Turkish Power Boys
 978-3518390016

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suhrkam p taschenbuch 2501

Hermann Tertilt hat die Geschichte (1990-1992) einer Bande türkischer, meist in Deutschland geborener Jugendlicher aus Frankfurt am Main begleitet, recherchiert, aufgeschrieben und zu erklären versucht. Span­ nend ist seine Untersuchung deshalb, weil sie detailliert eine verborgene Wirklichkeit beschreibt. Weil es sich um Jugendliche handelt, die vielfach kriminell und drogenabhängig geworden sind. Weil w ir diese Jugend­ lichen immer wieder direkt zu hören bekommen. Weil schließlich der Autor ethnologisch und sozialpsychologisch erklärt und interpretiert, ohne die Jungen, ohne sein »Material« zurechtzubiegen oder über einen theoretischen Leisten zu schlagen. Werner Schiffauer (D ie Gewalt der Ehre, suhrkamp taschenbuch 894) bezeichnet die Darstellung als »die wichtigste Arbeit zur Ethnologie der Arbeitsmigration, die in den letzten Jahren erschienen ist«.

Hermann Tertilt Turkish Power Boys Ethnographie einer Jugendbande

Suhrkam p

U m sch lagfo to : M asiar H o sse in y

suhrkam p taschenbuch 250 1 E rste A u fla ge 1996 E rstau sgabe © Suh rkam p Verlag F ran k fu rt am M ain 1996 S uh rkam p T aschenbuch V erlag A lle R ech te Vorbehalten, in sbeson dere das des öffen tlich en V ortrags, der Ü b ertragu n g d urch R u n d fu n k und Fernsehen sow ie der Ü b e rse tz u n g, auch ein zeln er Teile. Satz: H ü m m er G m b H , W aldbüttelbrunn D ru c k : N o m o s V eriagsgesellschaft, B ad en -B ad en P rin ted in G e rm an y U m sch lag nach E n tw ü rfe n von W illy F leckh au s und R o lf Staudt i

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I I I I

have my own rights my own rules have my own fights my own fools know my friends and my enemies know who I am and how to be

If you punch me I will punch you back punching you I will swing my flag I’m a warrior against the time my weapon is my lyric and my power is my rhyme There are some they don’t understand me they think I’m running for money but I won’t cry when I am sad and I won’t run when I ’m afraid I’ m not the black man I’m not the white man I’m just the type between them I’m a Turkish man in a foreign land Rap eines »Turkish Power Boy«

Für die »Power Boys«: Adnan, Ahmet, Ali, Alp, Atakan, Aydin, Bülent, Cemal, Cevat, Devran, Emin, Erkan, Gökhan, Hakan, Hanifi, Haydar, Ibo, Ihsan, Kaner, Kenan, Kerem, Kür§at, Mehmet, Mesut, Michele, Murat, Mustafa, Neco, Nuri, Onur, Orhan, Ozean, Özgiir, Polat, Ra§id, Riza, Sadettin, Sava§, Selcuk, Serdal, Suat, Tank, Toni, Tufan, Tuncay, Umit, Ydmaz, Yüksel, Yumuk und Yunus

Inhalt E inleitung......................................................................................

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I. Die Bandengeschichte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. II. 12.

Ein »cooler« N a m e .............................................................. Die Mitglieder........................................................................ Die Anfangsphase: »Jacken-Tokat« .................................. Der Jugendtreff .................................................................... »Turkish Power ist tot!« - Von der Auflösung zur N eugründung........................................................................ Ein neuer Bandenm ythos................................................... Die Auflösung der »Juniors« ............................................. Das Ende des Jugendtreffs................................................. Treffpunkt »Bürgerhaus Bornheim« ................................ D rogen.................................................................................... Nach dem Auseinandergehen der Gruppe ..................... Bande und Ethnizität in der Theoriediskussion...........

