftigern, dem er Dienste erweisen, den er. erfreuen, dem er sogar Wohlthat erzeigen kann, und die seeligsten Geister des Himmels erfreuen sich einer solchen Wohlthat.

Für edle Menschen

giebt es keinen schönern Anblick, als Züge der Mildthätigkeit bei denen zu sehen, die selbst der Milde ihrer Mitmenschen bedürfen.

Solche Züge stellen

129 stellen die Erhabenheit der menschlichen Natur in ihrem reinsten Lichte dar; sie erregen Freude und Stolz in uns, daß wir zu Wesen dieser Art ge­ hören. Wie die himmlischen Blüthen eines bessern Lebens, sammelte meine frühe Kindheit sie schon — es sey mir erlaubt, einen derselben aus spätrer, trüberer Zeit hier anzuführen, der gerade in die­

sem Augenblick, wie ein liebliches Gemälde, vor

meiner Seele steht. Zn der Zeit des letzten Krieges, wo Armuth und Mangel so allgemein waren, so oft ihren höch­ sten Grad erreichten, kehrte ich einst gedankenvoll nach meiner stillen Wohnung zurück — viel des

Elends Andrer hatte ich gesehn, eigne Sorgen be­ engten mein Herz, und meine Seele trauerte still, aber innig.

Im Gedränge eines Marktplatzes bot

mir eine Frau, deren ärmliches Acußere die höch­ ste Dürftigkeit verrieth, kleine Strauschen von La­ vendelblüthen zum Verkauf an. Traurig glaubte ich schon, die Arme abweisen zu müssen, weil ich überzeugt war, das wenige Geld, welches ich bei mir trug, für nothwendige Bedürfnisse ausgegebcn

zu haben; zu meiner Freude aber sand sich noch ein Groschen, den ich ihr reichen konnte. Sie be­ trachtete diese Kleinigkeit als Kaufgeld, und gab mir sechs Pfennige zurück, weil der Sträuschen nicht mehr viel in ihrem Korbe waren. Schon diese einfache Redlichkeit nahm mich für sie ein;

I

130 aber als ich ihr erklärte, der Groschen sey blvS

ein Geschenk für sie, wie schön überraschte mich

die Anwendung, die sie davon machte! Erröthe, Reicher, der du oft mit dem Armen hart um einen

Groschen dingest —

diese Durstige theilte ihn

mit einer noch Unglücklicher«, welche, ein krankes Kind saugend» bleich und entstellt vom Mangel, auf der Schwelle eines Hauses saß. Wen hatte hier das Gefühl Nicht überwältigt? — Während ich suchte, ob ich noch etwas von Werth bei mir

hatte, um es ihr zu geben, hatte sie sich schon im Gedränge verloren,-und so konnte ich weder ihren Namen, noch ihren Aufenthalt erfahren; aber ihr schönes Gefühl blieb mir unvergeßlich. , Warum ließ der Schöpfer ein solches Herz nicht in Reich­

thum und Ueberfluß geboren werden?« — So könnte ein Freund der Tugend fragen, wenn das heilige Vertrauen in die Vorsehung ihm nicht sag­

te: der Schöpfer habe gewußt, daß Reichthum die schönen Gefühle dieses Herzens andern würde, und

daß es ein seeliger Gewinn für dasselbe sey, in

der tiefsten Armuth zu bleiben, und seine angrborne Mildthätigkeit zu erhalten.

rzr

Arme. Die Abstufungen von dem traurigen Zustand

des Dürftigen bis zu dem gemilderten Verhältniß des Armen sind zwar leise in einander verschmol­ zen, wie die Farbengebungen im Gemälde des vollendeten Künstlers;

doch unterscheiden sie die

Verhältnisse beider sehr merklich von einander.

Armuth ist nicht immer ein Leiden;

denn

wenn wir von dem Begriff ausgehen, daß nur der Besitz vieler Glücksgüter den Reichthum ausmacht,

so sind auch diejenigen arm zu nennen, die auf ih­ ren eignen Erwerb, er sey welcher Art er wolle, angewiesen sind, und kein eignes Vermögen besi­ tzen.

Wer aber ein Amt hat, das einträglich ist,

wer ein Gewerbe treibt, das ihn und die Seinen hinlänglich nährt, der ist doch sehr entfernt davon, den Druck der Armuth zu fühlen, und wird auch

im gewöhnlichen Leben nie unter dem Gesichts­ punkt eines Armen betrachtet, obwohl er es, im strengen Sinne des Worts,

wirklich ist.

Auch

aus diesem Grunde ist der schon an sich elende Geldstolz mancher Reichen höchst lächerlich — wol­ len sie Niemanden achten, der arm genannt wer­ den kann, so müssen aufS wenigste neun Zehntheile

der Lebenden auf diese schmeichelhafte Werthscha­

tzung von ihrer Seite Verzicht thun; nun a-er

I 2

132

leben viele Vernünftige sehr glücklich, ohne jenen

unbedeutenden Verlust zu fühlen. Die Rede kann also hier nur von der Ar­

muth seyn, welche in dem Entbehren mancher Noth­ wendigkeiten des Lebens und in dem Verhältniß besteht, nur die nöthigsten dieser Bedürfnisse durch Erwerb des Fleißes oder auf andre erlaubte Art, z. B. durch ein kleines Einkommen, Gnadengehalt u. s. w., bestreiten zu können.

Unter diesen Umstanden können viel Verhält­

nisse eintreten, die den Armen in die Klasse der Leidenden setzen, von welchen er, wenn er nur ei­

nige Bildung und ein gutes Herz besitzt, wirklich

eins der interessantesten Wesen ist. Sein Leiden erregt uns nicht das erschütternde Gefühl, das wir beim Anblick der höchsten Dürftigkeit nur müh­ sam überwinden können; es zieht uns sanft an ihn,

wie der Ausdruck der Klage von leisen Saiten uns

zugleich wohl und weh thut. Es giebt zwei Klassen von Armen;

diejeni­

gen, welche die Vorsehung in eingeschränkter La­

ge geboren werden ließ, und welche, ohne Aende­ rung ihrer Verhältnisse, in denselben bleiben. In

die zweite Klasse der Armen gehören die, welche

sich einst in einem günstigern Zustande befanden, aber durch unvorthcilhafte Wendungen des Ge­ schicks zu einem beschränkter» herabgestiegen sind.

-33

Für beide wird ein edles Herz gewiß innig, aber verschieden, empfinden.

Ein Armer, welcher sich von jeher in beschränk­ ter Lage befand, entbehrt zwar viel von den Freu­ den und Vorzügen der Beglücktern; aber das ei­

gentliche Loos seines Lebens ist dadurch nicht so sehr viel ungünstiger, als das ihre, wenn nur nicht besondre Unglücksfalle dazu beitragen, seine stille Existenz zu erschüttern, und wenn er nur ein

von Natur zufriednes Herz besitzt, wodurch seine Wünsche seinem Verhältniß angemessen bleiben und nicht über dasselbe hinausgehn. Er würde in noch weit minderer Hinsicht zu den Leidenden gehören, wenn es blos zartempfindende Menschen gäbe; oft

zwar lassen die Umstände ihn fühlen, daß Ar­ muth ein Leiden ist; aber tiefer schmerzt es ihn, wenn er durch die Handlungsweise der Menschen auf diese betrübende Wahrheit zurückgeführt wird. Wenn auch das Leiden des Armen keinesweges dem Zustand hoffnungsloser Dürftigkeit gleich zu stellen ist, so befindet er sich doch oft in Lagen, die ihn zu dem ehrwürdigen Namen des Unglück­

lichen berechtigen. £), könnte der verewigte Gel­ lert mir seine fromme Sprache des Herzens, könn­ te H a n st e i n, meiner schlummernden Freunde treu­

ster, seine seelenvolle Beredsamkeit mir leihen, um

von Dir und mit Dir zu sprechen, Du Armer,

134 der Du im Stillen leidest — Du bist mein Bru­ der, als Mensch, und eine prüfungsvolle Zeit hin­

durch warst Du es auch in den Verhältnissen des Lebens! — Wie Du, habe auch ich im Stillen gelitten, und weil ich litt wie Du, lernte ich Deinen Schmerz verstehn und mit Dir weinen; ich lernte aber auch mich freuen des kleinsten Blüm­

chens, das Dir und mir Freuden duftete — o sanf­ te, einfache Freuden! Ihren Werth kennt nur der, welchen eines sehr edlen Herzens Gefühle davon

belehrten, oder der, welchem die Vorsehung ver­ edelnde Leiden gab — diese süßen Bande der Gleich­ heit, oft noch inniger als Bande des Bluts, fes­ seln meine Seele an Dich, Armer, der im Stil­

len seuszt, im Stillen sich freut Wenn Beglücktere der vielfachen Annehmlich­

keiten des Lebens genießen, oft sie genießen, ohne ihren wirklichen Werth zu schätzen, oder dem höch­ sten Geber alles Guten kindlich dankbar dafür zu

seyn,

so erkauft der Arme mit tausend Sorgen

seine einfachen Bedürfnisse, und aus geringen Ver­ anlassungen kann oft drückende Bekümmerniß für ihn entstehn.

Leidet er einen, an sich unbedeuten­

den Verlust,

so wird dieser

für ihn bedeutend,

weil es ihm schwer wird, denselben zu ersetzen; bietet sich ihm ein auch nur unbeträchtlicher Ge­ winn , so muß er demselben oft seine edelsten Kräf­

te,

seine liebsten

Neigungen

hingebend

opfern,

135 weil dieser Gewinn zu seiner eignen und zu der

Seinen Erhaltung beitragen soll.

Geduld, Aus­

dauer, Entsagung werden oft so herzlos, so unbe­ dingt von ihm gefordert, als wäre die Uebung die­ ser schweren Tugenden nichts, als wäre menschliche

Kraft unerschöpflich, oder als müßte die Seele

des Armen sich alles dessen hegeben, was eigner Wille, eignes Gefühl genannt werden kann, Sel­ ten ist ihm der Genuß einer sanften, äußern Ruh

erlaubt; ein oder das andre ungünstige Verhältniß reißt ihn nur zu oft aus der Paradieseswelt des stillen Seelenfriedens, den er schmecken könnte. Bei dem geringsten Anstoß, der seiner Gesundheit, bei dem kleinsten Verlust, der seiner wenigen Habe

droht, muß er fürchten, weil dadurch für ihn die Ruhe vieler Tage auf dem Spiele steht; durch

mühsame Arbeit, durch lastende Sorgen erkauft er den einfachen Genuß seines Lebens sehr theuer. Doch würden seine äußern Leiden viel von ihrem Druck verlieren, wenn Leiden der Seele ihm er­ spart würden, welche tiefer als jedes andre ver­ wunden. Wenn es schöne Seelen giebt, deren reines

Gefühl es ihnen zum Gesetz, zur andern Natur macht, jedes Leiden zu ehren, besonders wenn es unverschuldet ertragen wird, so muß man doch den

Gang der Welt nehmen wie er ist, und bekennen, daß man auf dem gewöhnlichen Wege des Lebens

IZ6 auch mehr der gewöhnlichen Menschen, als jener Edleren, antrifft; daher erwartet den Armen man­

cher stille Kummer, welcher aus der Kalte, wohl gar aus der Geringschätzung entsteht, die unzarte Menschen ihm oft, selbst dann beweisen, wenn er

ihren Trost, ihre Hülfe gar nicht wünscht in An­ spruch zu nehmen, wenn et, gar nicht wünscht, daß

sie mit seinem Leiden bekannt werden mochten. — Eine schmerzhafte, aber vielfältig gegründete Er­

fahrung lehrt, daß diejenigen, auf deren wohlwol­ lende Liebe und Fürsorge der Arme, durch die hei­ ligsten Bande, einen nnbezwei'felten Anspruch hät­

te, seine Gefühle, durch unfreundliches Benehmen, durch Hintansetzen zarter Schonung, durch lieblose

Vernachlässigung öfter und tiefer verwunden, als Fremde es thun; daß sie in Ereignissen des Lebens, wo ihr thätiger Schutz, ihre Hülfe so viel für sein

Bestes wirken könnten, weit minder theilnehmend für ihn handeln, als Fremde, oft vielleicht ganz

unterlassen, für ihn zu handeln.

Die, in vielen

Fällen so schädliche Eigenliebe ist die Ursache hier­ von — die meisten Menschen wollen ihren Hand­

lungen immer gern ein schimmerndes Verdienst bei­ legen;

nun aber ist cs nicht Verdienst, wenn

man mildthätig, mit schonender Liebe und freund­ lich gegen seine Angehörigen handelt, sondern es ist blos Pflichterfüllung, und der Gedanke an er­ füllte Pflicht hat nichts, was der Eigenliebe schmei-

137

cheln, oder ihre Triebfedern in Bewegung setzen kann. Wer es aber auch sey, der den Armen so vernachlässigend behandelt, so zeigt ein solcher Mensch entweder Harte im Charakter, oder, auf

das gelindeste geurtheilt, Mangel an Einsicht, da er die Schmerzgefühle nicht erwägt, welche ein sol­ ches Benehmen einem Leidenden erregen muß. Wüßtest Du immer, was Du thust, kaltes Herz, das die Gefühle des leidenden Armen knickt,

wie schädlicher Hagel die zarte Blume; ach, wüß­ test Du immer, was Du thust, wenn Deine Lieb­ losigkeit ein Herz zu Boden drückt, das besser war,

als das Deine, Du würdest vor Deiner eignen

armseeligen Gestalt errathen! Fühltest Du immer, wie viel Du verlierst, wenn ein solches Herz, das Du auf ewig gewinnen konntest, sich Dir nun ver­ schließt; fühltest Du immer, wie strafbar ein Wort, ein Blick, wodurch Du die heiligen Gefühle des

Leidenden kränkst und sein Vertrauen von Dir ent­

fernst, durch die traurigsten Folgen Dich machen kann; so würdest Du Thränen der Reue vergie­

ßen, und ihnen die Kraft wünschen, Dein Unrecht und seine Folgen bis auf die kleinste Spur zu ver­ löschen.

Aber sie stehen im Buch des Ewigen und

werden Deine Richter seyn.

Du aber, der Du mitten unter Deinen ge­ häuften Reichthümern arm bist, weil kein veredel­ tes Gefühl, kein weiser, menschenfreundlicher Er-

138 zi'eher Deiner Kindheit Dich früh an sanfte Liebe für den Leidenden gewöhnte, oder weil engherzige

Selbstsucht Dir nur Sinn für Dein eignes und der Deinen Glück, aber nicht für reges Theilneh­

men an dem Wohl Andrer ließ, betrachte ein Ge­ mälde, zu welchem die Züge aus den Erfahrungen der Unglücklichen gesammelt wurden, und welches Du, vielleicht mit einigem Erröthen, wahr nennen

wirst,

weil Du seine Wahrheit nicht ableugnen

kannst. Wende auf einige Minuten Deinen Blick von den glanzenden Wohnungen der Pracht, von den geschmackvollen Behausungen des Reichthums, an welche dieser Blick gewöhnt ist, und versetze

Dich im Geist in den beschränkten, einsamen Auf­ enthalt des Armen —Dir würde seine Hütte von allen'Freuden des Lebens entblößt scheinen; aber dem zarten Gefühl ihres genügsamen Bewohners

blühen dort Freuden, wenn gleich ihre Blüthe nur

sparsam ist.

Denke Dir ihn jetzt, wie neue, un-

vcrmuthete Leiden, auf die er nicht, wie auf seine

täglichen, gefaßt war, ihn in seiner stillen Abge­

schiedenheit heimsuchen — denke Dir ihn, wie sein flehendes Auge um Hülfe bei seinem Schöpfer

sucht, wie sein bekümmertes Herz, im Wechsel der Furcht und der Hoffnung, sich fragt, ob er Hülse bei seinen Mitmenschen suchen darf. Eine trö­

stende Stimme in seinem Innern nennt ihm end­ lich Deinen Namen, weil er Dir schönes Ge-

139 fühl für menschliche Leiden zutraut; und nun rich­

tet ein sanfter Strahl der Erheiterung seine ge­

beugte Seele wieder auf. Diese stille Beruhigung

hält er für einen Wink der Vorsehung,

welche

vielleicht durch Deine Hand ihm Trost bereiten will, und nun opfert er dem frohen Geschäft, zu Dir zu eilen, einen Theil seiner ihm so edlen, so

genau berechneten Zeit. Er kommt, und Du em­ pfängst ihn kalt; Dein Blick ist liebeleer, wie Dein Herz; Dein Ton ist absprechend und herrisch. Die volle Empfindung seines Herzens, Welche eben Worte fand, drängt sich wieder in die gepreßte Brust zurück; die Worte sterben auf seinen Lip­

pen, und er verliert jetzt schon die edle Freimü­ thigkeit, mit welcher der Mensch, wäre er auch Bewohner der ärmsten Hütte, zu dem Menschen,

wäre er auch Besitzer eines

Thrones,

immer

sprechen sollte, weil beide gleichgeliebte Kinder ei­ nes Vaters sind. Doch ermannt er sich endlich —

sein eignes Leiden hätte ihn nicht dahin vermocht,

die nun schon traurigen Ahnungen seines Herzens zu bekämpfen, und Schutz oder Hülfe von Dir zu bitten; aber das Leiden der Seinen, ihre gegen­

wärtigste Noth drangt sein Herz zu mächtig; er spricht — und Du, dem es so leicht geworden wäre, zu helfen, oder doch zu schützen, zu trösten,

was hast Du für ihn, dem es so schwer ward, zu sprechen? — Höchstens hast Du Worte des

140 Bedauerns für ihn, einen leeren Schall, an welchem

das Herz keinen Theil nahm; oder Du veränderst gleichgültig den Gegenstand des Gesprächs, und

des Leidenden Seele bleibt dadurch noch einige schmerzvolle Minuten länger in der peinigenden Lage zwischen Bangigkeit und Hoffnung;

endlich

schlagt eine kalte, mit geliehnen Gründen beschönigle, oder auch wohl streng ausgesprochne, Ver­ weigerung seiner Bitte ihm die Hoffnung völlig

nieder — er liest nun deutlich in Deinen Blicken, Du suhlest nichts für ihn; es war vergebens, daß

er die Wunden seines Herzens Dir zeigte;

denn

Deine Hand war es nicht, welche Balsam für solche Wunden haben sollte. — Nun flieht er Dein leeres Herz, Dein seegenloscs Haus, wie die kla­

gende Nachtigall einen

vergoldeten Käsig flieht,

um den stillen Waldern ihren Schmerz vorzuseuf­ zen — er kehrt in seine arme Wohnung zurück;

die Blicke der Seinen hangen mit bangem Erwar­

ten an ihm; aber vergebens suchen sie Trost in seinem Auge zu lesen! — Der Unglückliche seufzt, und mit diesem Seufzer — 0 möchtest Du jetzt,

jetzt noch Reue fühlen und ihn trösten — mit diesem Seufzer bringt sein himmlischer Schutzgeist Deinen Namen vor den Thron des Ewigen, tragt mit richtendem Ernst ihn in die Bücher der Schul­ digen ein; denn dieser Name konnte mit Seegen

von den Lippen der Betrübten genannt werden;

i4i aber Du weisest kalt die Seegensthräne, dies höch­ ste Geschenk der Menschheit, von Dir zurück. Was machte Dich so lieblos, nicht allein gegen den lei­

denden Bruder, sondern auch gegen Dich selbst? — Gesetzt, es stand für den Augenblick nicht in Deinen Kräften, ihm Hülfe zu gewähren, war­ um hatte Dein Herz nicht Trost, der jedem Lei­

denden so wohl thut, wenn er wahrhaft aus dem Herzen eines Freundes der Menschheit stießt? — Eile doch, Dein Gefühl zu veredle», lerne doch die süße Wonne, »ein Mensch zu seyn!« Ist aber

Dein Herz nicht verhärtet, fehltest Du nur durch

unstetigen Leichtsinn, hatte Zerstreuungssucht, Hang zur Verschwendung Dich nur für den Au­ genblick lieblos gegen den Leidenden gemacht — und wie oft geschieht dies — so erwäge die Grö­

ße Deines Fehlers, erwäge, wie theuer für Zeit und Ewigkeit Du gehaltlose, vielleicht tadelhafte Freuden erkauft hast.

