Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles

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Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles

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4-menschendarstellung-in-tuschungsszenen-1969......Page 97
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Parlavantza-Friedrich Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte

Herausgegeben von Heinrich Dörrie und Paul Moraux

Band2

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969

Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles

von Ursula Parlavantza-Friedrich

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969

Archiv-Nr. 36 96 692 J. Göschen'sche Verlagshandlung- J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germaoy) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Graphische Betriebe Dr. F. P. Datterer & Cie., Nachfolger Sellier OHG, Freising @ 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G.

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Einzeluntersuchungen Erstes Kapitel: Aias . . . . . Zweites Kapitel: Trachinierinnen Drittes Kapitel: Elektra Viertes Kapitel: Philoktet Fünftes Kapitel: Ödipus auf Kolonos

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Teil II: Überblick über Leistung und Art von Täuschungsszenen bei Sophokles 1. Die Täuschung in ihren dramaturgischen

Auswirkungen a) Die Täuschung in Bezug zur Handlung . . . . . . . b) Die auf eine Täuschung folgende Anagnorisis als betonter Ausgangspunkt der Handlung . . . . . . . . . . . . . c) Die Täuschung als Mittel der Komplizierung des Handlungsverlaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Täuschung in ihrem Verhältnis zur dramatischen µew-

ßoi\11. . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Gesprächssituationen in Täuschungsszenen 2. Die Rolle des Zuschauers in Täuschungsszenen . a) Die gesteigerte Aktivität des Zuschauers in Täuschungsszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . a 1) Der Zuschauer als intellektuell Beteiligter a 2) Der Zuschauer als emotional Beteiligter . b) Tragische Ironie . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Der Stil in Täuschungsszenen . . . . . . . . . . . . . . a) Der Stil im Täuschungsdialog . . . . . . . . . . . . . a 1) Die enge Bezogenheit der Gesprächspartner aufeinander a 2) Die Überhöhung der geschaffenen Situation a 3) Ambivalenz . . . . . a 4) Ironische Umkehrung. a 5) Rätselreden . . . . . a 6) Chiffriertes Reden . . b) Der Stil in der Täuschungsrhesis bzw. im Täuschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b 1) Die Verschiedenheit von Täuschungsrhesis bzw. Täuschungsbericht und Täuschungsdialog . . . . . . . b 2) Die Funktionen der einzelnen Täuschungsrheseis bzw. -berichte . . . . . . . . . . . . . . . b 3) Der Stil der Verhüllung und der Enthüllung

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4. Menschendarstellung in Täuschungsszenen a) Die Darstellung des Täuschungsopfers b) Die Darstellung des Täuschenden

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Zusammenfassung

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Literaturverzeichnis

.

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Register . . . . . .

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Erstes Kapitel: Aias Im Prologgespräch des Aias berichtet Athene dem Odysseus, daß Aias die Odysseus unerklärliche Tat in einer von ihr, der Göttin, zum Schutz der Argiver bewirkten Umnachtung begangen hat. Aber es bleibt nicht bei diesem Bericht vom Wahn, der Aias befallen hat. In den Dialog Athene-Odysseus wird ein zweiter Dialog eingeblendet (89-117). Die Gesprächspartner sind jetzt Athene und der wahnsinnige und von der Göttin getäuschte Aias. Innerhalb des Dramas begründet Athene das Hervorrufen des Aias damit, daß sie Odysseus den kranken Helden zeigen will, damit der den Argivem von dem, was er erlebt hat, berichten kann. Nach dem Willen Athenes ist also Odysseus als Zeuge des Gesprächs anwesend. Für Aias allerdings ist er unsichtbar, wie auch Athene ihm unsichtbar bleibt 8 • Der in seiner Verblendung sich rühmende, hohnlachende Aias muß in dieser Szene ohne direktes Gegenüber gedacht werden, ein Anblick, der die Erschütterung, welche das Gespräch bewirkt, noch vertieft. Nach der Einblende setzt sich der Dialog Athene-Odysseus fort. In dieser Fortführung wird das Fazit aus dem gezogen, was Odysseus gerade erlebt hat. Diese kurze in einen größeren Dialog eingeschaltete Täuschungsszene erfüllt mehr Funktionen als nur die im Drama genannte, dem Odysseus das soeben Berichtete zu verdeutlichen, damit er es um so besser weitergeben kann. Sie ist in sich von großer Wirkung und ist, womit sie ihre Aufgabe als Prologszene vielseitig erfüllt, Kernpunkt mehrerer sich an ihr entwickelnder Momente. Mit der Szene führt der Dichter den Helden des Geschehens in das Drama ein. Der Zuschauer wird gleich mit der verhängnisvollen Situation des Aias bekanntgemacht. Der Held ist objektiv verblendet, wird nicht nur in diesem Täuschungsdialog hintergangen. Der Wahn hat 8

301-04 berichtet Tekmessa dem Chor von dem nächtlichen Sprechen des Aias, das ihr nicht wie ein Gespräch zweier Partner vorkam, sondern wie ein Sprechen mit einem Schatten. Auch bleibt Athene dem Odysseus während ihres Gesprächs unsichtbar (15; vgl. das Scholion zu 14).

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Einzeluntersuchungen

ihn wie eine Krankheit befallen. Er ist der ihn täuschenden Göttin ausgeliefert. Die erschrockene Abwehr des Odysseus, Zeuge vom Wahnsinn des Aias zu werden, hat der Tatsache des Wahns im Voraus Gewicht gegeben. Diese kleine Szene veranschaulicht das vorher schon Berichtete. Innerhalb des Dramas tut sie es nach dem Willen der Göttin für Odysseus. Darüber hinaus spricht mit ihr der Dichter den Zuschauer an. Ihm wird die Situation des Helden erlebbar, er wird gefühlsmäßig am Geschehen beteiligt, seine Sympathien beginnen sich auf den Helden zu konzentrieren, er wird befähigt, das bereits Geschehene und das nach der Lage der Dinge zu Erwartende in seiner Bedeutung zu sehen. Der Dialog Athene-Aias soll also nicht nur unterrichten, sondern auch stimmen, ein Beispiel dafür, daß der Prolog nicht nur Informationscharakter hat, sondern daß eine seiner Aufgaben die der Einstimmung des Zuschauers ist. Der Dichter läßt Athene Wert darauf legen, daß Odysseus den verblendeten Aias zu Gesicht bekommt, auch wenn Odysseus sich gegen ihr Vorhaben sträubt. Die Anwesenheit des Odysseus als Zeuge der Täuschungsszene eröffnet zwei Möglichkeiten: ein neues Motiv entwickelt sich, und ein Grund für das, was im Drama geschieht, wird angedeutet. Das Motiv vom Mitleid des Odysseus mit dem entstellten Helden wird später im Drama wirksam werden. Es ist notwendig zur im zweiten Handlungsbogen stattfindenden Rehabilitierung des Aias. Hier im unmittelbaren Anschluß an die erlebte Täuschungsszene kann dieses Motiv von der Menschlichkeit des Odysseus zum erstenmal anklingen. Allein das Gespräch über das Tun und den Zustand des Helden würde es nicht auf so natürliche und für den Zuschauer miterlebbare Art hervorgerufen haben. Außerdem gibt das von Odysseus nach dieser erschütternden Erfahrung ausgedrückte Mitleid dem Dichter die Möglichkeit, in Athenes lehrhaften Worten an den einsichtigen Odysseus den Grund für den Fall des Aias, wenn auch nur indirekt, anzudeuten: Aias wird zu denen zu rechnen sein, die gegen die Götter nicht die angemessene Sprache führen und die sich in ihrer Kraft und in ihrem Wohlergehen allzu sicher fühlen. Dies ist ein Aspekt, unter dem der Zuschauer das folgende Geschehen betrachten soll. Innerhalb der Szene ist das Getäuschtwerden des Aias von großer pathetischer Wirkung, darüber hinaus ist der Einfall, Aias im Prolog als Getäuschten vorzuführen, Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung des Dramas. Der entscheidende Glückswechsel des Helden liegt vor dem Beginn des Dramas. Er ist damit gegeben, daß Aias in der von Athene über

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ihn verhängten Sinnestäuschung über die Herden der Achaier hergefallen ist, im Glauben, er räche sich an den Achaiern selbst. Der Täuschungsdialog malt diese Voraussetzung für das Dramengeschehen aus. Der Held verharrt noch in der Täuschung. Der Zuschauer erwartet folglich das Erwachen des Aias aus dem Wahn, die entscheidende Erkenntnis, die den Helden seinen Glückswechsel begreifen läßt und ihn zur Stellungnahme zu seiner Tat und jetzigen Situation zwingen wird. Diese Anagnorisis erschiene auch notwendig, wenn Aias vorher nicht in seiner Verblendung erlebt worden wäre. Dadurch aber, daß der Täuschungsdialog, indem er einen entstellten Helden zeigt, einen Begriff von der Art des Aias gibt, kann der Zuschauer im Voraus die Folgenschwere der zu erwartenden Anagnorisis ahnen. Diese notwendige Anagnorisis setzt nicht sofort ein, sondern kommt, bevor sie erlebt wird, im Drama zur Sprache. Reinhardt 9 macht darauf aufmerksam, daß, wie im Prolog der Bericht vom Wahnsinn des Aias der Darstellung des im Wahn Befangenen vorausgeht, auch der Darstellung des Erwachten der Bericht von seiner Anagnorisis vorausgeht. Der Chor erwartet vom Erwachen des Aias eine positive Änderung der Situation (263f., 279f.), denn er befürchtet die Gefahr von außen (die Rache der Atriden an Aias und seinen Leuten, die den Rächern ohne die Hilfe des Aias schutzlos ausgeliefert wären) und nicht von innen (aus dem Wesen des Aias). Tekmessas Befürchtung, daß aus dem Erwachen des Helden ein noch größeres Unglück entstehen könnte, entspricht ihrer besseren Kenntnis vom Wesen des Aias. Die von Aias erlebte Anagnorisis wird im Bericht der Tekmessa allmählich an uns herangetragen, zunächst in einer kurzen Bemerkung (257ff.), dann in einer längeren Erzählung davon, wie das Rasen des Helden zur Besinnung umgeschlagen ist (305ff.). Dann erst erlebt der Zuschauer die Auswirkungen der Anagnorisis in den Klagen des Aias, die in seinen Selbstmordplan auslaufen. Hiermit ist der Dramenkurs bis zum Selbstmord des Helden festgelegt und bliebe konstant, wenn nicht ein neues Element - wieder eine Täuschung - diese Linie unterbräche. Eine wichtige Frage bei Täuschungsszenen ist die nach der Stellung des Zuschauers zu dem Gesprochenen, denn er ist derjenige, in dessen Gedanken und Empfindungen sich erst der Hintergrund zu diesen Szenen bildet. Das erklärt sich folgendermaßen: in einer Täuschungs8

Sophokles, Frankfurt 3 1947, S. 26; M. Imhof, Bemerkungen zu den Prologen der Sophokleischen und Euripideischen Tragödien, Winterthur 1957, S. 14f., bemerkt, daß alle erschütternden Szenen der attischen Bühne durch einen Bericht vorbereitet werden.