18 23 30 43 49 54 61 64 67 71 79 80

11. Porträts von drei Bandenmitgliedern 1. Hayrettins Aufwachsen als Migrantenjunge »Am Anfang wußte ich gar nicht, was Ausländer ist« ........ Die Familiengeschichte........................................................... Auf Besuch im D o r f................................................................ Ein Leben »in den eigenen Verhältnissen« ........................ Erfahrungen der D istanz........................................................ Vom Umgang mit Rassismus ................................................ Vater und Sohn......................................................................... Zusammenfassung................................................................... 2. Nurettins Erfahrung des Scheiterns »Aus einer kleinen Mücke ist ein großer Elefant geworden« .................................................................................... Die Fam ilie................................................................................ »Ich war der beste Bunkerripper«........................................ »Ich bin draußen« ................................................................... H e ro in ....................................................................................... Zusammenfassung................... ...............................................

91 92 97 99 101 104 107 ui

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3- Arifs Grenzgängertum »Hoffentlich kommst du weit damit« .......................................141 Die Familiensituation ...............................................................143 Zwischen Gruppe und Familie ...............................................150 Respekt vor dem Vater .............. ............................................ ..156 Zusammenfassung................................................................... ..161 4. Das Dilemma einer widersprüchlichen Migrationssituation .......................................................................162 III. Wertorientierungen und Verhaltensmuster in der Bande 1. Freundschaft ...............................................................................175 Eine Frage von Gegenseitigkeit ........................................... ..177 Ein Netzwerk vielfältiger Freundschaftsbeziehungen .... 179 Freundschaft und D elinquenz.............................................. ..181 Grenzen der Freundschaft.......................................................185 Zusammenfassung................................................................... ..188 2. M ännlichkeit...............................................................................189 Penetrieren und Penetriertwerden ...................................... ..191 Beleidigungsduelle................................................................... ..198 Regeln der »Anmache«........................................................... ..206 Zusammenfassung................................................................... ..215 3. Gruppendelinquenz.................................................................217 Der gemeinschaftliche Straßenraub ......................................220 Rechtfertigungen des Straßenraubs ..............................— 231 Zur Frage der Gewalt ..............................................................235

Nachwort ...................................................................................... .247 Danksagung....................................................................................250 Anmerkungen.................................................................................251 Literatur......................................................................................... .261

Einleitung Im Sommer 1990 gründeten vier Schüler der Mainkur-Gesamtschule im Frankfurter Stadtteil Seckbach die Jugendbande »Turkish Power Boys«. Etwa 50 türkische Jungen im Alter zwischen 1 3 und 1 8 Jahren traten dieser Gruppe im Laufe der Zeit bei. Von den Geschehnissen und den Akteuren der Bande, dem Streben ihrer Mitglieder nach Geltung und Anerkennung, von ihren Problemen und Perspektiven, ihren legalen und illegalen A ktivi­ täten handelt die folgende Arbeit. Sie ist eine kulturanthropologische Feldstudie, in der exempla­ risch die Lebensformen, Überzeugungen und Verhaltensweisen einer delinquenten Jugendgruppe dargestellt und analysiert wer­ den. Die Mitglieder dieser Gruppe gehörten überwiegend zur zweiten türkischen Einwanderergeneration. Ihre Eltern waren in den untersten Berufspositionen als unqualifizierte Arbeiter be­ schäftigt. Ihrer Sprache und Kultur, so empfanden es die Jugend­ lichen, wurde von der Aufnahmegesellschaft keine Achtung entgegengebracht. Ihre Zukunft in Deutschland sahen viele als ungewiß. Auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten entwickel­ ten si’e eine subkulturelle Form der Jugendbande, mit der sie ihrem Status als »illegitime Kinder«1 dieser Gesellschaft offensiv entgegentreten konnten. Einige der »Turkish Power Boys« waren in beachtlichem Ausmaß delinquent, manche nur gelegentlich, andere dagegen überhaupt nicht. Die meisten identifizierten sich jedoch mit den Gewalt- und Straftaten, die von Mitgliedern der Bande begangen wurden. Das Spektrum an delinquentem Verhal­ ten reichte von Bagatelldelikten wie Ladendiebstahl, Schule­ schwänzen und Pöbeleien über Vandalismus, Drogendelikte und gefährliche Körperverletzung bis hin zu Autodiebstahl, Kiosk­ einbrüchen, Raubüberfällen und anderen Straftaten zur Geld­ beschaffung. Dennoch stellte straffälliges Handeln nur einen Bruchteil der Bandenaktivitäten dar. Freundschaft und Solidari­ tät, Respekt und Anerkennung, Männlichkeit und Mut, Mädchen und Musik oder Fußball und Billard waren für den Gruppenall­ tag ebenso bestimmend wie eine manchmal nahezu unerträgliche Langeweile.