Hattest Du aber nie. Gelegenheit, die Leiden des Armen kennen zu lernen; bist Du in einem Ueberfluß erzogen, der Dich, von Deiner Kindheit

an, von den Umgebungen des Unglücklichen fern hielt, so bist Du mehr zu bedauern, als dieser; so verschloffen kurzsichtige Eltern und Erzieher Dir, dem Erben so vieler Reichthümer, dennoch den

reichsten Besitz, die Freuden des Wohlthuns. Wel­ cher schönen Gefühle beraubte man Dich, wie eng

I/|.2

und freudenleer ließ man Dein Herz, wenn doch sogar der Arme

das reine Vergnügen schmecken

kann, zu trösten, zu helfen, bisweilen auch wohlzuthun; wenn er wenigstens in den seeligen Ge­ fühlen seines edlen Herzens einen Genuß findet,

der zwar selten in mehr besteht, als in freundli­ chen Wünschen für der Mitmenschen Wohl, den Du aber gar nicht kennst — und doch hatte das Glück Dich so schön dazu berechtigt! Ist Unbe­

kanntschaft die Ursache, welche Dich von dem Lei­

denden fern halt, o dann bist Du mehr beklagenswerth als strafbar; dann höre doch, Du vielleicht von Natur sehr guter Mensch, höre die sanfte Bit­ te der Menschenliebe, welcher auch Deine Gefüh­ le heilig sind — lerne den Armen kennen, so

wirst Du lernen ihn lieben; eine Regel, die von allen Leidenden gilt. Wenn Du nur ein Mal die süße Wonne geschmeckt hast, Thränen des Kum­ mers zu trocknen, so wird Deine Seele nach ihr dürsten; mit der ersten Handlung der Wohlthätig­ keit, welche Du übtest, mit dem ersten Dankge­ fühl eines geretteten Unglücklichen, das sich vor Dir ergießt, wird Dir ein Morgenroth anbrechen, welches Dir künftig viel ähnliche eben so seelige

Tage verheißt.

Lerne doch den Armen kennen im

Kreise der Seinen, als liebenden, und so oft durch Sorgen dieses Lebens leidenden Vater, oder als

pflichtvollen Sohn, der des Vaters Sorge theilt

»43 und Hurch Fleiß sie ihm zu erleichtern strebt. Na­

he Dich dem Aufenthalt der schutzlosen Wittwe, der unermüdeten Versorgerin ihrer Waisen, mit

denen sie den Erwerb stillen Fleißes, das spärliche

und seufzt, daß ihre Hand nicht vermag, mehr zu geben — das Ende ihres sorgenvollen Tages ist da, trüber noch als Brod der Armuth theilt,

er bricht die Nacht nun an; denn noch sind die Aussichten für den Unterhalt des kommenden Ta­ ges sehr beschrankt; die Arme seufzt, aber sie ver­ traut auf Gott. Arbeit und stillen Kummer der Mutter theilend, blüht die Tochter auf, unter Lei­ den, aber in lieblicher Unschuld blüht sie, wie die Rose unter Dornen; sie erkauft mit unermüdetem

Fleiß, mit Aufopferung vieler ihrer jugendlichen Freuden das Glück, tugendhaft zu bleiben; aber sie erkauft es nicht zu theuer — möge nie der ge­ wissenlose Verführer diesem heiligen Zufluchtsort der Unschuld nahen! — Aber wie himmlisch wäre das Gefühl, gleich einem Engel des Friedens in

eine solche leidende Familie einzutreten, und ihr unverhoffte Hülfe zu bringen, wäre es auch nur Hülfe auf Tage! — Natürlich wird ein Menschenfreund, der dem

Unglücklichen die schöne Achtung für sich selbst er­

hielt, der in seinem Leiden ihn tröstete, natürlich wird er auch wünschen, ihm wohlzuthun, sobald

sich die Möglichkeit hierzu darbietet.

Aber selbst

144 bei dem göttlichen Geschäft des WohlthunS kön­ nen wir unrichtige Wege wählen, wenn nicht Ein­

sicht das gute Herz leitet, und wenn wir nicht, bei einer Wohlthat, mehr das Verhältniß des Ar­

men, als unser eignes vor Augen behalten.

Niemand wird wohl leugnen, daß unter den milden Geschenken, welche Gottes Güte dem Le­ ben der Menschen gab, die Zufriedenheit das vor­

züglichste sey; denn ohne sie kann kein andres Lebcnsglück einigen Werth für uns haben. Es ist

also ebenfalls

ein reiches Geschenk,

welches ein

Menschenfreund dem Armen macht, wenn er es seine Sorge seyn läßt, das süße Gefühl der Zu­

friedenheit im Herzen desselben zu befördern, oder, gab es die Natur ihm schon, es ihm zu erhalten. In dieser Absicht ist es sehr edel, wenn der

Wohlthäter selbst sich mit einer gewissen äußern

Einfachheit umgiebt, welche verhindert, daß der

Arme Vergleichungen mit seinem eignen Zustande

und dem Zustande eines Andern anstellen möge, die der Zufriedenheit seines Herzens vielleicht nicht

günstig wären. Willst Du menschenliebend gegen den Armen handeln, willst Du vermeiden, was ihn mißvergnügt mit seinem Zustande machen könn­ te, so hüte Dich, durch Aeußerungen oder durch Handlungen Deinen günstigen Glückszustand vor

ihm in ein zu helles Licht zu setzen;

das heißt:

sprich

i45 sprich nie kn Gegenwart des Armen von Angele­

genheiten, die sich auf großen Dermögenszustand, reiche Besitzungen und glänzende Lebensverhältnisse beziehn, vergiß Dich nie so sehr, daß Du theurer bezahlte Gegenstände des Luxus mit kindischem Prahlen — denn was sind sie anders, als Spiel­ werk für große Kinder? — vor ihm zur Schau

legst, und kannst Du es vermeiden, so zahle nie

große Summen in seiner Gegenwart aus; denn schon der Gedanke: »ach, wäre dieses, nur zur Befriedigung dringender Bedürfnisse, doch mein!« führt ihn auf die Erinnerung an seine nicht gün­ stige Lage zurück, und raubt ihm, wäre es auch nur den kleinsten Theil der Zufriedenheit, die f»

vielen Werth für ihn haben muß, und deren sein Leben, soll es nicht unter beständigem Trauern da­ hinfließen, durchaus nicht entbehren kann. Selbst das Gefühl eines Armen, der gebildet genug ist, sich über den Kleinigkeitsgeist, der so häufig mit Reichthum verbunden zu seyn pflegt, lächelnd weg­

zusetzen, selbst das Gefühl eines solchen wird durch jene Achtlosigkeit leicht verwundet, und wenn er nicht eine sehr schöne Seele hat, so entfernen sie sein Herz von Dir; ja, es ist möglich, daß bittre

Empfindungen gegen Dich in ihm aufkommen, ge­ gen Dich, der seine zartesten so unbedachtsam ver­

letzte. Wäre aber die Seele des Armen längst und

ganz schon nur stille Resignation, selbst bei dem

St

146 Aebermuth des Reichen gewesen, härte auch die

seltenste, richtigste Lebensphilvsophie ihn hinläng­ lich belehrt, wie wenigen Werth an sich selbst die Reichthümer haben und beilegen, so kann doch

Dein unvorsichtiges Prangen mit ihnen,

vergli­

chen mit der bescheidnen Lage des Armen, seinem Gefühl eben das werden, was ein plötzlich hervor­ brechender Sonnenstrahl dem schwachen,

nur an

sanfte Dämmerung gewohnten Auge ist, und be­

merkt er in Deinem Thun nur die leiseste, auch blos unüberlegte Absicht, auf Kosten seines Gefühls zu glänzen,

so wird Deine Eigenliebe,

der Du schmeicheln wolltest, aufs höchste getauscht

seyn; denn keine tiefre Verachtung kann so leicht

wohl gedacht werden, als die innre Verachtung, welche in solchem Fall der richtig denkende und em­ pfindende Arme für Dich hat. —

Hast Du aber, edler Menschenfreund, günstig

auf seine Zufriedenheit gewirkt, und wünschest Du, durch Trost oder Hülfe ihm thätiger wohlzuthun, so unterlaß nichts, was Dir sein Herz

nähern

und es bereit mache, Deinen Trost oder Deine Hülfe gern anzunehmen. Spricht er da­ kann,

her über dar Innre seiner Lage mit Dir, so höre

ihn mit dem milden Ernst,

welcher der Würde

eines Dir heiligen Gegenstandes geziemt, und ent­ weihe ein solches Gespräch nicht, indem Du, viel­

leicht in der guten.Absicht, ihn zu erheitern, einen

i4 7 leichtern, also weniger herzlichen Ton annimmst, al6 den, der hier unumgänglich zum wahren Trost

gehört, wo die Sprache der Herzlichkeit alles an­ dre überwiegt,

was Du sagen könntest.

Zwar

magst Du, wenn Du erst seine Klagen mit vollem Theilnehmen angehört hast, etwas Erheiterndes in Deinen Trost mischen, aber sey ja vorsichtig ge­

nug, es nie in das leichte Gewand des Scherzes zu kleiden; denn dieser ist den ernsten Gefühlen des Leidenden zuwider. Tröste ihn sanfter, indem Dü ihm Vertrauen um Vertrauen giebst; zeige ihm aus Beispielen, baß auch die Glücklichsten nicht immer so glücklich sind, als sie rS scheinen, daß

ihr« Lage manche Unannehmlichkeiten habe, von denen der Arme nichts empfindet, mache ihn mit sanftem Wink auf das Gute aufmerksam, waS die Milde des Schöpfers auch seinem beschrankten Loo­ se zutheilte; so beruhigst Du ihn über das, was er entbehrt, und erhöhst in ihm die Dankbar­ keit gegen Gott, für das, was er besitzt. Ge­ währe ihm — vorausgesetzt, daß er es verdient — Deine freundliche Fürsprache, wenn er deren be­

darf, und Du es vermagst; ist seine Lage von der Art, daß eine augenblickliche Wohlthat seinen Kum­

mer heben kann, und es ist in Deinem Vermögen, sie ihm zu ertheilen, so geschehe cs mit der edlen,

freundlichen Milde, welche ihm zeigt, Dir, dem Geber, verursache das Geschenk Deiner Menschen-

K 2

148 lieb« innigere Freude, als ihm, der die Gabe em­

pfängt. Dann wird diese Gabe dem Herzen deS Hülssbedürftrgcn seyn, was der labende, sanfte Re­ gen

der nächtlichen Wolke

einem

schmachtende»

Aehrenfelde ist, und wie dieses, wird sie, zu seiner Zeit, auch Früchte des Seegens bringen. —

Der immer

begehrliche Liebling des Glücks

glaubt vielleicht, daß die beschränkte Lage des Ar-

uien ihm keinen Genuß von Freuden zulasse; die Milde des Schöpfers hat aber auch für ihn in dieser Hinsicht gesorgt, weil sie ihm den so schätz­

baren Sinn für kleine, leicht zu erhaltende Freu­ den gab.

Du, o Menschenfreund, eben so, wie

Du die Leiden des Armen ehrst, ehre auch seine Freuden— Dir müßten sie ein Heiligthum seyn, das nur ein geweihtes Auge schauen, dem keine zerstörende Hand sich nahen darf. Dein zartes Gefühl wird Dich dafür bewahren, daß Du mit

Gleichgültigkeit auf die Freuden des Armen blickst,

und vielleicht dadurch einen nicht zu befriedigenden Wunsch nach den theurer bezahlten Freuden der Reichen in seiner Seele rege machst. Diejenigen unter den Glücklichen, welche zwar

«in gutes Herz besitzen, mit diesem aber nicht im­ mer eine richtige Ansicht der Verhältnisse verbin­ den, meinen oft, sie haben dem Armen ein sehr freundliches Geschenk gemacht, wenn sie ihn zu­

weilen an ihren gewohnten Vergnügungen Theil

149 nehmen lassen, die seine beschränkten Umgebun­

gen ihm zwar nicht darbieten, die aber auch zu seinem eigentlichen Wohl nicht nothwendig sind. — Nun aber, wie e5 oft zutrifft, daß das, waS nicht nothwendig ist, schädlich wird, so geschieht es auch nicht selten in diesem Verhältniß des Armen. Oh­

ne weiter aus einander zu setzen, welche, in seiner

Lage immer bedeutende Opfer der Arme machen muß, wenn er in glänzenden Kreisen erscheinen will, selbst wenn er in gewöhnlichen Gesellschaften der Glücklichern sich mit einigem Anstand zeigen will, so ist es doch gefährlich für ihn, wenn man

ihn,

zwar in freundlichen Absichten,

aber nicht

ganz überlegt, zu Vergnügungen zieht, die ekgenkkich, ihrer Natur nach, ganz außer seinem Gesichts­ kreise liegen.

Es ist möglich, daß er Geschmack

an ihnen finde, und wiederholt sich ihr Genuß Mehrmals für ihn, so wird seine einsame Behau­ sung, wo blos nützliche Thätigkeit, einfache Lsbensweise,

höchstens kleine,

mäßige Erholungen

dinheimisch seyn können, gewiß minder freundlich für ihn seyn, als sonst, und der Aufwand von Zeit, den solche Vergnügungen fordern, ist ein höchst bedeutender Verlust für ihn, an den er sich aber, zu seinem großen Schaden, unmerklich ge­ wöhnt. In den Umgebungen der Glücklichern sieht

er Vieles, was ihre Eitelkeit oder ihre Verwöh­ nung Bedürfniß nennt, was aber an- sich kein Br-

15° dürsniß ist, wenigstens dem Armen es nie, oder

doch schon längst nicht mehr war — kannte er die­ sen oder jenen Genuß der Reichen noch nicht, so lernt er, ihren Kreisen sich nähernd, ihn jetzt ken­

nen, und dadurch ist es leicht möglich, daß erneue

Wünsche, und, weil sie fruchtlos bleiben müssen, mit ihnen neuen Schmerz kennen lerne; gehört er

aber zu den Armen, die, in einer ehemals glück­ lichern Lage, ebenfalls an gewisse Verschönerungen so muß, bei ihrem

des Lebens gewöhnt waren,

Anblick, in seiner Seele die schmerzhafte Erinne­

rung dessen wieder erwache», waS er einst war,

und was er, menschlichen Aussichten nach, nie wie­ der werden kann. Wolltest Du, sanftes Herz, das Menschenliebe beabsichtigte, wolltest Du das kleine Glück, welches dem Leidenden noch übrig blieb, wolltest Du die Ruhe seiner künftigen Lage in

Gefahr setzen? — O nein; Du wolltest ihm den Genuß glücklicher Tage verschaffen, wähle also weislich für ihn — nicht in Deiner Sphäre laß

ihn sein Glück aussuchen,

denn dort geht es flüchtig bei ihm vorüber; gieb Veranlassung, daß

er in der seinigen es finde, denn hier erwartet e§ ihn und bleibt bei ihm; dies einheimische Glück ist sein eignes, und das menschliche Herz ist ja

blos im lieben Eigenthum wahrhaft glücklich. Ver­ meide es also, den Armen, nur für den Augen­ blick, Deinem Standpunkt zu nähern, der ihm

i5i gefährlich werben kann; aber nähere Du, mit G§-

fühlen des Wohlwollens und der Liebe, Du Dich

nähere

seinen Umgebungen, die nicht allein sondern auch jede

unschädlich für Dich bleiben,

Deiner Empfindungen veredlen werden, Verschaffe

ihm, wenn es die Verhältnisse zulassen, zuweilen ein schuldloses Vergnügen, einen angenehmen Ge­

nuß in seinem Familienkreise, in den Umgebungen der freundlichen Natur, verschöne sein häusliches

Leben zuweilen durch kleine Gaben, die ihm eine Erquickung, eine Annehmlichkeit, eine bleibende Bequemlichkeit mehr in diesem Leben werden kön­

nen, so hast Du gerechtem Anspruch auf seine Dank­ barkeit, so hast Du ihm wesentlichere Wohlthat erzeigt, als durch den vorübergehenden Rausch sol­ cher Freuden, zu denen er oft nur ein verwunde­ tes Herz mitbringt, oder es von ihnen wieder mit zurück bringt. Nur die sanftern Freuden stär­ ken das Herz, daher sind sie dem Armen vorzüg­

lich angewiesen —

blicke mit dem Ehren zarter

Schonung auf diejenigen, die gewissermaßen auS seiner Lage selbst entstehn; betrachte sie mit dem

freundlichen Gefühl, mit welchem Eltern auf die Freuden ihrer Kinder blicken, und ist eine Blume des Feldes hinlänglich, sie ihm zu gewähren, so

erfreue auch Du Dich theilnehmend dessen, wor­ über er sich freuen kann. Ueberjeuge Dich nur

fest, daß für den Armen Vieles einen Werth hat,

-52 was Deinen Wunsch kaum erregt,

und erhebe,

mit dem schönen Gefühl des Menschenfreundes, dankbar gerührt Dein Herz zum Schöpfer, daß er

auch in kleine Veranlassungen eine Quelle zur Glückseligkeit für Menschen, die nicht den Namen der Glücklichen führen, so väterlich gelegt hat, wie

er dem Wurm im Thautropfen eine Welt, ein Daseyn, einen Lebensgenuß anwies. Bist Du übrigens mit den Wissenschaften vertraut, so wird die Kenntniß älterer Geschichte Dir die schöne Vor­

zeit zurückrufen, wo die Sieger fast des ganzen

damals bekannten Erdbodens die eroberten Reich­ thümer den Tempeln ihrer Götter und dem Volk opferten;

sie selbst aber wählten freiwillige Ar­

muth und die kleinen Freuden, welche diese ge­ währen kann, und sie handelten weise, weil ihnen

dies ein Leben der Ruhe sicherte. Von dem Be­ sitzer reicher Glücksgüter wird ein gewisser Auf­ wand gefordert— und mit Recht; wie wollte sonst

der erwerbende Fleiß des Armen bestehn? — aber dieser Aufwand zieht ihn in Verhältnisse, welche ihm sehr oft lästige Fesseln anlegen; das Leben der

Armuth im Gegentheil,

wenn sie nur nicht zu

drückend wird, ist das eigentliche Leben der Ruhe. Zn den Händen eines sehr

Menschenfreundes

zartfühlenden

liegt noch ein edles Geschenk,

wodurch er sein eignes Herz und das Her- seines

153 unbegüterten Mitmenschen beseeligen kann. — In jeder unverdorbenen Seele liegt der Wunsch, An­

dre zu erfreuen, ihnen frohen Lebensgenuß mit­

theilen zu können; Mildthätigkeit ist nur die wahr­

haft menschliche Natur, Wohlthun ist dem reinen Herzen ein Bedürfniß, und mit Recht sagt der göttliche Stifter einer Religion der Liebe, daß Ge­

ben seeligcr als Nehmen sey. — Nun aber ist diese Seeligkeit dem edlen, sei­ ner Brüder Schmerz so tief empfindenden Armen

oft versagt.— O Du, der freundlicher angelächelt vom Glück seine reine Freude darin findet, Andre zu erfreuen und ihnen wohlzuthun — wenn Du die Zähre eines Leidenden siehst, und sie zu versie­

gen wünschest, so sind Dir die Mittel dazu nicht versagt; Deine Hand vermag zu lindern, wo Dein Herz es will. Dies kann der Arme nicht oft —

v verschaffe ihm zuweilen das göttliche, so lange entbehrte Glück, einem noch Acrmern, als er, wohlihun, ihn erfreuen zu können; vertheile we­

nigstens Deine Wohlthat zuweilen durch seine

Hand, damit auch er theilnehme an den edelsten Freuden, welche die Menschheit haben kann. Viel­ leicht ist dieser Balsam der sanfteste, welchen Du dem leidenden Herzen eines edlen Armen gewah­

ren kannst.

Wer Zartgefühl als Wohlthäter besitzt, wird zwar nie Beweise -er Dankbarkeit fordern; aber

154 sein eignes Herz wird ihm sagen, daß es eine Verschönerung der Wohlthat sey, wenn man dem, welcher sie empfing, Gelegenheit giebt, sich in der Folge dankbar zu beweisen.