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Einzeluntersuchungen

szene bleibt ein wesentliches Faktum, sogar das wesentlichste, nämlich die hinter dem in der Sprache Vorgegebenen liegende Dramenwirklichkeit, verborgen, denn die ganze Szene zielt darauf, eine Fiktion zu schaffen, das Täuschungsopfer in eine Illusion zu führen oder in einer Illusion zu bestärken. Diese Wirklichkeit kennt erstens der Trügende, der geschickt mit ihr schalten muß, und zweitens der Zuschauer, der in den meisten Fällen vorher von der Wahrheit unterrichtet wird. Dieses Unterrichtetsein versetzt den Zuschauer in die Lage, Fiktion und Wirklichkeit gegeneinander abwägen zu können. Das Abwägen bleibt jedoch kein sachlicher Vorgang, denn es liegt dem Dichter auch daran, den Zuschauer emotional am Geschehen zu beteiligen, dadurch, daß er es ihn mit Sympathie für den Getrogenen oder für den Trügenden verfolgen läßt. In den meisten Fällen ist wie in der Täuschungsszene Athene-Aias der Getrogene derjenige, der die Sympathien des Zuschauers hat, dessen Empfindung dann die des ohnmächtigen Mitleids mit dem Trugopfer ist. Daher sind solche Szenen besonders dazu geeignet, der Tragödie zur Erreichung eines ihrer Ziele, der Erregung von Mitleid, zu verhelfen. Der Dichter versucht durch stilistische Mittel diese in der Situation angelegte Möglichkeit einer Wirkung auf die Emotionen des Zuschauers zu steigern. Im Täuschungsdialog zwischen Athene und Aias besteht der Irrtum des Opfers schon. Es fehlt also die sonst bei Täuschungsfällen zu beobachtende sorgsam auf Glaubwürdigkeit bedachte Einführung des Trugopfers in den Trug. Die bestehende Täuschungssituation wird gleich von dem Trügenden ausgenützt. Athene ist von vorneherein die eindeutig überlegene, die die Täuschung ohne die geringste Gefahr der Entdeckung vollführt. Die Göttin versetzt sich in die von Aias angenommene Situation: er ist in ihren Worten der Held, der gerade gerechte Rache an den Atriden genommen hat, welche ihm die nach seiner Meinung ihm zustehenden Waffen des Achill vorenthalten haben. Sie redet ihn, ihn in seinem Irrtum bestärkend, an: oö-ros, cre Tov TCXS aixµaAwTl6as xepas 6ecrµois&-rrev.SvvoVTa 1rpocrµ0AeivKaAoo (71f.), dann erst nennt sie ihn beim Namen. Hier wird das Gespräch, das Athene mit Aias beginnen will, hinausgezögert, und der Dialog Athene-Odysseus wird wiederaufgenommen. Odysseus bittet Athene, von ihrem Vorhaben, den wahnsinnigen Aias zu zeigen, abzusehen. Dieser Zwischendialog lenkt die gesteigerte Spannung des Zuschauers auf das Gespräch Athene-Aias. Vor allem aber ruft er eines in Erinnerung: die Szene Athene-Aias wird einen Zuschauer auf der Bühne haben, Athene wird ihr Opfer einem Gegenüber präsentieren können, sie wird in ihrem Gespräch mit Aias in geheimem Einvernehmen mit Odysseus sein und wird über den Kopf

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des Aias hinweg ihre Worte an diesen Zuhörer richten, dem sie die Freude gönnen will, seinen Feind zu verlachen. Dies ist die besondere Situation bei diesem Gespräch. Der eigentliche Dialog Athene-Aias beginnt mit einer Verfälschung, die die des ersten Anrufs noch übersteigt: Aias hat nicht nur seine Rachetat mit Bravour vollbracht, er hat sie mit Athene als seiner crvµµcxxos vollbracht, und als crvµµccxos meint die Göttin wohl seiner Aufmerksamkeit würdig zu sein. Für Aias bleibt jedes in der Szene gesprochene Wort eindeutig. Athene läßt ihm gegenüber keine Ironie durchblicken, die die Bedeutung des Wortes in den Gegensinn verkehrt, wie das z.B. Orest in der Elektra tut, wenn er Aigisth, der sich schon im Netz seiner Gegner gefangen weiß, mit einer agressiven Art von Ironie anspricht: Kai µcxvTtSoov ö:p1o-rosecrq>cxi\i\ov 1rcxi\cc1 (El. 1481). Athenes Ironie ist ihr Mittel, sich mit Odysseus, dem Zeugen dieser Szene, zu verständigen. Darüber hinaus verständigt sich mit dieser Ironie der Dichter mit dem Zuschauer, der die Möglichkeit hat, das Gesprochene an dem, was im Drama die Wirklichkeit ist, zu messen, und der erkennt, daß die Wirklichkeit der Fiktion genau entgegengesetzt ist: die, welche sich hier die crvµµcxxos des Helden nennt, ist in Wahrheit seine Verderberin. An einer solchen Stelle wird deutlich, wie sehr der Dichter mit der Mitarbeit des Zuschauers rechnet: in ihm als dem Wissenden vollzieht sich die Erweiterung der Szene über das wörtlich Ausgedrückte hinaus, in ihm als dem emotional Beteiligten kommt die Empfindung von tragischer Ironie zustande 10 • Das crvµµcxxos also bezeichnet das Verhältnis, in dem die Göttin nach dem Glauben des Aias zu ihm steht. Als seiner crvµµcxxos bringt er ihr unbedingtes Vertrauen entgegen. Das ist in diesem Dialog die Grundhaltung des Getäuschten der Täuschenden gegenüber. Als Abschluß des Gesprächs steht die Bitte des Helden, gerade des Aias, der sonst ohne die Hilfe der Götter auskommen zu können meinte (767ff.), Athene möge ihm auch weiterhin als crvµµcxxos zur Seite stehen. Dieser Gedanke bildet Anfang und Ende des kurzen Gesprächs, weil sich in ihm das Ausgeliefertsein des Helden an die Göttin am erschütterndsten ausdrückt. oos evirccpeo-r'l'ls(92), von Aias gesprochen, respondiert genau dem crvµµcxxos der Göttin. Das Hauptmerkmal dieses Täuschungsdialogs ist es, daß das Täuschungsopfer exakt der Lenkung und Berechnung 10

H. E. Jaene, Die Funktion des Pathetischen im Aufbau sophokleischer und euripideischer Tragödien, Diss. Kiel 1927, S. 18, weist darauf hin, daß tragische Ironie erst „unter Einbeziehung der Empfindung des Zuschauers" zustandekommt.

2 Parlavantza, Tiuschungsszenen

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Einzeluntersuchungen

der Täuschenden folgt und das spricht, was von ihm erwartet wird. Diese Lenkung der Reden des Aias wird formal dadurch begünstigt, daß Athene meistens die Fragende ist und daß gezielte Frage und Antwort sich fast durchgehend stichomythisch folgen. Die willkürliche Steuerung seines Sprechens gibt schon den Eindruck äußerster Unfreiheit des Opfers. Ein noch stärkerer Akzent wird gesetzt, wenn das Trugopfer in scheinbarer Freiheit über das von der Göttin Provozierte hinaus noch einen eigenen Zusatz macht, wenn Aias der Hilfe der Göttin nicht nur, wie sie es erwartet, dankbar eingedenk ist, sondern ihr überdies seine Dankbarkeit durch goldene Weihgaben beweisen will 11• Noch krasser offenbart sich das Ausgeliefertsein das Helden bei scheinbarer Freiheit in Folgendem: Athene lenkt ihr Opfer im Hinblick auf den diese Szene miterlebenden Odysseus auf diesen seinen Erzfeind hin und bittet verstellt um Mitleid mit Odysseus, um Aias zum stärksten Ausdruck seiner Rachlust zu reizen. Aias macht der List Athenes alle Ehre: er reagiert marionettenhaft in ihrem Sinne, indem er dieses von ihr geforderte Mitleid mit Odysseus verweigert. Er glaubt sich damit eine Freiheit zu erlauben, daß er in diesem einen Fall seiner Göttin unfolgsam ist, weil er es sich nicht nehmen lassen will, seine Rache bis zum letzten auszukosten (111-113). Mit den Fragen 94f. und 97 und dem Schluß 99 stellt Athene selbst die Taten dar, die Aias getan zu haben glaubt. Durch die Gegenwart des Odysseus, der die Aufgabe haben wird, den Atriden von Aias zu berichten, wird dieses Gespräch zu einem Verhör des Aias, in dem er unwissentlich sich selbst beschuldigt. Die Fragen Athenes machen eine Antwort überflüssig, so können die Erwiderungen des Aias eine andere Funktion erfüllen: er gibt mit ihnen Motiv und Deutung seiner Taten. Er betrachtet sie als Ruhm für sich, den er nicht verschweigen will, er fühlt sich nach seiner Rachetat vor einer nochmaligen Schmähung durch die Atriden sicher, sie werden ihm nicht mehr seine Waffen nehmen können. Mit all diesen Worten malt Aias selbst ein Bild seines Heldentums und seines Selbstverständnisses: das Motiv seiner Tat war gekränkte Heldenehre, das Ergebnis betrachtet er als Ruhm für sich, dessen er sich offen freut; fortan ist er vor Kränkungen seiner Ehre sicher; die 11

Die gedankliche Übersteigerung dieser Szene wird durch sprachliche Steigerungen unterstützt: xaipe ... xaipe (91), TiaY)(pvao1s (92), ebenso die mehrfach auftretende Alliteration, die nach T. B. L. Webster, An Introduction To Sophokles, Oxford 1936, S. 161 und nach J. C. Kamerbeek, The Plays Of Sophokles, Commentaries, Part I, The Ajax, Leiden 1953, zu Vers 105, nicht zufällig ist: !ßmyas §Y)(OS~ö (95) K6µ!!:0S !!:6:peo-n (96) fi§_10"Tos, & §_fo7rotva,§_eaµWTTJS foc,.)~=i• ~aveiv yap CXÜTov ov Tl Tic,.)8eAu)(105f.).