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Die Bande als subkulturelles Phänomen und die Situation der zweiten Migrantengeneration gehören zu den beiden Leitthemen meiner Studie. Sie stehen, so die These dieser Arbeit, in einem Zusammenhang, der über Statusprobleme vermittelt ist. In der vorliegenden Untersuchung wird die Bande »Turkish Power Boys« als Lösungsversuch gemeinsamer Problemlagen innerhalb der zweiten Einwanderergeneration interpretiert. Den Zusammenhang zwischen Bandendelinquenz und gesell­ schaftlichem Status von Migrantenkindern werde ich anhand meines Materials nachweisen und begründen. Eine solche Be­ trachtungsweise schließt die kritische Auseinandersetzung mit den gängigen Erklärungsansätzen ein, die sich mit gewaltbereiten und delinquenten Jugendcliquen ethnischer Minderheiten befas­ sen. Soziologische Theorien gehen davon aus, daß das Verhalten solcher Gruppierungen entweder in Kategorien der Kultur (»culture conflicts«), der Familie (»broken home«), der materiellen Unterprivilegierung (»Benachteiligungs-Paradigma«), der Stig­ matisierung (»labeling approach«) oder über die allgemeine Entwicklung sozialer Desintegration und Orientierungslosigkeit (»Individualisierungsansatz«) begriffen werden könne. Manche sehen die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen in einer anti­ autoritären Erziehung oder in einer zunehmenden Brutalisierung der Medien begründet. Die Vielzahl von Erklärungsmodellen soll hier nicht unkritisch übernommen werden. Vielmehr möchte ich versuchen, die gängigen Theorieansätze an meinem empirischen Material zu diskutieren und eine eigene Interpretation zu entwikkeln. Meine Arbeit beruht auf einer Feldforschung von zwei Jahren, in denen ich unzählige Tage mit der Gruppe verbrachte. Von A n ­ fang 1991 bis zur Auflösung der Bande im Herbst 1992 (und anschließend im weiteren Kontakt mit einzelnen Jugendlichen bis Anfang 1994) beobachtete ich die »Turkish Power Boys« aus nächster Nähe, nahm an ihrem Alltagsleben teil und führte mit ihnen zahlreiche Einzel- und Gruppeninterviews. Die Kontakt­ aufnahme zur Gruppe erfolgte in einer sozialpädagogischen Jugendeinrichtung im Frankfurter Stadtteil Bornheim, wo sie sich damals regelmäßig traf. Dort lernte ich im Februar 1991 die M it­ glieder der Bande kennen. Ab November 1991 verlagerte sich ihr Treffpunkt im Stadtteil. Die Jugendlichen versammelten sich nun bis September 1992 täglich vor einem Bürgerhaus, wo sie ohne 10