Wenn Du also den­

jenigen, welcher Dir Verbindlichkeiten hat,

gele­

gentlich um eine kleine Gefälligkeit ersuchen willst

— Dein sanftes Gefühl wird sie so wählen, daß sie nicht beschwerlich für ihn werden könne — so

wirst Du sehn,

wie sein Herz freudig Deinem

Wunsch entgegen kommt, wie sein beseelter Blick, seine beflügelte Eile, Dir zu dienen, beredt Dir sagt, welche Wonne es ihm sey, dem Wohlthäter Dankbarkeit zeigen zu können; Du wirst es sehn,

und mit heiliger Empfindung wirst Du den angebornen Adel der Menschheit ehren. — Zeigt der Arme etwa durch ein kleines Geschenk Dir gele­ gentlich sein Dankgefühl für Dich, so nimm es

mit ungeheuchelter Freude auf; denn es ist Huldi­ gung des Herzens, und kranke ihn nicht dadurch, daß Du es ihm augenblicklich, vielleicht über sei­

nen Werth, vergütest. — Sey hier dem Staube der Vergessenheit ent­ rissen; blühe, ein liebliches Blümchen am Grabe

eines Edlen, Du einfacher, aber schöner Zug der Seele Philanders! Noch im Greisesalter hielt seine Hand mit männlicher Krast, und nie irrend,

die Wage der Gerechtigkeit;

zitternd sah der Un­

terdrücker des Unschuldigen ihr strafendes Schwerdt

i55 m den Händen des gerechten Richters, So hatte er — und wie viel solcher Handlungen bezeichne­ ten den ehrwürdigen Gang seines Lebens — einst das kleine Erbtheil einer armen Wittwe aus den Handen eines Betrügers gerettet. Seegensthranen, Gebete schienen der Getrösteten ein viel zu schwacher Ausdruck des Danks für ihren Retter — im Gefühl, nur seine Pflicht als^ Mensch und als Richter gethan zu haben, sah doch Philander, daß ihn die Arme als einen Wohlthäter seegnete; sein Auge, gewohnt, das menschliche Herz mit richti­ gem Blick zu durchschauen, entdeckte sehr leicht der Armen schöne Gefühle, und ehrte sie. Sie hielt zufällig ein ganz gewöhnliches Nelkenpflänzchen in ihrer Hand; er bat sie, es ihm gegen ein andres kleines Geschenk zu überlassen, weil es ihm vor­ züglich gefiele. O, mit welcher bebenden Wonne bot sie es ihm dar, wie verklarte sich jeder Zug ihres Gesichts — sie konnte ja ihren Wohlthä­ ter erfreuen! — Die Pflanze ist langst nun Asche, Philander, sie ist todte Asche, wie Deine wohlthä­ tige Hand; aber hätte sie können ewig Deinem Grabe blühn, was wäre ein prangendes Grabmal von Marmor gegen sie? — O ihr Tage, ihr seeligen Tage meiner Kind­ heit, wo ich Züge aus dem Leben der Armen in meinem Herzen sammelte, wo ich, leicht wie der gaukelnde Schmetterling, geschmückten Zimmern,

156 reichbesetzten Tafeln entschlüpfend auswich, und zur stillen Wohnung der Armen eilte — seelige Tage, wo ich mein wohlbereitetcs Mahl gern ih­ ren Kindern gab, um ihre spärliche Kost, ihre stille Einsamkeit, ihre einfachen Freuden mit ihnen zu theilen! Wie war mir so wohl in ihren bescheid­ nen Umgebungen — nie kannte mein Herz einen fertigem Frieden, als den, welchen ich in Woh­ nungen der Armuth empfand. Hier lernte ich mit voller Seele genießen, und ohne schmerzhaften Zwang entbehren; hier bereitete ich, in kindlich sanfter Unwissenheit, mich zu dem vor, was auch ich einst durch Erfahrung kennen lernen sollte; hier lernte ich den anspruchlosen, genügsamen Armen und seine wohlfeilen Freuden so herzlich lieden.-------Du hast biet gethan, sanfter Menschenfreund, wenn Du die Freuden des Armen befördertest; denn sic sind ihm auch zur Veredlung seines Her­ zens nothwendig; groß ist der Einfluß, den er­ laubte Freuden auf das äußere und innere Wohl deS Menschen haben. Der Gute nähert sich im Leiden zwar inniger der Gottheit; aber eben so schön ist auch das Dankgefühl, welches er ihr zu­ erst für jeden Trost, für jede Hülse darbringt, und erheitert ihn die Freude, so wird er zugleich wärmerer Freund der Menschheit; sein neu beleb-

157 tes Herz ist dann allen sanften Eindrücken, allen

freundlichen Gefühlen für sie williger offen. — Bei andern Wohlthaten, welche Du dem Ar­

men erzeigen willst, prüfe weislich, wie und wem Du sie gewahrst. Wenn die Nothwendigkeit einer Rettung für den Augenblick Dein Mitleid auf­

fordert, so beherzige das freundliche Wort: daß derjenige doppelt giebt, welcher schnell giebt. Wo Du Deine Hülfe in dieser Art nöthig glaubst,

da zögre nicht, wenn sie ihren ganzen Werth be­ halten soll.

Es giebt Stunden, welche tiefes Lei­

den zu Jahrhunderten verlängern kann, und wenn Du nie den Seelenzustand kanntest, in welchem ein Hülfloser dem Trost und der Rettung angst­

voll entgegen seufzt, so bist Du sehr zu entschul­ digen, wenn Du auch den Werth, den Minuten für ihn haben, nicht berechnen kannst; glaube also

einem Herzen, welches diesen gehaltvollen Werth

nicht blos durch Gefühl, sondern auch durch eig­ ne Erfahrung kennen lernte, und willst Du hel­

fen, so hilf unverzüglich.

So rettete einst Mariane,* die Allgeliebte! — Wenn Dein himmlisch - sanftes Auge auf dieser Stelle verweilt, o so denke, edle Fürstin,

des Tages, wo eine Deiner vielen Handlungen

(Prinzessin Wilhelm von Preußen.)

158 der Menschenliebe die Lebensrettung einer hülflosen

Familie ward — dieser Tag ward zum Edelstein in Deiner Fürstenkrvnc, zum unvergänglichen Denk­ mal in Herzen, die Dich anbeten.--------

Eine Wohlthat dieser Art gewinnt an Werth, wenn sie in sanfter Verborgenheit erzeigt wird. Dir, edler Menschenfreund, genügt es vollkommen, wenn der Schöpfer, Dein eignes Herz und der

dankbare Gerettete allein die schöne Handlung Dei­ ner Menschenliebe kennen — welchen andern Zeu­ gen könntest Du auch haben, der mit einem die­

ser drei zu vergleichen wäre? — Zwar könnte der

Gedanke, Andre durch ein edles Beispiel zu ähn­ lichen Handlungen der Menschenliebe zu ermun­ tern, dieser Gedanke könnte ein Grund werden,

zu wünschen, daß jede wohlthätige Handlung be­ kannt würde; Dein zartes Gefühl kann aber nicht wollen, daß sie durch Dich selbst es werde. Wenn eS im Plan der weisen Vorsehung Gottes liegt, daß Dein Beispiel Andern

die Veranlassung zu

menschensreundlichen Handlungen werden soll, so wird gewiß Deine Wohlthat durch denjenigen be­

kannt werden, dem Du sie erzeigtest - nennt sein überströmendes Gefühl, nennt die Thräne der Dank­

barkeit in seinem Auge Dich öffentlich seinen Wohl­ thäter, so wird dieser Name dann noch ehrwürdi­

ger und der wahren Tugend noch heiliger seyn.

Drückt aber, es sey nun aus dem Jrthum falschen

i59 Schämens, oder aus andern Gründen, dir in sei­

nen Verhältnissen liegen, drückt den, welchen Du Dir verbindlich machtest, nur einigermaaßen der Gedanke, cs der Welt wissen zu lassen, daß er

fremder Wohltat bedurfte, so wird es Deinem schönen Herzen erwünschter noch, als ihm selbst

seyn, ihm ein schmerzhaftes Gefühl zu ersparen. Doch, es ist ja überhaupt das Eigenthümliche ed­

ler Seelen, verschwiegne Wohlthat zu üben, also wird auch die Deine sich gern in den sanften Schleier der Verborgenheit hüllen. Wenn Du dem Armen in dauernder Folge

wohlthun kannst und willst, so prüfe alle seine Lebensverhaltnisse mit weiser Einsicht. Gehört er zu der Klasse, welche durch eignen Erwerb sich ei­ nen nothdürstigen Unterhalt

sichern

kann,

und

ward diese ruhige Existenz ihm nur durch bedeu­ tende Unglückssalle, Ereignisse der Zeit, oder sonst auf eine Art für einige Zeit gestört, ist er dadurch

ärmer geworden, so kann ein mäßiger Vorschuß

auf hinausgesetzten Zeitraum, aber nur verbunden mit der Gelegenheit oder den Mitteln, ihn wieder

in Thätigkeit zu setzen, seinem gesunknen Glücks­ stande aufhelfen, und ihn wieder zu einer stillen, genügsamen Lage zurücksühren, im Fall ihm Gott

das

kostbare Geschenk der Gesundheit gewährt.

Hemmen Krankheit, Altersschwäche ihn in seinen nützlichen Beschäftigungen, so wird eine mäßige,

i6o fortgesetzte Unterstützung, ein zuweilen wiederhol­

tes Geschenk an Nothwendigkeiten des Lebens, welche er sich vielleicht versagen würde, z. 53. an Kleidung, an Wasche u. dgl., das vortheilhafteste für seine Lage, und zugleich für die Erhaltung ei­ ner gewissen äußern Ordnung in seinen Umgebun­

gen seyn; doch ermahne ihn sorgfältig, nie ganz die Thätigkeit zu verabsäumen, die seinen Kräften

noch angemessen ist; denn die Laster ungerechnet, in welche auch ein sonst guter Mensch, durch den Leib und Seele verderbenden Müssiggang allmäh­ lich verfallen kann, so ist der Unthätige auch jeder­

zeit ein unglücklicher Mensch. Selbst die Armen aus der edlern und gebil­ detem Klasse, auch wenn sich Menschenfreunde zu der großmüthigsten Unterstützung derselben vereint hätten, dürfen nie ohne nützliche Beschäftigungen

bleiben, die einen, wenn auch noch so mäßigen Ertrag gewähren; denn wer sich selbst nicht helfen

will, sobald er es nur einigermaßen kann, der verliert auch den Anspruch auf die Hülfe Andrer. Für Leidende der edlem Art wird ebenfalls eine mäßige, aber gesicherte Unterstützung die Gelegen­

heit, welche man ihnen zur Arbeitsamkeit giebt,

und siele der Ertrag davon noch so gering aus, die zweckmäßigste und dienlichste Fürsorge seyn. Es ist leicht möglich, daß die Wiederherstellung ihres vorigen Glücksstandes, oder doch die Ver­

besserung

16x besserung ihre- jetzigen, dadurch bewirkt werden kann, und allmählige Schritte 'zu einem Glück bür­ gen fast für dessen Dauer.

Selbst die Natur geht

in ihrem wohlthätigen Wirken langsam, aber sie geht sicher; nur wo sie zerstören will, da wirkt sie schnell. Dieses würde — nur die wenigen Falle ausgenommen, wo augenblickliche Hülfe nothwen­

dig wird — ebenfalls auf Wohlthaten, welche Du

dem Armen

erzeigen willst,

anzuwenden

seyn.

Wenn Du, im richtig berechneten Hortgangc, ihm

in der Sphäre weiter hilfst, welche die höchste Weisheit und Liebe für ihn wählte; wenn Du ihm unverändert erhältst, was bisher sein schönster Be­

sitz war: ein gefühlvolles Herz, nützliche Thätig­ keit, anspruchlofe Genügsamkeit, leicht erkaufte

Freuden; wenn Du seinen Kummer lindertest, seine

sinkende Kraft aufrichtetest, als er gern thätig für sein Bestes wirken wollte, und ihm die Mittel dazu fehlten; so bist Du gehorsam und weise in den Plan der Vor­ sehung eingegangen, Du hast des Mitmenschen Wohl in der That befördert, und den schönen Namen

eines Menschenfreundes verdient. Hättest Du aber, in schneller Aufwallung des Gefühls, eine reiche Gabe ertheilt, und nie die Wohlthat wiederholt, so hättest Du des Armen wahres Glück mehr ge­

stört, als befördert— Deine Gabe wäre vielleicht zu klein gewesen, als daß sie ihm hätte einen dau­ ernden Giücksstand gründen können, und doch war

L

IÖ2 sie vielleicht groß genug, die Gränzen feiner bisher, bescheidnen Wünsche zu erweitern, und durch man­ chen ihm neuen Besitz neue Begehrlichkeit in ihm aufzuregen; auf diese Art hattest Du dem, von der Vorsehung so weislich entworfnen Plan seines Lebens, der also für ihn gewiß der heilsamste ist, unvorsichtig entgegen gearbeitet. —

Elisabeth

Friedrichs,

Christine,

erhabne

Wittwe

geborne Freundin der Leidenden —

hier fließe Deiner geheiligten Asche noch die Thrä­ ne der Feier! — Die Welt beklagte schon vieler unschätzbaren Denkmale Verlust, aber die Tagebü­ cher Deines Lebens und des Lebens eines Ti­

tus— ach, daß diese nicht auf die Nachwelt ver­ erbt wurden, ist unersetzlicher Verlust für die ed­ lere Menschheit! — Um die Milde, die sich im­ mer gleich bleibende Weisheit nachzuahmen, mit

welcher Du Wohlthaten vertheiltest, mußte man ihr Zeuge seyn, oder das Zeugniß kennen, wel­ ches Deine große Seele vor dem Auge des Allse­

henden

von ihren täglichen Handlungen ablegen

konnte. O daß in diesem Zeugniß Dein Geist noch unter uns lebte, daß er ewig erhalten würde zur Nachahmung den spätesten Jahrhunderten.-------- *

*

Die Verfasserin hatte früh bas Glück, der unvergeßlichen Königin persönlich nahen zu dürfen, und von Freundinnen an

r6z Ein Herz, welches sich mit der Kunst des Wohlthuns vertraut gemacht hat, wird auch gewiß

Gegenstände desselben finden; denn diese bietet das menschliche Leben täglich dar. Edler Freund der Menschheit, Du, welchen die Vorsehung dop­ pelt beglückte,

mit einem fühlenden Herzen und

mit dem Vermögen, seinen sanften Eingebungen zu

folgen —

wie oft wirst Du Gelegenheit finden,

Dich selbst zu beseeligen, in Stunden, wo Du Andre nur mit einem kleinen Theile dessen beglückst, was der milde Vater aller Wesen Deiner Verwaltung über­ Viel, sehr viel sind Deiner Mitmenschen

gab! —

aus Erden, denen bald freundlicher Trost , bald thätige Hülfe, Wohlthat und Rettung werden

kann — täglich bist Du von ihnen umgeben, wenn

Dein fühlendes Herz sie sucht.

Greise,

zugleich

von Schwächen des Alters und vom Druck des Kummers gebeugt, leidende Hausväter, schutzlose

ihrem Hofe,

te,

sowohl als von Unglücklichen, die sie unterstütz­

die sprechendsten Auge zu

rung zu erhalten.

der hier entworsnen Schilde­

Eben so ist es in Ansehung geliebter Für­

sten und andrer Edlen, von denen in diesen Blättern gespro­ chen wird;

sie sind nach der Wahrheit geschildert,

welche

der Schriftsteller sich selbst und seinen Publikum schuldig ist. Wo man

edlen Seelen

huldigt,

oder im Gewand der Armuth,

gend ,

anders,

sie leben nun im Purpur

da gebe man

was der Tugend gebührt;

zwar der Tu­

aber man spreche auch nie

als nach der gewissenhaften Stimme eigner Kennt­

niß.

L 2

164

Wittwen und Waisen, Verdienstvolle im Dunkel der

Armuth, unschuldig

Unterdrückte,

nehmen

Dein Mitgefühl in geheiligten Anspruch — 0, wollte der Allgütige, es fänden sich so viel liebevolle Herzen, die bereit wären zu trösten, als sich Lei­ dende auf Erden finden, die es bedürfen und ver­ dienen , getröstet zu werden!

Leidende im Alter. Ehrwürdig muß der Anblick jedes Greises unS

seyn, der jetzt, nach der Vollendung des großen Geschäfts, welches das Walten der Vorsehung durch die Natur jedem Sterblichen bei seinem Ein­

tritt in das Leben auferlegte, wenn seinem Leben Dauer werden sollte, nach der Erfüllung aller ge­ heiligten Pflichten, als Sohn, als Gatte, als Va­ ter, kurz, aller geheiligten Pflichtenals Mensch, sich nah am belohnenden Ziele sieht, und im edel­

sten Sinn des Worts sagen kann: er habe wahr­ haft gelebt. Ehrwürdig ist die Matrone, welche durch thätige Uebung aller Pflichten ihres stillen Wirkungskreises,

als Tochter,

Gattin, Mutter,

durch edle Verschönerung aller ihrer Verhältnisse im geselligen Leben, unzählige Milde Segnungen ver­

breitete , deren liebliche Erndte sie hier schon genoß,

die aber noch auf spater Enkel irdisches und beßres

164

Wittwen und Waisen, Verdienstvolle im Dunkel der

Armuth, unschuldig

Unterdrückte,

nehmen

Dein Mitgefühl in geheiligten Anspruch — 0, wollte der Allgütige, es fänden sich so viel liebevolle Herzen, die bereit wären zu trösten, als sich Lei­ dende auf Erden finden, die es bedürfen und ver­ dienen , getröstet zu werden!

Leidende im Alter. Ehrwürdig muß der Anblick jedes Greises unS

seyn, der jetzt, nach der Vollendung des großen Geschäfts, welches das Walten der Vorsehung durch die Natur jedem Sterblichen bei seinem Ein­

tritt in das Leben auferlegte, wenn seinem Leben Dauer werden sollte, nach der Erfüllung aller ge­ heiligten Pflichten, als Sohn, als Gatte, als Va­ ter, kurz, aller geheiligten Pflichtenals Mensch, sich nah am belohnenden Ziele sieht, und im edel­

sten Sinn des Worts sagen kann: er habe wahr­ haft gelebt. Ehrwürdig ist die Matrone, welche durch thätige Uebung aller Pflichten ihres stillen Wirkungskreises,

als Tochter,

Gattin, Mutter,

durch edle Verschönerung aller ihrer Verhältnisse im geselligen Leben, unzählige Milde Segnungen ver­

breitete , deren liebliche Erndte sie hier schon genoß,

die aber noch auf spater Enkel irdisches und beßres

it>5 Leben einen beglückenden Einfluß haben. Im fei­ erlichen Schmuck ihres Silberhaars flehn jene Wür­

digen nun einem Ziele nah,

auf welches Jüngere

mit ahnender Ehrfurcht blicken, aber nicht wissen,

ob auch sie bestimmt sind, es nach einem eben so

langen,

eben so gehaltvollen Leben zu erreichen,

oder ob sie nicht früher der Tod wegreißt, von ih­ ren hier auf Erden Geliebten, ihren Entwürfen,

ihren theuersten Hoffnungen. —

Aber das sanfte

Gemälde eines in Ehre und Zufriedenheit erlebten Greisenaltcrs hat auch seine ernsten Schattenseiten, die dem Auge eines jeden Prüfenden sehr leicht sicht­ bar werden. — Der Körper leidet unter Schwa­ chen, von denen nur wenige von der Natur Begün­

stigte ausgenommen sind, wenn der Abend des Le­ bens anbricht; das Helle Auge, welches in der Ju­

gend fernhin und scharf blickte, wie der Pfeil vom Bogen des rüstigen Schützen trifft, welches viel­ leicht half, unsterbliche Kunstschöpsungen, große Entwürfe, oder doch Arbeiten für das allgemeine

Wohl vollbringen,

welches in paradiesischem An­

schauen der Natur und der Kunst schwelgte, beredt jede Empfindung des Herzens sprach; das Auge

wird dunkel, vermag kaum einen beschränkten Raum zu übersehn, sichert kaum den Pfad, welchen der Greis mühsam wandelt, vor gefährlichem Strau­ cheln; sein «inst so lebensvoller Glanz ist kaum ein

matter Schimmer, und kein Ausdruck liegt in ihm,

166 der zum Herzen spräche.

Dem Ohr, welches einst

scharf und schnell die zartesten Töne auffaßte, ist jetzt die süßeHarmonie, ist oft die bekannte Stimme

des Freundes sogar, nur ein dumpfer Schall, wel­ cher ängstet, statt zu erfreuen. Der einst so rüstige

Fuß, welcher vielleicht mit der flüchtigen Gemse die

lustigeHvhe der Alpen erstiegen hatte, wie unsicher trägt er jetzt den entkräfteten Körper, wie wankend ist

sein

langsamer

Schritt! —

Alle schuldlosen

Freuden der Jugend, und fast jeder frohe Lebens­ genuß des männlichen Alters sind für den Greis nun abgeblüht, und sein noch übriges Leben wäre

höchst unglücklich zu nennen,

wenn ihn Weisheit

nicht entsagen lehrte, und mit den wenigen Freu­ den seines Alters zufrieden machte, wenn Hoff­

nung und Religion ihm nicht schon hier auf Erden den beseeligcndcn Blick in beßre Welten gewährten.

Bedeutender noch, als körperliche Leiden, wur­

den vielleicht die Leiden der Seele für den Greis.

Ein langes Leben sammelt viel Erfahrungen, und

von diesen ist ein großer Theil schmerzhaft.