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noch verbleibende Rache will er gründlich und mit Genuß nehmen. Dies ist die Art, wie der Dichter den Helden bei seinem ersten Auftreten charakterisiert und wie er dem Zuschauer das Selbstverständnis des Aias erklärt. Innerhalb der Szene wird im Zuschauer eine Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit wirksam, darüber hinaus richtet sich, da eine Täuschungssituation immer nur eine vorläufige Situation ist,daslnteresse des Zuschauers auf die Beendigung dieses Vorläufigen. Von dem Erlebnis der Entstellung des Helden her, der dieses Selbstverständnis hat, wird dem Zuschauer begreiflich, wie Aias seinen Fall empfinden muß, sobald er ihn erkennt. Dieses Erlebnis überzeugt den Zuschauer also im Voraus von der Wahrscheinlichkeit des folgenden Geschehens. Es war schon von Odysseus die Rede, der bei diesem Täuschungsdialog in der Orchestra anwesend ist. Sein „Informationsstand" 12 ist derselbe wie der der Täuschenden und der des zuschauenden Publikums. Die Anwesenheit dieses Zeugen auf der Szene beeinflußt den Täuschungsdialog stark. Die täuschende Athene kalkuliert ihn in den Dialog ein, nicht nur, indem sie ihn namentlich nennt, sondern auch, indem sie ihr Sprechen, ohne daß ihr eigentlicher Gesprächspartner es bemerkt, an ihn richtet. Athene will ihr Opfer präsentieren. Es geht ihr nicht darum, es zu ihrem eigenen Vergnügen zu verlachen. Sie will es vor einem dritten bloßstellen. Zu diesem Zweck braucht sie ein direktes Gegenüber, das das Spiel, welches sie mit Aias treibt, durchschaut. Die Agierenden aber rechnen nicht, wie es der Dichter tut, mit dem zuschauenden Publikum, sondern allein mit den Mithandelnden. Dadurch, daß Odysseus als Zuschauer dieser Szene beigegeben ist, bleibt die Gestaltung des Dialogs ganz aus der Dramensituation gerechtfertigt, und es erfolgt keine Wendung aus dem Spiel heraus an das Publikum. Eine der Situation im Dialog Athene-Aias vergleichbare Dialogsituation findet sich in der Exodos der Elektra in den Szenen ElektraAigisth und Orest-Aigisth. Diese Szenen sind der besprochenen insofern ähnlich, als auch sie sich größtenteils stichomythisch vollziehen, denn gerade die stichomythische Form begünstigt eine bestimmte Art des Trugdialogs, ein sofortiges Reagieren des Trügenden auf das, was der Getrogene spricht, wobei die Gedanken, teils sogar der Wortschatz des Getrogenen übernommen und selbständig gehandhabt werden können. Auch in dieser Elektraszene besteht der Irrtum des Trugopfers schon, auch in ihr spielt der überlegene Partner im Dialog sein Spiel mit dem anderen im Beisein eines dritten. 12

2•

Dieser Terminus wurde übernommen aus: H. Lausberg, literarischen Rhetorik, München 1960, § 1213, S. 586.

Handbuch

der

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Einzeluntersuchungen

Es wurde schon von dem wichtigen Anteil, der dem informierten und emotional beteiligten Zuschauer in Täuschungsszenen zufällt, gesprochen. In der Elektraszene gehört die Teilnahme des Zuschauers nicht dem Getäuschten, der im ganzen Drama eine untergeordnete Rolle spielt. Die Sympathie des Zuschauers gehört den täuschenden Personen Elektra und Orest. Da aber der erfolgreiche Ausgang des Geschehens für diese beiden ohnehin schon feststeht, die Dialogsituation also auch keine Gefahren enthält, ist die emotionale Anteilnahme auch an den täuschenden Personen gering. Die Situation erzeugt also weder ein Mitleid mit dem Getrogenen im Zuschauer noch ein ängstliches Zittern für das Gelingen der List der Trügenden 13• Im Vergleich damit wird es klar, wie stark der Zuschauer in der betrachteten Aiasszene angesprochen wird: in dem Maße wie sein Mitleid mit dem in der Verblendung entstellten Helden wächst, nimmt auch sein Grauen vor der Göttin zu, die ihr Spiel mit Aias treibt. Der Gegenpol zu der Sympathie, die wir mit dem getäuschten Helden fühlen, ist nicht, wie es in einem die Stellungnahme des Zuschauers vereinfachenden Fall gedacht werden könnte, die Antipathie gegen das täuschende Gegenüber, sondern das Grauen vor der täuschenden Gottheit. Die Situation im Aias ist bestimmt von dem weiten Abstand zwischen Täuschender und Getäuschtem, der in der Täuschung durch von seiten der Göttin geheuchelte Konformität aufgehoben ist. Anders ist die Stellung von Täuschendem zu Getäuschtem in der Schlußszene der Elektra. Elektra heuchelt keine Konformität mit Aigisth, denn das würde bedeuten, daß sie zu weit von ihrem begründeten Haß gegen ihn abginge, ihre Art verleugnen und ihre Glaubwürdigkeit gefährden würde. Die Trugnachricht, die Aigisth überbracht worden ist, hat die bisherige Situation zwischen ihnen geklärt: Elektra ist nach Aigisths Glauben nun endgültig zum Schweigen und Aushalten verurteilt, er aber hat nichts mehr von ihrem Rachewillen zu befürchten. So kann er gleich mit aller ihm aus der Trugnachricht zufließenden Sicherheit auftreten. Daß er von der Nachricht bereits erfahren hat, verraten nicht erst seine Worte, sondern läßt sich schon aus seinem von Elektra bemerkten frohen Kommen schließen (1432). Seine an Elektra gerichtete Anrede (dreifaches o-e) mit dem Zusatz TflV ev Tcj:,,rapos xp6vCf> .Spao-eiav[Kpivoo](1445f.) verweist Elektra in die Rolle, die sie im 13

Allein diese geringe Möglichkeit für den Zuschauer, sich für die Vorgänge zu engagieren, könnte eine Erklärung dafür sein, daß diese Szene, die in aller Knappheit und Prägnanz einen nichtigen Menschen skizziert, zuweilen abwertend beurteilt worden ist, so von Reinhardt, S. l 70f. und von Tycho v. Wilamowitz-Moellendor:ff, Die dramatische Technik des Sophokles, Philologische Untersuchungen Heft 22, Berlin 1917, S. 217.

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folgenden Dialog zu spielen haben wird. Sie wird die Haltung heucheln, die Aigisth von ihr in der zu ihren Ungunsten veränderten Situation erwarten muß. Auch hier setzt der Trügende sich wieder in das Licht, in dem der zu Trügende ihn sieht. Elektra ist nicht wie Athene im Aiasprolog die führende Gesprächspartnerin, die das Täuschungsopfer nach ihrem Willen gängelt, sondern sie spielt die endgültig Resignierende und bestärkt Aigisth so in der Illusion seiner Sicherheit, die zu ihrem voJlsten Ausdruck in seinem kurzen Appell an die Umstehenden kommt (1458ff.), zu dem seine spätere Anagnorisis scharf kontrastieren wird. In diesen Worten, die Aigisth in seiner Scheinsicherheit spricht, legt er seine wertlose Art bloß, so wie Aias in der Verblendung sein Wesen verrät 14 • Interessant ist die sprachliche Gestaltung des Zwiegesprächs Elektra-Aigisth. Die Frage Aigisths nach dem Aufenthalt der Fremden, die die Nachricht vom Tode Orests gebracht haben, beantwortet Elektra mit gespielter Erschütterung auf Grund der Botschaft vom Tode ihres Bruders zunächst nicht, und Aigisth muß die Frage ungeduldig wiederholen. Elektra gibt zu, daß die Nachricht sie erreicht hat. Wie sollte sie sich auch nicht für diese sie so sehr angehenden Dinge interessiert haben 15 ? Im Aiasdialog bleibt die Sprache eindeutig, wenn sie auch als Sprache einer drastischen Täuschungsszene übertrieben ausdrucksstark ist. Athene baut, - immer mit einem Seitenblick auf den zuhörenden Odysseus, der die Fiktion als Fiktion versteht, - eine Illusion um Aias. Der Gegensinn ihrer Worte wird erst im Zuschauer, dem auf der Bühne und dem im Publikum, wirksam. Hier in der Elektraszene ist das Wort Elektras bereits doppeldeutig gesprochen 16 : vordergründig wendet sich Elektra an Aigisth, beantwortet mit geheuchelter Resignation seine Fragen und verheimlicht nicht, daß sie schwer von den Ereignissen betroffen ist; dahinter aber liegt die andere Bedeutung ihrer Worte, die sich an einen dritten wendet, der ihr Wissen teilt und mit ihr im Einvernehmen ist. Dieser dritte auf der Bühne ist der auf Elektras Seite stehende Chor, der ihr selbst zu einer Verstellung gegen Aigisth geraten hatte (1437ff.). Diese u

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Reinhardt, S. 170, 177f., bemerkt, daß Elektra und Philoktet erst in der Täuschung ihr ganzes Wesen offenbaren. Dasselbe gilt auch für Aias undmit negativem Vorzeichen - für Aigisth. Die dreifache Alliteration in Vers 1449 gibt ihren Worten einen klagenden Ton. Stilistische Mittel helfen zur Bildung der Illusion. Vgl. zur Ambivalenz in dieser Szene: A. Salmon, L'ironie tragique dans l'exodos de l'Electre de Sophocle, Les Etudes Classiques 29, 1961, S. 241270.