sozialarbeiterische Aufsicht blieben. Auch in dieser Zeit ver­ brachte ich fast jeden Nachmittag mit ihnen, traf mich mit ihnen in Kneipen, aß und trank mit ihnen, spielte mit ihnen Tischfußball und Billard, ging dahin, wohin sie gingen, besuchte ihre Familien, ihre Parties etc. Gelegentlich lud ich auch einzelne Gruppenmit­ glieder zu mir nach Hause ein, etwa, wenn sie eine Bewerbung zu schreiben hatten, oder um in Ruhe mit ihnen ein Interview führen zu können. Drei der Gruppenmitglieder konnte ich auch wäh­ rend ihres Urlaubs in der Türkei aufsuchen und wurde dort als Gast in das jeweilige Familiengeschehen einbezogen. In der bundesdeutschen Wissenschaftstradition sind solche Langzeitfeldstudien noch immer selten. N u r ungern bewegen sich die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaftler hierzu­ lande für einen längeren Zeitraum in den Bereich, den sie erforschen. Ein solches Vorgehen stellt auch innerhalb der Krim i­ nologie eine Ausnahme dar. Hier fehlt es jenseits der polizeilichen und gerichtlichen Kriminalstatistiken (»Hellfeld«) an einer ver­ läßlichen »Dunkelfeld«-Forschung. Diese könnte aus der direk­ ten Anschauung heraus nicht nur die gängigen Theorieansätze auf ihre Gültigkeit hin überprüfen, sondern auch zu neuen Überle­ gungen und Erkenntnissen auf dem Gebiet der Jugenddelin­ quenz führen. Denn die teilnehmende Beobachtung als Methode der Datenerhebung hat gegenüber anderen, vor allem quantitati­ ven, Verfahren den Vorzug, die untersuchte Gruppe in ihrer alltäglichen Umgebung kennenzulernen, an ihren Aktivitäten teilzuhaben und die gesammelten Informationen.aus eigener A n­ schauung zu überprüfen und in den Lebensbezug ihrer Mitglie­ der einzuordnen. A uf diesem Weg nimmt der Forscher jedoch nicht nur die Rolle des distanziert Beobachtenden ein, sondern gerät selbst in die Rolle dessen, der beobachtet wird und der sich mit der kritischen Wahrnehmung seiner Arbeit durch die Unter­ suchten auseinandersetzen muß. Durch den vergleichsweise langen Untersuchungszeitraum und den täglichen Umgang mit der Gruppe haben sich enge Kontakte und teilweise auch Freundschaften zu den Jugendlichen entwickelt. Dies war keineswegs selbstverständlich. Vor allem die Phase der Kontaktaufnahme gestaltete sich äußerst schwierig. Die Jugendlichen begegneten mir anfangs mit Mißtrauen und hielten mich auf Distanz, zeitweise war ich auch Angriffen ausgesetzt. Im Unterschied etwa zu Journalisten, die bei den »Power Boys« nur ii

einen Interviewtermin wahrnahmen und danach wieder ver­ schwanden, mußte ich mich im täglichen Kontakt bewähren. Wichtig war daher, Vertrauen zu gewinnen. Meine dauerhafte Anwesenheit erschien den Jugendlichen zunächst verdächtig. A n ­ fangs hielten sie mich für einen Informanten der Polizei. Ich mußte mich ihren ständigen Herausforderungen stellen, damit sie mich als ernstzunehmende Person respektierten. N ur so gelang es mir mit der Zeit, mich wie selbstverständlich in der Gruppe zu bewegen. Erst nachdem das Mißtrauen überwunden war, verga­ ßen die Jugendlichen mein Forschungsanliegen weitgehend und verhielten sich mir gegenüber frei und offen. Die Akzeptanz in der Gruppe stieg vor allem dadurch, daß ich viel Zeit mit ihnen verbrachte und prekäre Situationen miterlebte, etwa durch meine Teilnahme an Gerichtsverhandlungen, durch Gefängnisbesuche oder durch das Miterleben von Konflikten, die sich innerhalb der Gruppe bzw. zwischen der Gruppe und Außenstehenden ab­ spielten. Die Jugendlichen erzählten mir von Ereignissen, die sich meiner Wahrnehmung entzogen, suchten Rat und Beistand, ver­ trauten mir ihre persönlichen Probleme an. Meine Rolle als teilnehmender Beobachter konnte keineswegs eine neutrale, in der Teilnahme rein beobachtende bleiben. Auch wenn ich im Unterschied zu Sozialarbeitern davon absah, einen pädagogi­ schen Einfluß auf sie auszuüben, versuchte ich, mit den Jugend­ lichen ihre Probleme und Perspektiven oder aber die Konsequen­ zen ihrer Straftaten für ihr eigenes Leben zu diskutieren. Mit einer wissenschaftlich distanzierten Haltung allein wäre diese Auseinandersetzung nicht zu bewältigen gewesen; sie erforderte vielmehr einen über mein Forschungsinteresse hinausgehenden persönlichen Einsatz. Im Vorfeld meiner Untersuchung hatte ich damit begonnen, Türkisch zu lernen. Dies erwies sich als sehr hilfreich. Obwohl die meisten der Bandenmitglieder Deutsch sprachen und es von daher keinerlei Verständigungsschwierigkeiten gab, war Türkisch doch ihre Muttersprache und diente dem vertraulichen Aus­ tausch untereinander. Als ich mich das erste Mal nach einem mehrwöchigen Intensivkurs an der Universität Ankara im Som­ mer 1991 mit den Jugendlichen auf Türkisch unterhalten konnte, eroberte ich mir viele Sympathien bei ihnen. Sie werteten meine Bemühungen, ihre Muttersprache zu erlernen, als ein für deut­ sche Verhältnisse ungewöhnliches Entgegenkommen und Inter12