Viel

schöne Hoffnungen werden getauscht, viel frohe Er­ wartungen werden vereitelt;

die idealisch - liebli­

chen Farben, welche in der Kindheit, und in der noch freundlichern Jugend, unsre Ansichten schmü­

cken, Ansichten, die wir selbst in das männliche Al­

ter mit hinüber nehmen, diese verwischt das nun höhere Alter, wie die Berührung einer schweren

167 Hand den zarten Anhauch der Farben auf den Flü­

geln des Schmetterlings verwischt; das Rosenlicht jedes lächelnden , ehmals so beglückenden Traum­ bilds zerrinnt, und mit erkaltetem Herzen , mit der kleinmüthigen Sorglichkeit, welche eine Gefähr­

tin cher Schwäche ist, sieht der Greis, nicht einmal immer die wahre Gestalt, sondern oft nur die

schlimmste Gestalt, aller Gegenstände, die seine

Wünsche noch rege machen, oder seine Betrachtun­

gen auf sich ziehn. Viel seiner Freuden, viel seiner Geliebten sind vor ihm dahingegangen; fast über­ all, wohin erblickt, hat das Leben eine Lücke, die

nicht wieder ausgefüllt wird — wo die sanfte Freundschaft, wo die besceligende Liebe ihm ehmals

blühende Lauben von Rosen wölbte, da stehn jetzt bleiche Cypressen, und beschatten die Gräber Vie­ ler, die ihm theuer waren. —

Seine Gesundheit,

die Stimmung seiner Seele, sein noch übriger An­

theil an Genüssen des Lebens,

ist abhängig von

tausend kleinen Zufälligkeiten,

worin das rasche

Feuer der Jugend, der feste Sinn des männlichen Alters sich nur mit dem höchsten Widerwillen fügen würde; und der Greis muß sie geduldig ertragen. Leidet durch so viel äußere Unannehmlichkeiten noch

seine Seele, schwindet der innere heitre Sinn, wie es so ost geschieht, aus ihr dahin, so wird dieser Unglückliche nicht selten sich selbst beschwerlich, und würde es noch weit öfter Andern werden, wenn

i68 nicht heilige Bande des Bluts, wenn nicht innige, mitempsindende Liebe für ihn, den Seinen jede Be­ schwerlichkeit leichter machten, die sie in seinen Um­

In dem Herzen empfindender Menschen wird sich, bei dem Anblick eines Greises,

gebungen ertragen.

zu der stillen Verehrung für dies Alter, welche Tu­

gend, Natur, und die Religionen aller Völker ge­ bieten, immer ein gewisses Gefühl gesellen, welches

dem Zartgefühl edlen Mitleids ähnlich ist. Wenn nun schon, selbst im Besitz vieler Güter

des äußern Glücks,

das Alter diesen geheiligten

Tribut edler Herzen fordert und verdient, wie ehr­ würdig wird dann dem Menschenfreunde der Greis unter den Leidenden seyn,

welches innige Be­

dauern seiner Leiden wird er erregen! Wenn zum Abnehmen der täglich sinkenden Kräfte noch der Mangel an nothwendiger Pflege, vielleicht sogar an Nahrung kommt; wenn das schon nicht leichte

Entbehren vieler äußern und innern Freuden noch durch den Druck vieles äußern und innern

Leidens erschwert

wird;

wenn der,

welchem

das Abstcrben vieler Theuern, vielleicht auch mil­

der Wohlthäter, manche freundliche Stelle, wo sie einst liebevoll mit ihm, und um ihn wandelten, nun

auf immer verödete;

wenn dieser Einsame, der e§

schon durch die Verhältnisse seines Lebens ward, sich nun noch einsamer sieht, weil die armen Woh­ nungen des Unglücklichen gewöhnlich verlassen blei-

169 den — 0, wie müssen dann die Gefühle des Men­

schenfreundes für ihn verstärkt erwachen, wie müs­ sen sie die Eil beflügeln,

da wohlzuthun und zu

trösten, wo Trost und Wohlthat so nöthig, so wohl

angewendet sind! Wenig, sehr wenig kann dafür gethan werden,

daß man einem Menschen , den Leiden und Alter zugleich drücken, die Mittel gebe, seinem gesunknen Glück wieder aufzuhelfen; wenig sind die Hülfsquellen, die er noch in einer Thätigkeit fin­ den kann, wozu ihm die Kräfte des Körpers, viel­

leicht auch des schon geschwächten Geistes, man­

geln.

Ein solcher Leidender,

der verwaist dutch

den Tod aller derer, die ihm nahe waren, oder hülflos durch die eignen Unfälle derer, die ihm

noch übrig geblieben sind, allein da steht, wieder

Schiffbrüchige auf unbewohntem Eiland, ein sol­ cher Leidender ist größtentheils nur auf den Trost,

auf das liebevolle Mitleid sanfter Herzen ange­

wiesen. — Ja, edler Freund der Leidenden, stärke immer

durch die balsamische Linderung des Trostes die letz­ ten Kräfte, erheitre, wenn es Dir möglich ist, durch einen milden Strahl der Freude den sinken­

den Lebensabend des Greises — jeder Genuß, wel­ chen Deine Wohlthat ihm gewährt, kann vielleicht für ihn der letzte seyn, und, aller Wahrscheinlichkeit

nach, entzieht Dir bald der Loh einen Gegenstand

170

Leiner Milde in ihm. Betrachte, wenn die Ju­ gend Dir noch blüht, wenn Du noch in der Kraft des männlichen Alters da stehst, betrachte die Leiden des höhern Alters immer mit einer ahnenden Ehr­ furcht; denn viele von ihnen stehn auch Dir bevor, wenn gleich Dein Leben übrigens vom Glück mit seinen freundlichsten Gaben begünstigt ist. Eine Zeit kommt — im Fall Dir ein langes Leben beschiedcn ist — wo auch Dir die goldnen , seeligen Tage der Jugend entfliehn, wo auch Dir die Jahre des kraftvollen, männlichen Alters verschwinden, wo auch Du Greis seyn wirst, und wo des Alters matte Hinfälligkeit Deine Kräfte lähmt. Dann er­ kauft Dein Gold Deinem getrübten Greiscsauge nicht den feurigen Scharfblick des Jünglings, Dei­ nem Ohr nicht das schnelle, lebendige Auffassen der

Töne, Deinen starren Gliedern nicht die jugendliche Gelenkigkeit und die männliche Kraft, Deinem jetzt schwächern Gedächtniß nicht den ausgebreiteten, sichern Umfang, welcher Deinem Geist ehmals diente, so viel Helle und schöne Begriffe an einander zu reihen, wie Blumen des Frühlings in einem ge­ wählten Kranz; es erkauft Deinem Herzen nicht die Empfänglichkeit für liebliche, frohe Eindrücke, die nur das bcsecligende Loos früherer Lebenstage sind; blos für Schmerzensgefühle wird dann Dein Herz empfänglicher. Alle diese", und vielleicht noch drückendere Schwachen des Alters, stehn Dir,

und wärest Du auch Besitzer einer Krone, wie dem ärmsten Bewohner niedriger Hütten bevor.

Be­

trachte, Du Jüngling oder Du Mann, der noch in' unveränderter Kraft da steht, betrachte, Du Mäd­

chen, oder Du holdes Weib, das noch in jugendli­ chem Reiz blüht, dieses mit trauerndem Schatten

gemischte, aber wahre Gemälde des Greises und der Matrone, und denkt mit feierlichem Ernst: was

sie jetzt sind, werden wir einst seyn. — Die Vorzeit hat uns viel schöne Züge von der

Verehrung

ganzer Völker für das Alter aufbe­

wahrt. Das edle Volk der Deutschen zeichnete sich hierin rühmlich aus. Auch in Frankreich verleug­

nete man, selbst zu einer Zeit, wo die Sitten und Grundsätze der höhern Stande schon sehr zu ihrem Nachtheil verändert waren, die altgallische Abkunft in diesem Punkt nicht, wenigstens nicht in den bes­ sern Volksklassen; der Name Greis war und ist noch fast beständig mit dem Zusatz „ehrwürdig" von ihren Schrifstellern genannt. Das Theater hätte zwar die Sittenverderbniß verbreiten können, das

Alter lächerlich zu machen» auch dann, wenn es nicht in wirklich verspottenswerthen Schwächen, wie z. B. thörichte Liebe, Eitelkeit, Geiz, in die­

ser Zeit des Lebens sind, dargestellt wird; allein, glücklicherweise hatte das Theater in diesem Punkt keineu Einfluß auf das Volk; cs ist also ein Be-

172

weis, daß die Verehrung für das Alter in der Na­ tur dieses Volks lag, und daß es Sittlichkeit besaß.

In den Zeiten der Revolution, wo nur die He­ fen des Pöbels gleichsam die Wortführer waren, und ihre Unsittlichkeit in das Leben höherer Stände

übertrugen — sogar die Sprache blieb nicht ganz frei von dieser Ansteckung — in jenen unglücklichen Zeiten litt die Verehrung für das Alter auch in Frankreich, wozu noch die Kriege kamen, zu denen ma-Zblvt kraftvolle, rüstigeMenschen braucht, mit­

hin das schwächere Alter als völlig unnütz betrachten

lernt. Seitdem hat sich der unverantwortliche Leichtsinn, über das Alter, und selbst über seine un­ vermeidlichen Gebrechen zu spotten, bei vielen fran­ zösischen Schriftstellern eingeschlichen, und ist, durch unreine Sitten begünstigt, vicllelcht weiter gedrun­

gen. — Möchte dieses , wie alle andern unseeligen

Folgen der schrecklichsten Zeitereignisse, bald für ein Volk aufhören, das so lange unglücklich war. — Der deutsche

Mädchen,

Jüngling,

das deutsche

verleugnen nie ihre edle Abkunft durch

Vernachläßigung rühmlicher Sitte der Voreltern, sondern bewahren die Ehrfurcht für das Alter, als

einen heiligen Volksgebrauch. — Wüßte die Jugend, wie viel sie in der Beobachtung desselben gewänne, gewiß, sie würde ihn unverbrüchlich bewahren. Es giebt fast keinen schönern Anblick in der Natur, als

wenn der Jüngling mit sanfter Bescheidenheit dem

173 Greise sich nähert,

ihm kindliche Achtung erzeigt,

die Schätze der Erfahrungen, welche jener ihm mit«

theilen kann, und gern es wird, lernbegierig sammelt, um sie einst für fein eignes Leben anzuwenden— und,

o wieschön, wenn ein Jüngling den schwindenden Kräf­ ten des Greises mit liebevollem Trost, mit thätiger Hülfe beisteht! — Es giebt fast keinen schönern Anblick, als wenn das blühende Mädchen der Ma­

trone mit Ehrerbietung entgegen kommt» mit sanf­ ter Freundlichkeit strebt, sich ihr angenehm zu ma­

chen, mit bescheidner Achtung selbst die einfachsten Lehren anhört, die doch Vieles in sich haben können,

was für das ganze Leben nützt; wenn ein blühen­

des Mädchen strebt, durch angenehme Unterhaltung,

durch kleine zarte Aufmerksamkeiten, durch Erheitrung, die in ihren Kräften steht, noch einen rosi­ gen Strahl ihrer eignen schuldlosen Freude am Mor­ gen ihres Lebens über den sinkenden Lebensabend einer würdigen Matrone zu verbreiten. Besonders euch, edle Streiter für das Vater­ land und seine Rechte, die ihr als Jünglinge in den geweihten Kampf für sie zogt, euch liegt es ob,

als Männer jede alte rühmliche Sitte des Vater­ lands aufrecht zu halten — thut es,

als Väter,

als Erzieher, als Lehrer der aufblühenden Jugend, welche nur das wird, wozu man sie bildet; denn für die Aufrechthaltung deutscher Tugenden zogt ihr in den Kampf;

wehrt also fremden Untugenden

ernst und muthvoll, wie ihr der fremden Unterdrü­

ckung gewehrt habt. -------Du aber, Freund der Menschheit, gieb Deine sanftesten Empfindungen dem Alter; gieb sie ihm

besonders dann, wenn es unter dem Druck der Lei­

den seufzt. Wenn die schuldlose Kindheit, auch selbst in Herzen, welche sonst nicht immer den sanf­ tem Gefühlen zugänglich sind, schon ein gewisses

zartes Theilnehmen an ihren Leiden oder Freuden erregt, so wäre es billig, für das Aller fast noch zarter,

noch inniger zu empfinden,

ob es gleich

nichts von dem anziehenden, gewinnenden Reiz hat, mit welchem die Kindheit uns cntgegenlächelt.

Daß auch sie an sich hülflos sey, daß auch sie des

liebevollsten Gefühls der thätigsten Fürsorge Andrer bedarf, ist wohl eine erwiesene Wahrheit; aber ihre einfachen Bedürfnisse sind nicht schwer zu be­

friedigen, und des Trosts bedarf sie, weil sie in sich so glücklich ist, daß die äußern Unvollkom­ menheiten ihres Zustands kaum kühlbar für sie wer­

den , nur in seltnen Fallen. Wie beseeligt ist sie durch ihre immer lächelnden Ansichten und Hoff­ nungen, durch ihre rosigen Täuschungen, die das reifere Alter oft für betrübende Wirklichkeit gern wieder eintauschte — wie glücklich ist sie in der Liebe für Alles, was sich nur von einer schmei­

chelnden Seite ihr zeigt! —

Dagegen betrachte

man das Alter — viel sind seiner Leiden,

wenig

*75 sind seiner Freuden, und der Gesichtskreis seiner Hoffnungen auf Erden ist eng beschrankt.

Für den

Greis hat die Welt, haben Menschen eine ganz ver­

änderte Gestalt angenommen; er mußte von Vie­ lem scheiden, was er liebte, eh' er vom Leben schei­

den kann. Freunde, Gewohnheiten, Geist seines Zeitalters , Alles gieng ihm in die öde Nacht der Vergessenheit voran, und er blieb unter den Leben­

den nur wie ein Bild aus abgeschiedner Vorzeit. O Menschenfreund, schenke Dein wärmstes Mitge­ fühl einem Zustande, dem auch Du nicht entgeh»

kannst, wenn der Tod Dich nicht in Deines Lebens

Blüthe hinrafft— mildre, so viel Dir möglich ist, dem Greise die Leiden, deren lastendes Gewicht ihm die schwerste menschliche Lebenszeit nur noch

mehr erschwert!

Tröste den Leidenden in seinem

Greiscsaltcr, damit die seeligenErinnerungen an die Milde, welche Du übtest, vereint mit dem sanften Bestreben edler Herzen, die Dich lieben, auch Dir einst die Tage Deines sinkenden Alters freundlich

erheitern mögen.--------

Leidende in der Kindheit. An die feierlich sanfte Empfindung, welche der Hinblick auf den Abend des Lebens in uns erregt,

an das Mitleid, welches der Zustand des Greises

*75 sind seiner Freuden, und der Gesichtskreis seiner Hoffnungen auf Erden ist eng beschrankt.

Für den

Greis hat die Welt, haben Menschen eine ganz ver­

änderte Gestalt angenommen; er mußte von Vie­ lem scheiden, was er liebte, eh' er vom Leben schei­

den kann. Freunde, Gewohnheiten, Geist seines Zeitalters , Alles gieng ihm in die öde Nacht der Vergessenheit voran, und er blieb unter den Leben­

den nur wie ein Bild aus abgeschiedner Vorzeit. O Menschenfreund, schenke Dein wärmstes Mitge­ fühl einem Zustande, dem auch Du nicht entgeh»

kannst, wenn der Tod Dich nicht in Deines Lebens

Blüthe hinrafft— mildre, so viel Dir möglich ist, dem Greise die Leiden, deren lastendes Gewicht ihm die schwerste menschliche Lebenszeit nur noch

mehr erschwert!

Tröste den Leidenden in seinem

Greiscsaltcr, damit die seeligenErinnerungen an die Milde, welche Du übtest, vereint mit dem sanften Bestreben edler Herzen, die Dich lieben, auch Dir einst die Tage Deines sinkenden Alters freundlich

erheitern mögen.--------

Leidende in der Kindheit. An die feierlich sanfte Empfindung, welche der Hinblick auf den Abend des Lebens in uns erregt,

an das Mitleid, welches der Zustand des Greises

i76 von unserm Herzen forder , kann das zarte, theil-

nehmende Gefühl bei dem Hinblick auf drS Lebens freundlichen Morgen, auf die Kindheit, sich sehr

füglich anschließen. So entgegengesetzt beide Pe­ rioden des Menschenlebens auch sind, so treffen sie doch wieder in der Ähnlichkeit zusammen,

daß

sie, weil ihre eignen Kräfte mangelhaft sind, des Beistands fremder bedürfen, daß ihr Verhältniß

Vieles hat, was ihnen Anspruch auf daS theilnehmende Gefühl der Menschen giebt, und daß, wenn

Leiden in die eine oder die andre von diesen Lebens­ perioden fallen, der Leidende vor vielen andern Unglücklichen hülfsbedürstig ist.

Wenn die

rühe Kindheit schon mit Leiden be­

kannt wird, so fließen diese immer nur aus den Be­ ziehungen her, in welchen dir unschuldigen Geschö­ pfe mit andern Menschen stehn, und dann sind es eigentlich die Verhältnisse der Letztem, welche auf

des Kindes Wohl nachtheilig wirken.

Zu dieser ge­

hören — außer dem traurigen Loos des Verwaist-

seyns, wovon im nächsten Abschnitt gesprochen wer­ den soll — eine vernachlaßigte körperliche oder gei­ stige Erziehung, schlechte Beispiele und Verführung zum Bösen, üble Aufführung der Eltern, unter

deren Folgen die Kinder leiden;

Armuth der El­

tern.

Wenn der Besitz jedes äußern Lebensglücks sehr

viel von seinem Werth verliert,

sobald er nicht

durch

i77 durch das belebende Gefühl der Gesundheit erhöht wird, so wird jeder denkende Mensch einsehn, daß

es die größte Wohllhat sey, wenn man Sorge trägt, einem menschlichen Wesen den Besitz jenes kostba­

ren Guts zu sichern, es ihm zu erhalten, und den Verlust desselben zu verhüten.

Die ersten , von welchen heilige Pflicht diese Wohlthat für das Kind fordert, sobald es nur daS Licht der Welt erblickt, sind Mütter. Es ist nicht zu berechnen, wie viel die Vorsehung in ihre Hande legte, indem sie ihnen die erste Sorge für das köri

perliche Wohl ihrer Kinder vertraute; denn nicht allein die höhere Empfänglichkeit für jedes Glück

des Lebens, sondern auch viele von seinen Bestim­ mungen, ja, oft der ganze Gang künftiger Schick­ sale desselben, hängen von einer sorgfältig bewahr­

ten , oder sorglos vernachläßigten Gesundheit des

Kindes ab. Ueber diesen reichhaltigen Gegenstand haben die edelsten Schriftsteller mehrerer Völker so viel Wahres und Vortreffliches gesagt, daß angehenden Müttern eine reiche Quelle der Belehrung in Schrif­ ten dieser Art geöffnet wird.

Vernünftiges Nach­

denken darüber, verbunden mit dem Rath einsichts­ voller und menschenfreundlicher Aerzte, Beobach­ tungsgeist, welcher der zarten Mutterliebe eigen ist, wird gute Mütter leicht auf den Weg führen, auf welchem sie für ihr Kind den, auch ihrem eignen M

178 Leben so belohnenden Gewinn einer festen körper­ lichen Gesundheit erhalten, und ihm viele Leidens­ tage im Leben ersparen können. Nächst der treuen Muttersorge ist nichts wichti­

ger für die ersten Jahre des Kindes, und also für sein ganzes Leben, zu welchem fit die Grundlage sind , als daß nur Personen, deren Herz voll Men­

schenliebe und deren Geist wenigstens ausgehellt ge­ nug ist, vernünftige Vorschriften zu befolgen, zur Wartung gewählt werden.

In manchen, oft sogar

begüterten Hausern herrscht noch die tadelhafte Gewohnheit, eine Kinderwärterinungleichgeringer

zu belohnen, als andres Hausgesinde; es ist also natürlich, daß sich nur Wenige zu diesem, an sich mühsamen Geschäft finden, und daß diese Wenigen nicht immer die empfehlungswürdigsten sind. Ueberhaupt sollte eigentlich keiner Person, die nicht selbst das Muttergefühl kannte, oder die es, frei­

willig ,

oder durch ihre Verhältnisse gezwungen,

verleugnete,

das

so

liebefordernde Geschäft der

Wartung eines Kindes anvertraut werden, sondern man könnte dazu Wittwen wählen, deren einge­

schränkte Lage ihnen die Aufnahme in ein fremdes Haus wünschenswerth und wohlthätig machte; an­

ständige

Belohnung und freundliche Behandlung

müßten ihnen verdiente Ermunterung zu ihrem Ge­

schäft werden.

Doch, auch die sorgfältigste fremde

i79 Wartung darf nicht ohne die noch sorgfältigere

Wachsamkeit guter Mütter bleiben. Ist man so glücklich, daß liebevolle und weislich genommene Maasregeln einen günstigen ®e*

sundhei-tszustand des Kindes bewirkten,

so danke

man für dieses Gelingen mit Innigkeit der Vorse­ hung ;

denn dadurch sind dem schuldlosen Kinde sür seine jetzigen und seine künftigen

viel Leiden,

Tage, erspart, und die Eltern haben!sich ein be­ gründetes Recht auf seine kindliche Dankbarkeit,

für jetzt und für immer,

erworben;

besonders

wird eine liebende Mutter sich durch den Gedanken

reich belohnt fühlen, daß ihr Kind nicht über Vernachläßigung seufzt, sondern täglich, im frohen

Genuß der Gesundheit, ihre treue Sorgfalt segnet. Wenn aber, durch ein unabwendbares Unglück, Kinder an ihrer Gesundheit, an ihrer körperlichen Bildung Schaden nehmen, so wird Niemand leug­

nen, daß ein solcher Unfall ein Leiden in ihrem sonst so glücklichen Alter sey. Ein Kind, welchem dieses traurige Loos aufer­

legt ist, befindet sich gewiß in dem Verhältniß,

daß sein Leiden unverschuldet war, und hat auf al­ len Trost Anspruch, den die reinste Menschenliebe gewahren kann.