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Einzeluntersuchungen

Art von bewußt doppeldeutigem Sprechen, bei dem zwei verschiedene Situationen zugrundeliegen, ist etwas anderes als die dem Sprecher selbst unbewußte Ambivalenz seiner Worte, durch die der Dichter Kontakt zu dem hellhörigen Zuschauer aufnimmt. Diese beiden Szenen, die Täuschung des Aias durch Athene und die Täuschung Aigisths durch Elektra und Orest, zeigen zwei für die Täuschungssituation typische Formen, die in diesen Fällen beide dadurch gerechtfertigt sind, daß ein nicht am Dialog beteiligter dritter das Gesprochene vor den Hintergrund der Wirklichkeit stellt und einerseits - bei der Ironie - den Gegensinn des Gesprochenen versteht und andererseits - bei der bewußten Ambivalenz - die zweite Bedeutung des Gesagten auffaßt. Seit dem ersten Auftreten des aus seinem Wahn erwachten Aias steuert die Handlung auf den Selbstmord des Helden zu. Aias spricht unmißverständlich von seiner Selbstmordabsicht, nimmt Abschied von seinem Sohn, gibt sein Vermächtnis an seinen Bruder Teukros auf und erklärt in den letzten Worten, die wir vor seiner Trugrede von ihm hören, daß jeder Versuch Tekmessas, seinen aus seinem Wesen resultierenden Entschluß zu beeinflussen, aussichtslos sei. Der Chor weiß, daß die von Aias geäußerte Selbstmordabsicht in seiner Art begründet und ernstzunehmen ist (48lf.) und gibt sogar zu, daß der Tod für Aias unter den gegebenen Umständen das Beste wäre (635ff.). Der Dichter setzt alles daran, die Mithandelnden und den Zuschauer den Selbstmord des Helden erwarten zu lassen. Gerade diese im Zuschauer erzeugte absolute Voreingenommenheit läßt ihn die folgende Rede des Aias, in der der Held Tekmessa und seinen Schiffsleuten seine Sinneswandlung und sein geändertes Vorhaben mitteilt, überrascht und daher um so kritischer anhören, so daß er die Mehrdeutigkeit der Sprache des Aias erfassen muß. Diese vielinterpretierte 17 Trugrede des Aias soll hier nicht noch einmal inhaltlich gedeutet werden. Es wird lediglich versucht, sie als Täuschungsrede nach ihren Funktionen im Drama zu untersuchen. Klar ist, daß, nachdem der Handlungskurs zielbewußt auf den Selbstmord des Helden zusteuerte, die Rede des Aias völlig überraschend kommt. Der Dichter ist sich des geringen eiKOSdieser veränderten Haltung des Helden bewußt und macht sogar indirekt darauf 17

Die wichtigsten Stationen der Interpretation sind: F. G. Welcker, Über den Aias des Sophokles, Rheinisches Museum 3, 1829 (in: Kleine Schriften 2, Bonn 1845), T.v. Wilamowitz, 1917, W. Schadewaldt, Sophokles, Aias und Antigone, Neue Wege zur Antike 8, 1929, S. 61-109, K. v. Fritz, Zur Interpretation des Aias, in: Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962, entstanden vor K. Reinhardt, Frankfurt 1933, C. M. Bowra, Sophoclean Tragedy, Oxford 1944.

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aufmerksam, indem er sie in den Anfangszeilen der Aiasrede (646-649) mit der sehr summarischen Feststellung rechtfertigt, daß schließlich „nichts unwahrscheinlich" sei. Auch läßt er den Chor, obwohl gerade er an den Sinneswandel des Helden glaubt, zugeben, daß diese Wandlung des Aias etwas Ungeheuerliches und Unerwartetes ist und daß, nachdem sie eingetreten ist, ihm fortan nichts mehr unwahrscheinlich vorkomme {715ff.). Zudem läßt der Dichter später den Chor abrupt erkennen, wie blind und töricht er in seiner Leichtgläubigkeit war (911), und auch damit wird die geringe Wahrscheinlichkeit einer solchen Wandlung zugegeben. Obwohl also der Dichter den Einwand der Unwahrscheinlichkeit einer grundlegenden Sinneswandlung des Aias versteckt aufrechterhält und, bevor sie zum Ausdruck kommt, alles tut, um uns sie nicht erwarten zu lassen, läßt er den Chor auf Grund der Vorgabe des Aias und der sie unterstützenden Reflexionen, die allgemein 18 als zu schwerwiegend empfunden werden, um nur als Sprache der Täuschung verstanden werden zu können, dem Glauben verfallen, Aias gehe auf Grund neuer Einsichten von seinem Selbstmordplan ab und wolle nun nach gemäßigteren Regeln leben, und läßt ihn wegen dieser günstigen Geschehenswendung sein Jubellied singen. Jaene bemerkt hierzu, daß Sophokles den Chor „als so dumm" dargestellt habe wie er ihn gerade um einer bestimmten dramatischen Wirkung willen gebraucht habe 19 • An anderen Stellen, etwa wenn der Chor bei Streitgesprächen der einen Partei Recht gibt, um gleich darauf der anderen beizupflichten, oder wenn der Chor im Philoktet einerseits N eoptolemos um Mitleid mit Philoktet bittet, andererseits die Intrige durch kräftige Beschwörungen unterstützt, zeigt sich, daß der Chor gerne als Resonanz für einzelne Gedanken oder Trcx.917 gebraucht wird, wobei man ihm eine Unbeständigkeit des Denkens oder Verhaltens nicht nachrechnen darf wie hier, wo er von der Gefahr um Aias überzeugt ist und sich dann willig von der günstigen Geschehenswendung überzeugen läßt. Die vom Dichter gewollte Fehlreaktion findet nur in einem Chorlied ihren Ausdruck, so daß ein gesamter dramatischer Umschwung allein im Chor, der sonst bei Täuschungen dem Täuschenden oder Getäuschten nur sekundiert, wirksam wird. Von Tekmessa, an der sich wegen ihrer Nähe zu Aias die Reaktion auf eine so befreiende Wandlung eindringlich zeigen ließe, hören wir erst wieder, als der Botenbericht {748ff.) das Motiv der Sorge um Aias wieder ins Geschehen bringt. Aber an der Art, wie sich das Getäuschtsein der Mithandelnden im weiteren Verlauf auswirkt, zeigt sich, daß die Täu18 19

außer T. v. Wilamowitz, S. 61-65. Die Funktion des Pathetischen, S. 31 ff.

Einzeluntersuchungen

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schungsrede des Aias nicht nur erfunden ist, um die Wirkung des Chorliedes zu erzielen. Fraglich ist manchen Interpreten, ob die Worte des Aias wirklich aus der Absicht, den Chor und Tekmessa über sein Vorhaben zu täuschen, gesprochen werden oder ob er etwa gar gegen seine Absicht mißverstanden wird. Noch Bowra sieht in der Rede des Aias nicht nur einen tatsächlichen Sinneswandel sich niederschlagen, den ja auch andere Interpreten zugeben, sondern er glaubt auch an das geänderte Vorhaben des Helden und sieht den Selbstmord als Tat aus einem Aias erneut überkommenden Affekt an 2°.Er nimmt damit dieser ganz dem rj.Sos des Helden entsprechenden Handlung ihre Notwendigkeit. Die Frage, ob der Rede des Aias eine Täuschungsabsicht zugrundeliegt oder nicht, läßt sich leichter entscheiden, wenn man die Vor- und Nachgeschichte der Rede zu ihrer Deutung heranzieht. Vor der Rede stellt der Dichter nicht nur den Entschluß des Aias zum Selbstmord dar, sondern - dies ist der wesentliche Gedanke, den er dem Zuschauer zum rechten Verstehen der Rede mitgibt - er betont die Unmöglichkeit, daß Aias von diesem einmal gefaßten Entschluß abgeht. Das letzte Wort des Aias vor seiner überraschenden Rede ist ein Wort, das begreifen läßt: dieser Entschluß ergibt sich notwendig aus dem rj.Sos des Helden, und dieses rj.Sos ist nicht mehr zu ändern. Innerhalb der Rede diskutiert Aias seinen Sinneswandel als Ursache seines geänderten Vorhabens, und - damit wird die Nachgeschichte der Rede herangezogen - im Folgenden tut Aias genau das, was der Chor nach der Rede nicht mehr befürchten zu müssen glaubte, ohne daß er diese, wie es doch nun scheinen müßte, erneute Vorhabensänderung irgendwie begründet oder auch nur erwähnt. Vielmehr spricht Aias seinen Todesmonolog so, als ob zwischen der Angabe seines Entschlusses und dessen Ausführung nichts anderes vorgefallen wäre. Als Monolog wird diese Abschiedsrede des Aias ohne irgendwelche Rücksichten auf Mithandelnde gesprochen, so daß sich in ihr das Wesen ihres Sprechers rein ausdrückt, wie ja auch der Dichter in einem Monolog den ungestörtesten Kontakt zum Zuschauer aufnehmen kann. Vor den meisten Täuschungsszenen wird der Zuschauer über die Wirklichkeit informiert, hier fehlt eine Information, aber der Dichter hat dem Zuschauer, von dem er mehr Übersicht erwartet als von den Mithandelnden, eine Verstehenshilfe gegeben, indem er ihn im Voraus von der geringen Wahrscheinlichkeit dessen, was im Folgenden vorgegeben wird, überzeugte. Hinzukommt das beim antiken Zuschauer gewöhnlich vorauszusetzende Wissen vom Ausgang des Geschehens, 20