esse gegenüber ihrer Herkunftskultur. Die Sprachkenntnisse trugen mit dazu bei, daß ich aus der Position des Außenstehenden heraustreten konnte und in den vertrauensvollen Umgang der Gruppenmitglieder einbezogen wurde. Sie eröffneten mir auch den Zugang zu den Familien, in denen die meisten der Eltern nur über wenig Deutschkenntnisse verfügten. Das kulturanthropologische Vorgehen, sich über einen länge­ ren Zeitraum ins soziale Feld einer Gruppe zu begeben, dabei eigene Erfahrungen zu sammeln und den Austausch mit den Beteiligten - jenseits von standardisierten Fragebögen oder Inter­ views - zu suchen, war die wichtigste Voraussetzung, um überhaupt zu qualitativen Daten über das Gruppengeschehen und die Geschichte der Bande zu gelangen. Während des Unter­ suchungszeitraums habe ich mit den Jugendlichen insgesamt 28 narrative Interviews in einer offenen Gesprächssituation durch­ geführt. In der transskribierten Fassung liegen diese Interviews auf etwa 1500 Schriftseiten vor. Vor allem in den ersten Monaten ging es darum, mir ein genaues Bild von der immerhin 50 Perso­ nen umfassenden Gruppe zu machen. Ein großer Teil meiner Tätigkeit bestand darin, mir Namen und informelles Wissen an­ zueignen, die verschiedenen Positionen innerhalb der Clique zu erkennen, die vielen Geschichten und Erzählungen den einzelnen Gruppenmitgliedern zuzuordnen. Bei diesem schrittweisen Ver­ stehensprozeß waren Gedächtnisprotokolle hilfreich, die ich teilweise schriftlich anfertigte oder - der Informationsfülle we­ gen - jeweils unmittelbar nach einer Begegnung in ein Diktierge­ rät sprach. Um das Problem einer Überfülle von Daten und Informationen zu vermeiden, mußte ich schließlich die Zeitab­ stände zwischen den Interviews vergrößern und dann gezielter Fragen und Themen ansprechen. Den Erfahrungen, Beobachtungen und Gesprächen mit der Gruppe der »Turkish Power Boys« wird in der vorliegenden Arbeit ein breiter Raum gegeben. Bei der Präsentation der Daten, die überwiegend deskriptiv gehalten ist, habe ich die Ausschnitte aus den Interviews kenntlich gemacht und wörtlich wiedergege­ ben. Ein wesentlicher Teil der Informationen stammt jedoch auch aus den Gedächtnisprotokollen oder einfach aus der Erinnerung. Um die Anonymität der Gruppenmitglieder zu gewährleisten, sind sämtliche Namen und Angaben, die zur Identifizierung von Personen beitragen könnten, verändert worden. 13