Besonders müssen liebende Eltern

und Freunde des Hauses mit der äußersten Sorg­

falt zu verhüten suchen, daß ein Kind, welches et­ wa durch ein körperliches Gebrechen verunstaltet ist, M 2

i8o sich deswegen für minder geliebt halte; denn nichts

hat auf das Gemüth, auf die künftigen Grundsätze, auf das ganze Leben eines Menschen so ungünstigen

Einfluß, als wenn er in der Kindheit die traurige Ueberzeugung hat, sie sey nun gegründet oder nicht, daß er zurückgesetzt werde;

geschieht dies aber

wirklich, und geschieht es um eines Unfalls willen, an welchem doch der Leidende höchst unschuldig ist, welches tief gekränkte Gefühl, welche bittre Em­

pfindungen müssen dadurch in dem Herzen eines solchen Kindes entstehn! Sind Eltern, sind vollends Mütter — o, das Gefühl schaudert hier zu­

rück, aber die traurige Erfahrung lehrt es zuwei­

len — sind Mütter so ungerecht, einem Kinde

ihr« Liebe zu entziehn, weil es von der Natur oder von Menschen verwahrlost ward, so verdienen sie im ersten Fall Verachtung, im zweiten aber täg­ lich di« peinigendsten Vorwürfe ihres Gewissens dafür, daß sie einem Unschuldigen sein Unglück ent­ gelten lassen,

welches ihre Sorgfalt doch viel­

leicht am allerersten hatte verhüten können. Ein Menschenfreund, der mit einem solchen Kinde in irgend einer Beziehung steht,

suche auf

alle Weife, besonders, wenn es schon in den Jah­

ren ist, sein Leiden zu fühlen und darüber zu den­

ken , daß er es durch Theilnehmung, Liebe und Trost für seinen Verlust körperlicher Vollkommen­ heit entschädige. Vielleicht hat eö von der Natur,

i8i welche gewöhnlich da, wo sie entzieht, von einer andern Seite wieder ersetzt, vielleicht hat es einen Geist erhalten, derben körperlichen Fehler vielfach

vergütet, und wenn man diese glüclliche Entdeckung macht, dann thue man doch alles Mögliche für die Aus­ bildung eines solchen Geistes; man wird dadurch nicht

allein das künftige Lebensglück des Leidenden gesi­

chert, sondern Gutes bewirkt haben, was in seinen seligen Folgen gar nicht berechnet werden kann.— Wenn der Geist eines Kindes in der ersten Er­ ziehung vernachlaßigt wird, so ist der Schaden zwar groß, aber er ist nicht unersetzlich, sobald nur die Moralität nicht darunter gelitten hat, oder die Na­

tur-Anlagen nicht geistige versagte. In dem letz­ ten Fall wird es schwieriger, die Versäumniß wie der gut zu machen, und treue Lehrer haben diesicherste Gelegenheit, sich in der Folge ein beloh­ nendes Verdienst um die Unschuldigen zu erwerben,

für welche,

durch Sorglosigkeit oder

beschrankte

Einsichten ihrer Eltern, nur eine traurige Zukunft zu hoffen stände.

Befinden sich Kinder der Armen

in diesem Verhältniß, wie «5, leider, ungeachtet aller wohlthätigen Einrichtungen und Ordnungen

des Staats, oft der Fall ist, so handeln Menschen­ freunde unaussprechlich wohlthätig, wenn sie durch Unterstützung, durch Fürsprache, durch Anhalten der Eltern, Beste

die Wohlthaten des Staats für da§

ihrer Kinder zu benutzen,

wenn sie sogar

182 durch Strenge gegen gewissenlose Eltern die un­ glücklichen Kinder einem gegenwärtigen, wennauch nicht immer von ihnen tiefgefühlten Leiden,

und

dem zukünftigen, gewissen Verderben entreissen. — Auch die tugendhaftesten Eltern können das Unglück haben, daß ihre Kinder, durch böse Bei­

spiele , oder durch Verführung, verdorben werden, und das Unglück einer ganzen Lebenszeit kann für

Eltern und Kinder die traurige Folge davon seyn. Wenn das Uebel schon da ist, so wird es sehr schwer, seinen Fortgang zu hemmen; ungleich mehr hat man gewonnen, wenn es verhütet werden kann.

Zwar ist das Kind an sich selbst nicht im Stande, zu beurtheilen,

welches eigentlich böse Beispiele

sind, außer vielleicht in den gewöhnlichen Fehlern seines Alters; über gefährlichere kann cs noch nicht

entscheiden, weil es mit dem Laster nicht bekannt ist, und gerade diese glückliche Unwissenheit die Un­ schuld seines Alters ausmacht.

Aber man kann ein

Kind leicht vor dem Schaden bewahren, den es durch böse Beispiele oder Verführung andrer Kin­

der,

oder auch altrer Personen,

z. B. schlechtes

Gesindes, ausgesetzt ist. Der sicherste Weg hierzu bleibt der, daß man es, so früh es nur immer Eindrücke des Verstandes annehmen kann, dahin gewöhne, nieetwas, auch die unbedeutcndsteKleiniakeit nicht, vor seinen Eltern zu verbergen; daß man

auf das angelegentlichste dafür sorge, den Glauben

i83 in seinem noch zarten Herzen zu befestigen:

Alles,

was den Eltern oder Lehrern verborgen bleiben solle, sey böse Handlung, und Jeder, der ein solches Geheimniß sich von einem Kinde ausbedingen könne, sey ein böses Kind, oder ein böser Mensch. Hat

des Kindes Herz diesen festen Glauben, und ist es daran gewöhnt, den Eltern nie etwas zu verschwei­ gen ,

so wird jeder üble Eindruck von außen her

viel von seiner Kraft verlieren, weil das Kind schon einen verachtenden Begriff von demjenigen bekommt, welcher Verheimlichung von ihm verlangt, und daS

Uebel kann nicht um sich greifen, da es den Eltern

oder Lehrern augenblicklich durch des Kindes Offen­

heit bekannt wird, also schnell die wirksamen Maasregeln dagegen getroffen werden können. — Es war ein schöner, bedeutungsvoller Grundsatz in

der Erziehungsweise der alten Perser, daß sie, vor allem Andern, zuerst ihren Kindern die strengste Wahrheitsliebe einflößten — diese schöne Tugend

wird im jugendlichen Herzen die sicherste Grundla­ ge zu allen andern. Hat aber das giftige Saamenkorn des üblen

Beispiels oder der Verführung schon Wurzel gefaßt, so handelt derjenige, welcher in dem Verhältniß als Verwandter, Hausfreund, Lehrer, diese Ent­

deckung macht,

nicht allein höchst menschenfreund­

lich, sondern auch der Pflicht gemäß, wenn er Alles anwendet, was in seinen Kräften steht, einen klei-

134 nen Unglücklichen der ihm so nahestehenden, so dro­

henden Gefahr zu entzieh», und ihn aus allen Ver­ hältnissen mit den Feinden der Ruh seines ganzen Wenn auch eines solchen Men­ schenfreundes edle Absicht nicht gleich erkannt wird,

Lebens zu setzen.

wenn sie vielleicht sogar anfänglich mit einigem Un­ willen ausgenommen würde, weil die meisten El­ tern nur höchst gezwungen das Nachtheilige von

ihren Kindern glauben, so lasse er sich nicht abschre­ cken; er handelt für eine heilige Angelegenheit der Menschheit, und gelingt seine edle Bemühung, so

hat er nicht eine Seele nur, er hat mehrere geret­ tet, die jjenes unglückliche Kind, als künftiger La­ sterhafter, ebenfalls ins Verderben gestürzt hatte. Ueberhaupt ist, zur Verhütung des Schadens

durch böse Beispiele oder Verführung,

die Regel

sehr zu empfehlen, daß man Kindern nie das Bei­ sammenseyn blos unter sich, oder mit Menschen der weniger gesitteten Stände zulasse, ohne daß eine

Person von anerkannt guten Grundsätzen, sobald die Eltern nicht zugegen seyn können, die Aufsicht über sie habe; Vorsicht

viel Böses wird durch eine solche

vermieden,

viel unbemerkte

von denen!das Kind täglich umgeben.ist.

Gefahren, Aucher­

laube man nicht, daß Kinder die Einsamkeit suchen,

die ihnen niemals nützlich, wohl aber schädlich wer­

den kann — die Vorsehung hat, zu den weisesten

185 Absichten,

gerade in Kinderherzen den Trieb zur

Geselligkeit am lebhaftesten gelegt. Uebrigens ist das eben geschilderte Verhältniß des Kindes ein drückenderes Leiden für dasselbe, als man glaubt; denn es empfindet, nach seinem Maas, alle bittre Gefühle, die mit dem beginnen­ den oder fortgehenden Laster verbunden sind: äng­

stenden Kampf bei dem ersten Schritt zum Bösen, Furcht vor Entdeckung, Reue, Gewissensvorwür­

fe — wer wollte nicht gern alles Mögliche thun, einem menschlichen Herzen diese quälenden Empfin­ dungen zu ersparen? — Fast rettungslos unglücklich ist ein Kind, wel­ chem Eltern die Beispiele schlechter Grundsätze, wohl

gar schlechter Handlungen geben,

und noch ret­

tungsloser ist.diese Gefahr, wenn sie sich in Stän­

den findet, welche schon zu den bessern gehören, und wo nicht, wie im niedern Stande, obrigkeit­ liche oder andre Maasregeln gegen eine solche Un­ ordnung genommen werden können. Auf den ersten

Anblick sollte man nicht glauben, daß sie möglich wäre; aber sind leichtsinnige, unanständige Reden, Spöttereien über religiöse Gegenstände,

die man

sich in Gegenwart der Kinder erlaubt, ist Trunkenheit, unsittliches Leben, welches die natürliche Neugier des Kindes leicht, wenn auch nur noch dunkel, wahrnimmt, ist dies Alles nicht böses Beispiel und Verführung? —

i86 Hier kann die bessere Menschheit nur seufzen; hier können nur Edle,

die eine gewisse Autorität

über die Eltern selbst haben, oder von denen viel­ leicht ihr zeitliches Glück jetzt oder künftig abhangt, mit Wirksamkeit handeln;

hier können nur treue,

indem sie der jungen Seele den höchsten Abscheu vor dem Laster, die reinste Liebe für die Tugend einzuflößen suchen, hier kön­ gewissenhafte Lehrer,

im Stillen warnende Freunde der kleinen Unglücklichen, ihre rettenden Schutzengel nen nur edle,

werden. —

Aber wie bedenklich, wie schwierig ist

das Geschäft, Kinder vor den Untugenden ihrer El­ tern zu warnen, wie sehr gewiß geht, auch bei dem

glücklichsten Erfolg , für jene eine so hohe Seligkeit desLebens, die kindliche Liebe, verloren! — Ein hartes Loos ist es für Kinder, wenn ihre

Eltern sich solcher Vergehungen gegen die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, schuldig machen, wo­

durch sie gerechten aber strengen Strafen ausgesetzt werden , die sie den Ihrigen auf eine lange Zeit, vielleicht auf immer, entreissen, die Sorge für daS Wohl derselben, unmöglich machen, und das Erbtheil, kann ,

welches der Aermste seinen Kindern lassen oft auch ^wirklich laßt, das Erbtheil eines

unbefleckten Namens den Ihrigen rauben. — Den­ noch, ewiger Dank sei den milden Fürsten, den Ed­

len, den Weisen, den wahrhaft Frommen, welche alle, seit längerer glücklicher Zeit schon, es ihr schö-

187 nes Geschäft seyn ließen, den Geist der Menschen­ liebe, der wahren Aufklärung, der christlichen Dul­

dung, immer mehr zu verbreiten — solcher unglück­ lichen Kinder erbarmt sich der Staat, erbarmen sich wohlthätige Vereine von Menschenfreunden, in den mehrsten Fällen. — Möchten dergleichen, des wärmsten Lobes so würdige Einrichtungen täglich

kräftigere Unterstützung und seegnendes Gedeihen finden! — Armuth der Eltern macht ihre Kinder mit vie­

len, frühen Leiden des Lebens bekannt, von denen glücklichere Menschen selten einen vollständigen Be­ griff haben; besonders schmerzhaft wird das Ge­ fühl dieser unschuldigen Geschöpfe, wenn sie in ei­

nem Stande geboren sind, der sie zu einigen An­ sprüchen berechtigt, oder wenn sie schon Einsicht und Erinnerungsvermögen genug haben, zu wissen, daß

die Lage ihrer Eltern, und die ihrige, einst glück­ licher war. — Es ist in dem Abschnitt, welcher

von Leiden der Armen handelte, nicht ausführlich über die Erziehung ihrer Kinder gesprochen worden, weil dieser Gegenstand hier

seinen Platz finden

sollte. Unter allen-Wohlthaten, die Du, o Menschen­

freund , dem gefühlvollen Armen erzeigen kannst, ist keine größer, als die, daß Du strebest, seinen

Kindern wohlzuthun, ihr beschützender Freund, ihr künftiger Versorger zu werden. In dem Wort

188 Versorger liegt anscheinend viel, was schwierig auszuführen ist, und, es auf unmittelbare -Weise

auszuführen, steht auch nur in den Kräften weniger Beglückten; aber dann sorgst Du auf mittelbare Art für die Zukunft eines Unschuldigen, wenn Du

dazu beiträgst, es sey in welcher Art es wolle, daß in seiner Kindheit der Grund zu nützlichen Kenntnisien in ihm gelegt werde, wodurch er seinen Unter­ halt, auf eine löbliche Weise, für sein ganzes übri­

ges Leben erwerben, und der menschlichen Gesell­ schaft ein brauchbares, ost sehr vorzügliches Mit­ glied werden kann. Der Schöpfer, dessen Wege wir immer, auch

da wo sie uns dunkel sind, anbetend verehren müs­ sen , der weise Schöpfer läßt oft in Familien der Armen, oder in dem unbemerkten Stande, der zu­ nächst an Armuth gränzt, Kinder geboren werden,

welche dem edelsten Hause,

wo edle Gesinnungen

erblich waren, welche dem Besitzer reicher Glücks­ güter, dessen Herz Gefühl für innern Werth be­ wahrte, ein kostbares, höchst erwünschtes Geschenk

der Vorsehung geworden wären.

Durch ihrer El­

tern Armuth, oder doch sehr beschrankte Lage, scheint das Leben solcher Kinder nur zu dunkler Verborgen­ heit, ihr Andenken nur zu ewiger Vergessenheit be­

stimmt zu seyn, und doch — welche edle Anlagen des Geistes, welche Talente, die einst, emporstre­ bend, über unzählige Schwierigkeiten siegen wer-

i89 den, geben ihnen den geheiligten Anspruch auf künf­ tige Größe, auf gewisse Unsterblichkeit? —

O Menschenfreund — glaube einem Herzen, dessen süßestes Geschäft einst die Beobachtung der Gefühle in schönen jugendlichen Seelen war * — sehr schmerzhaft ist das Leiden einer solchen Seele, wenn sie das Sehnen fühlt nach einem un­

bekannten Ziele, wohin noch kein liebevoller Führer sie leitete;

wenn sie mit gehaltvollen Ahnungen

ihren Blick nach einem Heiligthum richtet, welches

noch Niemand ihr ausschloß; wenn sie schmachtenden Durst fühlt nach Ausbildung, nach Wissen, nach Vollkommenheit, deren lebendigströmende Quelle

noch keine wohlthätige Hand ihr öffnete! — Wenn den verzärtelten Kindern des Glücks nur Rosen auf ihren Weg gestreut werden, die sie oft undankbar in den Staub treten, so bieten sich den Kindern der Armen vielfältige Dornen, die ihren Weg mühvoller machen, und sie zurückschrecken könnten, wenn

der wahrhaft große Geist, das ächte Talent sich niederdrücken ließe. Welche Schwierigkeiten setzen sich entgegen, eh' ein solches hoffnungsvolles Kind zum ausgezeichneten Jüngling aufblühn kann!

Und

wenn es nun geschah, wie vielen Muth bedarf der

Als Vorsteherin des ersten ,

unter dem Schutz deS verewig­

ten Ministers v. Massow gestifteten, Seminarium für Trzieherinnen;

im Jahr 1804. gegründet.

edle Sohn der Armuth nicht, um nicht auf halbem Wege zu der Höhe stehn zu bleiben , die sein Auge

jetzt nur erblickte, und die er nun sehnsuchtsvoll» ler strebt zu erreichen — wie sehr bedarf er jetzt, daß der kraftvolle Arm mächtiger Beschützer ihn zu

seiner wahren, großen Bestimmung weiter führe, in seinem Fortgänge ihn unterstütze, daß ihre bedeu­

tende Stimme über seinen edlen Beruf günstige,

vollendende Entscheidung ausspreche! — Auf einen so edlen Gegenstand, Du sanfte­ ster Freund der Menschheit, Freund der Kindheit und der Jugend, auf ihn vorzüglich wende das schöne Gefühl Deines Herzens,

die Aufmerksam­

keit Deines prüfenden Geistes, die Wohlthat, wel­ che Deine Hand vermag, und welche sich auf da§ reichste belohnen wird. — SJlit stillem Trauern

würdest Du sehn, daß der zarte Sprosse eines ed­ len Fruchtbaums in der Sandwüste stände, wo er langsam vergehn müßte, oder wohin, wenn er noch

Früchte trüge,

doch Niemand käme,

sich seines

kühlenden Schattens, seiner prangenden Blüthen, seiner labenden Frucht zu erfreuen — wie unendlich viel mehr, wie viel belohnender werden die Früchte

eines edlen,

gebildeten Geistes in Deinen Augen

seyn ! — Oft bedarf es nur einer geringen Hül­ se — .wenigstens in Vergleichung mit dem Glück, welches die milde Vorsehung Dir gab, ist sie gering

zu nennen — um einen seltnen Geist, ein große-

ryr Herz, im unbemerkten und doch so vorzüglichen Kinde des Armen, zum Segen für die Welt, aus

der Dunkelheit zu ziehn, und alles Gute und Große,

was dieser Zögling Deiner Menschenliebe in seinem künftigen Wirkungskreise stiftet, Alles, was er für

die Nachwelt gründet, ist in allen seinen beglü­ ckenden Folgen dann auch Dein o Du, der Ehr­ furcht würdiger Menschenfreund!— Gesetzt aber auch, Du erreichtest nicht immer ein solches Ziel; gesetzt, eine schöne Belohnung

der Wohlthätigkeit, durch welche Du dem Kinde des Armen ein Vater wirst, wäre Dir nicht im­

mer aufbehalten, so ist doch Deine Handlung darum nicht minder verdienstlich, nicht minder be­ glückend, weil ihr Erfolg minder glänzend ist, und weil ihre seegnenden Folgen mehr in der be­

scheidnen Stille eines kleinern Wirkungskreises blei­ ben. Jener fleißige Bürger, den Du in seiner

Kindheit zu Kenntnissen, die ihm dienen, und zu erwerbender Thätigkeit erziehn ließest, nützt nun,

in seinem Stande,

ehrwürdig

sich

selbst,

und

den ©einigen.

dem Vaterland, Ohne Deine

wohlthätige Hülfe wäre er vielleicht ein schädliches

Glied der menschlichen Gesellschaft, die Schande ei­ ner redlichen Familie und bekümmerter Eltern ge­

worden ;

er wäre vielleicht ein Müßiggänger,

in

selbstverschuldete Dürftigkeit und alle ihre trauri­

gen Folgen versunken — jetzt ist er ein thätiger und

IY2 geschickter

Arbeiter,

ein pflichtvoller Sohn,

ein

glücklicher Ehegatte, ein zufriedner Hausvater, ge­ liebt von den ©einigen, geachtet in seinem eignen bescheidnen Stande, und von würdigen Menschen

des

höheren. —

Was

würde

jenes

Mädchen,

welches Du in ihrer frühen Kindheit zur Arbeitsam­ keit und Tugend erzieh» ließest, oder selbst erzogest, was würde es ohne Deine Hülfe geworden seyn? —

Vielleicht eine Last unvermögender Eltern, oder ein Raub der Dürftigkeit, oder— was noch schreckli­ cher ist—des Leichtsinns und der Verführung;

sie

wäre vielleicht von Stufe zu Stufe des Lasters, bis in feinen tiefsten Abgrund gesunken; sie hatte vielleicht in Schande und Verzweiflung ein Leben geendet, welches ihr und Andern nur Unsegen ward.