Sophoclean Tragedy,

S. 43f.

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das ihn besonders kritisch aufhorchen läßt, wo dieser festgelegte Dramenausgang in Frage gestellt wird, und ihn hellhörig macht für das, was den Geschehensverlauf sichert. Auf keinen Fall also macht der Zuschauer die Bewegung des Chors von tiefster Sorge zu befreitem Jubel mit. Das Jubellied des Chors erweckt daher wegen seiner Unangemessenheit den Eindruck von tragischer Ironie, welcher aus der Übersicht über wahre Zusammenhänge und momentane Fehlhandlungen und -reaktionen zustandekommt. Auch im weiteren Verlauf geht die Aufklärung des Zuschauers der der Mithandelnden voraus. Während der Botenbericht (748ff.) die Umstehenden noch zwei Möglichkeiten des Ausgangs sehen läßt, bestätigt sich für den Zuschauer in ihm bereits seine Ahnung vom Schicksal des Aias. Der Todesmonolog und der Selbstmord des Helden bringen dem Zuschauer schon eindeutige Gewißheit, während sich noch nach ihm die Suche des Chors nach Aias abspielt, wobei diese kurze Passage, die den Mithandelnden die Aufklärung über das bringt, was der Zuschauer schon vorher erfahren hat, als unglücklich empfunden wird und sich aus der Notwendigkeit erklärt, den Chor wieder auf die Bühne zu bringen und eine Überleitung zum zweiten Handlungsbogen zu finden. Es bleibt die Frage, was der Dichter dramaturgisch damit bewirkt, daß er den Helden trügen läßt. Blickt man auf den Gesamtverlauf des Dramas, dessen erster Handlungsbogen auf den Selbstmord des Helden hin gespannt ist, so muß man die Trugrede und ihre direkte Auswirkung, das Jubellied des Chors, als retardierendes Moment betrachten. Diese Retardierung ist durch ein Komplizieren des Handlungsgangs erreicht. Dramentechnisch gesehen wird mit der Vorgabe der Vorhabensänderung des Aias, der seit seiner Anagnorisis allein den Handlungsverlauf bestimmt, eine Handlungskursänderung vorgegeben, die in dem Stimmungswechsel, den das Chorlied wiedergibt, ihre Auswirkung hat. Da der Gang des Geschehens aber allein von dem Helden abhängt und der bei seinem ursprünglichen Vorhaben bleibt, ist der Handlungskurs unter der Oberfläche konstant. Der Trug sichert sogar den ungestörten Fortgang des Geschehens, indem er die Mithandelnden an einer Aktion zu seiner Änderung hindert. Die Anagnorisis, in der diese Wandlung als nur scheinbare Wandlung auch von den Mithandelnden erkannt wird, ist von geringer pathetischer Wirkung, weil sie sich nur an Nebenpersonen vollzieht und weil sie zum Inhalt nicht die eigene, sondern eine andere Person hat. Unter dem Aspekt, daß, wie Aristoteles in der Poetik sagt {1452b 30f.), eine komplizierte Handlung höher gewertet wurde als eine einfache, muß man den Einfall des Sophokles, den Helden an einer entscheidenden Stelle die Mithandelnden irreführen zu lassen, auch be-

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Einzeluntersuchungen

trachten. Dies darf aber nicht zu der falschen Wertung führen, dieser Einfall sei lediglich ein geschickter Kunstgriff zur Komplizierung der Handlung. Robert Petsch 21 spricht von „äußerer" und „innerer Handlung" (,,Vorgang") und stellt fest, daß gerade Szenen, die nicht unentbehrlich zur Erreichung eines bestimmten Ziels der äußeren Handlung sind, dazu angelegt sind, den „Vorgang" zu fördern, die Handlung von innen her zu erweitern und zu vertiefen, was in diesem Fall dadurch geschieht, daß die Gestalt des Aias intensiv beleuchtet wird. Die vielen gehaltlichen Interpretationen der Trugrede des Aias sind Bemühungen, diese Rede als Glied des „Vorgangs" zu verstehen. Die Vermutung, Sophokles habe mit der Einführung des Aiastrugs nur die kontrastierende Wirkung des Jubellieds erzielen wollen, läßt sich gar nicht mehr aufrechterhalten, wenn man verfolgt, wie der folgende Handlungsgang mit dem Trug verbunden ist. Die Tatsache, daß die Möglichkeit eines glücklichen Ausgangs überhaupt erwähnt und erwogen worden ist, wenn auch nur in einem Trug und in einem aus dem Trug entstandenen Irtum, ist Grundlage für das weitere Geschehen bis zum Auffinden der Leiche des Aias. Der Botenbericht, der die glückliche Wendung des Aiasgeschicks mit einer zeitlichen Bedingung verknüpft, wäre sinnlos, wenn diese Möglichkeit nicht schon vorher angeklungen und von den Mithandelnden angenommen worden wäre. Dieser Botenbericht bringt nicht allein die notwendige Zurückführung des Handlungskurses in die durch Trug und Irrtum verlassene Bahn, sondern er überzeugt - auf einer anderen Basis von der Notwendigkeit, daß Aias sterben muß, nicht nur, weil Aias seinem rj.Sos entsprechend diesen Ausgang wählen muß, sondern weil er durch seine erst hier (766ff.) grell geschilderte Hybris zum Opfer der Göttin geworden ist. So bringt der Botenbericht auf der Grundlage der Erwägung einer anderen Möglichkeit die Überhöhung des Geschehens in einen Bezirk über dem, in dem das Wesen des Aias einen Ausgang dieser Art fordert. Dieser Gedanke klang im Prolog in der Mahnung Athenes an Odysseus bereits an, wurde dann aber außer Acht gelassen. Die Feststellung, daß der Trug des Helden im Dramenaufbau fest verankert ist, genügt nicht, um das mehrdeutige Reden des Aias zu erklären. Die Frage nach den Gründen, aus denen Aias trügerisch spricht, gehen ins Drameninnere zurück. J aene 22 bemerkt mit einem Hinweis auf die bei Sophokles ungehindert vorkommenden Selbstmorde, daß des Aias Sorge, er könne an seinem Vorhaben durch das Eingreifen der anderen gehindert werden, kein ausreichender Grund 21 22

Wesen und Formen des Dramas, s. 32.

S. 65.

Aias

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für sein Täuschen sei. Reinhardt 23 gibt die innere Erklärung für das verhüllende, nicht mehr am Verstehen der Anderen interessierte, die Auseinandersetzung mit ihnen nicht mehr für nötig befindende Reden des Helden, der die Gesetze des menschlichen Lebens begriffen hat, aber auch begriffen hat, daß er nicht nach ihnen leben kann. Es interessiert noch, wie Sophokles es erreicht, in der Rede des Aias verschiedene Funktionen sich erfüllen zu lassen. Die Mithandelnden werden über das Vorhaben des Helden getäuscht, die Zuschauer verstehen seine Sprache und begreifen sie dennoch nicht als nur um der Täuschung willen gesprochen. Diese mehrfachen Funktionen sind der Grund für die stilistische Gebrochenheit der Rede, die einerseits klare und eindeutige Gedanken wiedergibt und sich andererseits dunkel und nur hinweisend ausdrückt. Ein Bestandteil der Aiasrede sind objektive Feststellungen (646--649, 669-676). Mit ihnen kommt Aias der Verständnismöglichkeit seiner Umwelt ebenso entgegen wie mit einigen Sentenzen und sentenzartigen Sätzen (664f., 668, 678-683), die auf das Geschehen tatsächlich anwendbar sind, also nicht phrasenhaft gebraucht werden. Das stärkste Mittel der Täuschung sind nicht die falschen Vorgaben (654-660, 666f.), sondern ist die Schlüssigkeit, mit der Aias die objektiven Einsichten auf sich selbst anwendet. (Den Versen 646-649 folgt 650-653 die Anwendung auf sich selbst; den Versen 669-676 geht 666--668 die Anwendung auf seinen besonderen Fall voraus, außerdem folgt noch eine im Vers 677.) Neben diesen Passagen, die der Täuschung der Umwelt dienen, gibt es die ambivalenten Partien, in denen der Dichter mit dem Zuschauer korrespondiert (686, 690, 69lf.) 24 • Eine Korrespondenz des Dichters mit dem Zuschauer findet auch statt in den ironischen Sätzen 666--668, 677, denselben Sätzen, in denen Aias das als gültig Erkannte auf sich selbst in aller Schlüssigkeit anwendet. In dem, was die Umwelt des Helden am meisten täuscht, findet der Zuschauer seine Vermutung bestätigt, daß Aias seinen Entschluß nicht geändert hat. Außer der Ambivalenz und der Ironie, die beide gleichzeitig verhüllen und enthüllen, hat der Dichter noch einen anderen Weg ge~ 23 24

s. 33ff. Viele Interpreten neigen zu einer zu großen Hellhörigkeit in Bezug auf Ambivalenzen. Echte Ambivalenz ist die Ursache dafür, daß an verschiedenen anderen Stellen auch Ambivalenz vermutet wird, so, wenn Kamerbeek (zu 650-652) neben der Bedeutung eKapTepovv TOTEßa My'½' ,rapfjKev (569f.), ein Lob, dem der Vorwurf an den zu beredten Kreon (806f.) entgegengesetzt ist. Der cptÄaÄri.9TJs weicht, wie Aristoteles sagt, vom wahren Sachverhalt lieber in der Weise ab, daß er zu wenig sagt (6 13. 1127b 7 f.). Gerade diese gewisse Scheu vor Worten, eine Geringschätzung des 78