Eine Jugendbande auf dem Weg der Feldforschung zu untersu­ chen, wirft einige ethische Fragen auf, denn durch die Teilnahme am Gruppenalltag wurde ich zwangsläufig zum Mitwisser von zahllosen Straftaten. Außerdem konnte ich Straftaten selbst be­ obachten, beispielsweise Körperverletzung, Diebstahl, illegalen Drogengebrauch etc. In solchen Situationen hatte ich keine M ög­ lichkeit, auf die Jugendlichen kontrollierend Einfluß zu nehmen. Ich war gezwungen, gegenüber einem Verhalten »neutral« zu bleiben, das nicht nur in der Gesellschaft als »kriminell« betrach­ tet wird, sondern mich selbst in ein Dilemma brachte. Denn mein Interesse bestand keineswegs darin, Straftaten zu decken, son­ dern ein realistisches Bild vom Verhalten der Gruppe zu gewin­ nen. Dies stieß jedoch an Grenzen. So hatte ich im Vorfeld der Untersuchung entschieden, an keinerlei illegalen Aktivitäten teil­ zunehmen bzw. mich zu entziehen, wenn ich wußte, daß straf­ bare Handlungen geplant waren und ausgeführt werden sollten. Dennoch wurde ich immer wieder Zeuge von Gesetzesverstößen, die die Tatsache meiner Anwesenheit nicht verhindern konnte. Diese Straftaten im nachhinein anzuzeigen, hätte mein Vertrau­ ensverhältnis zu den Jugendlichen und damit die Grundlage dieser Feldforschung zerstört. Ich mußte den Jugendlichen zusi­ chern, meine Informationen so vertraulich zu behandeln, daß niemand aus der Gruppe durch meine Arbeit gefährdet wurde. Zum Aufbau der Arbeit: Im ersten Teil stelle ich die Entwicklung der Bande dar, und zwar vom Zeitpunkt ihrer Gründung im Sommer 199° bis zur Selbstauflösung im Herbst 1992. Dabei stützte ich mich auf die Erzählungen der Hauptakteure, aber auch auf meine eigenen Beobachtungen. Die Darstellung der Gruppengeschichte orien­ tiert sich an zentralen Konflikten, Orten und Ereignissen, die den Alltag und die Dynamik der Gruppe bestimmten. Eine Einord­ nung und Bewertung des Bandenphänomens nehme ich am Ende des ersten Teils unter Bezugnahme auf die amerikanische Theo­ riediskussion vor. Im zweiten Teil werde ich anhand von Einzelporträts die le­ bensgeschichtliche Situation dreier Bandenmitglieder erörtern und dabei Fragen zur Familie und zur Migrationsproblematik aufgreifen. Die biographische Analyse erlaubt eine Tiefendimen­ sion, die den individuellen Stellenwert von Gruppendelinquenz und Drogengebrauch erhellen kann. 14

Der dritte Teil widmet sich in verschiedenen Abschnitten den Wertorientierungen und Verhaltensmustern der Bande. Die Freundschaftsbeziehungen und das Männlichkeitsbewußtsein werde ich aus ethnologischer Perspektive analysieren. Auch Gruppendelinquenz und -gewalt gehören zum rituellen Aus­ druck dieser Subkultur. In der Gewaltproblematik wird schließ­ lich der Zusammenhang zwischen den Bandenaktivitäten und den Statusproblemen der zweiten Einwanderergeneration als eine Frage der Anerkennung ethnischer Minderheiten sichtbar.

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I.

Die Bandengeschichte Mit den »Turkish Power Boys« etablierten die vier Schüler Veli, Ismail, §erif und Yusuf die erste türkische Jugendbande im Frank­ furter Stadtteil Bornheim. Über zwei Jahre hatte die Gruppe Bestand und erlebte eine wechselvolle Geschichte. Die Darstel­ lung dieser Geschichte basiert ganz wesentlich auf den Erzählun­ gen einzelner Bandenmitglieder, die mir im Laufe meiner Feldforschung immer wieder von zentralen Ereignissen ihres Gruppenalltags berichtet haben. Dies gilt insbesondere für das erste Halbjahr der Gruppenentwicklung. Da ich erst im Februar 1991 mit der Bande in Berührung kam, kenne ich diesen frühen Zeitabschnitt ausschließlich aus nachträglichen Erzählungen. Nach Abschluß der Feldforschung im Januar 1993 habe ich anhand der zahlreichen Gespräche, Interviews und Erinnerungen wie aus Puzzleteilen die Gruppengeschichte rekonstruiert, um sie möglichst präzise und detailliert darstellen zu können. Daß dies wegen der Vielzahl der Ereignisse und der an ihnen beteiligten Personen schwierig war, liegt auf der Hand. Manche der Beteilig­ ten machten oft gar keine oder nur unvollständige Angaben zu Geschehnissen, die für das Verständnis der Gruppengeschichte relevant gewesen wären. Viele Begebenheiten, vor allem aus der Gründungsphase, lagen zum Zeitpunkt der Interviews oft schon Monate zurück, und die Erinnerung daran war ungenau gewor­ den. Die Jugendlichen erzählten von den Geschehnissen aus ihrer jeweiligen persönlichen Perspektive. Sie übertrieben ihre Darstel­ lungen oft und widersprachen sich oder machten sich einfach einen Spaß daraus, auch Geschichten zu erfinden. Manche G e­ schichten, die längere Zeit zurücklagen, stilisierten sie zu einem Banden-Mythos; dabei war ihnen mehr an der Bedeutung der Gruppe und weniger an einer realistischen Ereignisschilderung gelegen. Sie ordneten Begebenheiten keineswegs chronologisch und lebten selbst im Rückblick häufig noch unmittelbar in dem Geschehen. Die Geschichte der Bande ist die Geschichte vieler einzelner Jugendlicher, deren Erzählungen keinesweg deckungs­ gleich, sondern subjektiv sind und bisweilen im Widerspruch zueinander stehen. Trotz dieser Einschränkungen und Schwierig­ keiten halte ich den Entwurf einer Bandengeschichte aus Sicht der 17