Jetzt ist sie eine liebevolle Tochter, eine Pflegerin, vielleicht Versorgerin des schwachen Vaters, der kränklichen Mutter, eine thätige Arbeiterin, eine wirthliche, glückliche Hausfrau, eine treue, sorg­ liche Mutter,

ein Vorbild stiller Tugend in dem

kleinen Kreise der Ihrigen.— Guter, edler Men­ schenfreund , wennauch ein Mal nur im Lebenein

so schöner Erfolg Dein Wohlthun belohnte, wie sehr mußte Dein Schöpfer Dich lieben, daß er so Dich

auszeichnete mit dem

köstlichen Geschenk,

Menschenglück für Zeit und Ewigkeit gegründet zu

haben!

Nie wirst Du hier auf Erden die Kette des

Guten absehn, von welcher Dein menschenfreund­ liches

$93 liäjti Wohlwollen das erste Glied ward. —

denen

Du wohlthatest,

Hilfsbedürftigen

können

Wohlthäter

Jene,

wieder andrer

werden,

und so

pflanzt sich das Gute fort, in seinen schönen Wir­

kungen ,

deren ersten Keim Deine Hand ge­

legt hat. Wenn indessen die nächsten Mittel zu einem so

edlen Endzweck, wenn Güter des Glücks den mei­ sten Menschen von gefühlvollem Herzen versagt sind, so bleiben ihnen doch noch andre, und vielleicht ver­ dienstlichere Mittel, den Kindern der Armen, be­

sonders aus gebildetern Standen, eine für ihr gan­

zes Leben nützende Wohlthat zu erzeigen. Sie bleiben Dir, sittlicher, fleißiger Jüngling, Dir, würdiger, thätiger Mann, dessen Herz so gern, wenn es möglich wäre, das Glück aller seiner Mit­ menschen gründete, den aber sein bescheidner Glücks­ stand nur aus bescheidne Wünsche einschränkt —

auch Dir bleiben sie, gesühlvolles Mädchen, wel­ che , mit dem großmüthigen Herzen einer Fürstin geboren, vielleicht für sich Wohlthaten annehmen oder doch wünschen muß, wenn sie mit viel süßerer

Freude welche vertheilte, oder die doch, in be­ schrankten Verhältnissen, ihre blühende Jugend un­ ter vielen Entsagungen zubringt. —

Habt ihr

Lehrergabe — und hierzu bedarf es nur einer em­

pfindenden Seele,

es bedarf nicht vielfältiger, aber durchdachter Kenntnisse — so weiht einige N

194 eurer Stunden jener sanften Beschäftigung mit dem Kinde des Armen; gebt ihm, statt aller andern Wohlthar, das Geschenk, irgend eine nützliche Kenntniß von euch zu lernen,

und gewiß wird ihm diese, im Fortgang seines Lebens, mehr werth

seyn, als jede andre Gabe, die ihr nur sehr einge­ schränkt, und doch nur mit eigner Beraubung er­ theilen könntet. Besonders Deinem Leben, gu­

tes , sanftes Mädchen» wird jede fromme Hand­ lung dieser Art eine neue, schöne Blume in dem Kranz stiller Tugend werden —

blühe Du dann

immer, dem bescheidnen Veilchen gleich, in freund­ licher Verborgenheit; selten oder nie gesehn von den Müßigen und Eitlen , sey Du, statt von schmei­ chelnden Thoren, hier von liebenden Kindern der Armen umgeben. Jede That der Menschenliebe fin­ det, früher oder später, ihre schöne Belohnung — weise und edle Menschen werden in Deiner süßen

Stille Dich finden; ihnen wirst Du bekannt wer­ den durch Tugend, wie das Veilchen, auch unter dem Schatten des dichten Laubdachs , sich durch sei­

nen balsamischen Duft verräth; das Herz eines ed­ len Mannes wird Dich finden, zu seiner eignen Glückseligkeit und zu der Deinen.

Wäre aber

dies nicht, so ist Dein Leben dennoch schön, wenn es auf eine so edle Art Dir und Andern wohlthätig

wird — Engel werden mit Wonne Dich ihre ver­ schwisterte Freundin nennen, und das Vaterauge

Deines

Schöpfer-

wird mit Segen

auf Dich

blicken. — Auch ihr, würdige Väter und Mütter unter

den Glücklichen — wenn Gott euch die schöne Ab­ ficht und die Mittel gab,

eure Kinder durch ein-

fichtsvolle Lehrer zu Allem bilden zu lassen, gut und tugendhaft ist,

was

so gönnt dem hoffnungs-

vollen Kinde des Armen, das seine liebste, vielleicht seine einzige Freude auf Erden ist, gönntdem Kin­

de des Armen im gebildeten Stande, der nur schmerz­ hafter seufzt, weil er oft verschwiegen seufzen muß, ebenfalls einen Antheil an jenem, nie genug zu schätzenden Vorzug der Eurigen; laßt ihm, wenn es seyn kann, die Theilnahme an ihren nützlichen

Lehrstunden zu; unterstützt es in den kleinen Be­ dürfnissen, die zu seinem Unterricht erforderlich sind! Für euch find diese Bedürfnisse so leicht zu gewäh­ re^ — dem Kinde der Armuth wird ihr Mangel oft

ein Hinderniß im Fortgang des Guten; unbegü­ terten Eltern wird die Sorge dafür oft ein stiller

Kummer mehr. Der gefühlvolle, der weise Mensch kann es sich nicht zu oft wiederholen: eine noch so unbeträchtlich scheinende Hülfe, eine günstige Rich­

tung ,

die den Wünschen und Empfindungen des

Herzens zu rechter Zeit gegeben wird — und welche bessere Zeit gäbe es dazu, als die Kindheit? — hat den unbedingtesten Einfluß auf die Grundsätze und

auf den ganzen Gang des Lebens eines Menschen; R 2

iy6 das unsichtbare Walten der höchsten Weisheit kettet

diesen Einfluß an die Ewigkeit. Du, Edler, welcher den schönsten Vorzug der

Menschheit, ein empfindendes Herz, besitzt, bist Du dem Kinde des tugendhaften Armen ein väterlicher Wohlthäter, «in Beschützer geworden, so wird der

süße Lohn Deiner Menschenliebe in einer schönen Zukunft Dir aufblühn; mehr als Alles mögen aber die göttlichen Worte des erhabensten Menschen­ freundes Dich belohnen: wer ein solches Kind auf­ nimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.—

Waisen in ihren verschiednen Verhältnissen; öffentliche wohlthätige Anstalten für sie. Wenn von Kindern die Rede ist,

über deren

frühen Lebensmorgen schon der Kummer seine dunk­ len Gewölke verbreitete, so werden denkende und empfindende Menschen,

besonders solche,

deren

Herz ganz für die Seligkeit elterlicher oder kindli­

cher Liebe geschaffen ist, gewiß die Kinder am in­

nigsten bedauern, welche so unglücklich waren, in dieser frühen Lebenszeit ihre liebenden Eltern, ihre gütigen Versorger zu verlieren. Waisen, auch wenn die reichsten Güter des Glücks ihr Erbtheil

waren,

haben immer unersetzlich viel verloren —

iy6 das unsichtbare Walten der höchsten Weisheit kettet

diesen Einfluß an die Ewigkeit. Du, Edler, welcher den schönsten Vorzug der

Menschheit, ein empfindendes Herz, besitzt, bist Du dem Kinde des tugendhaften Armen ein väterlicher Wohlthäter, «in Beschützer geworden, so wird der

süße Lohn Deiner Menschenliebe in einer schönen Zukunft Dir aufblühn; mehr als Alles mögen aber die göttlichen Worte des erhabensten Menschen­ freundes Dich belohnen: wer ein solches Kind auf­ nimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.—

Waisen in ihren verschiednen Verhältnissen; öffentliche wohlthätige Anstalten für sie. Wenn von Kindern die Rede ist,

über deren

frühen Lebensmorgen schon der Kummer seine dunk­ len Gewölke verbreitete, so werden denkende und empfindende Menschen,

besonders solche,

deren

Herz ganz für die Seligkeit elterlicher oder kindli­

cher Liebe geschaffen ist, gewiß die Kinder am in­

nigsten bedauern, welche so unglücklich waren, in dieser frühen Lebenszeit ihre liebenden Eltern, ihre gütigen Versorger zu verlieren. Waisen, auch wenn die reichsten Güter des Glücks ihr Erbtheil

waren,

haben immer unersetzlich viel verloren —

die gewissenhaftesten Vormünder, die treusten Für­

sorger , können ihnen doch die Seligkeit nicht wie­ der geben, die das Kind in der Liebe zärtlicher El­ ternherzen findet. — O, welcher gute Mensch wür­ de di» feierliche Wahrheit leugnen, daß das Grab

unsrer Eltern eine traurige Scheidewand zwischen uns und vielen der reinsten unsrer Freuden sey ? — Wer kann so liebevoll berechnete Entwürfe für unsre

Zukunft machen, als Eltern;

wer opfert mit sol­

cher Hingebung Alles für das Wohl geliebter Kin­

der, wie sie? —

Aber wie viel unglücklicher noch sind Waisen, wenn sie, bei einem der schwersten Leiden, welches die Kindheit treffen kann, auch noch das drückende Leiden hülfloser Armuth zu ertragest haben! Nächst

Gott, bleibt ihnen dann keine andre Zuflucht, als das Erbarmen ihrer Verwandten, oder Fremder, oder des gütigen Vaterlands; ihr Glück steht dann einzig in den Handen derer, welchen sie anvertraut

werden, und weh ihnen, wenn diese nicht ein Herz voll heiliger Menschenliebe besitzen! —

Wenn verwaisten Kindern ein reicher Besitz zeit­ licher Glücksgüter zum Erbtheil bleibt, so haben treue Vormünder dadurch wichtige Pflichten

auf

sich, deren Umfang größer und mannichsaltiger ist,

als er vielleicht im gewöhnlichen Leben berechnet wird.

198 Das Vermögen seiner Mündel sicher «nd vortheilhaft stellen, es durch weise Verwaltung zu ver­ größern suchen; für anständige «nd zweckmäßige

Erziehung der Verwaisten sorgen;

in der Wahl

der Personen behutsam seyn, denen man, mit der

Erziehung zugleich, ihr jetziges und künftiges Wohl anvertraut, auf ihre Sittlichkeit ein wachsames Augenmerk richten; dies Alles sind schon mühevolle Pflichten eines Vormunds, und doch ist sein heili­ ges Geschäft noch nicht ganz durch ihre Erfüllung

vollendet. Bei den vorsichtigsten Maasregeln,

welche

menschliche Klugheit nehmen kann, ist doch ein be­ deutender, auch wohl gänzlicher Verlust des Ver­ mögens ein Unfall,

der sich leicht zutragen kann,

und wovon man täglich die Erfahrung sieht. Es ist daher die menschenfreundlichste und weiseste Für­ sorge eines Vormunds, wenn er reiche Mündel mit

dem Gedanken vertraut macht, daß sie, durch un­ vorhergesehene Schicksale, minder begütert, viel­ leicht sogar arm werden könnten, und wenn er de»

Plan ihrer Erziehung so anlegt, daß sie, in einem solchen Fall, Hülfsquellen in ihren erworbnen Kenntnissen,

oder in ihrem Fleiß fänden.

Diese

Vorsichtsmaaßregel gilt mehr von der weiblichen, als von der männlichen Erziehung, weil jeder jun­ ge Mann doch ein Fach wählt, durch welches er,

unabhängig von seinem eignen Vermögen,

seinen

»99 Unterhalt gewinnt; eine Frau aber ist, vielleicht als Gattin eines unwirthlichen Mannes, alö Witt­

we mit einer zahlreichen Familie, auch wohl au§ Unkunde der Führung ihrer Angelegenheiten, dem Verarmen leichter ausgesetzt, als ein Mann, und wehe ihr, wenn sie in einem solchen Fall keine Hülfe in sich selbst findet. Eben so wohlthätig Han«

delt ein Vormund, welcher reiche Mündel an eine vernünftige Beschränkung ihrer Ausgaben, an Liebe zur-Wirthlichkeit und Einfachheit gewöhnt; er be­ reichert sie dadurch für ihr ganzes künftiges Leben, und verschafft ihnen frühzeitig den kostbarsten Besitz,

die Zufriedenheit. —

Aber auch hier,

wie in andern Sachen,

der goldne Mittelweg der richtigste.

ist

Es ist ver«

nünftig, wenn ein Reicher Sparsamkeit gelernt hat; denn ohne sie würde er nicht lange reich

bleiben; hängt er aber sein Herz zu sehr an die Vermehrung seiner Glücksgüter, so ist er auf dem sichersten Wege zum Geiz, und vor diesem, die schönsten Empfindungen tödtenden Uebel behüte

doch der gütige Gott alle, Herzen!

besonders jugendliche

Der engherzige Geizige, und der selbst­

süchtige Verschwender,

sind

beide nur schädliche

Schmarotzerpflanzen im schönen Garten der Mensch­ heit, zu dessen Heil man wünschen möchte, beide wären nicht da.

200 Wem also die Führung

der ersten Erziehung

begüterter Mündel übergeben ist, der gewöhne sie, so früh als möglich, an einen großmüthigen, edlen Sinn, der, nach dem Willen der Vorsehung, im­

mer mit dem Reichthum Hand in Hand gehn sollte. Man lehre sie früh, den wahren Werth der Glücks­

güter richtig zu schätzen;

man zeige ihnen, sobald

sie nur einiger Ansicht davon fähig sind, was zu Ausgaben der Nothwendigkeit, des wirklichen An­

standes, und des schuldlosen Vergnügens erfordert werden kann; früh aber, um des künftigen schönen Glücks der jugendlichen Seele, und um des Glücks vieler Andern willen, früh lasse man sie kleine Summen zu Handlungen der Wohlthätigkeit nie­ derlegen, und haben sie nur erst einige solcher Hand­

lungen geübt, haben sie nur einige Mal den Dank getrösteter Leidenden geerndtet, die Segensthräne im Auge geretteter Unglücklichen gesehn, gewiß, so wird ihr junges Herz das reinste Entzücken fühlen,

freiwillig werden sie die Summen verdoppeln. — Wird dieser, jugendlichen Seelen so natürliche Hang zum Wohlthun mit richtiger Einsicht geleitet, so wird er, außer dem vielfachen Lebensglück, wel­ ches er ihnen und andern gewährt, noch das sicher­ ste Derwahrungsmittel gegen das schädliche Laster

der Verschwendung, und gegen das Laster eines niedrigen Geizes für sie seyn, wenn sie einst unum­ schränkt über ihr Erbe gebieten dürfen. Heil dem

201 edlen Führer

verwaister

Kindheit und Jugend,

welcher denen, die seiner Leitung anvertraut wur-, den, ein so wahres Lebensglück, ein so reiches Erbe

im bessern Leben bereitete! — Waisen, welche von ihren Eltern in dem be­

drängten Zustande der Armuth zurückgelassen wur­ den , sind theils in der Lage, daß sie einen Zusiuchtsort in Häusern ihrer Verwandten oder an­

theils nimmt sie das Mitleid des Vaterlandes in seine wohlthätigen An­

drer Freunde suchen müssen;

stalten auf. —

Es scheint, daß allen Waisen, welche in die Häuser ihrer Verwandten ausgenommen werden, wohl ein freundlicher Schutz gesichert ist, der ihnen eine glückliche, oder doch kummerlose Zukunft ver­

heißt; es scheint also nicht, als wären, außerdem

Verlust ihrer Eltern, noch andre Leiden ihr Loos;

aber wie vielbedeutend wird in ihrer Lage oft das Wort, „es scheint"! —

Wer schon verschiedne

Lebenserfahrungen gemacht hat, der wird zuge­ stehn, es sey nicht selten, daß für arme verwaiste Kinder der Aufenthalt in den Häusern mancher Ver­ wandten ein bedauernswerthes Loos zu nennen ist. Ost wird das Gefühl der Unschuldigen ohne Scho­

nung gekränkt; oft wiegen ihre verborgenen Thrä­ nen die sogenannten Wohlthaten, die nur Gaben, durch Nothwendigkeit abgedrungen, nicht Gaben

der Liebe sind, zehnfach auf, und ihr Herz ist schon

202 in den sonst frohen Tagen der Kindheit, in der sonst

schönen Blüthe der Jugend, von einem lastenden

Kummer gedrückt.

Dieser Art des Leidens ist um

so schwerer abzuhelfen, da die Verhältnisse ost hin­

dern, daß es bekannt werden kann, und da, wenn es Menschen von edlem Gefühl nun endlich ahnen oder auch kennen,

eben dies Gefühl sie von der

Einmischung in das Innere der Familie, so lange als nur möglich, zurückhält, und es ihnen zu einem

schweren Geschäft macht, selbst zur Vertheidigung der Unschuldigen, in die, übrigens geheiligten Rechte der Verwandtschaft Eingriffe zu thun.

Aber

oft werden diese Rechte unverantwortlich gemiß­ braucht, und unter diesem Mißbrauch seufzen junge Unglückliche,

die schon genug durch ihr trauriges

Geschick gebeugt wurden; oft werden sie mit Härte, oder doch mit fühlloser Kälte von denen behandelt,

mit welchen sie durch Bande des Bluts verbunden sind — bei Fremden hätten sie wenigstens sanftes

Mitgefühl, liebevolles Theilnehmen gefunden.

Für

den gefühlvollen ist es wahrer Schmerz, wenn er im menschlichen Herzen, das zu so schönen Bestim« mungen erschaffen ward, so ganz ihnen entgegen­

gesetzte Seiten wahrnehmen muß; aber manche sanfte Seele wird sich hier die Erfahrungen zurückrufen, welche sie, oder ihre Freunde, in einer so

unglücklich verlebten Kindheit oder Jugend gemacht ha­

ben, vielleicht jetzt noch machen, und seufzend werden

203 sie sagen: traurig sind diese Wahrnehmungen, aber sie sind gegründet. Auch das gefühlvollste Herz kann Leiden dieser

Art nur in die Hand der rettenden Vorsehung über­ gehen; es kann nur suchen, durch Trost und Lin­ derung , die das zarteste Gefühl ihm eingeben muß, den Druck der Leiden solcher jungen Unglücklichen

im Stillen zu lindern. — Wer aber günstigere Gelegenheit, wer das Recht und den Einfluß hat, mit Nachdruck für das Aufhören ihres Kummers zu

handeln, o, der handle doch für sie, thätig und mitempsindend, wie es der Edle immer für die Ret­

tung der Unterdrückten thut! —

Liebevolle Verwandte, oder ihr, welche der heilige Bund der Freundschaft einem Entschlafnen einst durch Seelenbande verbrüderte — wer von euch sich seines verwaisten Kindes annimmt, der

thue eS doch von Herzen, so wird nie ein schuld­ loses Auge Thränen weinen, ' die jede Wohl­ that viel zu sehr über ihren Werth erkaufen, als daß sie dann noch Wohlthat bliebe. Ihr, o Guten, empfindet gewiß, wie fast unmöglich es

wird, Elternliebe zu ersetzen,

wie viel Veranlas­

sungen das Leben herbeisührt,

wo Verwaiste doch

die treue Vatcrsorge, die innige, ganz hingegebne Liebe der Mutter vermissen können, wie viel theu­ re Wünsche ihr Herz, vielleicht auf immer, in sei­ nem Innern verschließt, das sich nur vor Eltern

204 ganz zwanglos aufschließen würde.