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Zu der im ganzen häufigen Antithese von Wort und Tat siehe Ellendt, Lexicon Sophocleum zu i\6yos, S. 418. Diese Antithese findet sich auch in anderen Fällen im Zusammenhang mit einem Trug: Phil: 941 6µ6aas crrr6:~e111 oiKa6', es Tpoiav µ' äyet, 1268f. Kai Ta'.'!Tplvyap EKi\6yoov Kai\wv KaKWS rnpa~a EI. 59f. Ti yopcx(1448) vox media, bei KCXTTJWCTav (1451) ergänzt Jebb q>ovov,die Ambivalenz ist also durch eine Ellipse erreicht, bei ,cm' eµoü (1464) und ,6 avyyeves (1469) beruht die Ambivalenz auf der generellen Ausdrucksweise. a 4) Ironische Umkehrung Verwandt mit der ambivalenten Ausdrucksweise ist die ironische Umkehrung. Wie bei ambivalenten Stellen spitzt sich bei der ironi-

Der Stil der Täuschungsszenen

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sehen Umkehrung die doppelbödige Situation zu einem Wort, einem Satz oder einer Folge von Sätzen zu. Während bei Ambivalenz die Wirkung auf der Doppeldeutigkeit der Aussage beruht, beruht sie bei der ironischen Umkehrung darauf, daß genau das Gegenteil des Ausgedrückten der Wahrheit entspricht 96. Der Zuschauer empfindet diese Ausdrucksweise als die schrillste Dissonanz, die aus einer Irrtumssituation hervorklingen kann. Besonders schrill ist sie dann, wenn sie die völlige Verkennung der Haltung ausdrückt, die der Trügende zu seinem Trugopfer einnimmt, so im Philoktet, wo Philoktet Neoptolemos seinen Bogen zu berühren gestattet und diese Erlaubnis überschwenglich damit begründet, daß ja Neoptolemos derjenige sei, der ihm das Licht neu geschenkt habe, der ihn seine Heimat, seinen Vater, alle, die ihm lieb sind, wiedersehen lasse, kurz, weil er die apeTiihabe, die diese Gunst rechtfertige {663ff.). Zu einem einzigen schneidend ironischen Wort verdichtet sich die tragisch-ironische Situation im Aias, wenn der Held ein Wort der grausamen Göttin arglos wiederholt und sie, seine Verderberin, dankbar seine cn'.,µµaxos nennt (117).

a 5) Rätselreden Wenn ein Trug sich seiner Eröffnung nähert und die Verhüllungstendenz in eine Enthüllungstendenz übergeht, wird das Sprechen dessen, der die Wahrheit kennt, zu einem Rätselreden. Der Gesprächspartner versucht es, wenn die ~füuation natürlich ausgewertet wird, durch mehrere Versuche zu entschlüsseln, denen immer wieder ein neues Rätsel folgt. Dies ist der Fall in der Anagnorisisszene der Elektra und im Philoktet dort, wo Neoptolemos nicht mehr imstande ist, seine Intrige durchzuführen.

a 6) Chiffriertes Reden Ebenfalls durch die geschaffene Trugsituation bedingt ist das chiffrierte Reden des Chors im Kommos 827ff. des Philoktet. Auch dies ist eine Form des halb verhüllenden, halb enthüllenden Sprechens97. 96

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vgl. hierzu die Unterscheidung, die Stanford zwischen „dramatischer Ironie" und „dramatischer Ambivalenz" macht (S. 67). Daß alle diese Formen des Sprechens verwandt sind mit der Sprache der Orakel, für die die Griechen eine besondere Vorliebe hatten, braucht nur erwähnt zu werden.

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Leistung und Art von Täuschungsszenen

bei Sophokles

b) Der Stil in der Täuschungsrhesis bzw. im Täuschungsbericht

b 1) Die Verschiedenheit von Täuschungsrhesis bzw. Täuschungsbericht und Täuschungsdialog Bei Trugdialogen lassen sich trotz aller Verschiedenheit und Nuancierung je nach der besonderen Situation Gemeinsamkeiten feststellen. Trugrheseis bzw. -berichte sind voneinander völlig verschieden. Im Dialog, wo die lebhafte Wechselbeziehung zwischen dem wissenden und dem unwissenden Gesprächspartner den Zuschauer in Spannung hält, wird eine bestehende, in allen Fällen etwa gleiche Schwebesituation ausgestaltet, in der Trugrhesis oder im Trugbericht, wo nur der Trügende zu Wort kommt, wird die Trugsituation erst geschaffen. Der Trügende hat jeweils eine andere Einstellung zu seinem eigenen Sprechen, Motiv und Absicht sind unterschiedlich, die Bezogenheit auf denjenigen, an den sich die Rede wendet, ist verschieden stark. Entsprechend der ganz unterschiedlichen Funktion der Rheseis und Berichte im Drama und der unterschiedlichen Haltung der Trügenden zum Inhalt ihrer Rede ist auch der Stil dieser Reden, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß in ihnen etwas vorgegeben oder verborgen wird, völlig voneinander verschieden. b 2) Die Funktionen der einzelnen Täuschungsrheseis bzw. -berichte Im Aias verhüllt der Held sich, ~um seine Selbstmordabsicht ungestört ausführen zu können. Dies ist der wenig überzeugende Grund für die Trugrede des Aias vom Inhaltlichen her. Auf Grund dieser Rede kommt es zu der einzigen Unterbrechung der Sorgestimmung, die den ersten Teil des Dramas beherrscht. Das hauptsächliche Anliegen des Dichters bei dieser Rede seines Helden ist es, das Bild des Aias für den Zuschauer zu vervollständigen und diesen vor dem Fehlurteil zu bewahren, Aias halte in krankhafter Starre und jeder Einsicht unzugänglich an seinem Entschluß fest. Das Thema der Rhesis ist der Sprecher selbst. Alle allgemeinen Aussagen macht er nur, um sich anschließend in Beziehung zu ihnen zu setzen. Der Lichasbericht ist der von Sophokles gewählte Weg, das verhängnisvolle Thema im Drama hinauszuzögern. Der Sprecher als Person tritt ganz hinter seinem Bericht zurück. Dieser Bericht ist also in besonderem Maße funktional zu verstehen. In der Elektra ist die Lügenerzählung des Pädagogen in erster Linie wichtig wegen ihrer Wirkung im Drama, denn dieser Trugbericht legt die Richtung für die nachfolgenden Szenen fest. Er wächst sich zu

Der Stil in Täuschungsszenen

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einer gewaltigen Schilderung aus, damit dem Zuschauer, wenn auch nicht die Illusion, so doch die Stimmungsgrundlage für diese Szenen gegeben wird. Die Person des Erzählenden tritt auch hier ganz in den Hintergrund. Bei der Rede Kreons im Ödipus auf Kolonos dagegen fällt alles Licht auf den Sprecher selbst, um so mehr als der Inhalt seiner Rede von vorneherein als erheuchelt erkannt wird, also sachlich nicht interessiert. b 3) Der Stil der Verhüllung und der Enthüllung Der springende Punkt der Verhüllung in der Trugrede des Aias ist, daß Aias die in ihrer Gültigkeit erkannten Gesetze des Wandels und der Stufung der T1µai in aller Schlüssigkeit auf sich anwendet. Dieser Schlüssigkeit verfällt der Chor. Diesem gedanklichen Mittel der Verhüllung und den Lügen des Helden setzt der Dichter versteckte Mittel der Enthüllung entgegen, die der Ungläubigkeit des zuhörenden Publikums Nahrung geben, ohne daß die Gutgläubigkeit derer, die den Helden umgeben, allzu offen auf eine Probe gestellt wird. Zunächst ist es im Kleid der Lüge die Erwähnung von Dingen, die auf den Tod des Helden deuten (657-660), sodann die Ironie, nicht wie in den bisher genannten Fällen als Stilmittel, durch das der Irrtum eines Menschen illustriert wird, sondern als Ausdruck der Geisteshaltung des Helden, der nicht die erkannten Gesetzmäßigkeiten angreift, sondern die Möglichkeit seiner Anpassung an diese Gesetzmäßigkeiten verneint, indem er sie ironisch als Selbstverständlichkeit ausgibt (666-668). Die Ambivalenz als Mittel, einem doppelten Bezug gerecht zu werden, prägt den letzten Teil der Rede (686, 690, 69lf.) 98 • Ironie und Ambivalenz als Möglichkeiten, das Ausgedrückte aufzuheben oder die Wahrheit durch den Trug hindurchscheinen zu lassen, in diesem Fall Sprechformen, die bei Aias in dieser Situation verständlich sind, finden sich als Gefährdung des Trugs weder bei der bewußten Rhetorik Kreons und des Pädagogen noch bei dem mühsamen Bericht des Lichas. Lichas trügt, indem er die wesentlichste Tatsache, dasjenige, an dem sich später die Dramenhandlung entzünden wird, ausläßt. Als Enthüllungsmerkmal in diesem sachlichen Bericht ist die komplizierte Syntax der Verse 262-268 anzusehen, die die Mühe spiegelt, welche 88

Die sprachlichen Gegebenheiten, die die Ambivalenz unterstützen, sind die von Trautner (S. 91, 92c) genannten: die vox media und die „allgemeine Andeutung durch das Mittel relativischer Umschreibung".

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Leistung und Art von Täuschungsszenen

bei Sophokles

es dem Sprecher bereitet, die berichteten Ereignisse in lückenlosen Zusammenhang zu bringen. Der Bericht des Pädagogen in der Elektra ist eine glänzende, spannungsreiche Schilderung, die ganz dazu angelegt ist, die erfundenen Ereignisse um den Tod Orests glaubwürdig und eindringlich zu gestalten. Es gibt kein Stilmerkmal, das die Illusion durchbricht und daran erinnert, daß hier getrogen wird. Ebenfalls bewußte Rhetorik des Sprechers ist bei der Rede Kreons im Ödipus auf Kolonos am Werk. Aber sie ist nicht wie in der Elektra auf ein erdichtetes Faktum und dessen glaubwürdige Darstellung gerichtet, sondern sie zielt darauf, die Angesprochenen für die Person des Sprechers zu gewinnen. In einem Überziehen einzelner Gedanken Kreons und in wohlgeformten Perioden läßt der Dichter den Zuschauer den Sprechstil eines berechnenden Heuchlers wiedererkennen.