Akteure für sinnvoll; nicht nur, weil sich darin tatsächliche Bege­ benheiten widerspiegeln, an denen eine theoretische Einordnung und Interpretation des Bandenphänomens nicht vorbeikann, sondern gerade, weil die Jugendlichen in ihren Schilderungen ihre Sichtweise formulierten, die in jeder distanzierten Betrachtung verlorenginge. In die Rekonstruktion der Gruppenentwicklung fließen neben eigenen Beobachtungen und Erfahrungen auch Zeitungsberichte ein, die auf die Ereignisse Bezug nehmen. H ilf­ reich waren für mich auch Gespräche mit Sozialarbeitern, die mit den »Turkish Power Boys« unmittelbar zu tun hatten. Die überwiegend erzählende Darstellung der Bandenge­ schichte verzichtet auf theoretische Auseinandersetzungen mit anderen Autoren und bevorzugt statt dessen eine klare Orientie­ rung am Gruppenphänomen. Dennoch werde ich in diesem Teil bereits wesentliche Thesen zur Kultur der Bande und zum Pro­ blem der gesellschaftlichen Nichtanerkennung der zweiten M i­ grantengeneration vorbereiten.

i. Ein »cooler« Nam e Die vier Schüler Veli, Ismail, §erif und Yusuf kannten sich schon seit Jahren, als sie im August 1990 die Bande »Turkish Power Boys« gründeten. Gemeinsam verbrachten sie ihre Freizeit mit anderen Jugendlichen türkischer Herkunft, beispielsweise im na­ hegelegenen Günthersburgpark, wo sie regelmäßig Fußball oder Baseball spielten. Sie waren, so betonten sie, schon immer gute Freunde. Ihre Eltern sind in Frankfurt türkische Einwanderer der ersten Generation. Ihre Väter arbeiten bei der städtischen M üll­ abfuhr. Die Mütter verdienen alle Geld mit Putzen. Die vier Jungen im Alter von 15 bis 16 Jahren sind im Frankfurter Stadtteil Bornheim geboren und aufgewachsen. Sie besuchten 1990 zusammen die Mainkur-Gesamtschule und bereiteten ihren Realschulabschluß vor. Die Idee, eine Bande zu gründen, entstand zu einem Zeitpunkt, als sich in Frankfurt zahlreiche Jugendcliquen gebildet hatten und mit eigenem N a­ men in Erscheinung traten. Unmittelbares Vorbild waren Jugend­ banden in Berlin, die schon ein Jahr davor als »Streetgangs« von sich Reden gemacht und deren spektakuläre Aktivitäten große Medienaufmerksamkeit gefunden hatten. Gab es Anfang 1990 in 18