Ihr werdet

ihnen gewiß diese stillen, unvermeidlichen Leiden ihres Verhältnisses anrechnen; ihr werdet sie vor solchen schützen,, die ihnen erspart werden können, und, wenn der Menschenliebe sanfte Stimme ge­ hört wird, erspart werden müssen; ihr werdet,

wo es euch nur möglich ist, die schmerzhaften Thrä­

nen, welche diese Waisen dem Andenken an Gra­ ber ihrer Eltern einst weinten, in sanfte Thränen

der Ergebung verwandeln,

welche Gottes weise

Fügungen ehren. Ihr tratet in der Eltern Stelle, ihr übernähmet die Pflichten derselben — willig

werdet ihr die erste dieser Pflichten, elterliche Liebe, erfüllen, und in der Liebe für die Lebenden werdet ihr das sanfte, die Menschheit ehrende Gefühl für

das Andenken der Entschlafnen beweisen. Sie schlummern in der stillen Nacht ihrer Gräber — sie

können jetzt nicht mehr ihren Lieben wohlthun, nicht mehr sie sorglich schützend durch das Leben führen. —

Sie schieden vom Leben, und ihr Theuerstes ließen ihr werdet dieses Erbtheil ehren; ihr werdet schon hier auf Erden einer bessern Welt nä­ sie euch;

her stehn, weil dort vollendete Verklärte euch seg­ nen. — Wo ein gütiges,

für alle seine Kinder nach

Möglichkeit sorgendes Vaterland sich unglücklicher

Verwaisten erbarmt, und sie in Zufluchtsörter auf­ nimmt ,

welche die Menschenliebe ihnen heiligte,

205 da sind edle Vorsteher solcher frommen Stiftungen, da sind treue Aufseher und Verpfleger in solchen An­

stalten, sie alle sind nun Eltern dieser Waisen; ih­ nen vertraute Gott, Menschheit und Vaterland das heilige Geschäft,

so viel es möglich ist, Ersatz für

Elternliebe zu geben. — Heil ihnen und vielen Un­ schuldigen ,

wenn sie zu diesem Geschäft ein Herz

voll bewährter Menschenliebe mitbringen! — Menschenfreunde,

O

die ihr in diesem Beruf steht,

wie ehrwürdig macht er euch in den Augen der Ed­

len , wie viel Segnungen, kann euer Leben durch ihn

haben, euer Leben, das so ganz der leidenden Menschheit gehört! Zwar werdet ihr, auch bei frommer Gewissenhaftigkeit, bei freundlichem Er» barmen , bei aller Sorgfalt für verwaister Kinder Wohl, euch selbst sagen, daß das einfache, natür­ liche Gefühl der Elternliebe nie ganz zu ersetzen ist;

aber so viel an euch liegt, werdet ihr es ersetzen; durch eure milde Sorgfalt kann der Waisen Leben

in vieler Art glücklicher werden, als es bei armen Eltern geworden wäre. Kein dürftiger Unterhalt in den Jahren des Wachsthums wird an den edel­

sten Lebenskräften der Kinder nagen, die euch an­ vertraut sind; nahrhafte Speise, gesundes Getränk wird sie stärken. Reinlichkeit, dieser Balsam für jeden, besonders aber für des Kindes Körper,

gesunde Luft, nützliche, aber nicht seelen- oder kör­ pererschöpfende Arbeit, sorgfältige Bewahrung vor

206 Lastern, die zum langsamen Dahinwelken führen; dies Alles wird, unter eurer liebevollen Aufsicht oder Veranstaltung, ihrem Körper für die ganze Le»

benszeit eine dauerhafte Gesundheit und ungefchwächte Kräfte geben; ein edles Geschenk, das

selbst die beglücktesten Eltern sich freuen, ihren Kindern zu geben, das aber arme, für ihren künfti­ gen Lebensunterhalt nur auf größtentheils schwere Arbeit angewiesne Kinder besonders nothwendig brauchen. — WennKrankheit sie befällt, dann vor­

züglich, treue Pfleger und Pflegerinnen, erbarmt euch

ihrer mit christlicher, mitleidiger Liebe, welcheKran-

ken eben so heilsam als sorgfältige Wartung ist; zeigt ihnen , daß ihr Leiden eurem Herzen nahe geht. Ach, um ganz, die leisen Seufzer des kranken Kindes zu verstehn, wird ein zartfühlendes Mutterherz erfordert,

und doch seufzen Lausende , ohne ihr mattes Haupt an einen mütterlichen Busen lehnen zu können —

ersetztihnen, v treuePflcgerder Verwaisten, ersetzt ih-

uendiesen Verlust durch jeden Trost, welcher der sanf­ ten Menschenliebe und dem Wohlwollen möglich ist.

Beispiele wirken mehr als Lehren, und so wer­ det besonders ihr,

treue Aufseher,

durch muster­

haftes Beispiel euch um die Seelen der euch un­ tergebnen Waisen, für ihr ganzes Leben, verdient machen; aber freundlich werdet ihr handeln, wenn ihr keine Gelegenheit vorübergehn läßt, durch Er­

mahnungen in der häuslichen Stille die Grund«

207 sätze der Religion und Tugend zu starken, «elche einsichtsvolle Lehrer in ihre jungen Seelen legten.

Ermahnt sie, von ihrer zartesten Kindheit an, zur Hoffnung und zum Vertrauen auf den, welcher vorzüglich der Waisen Vater seyn will, auf den ewig gütigen Gott. Führt sie früh, mit sanftem Ernst, auf die Betrachtung ihrer künftigen Bestim­ mung , gewöhnt sie früh an gehorsame Erfüllung jeder ihnen rechtmäßig auferlegten Pflicht;

denn

Gehorsam und Pflichterfüllung werden einst, viel­

leicht streng, von ihnen gefordert. Lehrt sie, dank­ bar das Vaterland lieben, welches an ihnen

Elternliebe bewies, und also ganz in die geheilig­ ten Elternrechte trat; lehrt sie, diese Dankbarkeit dadurch beweisen, haß sie jetzt löbliche Bemühun­

gen anwenden, um sich zu guten, nützlichen Bür­ gern des Vaterlands zu bilden, und daß sie künf­ tig sein Wohl, der ihnen angewiesne Standpunkt sey nun einst bedeutend, oder nur bescheiden, doch durch treue Erfüllung ihrer Pflichten, befördern

helfen.

Unserm beschränkten Auge ist die Zukunft

nicht immer offenbar — die Vorsehung wählte oft ein Kind, das arm und unbeachtet unter seinen Mitmenschen wandelte, um große Entwürfe durch

daffelbe auszuführen; wenn aber auch dieser Fall nur selten ist, so bleibt es wenigstens gewiß, haß

jeder Mensch ursprünglich zu der Bestimmung ge­

boren ist, sein eignes und Andrer Wohl, nach sei-

208 nem Verhältniß und seinen Kräften, zu befördern;

daher, ihr treuen Pfleger,

legt jeden möglichen

Keim d«S Guten in das Herz der Waisen. Jede Anleitung zu einem untadelhaften Leben, die ihr

ihnen gabt, jedes Gute,

was sie, eurer Ermah­

nungen eingedenk , unter dem allmächtigen Bei­ stand Gottes künftig ausführen, wird Gott an

euch segnen; denn ihr gäbet ihnen die erste Veran­ lassung dazu, und wurdet durch diese größte Wohl­ that

wahrhaft Vater und Mütter der Waisen.

Euer schöner Wirkungskreis kann und darf edlen und weisen Menschenfreunden nicht anders als be­

deutend seyn, wenn gleich die bescheidenste Stille ihn umgiebt.— Es ist die Frage, ob ein Edler, dem Throne seines Fürsten um viele Stufen näher als ihr, täglich so vielfältiges Gute stiften kann.

Die

Belohnung des glänzenden Verdiensts sey groß

vor Menschen;

das

stille

Verdienst

belohnt

Gott. — Es ist noch nicht sehr lange her, daß der from­ me und tiefe Sinn für dau erhafte wohlthätige

Stiftungen ansieng, seltner unter den Menschen zu werden, als in der frühern Vorzeit, und dieses rührte vielleicht blos davon her, daß jener Zeiten edle Einfalt, daß selbst Religiosität seltner gewor­ den war. Die Lebensweise unsrer Voreltern — und dies kann wohl von mehrer» Völkern gelten —

war einfach, war thätig und dennoch ruhig, blieb unbe-

209 unbelastet von so vielen kleinlichen Bedürfnissen, die

nur der Luxus * den spätern Nachkommen als Forderungen der Nothwendigkeit aufbürdete, und

in diesem sich gleich bleibenden , ruhig - thätigen Gange des Lebens faßte eine gehaltvolle Idee feste Wurzel im Gemüth der Väter, wie die Eichen in ihren uralten Hainen.

War dieses geschehn,

so

blieb der Water Sinn ausdauernd und beharrlich. Ihre Seele, still und groß, richtete vielleicht nur auf einen Entwurf ihr Streben durch ein halbes Le­

bensalter; aber dieser eine Entwurf fand gänzliche, mit Gewißheit vorher berechnete Ausführung. Auch

war die innre Wohlhabenheit durch Arbeitsamkeit, Mäßigkeit und weise Sparsamkeit fest begründet, und eine solche Wohlhabenheit ist die Mutter einer edlen, aus umfassenden Nutzen abzweckenden Freige­ bigkeit ; daher begünstigte der Zeitgeist vorzüglich

da den Erfolg, wo aus kleinem Anfang, allmählig und in wohlberechneter Folge, große Vol­ lendung hervorgehn sollte. Mehr als Alles wirkte aber der stille, erhabne Geist der Religiosität, wel­

cher die Seelen jener großen Verklarten so durchaus

• Luxus — dies Wort ist nicht deutsch, und noch hat kein Sprachforscher ein vollgültiges deutsche- Wort dafür gefun­ den. Heil uns — daS Uebel ist also nicht einheimisch, und was nicht einheimisch ist, rann ja wohl wieder dahin zurück­ getrieben werden, von wo eS kam.

O

210 erfüllte,

so ganz mit ihnen nur ein Wesen aus­

machte, wie er es zu den Zeiten der ersten Christenthat; dieser beseelte jedes Unternehmen der dama­ ligen Zeit mit dem schönen, stillen Enthusiasmus, der nicht plötzliche Aufwallung ist, sondern, einem tiefen Strom gleich,

im äußerlich ruhigen, aber Ohne diesen

unaufhaltsamen Gang fortschreitet.

Enthusiasmus gelingt kein gehaltvolles Unterneh­

men, es habe Namen, wie es wolle; sein heiliges Gefühl spricht sich nicht aus, kündigt sich durch Worte nicht an, sondern wo er ist, da wandelt er

still und ungesehen, wie das Wirken der Natur. — S o geleitete er die großen Väter zu jedem schönen

Ziel.-------Ihr, die ihr, unter vielen Wohlthätern der Menschheit, einer dankbaren Nachwelt unvergeßlich wurdet, ihr, welche Herz und Lippe vieler Waisen segnet, Franke, Schindler, und ihr andern Wohlthäter der hülflosen Jugend, süß wäre es manchem Herzen voll edler Einfalt gewesen, in eu­

ren Tagen zu leben, mit seinen schönen Wünschen

und Empfindungen sich an euch zu schließen, mit

euch Gutes zu stiften, in dauernden Folgen, ohne Wortgepränge, so wie ihr. Doch wenn edle See­ len auf Erden durch Zeit und Raum geschieden wa­ ren, so giebt es doch Welten, wo die Guten aller

Zeiten vereint leben, wie hier aus Erden alle ihre Gefühle eins waren. — Hatte das Erdenleben sie

211 einander auch nie genaht, so gebt doch im schönen

Frühroth, hinter dem Dunkel der Gräber, der große Tag der Vereinigung ans. In unsern Tagen wurden mehrere wohlthätige

Anstalten gestiftet, deren Dauer die Menschenliebe wünschen muß; aber sie segnet auch die Würdigen,

welche sich Verdienst um die Erhaltung älterer schon auf sichern Grundpfeilern ruhenden milden Stiftun­ gen erwerben — es ist ein großes Verdienst, das ehrwürdige Alte zu erhalten, was seine gewissen Segnungen schon über frühere Vorzeit verbreitete,

und über spate Nachwelt sie noch verbreiten kann. Dies wird jeder Freund der Menschheit und der Tugend gern thun, nicht durch milde Gaben allein, sondern auch in jeder andern Art, wodurch er für

das Beste solcher milden Stiftungen wirken kann, cs scy durch Fürsprache bei Mächtigen und Begü­ terten ,

cs sey durch andre wohlthätige Fürsorge,

die in seinem Wirkungskreise liegt.

Möchten die

Namen edler Stifter solcher Anstalten der Menschen­

liebe, mochten sie ewig unvergeßlich, und möchten

die von ihnen getroffnen Einrichtungen ein Gegen­ stand ewiger Verehrung bleiben! Aber Niemand hat eine heiligere Pflicht auf

sich, sobald eres vermag, den schützenden Zufluchts­

örtern für Waisen wohlzukhun, ihr Bestes zu be­ fördern, und das Andenken ihrer Stifter zu ehren,

als diejenigen, deren Kindheit einst in solchen HäuO r

212 fern milde Pflege und Erziehung genoß.

Ein Jeder,

der aus einer milden Stiftung nun in die Bestimmung seines Lebens tritt, der scheide doch mit ge­ fühlvollem , dankbaren Herzen, und mit diesem Herzen lege er, nach Maasgabe des Standes, in

welchem er sich befindet, sein Scherflein auf den Altar der Wohlthätigkeit nieder, so wird Gott die stillen Gaben der Dankbarkeit segnen, und durch öf­ ter einkommende kleine Beitrage wird das Gute erhalten werden, was im schönen einfachen Sinn

der Religion und der ungeheuchelten Menschenliebe,

durch einfache Wohlthätigkeit, Väter begründet ward.

zu den Zeiten der

Jedes ärgerliche Beispiel, jeder Reiz zum Bö­

sen, jedes Gift der Verführung bleibe fern von den Mauern, die Zufluchtsort der Unschuld seyn sollen; jedes Böse bleibe fern, damit der Segen Gortes, unter welchem solche Stiftungen gegründet wurden,

damit die Verehrung der edlen Menschheit ihnen, bis zu den spatesten Zeiten, bleibe.

213

Wohlthätige Anstalten für Kranke und Schwache. Nächst den Leidenden, welche das Greisenalter entkräftet, oder die ihre, schon früh verwaiste Kind­ heit hülflos macht, haben diejenigen, welchen das schwere Loos, einer hinfälligen Gesundheit auferlegt ist, ein unbezweifeltes Recht auf unser Mitleid; dieses, durch Menschenliebeschon begründete Recht

wird

auch durch

erlaubte

Selbstliebe bestätigt.

Wenn wir betrachten, wie vielen nachtheiligcn Zu­ fällen unser eigner Gesundheitszustand unterworfen

ist, so muß diese Betrachtung unser Mitgefühl bei den Schmerzen Andrer erhöhen. Das leichteste Ungefähr kann die Blüthe der Gesundheit zerstö­ ren, kann den jetzt noch kraft- und lebensvolle» Jüngling, wie den matten Greis, auf das Lager der Schmerzen werfen; wir alle sind dem Leiden der Kränklichkeit und Schwäche täglich ausgesetzt,

und wenn wir dann wünschen würden, daß andrer edlen Seelen sanftes Mitgefühl uns Trost in un­

sern Leiden werde, so müssen wir uns ein Recht darauf erwerben, indem wir unsern leidenden Mit­ menschen, in ihren Schwächen,

innige Theilneh-

mung weihen, und da, wo wir es können, sie ihnen thätig beweisen. Aber wenn uns auch die Güte Gottes mit anhaltender Kränklichkeit verschont;

214 wenn sie uns auch die gewöhnlichen Schwächen deS

Alters lange, oder — welches ein höchst seltnes Glück ist —> fast ganz erspart, wenn uns ein schneller und leichter Tod beschiedcn wäre, so bleibt doch, nach dem gewöhnlichen Gange der Natur, den Meisten die Zeit der' Schmerzenstage, und die

ernste,

entscheidende Todesstunde gewiß.

Dann,

o Menschenfreund, dessen milder Trost, dessen wohlthätige Hand den Leidenden in Tagen seines

Schmerzens, in der Stunde seines Hinscheidens er­

quickte,

dann erst wirst Du den Werth Deiner eig­

nen Menschenliebe fühlen;

jeder Trost, jede Er­

quickung, welche Du dem leidenden Kranken, dem Sterbenden gabst, wird im freundlichen Bilde Dir

vorschweben, wird Dir zur himmlischen Palme wer­ den, welche um Deine Schläfe Kühlung weht, im letzten irdischen Kampf;

Du wirst sanft

dahin

schlummern, und sanft wird der Engel des Todes Dein Auge schließen, wie die Hand der Mutter das Auge ihres geliebten Säuglings bedeckt, um es zum ruhigen Schlummer am Mutterbusen einzuladeni

Lindre also, in welcher Art du vermagst, das Lei­ den derer, welchen ihr sieches Leben fast nur zu ei­ nem verlängerten Todestag ward, und denen Ar­ muth noch überdies jeden erquickenden Genuß ver­ sagte , wodurch ein so schweres Loos erleichtert wer­ den könnte.

215

Da es aber selten der Fall ist, daß es in des Einzelnen Vermögen steht, dem Unglücklichen das

verdoppelte Leiden körperlicher Schwäche und der Armuth zugleich zu erleichtern, ihn so vor Mangel

zu sichern, daß er in seinem kränklichen, alle Be­ dürfnisse so sehr vermehrenden Zustande nicht noch den schmerzenden Druck gezwungner Entsagungen

fühlte; da jener Fall nur selten ist, so gerieth die Menschenliebe auf die natürlichste Erfindung: sie

bot vervielfältigte Kräfte auf, um einem vielfachen Uebel abzuhelfen. In den ältern Zeiten findet man wohl, daß unmündige Waisen sehr verdienter Män­

ner, daß alte, unfähig gewordne Krieger, in ein­

zelnen Fällen, auf Kosten des Staats erhalten wor­ den sind; aber die Errichtung besonders geeigneter Anstalten für hülfSbedürftige Kranke oder Schwache,

die Errichtung von lebenslänglichen Zufluchtsortern für sie, war vorzüglich dem sanften menschenlieben­

den Geist des Christenthums aufbehalten; beson­ ders aber hatte die katholische Religion, welche in gemeinnützigen Entwürfen sehr vielumfassend und würdevoll ist, schon früh die Wege gebahnt, auf

welche der schöne Zweck allgemeinen Erbarmens für Unglückliche am füglichsten erreicht werden konnte. Ohne zu untersuchen, was vielleicht schon in der frühesten Zeit, unter den ersten christlichen Kaisern,

in dieser frommen Art des Trosts für Leidende ge­ than worden ist,

ohne auf die Untersuchung der

ei6 Veranlassungen zu den Kreuzzügen einzugehn, aus

welchen in der That viel Elend,

viel Leiden für

die Menschheit erwachsen sind, so kann man doch nicht anders als mit feierlichem Gefühl auf die

wahrhaft frommen Bemühungen blicken, welche in jenen Zeiten zur Lindrung der Menschenleiden an­

gewendet wurden; Klöster, Einsiedler der katho­

lischen und der griechischen Religion, mildthätig ge­ gründete Stiftungen, machten es beinah zur einzigen Angelegenheit des Lebens, machten es zum höchsten

Zweck ihres Daseyns, Kranke, Verwundete und Schwache in ihre heiligen Zufluchtsörter aufzuneh­ men, sie zu verpflegen, in den gefährlichsten, oft sich schnell mittheilenden Krankheiten, ihrer mit ei­

ner Sorgfalt zu warten, welche die höchste Men­ schenliebe nur dann gewahren kann, wenn sie vom noch wohlthätigeren Geist der Religion beseelt ist. Nur aus dem frühern Christenthum ist der Geist des

milden Erbarmens auch in die muhammedanische Re­ ligion übergegangen, in welcher Bestimmungen zu milden Zwecken! nichts ungewöhnliches sind, ob­ gleich es vielleicht sehr von den politischen Verhält­

nissen der Staaten dieser Religion abhängt, wel­ che Vollendung fromme Entwürfe dieser Art errei­

chen ;

aber im Allgemeinen ist Mildthätigkeit ein

wesentlicher Punkt muhammedanischer Lehre.

Wir

Protestanten empsiengen von unsern religiösen Vor­ eltern der katholischen Kirche viel solcher durch

217 Menschenliebe begründeten Zufluchtsörter für Arme

Kranke und Schwache; der einfache, fromme Sinn unsrer eignen Kirche übernahm zweckmäßige Anstal­ ten dieser Art, wie eine geheiligte Tradition, und

stiftete mehrere, da wo sie noch mangelten. Der ernste, prüfende Geist unsrer Väter, fern von dem gehaltlosen, leichten Sinn, der nur in der Gegen­

wart lebt, war, gleich heiligen Sehern, mit der Zukunft vertraut; sie richteten daher angelegentlich

ihr Augenmerk auf solche Einrichtungen, wodurch Leidenden in Tagen ihres Alters,

oder in Tagen

der Schmerzen, der Kraftlosigkeit, die oft schwerer noch, als das Alter zu tragen sind, wenigstens gleiche Ansprüche mit demselben auf unser Mitleid

haben, ein Ort der Ruhe, des Trostes und der Lindrung in ihrem Leiden angewiesen ward. Wem also das Gefühl der Menschenliebe, und die gerechte Verehrung für das edle Andenken der

Vater ein heiliges Gefühl ist, der wird auch ehren, was sie gründeten, und wird, wenn seine Hand auch nicht immer reiches Geschenk vermag, doch mit willigem Herzen da, wo es vielleicht nicht über

seine Kräfte geht, zu dem schönen Zweck beitragen, jeder Anstalt, wo der edle Verein Vieler dem Un­ glücklichen wohlzuthun strebte, die möglichste

Dauer, durch freundliche Hülfe, zu sichern.