4. Menschendarstellung in Täuschungsszenen Die hier untersuchten Täuschungsszenen sind auch ein Feld sophokleischer Menschendarstellung 99 , und zwar wird hier vor allem der getrogene Mensch in seiner Passivität dargestellt. Die Gestalten und die Thematik der entsprechenden Dramen sind zwar der Überlieferung entnommen, aber die Konstellationen, in die diese Menschen gestellt werden, d. h. hier, die einzelnen Täuschungssituationen, sind neu. Daß Aias in seiner Verblendung über die Herden der Achaier hergefallen ist, entspricht der Überlieferung. Daß er in dieser geistigen Verwirrung von der Göttin, seiner Verderberin, in ein trügerisches Gespräch verwickelt wird, ist eine dramatische Neuerfindung des Sophokles. Daß Elektra, die gesinnungsmäßig zu den Rächern gehört, von dem Trug Orests mitgetroffen wird, ist allein sophokleisch. Der Versuch einer Überlistung Philoktets ist überliefertes und von den anderen Tragikern bearbeitetes Motiv. Daß er von einem ihm gleichgearteten Menschen betrogen werden soll, der fähig ist, den Anspruch, den die Person des leidenden Philoktet an ihn stellt, zu hören, ist der neue Gedanke des Sophokles. Daß Deianeira auf dem Umweg über einen Trug von der ihr Lebensgefüge bedrohenden Untreue des Herakles erfährt, ist ebenso ein fruchtbarer Gedanke des Dramatikers Sophokles 100 • a) Die Darstellung des Täuschungsopfers

Auf den, der Opfer eines Trugs werden soll, fällt von vorneherein ein starkes Interesse des Zuschauers. Gewöhnlich ist er derjenige, der die Sympathie des Publikums hat. Diese Zuneigung erhöht sich dadurch, daß der Mensch, der ahnungslos einem Trug ausgeliefert wird, dadurch zu einem Schwachen wird. Daß in Trugszenen vor allem das Trugopfer zur Darstellung kommt, liegt daran, daß dieses sich seinem Gegenüber, dem es volles Vertrauen schenkt, ganz eröffnet. So verZu dem üblich gewordenen und zutreffenden Urteil über Sophokles als großen Menschengestalter vgl. den Beginn von H. Diller, Menschendarstellung und Handlungsführung bei Sophokles, Antike und Abendland VI, 1957, s. 157-169. 1oo vgl. hierzu A. Beck, der Empfang Ioles. 99

8 Parlavantza, Täuschungsszenen

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Leistung und Art von Täuschungsszenen

bei Sophokles

traut Aias der Göttin Athene, Philoktet dem jungen Neoptolemos; Elektra strömt ihre Klage vor dem Chor und später vor dem unerkannten Orest aus. Dieses Vertrauen wird dadurch hergestellt, daß der Trügende sich als Helfer des Getrogenen einführt und ein gemeinsames Interesse oder gar eine innere Verwandtschaft mit diesem geltend macht. So tritt Athene als die wohlgesonnene Helferin des Aias auf, und Philoktet beruft sich immer wieder auf das, was N eoptolemos ihn hat glauben gemacht, ihre innere Verwandtschaft und ihrer beider Andersartigkeit gegenüber einer entarteten Umwelt. Wo nicht gerade eine solch tiefe Gesinnungsgemeinschaft vorgegeben wird, wird doch zumindest von dem Trügenden eine Interessengemeinschaft vorgeschoben. Der Pädagoge in der Elektra führt sich bei Klytaimestra vorsorglich als Bote des Phanoteus ein, des wichtigsten Verbündeten, den das Herrscherpaar von Mykenai hat, wie wir im Prolog erfahren haben. Allein auf diese Nachricht hin schenkt ihm Klytaimestra schon freudiges Gehör, denn sie ist sicher, daß sie etwas Positives erfahren wird. Wo keine Freundschaft hergestellt wird, begibt sich der Täuschende zumindest der offenen Feindschaft zu seinem Opfer: Elektra gibt in der Verstellung vor, die Zeit habe sie gelehrt, sich mit den Mächtigen zu vertragen (1464f.)1°1 . Daß das Trugopfer sich in seinem Innersten offenbart, erklärt sich daraus, daß ein Truginhalt sich niemals auf ein beliebiges Interesse des Getrogenen bezieht, sondern stets ins Zentrum des Menschen trifft. In der Prologszene des Aias geht es um das Heldentum des Aias; Athene bestärkt ihr Opfer in der Illusion, es habe seine verletzte Heldenehre ein für allemale wiederhergestellt. Deianeira wird trügerisch das vorenthalten, was ihren Lebenssinn zerstören wird; durch den Trug hindurch muß sie sich zu der Wahrheit vortasten, daß sie die Liebe des Herakles verloren hat. Bei Elektra trifft der Trug ins Innerste, weil er ihr ihren Bruder nimmt, mit dessen Kommen ihr ganzes Denken beschäftigt war. Philoktet wird im Trug seine Heimfahrt vorgegaukelt, dasjenige, auf das sich seit zehn Jahren sein Hoffen vergeblich gerichtet hat. Auch bei Menschen, deren Niederlage der Zuschauer mit Genugtuung erlebt, trifft der Trug ins Zentrum. Klytaimestra hatte der Zuschauer in ihrer Ruhelosigkeit erlebt, in die die langjährige Drohung von Orest und schließlich der Traum sie versetzt hatten; die Trugnachricht befreit sie von dieser ihrer größten Sorge, und auch Aigisth wird durch die Trugbotschaft von seiner ständigen Angst vor der 101

Hier in der Verstellung bedient sie sich eines Gedankens, den sie oft abgelehnt hatte, wenn er ihr von Chrysothemis nahegelegt worden war (339f., 396, 1013f.).

Menschendarstellung

in Täuschungsszenen

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Rache Orests erlöst. Wer so wie diese Menschen im positiven oder im negativen Sinne in seinem innersten Interesse berührt wird, der beginnt so zu reden, wie es seinem Innersten entspricht. Eine zielbewußte Dialogführung, in der einmal nur die sichere Hand des Dichters, ein andres Mal die bewußte Lenkung des Trugopfers durch den Trügenden erkannt werden kann, ist dazu geschaffen, das Trugopfer ganz aus sich herauszulocken, es zu den gewünschten Reaktionen zu provozieren. So provoziert Athene angesichts des Zeugen, der ihrem Gespräch mit Aias zuhört, diesen zum vollen Ausdruck seines Triumphs. Der Pädagoge biegt Klytaimestras unerwartete Reaktion auf die Nachricht vom Tode ihres Sohnes durch seine Frage Ti 6' cb6' a:.Svµeis, er,yvvo:1, T4'>vvv My4'>; (769) und seine Folgerung µcm7v äp' T}µEiS,ws eotKev,iiKoµev (772) in die erwartete Richtung.

b) Die Darstellung des Täuschenden Aber nicht nur das vertrauensvoll sich seinem Gegenüber eröffnende Trugopfer, auch derjenige, der sich hinter seinem Sprechen zu verhüllen versucht, der Trügende, kann zur Darstellung kommen. Die Selbstverhüllung kann zur Selbstenthüllung werden. Ganz deutlich wird dies bei Kreon, aber auch die Trugrede des Aias wird für den Zuschauer ein Zeugnis für die Art des Helden. Die Sprecher nehmen zu ihrem Gegenüber eine gegensätzliche Haltung ein: Aias zieht sich vor seiner Umwelt zurück, auch wenn er sich den Anschein der Übereinstimmung mit ihr gibt, indem er gültige Einsichten in falscher Schlüssigkeit auf sich anwendet; Kreon drängt sich seinen Zuhörern mit Schmeichelei und Heuchelei auf, einer Art des Redens, die am ehesten als direkter Ausdruck eines entsprechenden Charakters verstanden wird. Im Dialog des Aia:s demonstriert Athene den verblendeten Helden auf eine Art, daß er für Odysseus ein Symbol der menschlichen Nichtigkeit wird; der Dichter demonstriert in der grausam spielenden Göttin die Unerbittlichkeit der göttlichen Macht.

s•

Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zur Analyse der antiken Tragödie. Es wird untersucht, wie Sophokles als Dramatiker das schon vor ihm in der Epik und Dramatik vorhandene Motiv der bewußten Täuschung behandelt. Gedanklich gehört die bewußte Täuschung in den großen Bereich der Trüglichkeit, der bei Sophokles vor allem in dem Motiv der Selbsttäuschung, der die meisten seiner Personen verfallen, sichtbar wird. Im Unterschied zu Euripides, bei dem intrigenähnliche Züge äußerst häufig werden und in der µTJxo:vriµa-Handlung sich zu einem Schema verfestigt haben, bei welchem es auf die List tat und ihre Auswirkungen ankommt, handelt es sich in den fünf für diese Untersuchung in Frage kommenden Sophoklesdramen um Worttrüge, bei denen das Wort des Trügenden und des Getrogenen im Vordergrund steht, wogegen die listige Tat fast bedeutungslos ist. Die Analyse der betreffenden Dramen und Szenen führt zu folgenden Ergebnissen über die Bedeutung innerhalb des Dramas und die Gestaltung von Täuschungsszenen bei Sophokles: In der Elektra und im Philoktet ist die Intrige, der Versuch, auf listigem Weg ein bestimmtes Ziel zu erreichen, Hauptmovens des Dramas. Sie bedingt das Zustandekommen der äußeren Handlung, und in den durch sie geschaffenen Situationen entfaltet sich die Substanz, des Dramas, der dramatische „Vorgang". Es stellt sich eine Gemeinsamkeit der Struktur dieser beiden Dramen heraus: in beiden Fällen ergibt sich die dramatische Verwicklung nicht aus dem Aufeinanderstoßen von Aktiv- und Passivseite, der Seite, die die Intrige plant, und der Seite, auf die die Intrige zielt, sondern aus der Verunklärung der Fronten durch das Hinzukommen eines dritten Faktors. Elektra steht zwischen der Aktivseite (Orest, Pädagoge) und der Passivseite (Klytaimestra, Aigisthos); Neoptolemos steht trotz der am Ende des Prologs hergestellten Übereinstimmung mit Odysseus zwischen der Aktivseite (Odysseus) und der Passivseite (Philoktet). In den drei anderen Dramen (Aias, Trachinierinnen, Ödipus auf Kolonos) ist die Täuschung nur Element einzelner Szenen. In allen drei Fällen ist sie entbehrlich für das Zustandekommen der äußeren Handlung. Damit sind diese Szenen gekennzeichnet als Szenen, die dem dramatischen „Vorgang" dienen.