Frankfurt lediglich fünf solcher Gruppen, so stieg im Verlauf desselben Jahres die Anzahl der Jugendbanden sprunghaft auf etwa 25 an.2 Im Stadtgebiet, so schätzte die Polizei, hatten sich 1990 etwa 500 Jugendliche, überwiegend aus Migrantenfamilien, in gewaltbereiten Cliquen organisiert. Einige dieser Banden ver­ wiesen mit ihrem Namen auf das Herkunftsland der Eltern und definierten sich als ethnische Gruppierungen (»Kroatia Boys«, »Italy Boys«, »Russ Boys«, »Turkish Power Boys«). Andere führten ein Frankfurter Wohngebiet in ihrem Gruppennamen (»Ring Boys«, »Ginnheimer Posse«, »Süd Boys«, »Ahorn Boys«, »Sinai Boys«). Wieder andere formierten sich unter einem Namen ohne offensichtliche Herkunftsbezeichnung (»Le Mur«, »La Mina«, »Los Desperados«, »Los Lobos«, »Bomber Boys« oder »Club 77«). In all diesen Banden und Cliquen waren durchweg männliche Jugendliche der zweiten Einwanderergeneration ver­ treten, oftmals in einer multiethnischen Zusammensetzung. Tür­ kische Jugendliche bildeten die herausragende Mehrheit; Deut­ sche spielten, so die Polizei, »nur eine absolut unbedeutende Rolle«.3 Wie aus dem zeitlichen Kontext hervorgeht, entstanden die »Turkish Power Boys« also keineswegs als isoliertes Phäno­ men, sondern waren eingebettet in eine Jugendbewegung der zweiten, vorwiegend türkischen Einwanderergeneration. Noch ehe Veli, Ismail, Yusuf und §erif überhaupt den Ent­ schluß gefaßt hatten, die »Turkish Power Boys« zu gründen, war der Name der Bande im Stadtteil bereits seit Wochen in Umlauf. Yildirim, damals Schüler in der 10. Klasse des Bornheimer H öl­ derlin-Gymnasiums, erzählte mir, wie der Name entstanden war: Yildirim:

»Damals gab es doch dieses >I’ve got the power< [der Sommer-Hit 1990 der HipHop-Gruppe Snap, H .T.]. Das war total >inPower Boys< überall hingeschrieben, so aus Spaß. Da hab’ ich gesagt: >Ey, wie wär’ es: Bande. Turkish Power Boys.< - >Ja, wär’ ganz gut.< Der Name ist uns beiden eingefallen, mir und Selim. Bevor die Bande über­ haupt gegründet wurde, stand der Name schon überall. Und das war halt ein cooler Name. Jeder konnte verstehen, was das heißt. Das war gut! Und >Power< heißt ja auch Stärke, Macht - die Macht 19

heißt das. Damit die anderen auch den Namen ver­ stehen. Wenn wir >Türk gücü< genommen hätten, das würden nur wir verstehen und kein anderer. Aber >Turkish Power< - das weiß jeder. Und jeder überlegt sich bei dem Namen >PowerWir machen eine Bande auf - Turkish Power.< E r hat mich gefragt: »Hast du schon davon gehört?< - Da habe ich gemeint: >Nee. Aber darf ich reinkommen?< Da war der ismail auch noch dabei. Und sie haben gemeint: >Wir brauchen viele< und, daß auch nur Türken rein sollen. Und so bin ich reingekommen. Ich war also einer der ersten Leute, ich war der siebte oder achte, der reinkam. Der Yusuf hat gegen mich nichts gehabt, der hat gemeint: >Du darfst reinkommen.< Wir waren schon länger befreundet. Vier Jahre oder fünf Jahre. Wir haben schon viel durchgemacht in Bornheim. Wir waren auch eine Zeitlang sehr eng befreundet. Da waren wir nur zusammen. Der hat hier gleich in der Saalburgstraße gewohnt. Jeden Tag waren wir zu­ sammen, im Jugendhaus, Eisdisco, immer zusam­ men weg [...] Am Anfang wollte ich erst nur Mitglied sein, erst mal angeben: Turkish Power< usw.« (3- I2- I 99 I )

In den ersten Wochen nach der Gründung zählte die Gruppe bereits über 20 Mitglieder. Sie kamen alle aus Bornheim und den angrenzenden Stadtteilen, kannten sich untereinander oder waren bereits seit längerem miteinander befreundet. »Wir haben uns den Namen Turkish Power schon so gegeben«, erklärte mir Yildirim in einem der ersten Gespräche, »weil wir nur Türken in der Bande haben wollten.« Über die nationale Zuge­ 23

hörigkeit hinaus scheinen aber vor allem persönliche Eigen­ schaften und ihr Wert für die Gruppe eine Rolle gespielt zu haben.

Yildirim: Muzaffer:

Ismail: Veli:

Y ild ir im :

Veli:

»Welche Kriterien habt ihr denn, wer in die Gruppe aufgenommen w ird ? Er muß was drauf haben, er muß ruhig bleiben... Also, erstens mal: anständig sein, zweitens muß man dem Typ vertrauen können, drittens muß er gut drauf sein. Also, was heißt gut drauf? - Er muß sich wehren können. Auf jeden Fall muß es ein Türke sein. Was versteht ihr unter >Türke sein