Auch

das Geringste, was in einer solchen Absicht gethan wird,

verdient Beifall,

und bleibt

immer ein,

2l8 wenn gleich nur kleiner Theil allgemeiner Wohlthä­

tigkeit,

ist immer zu ihrem schönen Ganzen noth­

wendig, wie das Sonnenstäubchen zum vollendeten Ganzen der Welt cs ist. So ist es schön und erhebend für das Gefühl

des Menschenfreundes, wenn an Tagen, welche die Vaterlandsliebe, oder ein andres öffentliches frohes

Ercigniß sich heiligte, die Pfleglinge milder Anstal­ ten mit gewähltern Speisen als gewöhnlich bewir­ thet werden,

wenn stärkender Wein,

oder eine

andre Labung sie erquickt, wenn auch sie dadurch

an Festen allgemeiner Freude Theil nehmen. — Eine, nicht große Kosten verursachende, und doch sehr milde Wohlthat ist es, wenn wohlthätige An­

stalten mit wärmenden, oder sonst dienlichen Klei­ dungsstücken, für die ärmsten ihrer Mitglieder, be­

schenkt werden;

besonders in Hospitälern für alte,

kranke und schwache Personen, sind Geschenke dieser Art von einem höhern Werth, als man glaubt, da solche Leidende nicht leicht im Stande sind, selbst für dergleichen Bedürfnisse zu sorgen; da Schwache

der Augen, oder andre Kränklichkeit, sie oft hin­ dert, sich Kleidungsstück» anzufertigcn, oder auch nur zu bessern, und da Ordnung und Reinlichkeit

doch eins der wesentlichsten Erfordernisse zur Erleichtcrung *in Krankheiten,

und in Beschwerden

des Alters sind. — Sanfte weibliche Seelen, die ihr gern tröstet, und den schönen Sinn eures Ge-

219 schlechts, den Sinn für Ordnungsliebe und -Wirth-

lichkeit,

nicht gegen Zerstreuungssucht und Der»

schwendungen des Luxus vertauschtet; durch kleine Geschenke an Bedürfnissen, die zur Kleidung gehö­ ren,

kann fast die Aermste unter euch noch Andre

erfreuen,

und einen Nutzen stiften, dessen Werth

nur diejenigen ganz kennen, welche

nicht selten

unter schmerzhaften, nicht immer gekannten Entbeh­ rungen leiden müssen.

Wenn gleich die verfloßnen Zeiten den Ruhm der ersten und dauernden Begründung vieler wohl­ thätigen Stiftungen immer behalten werden, so würde es doch die höchste Ungerechtigkeit gegen die

jetzigen Zeiten seyn, wenn man ihnen nicht mit frohem -Herzen das Zeugniß geben wollte, „der sanfte, edle Geist allgemeiner Menschenliebe habe im Ganzen nicht gelitten, so drohend ihm auch die furchtbarsten Zeitereignisse entgegen traten; im

Gegentheil,

gerade diese Zeitereignisse und ihre

traurigen Folgen haben seine heiligsten Gefühle recht merkbar aufgeregt. Nicht allein muß ein jeder Mensch ^von Gefühl, welcher in den Jahren

des letzten Krieges lebte, und nur einiger Beobach­ tung fähig war, sich erinnern, welche große, frei­ willige Opfer für die leidende Menschheit, oft sogar von andern Leidenden selbst, damals gebracht wur­

den , sondern, ungeachtet des harten Drucks der Zeiten ist keine milde Anstalt eingegangen, und

220 wenn einige litten, so war es doch nur vorüberge­ hend. Die ehmals begründeten wohlthätigen Stif­

tungen wurden nicht allein erhalten, sondern, so­ bald es nur wieder möglich war, ward auch für ihre Verbesserung thätig gesorgt, und ihnen zur Seite

erwuchsen neue, welche das Gute in neuen Arten befördern. Nie wird,- bei einer Sammlung zur Linderung allgemeinen, oder auch einzelnen Leidens,

die Mildthätigkeit des Publikums fruchtlos in An­ spruch genommen; Gesellschaften sind vorhanden,

welche sich blos zu schönen Endzwecken der Wohl­ thätigkeit verbunden haben, und Handlungen der edelsten Art, welche einzelne Menschenfreunde üben, sind in unsern Tagen nicht selten; so daß man mit Recht annehmen kann, die Summe der schönsten menschlichen und bürgerlichen Tugend, der Wohl­

thätigkeit, halte in jetziger Zeit nicht allein jede Vergleichung mit der alten', ehrwürdigen Vorzeit aus, sondern sie sey auch, wie jeder Fortgang des Guten, vermehrt, und nicht, wie nur unzufriedne Tadler der Menschheit behaupten könnten, vermin­

dert worden. Wo nun irgend ein Bund edler Seelen besteht, es mögen längst cntschlafne, oder noch lebende Würdige ihn gegründet haben, wo er, zum Besten

der leidenden Menschheit besteht, da bleibe auch Dein Herz und Deine helfende Hand nicht fern, edler Menschenfreund unter den Beglückten.

221 Je mehr empfindende Herzen sich dem göttlichen Geschäft weihen, die Summe der Leiden, nach

Kräften, zu vermindern, Summe des

je höher steigt auch die

Lebensglücks,

Menschheit geadelt.

je höher wird die

Sichrer und mannichfaltiger

wird das Gute durch den kraftvollen Verein Meh­ rerer bewirkt, als durch den Einzelnen, und süßer

ist es, einen auch nur kleinen Antheil an solchem Wirken zu haben, als immer nur mit seinen inni­ gen Gefühlen,

Wünschen und Bestrebungen al­

lein da zu stehn, allein, und eben dadurch-^ehr oft mit ungleich mindrer Kraft. — Wenn wir uns nun zwar die traurige Wahr­

heit nicht ableugnen können, es gebe der Unglück­ lichen viel, welche Krankheit und Alterschwache un­ fähig macht, das drückende Leiden der Armuth von sich abzuwenden, so muß es — noch außer den ein­ zelnen Fallen, wo sanfte Menschenliebe und das Wohlthun des Vaterlandes ins Mittel tritt — eine tröstende Beruhigung für unser Herz seyn, zu den­

ken, daß es auch Zufluchtsörter gebe, wo viel sol­ cher Unglücklichen eine wohlthätige Aufnahme und

Linderung ihrer Leiden finden, und wo ihre noch übrigen Tage in dem tröstenden Gefühl verfließen können, daß sie nicht ganz verlassen sind, daß die Hand ihrer Mitmenschen wohlthätig strebte, ihres Kummers Thränen zu trocknen, und die drückend­ sten ihrer Sorgen zu heben. — Damit nun aber

222

solche Stiftungen, welche die geheiligten Denkmale der reinsten Menschenliebe sind, in der festen Dauer, in dem blühenden Zustande ewig-bleiben mögen, wie es der Wunsch jedes fühlenden Herzens seyn muß, so trage auch jedes, nach dem Maaß seiner Kräfte, zur Erfüllung dieses Wunsches bei, und achte nichts gering, was durch seine Vermittlung, wäre cs auch auf die entfernteste Weise, hierzu ge­ schehn kann. Thränen des Kummers trocknen, bleibt ein göttliches Geschäft, es geschehe mittelbar, oder unmittelbar, und sehen auch wir selbst nicht immer die, zwar jedem guten Herzen süße Dank­ gefühle der Getrösteten, so sieht sie doch der erha­ benste Zeuge aller unsrer guten Empfindungen und Handlungen, so sieht sie doch Gott. — Reichen Segen von ihm verdienen Alle, welche in dem Ge­ schäft , wozu sie für das Beste solcher Stiftungen berufen sind, als Vorsteher, als Aerzte, als Pfle­ ger , nicht blos aus Pflichtgefühl, sondern auch aus reiner Menschenliebe, aus einem Herzen, von dem sanften Geist der Religion durchdrungen, die Leiden der Unglücklichen so liebevoll zu erleichtern streben, daß sie edle Freunde, Vater derselben, in einem, der Menschheit wohlthätigen Leben, genannt werden, und daß ihr Andenken dauernd bleibe, so lange geheiligte Menschenliebe sich noch in der mil­ den Fürsorge für Leidende beweist — kein Anden­ ken verdient mit mehrerm Recht Verewigung, als

223 die Namen derer,

welche ihr Leben wohlthätigen

Bemühungen für leidende Mitmenschen milden Geist mitempsinder,

ganz im

sorglicher Menschen­

liebe weihten.

Edle, verschämte Arme. Wenn ein Staat durch Gnadengehalt, wenn ein wohlthätiger Verein, oder wenn einzelne Men­ schenfreunde

das

Leiden wahrer

Unglücklichen

durch Unterstützungen zu mildern, wenn sie die edle

Wohlthat auf das Beste angewendet zu sehn wün­ schen, so werden sie ihren schonen Zweck am gewis­ sesten erreichen, wenn sie die Gegenstände ihrer Wohlthätigkeit in der Klaffe von Leidenden suchen, welche die Welt verschämte Arme nennt.

Diese Klasse besteht gewöhnlich aus Menschen, de­ ren Herkommen oft sehr anständig ist,

und deren

Glückölage früher, wo nicht glänzend, doch günstig war, oder aus Menschen, welche zwar nicht in den höhere Ständen! gebohren sind, welche aber, durch eine gebildete Erziehung,

durch edle Grundsätze

und Gefühle sich diesen Standen anschließen, und

deren Lage, durch die Wandelbarkeit des Glücks er­ schüttert, ebenfalls jetzt ungünstig ist. Hierzu kön­

nen noch Menschen gerechnet werden, deren Gei­ stesvorzüge nicht erkannt, deren Verdienste nicht

223 die Namen derer,

welche ihr Leben wohlthätigen

Bemühungen für leidende Mitmenschen milden Geist mitempsinder,

ganz im

sorglicher Menschen­

liebe weihten.

Edle, verschämte Arme. Wenn ein Staat durch Gnadengehalt, wenn ein wohlthätiger Verein, oder wenn einzelne Men­ schenfreunde

das

Leiden wahrer

Unglücklichen

durch Unterstützungen zu mildern, wenn sie die edle

Wohlthat auf das Beste angewendet zu sehn wün­ schen, so werden sie ihren schonen Zweck am gewis­ sesten erreichen, wenn sie die Gegenstände ihrer Wohlthätigkeit in der Klaffe von Leidenden suchen, welche die Welt verschämte Arme nennt.

Diese Klasse besteht gewöhnlich aus Menschen, de­ ren Herkommen oft sehr anständig ist,

und deren

Glückölage früher, wo nicht glänzend, doch günstig war, oder aus Menschen, welche zwar nicht in den höhere Ständen! gebohren sind, welche aber, durch eine gebildete Erziehung,

durch edle Grundsätze

und Gefühle sich diesen Standen anschließen, und

deren Lage, durch die Wandelbarkeit des Glücks er­ schüttert, ebenfalls jetzt ungünstig ist. Hierzu kön­

nen noch Menschen gerechnet werden, deren Gei­ stesvorzüge nicht erkannt, deren Verdienste nicht

224 belohnt wurden, und die nun hülflos in der Dun­

kelheit schmachten; ferner, ehmals Wohlhabende, welche durch fremdes Verschulden ihr Vermögen verloren, oder welche durch andre unvorhergesehne und unvermeidliche Unglücksfälle in stille Armuth

geriethen.

Es ist kaum möglich,

alle Arten der

Leidenden zu nennen, welche die Klasse der ver­ schämten Armen in sich begreift; Unglückliche auS allen Standen gehören zu ihr, ob man gleich nur diejenigen, welche in den gebildetern Standen ge­ boren, und durch Armuth unglücklich sind, mit je­ nem Namen, im gewöhnlichen Leben, bezeichnet.

Eine gebildete

Erziehung,

edlere Grundsätze

und Gefühle, ein eben so edler, mit ihnen unzer­ trennlich verbundner Stolz sind die Ursachen , nicht der Armuth selbst, aber der verschämten Ar­ muth ; sie sind auch zugleich der Grund einer län­ ger» , wenn nicht beständigen Fortdauer dieses so tiefen Leidens. Edle Arme fürchteten Kränkungen, die ihr zartes Gefühl, an den schmerzendsten Stel­

len, verletzen könnten; sie wendeten ihre äußersten Bemühungen an, ihr Leiden den Menschen zu ver­

bergen; sie duldeten, sie schwiegen, sie ließen! ihre Wunden viel lieber langsam verbluten, als daß sie es über sich hatten gewinnen können, diese schmer­ zenden Wunden zu zeigen, und so verhinderten sie selbst die wohlthätige Heilung, welche eines Ed­

len mitempsindendes Herz,

welche seine lindernde Hand

225 Hand ihnen gern entgegengebracht hätte.

hatte es nut einer leichten Hülfe,

Sehr ost

eines geringen

Bemühens von Seiten eines Menschenfreundes be­

durft, um ihr Leiden abzuwenden, vielleicht, um

sie ganz zu retten, wenn ihnen zu rechter Zeit Hülfe geworden wäre; aber der günstige Zeitpunkt verstrich, weil sie nicht sprechen wollten, oder viel­ mehr, weil sie eS nicht konnten. Ihr schon gesunknes Glück sank nun tiefer, bis zur Hoffnungs­

losigkeit, und sie wurden Opfer eines , an sich fal­ schen Schämens, das aber dem fühlendenHerzen, dem gebildeten Geist, wenn ihn sein ungünstiges Ge­ schick mit unzarten Menschen in Verhältniß setzte, so sehr verzeihlich ist. Die Frage steht nun: ist es unrecht, sich der

unverschuldeten Armuth zu schämen? — Eben so unrecht, als wenn man sich des Lei­ dens einer schwachen Gesundheit, des Todes ge­ liebter Freunde schämen wollte; denn unverschuldet,

wie diese Leiden, war jenes ebenfalls, und Schä­ men darf und sollte nur der unzertrennliche Gefährte wirklicher Schuld seyn. — Wäre Ar­

muth an sich selbst eine Schande, so würden nicht die größten Menschen alter und neuer Zeiten, Män­ ner, deren ganzes Leben ein Heiligthum wahrer

Ehre ward, so würden nicht die ersten Verkündiger

der so reinen Christuslehre, freiwillig Armuth ge­ wählt haben, um edleren Geschäften zu leben, als P

226 die Sorge für vergänglichen,

irdischen Besitz ist.

Armuth an sich kann nie zu schimpflichen Schritten führen, wenn unser Herz Religion und Edelsinn

besitzt, und wenn wir entschlossen genug sind, ihr

Leiden uns durch Thätigkeit zu erleichtern; aber die Begehrlichkeit nach mehr Glücksgürern, als die Vorsehung für gut sand, uns zu ertheilen, diese ist es, welche sehr oft zu den schimpflichsten Schritten führt; welche wenigstens unsern edlen Gefühlen so schädlich ist, wieder Mehlthau zarten Pflanzen. Und diese Begehrlichkeit entsteht nicht aus der Armuth selbst; denn sonst würde es auf

ErdeN keinen zufriednen Armen geben; sondern

ihre Quelle liegt in einem unzusriednen Gemüth, welches, auch in der glücklichsten Lage, immer noch unersättliche Wünsche haben würde. Zwar, ganz zu tadeln ist das edle Selbstge­ fühl nicht, welches lieber große Opfer bringt, als daß es sich der Kränkung oder der Geringschätzung

des Unüberlegten Leichtsinns,

Geldstolzes üussetzen sollte;

oder des thörichten aber ganz zu billigen

ist es auch nicht, weil es uns zum schweigenden Bekenntniß dessen verleitet, was wir doch, bei kal­ ter, richtiger Prüfung vor unserm eignen Herzen als Irrthum anerkennen werden, nemlich, daß man Ursach hübe, sich der Armuth , auch wenn sie Nicht verschuldet war, zu schämen: — Vor wem aber? Dem Edlen ist sie,

als Leiden selbst, ehrwürdig;

227 sie ist es ihm auch, weil sie eine Quelle vieler Tu­

genden werden kann, und wirklich ist. Der Leicht­ sinn hat im Rath der Vernünftigen so wenig eine Stimme, als sic das Kind im Rath erfahrner Greise haben würde; wo er also Verachtung zeigt, da kann sie ihm im reichsten Maaß zurückgegeben wer­ den , und der Geldstolz bekennt in und durch sich

selbst den eignen Unwerth; denn jeder geldstolze Thor, der einem Armen Verachtung, in welcher

Art es sey, beweist, sagt ja dadurch weiter nichts, als daß nur der Reichthum einem Menschen Werth beilege; er selbst würde also ebenfalls keinen Werth

behalten, wenn er sein armseliges Metall nicht hätte. Auf diese Art kann der vernünftige Mensch mit gutem Grunde es belächeln, wenn die Eigen­ liebe sich Demüthigung bereitet, wo sie sich zu schmeicheln glaubt, und der Mensch, welcher wah­

ren Werth in sich fühlt, kann auf den eingebildeten mit Gleichgültigkeit,

und auf den wirklichen

Unwerth mit Verachtung blicken. Jenes falsche Schämen ist also ein Irrthum, und als ein solcher verzeihlich, aber nicht ganzta­ delfrei ;

es ist ein Irrthum, dem unser Herz zu

schmerzvolle Opfer theils bringen muß, theils aber — und dies ist der größte Schaden, welchen

er uns thut — entfernt er uns auch von edlen See­ len, oder entfernt sie von uns, mit denen, wenn auch ihre so menschenfreundliche Hülse, ihr so sanfter

P 2

228 Trost in unsern Leiden, gar nicht in Anschlag käme, jedes engere Bündniß, wäre es auch nur bloße Be­ kanntschaft,

schon ein sehr schätzbarer Gewinn ist.

Aber auch Trost und Hülfe, die edle Menschen un­ serm Leiden geben wollten und könnten, von sich

abzuhalten, ist

wesentliche Versündigung,

und

streitet nicht allein gegen die Pflicht der Selbster­ haltung,

sondern auch gegen die heilige Pflicht,

uns dem Willen der Vorsehung immer unbedingt zu unterwerfen; also auch da, wo sie selbst uns Wege

zu unserm Trost, zu unsrer Erleichterung, zu unsrer Rettung, durch theilnehmende Mitmenschen bahnt. Jetzt ist dieses falsche Schämen seltner als eh-

mals; im Gegentheil, Diele wenden Armuthund Bedürfniß vor, die nichts als Begehrlichkeit haben und zwar eingeschränkt, aber doch so leben könnten, daß sie Niemandem lästig würden; Viele klagen, blos um zu klagen; Viele finden sich arm, weil ihr Glücksstand nicht zur Befriedigung eingebildeter

Bedürfnisse hinreicht,

und Manche, die Unterstü­

tzungen vom Staat suchen, befinden sich, mehr als hinlänglich, im Stande, Aermere unterstützen zu können. —

Doch giebt es noch Diele, welche lie­

ber die schwersten Leihen der Armuth ertragen, als es über sich gewinnen würden, diese Leiden kund zu thun. Wer kann es aber möglich machen, einen Kum­

mer, der so tiefverborgen in der Stille weint, an

229 das ihm nicht erwünschte Licht zu ziehn? —

Wer

kann sogar, und wäre er der liebevollste Menschen­ freund, wer kann Leiden da nur ahnen, wo es des Unglücklichen angelegentlichstes Bestreben ist,

sie zu verbergen, und wo dieses Bestreben, ob­ gleich auf schmerzvolle Kosten seines Herzens, ihm

ost nur allzuwohl gelingt? — Und wenn eine, dem Leidenden durch schöne Gefühle innig verwand­ te Seele gleich seines Schmerzes Daseyn ah­ net, würde ste eS wagen, in sein Geheimniß dringen zu wollen, sie, die aufs gewisseste weiß, daß es Herzen giebt, die ein spähender Blick in

ihr Innres, eine leise Berührung, schon in ihren zartesten Theilen verwunden kann? — Würde sie es über sich gewinnen können, einem solchen Un­ glücklichen das Bekenntniß seines Kummers abdrin­

dem sein Herz und sein Mund sich, viclleicht seit Jahren schon, versagt? Und giebt es nicht Fälle, wo ein bedeu­

gen zu wollen, das Bekenntniß,

tender Blick, ein schmerzvolles Lächeln des gebil­ deten Unglücklichen, wenn wir selbst Zartgefühl be­

sitzen, uns auf eine lange Zeit, vielleicht auf im­ mer, von jedem Forschen nach dem Gegenstände sei­ ner Schmerzen zurückweist?--------

Eine Vermittlung zwischen diesen edlen Lei­ denden, und den Menschenfreunden, die durch Trost und Hülfe gern ihre Wohlthäter würden, eine schöne, wünschenswerthe Vermittlung wäre mög-

lich — Religion« und ihre himmlische Schwester, die Menschenliebe, müßten sich gegenseitig die

segensvolle Hand bieten, um das Heiligthum des

verschwiegnen Kummers seinen wohlthätig trösten­ den Freunden zu öffnen. — — Hier leuchtet hervor aus der heiligen Stille, die den großen Umfang eures schönen Wirkungs­

kreises sanft umschleiert, wie der wallende Vorhang feierlich das Allerheiligste im Tempel umfloß —

tretet hervor, Geweihte an den Altären des Gottes ewiger Liebe, ewiges Erbarmens, ihr, Lehrer sei­ ner Gesetze, Führer der veredelten, wie der irren­ den Menschen, welche alle eure Brüder sind! —

Welches reine, ' gefühlvolle Herz verschlösse sich, auch im verschwiegensten Leiden, dem Trost, wel­ chen die heilige Stimme der Religion ihm entge