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In zwei Fällen, bei der Täuschungsszene zwischen Athene und Aias im Prolog des Aias und bei den Szenen zwischen Lichas und Deianeira im ersten Epeisodion der Trachinierinnen, ist erst mit der auf eine Täuschung folgenden Anagnorisis, der Erkenntnis des Helden, der schwerwiegende und entscheidende Ausgangspunkt der Dramenhandlung gesetzt. Aristoteles schreibt Umschwüngen der dramatischen Situation eine besondere Wirkung auf den Zuschauer zu. Der in das Drama eingeführte Trug hat die Kraft, dramatische Umschwünge zu erzeugen, gewaltige Wandlungen der großen Dramensituation und kontrastreiche Drehungen in einer Szene. Er kann diese Wirkung bei seiner Aufhebung, eben der Anagnorisis des Helden oder anderer Personen, ausüben und bei seiner Einführung in das Drama. Am meisten nutzt Sophokles die Wirkung der Anagnorisis, des Übergangs vom Irrtum zur Wahrheit. Sie wirkt am dramatischsten, weil sie eine endgültige Situation einleitet und weil sie gewöhnlich den Fall vom Glauben an den positiven Truginhalt zur negativen Wirklichkeit bedeutet. Der Einführung des Trugs fehlt, eben weil die folgende Situation nur auf einer Täuschung beruht, diese Endgültigkeit. Der Kontrast, den die neugeschaffene Situation zu der abgelösten ohnehin bildet, wird in einzelnen Fällen noch verschärft: die Fallhöhe vom irrigen Triumph zum Erwachen aus der Täuschung kann vergrößert werden oder umgekehrt: die Verzweiflung, die der Trug ausgelöst hat, kann bis zum Äußersten gesteigert werden, bis die Freude der Erkenntnis sie ablöst. Wo diese Möglichkeit zur Kontrastbildung offensichtlich ungenutzt bleibt, geschieht das um einer überraschenden Wirkung willen. Bei dem klaren Gesamtbau sophokleischer Dramen verwundert die Diffizilität der Gesprächssituation in einzelnen Szenen. Im Unterschied zu üblichen Szenen, in denen alle Fakten offenliegen und die Wissensunterschiede zwischen den einzelnen Unterredenden allmählich ausgeglichen werden, wird in Täuschungsszenen ein Informationsunterschied zwischen den Gesprächspartnern angestrebt. Es entsteht eine doppelbödige Situation, deren sich der Trügende und der Zuschauer bewußt ist. Schon die Grundsituation - einer, der täuscht, einer, der getäuscht wird, - ist daher kompliziert. Diese Grundsituation wird variiert, durch hinzutretende Faktoren erweitert und so in ihrem Komplikationsgrad gesteigert. Es werden heimliche Nebenkontakte zwischen dem Trügenden und einem auf der Bühne anwesenden dritten aufgenommen, ein nicht in die Täuschung einkalkulierter dritter wird zufälliges Täuschungsopfer, zwischen zwei Eingeweihten wird vor einem ahnungslosen Opfer ein trügerisches „Stegreifspiel" gespielt, ,,belastende Faktoren" können auf der Bühne sein und für den Zuschauer, nicht

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aber für die Agierenden, die Täuschung in Frage stellen, zwei mit der Wahrheit Vertraute können sich heimlich über das anwesende, aber nicht aufnahmefähige Opfer der Täuschung verständigen. All diese komplizierten Konstellationen bestimmen die nuancenreiche Sprache der Täuschungsszene mit. In noch stärkerem Maße als bei üblichen Szenen ist in der Täuschungsszene der Zuschauer aktiviert. Mit seiner Mitarbeit rechnet der Dichter. Der Zuschauer kann diesen Anspruch erfüllen, weil er meistens im Drama auf den Trug vorbereitet wird, denn die sophokleische Trughandlung vollzieht sich in vier Stadien: 1. der Ankündigung des Trugs, 2. der Ausführung des Trugs, 3. der Irrtumssituation, 4. der Erhellung des Trugs. Der Zuschauer wird gleicherweise intellektuell und emotional in die Szenen einbezogen. In ihm vollzieht sich die Erweiterung der einzelnen Szene über das augenblicklich Ausgedrückte hinaus, indem er die Differenz zwischen dem Vorgegebenen und der Wirklichkeit konstatiert und Fiktion und Wirklichkeit ständig gegeneinander abwägt. Meistens beruht auf dieserdemZuschauerbewußten Spannung zwischen Wahrheit und augenblicklichem Schein die Wirkung dieser Szenen. In der Elektra, in der der Trug sich verzweigt, da er zwei gegensätzlich auf die Täuschung reagierende Menschen trifft, wird die leidvolle Täuschung des unbeabsichtigten Täuschungsopfers Basis für die folgenden Situationen. Auf dieser Basis gibt es Szenen von einer Absolutheit als wären sie auf einer realen Basis aufgebaut. Während die durch eine Täuschung erzeugte Freude immer unter dem Aspekt ihrer Irrigkeit betrachtet werden soll, wird das nur auf einer Täuschung beruhende Leid als absolut dargestellt. Das gefühlsmäßige Engagement des Zuschauers erreicht der Dichter damit, daß er seine Sympathien kräftig lenkt, zumeist auf das Opfer einer Täuschung. Das Gegengefühl der Sympathie und des Mitleids mit dem Täuschungsopfer ist selten, wie es in einem die Stellungnahme des Zuschauers vereinfachenden Fall wäre, die Antipathie gegen den Täuschenden. Auch hier gibt es viele Nuancen. Ein dramatischer Effekt, der bei verschiedenen Informationsständen wirksam wird, ist die „tragische Ironie", die erst durch das Mitdenken und Mitempfinden des Zuschauers sinnvoll wird. Es gibt einige für die Täuschungssituation typische Stilmerkmale. Grundsätzlich zu bemerken ist die enge Bezogenheit der Unterredenden aufeinander, die berechnende Lenkung des Täuschungsopfers durch den überlegenen Gesprächspartner. Die an sich schon prekäre Situation wird stellenweise stark akzentuiert und überhöht, wofür das einleuchtendste Beispiel die Prologszene des Aias bietet, in der sich eine grelle Täuschung auf engstem Raum abspielt.

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Es ist Sophokles gegenüber den beiden anderen Tragikern eine besondere Vorliebe für Ambivalenzen nachgewiesen worden. Täuschungsszenen sind ein Feld für dramatische Ambivalenz, die auf einer Doppelung des Bezugspunktes beruht. Diese Doppelung des Bezugspunktes wird ermöglicht durch den unterschiedlichen Informationsstand der Agierenden untereinander oder des Zuschauers und der Agierenden insgesamt. Auch in diesen Szenen, die man für das natürliche Feld bewußter Ambivalenz halten sollte, wiegen wie insgesamt bei Sophokles unbewußte Ambivalenzen vor. Der Ambivalenz verwandt ist die ironische Umkehrung. In ihr verdichtet sich die doppelbödige Situation zu einem Satz oder einem Wort von schneidender Wirkung. Wo der Trug sich seiner Auflösung nähert, kann das Reden des Täuschenden rätselhaft werden. Bei natürlicher Auswertung der Situation versucht das Trugopfer das Rätselreden seines Gesprächspartners zu entschlüsseln. Der Vergleich mit einer entsprechenden Szene bei Euripides zeigt, wie maniriert Szenen dieser Art werden können, wenn die Möglichkeiten, die eine Täuschungssituation bietet, ausgeschöpft werden, ohne daß eine natürliche Gesprächssituation gewahrt bleibt. In einem Fall läßt Sophokles die Handelnden chiffriert von der verdeckten Situation sprechen. Sophokles läßt eine Täuschung nie eine beliebige Seite eines Menschen treffen sondern immer dessen zentralstes Interesse. Dies und eine raffiniert hergestellte äußere oder gar seelische Gemeinschaft zwischen Täuschendem und Täuschungsopfer und zudem eine geschickte Dialogführung, die das Gegenüber zu unverhülltem Sprechen provoziert, macht, daß das Täuschungsopfer in der Täuschung sich in seinem innersten Wesen offenbart. Sophokles gilt als großer Menschengestalter. Die Täuschungsszene ist ein Bereich seiner Menschengestaltung.

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Register Aias 7-24, 73:ff., 78f., 87, 89, 92, 95f., 97, lO0f. Aischylos 2, 42:ff., 48 Aktivseite 33f., 38, 49:ff., 102 Ambivalenz 15f., 21 f., 26, 28, 46, 56f., 60, 62f., 85, 88, 90, 92:ff., 97, 105 Anagnorisis 9, 15, 19, 34f., 40:ff., 50f., 74, 77, 103 Anrede 35, 57, 63:ff., 67 Ausgangspunkt d. Dramenhandlung 8, 13, 31, 74, 103 Chiffriertes Reden 61, 81, 95 Choephoren 42:ff., 48 Chor 15, 17f., 38, 52, 56, 60f., 79f., 89 Doppelbödigkeit 93, 95

28, 88, 40, 46f., 62,

Eindeutigkeit 11, 15, 23, 27, 55, 61 Elektra (Eur.) 44:ff. Elektra (Soph.) 18:ff., 32-48, 78, 75f., 79f., 84, 86f., 89, 92, 94, 96f., lO0f. Enthüllung 23, 28, 97f. Entlarvung 29, 68f. Erweiterung 9, 11, 62, 78, 80f., 83f. Euripides 3, 28, 44:ff., 60 Gesprächssituationen l0f., 13, 55, 58f., 60, 77:ff., 103

Menschendarstellung 13, 15, 30f., 66, 69, 76, 99:ff. µeraßoA,'i 17, 22,25,88f.,50,75:ff.,108 µT}X